This study tries to situate Andreas Gryphius’s political tragedies in the context of contemporary theories of law and go
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German Pages 667 [668] Year 2014
Table of contents :
Danksagung
Siglenverzeichnis
1 Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems
1.1 „mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften verbinden“
1.2 „das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“
2 Forschungsüberblick und -diskussion: Zum Antagonismus heilsgeschichtlicher und politologisch-jurisprudenzieller Perspektiven der Gryphius-Forschung
2.1 Der wissenschaftliche Antagonismus
2.2 Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit des Antagonismus
2.3 Vom Antagonismus der theologischen und politologischjurisprudentieller Perspektiven auf Gryphius zu einer Geschichte dieses Antagonismus bei Gryphius
2.4 Folgen für das Projekt: Der Gang in die Geschichte der Rechtsphilosopie und -theologie
3 Theorien und Methoden
3.1 Prozessgeschichte der Säkularisierung? Möglichkeiten der Entwicklungshistoriographie jenseits teleologischer Ideengeschichte
3.1.1 Kontinuität vs. Diskontinuität?
3.1.2 Ideen als Potenziale
3.1.3 Nutzung, Auslassung und Bereitstellung von Potenzialen
3.1.4 Unbewusste Ursache und bewusste Motivation
3.1.5 Makro- und Mikroprozesse der Säkularisierung
3.1.6 Das Verhältnis zum Makroprozess der Säkularisierung
3.2 Politische Theologie: historischer vs. systematischer Begriff
3.2.1 Carl Schmitts Rationalismuskritik und vorgebliche Empirik
3.2.2 Blumenbergs Widerspruch
3.2.3 Die Autonomie des Analogons
3.2.4 Carl Schmitts tatsächlicher Dogmatismus
3.2.5 Fazit: Zum Begriff der politischen Theologie
3.2.5.1 Relative politische Theologie
3.2.5.2 Relative Säkularisierung und Theologisierung politischer Theologien
3.2.5.3 Diskursexterne als sekundäre Profiteure
3.2.5.4 Diskursteilnehmer als primäre Profiteure
3.3 Dichtung greift ein: Zum systematischen Potenzial ästhetischer Probehandlungen
3.3.1 Dichtung als didaktische oder argumentative Disziplin?: Über einen blinden Fleck zeitgenössischer Poetik
3.3.2 Zu Literatur und Wissen
3.3.3 Dasein, Sosein, Präsentation: Zu Gottfried Gabriels Überlegungen zu einem „Erkenntniswert der Literatur“
3.3.4 Aufweisen als genuin dichterisches Verfahren
3.3.5 Techniken des Aufweisens
3.3.6 Fazit: ‚Silete poetae in munere alieno‘? Die systematische Wirkmacht des dichterischen Aufweisens
3.3.7 Ausblick: Gryphius’ politische Trauerspiele zwischen systematischem Aufweis und historischer Verbürgung
4 Gryphius’ rechtsphilosophische Zeitgenossenschaft
4.1 Die Herausforderung: Ausnahmezustand und Nezessität
4.1.1 Gryphius’ souveränitätsrechtliches Problembewusstsein
4.1.2 Der normative Primat im aristotelisch-thomistischen Rechtsdenken und die entschiedene Unzuständigkeit der prudentia für den Ausnahmezustand
4.1.2.1 Justus Lipsius
4.1.2.2 Johannes Althusius
4.1.2.3 Jacob Bornitius
4.1.2.4 Bartholomäus Keckermann
4.1.2.5 Henning Arnisaeus
4.1.2.6 Christoph Besold
4.1.2.7 Ein Fazit aus der Perspektive Gryphius’
4.1.3 Antimachiavellistische Rechtslehre: Melanchthon, Suárez, Schönborner
4.1.3.1 Philipp Melanchthon
4.1.3.2 Francisco Suárez
4.1.3.3 Georg Schönborner
4.1.4 Staatsräson als Gebot der Nächstenliebe: Luis de Molinas Versuch einer Reethisierung
4.1.5 Einig im Antimachiavellismus: Schlesien und die religions- und bildungshistorischen Dispositive eines politischen Denkstils
4.1.5.1 Politische Theologie und Konfession: Das bestimmte Interesse der Evangelischen in Glogau
4.1.5.2 Land ohne Hochschule: pädagogische Chance?
4.2 Beharrliche Tradition: Rechtstheologie
4.2.1 Das Danziger akademische Gymnasium: Theologische Suprematie
4.2.2 Schlesischer Philippismus: Melanchthons Naturrecht
4.2.2.1 Angeborene Ideen: Naturrecht oder theonomes Vernunftrecht?
4.2.2.2 Leistungen und Aporien des propositionalen Innatismus gegenüber der Herausforderung
4.2.2.3 Die Notwendigkeit der nicht-innatistischen Lösung
4.2.3 Theologischer Politologe: Gryphius’ Mentor Georg Schönborner
4.2.3.1 Theonome Begründung von Staat, Recht und Machterwerb
4.2.3.2 fides in der ratio status? – status in der ratio fidei!
4.2.4 Der Straßburger Einfluss: Johann Heinrich Boeclers Geltungsvoluntarismus
4.2.4.1 Majestät: Denknotwendigkeit des Gottesgnadentums
4.2.4.2 Naturrecht als göttliches Recht: Boeclers Kritik an Hugo Grotius
4.3 Schlagkräftige Innovation: Finalismuskritik
4.3.1 Der Leidener Einfluss: Gryphius’ ‚Wissenschaftslyrik‘ am Ausgang des Neuen
4.3.2 Funktionalismus jenseits der Teleologie: Niccolò Machiavellis Pragmatismus
4.3.3 Bacon und Descartes: Gottes freier Wille und die Priosierung der causa efficiens
4.3.3.1 Bacons ars-Begriff als Beleg göttlicher Unverfügbarkeit
4.3.3.2 Descartes’ epistemologisch-rationalistische Anerkennung der Offenbarungsautorität
4.3.4 Thomas Hobbes: Eliminierung der Vier-Ursachen-Lehre und Selbsterhaltungstrieb
4.3.4.1 Vermittelbarkeit der hobbesschen Metaphysik an lutheranische Theologie
4.3.4.2 Hobbes’ Naturrechtsanalyse
4.3.4.3 Widriger Naturzustand bei Gryphius
4.3.5 Ausblick: Nulla lex sine poena? Christian Thomasius’ Bruch mit dem praeceptum-Charakter der göttlichen und natürlichen Gesetze
4.4 Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus als Entscheider über den Ausnahmezustand
4.4.1 Gryphius’ Kirchhofsgedanken: Jenseitiges Gericht
4.4.2 Philosophia perennis? Gryphius und die (Selbst)Limitation der neuen Wissenschaften
4.4.2.1 Philosophia perennis und Gryphius’ Begriff von universaler sapientia
4.4.2.2 Gryphius’ Kircher-Rezeption und Kritik einer Universalwissenschaft: Ein Widerspruch?
4.4.3 Gryphius’ lateinische Epik und Melanchthons privatio: Notwendigkeit, Ort und Status des Bösen
4.4.3.1 privatio: das nicht-wesentliche Böse
4.4.3.2 imputatio: Wirkliches Verschulden des Handelnden
4.4.3.3 Fazit: Erste Folgerungen aus dem Privationismus für einen politischen Gott
4.4.3.4 Exkurs: Daniels Heinsius’ Herodes Infanticida (1632) – Politische Theologie zwischen Tradögienform und stofflich gebotener Episierung
4.4.4 Ex 20,2, Mal 3,6 und Melanchthons schrifttheologisches Substrat des Deus politicus
4.4.4.1 Naturrechtssystematische Redundanz des Offenbarungsaktes?
4.4.4.2 Melanchthons politischer Gott
4.4.4.3 Rechtes Handeln und Heil
4.4.4.4 Fazit: Melanchthon zwischen traditionellem Problem und innovationskompatibler Lösung
4.4.5 Der unmittelbar irdisch strafende Gott bei Georg Schönborner
4.4.5.1 Tyrannis als Verstoß gegen göttliches und natürliches Recht
4.4.5.2 Tyrannenmord
4.4.5.3 Die göttliche Strafung jeglicher Tyrannei
4.4.6 Claudius Salmasius: Die historische Verbürgung von Gottes Straftätigkeit
4.4.6.1 Der Fall Charles Stuart: Historisches Ereignis und transhistorisches Problembewusstsein
4.4.6.2 Die Heilige Schrift als juridische und historische Quelle
5 (Re)Interpretationen der politischen Trauerspiele
5.1 Leo Armenius: Göttliches oder verdientes Recht?
5.1.1 Leo Armenius zu den Paradoxien verschwörerischer Legitimationsversuche
5.1.1.1 Meritokratie
5.1.1.2 Stratokratie
5.1.1.3 Usurpation Leos oder Abdikation Michael I. Rhangabes?
5.1.1.4 Rache
5.1.1.5 Ambigue Emblematik als Sinnbild pragmatischer Legitimationsstrategien
5.1.2 Leo Armenius zu den Paradoxien pragmatistischer Sicherheitspolitik
5.1.2.1 Politischer Hochmut, relativer Ausnahmezustand und obrigkeitliche Notwehr
5.1.2.2 Affektanthropologie und politische Mittellosigkeit
5.1.2.3 Herrschaftliche Interessenpragmatik und Gemeinwohl, oder:Der göttliche Anspruch an das positive Recht als Recht
5.1.2.4 „Der stahl schafft einig ruh“. Absoluter Ausnahmezustand als Recht auf Rechtlosigkeit
5.1.2.5 Bedächtigkeit oder Trägheit? Schwierigkeiten machiavellistischer Formelhaftigkeit
5.1.3 „Der Himmel selber wach’t vor die gekrnten hare / vnd steht dem Zepter bey“. Politische Theologie als instanzieller Vorbehalt Gottes
5.1.3.1 Recht aus Freiheit? Freiheit aus Souveränität!
5.1.3.2 Die völkerrechtliche Alternative: Intervention
5.1.3.3 Gegen Meritologie und temporalisiertes Herrschaftsrecht
5.1.3.4 Die menschliche Unverfügbarkeit göttlicher Ordnung
5.1.3.5 Die Gesetzeswirkung der Gewissensinstanz – Die Tatwirkung der Gewissensverleugnung
5.1.4 Theatrum regni: Evidenzbedürfnisse an Recht, Politik und Strafe und ihre theatralische Homologie
5.1.4.1 „Man sol der grossen welt ein newes schawspiel weisen“. Ius publicum und Publizität
5.1.4.2 Michael Balbus’ Verteidigungsrede als Schauspiel von Unverstand und Unrecht
5.1.4.3 Vom Nutzen, Schaden und der Überflüssigkeit der Folter
5.1.4.4 Schauspiel und Zurschaustellung: Dramatische und juristische Evidenz
5.1.5 Gott und Katastrophe – Sollen und Sein – Rechtliche und Handlungssicherheit
5.1.5.1 „Das recht hat seinen Gang“. Theodosias Sollen-Sein- Fehlschluss
5.1.5.2 Der Unterschied von forum internum und forum externum
5.1.5.3 Göttliches Recht und Faktenprophetie
5.1.5.4 „Das weist sein leben aus vnd sein schrecklich end“. Michael Balbus’ Sein-Sollen-Fehlschluss
5.1.6 Fazit: Außergeschichtlichkeit des strafenden Gottes und Wirksamkeit des göttlichen Rechts
5.2 Catharina von Georgien: Gesandtschaftsdrama und Friedenskritik, oder: Unverhandelbarkeit göttlichen Rechts
5.2.1 Beständigkeit zwischen vanitas und politischem Verhalten
5.2.2 „Ein Weib / doch die geherrscht“: Politische Theologie und Gynäkokratie
5.2.3 Catharina von Georgien über die Macht des Gesandtschaftswesens
5.2.3.1 Zum rechtlich einzigartigen und einsamen Status des frühneuzeitlichen Gesandten
5.2.3.2 Zur Macht von Bündnissen
5.2.3.3 Die Labilität von Bündnissen: Zur Macht des Geldes
5.2.3.4 Dissimulation und Transformation: Gesandtschaftswesen als nützliche und gefährliche Kunst
5.2.4 Der Vertrag als Mittel des Rechts? Kritik an einem Trugschluss
5.2.4.1 Vertrag, Bürgschaft – Recht? Zur russischen Initiative für Catharinas Freilassung
5.2.4.2 „Wir bleiben euch verpflicht / vnd eures Czaren Magd“. Die schlechte Alternative des russischen Patronats?
5.2.5 Affektreinigung und Beständigkeit als praktische Theologie
5.2.5.1 „Es fehlt vns an Vernunfft“? Trost jenseits der Grenzen praktischer Philosophie
5.2.5.2 Ewige Liebe als Erweis des Unterschieds von Naturrecht und Naturgesetz und die Optabilität des Todes
5.2.5.3 Affektreinigung und Beständigkeit als politische Theologie
5.2.6 Recht als Quelle guter Politik: Gryphius gegen einen apriorischen Pragmatismus
5.2.6.1 Vertragstreue und Souveränitätspragmatik
5.2.6.2 Catharina zu Machiavellis unvermittelter Normativität des Politischen
5.2.6.3 Sinnliche Gewissheit? Recht als Quelle ästhetischen Entsetzens
5.2.7 „Gott lst vnschuldig Blut nicht ruffen sonder Frucht“. Die göttliche Strafe in Catharina von Georgien
5.2.7.1 Imanculis Hinrichtung und die Diplomatie des Bauernopfers
5.2.7.2 Das forum internum als Strafe und Strafankündigung
5.2.7.3 Fazit: Göttliches Recht und göttliche Strafe im politischen Kalkül
5.3 Æmilius Paulus Papinianus: Politische Theologie auf den tönernen Füßen des Innatismus
5.3.1 „Was ists Papinian daß du die Spitz erreicht?“ Papinians Staunen über Sollen und Sein, Grund und Ursache
5.3.2 Die Souveränitätsproblematik der Biarchie: Doppelherrschaft als Naturzustand?
5.3.2.1 Papinian als Schattenmonarch
5.3.2.2 Papinians Skepsis bezüglich der Analogie von Familie und Polis
5.3.2.3 „Ist denn der Zepter nur umb Blut und Wunden feil?“: Biarchie und Naturzustand, Souveränitätsproblematik und Bodin-Kritik
5.3.3 Consiliarii und Beamtenethik
5.3.3.1 Die Unverbindlichkeit des Ratschlags
5.3.3.2 „wer dint; muß nichts versagen“? Grenzen der Beamtenethik
5.3.4 Heterotheonomie im Polytheismus – Begründungsnöte einer Universaljurisprudenz
5.3.4.1 Papinians Themis: Quelle ‚allgemeinen‘ Rechts
5.3.4.2 Recht auf Rechtlosigkeit? Ansätze der goldenen Regel
5.3.4.3 Bassians Victoria: Quelle des Souveränitätsrechts
5.3.5 Anspruch und Potenzial des Rechts vor der Staatsräson
5.3.5.1 Zur juridischen Indifferenz von Naturstandsidyll und Schiffsmetapher
5.3.5.2 Papinian zwischen lex aeterna, Innatismus und Naturchristentum
5.3.5.3 Deus unus ex machina. Systematisierungsgewinn des Rechts in einer paedagogia in Christum
5.3.5.4 Die Wirkmacht der Gewissensinstanz: Zur göttlichen Strafe im Papinian
5.3.5.5 Ästhetik der Macht? Macht des Rechts! Papinians Verweigerung einer Haltung des virtuosen Gelehrten
5.3.5.6 Gebotene constantia statt Selbsterhaltung: Papinians Haltung zwischen zwei Verboten
5.3.5.7 Der Glaube an die Wirklichkeit göttlicher Gesetze: Papinians juridisches Märtyrertum gegen Prudentismus und Kontraktualismus
5.3.6 Fazit: Pagane Hoffnungen in den christlichen Gott
5.4 Carolus Stuardus: Die normative Kraft der Schrift und autoritative Kraft des handelnden Gottes
5.4.1 Die erste Fassung (1657): Die anvisierte Lösung und ihre möglichen Probleme
5.4.2 Die politische Theologie des sola scriptura: Das Cromwell- Epitaph
5.4.3 Königsrecht und Funktionalisierung der Ehepflicht: Der Fairfax- Komplex
5.4.4 Frühe Machiavelli-Kritik: Hugo Peters profan-pragmatischer Fehlschluss
5.4.5 Fragen zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Prospektive und Spekulation
5.4.5.1 Unrecht als Mittel göttlicher Strafe gegen den König?
5.4.5.2 Gottesgnadentum, Innatismuskritik und alte Anthropologie: Momente der Demokratiefeindlichkeit
5.4.6 „Sie rasen mit Vernunfft“ – Gryphius’ Kritik an Grotius
5.4.7 Die politische Autorität der Heiligen Schrift
5.4.7.1 Die Kontrafaktizität göttlicher Norm
5.4.7.2 Göttliches als transrationales Recht
5.4.7.3 Rechtstheologische Finalismuskritik
5.4.8 Die Hybris der Independenten: Die göttliche Autorität des Menschen
5.4.8.1 „Diß ist des HErren Wort“? Hugo Peters monarchomachische Verkehrung
5.4.8.2 Gesetzesgrenzen als Existenzbedingungen der politischen Gemeinschaft
5.4.9 Antworten zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Die Vergegenwärtigung der Geschehnisse 1660/61
5.4.9.1 Das Ob göttlicher Strafe: Die Versicherung der Wirklichkeit
5.4.9.2 Das Wie göttlicher Strafe: Gottes ausgleichende und verteilende Gerechtigkeit, oder: Voluntaristische Vermittlung zwischen Freiheit und Pflicht
6 Schlüsse
6.1 Politische Theologie und Ausnahmezustand: Die Verbote von Widerstand und Tyrannei als göttliche weltliche Gesetze
6.2 ἀπάθεια Dulden und Ertragen als Rechtspflichten
6.3 Bis an die Schwelle zu Hobbes und nicht weiter: Zum steigenden Reflexionsniveau der Legitimationsproblematik in Gryphius’ Trauerspielen
6.4 Der schmale Grat zwischen Tyrannei und Märtyrertum als Signum menschlicher Geschöpflichkeit? Zu einer These Walter Benjamins
6.5 Trauerspielpoetik unter dem Leitstern des theologischen Voluntarismus, der Christiana Philosophia und politischen Theologie
6.6 Gryphius’ politische Theologie: Eine Friedenslehre?
7 Literaturverzeichnis
7.1 Quellen
7.1.1 Schriften des Andreas Gryphius
7.1.2 Andere Quellentexte
7.2 Sekundärliteratur
Register
Oliver Bach Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 188
Oliver Bach
Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz Politische Theologie in den Trauerspielen des Andreas Gryphius
ISBN 978-3-11-035916-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035928-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038678-3 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Belinda Für Kathrin Für Alexandra
Danksagung Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im November 2013 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Die Studie wurde ermöglicht durch eine Förderung des Internationalen Doktoranden kollegs (IDK) Textualität in der Vormoderne im Rahmen des Elitenetzwerks Bayern in den Jahren 2011–2012; ihre Fertigstellung verdankt sich einem Aufenthalt am Center for Advanced Studies der LMU München im akademischen Jahr 2012/13. Prof. Dr. Friedrich Vollhardt (München) und Prof. Dr. Barbara Mahlmann-Bauer (Bern) betreuten und förderten meine Arbeit und standen mir mit ihrem unerlässlichen Rat immer zur Seite. Ihnen gilt als meinen philologischen und ideengeschichtlichen Lehrern mein besonderer Dank genauso wie meinem rechtsphilosophischen Lehrer Prof. Dr. Norbert Brieskorn S.J. Dank gebührt dem Oberseminar des Münchner Lehrstuhls für Literatur der Frühen Neuzeit, das die Arbeit von der Projektierung bis zur Fertigstellung begleitete. Ferner danke ich meinen ehemaligen Kollegen aus dem IDK Dr. Susanne Bernhardt, Dr. Astrid Dröse, Dr. Cathrin Hesselink, Dr. Jan Hon, Dr. Bernd Posselt, Dr. Wiebke Rasumny, Dr. Henrike Schaffert, Dr. Markus Schiegg, Dr. Davide Soares da Silva und Dr. Carolin Struwe für ausführliche und ergiebige Gespräche und Ratschläge im Rahmen von Oberseminaren, Sommerakademien und Kaffeepausen. Ebenso haben Maud von Hagen Chaves und Dr. Burkhard Nonnenmacher das ebenso genaue wie anstrengende Korrekturlesen auf sich genommen und großen Dank verdient. Ein ganz herzlicher Dank gilt meinem frühen Mentor PD Dr. Gideon Stiening und meinem ehemaligen Kollegen im Center for Advanced Studies Dr. Michael Multhammer, die mit geduldigem Rat, eifrigem Interesse und kritischer Lektüre die Entstehung der vorliegenden Studie begleiteten. Über alles danken muss ich meinem Vater Prof. Dr. Hans-Friedrich Bach: Seine humanistische Bildung war mir immer wissenschaftliches Vorbild, seine freundliche Langmütigkeit war mir auch in schwierigen Lebenslagen immer praktisches Leitbild. Nicht genug danken kann ich Alexandra Kaiser, deren humor- und liebevolle Begleitung meiner Promotion mir Antrieb und Auftrag war, sowie meinen Schwestern Dr. Belinda und Kathrin Bach, die Halt boten, wo aller Halt zu schwinden drohte. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. München im März 2014
Inhaltsverzeichnis D anksagung
VII
Siglenverzeichnis
XIX
1
Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems 1 1.1 „mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften verbinden“ 5 1.2 „das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“ 8 2
Forschungsüberblick und -diskussion: Zum Antagonismus heilsgeschichtlicher und politologisch-jurisprudenzieller Perspektiven der Gryphius-Forschung 11 2.1 Der wissenschaftliche Antagonismus 11 2.2 Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit des Antagonismus 17 2.3 Vom Antagonismus der theologischen und politologischjurisprudentieller Perspektiven auf Gryphius zu einer Geschichte dieses Antagonismus bei Gryphius 25 2.4 Folgen für das Projekt: Der Gang in die Geschichte der Rechtsphilosopie und -theologie 28 33 Theorien und Methoden Prozessgeschichte der Säkularisierung? Möglichkeiten der Entwicklungshistoriographie jenseits teleologischer Ideengeschichte 33 3.1.1 Kontinuität vs. Diskontinuität? 34 3.1.2 Ideen als Potenziale 37 3.1.3 Nutzung, Auslassung und Bereitstellung von Potenzialen 38 3.1.4 Unbewusste Ursache und bewusste Motivation 42 3.1.5 Makro- und Mikroprozesse der Säkularisierung 47 3.1.6 Das Verhältnis zum Makroprozess der Säkularisierung 49 3.2 Politische Theologie: historischer vs. systematischer Begriff 50 3.2.1 Carl Schmitts Rationalismuskritik und vorgebliche Empirik 51 3.2.2 Blumenbergs Widerspruch 55 3.2.3 Die Autonomie des Analogons 57 3.2.4 Carl Schmitts tatsächlicher Dogmatismus 59 3.2.5 Fazit: Zum Begriff der politischen Theologie 60 3.2.5.1 Relative politische Theologie 60 3 3.1
X
Inhaltsverzeichnis
3.2.5.2
Relative Säkularisierung und Theologisierung politischer Theologien 61 3.2.5.3 Diskursexterne als sekundäre Profiteure 62 3.2.5.4 Diskursteilnehmer als primäre Profiteure 63 3.3 Dichtung greift ein: Zum systematischen Potenzial ästhetischer Probehandlungen 64 3.3.1 Dichtung als didaktische oder argumentative Disziplin?: Über einen blinden Fleck zeitgenössischer Poetik 64 3.3.2 Zu Literatur und Wissen 68 3.3.3 Dasein, Sosein, Präsentation: Zu Gottfried Gabriels Überlegungen zu einem „Erkenntniswert der Literatur“ 74 3.3.4 Aufweisen als genuin dichterisches Verfahren 77 3.3.5 Techniken des Aufweisens 78 3.3.6 Fazit: ‚Silete poetae in munere alieno‘? Die systematische Wirkmacht des dichterischen Aufweisens 81 3.3.7 Ausblick: Gryphius’ politische Trauerspiele zwischen systematischem Aufweis und historischer Verbürgung 84 87 4 Gryphius’ rechtsphilosophische Zeitgenossenschaft 4.1 Die Herausforderung: Ausnahmezustand und Nezessität 88 4.1.1 Gryphius’ souveränitätsrechtliches Problembewusstsein 94 4.1.2 Der normative Primat im aristotelisch-thomistischen Rechtsdenken und die entschiedene Unzuständigkeit der prudentia für den Ausnahmezustand 100 4.1.2.1 Justus Lipsius 102 4.1.2.2 Johannes Althusius 111 Jacob Bornitius 4.1.2.3 119 Bartholomäus Keckermann 4.1.2.4 122 Henning Arnisaeus 4.1.2.5 131 Christoph Besold 4.1.2.6 134 Ein Fazit aus der Perspektive Gryphius’ 4.1.2.7 137 Antimachiavellistische Rechtslehre: Melanchthon, Suárez, 4.1.3 Schönborner 139 Philipp Melanchthon 4.1.3.1 139 Francisco Suárez 4.1.3.2 142 4.1.3.3 Georg Schönborner 148 4.1.4 Staatsräson als Gebot der Nächstenliebe: Luis de Molinas Versuch einer Reethisierung 154 4.1.5 Einig im Antimachiavellismus: Schlesien und die religions- und bildungshistorischen Dispositive eines politischen Denkstils 158
Inhaltsverzeichnis
4.1.5.1
XI
Politische Theologie und Konfession: Das bestimmte Interesse der Evangelischen in Glogau 159 4.1.5.2 Land ohne Hochschule: pädagogische Chance? 163 4.2 Beharrliche Tradition: Rechtstheologie 168 4.2.1 Das Danziger akademische Gymnasium: Theologische Suprematie 169 4.2.2 Schlesischer Philippismus: Melanchthons Naturrecht 179 4.2.2.1 Angeborene Ideen: Naturrecht oder theonomes Vernunftrecht? 180 4.2.2.2 Leistungen und Aporien des propositionalen Innatismus gegenüber der Herausforderung 185 4.2.2.3 Die Notwendigkeit der nicht-innatistischen Lösung 189 4.2.3 Theologischer Politologe: Gryphius’ Mentor Georg Schönborner 192 4.2.3.1 Theonome Begründung von Staat, Recht und Machterwerb 193 4.2.3.2 fides in der ratio status? – status in der ratio fidei! 198 4.2.4 Der Straßburger Einfluss: Johann Heinrich Boeclers Geltungsvoluntarismus 205 4.2.4.1 Majestät: Denknotwendigkeit des Gottesgnadentums 206 4.2.4.2 Naturrecht als göttliches Recht: Boeclers Kritik an Hugo Grotius 209 4.3 Schlagkräftige Innovation: Finalismuskritik 212 4.3.1 Der Leidener Einfluss: Gryphius’ ‚Wissenschaftslyrik‘ am Ausgang des Neuen 213 4.3.2 Funktionalismus jenseits der Teleologie: Niccolò Machiavellis Pragmatismus 223 Bacon und Descartes: Gottes freier Wille und die Priosierung 4.3.3 der causa efficiens 229 4.3.3.1 Bacons ars-Begriff als Beleg göttlicher Unverfügbarkeit 231 Descartes’ epistemologisch-rationalistische Anerkennung 4.3.3.2 der Offenbarungsautorität 234 Thomas Hobbes: Eliminierung der Vier-Ursachen-Lehre und 4.3.4 Selbsterhaltungstrieb 243 4.3.4.1 Vermittelbarkeit der hobbesschen Metaphysik an lutheranische Theologie 245 4.3.4.2 Hobbes’ Naturrechtsanalyse 248 4.3.4.3 Widriger Naturzustand bei Gryphius 250 4.3.5 Ausblick: Nulla lex sine poena? Christian Thomasius’ Bruch mit dem praeceptum-Charakter der göttlichen und natürlichen Gesetze 254
XII
Inhaltsverzeichnis
4.4 Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus als Entscheider über den Ausnahmezustand 259 4.4.1 Gryphius’ Kirchhofsgedanken: Jenseitiges Gericht 261 4.4.2 Philosophia perennis? Gryphius und die (Selbst)Limitation der neuen Wissenschaften 271 4.4.2.1 Philosophia perennis und Gryphius’ Begriff von universaler sapientia 272 4.4.2.2 Gryphius’ Kircher-Rezeption und Kritik einer Universalwissenschaft: Ein Widerspruch? 275 4.4.3 Gryphius’ lateinische Epik und Melanchthons privatio: Notwendigkeit, Ort und Status des Bösen 282 4.4.3.1 privatio: das nicht-wesentliche Böse 286 4.4.3.2 imputatio: Wirkliches Verschulden des Handelnden 293 4.4.3.3 Fazit: Erste Folgerungen aus dem Privationismus für einen politischen Gott 297 4.4.3.4 Exkurs: Daniels Heinsius’ Herodes Infanticida (1632) – Politische Theologie zwischen Tradögienform und stofflich gebotener Episierung 298 4.4.4 Ex 20,2, Mal 3,6 und Melanchthons schrifttheologisches Substrat des Deus politicus 305 4.4.4.1 Naturrechtssystematische Redundanz des Offenbarungs aktes? 308 4.4.4.2 Melanchthons politischer Gott 313 4.4.4.3 Rechtes Handeln und Heil 316 4.4.4.4 Fazit: Melanchthon zwischen traditionellem Problem und innovationskompatibler Lösung 322 Der unmittelbar irdisch strafende Gott bei Georg 4.4.5 Schönborner 323 Tyrannis als Verstoß gegen göttliches und natürliches 4.4.5.1 Recht 324 4.4.5.2 Tyrannenmord 327 Die göttliche Strafung jeglicher Tyrannei 4.4.5.3 330 Claudius Salmasius: Die historische Verbürgung von Gottes 4.4.6 Straftätigkeit 334 Der Fall Charles Stuart: Historisches Ereignis und transhistorisches 4.4.6.1 Problembewusstsein 335 4.4.6.2 Die Heilige Schrift als juridische und historische Quelle 336
Inhaltsverzeichnis
XIII
5 (Re)Interpretationen der politischen Trauerspiele 345 5.1 Leo Armenius: Göttliches oder verdientes Recht? 345 5.1.1 Leo Armenius zu den Paradoxien verschwörerischer Legitimationsversuche 348 5.1.1.1 Meritokratie 348 5.1.1.2 Stratokratie 350 5.1.1.3 Usurpation Leos oder Abdikation Michael I. Rhangabes? 351 5.1.1.4 Rache 353 5.1.1.5 Ambigue Emblematik als Sinnbild pragmatischer Legitimationsstrategien 355 5.1.2 Leo Armenius zu den Paradoxien pragmatistischer Sicherheitspolitik 359 5.1.2.1 Politischer Hochmut, relativer Ausnahmezustand und obrigkeitliche Notwehr 359 5.1.2.2 Affektanthropologie und politische Mittellosigkeit 362 5.1.2.3 Herrschaftliche Interessenpragmatik und Gemeinwohl, oder: Der göttliche Anspruch an das positive Recht als Recht 366 5.1.2.4 „Der stahl schafft einig ruh“. Absoluter Ausnahmezustand als Recht auf Rechtlosigkeit 368 5.1.2.5 Bedächtigkeit oder Trägheit? Schwierigkeiten machiavellistischer Formelhaftigkeit 370 5.1.3 „Der Himmel selber wach’t vor die gekrnten hare / vnd steht dem Zepter bey“. Politische Theologie als instanzieller Vorbehalt Gottes 372 5.1.3.1 Recht aus Freiheit? Freiheit aus Souveränität! 373 5.1.3.2 Die völkerrechtliche Alternative: Intervention 375 Gegen Meritologie und temporalisiertes Herrschaftsrecht 5.1.3.3 375 Die menschliche Unverfügbarkeit göttlicher Ordnung 5.1.3.4 378 Die Gesetzeswirkung der Gewissensinstanz – Die Tatwirkung 5.1.3.5 der Gewissensverleugnung 382 Theatrum regni: Evidenzbedürfnisse an Recht, Politik und Strafe 5.1.4 und ihre theatralische Homologie 385 5.1.4.1 „Man sol der grossen welt ein newes schawspiel weisen“. Ius publicum und Publizität 386 Michael Balbus’ Verteidigungsrede als Schauspiel von Unverstand 5.1.4.2 und Unrecht 388 5.1.4.3 Vom Nutzen, Schaden und der Überflüssigkeit der Folter 390 5.1.4.4 Schauspiel und Zurschaustellung: Dramatische und juristische Evidenz 396
XIV
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5.1.5 Gott und Katastrophe – Sollen und Sein – Rechtliche und Handlungssicherheit 397 5.1.5.1 „Das recht hat seinen Gang“. Theodosias Sollen-Sein Fehlschluss 398 5.1.5.2 Der Unterschied von forum internum und forum externum 400 5.1.5.3 Göttliches Recht und Faktenprophetie 402 5.1.5.4 „Das weist sein leben aus vnd sein schrecklich end“. Michael Balbus’ Sein-Sollen-Fehlschluss 403 5.1.6 Fazit: Außergeschichtlichkeit des strafenden Gottes und Wirksamkeit des göttlichen Rechts 405 5.2 Catharina von Georgien: Gesandtschaftsdrama und Friedenskritik, oder: Unverhandelbarkeit göttlichen Rechts 408 5.2.1 Beständigkeit zwischen vanitas und politischem Verhalten 409 5.2.2 „Ein Weib / doch die geherrscht“: Politische Theologie und Gynäkokratie 413 5.2.3 Catharina von Georgien über die Macht des Gesandtschafts wesens 417 5.2.3.1 Zum rechtlich einzigartigen und einsamen Status des frühneuzeitlichen Gesandten 418 5.2.3.2 Zur Macht von Bündnissen 423 5.2.3.3 Die Labilität von Bündnissen: Zur Macht des Geldes 425 5.2.3.4 Dissimulation und Transformation: Gesandtschaftswesen als nützliche und gefährliche Kunst 427 5.2.4 Der Vertrag als Mittel des Rechts? Kritik an einem Trugschluss 429 5.2.4.1 Vertrag, Bürgschaft – Recht? Zur russischen Initiative für Catharinas Freilassung 429 5.2.4.2 „Wir bleiben euch verpflicht / vnd eures Czaren Magd“. Die schlechte Alternative des russischen Patronats? 433 Affektreinigung und Beständigkeit als praktische Theologie 5.2.5 439 5.2.5.1 „Es fehlt vns an Vernunfft“? Trost jenseits der Grenzen praktischer Philosophie 439 5.2.5.2 Ewige Liebe als Erweis des Unterschieds von Naturrecht und Naturgesetz und die Optabilität des Todes 442 Affektreinigung und Beständigkeit als politische Theologie 5.2.5.3 447 5.2.6 Recht als Quelle guter Politik: Gryphius gegen einen apriorischen Pragmatismus 449 5.2.6.1 Vertragstreue und Souveränitätspragmatik 450 5.2.6.2 Catharina zu Machiavellis unvermittelter Normativität des Politischen 451
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5.2.6.3 Sinnliche Gewissheit? Recht als Quelle ästhetischen Entsetzens 452 5.2.7 „Gott lst vnschuldig Blut nicht ruffen sonder Frucht“. Die göttliche Strafe in Catharina von Georgien 455 5.2.7.1 Imanculis Hinrichtung und die Diplomatie des Bauernopfers 456 5.2.7.2 Das forum internum als Strafe und Strafankündigung 460 5.2.7.3 Fazit: Göttliches Recht und göttliche Strafe im politischen Kalkül 463 5.3 Æmilius Paulus Papinianus: Politische Theologie auf den tönernen Füßen des Innatismus 464 5.3.1 „Was ists Papinian daß du die Spitz erreicht?“ Papinians Staunen über Sollen und Sein, Grund und Ursache 466 5.3.2 Die Souveränitätsproblematik der Biarchie: Doppelherrschaft als Naturzustand? 467 5.3.2.1 Papinian als Schattenmonarch 468 5.3.2.2 Papinians Skepsis bezüglich der Analogie von Familie und Polis 471 5.3.2.3 „Ist denn der Zepter nur umb Blut und Wunden feil?“: Biarchie und Naturzustand, Souveränitätsproblematik und Bodin-Kritik 474 5.3.3 Consiliarii und Beamtenethik 483 5.3.3.1 Die Unverbindlichkeit des Ratschlags 483 5.3.3.2 „wer dint; muß nichts versagen“? Grenzen der Beamtenethik 487 5.3.4 Heterotheonomie im Polytheismus – Begründungsnöte einer Universaljurisprudenz 489 5.3.4.1 Papinians Themis: Quelle ‚allgemeinen‘ Rechts 490 5.3.4.2 Recht auf Rechtlosigkeit? Ansätze der goldenen Regel 491 Bassians Victoria: Quelle des Souveränitätsrechts 5.3.4.3 494 Anspruch und Potenzial des Rechts vor der Staatsräson 5.3.5 498 Zur juridischen Indifferenz von Naturstandsidyll und 5.3.5.1 Schiffsmetapher 498 Papinian zwischen lex aeterna, Innatismus und 5.3.5.2 Naturchristentum 504 Deus unus ex machina. Systematisierungsgewinn des Rechts in 5.3.5.3 einer paedagogia in Christum 508 Die Wirkmacht der Gewissensinstanz: Zur göttlichen Strafe im 5.3.5.4 Papinian 512 5.3.5.5 Ästhetik der Macht? Macht des Rechts! Papinians Verweigerung einer Haltung des virtuosen Gelehrten 517 5.3.5.6 Gebotene constantia statt Selbsterhaltung: Papinians Haltung zwischen zwei Verboten 521
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5.3.5.7
Der Glaube an die Wirklichkeit göttlicher Gesetze: Papinians juridisches Märtyrertum gegen Prudentismus und Kontraktualismus 524 5.3.6 Fazit: Pagane Hoffnungen in den christlichen Gott 528 5.4 Carolus Stuardus: Die normative Kraft der Schrift und autoritative Kraft des handelnden Gottes 530 5.4.1 Die erste Fassung (1657): Die anvisierte Lösung und ihre möglichen Probleme 531 5.4.2 Die politische Theologie des sola scriptura: Das Cromwell Epitaph 532 5.4.3 Königsrecht und Funktionalisierung der Ehepflicht: Der FairfaxKomplex 538 5.4.4 Frühe Machiavelli-Kritik: Hugo Peters profan-pragmatischer Fehlschluss 543 5.4.5 Fragen zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Prospektive und Spekulation 546 5.4.5.1 Unrecht als Mittel göttlicher Strafe gegen den König? 547 5.4.5.2 Gottesgnadentum, Innatismuskritik und alte Anthropologie: Momente der Demokratiefeindlichkeit 548 5.4.6 „Sie rasen mit Vernunfft“ – Gryphius’ Kritik an Grotius 554 5.4.7 Die politische Autorität der Heiligen Schrift 559 5.4.7.1 Die Kontrafaktizität göttlicher Norm 559 5.4.7.2 Göttliches als transrationales Recht 561 5.4.7.3 Rechtstheologische Finalismuskritik 563 5.4.8 Die Hybris der Independenten: Die göttliche Autorität des Menschen 565 5.4.8.1 „Diß ist des HErren Wort“? Hugo Peters monarchomachische Verkehrung 565 5.4.8.2 Gesetzesgrenzen als Existenzbedingungen der politischen Gemeinschaft 569 5.4.9 Antworten zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Die Vergegenwärtigung der Geschehnisse 1660/61 574 5.4.9.1 Das Ob göttlicher Strafe: Die Versicherung der Wirklichkeit 574 Das Wie göttlicher Strafe: Gottes ausgleichende und verteilende 5.4.9.2 Gerechtigkeit, oder: Voluntaristische Vermittlung zwischen Freiheit und Pflicht 577 583 6 Schlüsse 6.1 Politische Theologie und Ausnahmezustand: Die Verbote von Widerstand und Tyrannei als göttliche weltliche Gesetze 586
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XVII
6.2 ἀπάθεια? Dulden und Ertragen als Rechtspflichten 589 6.3 Bis an die Schwelle zu Hobbes und nicht weiter: Zum steigenden Reflexionsniveau der Legitimationsproblematik in Gryphius’ Trauerspielen 590 6.4 Der schmale Grat zwischen Tyrannei und Märtyrertum als Signum menschlicher Geschöpflichkeit? Zu einer These Walter Benjamins 593 6.5 Trauerspielpoetik unter dem Leitstern des theologischen Voluntarismus, der Christiana Philosophia und politischen Theologie 596 6.6 Gryphius’ politische Theologie: Eine Friedenslehre? 606 611 7 Literaturverzeichnis 7.1 Quellen 611 7.1.1 Schriften des Andreas Gryphius 7.1.2 Andere Quellentexte 612 7.2 Sekundärliteratur 618 Register
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Siglenverzeichnis ADB
Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1875–1912 (ND: 1967–1971). CIC Corpus Juris Civilis. 3 Bde. Hg. v. Paul Krüger u. Theodor Mommsen. Berlin 1908–1915 (Bd. 1: 11. Aufl.; Bd. 2; 9. Aufl.) Cod. Codex Iustiniani. Corpus Reformatorum. Begr. u. hg. von Karl Gottlieb Brettschneider. Halle an der CR Saale u.a. 1834–1991. Digesta seu Pandecta Iustiniani. Dig. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. DVjs Begr. von Paul Kluckhohn u. Erich Rothacker. Stuttgart 1923ff. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854–1971. DWb Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. von Jürgen Mittelstraß. EPhW 2. Aufl. Stuttgart 2004. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian GdW Szyrocki, Hugh Powell (Bd. 1–8) bzw. von Johann Anselm Steiger (Bd. 9). Tübingen 1963–2007. Herodes I Andreas Gryphius: Herodis Furiae & Rahelis lachrymae. In: ders.: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. Übers., komm. u. hg. von Ralf Georg Czapla. Berlin 1999 (Bibliothek seltener Texte 4), S. 10–71. Herodes II Andreas Gryphius: Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus. In: ders.: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. Übers., komm. u. hg. von Ralf Georg Czapla. Berlin 1999 (Bibliothek seltener Texte 4), S. 76–145. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried HWPh Gründer, Gottfried Gabriel. Basel 1971–2007. Institutiones Iustiniani. Inst. Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. Killy von Wilhelm Kühlmann. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Berlin 2008–2012. Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarbeitete Aufl. Hg. von MLL Günther Schweikle, Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. MLLK 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 2004. NDB Neue Deutsche Biographie. Hg. von Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode u.a. Berlin 1953ff. Olivetum Andreas Gryphius: Olivetvm libri tres (1648). In: ders.: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. Übers., komm. u. hg. von Ralf Georg Czapla. Berlin 1999 (Bibliothek seltener Texte 4), S. 150–257. Pauly Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hg. von Konrat Ziegler, Walther Sontheimer. München 1979. RLW Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u.a. 2. Aufl. Berlin, New York 2007. STh I Thomas von Aquin, Summa Theologiae Prima. STh I–II Thomas von Aquin, Summa Theologiae Prima Secunda. STh II–II Thomas von Aquin, Summa Theologiae Secunda Secunda.
XX STh III TRE WA
Siglenverzeichnis Thomas von Aquin, Summa Theologiae Tertia. Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller u.a. Berlin, New York 1997–2004. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883–2009.
1 Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems ita sunt Stoici assensi, ut et, quicquid honestum esset, id utile esse censerent, nec utile quicquam, quod non honestum. Cicero, De officiis III, 11.1
Wenn von Dichterjuristen die Rede ist, wird unter Philologen ebenso wie unter Rechtswissenschaftlern zumeist die Begriffsbestimmung Eugen Wohlhaupters geteilt: Ein ausgebildeter Jurist schreibt poetische Texte.2 Gleichwohl ist ebenso lange der unausgesprochene Konsens spürbar, dass das eigentlich Bemerkenswerte nicht die bloße Gleichzeitigkeit des juristischen Brotberufs und der dichterischen Betätigung ist.3 „Morgens Amtsschimmel – abends Pegasus“: dieses Wortbild des Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann4 verdeckt das eigentliche Interesse am Dichterjuristen mehr als für dieses einzustehen. Es interessiert die inhaltliche Verbindung der dichterischen Betätigung und rechtlicher Fragen. Es ist der Jurist im Dichter, der ihn über die große Frage interpersonalen Verhaltens und Handelns informiert, nämlich was Recht ist. Anders also als der weit weniger usuelle Juristendichter5 scheint der Begriff Dichterjurist deutlich mehr im Schilde zu führen als die nur wenig aufregende Bezeichnung von Poesie, die von Juristen bzw. über Juristerei verfasst wird. Es scheint ebenso sehr um den Dichter im Juristen zu gehen, der ihm die große Frage über Wesen und Bedingung des Rechts in bestimmter Weise zu reflektieren hilft. Außer „[v]on der Neigung der Poeten zur Jurisprudenz“6 ist nur genauso von einer Neigung des Juristen zur Poesie zu sprechen. Der Jurist ist in diesem Falle als Dichter Jurist.
1 Marcus Tullius Cicero: De officiis. Hg. von Walter Miller. Cambdrige, Massachusetts 1975 (The Loeb classical library), S. 278–280. 2 Eugen Wohlhaupter: Juristen als Künstler. In: ders.: Dichterjuristen. Hg. von Horst G. Seifert. Bd. 3. Tübingen 1957, S. 401–459, hier S. 406. 3 Vgl. Thomas Weitin: Recht und Literatur. Münster 2010 (Literaturwissenschaft: Theorie und Beispiele 10), S. 25. 4 Zit. n. Klaus Kastner: Literatur und Recht – eine unendliche Geschichte. In: Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift. Hg. von Hermann Weber. Berlin 2004 (Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht 18), S. 1–18, hier S. 1. 5 Vgl. Wohlhaupter: Juristen als Künstler, S. 406; Hermann Weber: Recht, Literatur und Musik – Aspekte eines Themas. In: Literatur, Recht und Musik. Hg. von Hermann Weber. Berlin 2007 (Forum juristische Zeitgeschichte 17), S. 1–10, hier S. 2. 6 Michael Marx: Von der Neigung der Poeten zur Jurisprudenz. In: Das Recht und die schönen Künste. Hg. von Heike Jung. Baden-Baden 1998, S. 85–97.
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Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems
Inwiefern Literatur systematisch ein besonderes Reflexionspotenzial eignet, wird ausführlich zu klären sein (3.3). Historisch ist allemal anzuerkennen, dass sich die Dichtung der Frühen Neuzeit in besonderem Maße der Klärung juristischer, mehr noch: juridischer Fragen verpflichtet fühlt. Der frühneuzeitlichen Dichtung eignet wesentlich ein besonderes Verhältnis zum Rechtsdiskurs, mithin ist Literaturgeschichte der frühen Neuzeit auch wesentlich Teil der Geschichte des frühneuzeitlichen Rechtsdenkens. Das Jahrhundert des Dichterjuristen Andreas Gryphius (1616–1664) setzt sich wie wohl kein Säkulum zuvor neu mit der Frage des Rechts auseinander, seitdem dessen Selbstverständnis als politisch maßgebliche Handlungsregel von Niccolò Machiavelli fundamental angegriffen worden war (4.1). Und besonders die Dichtung nimmt sich dieser Frage in einer Intensität an, die dieses Jahrhundert genauso wie Europa und die Konfessionen übergreift. Als ein früher Höhepunkt einer solchen dichterischen Reflexion auf Fragen des Rechts darf die sogenannte Galeerensklavenepisode aus dem Don Quijote (1613) des Miguel de Cervantes gelten. Don Quijote befreit zwölf Häftlinge auf ihrem Weg zum Galeerendienst. Seine entscheidende Motivation ist dabei nicht deren Unschuld, sondern die Annahme einer exklusiven Strafbefugnis Gottes: [D]a ich weiß, daß es zu den Eigenschaften der Klugheit gehört, was sich im Guten erreichen läßt, nicht im Bösen zu tun, so will ich diese Herren Wächter nebst Kommissär gebeten zu haben, sie möchten belieben, euch loszubinden und in Frieden ziehen zu lassen, da es an andern Personen nicht mangeln wird, um dem König bei bessern Anlässen zu dienen; denn es scheint mir ein hartes Ding, die zu Sklaven zu machen, die Gott und die Natur frei erschufen. Überdies, ihr Herren von der Wache“, fügte Don Quijote bei, „haben diese armen Leute nichts Böses gegen euch selber verübt. Mag denn jeglicher von ihnen zusehen, wie er mit seinen Sünden zurechtkommt; es ist ein Gott im Himmel, der es nimmer versäumt, den Bösen zu strafen, und es ist nicht recht, daß Männer von Ehre sich zu Henkern ihrer Nebenmenschen hergeben, wenn für sie selbst gar nichts dabei auf dem Spiel steht.7
Gott ist nicht nur Stiftungs- und Geltungsinstanz des göttlichen und natürlichen Rechts, sondern stellt auch selbst Rechtssicherheit im vollen Umfang her. In den Augen des Hidalgo ist daher ein vom Menschen selbst ausgeübter Strafvollzug ebenso überflüssig wie unrechtmäßig. Don Quijotes Verständnis von der Gottesinstanz als Straf- und Rechtsgarant einerseits und die Notwendigkeit einer regulierten menschlichen Gesellschaftspraxis andererseits bleiben unvermittelt. Der Ritter von der Mancha übersieht, dass der Gedanke des Gemeinwohls durchaus ein geteiltes Interesse an gemeinsamen Anliegen zu begründen erlaubt: Dass gegen die „Herren von der Wache“ selbst „nichts Böses verübt“ worden war, dass
7 Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote. Aus dem Spanischen übertr. u. hg. von Ludwig Braunfels. Düsseldorf 2003, S. 200.
Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems
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„für sie selbst gar nichts dabei auf dem Spiel steht“, hindert nicht, dass gegen das Gemeinwohl Böses verübt wurde und dass für das Gemeinwohl durchaus etwas auf dem Spiel steht. Selbstverständlich darf Gott nicht dadurch gelästert werden, dass das Gemeinwohlprinzip gegenüber solchen absolutistischen Formeln ins Hintertreffen gerät, die die Wachmänner Don Quijote entgegenhalten: „[E]s seien Galeerensklaven, Leute, zu des Königs Diensten bestimmt, die auf die Galeeren kämen, und mehr sei nicht nötig zu sagen und mehr brauche er nicht zu wissen“.8 Diesem Positivismus versucht Don Quijote zu wehren, gelangt dabei jedoch nicht zu einer Rechtstheologie, die auch dem menschlichen Rechts- und Staatswesen als richtungsweisendes Fundament dient. Ebendies hat der tapfere Junker in seiner eigentümlichen Anrufung von Mt 7,1 und 1 Kor 59 grundsätzlich missverstanden. Er versucht zwar, von der Gottesinstanz ebenso wie von pragmatischen Gesichtspunkten zu sprechen. Er hat ein entscheidendes Moment des Machiavellismus durchaus erkannt, dass nämlich Güte ebenso wie Schlechtigkeit – und nicht nur letztere10 – zielführendes Mittel eines nutzorientierten Handelns sein kann. Um Klugheit jedoch auf das Fundament universalen Rechts zurückzuführen, bedarf es in der Tat mehr, als dem Menschen die Sorge und Zuständigkeit in allen Rechtsfragen abzusprechen und sie in Gott ganz erfüllt zu sehen. Seine unterkomplexe Sichtweise setzt Don Quijote mitnichten von der Masse der Zeitgenossen ab, wie das bei seinen ‚Wahrnehmungsstörungen‘ und Realitätsverlusten der Fall ist.11 Erich Auerbach liegt in seiner berühmten Einordnung der Szene falsch, wenn er meint: „Vor allem sind es nicht etwa Don Quijotes Abenteuer, durch die irgendwelche grundsätzliche Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft aufgedeckt würden“.12 Don Quijotes häufige Wirklichkeitsverluste brauchen nicht bestritten zu werden. Wenn sich Don Quijote jedoch juri-
8 Ebd., S. 192. 9 Mt 7,1: „ RJchtet nicht / Auff das jr nicht gerichtet werdet“; 1 Kor 4,5: „Darumb richtet nicht vor der zeit / bis der HErr kome / welcher auch wird ans liecht bringen / was im finstern verborgen ist / vnd den rat der hertzen offenbaren / Als denn wird einem jglichen von Gott lob widerfaren“. Im Folgenden wird immer zitiert nach Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch (Wittemberg 1545). Letzte zu Luthers Lebzeiten erschiene Ausgabe. Hg. von Hans Volz. Darmstadt 1972. 10 So nämlich lautet ein weit verbreiteter Irrtum der antimachiavellistischen Polemik im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: Vgl. Michael Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Conrings politischem Denken. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990 (stw 878), S. 73–105. 11 Vgl. Sebastian Neumeister: Don Quijote, die Windmühlen, die Wissenschaften und die Wirklichkeit. In: Respublica Guelpherbytana. Festschrift für Paul Raabe. Hg. von August Buck, Martin Bircher. Amsterdam 1987 (Chloe 6), S. 613–641. 12 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 2., verbesserte und erweiterte Aufl. Bern 1959 (Sammlung Dalp 90), S. 329.
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Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems
disch auf Gott bezieht, bar jeder „Folgerichtigkeit und Methode“, wie Auerbach zurecht feststellt,13 so bringt Cervantes darin gerade kein weiteres Narrenstück des Don zur Darstellung, sondern spricht ein grundlagentheoretisches Problem der zeitgenössischen Rechtslehren an: Ihr juridischer Apriorismus versteigt sich in der Unterschätzung handlungstheoretischer, vordergründig a-juridischer Probleme. Besonders unter dem Pluralisierungsdruck der Frühen Neuzeit erweisen sie sich als ebenso wirklichkeitsfremd wie der Ritter von der Mancha. Ihr unbestrittenes göttliches Fundament und vernunftgeleiteter Aufbau sind noch nicht ausreichend vermittelt mit den Fragen der politischen Wirklichkeit. Ebendiese Vermittlung wird in der Galeerensklavenepisode eingeklagt: Don Quijotes juridischer Rigorismus überzeugt ebenso wenig wie der autoritative Positivismus der Wächter.14 Der Wirklichkeitssinn Machiavellis musste allemal ernst genommen werden. Ein argumentativer Rückzug auf universales Recht, der nicht plausibilisieren wollte, dass das Recht selbst pragmatische Lösungen anzubieten weiß, war nur das, was Machiavelli eine breite Angriffsfläche geboten hatte. Dieser Rückzug ist es auch, der Don Quijote in seine Misere manövriert. „Die fatale Härte des politischen Problems“15 drängt auf seine sachliche Lösung, ohne dass pragmatische Fragen in immer schon imperativen Formeln derjenigen Art wegdefiniert würden, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.16 Göttliches, mithin natürliches Recht hat reflektiert zu werden auf die Fragen der Staatsführung und der menschlichen Gesetzgebung, um diese ebenso klug wie rechtmäßig zu gestalten. Die Rechtstheologie wird in der Galeerensklavenepisode nicht etwa verabschiedet, sondern in ihrem übergeordneten Status allererst nachdrücklich dazu aufgefordert, ihrem „hohen Rang“17 gerecht zu werden und eine theonome prudentia civilis zu kon-
13 Ebd., S. 330: „[G]ewiß ist solch ein Satz höheren Ranges als jedes geltende Recht. Aber eine solche ‚höhere Moral‘ muß Folgerichtigkeit und Methode haben, wenn sie ernst genommen werden soll.“ 14 Vgl. Bernhard Teuber: Der naturrechtliche Diskurs im Don Quijote und die Episode von den Galeerensträflingen. In: Miguel de Cervantes’ ‚Don Quijote‘. Explizite und implizite Diskurse im ‚Don Quijote‘. Hg. von Christoph Strosetzki. Berlin 2005 (Studienreihe Romania 22), S. 365–385, hier S. 376–381. 15 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt am Main 1988 (stw 1268), S. 251. 16 Dabei zeigt sich hier, dass nicht erst Hobbes sich dieser fatalen Härte des politischen Problems bewusst ist, wie es bei Blumenberg erscheint: ebd. 17 Vgl. Gideon Stiening: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 97–133.
„mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften verbinden“
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zipieren. In zeitlich unmittelbarer Nähe zu Cervantes veröffentlicht der Conimbricenser Rechtstheologe Francisco Suárez seinen großen Tractatus de legibus ac Deo legislatore.18 Dessen drittes Buch erhebt ebendiesen Anspruch, eine Lehre von den menschlichen Gesetzen zu liefern, die genauso klug wie gottgefällig ist.19 Die Galeerensklavenepisode des Don Quijote ist kein unernster Spaß, nur Spiel, wie Auerbach meint, sondern sie ist der literarische Ausdruck eines virulenten politiktheoretischen Problembewusstseins.
1.1 „mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften verbinden“ Es ist ein Problembewusstein, das nicht nur Zeit-, Landes- und Konfessionsgenossen wie Cervantes und Suárez eint. Auch der dreißig bis fünfzig Jahre später wirkende schlesische Lutheraner Andreas Gryphius wird dieses Problembewusstsein an den Tag legen. Inmitten der Aushandlung der Westfälischen Friedensverträge, am 1. September 1648, schreibt der Dichterjurist die Widmungsepistel seiner Olivetum libri tres an den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688).20 Gryphius erinnert „der Fluten so vieler Kriege“, „der Wirrungen unseres Jahrhunderts“,21 um schließlich den Wunsch zu äußern, es „ziehe nun die Süße einer göttlicheren Wissenschaft in unsere Sinne ein!“22 Allzu lange wurde die Religion nicht in den Kirchen, sondern in der Welt („in Orbe“) und im Umgang mit den Menschen („mortalium comerciis“) vollzogen.23 Die aus dem konfessionellen Konflikt resultierenden Kriegsgreuel schildert Gryphius über beinahe die Hälfte des Widmungstexts: Die Vergewaltigung eines Mädchens neben den Leichen ihrer Eltern malt Gryphius mit genauso bildgewaltigen
18 Vgl. Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening (Hg.): Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5). 19 Francisco Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Liber Tertius. Drittes Buch. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. StuttgartBad Cannstatt 2014 (PPR I, 6–7) [i.D.]; vgl. Gideon Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III). In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 195–230. 20 Olivetum, S. 154–161. 21 Ebd., S. 154: „tot bellorum exundationes“, „seculi vertigine“. 22 Ebd.: „Subeat quippe ingenia diuinioris scientiae dulcedo!“ 23 Ebd.: „dum sacra propter, quicquid sanctum atque pium, non templis, sed Orbe & mortalium commerciis exegimus.“
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Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems
Worten aus wie den Kannibalismus einer Mutter, die ihr Kind verzehrt, oder den unerträglichen Hunger, der die Menschen zur Nekro- und Koprophagie treibt.24 Neben ausführlichen Reflexionen in seinen dramatischen Figurenreden und epischen Erzählerreden bestimmen Gryphius’ Tatsachenschilderungen und ihre ästhetische Schlagkraft den Charakter seiner politischen Dichtung, und zwar nicht nur ornamental (delectare) oder auch nur in belehrender Absicht (docere), sondern auch in systematischer Hinsicht: Die Grausamkeit der jüngsten Kriegsereignisse wirft die Frage nach allgemeinem Recht und friedlicher Ordnung in einer Radikalität auf, die Blumenberg von der oben genannten „fatalen Härte des politischen Problems“ sprechen lässt. Anders als für Thomas Hobbes jedoch, auf den Blumenberg diese Formulierung münzt, ist für Gryphius die juridische Autorität der Theologie noch in Kraft. Dennoch bestimmt nun die Wucht der Ereignisse den Auftrag der Theologie und nicht mehr diese selbst. Bei Andreas Gryphius drängt der Dreißigjährige Krieg spürbar auf den anthropozentrischen Ernst auch theologischer Rechtslehren. Gryphius setzt alle seine Hoffnung auf die Verwissenschaftlichung der politischen Lehre, d.h. „mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften zu verbinden“: quô remedio sustentare spem? quam studiis, quae intra privati angustias detrusit publicus furor? Quibus tamen multum claritudinis adfulget SERENISSIME atque POTENTISSIME PRINCEPS quod grandia inter atque augusta curarum momenta & his praesidium sufficias. Nec enim infrà magnitudinem Tuam censes, artibus imperandi, scientiarum elegantiam junxisse […].25
Sobald die Staatslehre durch ihre Szientifizierung an Gewissheit gewinnt, stellt sie ebenso eine größere Handlungssicherheit in Aussicht wie eine nachhaltige Wahrung des Friedens. Die eigentliche Hoffnung aber ruht merklich auf einer Instanz, die die Politikwissenschaft selbst nicht ist. Für Gryphius ist dies ihr Vorteil: Denn können ihre Studien vom Wahn der Menschen verdrängt werden („detrusit“), so bleibt ihr objektives Geltungsfundament von solchem Wahn und
24 Ebd., S. 156: „Compressa caesos juxta parentes virgo, exhalauit animam inter ferales amplexus, aut telo viam reperit, qua exiret carceres incoestos. […] Contigit ergo, quod olim posteri factum negent, aut execrentur; exspes vitae mater huc ferociae descendit, ut prolem inter & affectus dubia, quem morti damnet; non passa sobolem negates alimentis extabescere, praeoccuparit parricidali dextra carnificis officium ac reluctante stomacho ingereret, prolis ex se genitae divulsas ac tabo stillantes semicrudas carnes, suffodit sepulcreta fames, inhiavit gabalis infamibus, & sontium suppliciis pasta creuit. Multi semianimes ossa atque bestiarum sordes ore complexi expiravere.“ 25 Ebd., S. 158.
„mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften verbinden“
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Ignoranz letztlich unberührt. Die Forderung nach der Verwissenschaftlichung der politischen Kunst hat nicht ihre Loslösung von der Theologie im Sinn: Die Ölzweige des Friedens – so heißt es im ersten Satz – triefen vom Blut Christi, insofern der Glaube an ihn und seine Erlösungstat erst diejenige Geduld erlaubten, den Krieg durchzustehen und die einzig wahre Glaubenspraxis, nämlich die allein kirchliche, zu etablieren.26 So sehr das weltliche Regiment mit Blick auf seine Zuständigkeit also säkular ist, so behält es eine Ermöglichungsbedingung in jener „diuinior scientia“, der Lehre von der Friedfertigkeit des christlichen Glaubens. Der politische Frieden ist nur theologisch erklärbar, denn schließlich verdankt er sich ausschließlich dem Gott des Friedens, der auch – so heißt es im letzten Satz – der Gott des Ratschlusses ist. Dieser Gott und sein Patronat über den Kurfürsten sind die andere Ermöglichungsbedingung dieses weltlichen Regiments. Gryphius macht keinen Hehl daraus, dass dieser Ratschluss Gottes politisch ist: Er gewährt dem Großen Kurfürsten alles, was diesem nützlich ist, und zwar nützlicher („utilius“), als es der Mensch Gryphius dem Herrscher wünschen kann.27 Gott gewährt dem weltlichen Regiment seine Unterstützung nicht nur, insofern es über die nötigen Mittel bisweilen nicht verfügt, sondern auch, insofern allein Gott die angemessene Kenntnis davon besitzt, was eigentlich politisch nützlich ist. Die Verwissenschaftlichung der politischen Lehre reicht über ihre strukturelle Szientifizierung (Ramismus, ordo geometricus etc.) nicht hinaus: Sie reicht nicht bis zur Verwissenschaftlichung ihrer Fundamente selbst heran; sie bedeutet keine Kritik der praktischen Vernunft avant la lettre: Die Bestimmungen des Krieges, besonders aber des Friedens bleiben Theologeme. Die Kenntnis der letzten praktischen Wahrheit, dessen nämlich, was künftig geschehen wird, bleibt dem Menschen entzogen und allein Gott vorbehalten. Wenn Gryphius die politische Kunst nichtsdestoweniger als szientifizierbar erachtet, so verdankt sich dies gerade der verbleibenden ‚Theologizität‘ dieser scientia. Wissenschaft ist das sichere Schließen aus Grundsätzen, die selbst als unbezweifelbar gelten. Diesen Status des Unbezweifelbaren besitzt für Gryphius ausschließlich das Wissen um Gott und seine Allmacht.
26 Ebd., S. 154: „PAcis Olivas, post tot bellorum exundationes affero, sed illius cruore madidas, qui ad restaurandum collapsi generis decus, amoris tantum sui magnitudine ducebatur. Huc saltem oculos, seculi vertigine caligantes, defigere licuit; Cùm in ea tempora natum me deprehenderem, quibus advortere mentem necessum fuit, constantissimo exemporum. […] Subeat quippe ingenia diuinioris scientiae dulcedo!“ 27 Ebd., S. 160: „DEVS PACIS, DEUS CONSILII, cui multa debet, plura debebit SERNISS. TUA CELSITUDO SER. T. Celsitudinem, ILLVSTRISSIMAM CONIUGEM, ac spem votumque Patriae, EXPEDITAM diu PROLEM; VOS, è quorum Vita, tot populorum Vita atque incolumitas dependet; Sospitet, & quae utilius sit VOBIS excepisse, nobis optasse, largiatur.“
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Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems
1.2 „das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“ Gryphius setzt sich vor allem in seinen Trauerspielen Leo Armenius, Catharina von Georgien, Æmilius Paulus Papinianus und Carolus Stuardus mit dem Problem von politischer Wirklichkeit und Gottes’ rechtlicher Geltung in politicis auseinander. Sein Interesse schlägt sich in den einzelnen politischen Trauerspielen nieder, aber auch in dem Ganzen, das sie bilden. Denn sie eint eine gemeinsame systematische Fragestellung: Was ist gültig zu erwarten für den Fall, dass der Souverän im Staat entweder als Tyrann gegen das göttliche und natürliche Recht verstößt oder durch einen illegitimen Umsturz handlungsunfähig wird? Noch fast ein halbes Jahrhundert nach Cervantes und Suárez verfolgt Gryphius diese Frage mit einer erstaunlichen Akribie und dekliniert unterschiedliche Problemkonstellationen von Souveränität und Widerstand regelrecht durch. Offensichtlich ist es der Rechts- und Staatslehre auch in der Zwischenzeit nicht gelungen, eine befriedigende Lösung anzubieten, und es drängt sich die Vermutung auf, dass Gryphius ein eigenes Lösungsangebot macht. Dieses sei hier unter der allgemeinen These formuliert: Über Rechtsdenker wie Suárez hinaus, denen eine Staatsrechtslehre klug und gottgefällig sein sollte, versucht Gryphius in den ästhetischen Probehandlungen seiner Trauerspiele den Nachweis, dass eine Staatsrechtslehre klug, weil gottgefällig zu sein hat – stärker noch: anders gar nicht als klug gedacht werden kann. Der Unterschied von Gerechtigkeit und Nützlichkeit besteht für Gryphius offensichtlich nur begrifflich. Der Irrtum des moralisch indifferenten Pragmatismus gründet in der unzulässigen Ontologisierung dieses Unterschieds. Gryphius nimmt den stoizistisch beeinflussten Gedanken Ciceros wieder auf, dass das Unehrenhafte, mithin Ungerechte unmöglich von Nutzen ist.28
28 Obwohl es ihm um die Kollisionsfrage von honestum bzw. iustum und utile eigentlich erst im dritten Buch geht, greift Cicero die Antwort gerade im Hinblick auf die doch nur begriffliche Distinktion von Gerechtem und Nützlichem schon im Anfang des liber secundus voraus: Cicero: De officiis, II, 9f., S. 176: „Hoc autem de quo nunc agimus, id ipsum est, quod ‚utile‘ appellatur. In quo verbo lapsa consuetudo deflexit de via sensimque eo deducta est, ut honestatem ab utilitate secernens constitueret esse honestum aliquid, quod utile non esset, et utile, quod non honestum, qua nulla pernicies maior hominum vitae potuit afferri. Summa quidem auctoritate philosophi severe sane atque honeste haec tria genera confusa cogitatione distinguunt: quicquid enim iustum sit, id etiam utile esse censent, itemque quod honestum, idem iustum, ex quo efficitur, ut, quicquid honestum sit, idem sit utile“ [Hervorhebung, O.B.]. Vgl. Eckard Lefèvre: Panaitios’ und Ciceros Pflichtenlehre. Vom philosophischen Traktat zum politischen Lehrbuch. Stuttgart 2001 (Historia 150), S. 86.
„das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“
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Allerdings richtet die vorliegende Studie ihren Fokus nicht auf die Moraldidaxe der politischen Trauerspiele. Anders als der Junker von der Mancha ist sich nämlich der Dichterjurist Gryphius sehr wohl bewusst, dass ein je schon doktrinäres Theologisieren die Härte des politischen Problems zu vernachlässigen droht. Das irdische Problem steht sowohl im Zentrum der dramatischen Verhandlung als auch am Beginn seiner Analyse. Gryphius nimmt auch die Innovationen des Welt- und Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit auf, und zwar nicht, um seine rechtstheologische Haltung gegen deren theorieimmanente Säkularisierungstendenzen zu verteidigen. Statt eines Widerspruchs sieht Gryphius in den New Sciences gerade die säkulare Entsprechung zur Begründung einer allein göttlichen Rechtsgeltung und theonomen Politologie. Die Wissenschaftsphilosophien Bacons und Descartes’ enthalten sich entschieden eines Erkenntnisanspruchs über Gottes Willensbeschlüsse und stärken so zunächst die Rechtstheologie mehr, als dass sie sie schwächten. Lutherische Orthodoxie und wissenschaftsinnovatives Knowhow stehen bei Gryphius in gemeinsamen Dienst gegen den machiavellistischen Prudentismus. Und sie sollen gemeinsam aufzeigen helfen, dass Achtung göttlichen Rechts und politischer Pragmatismus gar keine gleichrangigen Alternativen darstellen, die es etwa zu vermitteln gälte. Gryphius’ politische Trauerspieldichtung ist von dem Grundgedanken getragen, dass Klugheit als solche ohne die Beachtung von Gottes Recht nicht zu haben ist. Das ius divinum zeitigt eine politische Wirklichkeit, so dass für Catharina von Georgien wie jeden rechtmäßig handelnden, aber ungerecht behandelten Souverän gelten darf: „das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“ (GdW 6, Catharina von Georgien, V,6, S. 220, v. 387). Gryphius’ politische Theologie ist theologische Politologie. Um den Beweis dieser Kernthese ist es der folgenden Arbeit, so weite und verzweigte Wege sie zu gehen hat, zu tun.
2 Forschungsüberblick und -diskussion: Zum Antagonismus heilsgeschichtlicher und politologisch-jurisprudenzieller Perspektiven der Gryphius-Forschung Diskussionen einer breiten und vielfältigen Forschung stehen vor dem Problem, vor der schieren Masse des zu Diskutierenden ausufern zu müssen. Eine bloß selektive Auswahl wäre wissenschaftlichen Ansprüchen gegenüber der Forschung ebenso undankbar wie unwissenschaftlich. Der Spagat, beides zu vermeiden, scheint indessen nur gelingen zu können, wenn der Umfang der diskutierten Arbeiten zwar verringert wird, dies jedoch nach solchen systematischen Gesichtspunkten erfolgt, die jene Arbeiten als exemplarisch für eine bestimmte Gruppe ansehen. Diese Forschungsdiskussion muss sich daher durch eine Doppelstruktur auszeichnen: Nicht nur müssen die wesentlichen Ergebnisse der Forschung gesammelt und referiert werden, mithin der Antagonismus zweier, im weiteren Sinne einmal heilsgeschichtlich-theologischer und ein andermal rechtshistorisch-politiktheoretischer Perspektiven aufgezeigt werden (2.1). Es muss auf der Ebene der allgemeinen Forschungsdiskussion selbst referiert werden, wie dieser Antagonismus konzeptualisiert wird (2.2). Schließlich ist der eigene Umgang mit dem Antagonismus zu umreißen, der ihn zu seinem eigenen Gegenstand macht (2.3).
2.1 Der wissenschaftliche Antagonismus Was die ideen- und motivgeschichtliche Betrachtung der gryphschen Trauerspiele betrifft, lassen sich in der Forschungsgeschichte zwei unterschiedliche Ansätze erkennen, bezüglich derer die Nicola Kaminski sogar von „festgefügten Fronten“ spricht.1 Der erste Ansatz fokussiert die bei Gryphius unbestritten starken und häufigen Analogien zur Heilsgeschichte: Die ohne Ausnahme zu Tode kommenden Titel- und Hauptfiguren sind von Gryphius ausgestattet mit Gesten, Handlungen und Verhaltensweisen, die als Reminiszenzen des Leidens Christi fungieren. Als das Zentrum der Trauerspiele wird vermehrt das vanitas-Motiv angesehen und das Irdische bei Gryphius vorrangig mit Blick auf dessen Vergänglichkeit inter-
1 Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998 (RUB 17610), S. 73.
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Forschungsüberblick und -diskussion
pretiert. Entsprechend etabliert diese Forschungslinie eine martyrologische Lesart der gryphschen Tragödien, dies natürlich unter Berücksichtigung der jeweils unterschiedlichen Umstände. Der zweite Ansatz vertieft sich in die juridischen und juristischen Diskurse dieser Trauerspiele. Der Begriff Diskurs wird hier nicht im Sinne Foucaults verwendet, da die verhandelten Normen nicht eigentlich erst hergestellt werden, sondern im Sinne Jürgen Habermas’, insofern nämlich „problematisierte Geltungsansprüche zum Thema gemacht werden“.2 Es soll sich im Folgenden zeigen, inwiefern gerade dieser Diskursbegriff erlaubt, den Antagonismus zu überwinden, ohne ihn schlicht zu leugnen. Die Untersuchung des juridischen Diskurs’ bei Gryphius entwickelte sich zu einem Gutteil in schon kritischer Auseinandersetzung mit der martyrologischen Gryphius-Philologie und stellt sich in seinem Selbstverständnis häufig in expliziten Gegensatz zu deren Dominanz.3 Die problematisierten Geltungsansprüche sind solche der herrschaftlichen Geltung sowie der Geltung von Widerstand gegen eine vermeintlich tyrannische Herrschaft: Gryphius’ Diskutanten problematisieren die Legitimität obrigkeitlicher Urteile, Handlungen und Gesetzgebungen. Diese zur Diskussion gestellten Legitimationen müssen sich im Verlauf dieser Diskussionen fast immer an einem Katalog traditioneller Rechtsquellen messen lassen. Diese Forschungslinie nimmt also vorrangig herrschaftliche Rechts- und Schuldansprüche der irdirschen Akteure gegeneinander in den Fokus, während die martyrologische Tradition unter mehr holistischer Sicht das Spannungsverhältnis von Heilsversprechen und allgemein menschlicher Erbschuld gegenüber Gott während des Interims vor Anbruch des Dritten Reichs und der Herrschaft des Heiligen Geistes in den Blick nimmt. Kaminskis Rede von „Fronten“ ist insofern nicht zuzustimmen, als in der literaturwissenschaftlichen Praxis die einen Interpreten tatsächlich nicht exklusiv heilsgeschichtlich, die anderen nicht exklusiv rechtsgeschichtlich verfahren. Die beiden skizzierten Linien ziehen sich häufig auch durch ein und dieselbe Lite-
2 Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zur Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Hg. von Franz Maciejewski. Frankfurt am Main 1973, S. 101–141, hier S. 115. 3 Z.B. Rolf Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, am Beispiel des ‚Carolus Stuardus‘ von Andreas Gryphius. In: Simpliciana IX (1987), S. 215–237; Peter Brenner: Das Drama. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München, Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 539–574, besonders S. 547ff.; Harald Steinhagen: Geschichte als Mythos. Zu den Trauerspielen des Andreas Gryphius. In: Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Hg. von Volker C. Dörr, Helmut J. Schneider. Bielefeld 2006, S. 59–67, besonders S. 67ff.
Der wissenschaftliche Antagonismus
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ratur. Die Gryphiusforschung berücksichtigt häufig genug beide Aspekte, was kaum verwundert, steht sie doch unter dem wirkmächtigen Einfluss der These Walter Benjamins, der Antagonismus zwischen Märtyrer und Tyrann sei für die barocke Märtyrertragödie grundlegend.4 Nur selten jedoch werden die beiden Aspekte zusammengebracht: Die rechtlichen und politischen Implikationen bestehen neben den theologisch-martyrologischen Perspektiven.5 Auch darin zeigt sich der benjaminsche Einfluss, schließlich gilt diesem Antagonismus das Interesse nur unter der schon vorangenommenen Perspektive des Märtyrerdramas und ordnet damit den Aspekt des politisch-juridischen Tyrannen-Diskurs’ dem heilsgeschichtlichen immer schon unter.6 Politische Theologie interessiert dabei nur von der legitimationstheoretischen Seite her. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass hierdurch Fortschritte erzielt werden konnten: Anachronistische Interpretationen etwa, die in Gryphius’ Trauerspielen bisweilen Revolutionsdramen sehen wollten,7 konnten als wenig satisfaktionsfähig entlarvt werden. Jedoch die politisch-prudentiellen, gar die heilsrelevanten Folgen der „sainteté du pouvoir royal“ kommen auch danach nicht in den Blick.8 Diese Diskrepanz wird von Lothar Bornscheuer zutreffend als sinnfällig für die gryphsche Trauerspielpoetik verstanden.9 Er versucht dieses Widerspiel zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz mit systematischen Begriffen wie Synkretismus, Simultaneität, Heteronomie, Vexierspiel, paradoxe Kombination und Interferenz zu fassen.10 Bornscheuers Schluss allerdings,
4 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Revidierte Ausgabe. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1963, S. 60–62; vgl. Johannes Klaus Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.–17. Jahrhundert). In: Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik. Hg. von Heidrun Kämper, Jörg Kilian. Bremen 2012 (Sprache – Politik – Gesellschaft 7), S. 31–48, hier S. 33. 5 Vgl. in dieser Weise Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, hier S. 215. 6 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 61f. 7 Vgl. etwa Heinrich Hildebrandt: Die Staatsauffassung der schlesischen Barockdramatiker im Rahmen ihrer Zeit. Rostock 1939 (Rostocker Studien 5), der im Carolus Stuardus die „Antithese der Heiligkeit der gottgewollten Majestät und der Lehre von dem Recht des Volkes auf Revolution“ ausgedrückt sieht (S. 29). 8 Henri Plard: La sainteté du pouvoir royal dans le Leo Armenius d’Andreas Gryphius (1616– 1664). In: Le Pouvoir et le Sacré. Hg. von Luc de Heusch u.a. Brüssel 1962 (Annales du Centre d’études des religions 1), S. 159–178. 9 Lothar Bornscheuer: Diskurs-Synkretismus im Zerfall der Politischen Theologie. Zur Tragödienpoetik der Gryphschen Trauerspiele. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam, Atlanta 1997 (Chloe 27), S. 489–529, besonders S. 525ff. 10 Jeweils Ebd., S. 504, S. 507, S. 513, S. 516, S. 521, S. 525.
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die genuine Leistung der Trauerspiele sei eben, eine „hermeneutische Reflexion ad infinitum zu provozieren“,11 erscheint verkürzt, insofern er werkästhetisch unvermittelt auf Intentionalität schließt. Die Unterscheidung Heilsökonomie – Jurisprudenz, besonders in dem häufig zu beobachtenden dualistischen Charakter, wie er sich in der literaturwissenschaftlichen Praxis realisiert, scheint als methodische Perspektivierung vorerst sinnvoll. Anstoß zu nehmen ist dagegen an der Tendenz der Gryphiusforschung, diese Perspektivierung zur ontologischen Behauptung zu steigern, dass Gryphius’ Trauerspiele heilsgeschichtliche Tragödien oder juristische Schulstücke sind. Zugegeben schlägt sich das Übergewicht der eschatologisch-theologischen Deutungstradition in der schulmäßigen Bezeichnung der gryphschen Trauerspiele als Märtyrerdramen nieder. Demgegenüber ist die ‚Front‘ der juristischen Interpretationen deutlich kleiner, dabei aber häufig in ihrer Exklusivität nicht minder rigoros: Harald Steinhagen etwa stellte erst 2006 knapp fest, „daß Gryphius sich eine christliche Interpretation der Geschichte weitgehend versagt […] Für ihn sind […] Politik und Religion ebenso wie Geschichte und Religion zwei getrennte Bereiche“.12 Hierbei irritiert schon der Schluss von der Getrenntheit der himmlischen und irdischen regna auf die Säkularität der sie behandelnden Trauerspiele. Denn diese Trennung kann gerade Ausdruck des Einflusses lutherischer Orthodoxie sein. Sie trennt die zwei Regimenter in der Art, dass erstens die nur sola fide zu erringende Heilsgewissheit vom Gang weltlicher Dinge nicht tangiert wird und zweitens die politische Führung gegenüber Heilsfragen indifferent bleibt, ja, wegen der sola-fide-Doktrin indifferent dastehen muss. Man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass es einen präsäkularen Begriff des Säkularen gab. Dieser spätantike rechtstheologische Begriff des Säkularen war topologisch und noch nicht wie gegenwärtig chronologisch, als Ergebnis eines Prozesses von Säkularisierung bestimmt: säkular bezeichnete schlicht den Bereich weltlicher Herrschaft.13 Diese Unterscheidung war aber immer noch eine theologische. Insofern also die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ersterem nicht seinen theonomen Charakter nahm, ist die irdische Realisation des weltlichen Regiments immer noch eine Sache von religio, dem Glauben nämlich an die Gültigkeit von Röm 13,1 und damit der Gottgewolltheit politischer Herrschaft. Mit der dezidierten Unzuständigkeit des weltlichen Regiments für das Heil ist seine argumentativ theologische und damit persuasiv religiöse Fundierung nicht im Geringsten ausgeräumt.
11 Ebd., S. 525. 12 Steinhagen: Geschichte als Mythos, S. 62f. 13 Ulrich Ruh, Friedrich Vollhardt: [Art.] Säkularisierung. In: RLW III, S. 342–344, hier S. 342.
Der wissenschaftliche Antagonismus
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Im Fortgang der Arbeit ist daher die Geschichte der Theologie genauso wie die der Jurisprudenz und der Staatslehre zu berücksichtigen: Hier sind schon Arbeiten vorhanden, welche die Exklusivität theologischer beziehungsweise juristischer Interpretationen für politische Texte des mittleren siebzehnten Jahrhunderts wenig stabil erscheinen lassen. Merio Scattola warf 1999 einen Blick auf die naturrechtliche Tradition vor Grotius und Bodin und arbeitete in akribischem Primärquellenstudium die vermischt-heterogenen Traditionslinien des Naturrechts vor dem Naturrecht heraus.14 Frank Grunert wies entscheidende naturrechtsimmanente Säkularisierungsmomente erst dem nach Gryphius entscheidend wirkenden Samuel Pufendorf zu.15 Und selbst bei Pufendorf stellte 1998 Gerald Hartung die Denknotwendigkeit der Gottesinstanz als erste, höchste und letzte Instanz der obligatio, der Verpflichtung gegenüber den ersten Prinzipien des einen Naturrechts heraus.16 Der Verdacht politischtheologischer Implikationen in Gryphius’ Dramen ist also mit einem Hinweis auf die topologische Säkularität des Weltlichen noch nicht erledigt. Hinzu kommt drittens die Staatsräsonlehre, die mit den theologischen und juristischen Legitimationen in wechselvoller Spannung steht. Zu dieser gibt es eine reichhaltige Forschung, von der hier vor allem Michael Stolleis genannt sei; dazu gleich mehr.17 Unter Einbezug rechtsgeschichtlicher Fakten unterzog Peter Brenner die martyrologischen Deutungen der gryphschen Trauerspiele einer deutlichen Kritik, indem er die zeitgenössische rezeptionsästhetische Wirkung der Hinrichtungen als Martyrien mit Blick auf die karolinische Justizpraxis in Zweifel zog.18 Dieser Ansatz bietet gleich mehrfachen Aufschluss, er fängt jedoch mit seiner positivrechtlichen Kontextbeschränkung gerade nicht denjenigen fundamentalen Diskurs ein, um den es Gryphius zu tun ist: Den Schlesier interessierten nicht bloße Legalitäts-, sondern Legitimitätsfragen. Eine befriedigende literarhistorische Berücksichtigung jenes Kontexts sowie desjenigen der Beamtenethik vollzog erstmals Friedrich Vollhardt im Hinblick auf den
14 Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ‚ius naturae‘ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 52). 15 Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 57), S. 154–162. 16 Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau, München 1998 (Alber-Reihe praktische Philosophie 56), S. 36f. 17 Michael Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990. 18 Peter Brenner: Der Tod des Märtyrers. ‚Macht‘ und ‚Moral‘ in den Trauerspielen von Andreas Gryphius. In: DVjs 62 (1988), S. 246–265, besonders S. 251.
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Papininan.19 Die Zusammenschau von Theologemen und praktischen Philosophemen im Prozess der Säkularisierung unternahm Barbara Mahlmann-Bauer respektive des Leo Armenius.20 Wenn die Interpretation der gryphschen Trauerspiele ideenhistorisch korrekt verfahren möchte, darf sie weder exklusiv ‚heilsökonomisch‘ noch exklusiv ‚juristisch‘ erfolgen. Damit sei als gleichsam instruktives Beispiel für eine vordergründig interdisziplinäre, aber ihrem Gegenstand nach einheitliche Forschung das Exempel Michael Stolleis’ wieder aufgenommen: Stolleis wurde nicht nur wegen seiner immensen Verdienste auf dem Gebiet der historischen Staatslehre genannt, sondern auch der Irritation halber, die seine eigentliche Deputation als Rechtshistoriker im Hinblick auf den politologiegeschichtlichen Gegenstand eigentlich hervorrufen müsste. Wenn diese Irritation jedoch ausblieb und ausbleibt, mithin Stolleis’ Forschungen nicht als disziplinfremd in Frage gestellt werden, so hat das gute Gründe, und dies nicht etwa, weil Stolleis’ eigentlich rechtsgeschichtliche Kompetenz um die politologiegeschichtliche erweitert wäre. Tatsächlich liegt nicht gleichermaßen eine ‚Zusatzqualifikation‘ vor, die gegenüber dem eigentlichen Gegenstand nur kontingentes Additivum wäre. Vielmehr ist die Geschichte der Staatslehren der Frühen Neuzeit ihrem Gegenstand nach immer auch eine Geschichte des Rechts. Die Legitimitätsfrage war von derjenigen klugen Handelns nicht getrennt, sondern blieb mit dieser eng verbunden: Staatslehre wurde stets als Staatsrechtslehre betrieben. Es ging nicht nur um Legalisierungsstrategien, sondern es wurde gerade unter Ausschluss der legitimatio subsequens21 die Legitimität des Herrschers oberhalb des staatlichen Rechts gesucht und vor Grotius und Hobbes in ausschließlich theonomen Rechtsquellen gefunden. Damit ist die Geschichte der frühneuzeitlichen Politologie nicht nur gleichzeitig eine des frühmodernen Rechts, sondern auch der praktischen und Rechtstheologie. Insofern ist etwa Rüdiger Campes Feststellung, Gryphius verhandele weniger Fragen der
19 Friedrich Vollhardt: Klug handeln? – Zum Verhältnis von Amtsethik, Natur- und Widerstandsrecht im Æmilius Paulus Papinianus (1659) von Andreas Gryphius. In: ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer, Lucas Marco Gisi. Heidelberg 2010 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3), S. 237–255. 20 Barbara Mahlmann-Bauer: ‚Leo Armenius‘ oder der Rückzug der Heilsgeschichte von der Bühne des 17. Jahrhunderts. In: Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Hg. von Christel Meier, Heinz Meyer, Claudia Spanily. Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 4), S. 423–465, besonders S. 456–462. 21 Vgl. Johannes Winckelmann: [Art.] Despotie, Despotismus II. Max Weber. In: HWPh 2, S. 144– 146, hier S. 144.
Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit des Antagonismus
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Macht als vielmehr diejenige des vom Herrscher verkörperten Verhältnisses von Macht und Recht, systematisch zutreffend, darf aber eben nicht historisch-systematisch übersehen lassen, dass in der Frühen Neuzeit die Frage nach der Macht eben immer die nach ihrem Verhältnis zum Recht war.22 Die vorliegende Untersuchung setzt sich somit auch die Revision jener in der Gryphiusforschung statthabenden ‚Fronten‘-Bildung zum Ziel, und will Interpretationen leisten, die den historischen Verbund theologischer, philosophischer und jurisprudentieller Traditionslinien frühaufklärerischer Ordnungsdiskurse in der Literatur des ‚Dichterjuristen‘ des mittleren siebzehnten Jahrhunderts berücksichtigen.
2.2 Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit des Antagonismus Es ist nicht ausgemacht, dass der Antagonismus von heilstheologischen und rechts- wie politiktheoretischen Deutungstraditionen der gryphschen Trauerspiele je schon falsch sein muss. Es wäre die absurde und von wohl von keinem der Diskussionsteilnehmer ernsthaft gewollte Folge, alle z.B. heilsgeschichtlich perspektivierten Gryphiusstudien für unwert zu erklären, nur weil sie das Feld politisch-theologischer Fragen aussparen. Eine etwa heilsgeschichtlich interessierte Bearbeitung der politischen Trauerspiele ist nicht schon verengt oder verkürzt, nur weil sie sich auf den Aspekt des Heils konzentriert. Mit der Konzentration der Beobachtung ist schließlich nicht auch eine Zentralität des nunmehr fokussierten Felds innerhalb der Gesamtsystematik des Werks behauptet. Nur wenn eine solche Zentralität oder gar Exklusivität behauptet wird, ist die Legitimität dieser Behauptung zu prüfen, ob also nicht nur das fokussierte Feld bearbeitet, sondern auch gerade dieser Anspruch bewiesen wird. Die Probleme werden dort virulent bzw. unumgänglich, wo es eben um das Verhältnis politologisch-jurisprudentieller und heilstheologischer Perspektiven geht, um bei jeweiligen Akzentuierungen zu enden.
22 Rüdiger Campe: Theater der Institution. Gryphius’ Trauerspiele ‚Leo Armenius‘, ‚Catharina von Georgien‘, ‚Carolus Stuardus‘ und ‚Papinianus‘. In: Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit. Hg. von Roland Galle, Rudolf Behrens. Heidelberg 2000 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 6), S. 257–287. Dabei erkennt Campe richtig eine weitere Zuspitzung innerhalb der Werkgenese: „Carolus und Papinianus stellen also nicht mehr wie Leo Armenius und Catharina die Frage der Legitimation: Wie verhält sich die Macht zum Recht? Vielmehr stellen sie die Frage der Legitimation im Rahmen der Institution: Wie verhält sich das reine Recht zu der Rechtlichkeit, die die Macht in ihrer Verfaßtheit, im Rückstau der Gewalt zum Potential der institutionellen Macht, ausbildet?“ (S. 273).
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Forschungsüberblick und -diskussion
Schaut man auf Forschungsdiskussionen, die diesen Antagonismus in den Blick nehmen, so sind zum Einen solche Lösungsversuche zu vermerken, die den Antagonismus zu Gunsten eines der Deutungskonkurrenten zu entscheiden suchen: Daniel Weidner etwa unternimmt diesen Versuch über die theatersemiotische Analyse des Sakraments. Weshalb aber dieses dritte, nur wieder theologische Kriterium Sakrament gegenüber einem alternativen dritten – etwa staatspolitischen – Kriterium einen Erkenntnisvorteil bietet, bleibt unbegründet.23 Demgegenüber stehen zum Anderen Beschreibungsversuche des Antagonismus wie derjenige Nicola Kaminskis. Er enthält sich einer bestimmten Parteinahme und will auf eine solche auch gar nicht zulaufen. Dennoch offenbart Kaminskis Beschreibung eine bestimmte Wahrnehmung des Antagonismus, welche die Problematik dieses scheinbar unauflösbaren Antagonismus eben nicht nur beschreibt, sondern mit ausmacht. Kaminski paraphrasiert das schwierige Verhältnis der beiden ‚Lager‘ bzw. ‚Fronten‘ wie folgt: [E]ine Märtyrerin für ihren Glauben an Christus ist nur Catharina von Georgien (vgl. Heselhaus[24] […]) – doch selbst sie tritt, anders etwa als die heilige Felicitas im gleichnamigen […] Drama des Jesuiten Nicolaus Caussinus, nicht ausschließlich als Christin auf den Schauplatz, sondern zunächst und vor allem als (freilich christliche) ‚Fürstin‘ (Cath. I,82), als ‚Königin von Georgien in Armenien‘ (Cath. 7,2). Problematischer noch scheint es, den Carolus Stuardus als Märtyrerdrama zu bezeichnen, ungeachtet dessen, daß die postfigurale Gestaltung seines Sterbens nach der Passion Christi sich bis in die Nebenfiguren hinein nachzeichnen läßt, weshalb man in ihm die ‚reine Form der Märtyrertragödie‘ (Schöne[25] […]) hat sehen wollen: fehlt ihm, dem in der politischen Auseinandersetzung des englischen Bürgerkriegs von den Independenten gefangengesetzten und hingerichteten König, doch, ‚zumindest in der ersten Fassung, die entscheidende Voraussetzung dafür {…}: die Bewährungsprobe, in der er sein Leben bewußt für eine allgemeine Überzeugung hingibt‘ (Steinhagen[26] […]). Der Papinian schließlich stellt zwar strukturell ‚eine geradezu vollendete Realisierung des Märtyrerdramas‘ dar, ‚obwohl der Held kein Christ und weil er kein Herrscher ist‘ (ebd.); doch Themis, ‚das heil’ge Recht‘ (Pap. III,474), für das Papinian mit
23 Daniel Weidner: ‚Schau in dem Tempel an den ganz zerstückten Leib, der auf dem Kreuze lieget‘. Sakramentale Repräsentation in Gryphius’ ‚Leo Armenius‘. In: Daphnis 39 – 1 (2010), S. 287–312. 24 Clemens Heselhaus: Gryphius’ Catharina von Georgien. In: Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hg. von Benno von Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1958, S. 35–60, hier S. 36. 25 Albrecht Schöne: Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. von Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 117–169, hier S. 133. 26 Harald Steinhagen: Die Trauerspielform des Andreas Gryphius. In: Weltgeschick und Lebenszeit. Ein schlesischer Barockdichter aus deutscher und polnischer Sicht. Hg. von Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus. Düsseldorf 1993, S. 53–68, hier S. 54.
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seinem Leben einsteht, ist, trotz ihrer transzendenten Verankerung und der Amalgamierung mit Christus zur ‚Themis Christiana‘ (vgl. Habersetzer[27] […]), eine in der diesseitigen vanitas-Welt staatsrechtlich-politisch Ordnung schaffende Kraft – weshalb man wiederholt versucht hat, dieses Trauerspiel als säkularisiertes Märtyrerdrama zu lesen.[28] Wer freilich konsequent die staatsrechtlich-politische Dimension dieser drei Trauerspiele akzentuiert, wird den Juristen Gryphius nicht erst mit dem Papinian, sondern ‚von Anfang an‘ – schon mit der Catharina von Georgien – ‚auf dem Weg zum säkularisierten Märtyrerdrama‘ sehen (Szarota[29] […]).30
Zutreffend skizziert Kaminski ein Für und Wider mal vermehrt martyrologischer, mal vermehrt rechtsgeschichtlicher Einzelinterpretationen der Trauerspiele: Sie skizziert Aspekte, unter denen die Protagonisten als Märtyrer gelten können, sowie solche, unter denen dies weniger zuzutreffen scheint. Catharinas Sterben als Christin, welche die Heirat mit Chach Abas besonders wegen der dafür notwendigen Konversion zum Islam scheut, steht ihr Status als Fürstin ‚gegenüber‘. Charles I. Stuart geht zwar mit festem Glauben, aber nicht um seines Glaubens willen in den Tod, sondern wird wegen staatspolitischer Anschuldigungen der Independenten verurteilt. Papinians Überzeugung von der Wahrheit und Geltung des transhumanen Rechts ist zwar zweifellos diejenige von etwas Heiligem, dies jedoch im Hinblick auf irdische politische Geltungs- und Befugnisfragen. An Kaminskis Referat der Forschungsmeinungen fällt nun eines auf: Die vordergründigen Erwägungen ‚gegen‘ die jeweilige Märtyrer-Lesart konstatiert sie nur als solche, d.h. negative im Hinblick auf die Märtyrerfrage. Sie erörtert nicht die positive Bestimmung dieser Erwägungen selbst, obgleich sie deren Gemeinsamkeit vor Augen führt: Es handelt sich stets um Erwägungen eben der „staatsrechtlich-politischen Dimension“. Dass die weniger martyrologischen Interpretationen ihre Zugehörigkeit zu dieser Dimension eint, drängt schon zu ihrer positiv-gehaltlichen Erörterung, schließlich eignet ihr eine Systematik. Vor allem fordert diese Gemeinsamkeit dazu auf, das Verhältnis dieser vordergründig heilsgeschichtswidrigen Erwägungen zu den heilsgeschichtlichen genauer zu klären als nur durch den je schon negativen Bezug. Solange von den heilsrelevanten
27 Karl-Heinz Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum Studien zum historisch-ästhetischen Horizont des barocken Trauerspiels am Beispiel von Andreas Gryphius Carolus Stuardus u. Papinianus. Stuttgart 1985 (Germanistische Abhandlungen 55). 28 Harald Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Historisch-ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius. Tübingen 1977 (Studien zur deutschen Literatur 51), S. 286–297. 29 Elida Maria Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts. Bern, München 1967, S. 304. 30 Kaminski: Andreas Gryphius, S. 74–76.
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Fragen ex ante nur diejenigen betrachtet werden, die wesentlich unpolitisch bzw. nicht rechtsförmig sind, und solange umgekehrt von den staatsrechtlich-politischen Fragen gleichfalls nur diejenigen gesehen werden, die mit dem Heil nicht unmittelbar befasst sind, kann eine Vermittlung der beiden Perspektiven nicht gelingen. Darin liegt auch der Grund dafür, warum Kaminski die Problematik des Antagonismus nicht auflösen kann. Es zeigt sich an ihrer abschließenden Sicht auf diese „staatsrechtlich-politische Dimension“: Auch für Kaminski kann eine Akzentuierung dieses Feldes nur zum vermehrten Ausschluss der heilsspezifischen Dimension führen. Damit behält auch sie einen Anachronismus bei, der im Folgenden im Einzelnen widerlegt werden soll: den Anachronismus nämlich zu meinen, die „staatsrechtlich-politische Dimension“ der Frühen Neuzeit selbst sei schon eine von Heilsfragen unberührte gewesen. Durch diesen Anachronismus wird ein Schluss wie derjenige Elida Szarotas zum unzulässigen Zirkelschluss, der ein Ganzes (Gryphius’ Trauerspiele) als säkularisiert begreifen muss, solange er dessen wesentliches Dispositiv (den Staatsrechtsdiskurs) als schon säkularisiert ansieht. Einen entscheidenden, zeitgenössisch systematischen Grund für das eigentümliche Verhältnis von Fragen des Heils und der Politik nennt Kaminski, ohne beides entsprechend zu korrelieren: den zu diskutierenden, wenn auch nicht prekären Status der Bezeichnung Märtyrer für das protestantische Trauerspiel überhaupt.31 In der Tat erlaubt die lutherische Rechtfertigungslehre nicht den altkirchlichen Gedanken des Gnadenschatzes, der etwa laut Origines Adamantios vom Märtyrer für andere erworben wird.32 Damit ist der Märtyrerbegriff jedoch nicht hinfällig.33 Das concrucifigi Christo gilt für jeden Gläubigen und kann nicht abgenommen werden: Insofern ist der Märtyrer beim Lutheraner Gryphius nicht Erwerber eines Heils für Andere, da weder Ursache noch Intention der Hinrich-
31 Ebd., S. 74: „Anders als nämlich als in den in maiorem Dei gloriam geschriebenen […] jesuitischen Märtyrerdramen sterben die Märtyrer des Gryphius nicht oder nicht ausschließlich zur Bewährung und Verherrlichung ihres christlichen Glaubens […].“ 32 Vgl. Michael Slusser: [Art.] Martyrium III. Christentum III./1. Neues Testament/Alte Kirche. In: TRE 22, S. 207–212, hier S. 209. Im Hinblick auf Gryphius vgl. Heinz-Werner Radtke: Vom neuen, gerechten, freien Menschen. Ein Paradigmawechsel in Andreas Gryphius’ Trauerspielzyklus. Bern u.a. 2011 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 49), S. 19, 40ff., 53. 33 Dieser Auffassung war der Verfasser der vorliegenden Untersuchung noch jüngst selbst gefolgt: Oliver Bach: [Rez. v.] Hans-Werner Radtke: Vom neuen, gerechten, freien Menschen. Ein Paradigmawechsel in Andreas Gryphius’ Trauerspielzyklus. In: Arbitrium 30 – 3 (2012), S. 310– 312, hier S. 312. Vgl. dementgegen schon: Ferdinand van Ingen: Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘. Märtyrertheologie und Luthertum. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam, Atlanta 1997 (Chloe 27), S. 45–70, hier S. 47–49.
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tung bzw. des In-den-Tod-Gehens allein von der Glaubens- bzw. Häresiefrage bestimmt sind. Der gryphsche Märtyrer ist nicht Heilsproduzent, sondern lediglich Vorbild in Fragen eines späten, aber festen Glaubens und tiefer Reue. Jedoch verschwindet damit nicht die Heilsfrage als ganze. Sie tritt vielmehr gerade erst in ihrem spannungsvollen Verhältnis zum Gesetzesbruch hervor: Anders als der eigentliche Märtyrer ist der ‚Märtyrer‘ schuldbehaftet wie Carolus und Leo Armenius oder kommt politischer-rechtlicher Ausweglosigkeit wegen zu Tode wie Catharina und Papinian. Es sind also weltliche Vergehen gegen das göttliche Recht, die entweder positiv oder negativ die Frage des Heils aufwerfen, und nicht geistliche Konflikte, die ohnehin mit der Heilsfrage zu tun haben. Hinsichtlich der politischen Trauerspiele kann damit gefragt werden, ob Gryphius die Frage legitimer Herrschaft und irdischer Herrschaftspraxis mit der Heilsfrage different korreliert, ob also persönliches Heil durch Verstöße gegen Gottes Gesetze verwirkt wird. Dagegen wäre mit der lutherischen Ablehnung der Werkgerechtigkeit noch nicht historisch-systematisch hinreichend argumentiert: Denn wie zu zeigen ist, deutet Melanchthon die reformatorische Rechtfertigungslehre dergestalt, dass Verstöße gegen göttliches Gebot ein Zeichen schon abhanden gekommenen Glaubens sind – die schlechte Tat hat durchaus etwas mit einer ‚Verwirkung‘ des Heils zu tun (siehe 4.4.4.3). Auch im Philippismus bleibt jedoch der sola-fide-Gedanke so stark, dass das Heil durch echte Reue im reinen Glauben wieder erworben werden kann. Insofern bleiben irdische Handlungen im Hinblick auf ihre rechtstheologische Legitimität mit Heilsfragen zwar korreliert. Dennoch sind sie für das Heil doch grundsätzlich so indifferent, dass mit der tatsächlichen Heilsaussicht des sterbenden Souveräns die Tatsache seiner göttlichen Rechtsbrüche nicht widerlegt ist. Vielmehr ist – mit Melanchthon gedacht – der Glaubensdruck auf den Tyrannen besonders groß. Die Dimension des Martyriums bzw. der Heilsaussicht resultiert nicht aus der Dimension der Herrschermacht, sondern aus der Gnade Gottes. Sie befreit nicht etwa von den göttlichen Geboten (Gesetz), sondern dispendiert ‚nur‘ unter Voraussetzung echten, reuevollen Glaubens (Evangelium). Daher werden bei Gryphius Martyrium und Heil nur mittelbar repräsentiert;34 vielmehr geht es um die unermessliche – aber bedingte! – Gnade Gottes. Andreas Gryphius verhandelt den politischen Erfolg als ebenso irdischen wie kollektiven, jedoch nicht unter Absehung von den ersten beiden Aspekten von (Werk)Gerechtigkeit und persönlichem Heil, sondern im spannungsvollen Bezug
34 Vgl. etwa Weidner: Sakramentale Repräsentation in Gryphius’ ‚Leo Armenius‘, S. 294: „[S]o repräsentiert auch der Märtyrer durch seine Körperlichkeit das an sich undarstellbare Heil.“
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auf diese: Wie wird das Wohl der civitas unter Beibehaltung der Herrschermacht, mithin des Widerstandsverbots hier und der sola fide möglichen Begnadigung des schlechten Herrschers sub specie aeternitatis dort, noch als angemessen gewährleistet gedacht? Es ist dieser dritte Aspekt, der in der Gryphius-Forschung weiterer Vertiefung bedarf, ohne dass er in der Sache von den beiden ersten tatsächlich verdeckt oder gar kategorisch verunmöglicht würde. Gryphius ‚erledigt‘ ihn nämlich nicht durchweg mit dem vanitas-Gedanken, sondern versucht ihn mit Hilfe seiner politischen Trauerspiele (rechts)theologisch einzuholen. Salva veritate der göttlichen Herrschermacht und der persönlichen Heilsmöglichkeit geht es Gryphius darum, nach der göttlichen Besorgung weltlich-politischer Stabilität zu suchen. Es geht Gryphius um Gottes Wirken nicht nur in seinem Gnadenwirken sub specie aeternitatis, sondern auch um sein irdisches Wirken sub specie creationis. Wie ist den säkularen Ansprüchen weltlich-politischer Stabilität gerecht zu werden, ohne schon eine systematische Säkularisierung der politischen Begründungstheorie betreiben zu müssen? Ohne in ein anderes Extrem verfallen zu müssen und das Martyrium bei Gryphius nur noch über neostoizistische Kriterien der Beständigkeit allein zu definieren,35 hat man es im Falle der Martyrien bei Gryphius weder mit allein geistlichen Heilsfragen zu tun noch mit allein weltlich-moralischer Standhaftigkeit. Das verbietet sich nicht etwa, weil der Neostoizismus von Heilsfragen unberührt, etwa gar a-theologisch und säkular wäre und damit wirklich das andere Extrem darstellte: Schon die Arbeit von Günter Abel hat gezeigt, dass der Neostoizismus auf eminent diesseitstheologischen und moralphilosophischen Annahmen aufruht und daher ein solches anderes Extrem gar nicht erreicht ist.36 Dieses philosophiehistorische Wissen ist in der Gryphius-Forschung schon länger ver-
35 Weil sich solche Zuschreibungen bisweilen vermehrt deskriptiv bzw. assoziativ ereignen, ist häufig genug gar nicht eindeutig, ob mit ihnen in der Tat schon eine theologische Einbettung des Stoizismus in der Frühen Neuzeit übersehen wird: s. z.B. Thomas Martinec: ‚Fürbild aller Tugenden‘. Rhetorik und Moral in der barocken Trauerspielpoetik. In: Daphnis 35 – 1,2 (2006), S. 133–161, hier S. 158f.: „So gestaltet Gryphius seine Catharina als ‚ein vor dieser Zeit kaum erhöretes Beyspiel vnaussprechlicher Beständigkeit‘, als ‚die Blüthe der Tugend‘; sie zeichnet sich durch ‚so hohe Geduld/ so hertzhafte Standhafftigkeit/ so fertigen Schluß das Ewige dem Vergänglichen vorzuziehen‘ aus, daß alle Übel, die sie anfechten, ‚überwunden vnter ihren Füssen ligen‘. Mit dieser Charakterisierung ist die Märtyrerfigur des barocken Trauerspiels anschaulich umschrieben.“ 36 Günter Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Feld von Ethik und Politik. Berlin, New York 1978, S. 23: „Der Neustoizismus stellt ein bedeutsames Bindeglied zwischen dem theoretischen Ursprung der Rationalität in der Spätscholastik und deren abstrahierender, philosophisch reiner Fassung bei den Philosophen und Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts, bei Descartes, Hobbes, Newton und Spinoza dar.“
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breitet. Nicht zuletzt Marian Szyrocki spricht zurecht vom christlichen Stoizismus im Barockzeitalter.37 Es wird jedoch erstens kaum der fundamentale Unterschied zur Kenntnis genommen, der zwischen antiker und neuer Stoa besteht, nämlich zwischen dem Determinismus eines Ist-Zustandes (antike Stoa) und der Normativität eines Sollens bzw. Müssens (neue Stoa).38 Zweitens erfolgt diese Applikation weitgehend von der Seite her, dass die stoische Beständigkeit heilsrelevant ist, insofern sie irdisch weltlichen Übeln trotzt. Sie versteigt sich dabei zumeist in den Schluss, dass constantia damit auch schon allein jenseitsrelevant wäre und von weltlichen Angelegenheiten überhaupt abzusehen erlaube, wenn nicht gar gebiete. Dies ist ein Versteigen deshalb, weil Heilsrelevanz – das gilt es zu zeigen – auch im melanchthonianisch geprägten Denken eben nicht mit bloßer Jenseitigkeit gleichzusetzen ist. Die Frage des Heils bleibt mit göttlichen Vorgaben für das irdisch-sittliche Verhalten gerade verbunden. Umgekehrt stellt die Beständigkeit gegen weltliche Übel eben auch eine Standhaftigkeit für die weltliche Stärke wider den princeps mundi, den Teufel, dar. Der Kampf gegen diesen ist das Telos des geschöpflichen Daseins.39 Ebendies ist schon bei Luther der usus politicus legis: Gott beauftragt das weltliche Regiment mit nichts anderem als dem irdischen Standhalten wider das Böse.40 Vanitas, die Nichtigkeit des Irdischen, ist Fakt und mithin eine beruhigende Erkenntnis sub specie aeternitatis, nicht aber eine Praxis, die dem Menschen sub specie creationis aktiv zu betreiben anheimgestellt wäre: Selbstmord
37 Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung. Stuttgart 2010 (UB 9924) [erstmals 1968], S. 21–23, besonders S. 22: „Der Gedanke von der Weisheit als meditatio mortis wurde vor allem durch den christlichen Stoizismus unter Berufung auf Platon, Pythagoras, Sokrates, Seneca, aber auch auf biblische und patristische Traditionen verkündet. […] Dabei muß jedoch mit allem Nachdruck betont werden, daß das stoische Gedankengut immer wieder durchsetzt wird mit Auffassungen aus rein christlichen Traditionen“ [Hervorhebungen im Text]. 38 So auch im Falle der versuchten „erneuten Verständigung über den constantia-Begriff“ bei Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, S. 224–227; auch Günter Berghaus macht die Neuerungen, die Gryphius gegenüber dem klassischen Märtyrerdrama vornimmt, nicht an der Determinismus-Differenz fest: Günter Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘. Formkunstwerk oder politisches Lehrstück?. In: Daphnis 13 (1984), S. 229–274, hier S. 253. 39 Vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995, S. 259. 40 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. 2., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 2006 (UTB 2270), S. 413: „Während sie [die lex divina] für die ‚rechten Christen‘ als das geistliche Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe erscheint und wirkt, als das Gesetz des regnum Dei, nimmt sie außerhalb des regnum Dei den Charakter einer Herrschaft Gottes an, einer Ordnung schützender und strafender Art zur Abwehr des Bösen und der Herrschaft des Teufels, wird zum usus politicus legis.“
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ist ein Vergehen an Gottes Schöpfung und somit verboten. Schon Ferdinand van Ingen konstatiert daher zurecht: „Es wäre eine fragwürdige Ethik, die unter Hinweis auf die Bibel Lebensüberdruß und Weltekel propagierte und solcherart ein ‚taedium vitae‘ lehrte“.41 Im Umkehrschluss darf daher die Anforderung des heilsrelevanten constantia-Postulats an das irdische Dasein, mithin dessen Nutzen für die irdische Praxis nicht übersehen werden: Die Beständigkeit stellt nicht nur Heil in Aussicht, sondern stiftet gerade von dessen Anforderungen her auch eine irdische Ordnung, welche die Nichtigkeit der Welt nicht betreiben, sondern auszuhalten erlauben soll. Es machte den Reiz des christlichen Neostoizismus aus, dies mit seiner Verbindung von theologischem Fundament und anthropozentrischem Fokus leisten zu können.42 Man spricht von Neostoizismus bei Gryphius und verlässt damit nicht das Feld praktischer Theologie. Die heilsgeschichtlichen und politologisch-jurisprudentiellen Aspekte der gryphschen Trauerspiele beziehen sich also nicht allein privativ aufeinander. Ebenso wenig stehen sie sich dichotomisch gegenüber. Der Umstand, dass sich nur diese beiden Aspekte gegenüberstehen und nicht zusätzliche dritte, muss nicht zusammen mit dieser gegenseitigen Privation links- oder pseudohegelianisch gerettet werden, insofern die Position des einen nur als die Negation des anderen (als seiner Negation) zu begreifen wäre.43 Hier durchdringen sich nicht
41 Ingen: Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘. Märtyrertheologie und Luthertum, S. 54. 42 Vgl. Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit, S. 54: „Das Interesse an der Herausstellung von Autonomie, Individualität, Subjektivität und die Wende gegen die Autoritätsgläubigkeit des scholastischen Mittelalters verbinden Humanismus, Renaissance und Reformation mit dem späteren Neustoizismus. […] [F]ür den Protestantismus ist der direkte Bezug von entscheidender Bedeutung, und Freisetzung und Unterwerfung gehen dabei ineinander. Gegenüber der durch die Vermittlungs- und Autoritätsleistung der römischen Kirche gekennzeichneten Anstalt allgemeinen Heils wird das Individuum, der einzelne Gläubige freigesetzt, tritt dafür nun aber in die viel strengere, strafendere Unmittelbarkeit seines allmächtigen Gottes ein und zwar nicht mehr im Sinne kollektiver Heilsanstalt, sondern in je individueller Verantwortlichkeit“. 43 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. In: Gesammelte Werke. Hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 11. Hamburg 1978, S. 44f.: „Das reine Seyn und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Seyn, noch das Nichts, sondern daß das Seyn in Nichts, und das Nichts in Seyn, – nicht übergeht –, sondern übergegangen ist. Aber ebenso sehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind, und unmittelbar jedes in seinem Gegentheil verschwindet. […] Nichts pflegt dem Etwas entgegengesetzt zu werden; Etwas aber ist schon ein bestimmtes Seyendes, das sich von anderem Etwas unterscheidet; so ist also auch das dem Etwas entgegengesetzte Nichts, das Nichts von irgend Etwas, ein bestimmtes Nichts. Hier aber ist das Nichts in seiner unbestimmten Einfachheit zu nehmen“. Dass die marxsch-engelsschen Lesefrüchte vermehrt faule sind, zeigt der henologische Fokus Hegels an dieser von Engels zitierten Stelle (Friedrich Engels: Dialektik der Natur.
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Gegensätze,44 sondern zwei Felder Heilsfragen und politische Theologie besitzen eine ‚Schnittmenge‘ in der beiderseits göttlichen Gewährleistungsinstanz. Der vermeintliche Antagonismus von theologischen und politologisch-jurisprudentiellen Perspektiven bei Gryphius darf nicht durch ahistorische Hypostasen zur begriffslogischen Dichotomie übersteigert werden.
2.3 Vom Antagonismus der theologischen und politologischjurisprudentieller Perspektiven auf Gryphius zu einer Geschichte dieses Antagonismus bei Gryphius Die Unterscheidung von Beobachter- und Gegenstandsebene erlaubt eine ideengeschichtlich präzisere Interpretation der Trauerspiele Gryphius’. Sie verhindert, auf der Gegenstandsebene Distinktionen auf Sachverhalte zu applizieren, die der Gegenstandsebene unter Umständen wesentlich fremd sind bzw. historisch fremd waren. Heutige Dichotomien und Antagonismen waren nur kontingenter Weise auch in vergangenen Epochen schon vorhanden. Eine solche Applikationspraxis verstellte a priori den Blick für die Geschichte der Herausbildung und Umbesetzung eben dieser Antagonismen. Dabei ist entscheidend, nicht ins andere Extrem zu verfallen und die Verwendung der Antagonismen kategorisch zu unterlassen. Schließlich verstellt man sich somit den Blick für historischen Prozess bzw. Regress von der genau anderen Seite her: Man kappte von vornherein die Perspektive, auf die der historische Diskurs hinauslaufen könnte. Dass er es nur könnte und sich dabei gerade als Misserfolgsgeschichte entlarvt, ist als Untersuchungsergebnis mit einer behutsamen, tentativen Anwendung der genannten Dichotomien und Antagonismen nicht ausgeschlossen. Diese Anwendung perspektiviert historische Diskursprozesse zwar auf einen bestimmten Zielpunkt hin – hier den des gegenwärtigen Antagonismus von Heilsfragen und rechtlich-politischer Theorie. Sie verabsolutiert diesen Zielpunkt jedoch nicht, sondern behält sich den Blick für die Prozesse frei, die dieses Ziel verfehlen. Diese Anwendung
In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hg. von Institut für Marxismus-Leninismus. Bd. 20. Berlin 1962, S. 305–570, hier S. 490). Hegels geht es um die Bestimmung des Absoluten und seines Verhältnisses zum Besonderen und Einzelnen (Begriff), nicht um das Verhältnis von Besonderem und Besonderem als sich einander negierende. Ihre gegenseitige Negation ist nicht gleicher Art wie diejenige von Etwas und Nichts und Absolutem und Besonderem. Vgl. neuestens die Analyse von Burkhard Nonnenmacher: Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘ und reifem System. Tübingen 2013 (Collegium Metaphysicum 6). 44 Engels: Dialektik der Natur, S. 307. Vgl. Fotis Jannidis: [Art.] Marxistische Literaturwissenschaft. In: RLW II, S. 541–546, hier 541f.
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hat sich des von Lutz Danneberg herausgestellten Unterschiedes und Wechselverhältnisses von „prospektiver Offenheit“ und „retrospektiver Geschlossenheit einer epistemischen Situation“ bewusst zu bleiben.45 So reflektiert und gerüstet, ist eine hermeneutische Applikationspraxis gegen rigoros binaritätsfeindliche Rationalismuskritiken gefeit, insofern sie sich mit ihren Beobachtungsinstrumenten den Blick auf den historisch wie kulturell bedingten Wandel gerade nicht verstellt, sondern allererst öffnet. Ebensowenig ficht sie ein verabsolutiertes Teleologismusverdikt an, insofern Entwicklungen eben erst dann als misslich erklärt werden können, wenn die Stärken der erfolgreichen Prozesse als Kontrastfolie dienen. So führt diese Forschungsdiskussion auf die These hin, die schon in 1. formuliert wurde. Gegenüber der dort empirisch herausgestellten These und Frage nach Gryphius’ Stellung im Säkularisierungsprozess wurde sich ihr hier von der anderen Seite, derjenigen der Theorie der Literatur- und Ideengeschichtsschreibung genähert. Dieser zweite Weg zur selben These ist deshalb nicht überflüssiger Weise gegangen worden, weil erst er aus dieser These das herausarbeiten hilft, was ihre literatur- wie ideenhistorische Verallgemeinerbarkeit ausmacht. Es geht um die beobachtbare Tatsache, dass Ideen – solche ‚in der Welt‘ wie in der Literatur – Positionen und eben auch Antagonismen nicht einfach besetzen und besetzt halten. Vielmehr können sie den Status ihrer Vereinbarkeit bzw. Antagonie reflektieren und auch sprengen: Vormals vereinbare Ideen bzw. Ideenteile werden zusehends unvereinbar oder werden als unvereinbar behauptet. Damit kommen ebenso häufig genügend Versuche in Gang, die nun disparaten Ideen wieder zu vermitteln, einander zu relationieren bzw. zu relativieren oder indifferent zu setzen. Die ausführliche theoretische Erläuterung und Argumentierbarkeit solcher ideengeschichtlicher Prozesse erfolgt in 3.1. Wenn dem an hiesiger Stelle vorgegriffen wird, so nur insoweit, dass hier noch einmal die These bzw. Frage aus 1. reformuliert wird, und zwar unter den Vorzeichen des hier erarbeiteten Zugangs zu Gryphius’ politischen Trauerspielen: Im Zeichen einer im siebzehnten Jahrhundert noch vermehrt theonomen Jurisprudenz wie auch theonomen Politologie stößt Andreas Gryphius auf eine Situation der Anfechtung dieser eschatologischen Bestimmung des weltlichen Regiments, mithin dieser theologischen Bestimmung der politischen und Rechts-
45 Lutz Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. In: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. Hg. von Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth. München 2006 (Ordnungssysteme – Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 20), S. 193–221, hier S. 197.
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theorie. Diese Anfechtung ging vom Säkularisierungsdruck der machiavellischen Staatstheorie aus und behauptete eine dergestalt strikte Getrenntheit von geistlichem und weltlichem Regiment, wie sie weder Augustinus noch Luther gemeint hatten: Das weltliche Regiment sei nicht mehr nur nicht der Institution Kirche unterworfen, sondern darüber hinaus nicht einmal den göttlichen Moral-Gesetzen verpflichtet. Erst diese Anfechtung behauptete einen echten Antagonismus von heilsrelevanter Gottesfurcht (der Fürsten!46) gegenüber säkularer Jurisprudenz und Politiklehre. Für die an Gryphius interessierte Literaturgeschichtsschreibung wäre man schlecht beraten, diesen Antagonismus per se als materialen Kontext von Gryphius’ Dichtung zu begreifen und zur Grundlage ihrer Interpretationen zu machen. Denn in der Tat realisiert sich dieser Antagonismus von Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz und Politologie gerade nicht vor Gryphius (und auch nicht unmittelbar nach ihm). Wäre dem so, dann ließe sich nicht erklären, warum der Antimachiavellismus so langandauernd ist, obwohl er doch das fundamentale Paradigma seines Gegners schon akzeptiert haben soll. Im Streit mit den Machiavellisten wird nicht die Kontroverse in diesem Antagonismus ausgefochten, sondern diejenige um diesen Antagonismus. Mit Blick auf die Bedeutung des göttlichen Gesetzes für die Regelung weltlicher Dinge – das betrifft besonders die zweite Gesetzestafel – wird gerade bestritten, dass der behauptete Antagonismus von Heilsfrage und weltlicher Jurisprudenz und Politologie überhaupt bestünde. Diese Position wird nicht nur von der Theologie bezogen: Auch die Jurisprudenz und Politiklehre, die beide noch auf rechtstheologischen Fundamenten aufruhen, erwehren sich dieses Antagonismus’. Noch weit nach Alberico Gentilis (1552–1608) Silete theologi in munere alieno! machen Theologie, Jurisprudenz und Politologie gemeinsame Sache wider den Machiavellismus. Gleichwohl drängt sie nicht nur der Machiavellismus, sondern auch die politische Wirklichkeit zu Modifikationen ihrer Lehren. Diese nun münden häufig in konzedierten Säkularisaten, denen an anderer Stelle eine nur um so stärkere Theologisierung gegenüber steht. Dabei bildet sich der tatsächliche historische Antagonismus von Heilsfragen und säkularer Jurisprudenz und Politologie allererst allmählich heraus, – selten beabsichtigt, häufig genug sogar ungewollt, ebenso häufig jedoch sofort als problemrelevant wahrgenommen, u.a. von Andreas Gryphius.
46 Den bisweilen nützlichen Charakter der Gottesfurcht seitens der Untertanen gesteht Machiavelli ja durchaus ein, aber eben nicht unter theologischen, sondern pragmatischen Bedingungen: Es geht nicht um Gottesfurcht zum Gottgefallen, sondern um Gottesfurcht zum Nutzen des weltlichen Herrschers.
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So können exklusiv heilsgeschichtlich interessierte Gryphius-Untersuchungen unternommen werden, solange sie ihre politiktheoretische und jurisprudentielle Kehrseite nicht verleugnen. Sie besprechen sie in diesen Fällen lediglich nicht, wogegen weder historisch noch systematisch etwas einzuwenden ist. Ebenso können exklusiv rechtsgeschichtlich oder politologiehistorisch interessierte Untersuchungen der gryphschen Trauerspiele vollzogen werden, solange sie ihre theologische wie eschatologische Kehrseite nicht leugnen. Falsch wäre die Behauptung eines ‚Exklusivrechts‘ der einen gegenüber der anderen Perspektive. Weder nämlich marginalisiert in Gryphius’ Trauerspielen ein theologisches Thema – etwa das der Vergänglichkeit – die juridischen wie politischen Erwägungen, sondern die Theologie behauptet gerade ihr Begründungs- oder gar Hoheitsrecht für ebendiese Erwägungen. Noch marginalisieren umgekehrt die juridischen und politiktheoretischen Fragen das theologische Substrat, sondern artikulieren gerade ihr Bedürfnis nach der theologischen Antwort. Noch aber – und das mag überraschen – gelingt diese Einvernehmlichkeit umfassend. Zu zeigen, dass dies nicht überrascht, macht sich diese Arbeit mit zur Aufgabe. Nur so kann Gryphius nämlich als Teilnehmer des Diskurses zeitgenössischer politischer Theologie angemessen wahrgenommen werden: Er nimmt die einvernehmlichen Abwehrversuche von Theologie und prudentia civilis gegen ihren behaupteten Antagonismus wahr und gewahrt dennoch die neuen Probleme, die durch die Lösungsversuche dieser ‚neuen politischen Theologien‘ mit hervorgebracht werden. Schließlich bemüht er sich um eine eigene Lösung, die diesen Antagonismus jedoch nicht mehr disziplinär einebnen kann, sondern nur noch instanziell unproblematisch machen soll.
2.4 Folgen für das Projekt: Der Gang in die Geschichte der Rechtsphilosopie und -theologie Andreas Gryphius’ politisch-theologisches Denken muss daher in den zeitgenössischen Diskurs eingebettet werden. Die Beschäftigung mit den zeitgenössisch prominenten Staatsrechtslehren ist daher geboten, aber auch problematisch. Das zeigt sich schon am Status quo der bisherigen Beschäftigung mit der Politik Georg Schönborners, des Mentors und Lehrers des Gryphius in den Jahren 1636–1638.47 Geboten ist sie allein aus dem Grund, dass sein Traktat Poli-
47 Vgl. Baltzer Siegmund von Stosch: Last- und Ehren- auch Daher immerbleibende Danck- und Denck-Seule / Bey vollbrachter Leich-Bestattung Des Weiland Wol-Edlen / Groß-Achtbarn und Hochgelehrten Herrn ANDREÆ GRYPHII, Des Fürstenthums Glogau treugewesenen von vielen
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ticorum libri septem von 1609 eines der wenigen politischen Lehrbücher ist, von dessen unmittelbarer Lektüre durch Gryphius wir aus dessen Selbstaussagen sicher wissen: Dies ergibt dessen Brunnendiskurs, die Leichabdankung Schönborners.48 Allerdings hat sich in der Gryphiusforschung bislang nur Henri Plard des Texts Schönborners angenommen, dabei allerdings ganz offensichtlich nur die Kapitel über die tyrannis im Allgemeinen und den Tyrannenmord im Speziellen berücksichtigt und diese in seiner verdienstvollen Analyse unvermittelt in den Kontext der zeitgenössischen Diskussion um Althusius und anderer eingebettet.49 Diese Einbettung kann jedoch zutreffend nur auf Basis der souveränitätsrechtlichen Annahmen erfolgen, die Schönborner seinem Denken vom Tyrannen und Tyrannenmord mal explizit, mal implizit zugrundelegt. Die Gryphiusforschung ist sich sichtlich einig, dass Schönborner biographisch wie inhaltlich prägend für Andreas Gryphius war.50 Denn hinsichtlich der Leidener Matrikel51 hält schon Herbert Schöffler zurecht fest, dass Gryphius in Leiden nicht für die Rechtswissenschaften,52 sondern für Philosophie immatrikuliert war.53 Damit hat Schönborner als erste Quelle der spezifisch juristischen
Jahren SYNDICI, In einer Abdanckungs-Sermon auffgerichtet. Beigebunden in: Andreas Gryphius: Dissertationes Funebres, Oder Leich-Abdanckungen. Frankfurt an der Oder, Leipzig 1698, S. 29f. 48 GdW 9, Brunnen-Diskurs, S. 15. 49 Plard: La sainteté du pouvoir royal dans le Leo Armenius d’Andreas Gryphius. 50 Z.B. Marian Szyrocki: Der junge Gryphius. Berlin 1959 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 9), S. 109–131; ders.: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk. Tübingen 1964, S. 25; Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die Sonnete des Andreas Gryphius. München 1976, S. 9; Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum, S. 90; Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. 2., vollständig neubearbeitete Aufl. Stuttgart 1986 (Sammlung Metzler 76), S. 7; Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650. 2. Aufl. Berlin 1993, S. 854; Kaminski: Andreas Gryphius, S. 29f.; Stefanie Arend: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius‘ und Lohensteins. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 81), S. 19; vgl. auch Lothar Noack, Jürgen Splett: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640–1688. Berlin 1997 (Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), S. 178. 51 Wilhelm du Rieu: Album Studiosorum Academiae Lugduno Bataviae. Bd. 1: MDLXXVMDCCCLXXV. Den Haag 1875, S. 298: „26. [Jul. 1638] M. Andreas Gryphius Silesius. 22, P[hilosophiae studiosus; so die Notarum Explicatio auf S. 1]“. Gryphius schrieb sich ein zusammen mit „Andreas Knochius Dantiscanus. 20, J[uris studiosus.]. [...] Wolfgangus Georgius A Wibrandt Silesius. 20, J. Franciscus Fredericus A Schönborn Silesius. 22, J. Georgius Fredericus A Schönborn Silesius. 22, J. Johannes Christophorus A Schönborn Silesius. 21“ (ebd.). 52 So Wohlhaupter: Juristen als Künstler, S. 408. 53 Herbert Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1956, S. 60.
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Kenntnisse Gryphius’ zu gelten – Kenntnisse sowohl allgemeiner Art als auch für sein späteres Amt als Syndikus. All dieser Einhelligkeit zum Trotz wurde seit Plard jedoch versäumt, entsprechend eingehende Untersuchungen des Werks von Gryphius’ Amtsvorgänger folgen zu lassen. Möchte die Gryphiusforschung nicht, dass das Bekenntnis zu Schönborners Bedeutung letztlich nur ein Lippenbekenntnis ist, muss hier eine eingehende Analyse auch der Politicorum libri septem erfolgen, wenngleich diese Analyse trotz ihrer Zuspitzung auf Gryphius’ Interessenhorizont in ihrem Vollzug weitgreifend und langwierig gerät. Damit ist der problematische Aspekt der Beschäftigung mit Schönborners Werk angesprochen: Denn bis auf kurze enzyklopädische Umrisse und bis auf wenige Nennungen des Glogauer Syndikus im Rahmen anderer Spezialforschungen vor allem Michael Stolleis’54 liegen keinerlei rechtshistorische, politikhistorische oder anders verortete historische monographische Arbeiten vor, an die der eigentlich an Gryphius interessierte Forscher anknüpfen könnte. Im Vollzug der Einbettung der gryphschen Trauerspiele in den Kontext Schönborners hat folglich eine hinreichende Darlegung seines politischen Denkens allererst ausführlich zu erfolgen. Natürlich ist es nicht in seiner vollen Entfaltung zu erläutern, d.h. nicht in die für Gryphius’ Trauerspiele uninteressanten Subnormen etwa von Kameralistik oder Finanzökonomie. Diese Darlegung darf sich unter dem leitenden Blick auf Gryphius auf dessen Problemhorizont beschränken. Eine Erleichterung des Philologen in der (rechts)ideengeschichtlichen Aufgabe, eine frühzeitige Entlassung aus ihr bedeutet dies jedoch nicht. Dem noch jungen und berechtigten Vorwurf Walter Müller-Seidels, dass in der vermehrt philosophiegeschichtlichen Erforschung der Tyrannen- und Widerstandsrechtsthematik bislang „so gänzlich von der Literatur abgesehen wurde“,55 entspricht seitens der Literaturgeschichte das nur ebenso statthabende Ignorieren der politischen und juridischen Ideen in Gryphius’ Umfeld. Alle gebotene Bescheiden-
54 Noack, Splett: Bio-Bibliographien, S. 178; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: 1600–1800. München 1988, S. 118f.; ders. : Tradition und Innovation in der Reichspublizistik nach 1648. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 15), S. 1–18, hier S. 6; ders.: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990 (stw 878), S. 232–267, hier S. 247ff.; Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650, S. 854. 55 Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe. München 2009, S. 36.
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heit befreit nicht davon, an dieser Stelle feststellen zu müssen, dass der genaue Problemhorizont der politischen Trauerspiele des Gryphius noch nicht befriedigend erschlossen wurde.56 Auch der unter 2.3 erfolgte Abriss umschreibt nur ein Setting, ist jedoch nicht mit einer ideenhistorischen Kontexteinbettung mit wissenschaftlichem Anspruch zu verwechseln. Dabei kann auch die Beschäftigung mit Georg Schönborner Evidenz nur im Sinne relevanzstiftender Zuspitzung auf bestimmte weitere Kontexte liefern, sie kann deren Erschließung jedoch nicht ersetzen. Natürlich stellen alle Arbeiten Gryphius’ Auseinandersetzung mit dem Souveränitätsrecht bzw. dem Souveränitätsproblem zurecht fest. Diese Auseinandersetzung war jedoch erstens für das gesamte Staatsrechtsdenken des siebzehnten Jahrhunderts leitend und mündete in höchst kontroverse Bestimmungen. Zweitens ist noch nicht die genaue systematische Lücke gefunden, in die Gryphius’ Problemwahrnehmung hineinstößt (anstelle von anderen Lücken der Souveränitätsfrage). Diese Feststellung, Gryphius setze sich mit dem Souveränitätsrecht auseinander, bleibt solange im starken Sinne des Wortes trivial, wie sie nichts Besonderes aufzuweisen vermag. Um dieses Besondere von Gryphius’ politischem Denken muss es gehen. Ansonsten nämlich wäre die titelgebende politische Theologie eine Konstante, der gegenüber Gryphius und seine Trauerspiele als bloße Umsetzungsinstanzen zur bloßen Variable verkümmerten. An deren Stelle könnte dann ohne Weiteres jeder andere Dichter und seine politische Dichtung – etwa Daniel Casper von Lohenstein – eingesetzt werden; ohne Weiteres: das heißt, ohne dass hierfür die persönliche Konzeptualisierung von politischer Theologie selbst als different angesehen würde. Politische Theologie bei Gryphius wäre nur dieselbe wie bei Lohenstein. Gerade das wäre jedoch fatal und ist falsch: Es geht um die Erschließung der politischen Theologie als Variabler selbst, d.h. insofern sie sich bei Gryphius in einer bestimmten Ausprägung findet – einer anderen eben als etwa beim späteren Lohenstein. Und sie ist eben darum eine andere, bei Gryphius bestimmt ausgeprägte politische Theologie, weil sie Antwort zu geben versucht auf politische Fragen, welche die Staatsrechtslehren, die Gryphius bis dato vorliegen, noch nicht befriedigend zu beantworten wussten oder gar nicht stellten. Diese Unzufriedenheit darüber, dass diese Lehren lückenhaft sind, offenbaren die poli-
56 Bisweilen blieb eine solche Einordnung selbst dann aus, wenn sie ausdrücklich angekündigt worden war. So verspricht z.B. Günter Berghaus, der sich wie kein anderer um die Erschließung der historischen Quellen des Gryphius’ verdient gemacht hat, eine „[s]taatsrechtliche Analyse des ‚Carolus Stuardus‘“, ohne die systematischen Quellen eines solchen Staatsrechtsdenkens zu nennen: Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, hier S. 255 – 263. Abgesehen zweier bloß namentlicher, aber nicht erörternder Nennungen Althusius’ und Salmasius’ (S. 259) kommt Berghaus dem Versprechen einer staatsrechtlichen Analyse nicht nach.
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tischen Trauerspiele selber in ihrer für die Gattung zwar formal typischen, in der diskursiven Verhandlung der Gehalte jedoch allein gryphschen Gestaltung. Die vorliegende Untersuchung muss sich folglich dem objektiven Bedarf unterwerfen, im ideenhistoriographischen Wechselspiel Gryphius’ Problemwahrnehmung philologisch anhand der Trauerspiele, rechtsphilosophie- und rechtstheologiehistorisch anhand der gegebenen Vorgaben und Mängel zu erschließen und kritisch aufeinander zu beziehen. Allein in diesem interdisziplinären Verbund ist die Eigenleistung des Andreas Gryphius allererst angemessen zu erschließen.
3 Theorien und Methoden 3.1 Prozessgeschichte der Säkularisierung? Möglichkeiten der Entwicklungshistoriographie jenseits teleologischer Ideengeschichte Im allgemeinen gelten die Gegenspieler einer neuen alsbald unangefochtenen siegreichen Idee nicht als würdige und reizvolle Gegenstände ideengeschichtlicher Forschung; es scheint im vorhinein ausgemacht, daß mechanische Trägheit, dogmatischer Starrsinn und affektive Selbstbehauptung gegen Geltungsverluste den Widerstand gegen das nachher Selbstverständliche allemal erklären und – der Erforschung unwert machen. Hans Blumenberg, Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus.1
Andreas Gryphius’ politisches Denken ist von verschiedenen historischen Eindrücken, (rechts)philosophischen Neuerungen und allgemein theologischen wie rechtstheologischen Traditionen geprägt. Diese werden unter 4. im Einzelnen untersucht und aufgedeckt werden. Dort werden jedoch auch ‚konservative‘ Traditionen wie die Philipp Melanchthons ebenso wie die politologischen Neuerungen Niccolò Machiavellis und Thomas Hobbes’ zur Sprache kommen. Daher ist zunächst Allgemeines zur eigentümlichen Wirkmacht nicht-teleologischer Ideenentwicklungen auszuführen. Denn die Beobachtung, die an Gryphius’ politischen Trauerspielen gemacht wird, führt zu nichts anderem als der These, dass weder Melanchthons Naturrechtsdenken nur als überwundene Kontrastfolie gegenüber einem neuen Staatsrechtsdenken Gryphius’ zu gelten hat noch die ausschließliche Kausallogik Thomas Hobbes’ als bloßer ideengeschichtlicher Horizont richtig verstanden wäre, auf dessen Schattenseite Gryphius noch mit einem konservativ teleologischen Denken verbliebe. Es finden u.a. beide einen bestimmbaren Eingang in Gryphius’ politisches und juridisches Denken, verwirklicht in den Trauerspielen. Sie können beide gleichermaßen auf Gryphius wirken, insofern er Elemente ihrer Theorien affirmativ übernimmt und mit Elementen der jeweils anderen vermittelt. Die Innovation etwa Hobbes’ wird ebenso wenig geleugnet wie die Riva-
1 Hans Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus. Zur Geschichte der Dissoziation von Theologie und Naturwissenschaft. In: Studium Generale 13 – 3 (1960), S. 174–182, hier S. 174.
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lität des einmal aristotelischen, ein andermal anti-aristotelischen Staatsrechtsdenkens.2 Dennoch wird für Gryphius’ Standpunkt behauptet, dass dieser den Widerspruch, den das alte melanchthonianische Denkgebäude und das neue hobbesianische en bloc zueinander bilden, nicht mitmacht, und zwar ohne selbst notwendiger Weise ein bewusster Eklektiker gewesen zu sein. Denn sowohl ein ‚dogmatischer Starrsinn‘, wie Blumenberg es bezeichnet, als auch ein eklektisches Auswählen vermittelbarer Teile von unvermittelbaren Ganzen setzen gerade voraus, dass der Zeitgenosse den sachlichen Widerspruch bereits erkannt und anerkannt hat. Doch gerade darin verbirgt sich ein fataler ideengeschichtlicher Denkfehler und es ist Hans Blumenberg zuzustimmen, wenn er schreibt: „Ideen werden nicht en bloc angenommen oder zurückgewiesen; die Annehmenden verstehen sie um und miß, die Ablehnenden explizieren sie mit, entdecken ihre unerwarteten Potenzen“.3
3.1.1 Kontinuität vs. Diskontinuität? Schon Hans-Georg Gadamer unterliegt weder dem Missverständnis naiven Fortschrittdenkens noch der Diskontinuitätsbehauptung Foucaults, wenn er deutlich festhält, dass „die spannungsvolle Auseinandersetzung zwischen Tradition und Fortschritt […] eine einheitliche Bewegung dar[stellt]“.4 Dennoch ist das Risiko einer falschen Kontinuitätsbehauptung gerade hinsichtlich der Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts besonders groß, ihm zu erliegen sogar verständlich. Es entspringt nicht einem fehlgehenden historischen Narrativ oder nur ideenhistoriographischer Willkür, sondern dieses Risiko hat, wie Wolfgang Röd festhält, durchaus sein fundamentum in re:
2 Vgl. Julius Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit (1957). In: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte (1924– 1972). Hg. von Hariolf Oberer, Georg Geismann. Bonn 1990 (Aachener Abhandlungen zur Philosophie 7), S. 395–416, hier S. 396f; ders.: Die Idee des Rechts. In: Gesammelte Schriften. Bd. 2: Praktische Philosophie 1955–1972. Hg. von Hariolf Oberer, Georg Geismann. Bonn 1988 (Aachener Abhandlungen zur Philosophie 6), S. 141–198, hier S. 162; Manfred Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie. In: Kant-Studien 60 (1969), S. 417–435; Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit I. Von Francis Bacon bis Spinoza. 2., verbesserte und ergänzte Aufl. München 1999, S. 16f. 3 Ebd., S. 175; vgl. auch Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 109: „Falsche Uminterpretationen einer älteren Idee erweisen sich oft als geschichtlich notwendig bzw. taktisch zweckmäßig – und auch erfolgreich.“ 4 Hans-Georg Gadamer: Einleitung. Die Philosophie der Neuzeit. In: Philosophisches Lesebuch. Hg. von Hans-Georg Gadamer. 4. Aufl. Bd. 2. Frankfurt am Main 2009, S. 7–11, hier S. 10.
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Wie für die Geschichte im allgemeinen gilt auch für die Geschichte der Philosophie, daß das jeweils Neue stets als Ergebnis kontinuierlicher Entwicklung auftritt. Manchmal bewirken allerdings Tempo und Häufigkeit von Veränderungen einen so tiefgreifenden Wandel der Situation, daß Diskontinuität vorgetäuscht wird, wo im Grunde Kontinuität vorliegt. So verhält es sich auch in der Philosophie des 17. Jhs., die durch so viele Ansätze modernen Denkens charakterisiert ist, daß der Eindruck ihrer Neuartigkeit das Bewußtsein ihrer Abhängigkeit von der Tradition leicht zu verdecken vermag.5
Als einer der prominentesten Vertreter der Aufklärungsgeschichte lehnt auch Panajotis Kondylis eine geradlinige Ideengeschichte ab: Die Anwendung von Ideen folgt einer besonders „existenziell-politischen“ Motivation der Subjekte, die als Äußeres zur Eigenlogik der Ideen hinzutritt und mit dieser in ein eigentümliches Wechselspiel tritt.6 Wiederum Blumenberg weist zurecht daraufhin, dass umgekehrt die Ideenbegründer das unerwartete Potenzial ihrer Ideen häufig selbst nicht erkannten.7 Mehr noch also hat für die Rezipienten dieser Ideen, gerade wenn sie diese zeitnah zu deren Veröffentlichung wahrnahmen, die entsprechende Vermutung zu gelten, dass ihnen ein sachlich angemessenes Verstehen der neuen Ideen nicht unbedingt zu unterstellen ist.8 Diesen Skrupel
5 Röd: Die Philosophie der Neuzeit I, S. 11. Vgl. auch Thomas Leinkauf: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Einleitung. In: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700. Hg. von Thomas Leinkauf. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 110), S. 1–19, hier S. 17. 6 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 32: „Die Wirkung von Ideen ist nämlich nicht geradlinig zu verstehen, d.h. als Versuch, Ideen anzuwenden, die der Betreffende in Büchern gelesen, sonst erfahren oder auch sich erdacht hat. […] Der Anwendungsversuch findet im Kampf und durch kämpfende Personen statt, und der Kampf hat die eigene Logik, der sich die Logik der Texte oder der vorgefaßten Überzeugungen unterwerfen muß, wenn sie überhaupt im Spiel bleiben will. […] Ideen kommen zur Wirkung, eben weil sie in Lagen verwendet werden, die kein Ideenprodukt, sondern existenziell-politischer Ernst im reinsten Sinne des Wortes sind“. Ähnlich auch Barbara Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften und ihre Vermittlung in den Medien und Künsten. Ein Forschungsbericht. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 26 – 1 (1999), S. 3–35, hier S. 15–20. 7 Wie etwa Kopernikus, der mit seinem heliozentrischen Weltbild „zwischen dem Menschen und seinem Gott die Eintracht nach der nominalistischen Verwirrung wieder hergestellt zu haben“ glaubte: Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus, S. 175. 8 Ebd.: „Entscheidend aber ist die Frage, wer denn um die Mitte des 16. Jahrhunderts imstande gewesen wäre, sowohl die Intention des Kopernikus angemessen zu verstehen und aus ihren Andeutungen heraus der Zeit verstehbar zu formulieren als auch mit einer den beharrenden Kräften gewachsenen Autorität für sie einzustehen. Das ist keine müßige Frage mehr“ [Hervorhebung im Text].
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teilt auch eine Generation nach Blumenberg prominent Steven Shapin, besonders mit Blick auf Isaac Newton.9 Wie Blumenberg und Shapin jedoch ebenso erkennen, ist damit der Wechsel von einer optimistischen Verstehensgeschichte zu einer pessimistischen Missverstehensgeschichte ebenso wenig angezeigt wie ein Wechsel von einer naiven Kontinuitäts- zu einer rigorosen Diskontinuitätsunterstellung. Lutz Danneberg führt diesbezüglich die überzeugende Überlegung an, dass Denkgeschichten weder teleologisch noch a-teleologisch sinnvoll rekonstruierbar seien, wenn Kontinuität bzw. Diskontinuität entsprechend rigoros gesetzt würden. Diese Kritik trifft traditionelle Erfolgsgeschichte und foucaultsche Diskontinuitätserzählungen gleichermaßen10 und folgt entsprechend zwei Grundgedanken: Zum Einen unterschlägt ein allzu optimistischer Teleologismus seitens des Ideenhistoriographen nichts weniger als den Charakter der zeitgenössischen epistemischen Situation selbst – diese ist in der Tat prospektiv offen.11 Zum Anderen macht sich eine rigorose Diskontinuitätsbehauptung durch das Übersehen der retrospektiven Geschlossenheit der epistemischen Situation12 angreifbar. Denn so wird der Blick für die Frage verstellt, warum sich aus der offenen Situation heraus nur eine von mehreren Alternativen durchgesetzt hat: Was könnte ihre besondere Stärke bzw. Bestärkung ausgemacht haben und was die Schwäche der „Verlierer“?13 Nur unter prinzipieller (nicht verabsolutierender) Aufrechterhaltung des Erfolgshistoriengedankens ist kontrastiv die Misserfolgsgeschichte der sich verlaufenden Alternativen überhaupt sinnvoll zu betreiben.14
9 Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. Frankfurt am Main 1998, S. 144: „Das Buch, von dem behauptet wird, es markiere den Gipfel der wissenschaftlichen Revolution und habe ‚unser‘ Weltbild verändert – Isaac Newtons Principia mathematica – ist damals wahrscheinlich nicht einmal von hundert Menschen ganz gelesen worden, unter denen kaum mehr als eine Handvoll tatsächlich die Kompetenz besaßen, es wirklich zu verstehen.“ 10 Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, S. 201f.: „Hier geht es allein um den Punkt, dass es die einzige Vorab-Maxime in dem Sinn ist, dass die entgegengesetzte Vorab-Orientierung auf Diskontinuität keine zielführende Option methodologischer Selbstbindung darstellt. Zu betonen ist das nicht zuletzt angesichts solcher Vorab-Prämierungen von Diskontinuität, die ihren Meister nicht selten in Michel Foucault finden [...]“ 11 Ebd., S. 197. 12 Ebd. 13 Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 3. 14 Das Hauptproblem im von Foucault inaugurierten Paradigma sieht Danneberg allerdings in der Wohlfeilheit der Diskontinuitätsbehauptung, sobald sie nämlich immer dann schon erfolgt, wenn der ideenhistorische Kenntnisstand nicht mehr hergibt als sie: Danneberg, „Epistemische Situationen“, S. 201f.: „Zu betonen ist das nicht zuletzt angesichts solcher Vorab-Prämierungen
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3.1.2 Ideen als Potenziale Einen exemplarischen Vertreter dieses Miss- bzw. Nicht-Vollverstehens hatte eingangs Cervantes Saavedra mit seinem Don Quijote vorgestellt: Dem Hidalgo von der Mancha sind gleich zwei solche, von Blumenberg als Potenzen bezeichnete mögliche Konsequenzen bzw. Folgerungen aus fundamentalen Theoremen nicht bewusst. Weder ist ihm das systematische Potenzial einer begründungs- wie legitimationstheoretischen Gottesinstanz für unmittelbar politische Fragen und solche des menschlichen positiven Rechts bewusst: So sieht Don Quijote nicht die Möglichkeit einer theonomen Grundlegung menschlicher ziviler Strafe, sondern bestreitet und bekämpft ein menschliches peinliches Recht sogar, wenn er sie als gegenüber Gott anmaßend ansieht. Noch sind ihm die Risiken einer Klugheitslehre bewusst, die sich nach Machiavelli Fragen moralischer Güte bzw. Verwerflichkeit nicht zur Richtschnur macht, sondern im Rahmen eines grundsätzlich moralindifferenten Pragmatismus nur noch instrumentalisieren kann. Für ihn gehört es weniger zu den Geboten des Rechts, sondern mehr „zu den Eigenschaften der Klugheit […], was sich im Guten erreichen läßt, nicht im Bösen zu tun“.15 Dass damit Fragen der Moral auf die sekundäre Priorität der Mittelwahl herabgesetzt werden, sieht der Don genauso wenig wie die vermehrt voluntaristische Folge, dass die Wahl des Telos im Rahmen einer dergestalt umbesetzten handlungstheoretischen Mittel-Zweck-Rationalität nur noch arbiträr ist. Ihm selbst scheint sie natürlich unproblematisch: Im Rahmen seines gattungstypisch induzierten Bildes vom Rittertum traut er dem König als einem unbestrittenen Edelmann die moralisch integre Wahl dieses Ziels stillschweigend immer schon zu. Stillschweigendes Vertrauen jenseits des Gottvertrauens ist die Sache auch der
von Diskontinuität, die ihren Meister nicht selten in Michel Fouacult finden, der denn auch als Begründung nicht mehr als das für ihn offenbar unhintergehbare Begehren nach Diskontinuierlichen bietet [...] Ohne die methodologische Vorab-Maxime der Kontinuität drohen sich die Diskontinuitäten allein aus dem mangelnden Wissen zu erzeugen, und es ist schon bemerkenswert, auf wie geringen Textcorpora Foucault in Die Ordnung der Dinge oder Archäologie des Wissen oftmals seine übergreifenden Entwürfe errichtet [...]“. Danneberg sieht die Gefahr dieses wohlfeilen Schlusses gerade darin, dass in ihm schon das bestätigende Ende der Untersuchungen, nicht der Anlass zu weiterer Sichtung des historischen Materials gesehen wird. Die Diskontinuitätsbehauptung kann dann nachgerade erkenntnisbehindernd, um nicht zu sagen: wider die lex artis, geraten. Erst bei nachhaltigem Ausbleiben einer Bestätigung der Kontinuitätsbehauptung ist daher der Diskontinuitätsschluss plausibilisierbar: ebd., S. 208: „Erst das Scheitern des Versuchs [und nur das!], die methodologische Vorannahme der Kontinuität am historischen Matieral zu bestätigen, lässt sich als gewichtiger Hinweis deuten, dass man es mit einer Art von Diskontinuität zu tun hat. Unsinnig erscheint der umgekehrte Weg“ [Hervorhebung O.B.]. 15 Cervantes Saavedra: Don Quijote, S. 200.
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frühneuzeitlichen Theoriegebung nicht. Sie ist es besonders dann nicht, wenn noch das siebzehnte Jahrhundert universale Systeme von Weisheit und Wissenschaft zu denken versucht, in denen zwischen solchen Bereichen wie der Theologie, der Rechtslehre und dem Staatswesen in irgendeiner Weise vermittelt werden soll. Gerade auf einen solchen Vermittlungsdruck weist aber Don Quijotes Verhalten und Handeln nolens volens hin, wenn er sich auf Gottesinstanz und Pragmatismus zeitgleich beruft, ohne sie ihrer Spannung benehmen zu können, ja ohne dieser Spannung überhaupt gewahr zu werden. Damit ist eine dritte Form, wenn nicht schon der Ideenentwicklung selbst, so doch der Impulsgebung zu einer solchen umrissen. Während Don Quijote einmal das antivoluntaristische respektive antiabsolutistische Potenzial des Theonomiegedankens nicht erfasst, ein andermal das provoluntaristische bzw. proabsolutistische Potenzial eines prudentistischen Apriori nicht sieht, so treibt schließlich die aus dieser Spannung resultierende Misere verstärkt zur Reflexion eben dieses Problems an. Natürlich ist dies im gewählten Beispiel Teil eines literarischen Werks, mithin Schritt einer dichterischen Operation Cervantes’ und nicht die eines realhistorischen Teilnehmers der Ideengeschichte namens Don Quijote selbst. Begreift man allerdings, wie angezeigt, Don Quijotes Misere eben als operative Handlung des Dichters, stellt sich evidenter Maßen die Frage nach dem Zielpunkt dieser Operation ein und erlaubt allemal folgende Feststellung: Zwar überzeichnet Cervantes Don Quijotes Berufung auf einen Aspekt der Gottesinstanz, nämlich ihre letztlich alleinige Strafbefugnis sub specie aeternitatis; und er überzeichnet Don Quijotes Berufung auf einen Aspekt der Klugheit, nämlich ihren Pragmatismus. Aber gerade damit gelingt es Cervantes, den dennoch tatsächlichen zeitgenössischen Vermittlungsmangel, also den Aspekt der relativen Unvermitteltheit von Theologie, Jurisprudenz und Staatslehre zu rubrifizieren. Damit ist die eminente Bedeutung gerade der literarischen Darstellungs- und Reflexionsform angesprochen, über die in 3.3 eigens zu sprechen sein wird.
3.1.3 Nutzung, Auslassung und Bereitstellung von Potenzialen Es ist festzustellen, dass sich Fortschritte für den heutigen Beobachter aspektuell ausprägen, Zeitgenossen bestimmte Teile von Ideen affirmieren und zu einer Weiterentwicklung vorantreiben. Dahingegen werden andere Teile entweder bewusst abgelehnt oder als potentiell vorhanden gar nicht wahrgenommen, mithin die dadurch entstehenden Leerstellen mit Traditionellem gefüllt. Dies rührt indes an methodische Probleme, die wiederholt in zentralen Diskussionen der Geistes-, Ideen-, Philosophie-, Kultur- und Literaturgeschichte
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stehen. Mit der Behauptung, literarische Reflexionen politischer Fragen geschehe bei Gryphius nicht mehr allein rechtstheologisch und noch nicht allein im Rahmen eines echten säkularen Naturrechts, stellt sich die Untersuchung nicht nur in die übliche Beweispflicht, sondern auch in den Zwang, die Verortung der behaupteten Stellung dazwischen auch zu leisten und zu plausibilisieren. Dies macht ein ideenhistorisches Instrumentarium notwendig, das eine Entwicklungsgeschichte erlaubt, die sich von Diskontinuitäten und gewollten Regressen nicht irritieren oder gar falsifizieren lässt. Ebenso wenig ist aber in das andere Extrem eines Deskriptivismus zu verfallen, der bemerkenswerte Gleichzeitigkeiten und Nacheinander nur noch feststellt, aber nicht mehr zu erklären versucht. Es gilt schließlich, Gryphius inmitten eines Transformationsprozesses eine bestimmte Stufe zuzuweisen, um nicht vom politiktheoretischen Niemandsland einer literarischen Rezeption sprechen zu müssen. Für eine positive Bestimmung des Ortes der gryphschen Trauerspiele im komplexen Transformationsprozess der Säkularisierung16 finden sich mehrere methodische Anknüpfungspunkte. Schon Thomas S. Kuhn unternimmt den Versuch, Innovationen nicht mehr als punktuell bzw. plötzlich zu denken, sondern als „Ausbeutung von Wahrnehmungsmöglichkeiten“, die selbst nicht vom Innovator, sondern schon vorher geschaffen wurden.17 Eine solche Geschichte des Denkvollzuges ermöglicht es, systematische Spannungen und Widersprüche, wie sie in der Gleichzeitigkeit rechtstheologischer und realpolitischer Geltungsansprüche vorzuliegen scheinen, historisch aufzulösen: Die Möglichkeit zur Neuerung, hier zur Selbstbehauptung des gegenwartspolitischen Interesses, wird wahrgenommen und auch genutzt. Andere, mit dieser Novität in systemimmanenten Zusammenhang stehende Denkmöglichkeiten jedoch werden nicht voll ausgebeutet – zumindest noch nicht soweit, dass theologische Argumente gegenüber jener Selbstbehauptung einer Staatsräsonlehre schon das Feld politischer Theorie räumen müssten. Mit Kuhn stößt man allerdings insofern an eine Grenze, als hier nicht nur die Ausbeutung ex ante systemimmanenter Möglichkeiten beschrieben werden soll. Geschichte der Säkularisierung zu schreiben, bedeutet vielmehr, umgekehrt auch
16 Vgl. Friedrich Vollhardt: ‚Verweltlichung‘ der Wissenschaft(en)? Zur fehlenden Negativbilanz in der apologetischen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Hg. von Lutz Danneberg u.a. Berlin, New York 2002, S. 67–93, hier S. 74f. 17 Thomas S. Kuhn: Revolution als Wandlungen des Weltbildes. In: Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte. Hg. von Uwe Wirth. Frankfurt am Main 2008 (stw 1799), S. 296– 307, hier S. 305.
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die zeitgleich in deren Prozess sich vollziehende Disqualifizierung der vormals gleichwertigen alternativen Denkmöglichkeiten zu ex post systemexternen Theoremen zu verfolgen: Für das Phänomen der Säkularisierung scheint schließlich gerade sinnfällig zu sein, dass Theologeme an ihrem Ende nicht etwa nur schweigende Möglichkeiten der Naturrechtslehre darstellen, bestehende Potenziale, die nicht aktualisiert wurden, sondern von der Debatte nunmehr als disziplinfremd kategorisch ausgeschlossen werden. Hiermit wird deutlich, mit welcher Vorsicht die durchaus brauchbare Metapher von Potenz und Akt in der ideenhistorischen Arbeit zu handhaben ist. Sie darf nicht diejenige Problematik invisibilisieren, die im Verhältnis der Potenzen selber besteht. Bezieht man diese Problematik hingegen in die Transformationsanalyse mit ein, ist die „von vornherein teleologische Struktur“ der Begriffe Potenz und Akt selber18 ihrer Gefahr benommen, nur Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichten schreiben zu können. Einen Zugang können die methodologischen Überlegungen Lutz Dannebergs über Begriffsbildung und Begriffsentwicklung „zwischen Innovation und Tradition“19 bieten: Es gilt hinter die „Überbetonungen heuristischer Aspekte“ durch Gryphius und seine Zeitgenossen zu kommen, „die den explikativen Charakter der Begriffsbildung unterlaufen“.20 Als eine solche Überbetonung darf das bis Hobbes nur selten hinterfragte Dogma des Menschen als animal politicum angesehen werden. Gryphiusʼ Mentor Georg Schönborner etwa führt diesen Begriff zwar an, lässt jedoch ungeklärt, ob die Sozialität des Menschen eine Neigung seines natürlichen Seins oder vermehrt ein Gebot des übernatürlichen göttlichen Sollens ist (4.2.3.1). Genauso müssen „Unterbetonungen“ anderer heuristischer Aspekte aufgedeckt werden, die umgekehrt „den begriffsbildenden Charakter der Explikation unterlaufen“.21 Besonders in den hartnäckigen Widerstandsrechtsdebatten scheint dies der Fall zu sein: Henning Arnisaeus etwa reicht die Frage
18 Den Bruch mit diesen Begriffen der Metaphysik vollzog dabei schon Thomas Hobbes: Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, hier S. 423: „[D]er Stellenwert der Finalität im Schema der vier Ursachen ist nicht aus ihm selbst verständlich, wohl aber aus der Differenz von Potenz und Akt, die man als sein eigentümliches Fundament betrachten muß. Beide Begriffe haben von vornherein eine teleologische Struktur; die Potenz ist die Fähigkeit oder Anlage ‚zu etwas‘, das ihr als Zweck vorgezeichnet ist, der Akt die Verwirklichung oder Vollendung ‚von etwas‘, das die Potenz in sich enthält“. Vgl. auch: Oswald Schwemmer: [Art.] Akt und Potenz. In: EPhW 1, S. 59–61, hier S. 61. 19 Lutz Danneberg: Zwischen Innovation und Tradition: Begriffsbildung und Begriffsentwicklung als Explikation. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 9), S. 50–68. 20 Ebd., S. 61. 21 Ebd., S. 61f.
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des legitimen Tyrannizids wie beiläufig an die Theologie weiter (siehe 4.1.2.5), ohne deshalb die Theologik seiner Staatslehre so auf den Begriff zu bringen, wie es diese Kompetenzverschiebung einer politischen Grundsatzfrage eigentlich geböte. Über Kuhns rein wissenschaftsgeschichtliches Konzept hinaus muss das Interesse also auch den Veranlassungen gelten, die dazu führen, Theoriepotenziale auszuschöpfen oder nicht. Diese Veranlassungen können selbst theorieextern und sogar prima facie irrational sein. Soll diese Geschichte daher nicht in einem radikalen Relativismus gipfeln, müssen diese Veranlassungen rekonstruiert und benannt werden. Friedrich Vollhardt integriert das seit Kant geläufige Bewusstsein davon, dass Möglichkeiten ihrerseits bedingt sind,22 in die hermeneutischen und ideenhistorischen Wissenschaften: „Es geht […] um die in den zeitgenössischen Sinn- und Denksystemen verankerten Bedingungen der Möglichkeit des Textverstehens“,23 mithin dessen, was Danneberg als epistemische Situation bezeichnet.24 Sie erlaubt die Wechselwirkung zu rekonstruieren, welche die Transformationsforschung zwischen Gegenstand und seiner zeitgenössischen Kenntnis walten sieht.25 Für die Ideengeschichte bedeutet das nicht nur die Strittigkeit von Nutzung und Auslassung von Potenzialen, sondern auch diejenige ihrer vorangehenden Geltung überhaupt. Gerade die Geschichte der politischen Theorie ist auch eine Geschichte disziplinärer Kontroversen und nicht reine Konzept- oder gar Begriffsgeschichte. Es zeichnet den komplexen Status quo der Politologie in der Frühen Neuzeit aus, dass nicht nur Nutzung und Nicht-Nutzung je schon vorhandener Potenziale strittig sind, sondern auch Wahrnehmung, Bereitstellung und Exper-
22 KrV B 265: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich“. (zit. n. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe Hg. von Jens Timmermann. Hamburg 1998 (Philosophische Bibliothek 505), S. 313 [Hervorhebung im Text]). Vgl. Kuno Lorenz: [Art.] möglich/Möglichkeit. In: EPhW 2, S. 918–920, hier S. 919: „Kant […] fragt – anders als G. W. Leibniz, der […] den Erfahrungssatz ‚alles Mögliche strebt nach Existenz‘ […] gewinnt – nach den ↑Bedingungen ihrer M[öglichkeit]“ [Hervorhebung im Text]. 23 Friedrich Vollhardt: Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik. In: Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Hg. von Wolfgang Adam, Holger Dainat, Gunter Schandera. Heidelberg 2003 (Euphorion: Beihefte 44), S. 189–209, hier S. 199. 24 Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. 25 Vgl. programmatisch Hartmut Böhme: Einladung zur Transformation. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hg. von Hartmut Böhme u.a. München 2011, S. 7–37, besonders S. 11 und S. 13.
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tise des Fundus von Potenzialen überhaupt: Der Machiavellismus genauso wie der Hobbesianismus z.B. ließen sich als Nutzung bzw. Nicht-Nutzung theologischer Theoriepotenziale gar nicht angemessen beschreiben. Dass das Potenzial, Gott als Rechtsquelle und Maßstab auch menschlicher Gesetze zu sehen, bei ihnen unausgenützt bleibt, weist nicht darauf hin, dass als anderes Potenzial der Atheismus genutzt würde – diesen Vorwurf brachten Zeitgenossen26 –, sondern kommt daher, dass die Gottesfrage – gleichgültig, ob bejaht oder verneint – nunmehr indifferent war.27
3.1.4 Unbewusste Ursache und bewusste Motivation Nutzung, Auslassung und Bereitstellung von Potenzialen kann schließlich unbewusste Ursachen haben oder einer bewussten Motivation entspringen: Unbewusste Ursachen einer partiellen Ablehnung, d.h. Nicht-Übernahme einer Theorie oder Idee können in Miss- bzw., wie Blumenberg es formuliert, Umverständnissen bestehen. Blumenberg selbst wählt ein für das sechzehnte Jahrhundert prominentes Beispiel: die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes durch die zeitgenössischen Theologen. Ihre Auffassung der kopernikanischen Innovation als Häresie übersah seine Intention, „zwischen dem Menschen und seinem Gott die Eintracht nach der nominalistischen Verwirrung wieder hergestellt zu haben, indem er dem contemplator caeli eben den Punkt fand und anwies, auf den der conditor caeli die reine Ordnung seines Werkes bezogen hatte“.28 Daher verkannten die Theologen auch, dass der schöpfungstheologisch ‚eigentlich‘ richtigen Rolle des Menschen als eines untergeordneten Bewunderers und Beobachters Gottes und des Himmels gerade die dezentrale Position im Weltgeschehen gerechter wurde als der geozentrische Kosmos. Die kopernikanische Neuerung stellte eine systematische Kongruenz von Schöpfungsordnung und Ordnung des Geschöpften her und hätte – so möchte man meinen – gerade theologische Lorbeeren verdienen müssen. Dennoch konnten die zeitgenössischen Theolo-
26 Vgl. Merio Scattola: Machiavelli in der historia literaria. In: Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit. Hg. von Cornel Zwierlein, Annette Meyer. München 2010 (Historische Zeitschrift, Beihefte: Neue Folge 51), S. 131–162, hier S. 142. 27 Hans Blumenberg nimmt solche Wirkmomente in der Theoriegeschichte mit in den Blick, wenn er z.B. Hobbes ein Bewusstsein für „die fatale Härte des politischen Problems im Vergleich zur Freiheit der theoretischen Naturbetrachtung“ zuschreibt: Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 251. 28 Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus, S. 175 [Hervorhebungen im Text].
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gen ihr solange nicht zustimmen, wie ihnen der Kosmos nicht produktiv-effektive Entsprechung der Schöpfungsordnung war, sondern nach antik-stoischem Vorbild metaphorischer Ausdruck göttlicher Vorsehung: Sachliches Problem des Kopernikus war nicht ein tatsächlich mangelnder Gottesbezug seines Denkens, sondern der providentielle Maßstab seiner theologischen Kritiker. Sie konnten mit der Annahme des Menschen als dem letzthin zentralen Schöpfungsbezug Gottes nicht umhin, auch seinen jetzigen Ort, die Erde, als entsprechend zentral zu denken. Die theologische Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes hatte seine Ursachen zum Einen im Umverstehen der doch eigentlich deterministischen Stoa zu einem Ideengeber eines Providentialismus, der den Kosmos „als physische Manifestation eines metaphysischen Bezuges“29 zu denken erlauben sollte. Zum Anderen gründete diese Ablehnung im Missverstehen des nicht mehr metaphorischen Kopernikanismus. Solange die Theologen Kopernikus’ Theorie ihre Eigentlichkeit überhaupt vorwarfen, verstellten sie sich den Blick dafür, dass diese Eigentlichkeit im Besonderen eine den theologischen Zwecken äußerst entgegenkommende war: „[D]ie Theologen übersahen diese Chance, für ihre Tradition in der neuen Wissenschaft Sukkurs zu finden“.30 Im Bereich der Dichtung sind es schließlich vorzüglich mystische Lyriker wie Johannes Scheffler, aber auch Andreas Gryphius, die im siebzehnten Jahrhundert den Bruch mit der konkreten Lokalisierung Gottes affirmativ aufnehmen.31 Bewusste Motivationen einer teilweisen Ablehnung neuer Ideen und Theoreme zeigen sich z.B. in der Auseinandersetzung frühneuzeitlicher Rechtstheologen mit den pragmatistischen Neuerungen Niccolò Machiavellis. Francisco Suárez etwa hat das virulente Interesse Machiavellis an einer pragmatischen Politiklehre sogar geteilt: Es war in der Tat nicht zu leugnen, dass benachbarte
29 Ebd. 30 Ebd.; ausführlich: „[D]ie Theologen übersahen diese Chance, für ihre Tradition in der neuen Wissenschaft Sukkurs zu finden: indem sie den alten, geozentrischen Kosmos nach dem Vorbild der antiken Stoiker als Metapher der göttlichen providentia, als physische Manifestation eines metaphysischen Bezuges ansahen, zwangen sie auch dem neuen heterozentrischen Kosmos eine metaphorische Bedeutungsfracht auf, die sich mit der Überlegenheit des Sinnenfällig-Handgreiflichen gegen die subtile Intention des Kopernikus durchsetzte“ [Hervorhebungen im Text]. 31 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Neuzeitliche Wissenschaft in der Lyrik des 17. Jahrhunderts. Die Kopernikus-Gedichte des Andreas Gryphius und Caspar Barlaeus im Argumentationszusammenhang des frühbarocken Modernismus. In: ders.: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt, Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 519–545, hier S. 526; Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970, S. 70f.
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bzw. konkurrierende Fürsten amoralisch handeln und einen von übergroßen moralischen Skrupeln behafteten ‚guten‘ Fürsten immer überrennen würden. Mit einer normativen Leugnung dieser Tatsache war in der Tat kein Staat mehr zu machen (4.1). Insoweit musste Machiavelli ernst genommen werden und dies tat auch Francisco Suárez: Dies hat zu den zentralen Erkenntnissen des Teilprojekts A10 des Münchner SFB 573 zu zählen: Die (neo)aristotelischen Naturrechtslehren rezipieren Machiavellis Augenmerk auf die prudentia affirmativ, gelangen jedoch nicht wie der Italiener zu einem apriorischen Prudentismus.32 Für die Rechtstheologen vollkommen inakzeptabel war nämlich Machiavellis Vorstellung, dass eine solche politische Stabilisierung nur gegen jedwede Moralität möglich sein sollte: Fragen von Recht und Unrecht stünden den politischen Fragen von klug und unklug wesentlich indifferent gegenüber und der homo politicus könne deshalb seinen Gegnern mit harten Maßnahmen begegnen, weil sie ihm je schon nie untersagt sind. Dagegen schreibt die Spätscholastik von Vitoria bis Suárez an. Sie versucht, den Krieg gegen äußere Gegner in eine bellum-justum-Theorie einzubetten. Sie versucht, allgemeine Fragen kluger Handlungen gegen Widersacher zu rejuridifizieren: Bestimmte kluge Handlungen dürfen und müssen gegen besondere Gesetze verstoßen, weil ihnen übergeordnete Normen das Recht und die Pflicht dazu geben.33 Auch Gryphius gehört – so wird sich zeigen – in diesen Komplex der Machiavelli-Rezeption. Teilte also die Staatsrechtslehre des sechzehnten, mehr noch aber des siebzehnten Jahrhunderts durchaus Machiavellis prudentielles Problembewusstsein, so lehnte es doch nahezu einstimmig seine
32 Vor allem Norbert Brieskorn: Systematisieren und Öffnen von Rechtspositionen in Francisco Suárez: De legibus ad Deo legislatore (1612) und Johannes Azor: Institutiones morales (1602). In: SFB 573: Mitteilungen 4 – 1 (2008), S. 35–42; Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III); ders.: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez; Oliver Bach: Juridische Hermeneutik. Francisco Suárez zur Auslegung und Veränderung der menschlichen Gesetze (DL VI). In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 267–309; siehe weiter Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Lex und Ius. Hg. von Alexander Fidora, Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010 (PPR II,1), S. 429–463; Stiening, Gideon: ‚Non est potestas nisi a Deo‘. Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext. In: SFB 573: Mitteilungen 7 – 2 (2011), S. 7–16; ders.: Nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen? Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in De Indis. In: Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (PPR II,3), S. 123–151; ders. : ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria. In: Der Philosoph Melanchthon. Hg. von Günter Frank, Ursula Kocher, Felix Mundt. Berlin, New York 2012, S. 115–146. 33 Vgl. Bach: Juridische Hermeneutik.
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prudentistische Grundlegung ab: Fragen des praktisch Klugen sollten ohne den notwendigen Zusammenhang mit Fragen des Rechts nicht gelten können und ohne sie nicht behandelbar sein. Recht sollte mithin nichts Politisches sein, sondern die Politik etwas Rechtliches. Jurisprudenz war den Machiavelli-Gegnern nichts anderes als ausübende Rechtslehre.34 Die Ablehnung Kopernikus’ durch die Theologen war ein ideengeschichtliches Missverständnis, insofern er einem gängigen theologischen Weltbild widersprach, das aber als theologisches keineswegs alternativlos war. Es besaß in Kopernikus’ Kosmos eine echte theologische Alternative und die zeitgenössischen Theologen missverstanden gerade dies. Dementgegen ist die suárezische Ablehnung des machiavellischen Prudentismus gerade keinem Missverständnis geschuldet: Sie verdankt sich dem sachlich richtigen Schluss, dass ein Pragmatismus, der sich direktiven moralischen Erwägungen entzieht und sie sich umgekehrt als Mittel unterordnen will, der Theologie tatsächlich ihre Suprematie streitig macht. Kopernikus wie Machiavelli traf durch die Zeitgenossen der Vorwurf, ihre Theorien seien a-theologisch: Nur auf Machiavelli traf dieser Vorwurf auch zu. Natürlich können unbewusste Ursachen und bewusste Motivation gemeinsam auftreten. Dies dürfte bei entsprechendem Fokus sogar den Regelfall bilden, insofern Miss- bzw. Umverstehen und bewusste Ablehnung in einem komplexen, aber dennoch identifizierbaren Wechselspiel stehen. Folgt man jüngsten Untersuchungen Gideon Stienings, kann man sich hierfür aus dem gleichen Umfeld eines Beispiels bedienen, nämlich abermals dem Rechtsdenken Francisco Suárez’: Bei diesem findet sich – zumindest an zentraler Stelle – das für das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert übliche Missverständnis, dass Machiavelli das notwendig amoralische Handeln fordere.35 Hätte schon der Moralindifferentismus, der die Moralität nur instrumentalisiert und damit dem Klugen unterordnet, für eine naturrechtliche Polemik ausgereicht, so erklärt sich erst aus diesem Missver-
34 Vgl. Klaus-Gert Lutterbeck: Jurisprudenz als ‚ausübende Rechtslehre‘? Zur Funktion der Rechtswissenschaft im Spannungsfeld von Theologie und Philosophie in Suárez’ ‚De legibus‘. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 53–72. 35 Vgl. Gideon Stiening: ‚Aus den innersten und tiefsten Gründen der Philosophie‘. Zur Stellung Ciceros in Francisco Suárez’ ‚De legibus ac deo legislatore‘. In: Cicero in der Frühen Neuzeit. Hg. von Günter Frank, Anne Eusterschulte. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015 (MSB 13) [i.D.]. Auch Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990 (stw 878), S. 37–72, hier S. 39–51.
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ständnis die Heftigkeit der Ablehnung Machiavellis. Inwiefern Stienings These auf alle Zeitgenossen zutrifft oder sie diese als ‚begriffsstutzig‘ diskreditiert, kann hier nicht diskutiert werden.36 Allerdings ist die andere mögliche Unterstellung, dass nämlich Suárez und den übrigen Rechtstheologen der Indifferentismus Machiavellis wesentlich klar und die Zuschreibung notwendiger moralischer Schlechtigkeit nur polemisch-darstellerischen Erwägungen geschuldet sei, mitnichten diejenige, die solchen Autoritäten wie dem Conimbricenser Theologen den größeren Respekt zollte: War dem Rechtstheologen nämlich der Moralindifferentismus deutlich und folgerte er hieraus die Gefahr eines Anstiegs moralisch schlechten Handelns der politischen Akteure als notwendig zu erwartenden Fakt, dann konnte ihm das eigentlich nur unter Preisgabe derjenigen Prämisse gelingen, die für die aristotelisch-thomistische Naturrechtstradition fundamental ist, dass nämlich der Mensch grundsätzlich ein gesellschaftliches oder gar politisches Lebewesen sei. Die kognitive wie moralische Eingeschränktheit des Menschen in statu pravitatis hatte nur als Plausibilisierung des möglichen Verfehlens hergehalten, nicht als Fundament einer anthropologischen Konstante menschlicher Schlechtigkeit. Die malitas konnte allemal die Ausnahme begründen, die das Gesetz notwendig machte, sie konnte aber nicht die natürliche bonitas begründen, die als Grundlage von Erlassung und Stabilität dieser Gesetze systematisiert war. Nun aber möchten die Thomisten die malitas in einer Weise gegen Machiavelli stärken, wie sie es selbst grundlagentheoretisch eigentlich nicht wollen können.37 So verstanden, wäre die neuscholastische Machiavelli-Polemik nachgerade als ideenhistorisches Phänomen beschrieben, in dessen Rahmen die bewusste Ablehnung des Prudentismus einem korrekten Verständnis seines Wesens und einem unterlaufenen Missverständnis des Fundaments ausgerechnet der eigenen Position folgt.
36 Stolleis führt mit Reginald Pole einen überaus frühen Leser und Kritiker des Principe an, der das Moment der ‚Heuchelei‘ von Religion richtig erkennt: ebd., S. 42f. 37 Tatsächlich bricht sich die malitas im katholischen genauso wie im protestantischen Völkerrecht als inhaltliches Rechtsargument schon zeitig Bahn, so etwa bei Luis de Molina und Alberico Gentili: vgl. Oliver Bach: ‚At nobis contrarium videtur verum‘. Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas. In: Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (PPR II,3), S. 191–217, hier S. 201.
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3.1.5 Makro- und Mikroprozesse der Säkularisierung In der Bilanz zum DFG-Projekt Verweltlichung der Wissenschaft(en) fasst Sandra Pott die Ergebnisse zu einer Typologie von Säkularisierungsphänomenen zusammen.38 Heuristisch leitend war das Problembewusstsein, dass eine allein an der makrologischen Prozesskategorie ausgerichtete Ideengeschichte Reduktions risiken ausgesetzt ist,39 die bis in die Ahistorizität führen können. Eine mikrologische Interpretationskategorie Säkularisierung hingegen erlaubt die Beschreibung solcher partiellen Verweltlichungen, wie sie in den vorangegangenen Beispielen innerhalb eines Denkens auftreten können. Sie schließen damit nicht schon den ebenso beobachteten Fakt aus, dass an anderen Systemstellen desselben Denkens Verweltlichungen ausbleiben oder sogar Retheologisierungen entstehen können. Alle von Pott vorgeschlagenen Typen von Säkularisierung scheinen für diese Beobachtungen einschlägig, zudem offenbaren sie am konkreten Beispiel schon ihre gegenseitige Wechselwirkung: In der Tat wird durch das verstärkt prudentielle Problembewusstsein im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert „die Substanz der Problemstellung“40 auch der Rechtstheologie verändert, insofern sie sich nicht mehr exklusiv für Begründungs- und Geltungsprobleme interessiert. Die historische Tatsache moralisch schlechten politischen Handelns und der handlungstheoretische Druck, als homo politicus damit umzugehen, werden der Problemstellung hinzugefügt (additiver Typus41). Damit wird gleichzeitig der Zuständigkeitsskopus der Rechtstheologie auf die gesamte prudentia civilis erweitert, einschließend Jurisprudenz, Moralphilosophie und Klugheit: Insofern diese als ein Wirkungszusammenhang gedacht wurden, wird die genannte „Substanz der Problemstellung“ der Rechtstheologie auch transformiert (transformativer Typus42). Dem steht der Machiavellismus entgegen, insofern er nicht die Problemstellung der Rechtstheologie erweitern oder umformen will, sondern
38 Umfassend den additiven, den transformativen, den evolutionären und den revolutionären Typus: Sandra Pott: Säkularisierung – Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte. In: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. Hg. von Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth. München 2006 (Ordnungssysteme 20), S. 223–238, hier S. 226f. Auch in dies.: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Berlin, New York 2002, S. 4f. 39 Dies.: Säkularisierung – Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte, S. 223. 40 Ebd., S. 226. 41 Ebd. 42 Ebd.
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die Klugheitsfrage durch ihre Befreiung von jedem normativen Apriori gerade auf den Grund ihres genuin eigenen Anspruchs stellt (revolutionärer Typus43). Schon Andreas Urs Sommer schlägt eine Erweiterung der Typologie durch den subtraktiven Typus vor.44 Um Potts Typologie restlos vor Teleologieverdikten zu schützen, ist vielmehr die Ergänzung solcher Typen angezeigt, die gerade auch umgekehrte Entwicklungsprozesse zu benennen erlauben – von vermehrt säkularen zu wieder vermehrt theologischen Argumentations- und Denkstrukturen. Insofern Potts Typologie strukturell vollständig ist, muss sie erstens nur um den Modus der jeweiligen Umkehrung erweitert werden: Die Transformation gerade schon säkularer Denkaspekte in wieder vermehrt theologische Formen kann als restaurativer Typus bezeichnet werden. Zweitens ist Potts Typologie durch den Modus des Nicht-Erfolgens des jeweiligen Typus zu erweitern: Das Beharren auf theologischen Denk- und Argumentationsstilen, das sich für additiven, transformativen oder gar revolutionären Säkularisierungs-Input unempfänglich zeigt, ohne diesen durch Restauration schon verdrängen zu müssen, kann schlicht als konservativer Typus verstanden werden. Insofern z.B. bei den Antimachiavellisten der ersten Stunde die Abgrenzung von Machiavellis Lehre in rein ablehnender Form erfolgte, d.h. ohne dass sein Problembewusstsein ernst genommen und auch nur modifizierend in die eigene Arbeit aufgenommen worden wäre,45 kann dieser Mikroprozess als konservativ gelten. Die Rückeinbettung des politischen Klugheitsdenkens in moraltheologisches Fundament, seine gegenüber Machiavelli theonome Reethisierung kann hingegen als restaurativ begriffen werden. Interessant ist, schon hier zu sehen, dass die Mikroprozesse selbst noch keinerlei hinreichenden Aufschluss über den entsprechenden Verlauf des Makroprozesses geben: Dem makrologisch konservativen Zweck der Theologie, ihren angestammten Rang gerade unter den Wissenschaften des Rechts, der Moral und des Handelns zu behaupten, kam in der Tat mehr die problembezogene Öffnung für Machiavellis Neuerungen zu gute als deren kategorische, mikrologisch konservative Ablehnung.46
43 Ebd., S. 227. 44 Andreas Urs Sommer: [Rez. v.] Säkularisierung der Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. In: Philosophisches Jahrbuch 110 – 2 (2003), S. 382–385, hier S. 383. 45 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 41: „Erst 1604 konfrontiert Jakob Bornitz die echte ‚prudentia politica‘ mit jener sogenannten politischen Klugheit, ‚quam Pseudo-politici et Machiavelli asseclae specioso nomine Ratione status praetendunt.‘“ 46 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III); ders.: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez.
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3.1.6 Das Verhältnis zum Makroprozess der Säkularisierung Potts Arbeit konzentrierte sich ausdrücklich auf die Mikroprozesse der Säkularisierung, ohne den Makroprozess zu leugnen.47 Gleichwohl erlaubt der gegenwärtige Stand der fachübergreifenden Methodendiskussion durchaus die behutsame, aber dennoch urteilsstarke Subsumierung und Bewertung von Mikroprozessen aus Sicht des Makroprozesses Säkularisierung selbst. Im Vorangehenden wurde dies schon zum Teil implizit vollzogen: Retheologisierungen von Argumentations- und Denkmustern wurden als restaurativ, das Beharren auf Theologismen dem Säkularisierungsdruck entgegen wurde als konservativ bezeichnet. So sehr diese vom Verfasser auch als wertfreie Beschreibungskategorien für Entwicklungsprozesse begriffen werden, kann nicht geleugnet werden, dass ihnen der makrologische Säkularisierungsgedanke als Maßstab argumentationslogisch zugrunde liegt. Es geht daher nunmehr um die Klärung der Frage, ob es zu dieser makrologischen Säkularisierungssupposition gute Gründe gibt. Rein argumentationsstrukturell stützen dies schon Lutz Dannebergs Überlegungen, wie sie unter 3.1.1 erörtert wurden: Auch diejenige Ideengeschichte, welche die Rekonstruktion sich verlaufender Mikroprozesse einschließt, nimmt den Ausgang ihres Interesses an dem einen erfolgreichen Mikroprozess: An ihm lassen sich seine erfolglosen Alternativen überhaupt identifizieren. Dieser Mikroprozess jedoch ist in seiner Nachhaltigkeit wiederum nur am gegenwärtigen Status quo des Makroprozesses auszumachen. Dieser ist zweifellos säkular. Gilt dies cum grano salis für alle Wissenschaften jenseits der Theologie, so trifft es in besonderem Maße auf das politische Denken zu. Gerade in diesem Fall steht einer solchen Sichtweise die Säkularisierungsthese Carl Schmitts entgegen. Sie besagt gerade, dass durch den analogen Charakter von Gott und absolutem Herrscher die Göttlichkeit bei letzterem erhalten bliebe und gar durch die Analogie in die Immanenz transportiert würde. Dieser systematischen Behauptung Schmitts einer historisch-invarianten politischen Theologie ist unter 3.2 ausführlich zu begegnen. Dort wird zu klären sein, inwiefern das politische Denken der Neuzeit in der Tat säkular und nicht bloß säkularisiert wurde.
47 Pott: Säkularisierung – Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte, S. 225.
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3.2 Politische Theologie: historischer vs. systematischer Begriff Eine entscheidende Rolle im Gang der Arbeit kommt einem historischen Begriff der titelgebenden politischen Theologie zu. Er darf nicht unter rigoroser Absehung zu jedweder systematischen Distinktion bestimmt werden. Vielmehr erhebt der Begriff gerade den Anspruch, das systematisch statthabende, aber historisch letztlich unausgeschöpfte Potenzial bestimmter Ideenentwicklungen sichtbar zu machen. Er soll plausibilisieren, inwiefern Andreas Gryphius einerseits Gott als Geltungsinstanz jedweden Rechts annimmt, ja sogar stärkt, und inwiefern der Schlesier andererseits ausgerechnet ein dergestaltes Naturrecht verabschiedet, wie es als Vehikel der politischen Theologien des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts von eminenter Bedeutung war. An diesem Sachverhalt wird der Symbiosedruck von systematischer und historischer Perspektivierung deutlich, dem der Begriff der politischen Theologie notwendig nachzugeben hat: Man muss sich zu der vordergründigen Paradoxie von Affirmation der politischen Theologie und Negation ihrer bewährten Mittel verhalten. Sie allein zu kon statieren, wäre unzureichend. Es bliebe nämlich das Risiko, dass der Leser der vorliegenden Untersuchung diese Paradoxie allemal wahrnimmt. Eine residualsystematische Perspektive kann auch durch eine rigorose Historisierung zumindest rezeptiv nicht vermieden werden; sie kann durch diese sogar hervorgerufen werden. Erst eine solche, vom rigorosen historischen Deskriptivismus induzierte Residualsystematik legt dem angemessenen Verstehen des betrachteten Sachverhalts die größten Hindernisse in den Weg. Sie bliebe dem Leser allein überlassen und könnte damit durch einen nachgerade gewollten Reflexionsmangel zu Fehlschlüssen führen, die weder ein systematischer noch auch nur ein historischer Begriff von politischer Theologie wissenschaftlich wollen kann. Wollte man den umschriebenen Sachverhalt hingegen ausschließlich systematisch analysieren, käme man über die Feststellung jener vordergründigen Paradoxie ebenso wenig gewinnbringend hinaus. Das politische Denken Gryphius’ wird systematisch schließlich so charakterisiert, dass von einer affirmierten politischen Theologie noch nicht notwendig auf ein theonomes Naturrecht als deren einzig mögliches Mittel geschlossen werden dürfe. Das bedeutet, dass das zeitgenössische Angebot wirklicher Mittelalternativen der politischen Theologie nur historisch aufzufinden ist.
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3.2.1 Carl Schmitts Rationalismuskritik und vorgebliche Empirik Der hier veranschlagte Begriff unterscheidet sich streng von den systematischen Ansprüchen von politische Theologie, wie sie prominenter Maßen Carl Schmitt formulierte: Sein Begriff von politischer Theologie sieht auch nachaufklärerische Begründungsstrukturen und politische Legitimationsfundamente als nicht wesentlich unterschieden von theologischen an. Erstens sieht er sie als immer transzendent an. Damit befindet er sie für per se unzugänglich und in der Folge für allein glaubbar. Zweitens leugnet Schmitt jede Möglichkeit einer nicht-theonomen Transzendenz. Er möchte dabei gerade Hobbes begründungslogische Theonomie zuschreiben, indem er das konstitutive kontraktualistische Argument des De cive übergeht und stattdessen „den Leviathan zu einer ungeheuren Person geradezu ins Mythologische [ge]steigert“ begreift.48 Ins analytische Zentrum seiner Überlegungen – und nicht nur an deren Beginn – stellt Schmitt diejenige politische Situation, für die dem politischen Akteur vom geschriebenen Gesetz keinerlei Regelungen an die Hand gegeben sind: den Ausnahmezustand.49 Insofern auch Andreas Gryphius diesen ins Zentrum seiner dramatischen Auseinandersetzung stellt (4.1.1), ist eine präzisere Auseinandersetzung mit Schmitts Entwurf geboten, die über den Verweis auf gegebene Kritiken hinausgeht. Das Interesse am Ausnahmezustand ist für Schmitt zurecht dort systematisch triftig, wo das verfasste Gesetz oder zumindest seine bestimmte Zuständigkeit bestritten wird. Eine Berufung auf dieses Gesetz gleichermaßen als Geltungsgrund seiner selbst wäre in der Tat witzlos. Dieses Bestreiten kann sowohl von Seiten eines Widerstandes gegen den Souverän als auch im tyrannisch-voluntaristischen Agieren von diesem selbst ausgehen. Letzteres ist dafür entscheidend, dass Schmitt die Definition der Souveränität weniger an die Kompetenz knüpft, im Ausnahmezustand zu entscheiden – denn dies kann das Gesetz sogar allemal regeln –, sondern gerade über diesen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“.50 Insofern in Schmitts Augen weiter die Norm „ein homogenes Medium [braucht]“, es mithin „keine Norm [gibt], die auf ein Chaos anwendbar wäre“,51 muss der Ausnahmezustand als der Begriff, der das Chaos bezeichnet, zur Bestimmung der Souveränität erst wirksam hinzutreten.
48 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München, Leipzig 1922, S. 43. Dem entgegnete vor Kurzem nochmals Dietrich Schotte: Auctoritas, non veritas, facit legem! Zur angeblichen Politischen Theologie in Thomas Hobbes’ Leviathan. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 – 5 (2009), S. 709–724. 49 Schmitt: Politische Theologie, S. 9. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 13.
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Denn soll sich die Oberherrschaftlichkeit, die der Begriff souverain anzeigt, nicht selbst widersprechen, muss sie sich für Schmitt sowohl gegenüber dem Chaos bewähren als auch vom Gesetz selbst unterschieden und unabhängig sein. Damit wird der dezisionistische Charakter dieser Souveränitäts- und Rechtsauffassung bei Schmitt deutlich: Recht und Gesetz haben selbst keine Souveränität inne. Sie bedeuten sie auch nicht oder erzeugen sie gar, sondern sie sind nur Ausdruck einer ihnen äußerlichen und vorgängigen Entscheidung, mithin Entscheidungskompetenz. Diese kann sich auch wieder gegen sie selbst richten: „Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm“.52 Insofern es für Schmitt keine Grenzen außer denjenigen der Norm gibt, Grenze und Norm ihm sogar nachgerade identisch sind, bedeutet ihm Souveränität die unbegrenzte und daher von Gesetzen befreite Entscheidungsmacht: „Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz sind hier notwendig unbegrenzt“.53 Dem Rationalismus unterstellt Schmitt dabei eine gewisse Normenverliebtheit, insofern diesen die Ausnahme gegenüber dem Ableiten aus Allgemeinem nicht interessiere. Schmitt wirft dem Rationalismus Ignoranz vor: Die heutige Staatslehre zeigt das interessante Schauspiel, daß beide Tendenzen, die rationalistische Ignorierung und das von wesentlich entgegengesetzten Ideen ausgehende Interesse für den Notfall, einander gleichzeitig gegenüberstehen.54
Es ist Schmitt in der Auseinandersetzung mit Staats- und Rechtslehren unterschiedlichster Gestalt von Weber bis Kelsen um diesen Nachweis zu tun, dass sie nämlich Ausdruck eines solchen Rationalismus sind. Sie stellten genauso wie angeblich der Rationalismus den Willen zur Schlüssigkeit, Einheitlichkeit, Folgerichtigkeit höher als die Anerkennung eines aporetischen Problems wie das des Ausnahmezustandes: Schmitt nennt etwa den Widerspruch zwischen der als „höchste, unabhängige, nicht abgeleitete Macht“55 bestimmten Souveränität einerseits und dem Kausalitätsgesetz andererseits, aufgrund dessen eigentlich nichts „mit einem solchen Superlativ bedacht werden kann“.56 Schmitt identifiziert Ursache und Grund in einer Weise, wie sie seit Kants Unterscheidung von Seinsgrund und Erkenntnisgrund57 als äußerst problematisch gilt, und bereitet
52 Ebd., S. 11. 53 Ebd., S. 9. 54 Ebd., S. 14. 55 Ebd., S. 20. 56 Ebd. 57 Vgl. Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit III. Teil 1: Kritische Philosophie von Kant bis Schopenhauer. München 2006, S. 25.
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besonders der Kritik Hans Blumenbergs ihren Boden. Einen weiteren Fall eines wirklichkeitsblinden Rationalismus sieht Schmitt in der reinen Rechtslehre Kelsens, dessen in der Tat zentralem Einheitsgedanken er nicht umhinkommen könne zu unterstellen, einen versteckt naturrechtlichen Horizont anzuzeigen.58 Dieser Fall ist insofern besonders triftig, als hier Schmitt die gerade rationalismusinterne Aporie genau so wie die Aporie einer rationalismusverleugnenden Lehre vorliegen sieht. Für Schmitt wäre es jedoch „konsequenter Rationalismus, zu sagen, daß die Ausnahme nichts beweist und nur das Normale Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sein kann“.59 Damit ist für Schmitt der Geltungsgrund menschlichen Rechts wie auch die Bewältigung des Ausnahmezustandes nicht mit rationalistischen Mitteln auffindbar. Am Ausnahmezustand als einem hard fact, insofern er in der Tat „dem Begriff der Souveränität als einem Grenzbegriff allein gerecht werden“60 kann, richtet Schmitt also seine Lehre aus. Mit ihm möchte er auf die politische Theologie als gerade dasjenige Ergebnis kommen, das der Empirie gemäßer ist. Die Rationalismuskritik soll ihren Gipfel bei Schmitt gerade in einem empirischen, nicht je schon theologischen Nachweis politischer Theologie haben. Es ist für ihn letztlich die empirisch wahrnehmbare Dringlichkeit des drohenden oder angedrohten Ausnahmezustandes, der zur politischen Theologie nachgerade drängt: Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur […].61
Der entscheidende Nachweis bleibt allerdings aus, nämlich derjenige der systematischen Strukturgleichheit. Zwar ruft Schmitt nochmals die Behauptung auf, dass „die ‚Omnipotenz‘ des modernen Gesetzgebers, von der man in jedem Lehrbuch des Staatsrechts hört, […] nicht nur sprachlich aus der Theologie hergeholt“62 sei. Als Beweis einer systematischen Strukturgleichheit von Gott und
58 Schmitt: Politische Theologie, S. 21: „Wie kommt es, daß ein Haufe positiver Bestimmungen auf eine Einheit mit demselben Zurechnungspunkt zurückgeführt werden kann, wenn nicht die Einheit eines naturrechtlichen Systems oder einer theoretischen allgemeinen Rechtslehre, sondern die Einheit einer positiv geltenden Ordnung gemeint ist?“; vgl. Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933). München 2012, S. 291–293, S. 291–293. 59 Schmitt: Politische Theologie, S. 14. 60 Ebd., S. 10. 61 Ebd., S. 37. 62 Ebd., S. 38.
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Souverän reicht ihm letztlich der Nachweis der genannten Aporien. Damit ist sein Theorem der politischen Theologie systematisch allerdings so angelegt, dass ihm etwa mit Jan Assmanns Erweiterung des historischen Horizonts bis in das alte Ägypten noch nicht umfassend entgegnet werden kann: Zwar sind aus dieser Perspektive umgekehrt „[a]lle prägnanten Begriffe […] der Theologie […] theologisierte politische Begriffe“,63 insofern nach Assmans prominentestem Beispiel Gott erst durch den Schluss des Alten Bundes, mithin dessen schon vertraglicher Form in die Funktion des Herrscher- und Gesetzesgottes tritt. Allerdings sind dergleichen Einwände nur begriffshistorisch, die selbst noch nicht ausräumen, dass auch dem politischen Herrschaftsgedanken ante legem veterem eine systematisch denknotwendige Theologizität eignen könnte.64 Schmitt gründet seine Rationalismuskritik schließlich nicht auf apriorischer Ablehnung desselben. Er kehrt es vielmehr als Erkenntnis eines „konsequenten Rationalismus“ selbst hervor, dass dieser für die Machtaporie des Ausnahmezustandes keine Kategorien mehr liefern kann: Dies ist Schmitt die wesentliche, weder hintergehbare noch rationalismusintern lösbare Schwäche des Rationalismus. Macht, die den Ausnahmezustand zu bewältigen gewiss ist, wird einem Souverän zuerkannt und diese Zuerkennung ist Schmitt selbst nicht rational, aber dennoch qua facto statūs necessitatis politisch notwendig. Die ausgerechnet dem ersten Rechtslogiker Hobbes65 zugeschriebene ‚Übersteigerung‘ des Herrschers ‚ins Mythologische‘ ist nach Schmitts eigentümlicher Pointe ebenso notwendige wie irrationale politische Wirklichkeit: Selbst Hobbes könne die allmächtige Person nur noch postulieren, nicht mehr erklären.66 Sie sei dem Engländer letztendlich genauso wenig regredierbar wie Schmitt. Ihr deskriptives und phänomenologisches Auskommen muss die Staatslehre in diesem Punkt dort suchen, wo eine widerspruchsvolle, aber bejahte Omnipotenz der einen Person extra
63 Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München, Wien 2000, S. 20. 64 Vgl. auch Ulrich Haltern: Europarecht und das Politische. Tübingen 2005 (Jus Publicum 136), S. 41, Anm. 127. 65 Vgl. Georg Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. In: Der Staat 21 (1982), S. 161–189. 66 Schmitt: Politische Theologie, S. 43: „[E]in einziger Gott regiert die Welt. Wie Descartes einmal an Mersenne schreibt: c’est Dieu qui a établi ces lois en nature ainsi qu’un roi établit les lois en son royaume. Das 17. und 18. Jahrhundert war von dieser Vorstellung beherrscht; das ist, abgesehen von der dezisionistischen Art seines Denkens, einer der Gründe, warum Hobbes trotz Nominalismus und Naturwissenschaftlichkeit, trotz seiner Vernichtung des Individuums zum Atom, doch personalistisch bleibt und eine letzte konkrete entscheidende Instanz postuliert, und auch seinen Staat, den Leviathan, zu einer ungeheuren Person geradezu ins Mythologische steigert.“
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rationem weniger ihre ‚Erklärung‘ als vielmehr ihren Urgrund findet, nämlich in der Theologie. Für die resultierende politische Theologie ist dieser Urgrund eben nicht explikatives Ziel der Erkenntnissuche, sondern umgekehrt der kon struktive Ausgangspunkt der Erkenntnisbefriedigung. Damit verfährt Schmitts Argumentation letztlich weder rationalistisch noch empirisch, sondern dogmatisch, was nicht nur Blumenberg Anlass zur Kritik gibt. Jede Zuerkenntnis von Macht, die auch dem Ausnahmezustand souverän begegnet, entstammt jenem notwendigen wie irrationalen Urgrund: Damit streift Schmitts Begriff von politischer Theologie jede Historizität von sich ab, so sehr die Schrift Schmitts auch historische Kenntnis besitzt. Denn mit der Notwendigkeit ist historische Varianz ebenso ausgeschlossen wie mit der Irrationalität. Der Souverän könne gar nicht anders als gottgleich gedacht werden. Insofern ist Schmitts politische Theologie systematisch.
3.2.2 Blumenbergs Widerspruch Ein historischer Begriff von politischer Theologie kann indes gewonnen werden, indem ihm mit Hans Blumenberg der Begriff der Selbstbehauptung der Vernunft gegenübergestellt wird. Ein Hinübertragen theologischen Vokabulars in ein säkulares Denken muss nicht auf ein noch theologisches Konzept schließen lassen: [D]er Sprachmangel, Ciceros egestas verborum bei der Latinisierung der griechischen Philosophie, ist als Nötigung zur Ausschöpfung des tradierten Ausdrucksbestandes zu bedenken. Dafür ist die bestehende Staatstheorie der vielleicht wichtigste Beleg. […] [E]s bleibt offen, ob das entwurzelte Attribut auf ein neues Subjekt hindrängt oder ob ein neues Bedürfnis es zu sich herüberzieht.67 […] Die Konstanz der Sprache indiziert die Konstanz der Bewußtseinsfunktion, aber nicht die Identität des Inhalts.68
Mit Anbruch der Neuzeit steht hinter dem letzten Grund der ordnenden Vernunft immer weniger die Gottesinstanz, die ein Telos stiftet. Sie weicht zunehmend dem „Argument der ‚Ordnung überhaupt‘“.69 Damit würdigt Blumenberg
67 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 87f. 68 Ebd., S. 98. 69 Ebd., S. 250: „Das Chaos der absoluten Rechte, nicht das Telos des Rechts, ist das Argument der Vernunft, das sie in der Übertragung der vielen absoluten Rechte an ein absolutes Recht – das des Herrschers – die Chance der Selbstbehauptung, und nur diese, ergreifen läßt. Auf die Zweifelhaftigkeit der erreichten und gerechtfertigten Ordnung und des so resultierenden Ordnungsbegriffs kommt es deshalb nicht an, weil er ebenso aus der Verzweiflung der Vernunft hervorgeht wie der cartesische Gottesbeweis aus ihrem Zweifel. Diese Ordnung hat nur das Argu-
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systematisch sogar Schmitts Interesse am Chaos des Ausnahmezustandes. Er verlegt jedoch den Schwerpunkt von der bei Schmitt gestärkten ‚Entscheidung überhaupt‘ auf die der Ordnung. Die Entscheidung mag durchaus eine sein, die nicht nach vernünftiger Ordnung sucht. Sie mag sogar gegen die Ordnung und damit in der Tat so mächtig sein, um in synchroner Perspektive über den Ausnahmezustand getroffen zu werden.70 Ob diese Entscheidung aber in diachroner Perspektive dieselbe Person – sei es eine natürliche oder eine kollektive persona ficta – aus diesem Ausnahmezustand hervorgehen lässt, um weiterhin die initiative Entscheidungsmacht innezuhaben, ist eine andere Frage. Ebendiese findet für Blumenberg gegen Schmitt ihre Antwort im „Mininum der Rationalität, daß sie anzufechten den Widerspruch nicht vermeiden kann, den Naturzustand zu wollen“.71 Damit hat die durchaus umfassende Entscheidungsmacht, deren Kompetenzen über das gesatzte Recht auch Blumenberg nicht verborgen geblieben sind,72 ihren spezifisch neuzeitlichen Grund. Sobald die Macht diesen Grund aber hat, ist sie nicht dezisionistisch selbstbegründend. Sie hängt der Denkunmöglichkeit an, durch gewollten Eintritt in den Naturzustand die Selbsterhaltung zu gefährden. Hier wird Schmitts genanntes Übergehen des Unterschiedes von Kausalität und Begründung, Ursache und Grund deutlich: Deren rigide Identifikation erlaubt Schmitt nicht die Einsicht, dass der Naturzustand als Grund zusammen mit dem conatus der conservatio sui ursächlich ist für eine Angst vor diesem status naturalis. Damit ist schließlich diese Angst Ursache für einen Machtverzicht der Untertanen im Staatsvertrag, der wiederum konstitutiv den Souverän mit absoluter Macht ausstattet. Deren Umfang ist in der Tat normativer erster Grund und dennoch selbst nonnormativ begründet. Die Kompetenz des Wertens, wie Manfred Riedel treffend differenziert, ist ihrem Begriffe nach natürlich von materialen Werten unabhängig.73 Solche sind in der Tat nicht der Grund dieser Kompetenz und im Hinblick auf solche ist diese Kompetenz in der Tat absolut bzw. ‚superlativ‘, aber eben nur im Hinblick auf solche materialen Werte. Schmitt übersieht, dass die Kompetenz des Wertens anderweitig begründet werden kann und wird – in Hobbes’ prominentem Falle mechanistisch. Schmitt führt schon zu Beginn der Politischen Theologie Jean Bodin an, insofern der Herrscher „nicht gebunden ist, si la nécessité est urgente“.74 Er
ment der ‚Ordnung überhaupt‘ für sich, also das Mininum der Rationalität, daß sie anzufechten den Widerspruch nicht vermeiden kann, den Naturzustand zu wollen.“ 70 Vgl. nochmals Schmitt: Politische Theologie, S. 9. 71 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 250. 72 Ebd., S. 252. 73 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie. 74 Schmitt: Politische Theologie, S. 10.
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anerkennt jedoch nicht, dass damit genauso wie bei Hobbes Notwendigkeit und nicht Willentlichkeit über den Ausnahmezustand bestimmt. Dieses Übersehen des hobbesschen Vertragsgedankens ist für jede wissenschaftliche Auseinandersetzung besonders fatal. Denn eine affirmative Schmittrezeption, welche die göttliche Transzendenz vordergründig ablehnt, kann die Aporie des Ausnahmezustands nur noch kultivieren, um nurmehr vom „mystischen Grund der Autorität“ zu sprechen.75 Dieser Kult der Aporie kann auch bewusst paradoxe Lösungen als Verdienste feiern mit der nun politologisch fatalen Folge, dass etwa wie bei Giorgio Agamben der Unterschied von Ordnung und Rechtsordnung als schlicht unerheblich erachtet wird.76
3.2.3 Die Autonomie des Analogons Blumenberg entwickelte seine Widerlegung Schmitts nah am Gegenstand der neuzeitlichen Paradigmenwechsel. Diese auch allgemein entwicklungshistorisch auf
75 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt am Main 1991 (Edition Suhrkamp 1645). In der Interpretation der barocken Herrscherlegitimation als mystisch – und nicht als bestimmten rechtstheologischen Normen anhängig – scheint sich schmittianische Staatstheorie mit marxistischer Politikgeschichte einig zu sein: vgl. Werner Lenk: Das Schicksal der Regenten. Zur Trauerspielkonzeption des Andreas Gryphius. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Norbert Honsza, Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 497–514, hier S. 505f. 76 Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004 (Edition Suhrkamp 2366), S. 43: „Das spezifische Verdienst der Schmittschen Theorie liegt genau darin, daß sie eine solche Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Rechtsordnung möglich macht. Diese Verbindung ist insofern paradox, als das, was ins Innere des Rechts hereingenommen werden soll, sich dem Recht als wesensmäßig äußerlich erweist, da es sich dabei um nichts Geringeres als die Suspendierung der Rechtsordnung selbst handelt (daher die widersprüchliche Formulierung: ‚… besteht im juristischen Sinne immer noch Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung‘)“, S. 45: „Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustandes, und insofern der Souverän, der über die Ausnahme entscheidet, in seinem Sein durch diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden“ [Hervorhebung im Text]. Wie mit einer solchen, nicht „komplexen“, sondern schlicht selbstwidersprüchlichen „Strategie“ das Vorhaben eingelöst werden kann, „den Ausnahmezustand im Recht zu verankern“ (ebd.), muss – gerade weil es doch Agamben selbst nie um Integration, sondern Gleichzeitigkeitsgeltung geht – ebenso unverständlich bleiben, wie die unvermittelbare Anwendung des Begriffs der Topologie auf das unaufgelöste Paradoxon (als eine Art politologisches Möbiusband?), wie sie häufig zu beklagen ist: vgl. Alan D. Sokal, Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München 1999, S. 36–43.
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den Punkt zu bringen, erlauben Hans Krämers wissenschaftstheoretische Überlegungen zum Verhältnis historischer und systematischer Wissenschaften.77 Mit der Distinktion von Modell, Isomorphie und Analogie ist schließlich eine Rekon struktion von Transformationsprozessen eines Systems zum nächsten möglich, ohne dass die Instanz des weltlichen absoluten Herrschers als selbst noch göttlich überhöht und insofern theologisch gesehen werden müsste. Der hobbessche Herrscher nimmt seiner systematischen Funktion nach die Rolle der Gottesin stanz ein. Hinsichtlich der Isomorphie der Systeme thomistische Rechtslehre und hobbessche Staatslehre stellt er daher in der Tat zwar das Analogon Gottes dar. Seine Legitimation hat jedoch einen anderen Grund als die letztlich unhinterschreitbare Autorität des monotheistischen Gottes, nämlich denjenigen Kontrakt, der ihn mit der umfassenden Macht erst ausstattet. Damit beschränkt sich diese Analogie eben auf die Funktion der Gesetzesgeltung. Sie ist nicht umfassend und bezieht sich selbst nicht auf Ursprung und Gründe jener Autorität, die früher allmachtstheoretischer, später kontraktualistischer Natur sind. Die Systeme thomistische Rechtslehre und hobbessche Staatslehre sind zwar cum grano salis insofern isomorph (von gleicher Gestalt), als beide Gemeinschaft, Gesetz und Geltungsgrund zu ihren Systemelementen zählen und diese in gleicher Weise auf einander bezogen sind. Daher können die jeweiligen Geltungsgründe Gott und absoluter Herrscher auf Grund der Isomorphie der Systeme als Analoga gelten. Sie sind aber als Elemente selber nicht von gleicher Gestalt. Carl Schmitt vollzieht die unvermittelte und unzulässige Isomorphisierung einer bloßen Analogie. Damit lässt er es gerade an systematischer Kompetenz fehlen, wo er doch die politische Theologie gerade zu systematisieren beabsichtigt, denn [d]ie Historie liefert Isomorpha, die kompetente Analogisierung fällt der Systematik zu. […] Ein Modellverhältnis kann nur von der Systematik zureichend begründet und anerkannt werden, und das jeweils gesuchte Analogon hat, einmal gefunden, die Tendenz, das zugehörige Analogatum überflüssig zu machen.78
Eine reife Systematik hätte Schmitt vor dem Fehlschluss bewahrt, in der absoluten Macht, welche die Analogie zwischen Gott und hobbesschem Herrscher ausmacht, auch schon die Absolutheit, mithin Göttlichkeit der mit dieser Macht ausgestatteten Person zu sehen. Das neue Analogon des hobbesschen Herrschers ist somit nicht etwa ein Säkularisat im schmittschen Sinne. Der hobbessche Herrscher zieht keineswegs noch eine notwendig transzendente Drohgebärde des
77 Hans Krämer: Grundsätzliches zur Kooperation zwischen historischen und systematischen Wissenschaften. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 32 – 3 (1978), S. 321–344. 78 Ebd., S. 328.
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strafenden Gottes hinter sich her: Schmitt begreift nicht, dass die letzte Furcht des Menschen im hobbesschen Leviathan nicht diejenige vor dessen letztlich göttlichem Status ist, sondern diejenige vor dem Ausscheiden aus der civitas und dem Eintreten in einen Naturzustand, den der Mensch kaum dauerhaft überleben könnte. Der immanente Selbsterhaltungstrieb bildet als letzter Furchthorizont die Geltungsgarantie des menschlichen Rechts. Damit wird der kontraktualistische König als Analogon in ein ganz eigenes entwicklungssystematisches ‚Recht‘ gesetzt. Sein „zugehöriges Analogatum“, der transzendente Strafgott, ist nur seine entwicklungshistorische Entsprechung, selbst aber wird er in der Tat „überflüssig“. Es sind diese systematischen Brüche und Innovationen, die allererst unter angemessener Kenntnisnahme der historischen Traditionen als Brüche und Innovationen identifiziert werden können und die Hans Blumenberg nicht trotz, sondern dank dieser Perspektive von der Legitimität der Neuzeit sprechen lassen.
3.2.4 Carl Schmitts tatsächlicher Dogmatismus Schmitt wirft dem Rationalismus also Ignoranz vor, insofern der sich in seiner Rechtslogik nachgerade einkapsele.79 Er kapriziert sich auf den Ausnahmezustand als hard fact und schreibt ihm die eigentliche systematische Relevanz zu, um ihm schließlich den notwendigen Hinweischarakter auf eine säkularisierte Theonomie zuzuerkennen. Damit betreibt er einen wirkungsgeschichtlich zwar gelungenen, allerdings durchaus durchschaubaren Etikettenschwindel. Schmitt unterschlägt durchweg den eigentlichen Dogmatismus seines erst gewichtigen Schlusses: Vom empirischen Fakt des Ausnahmezustands ist angeblich notwendig auf die Göttlichkeit desjenigen zu schließen, der den Ausnahmezustand entscheidungsmächtig beendet. Ebenso ist angeblich notwendig auf die Zuerkennung dieser Göttlichkeit seitens derjenigen zu schließen, die sich dieser Entscheidungsmacht unterwerfen. Dies ist dann nicht einzusehen, wenn die reale Alternative zu einer solchen Furcht vor Strafe gesehen wird, wie sie gerade bei Hobbes in der konstitutiven immanenten Furcht vor dem Untergang im status naturalis vorliegt. Ob gewollt oder unabsichtlich: Es ist eigentlich dieser Dogmatismus im Schafsfell des Empirismus, der Schmitt seine Abhandlung mit Politischer Theologie überschreiben lässt. Es nimmt mithin nicht wunder, dass Blumenberg den vorgeblichen Empirismus Schmitts nicht mit einem gestärkten Rationalismus erwidert. Er begegnet
79 Schmitt: Politische Theologie, S. 14.
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Schmitts tatsächlichem Dogmatismus gerade von empirischer Warte aus: Dem Ausnahmezustand bei Hobbes kann in Folge des Bewusstseins der „fatalen Härte des politischen Problems im Vergleich zur Freiheit der theoretischen Naturbetrachtung“80 die genauso große systematische Rolle zugesprochen werden wie bei Schmitt selber. Dennoch gelangt Hobbes damit nicht zur Notwendigkeit des quasi-göttlichen Entscheiders, sondern zu der des durchaus wirkmächtigen Unterwerfungsvertrages. Dessen Notwendigkeit entspringt ausgerechnet dem von Schmitt diskreditierten Rationalismus, nämlich der reinen Rechtslogik des Naturzustandstheorems.81 Insofern Blumenberg also die politische Irrelevanz des absoluten Gottes bei Hobbes mit guten Gründen bestätigt findet, setzt er in der Tat nicht die „Nicht-Absolutheit absolut“, wie Carl Schmitt in seiner Reaktion in Politische Theologie II behauptet.82 Die Denkunmöglichkeit eines politisch je schon Absoluten hat im naturständlichen ius omnium in omnia ihren zureichenden Grund. Sie ist damit ebenso wenig gesetzt wie die gerade nicht per definitionem, sondern per exercitium gegebene Nichtigkeit dieses Rechts aller auf alles (4.3.4.2).83
3.2.5 Fazit: Zum Begriff der politischen Theologie Der Begriff der politischen Theologie hat den an Krämer angelehnten Skizzen gemäß empfänglich zu bleiben für solche aspektualen Transformationen, wie sie in 3.1 allgemein erläutert wurden. Die politische Theologie eines schrifttheologischen Lutheraners ist eine andere als diejenige politische Theologie, wie sie über das Mittel der Natur in politischen Ordnungsentwürfen zustande kommt.
3.2.5.1 Relative politische Theologie Der Begriff muss systematisch sensibel bleiben, um den genauen Ort anzeigen zu können, an dem sich die Theonomie innerhalb eines Rechtsdenkens niederschlägt. Dieser Ort kann, wie noch zu zeigen ist, durchaus variieren: Hier ist es die Rechtsmaterialität, dort ‚nur‘ die Obligation.84 Mal ist eine Universaljurisprudenz
80 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 251. 81 Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. 82 Carl Schmitt: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. Berlin 1970, S. 109f. 83 Vgl. Dieter Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes. Berlin 1998 (Schriften zur Rechtstheorie 185), S. 69–75. 84 Vgl. Hartung: Die Naturrechtsdebatte, besonders S. 31 und 50.
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mehr theonomes Natur-, mal vermehrt theonomes Vernunftrecht. Ein Vernunftrecht kann einmal ein solches sein, das die Vernunft selbst als letzte Rechtsquelle ansieht, seine Autorität und seinen Respekt allerdings daraus bezieht, dass der Schöpfergott die ratio gegenüber den Sinnen privilegiert hat. Ein andermal ist das Vernunftrecht im Vorteil, weil Gott als unmittelbare Rechtsquelle bestimmte Normen ausformuliert in die menschliche mens eingeboren hat (propositionaler Innatismus).
3.2.5.2 Relative Säkularisierung und Theologisierung politischer Theologien Damit wird der Begriff der politischen Theologie ebenso fruchtbar für den beschreibungsscharfen Nachweis historischer Varianz jener politischen Theologeme: Gemäß den am Säkularisierungskonzept Dannebergs, Potts, Schönerts und Vollhardts angelehnten Überlegungen in 3.1 lassen sich gerade im Systeminneren des Rechtsdenkens Paradigmenwechsel von theonomen zu säkularen Systemelementen nachweisen. In der frühen Neuzeit und damit auch bei Gryphius muss die Verweltlichung der einen Systemstelle eines Rechtsdenkens allerdings weder zu einer entsprechenden Verweltlichung des Systemganzen führen noch auch nur zur Verweltlichung einer anderen Systemstelle. Ein Beispiel belegt die Möglichkeit des genauen Gegenteils: So führt die Depotenzierung der Natur als werthaltiger Systemstelle schon bei Melanchthon dazu, dass von einem Naturrecht proprio sensu nicht eigentlich zu sprechen ist (4.2.2.1).85 Die Natur ist gerade der depravierte bzw. verblendete Bereich im lutheranischen Weltbild. Wenn Melanchthon daher die menschliche ratio stärkt, so führt das allerdings noch nicht zu einem autonomen Vernunftrecht, sondern gelingt nur, weil Gott diese Vernunft qua Innation direkt mit Normenkenntnis ausstattet. Für die politische Theologie bei Melanchthon bedeutet das eine göttliche Legitimation des princeps, die über das unmittelbar eingeborene vierte Gebot erfolgt und nicht
85 Vgl. schon Clemens Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre. In: Archiv für Reformationsgeschichte 42 – 1/2 (1951), S. 64–100, hier S. 87: „Von der Erkennbarkeit her ist das jus naturae Vernunftrecht, d.h. rational einsichtig. Die Lehrsätze des Naturrechts präsentieren sich dem erkennenden Verstand als ‚communes sententiae‘ im Sinne von Axiomen. Sie zu sichten und zu entfalten, ist Sache der Philosophie“. Vgl. auch Strohm, dem zufolge der Anthropozentrismus bei Melanchthon nur aspektuell gilt: Das Weltbild ist verstärkt theozentrisch, das Naturrecht mithin nur insofern begründungstheoretisch anthropozentrisch, insofern die Geltung und Kenntnis des Naturrechts in der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen liegt: Christoph Strohm: Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon. In: Der Theologe Melanchthon. Hg. von Günter Frank. Stuttgart 2000 (MSB 5), S. 339–356, hier S. 354.
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über den Umweg der Natur. 86 Die Enttheologisierung der Natur ist um den Preis einer verstärkten Theologisierung der Vernunft errungen, in deren Fundus die zehn Gebote je schon eingeboren sind. Die Weltlichkeit des politischen Regiments bleibt unbestritten und realisiert sich in seiner ausdrücklichen Unzuständigkeit in geistlichen Dingen.87 Diese Unzuständigkeit besitzt jedoch gerade eine theonome Rechtfertigung, insofern Gott sie in dieser Weise wünscht, und bleibt nur theologisch plausibel, insofern die menschliche mens zur Erkenntnis der gemeinschaftlich-politisch relevanten Grundwerte nur deshalb in der Lage ist, weil Gott in diese mens eingreift. Ob daher von einer ‚theologischeren‘ politischen Theologie zu einer ‚säkularisierteren‘ politischen Theologie übergegangen würde, kann nur relativ beantwortet. Nichtsdestoweniger kann diese Relation eben durchaus bestimmt angegeben werden. Wenn eine politische Theologie dezidiert säkulare Elemente aufnimmt und andere Systemstellen umso stärker (re)theologisiert, dann ist der Säkularisierungsgrad dieser politischen Theologie als ganzer nur danach zu bestimmen, wer der Nutznießer welchen Elements ist und wie weit dessen Säkularisierung trägt.
3.2.5.3 Diskursexterne als sekundäre Profiteure Um beim gewählten Beispiel zu bleiben: Von einer politischen Theologie melanchthonianischer Prägung profitieren der Theologe und der neue Naturwissenschaftler. Letzterer ist allerdings gar nicht unmittelbarer Diskursteilnehmer, da es ihm um Moral gar nicht zu tun ist. Im Gegenteil ist ihm die Natur selbst nur genauso wenig auf Recht-Unrecht ausgerichtet wie dem orthodoxen Lutheraner auch. Für den Naturwissenschaftler ist dieser Sachverhalt vor allem deshalb relevant, weil er notwendige Folge einer vermehrt mechanischen Physik und kausallogischen Metaphysik ist (4.3). Der Naturwissenschaftler profitiert als externer
86 Merio Scattola: Teologia politica. Bologna 2007 (Lessico della Politica), S. 101f.: „In questa derivazione della signoria politica dal quarto comandamento si trova anche la principale differenza della teologia politica evangelica rispetto a quelle cattolica e riformata. L’autorità passa dai genitori al re in modo diretto, senza cambiare natura, di modo tale che il principe diviene il padre della repubblica e gode dello stesso rispetto che nella casa si deve al capofamiglia.“ 87 Die Auseinandersetzung gerade mit Schönborner wird allerdings noch zeigen, dass auch diese Weltlichkeit nicht bei allen protestantischen Staatslehrern zu finden ist. Selbst für Luthers eigenen Fall hält Böckenförde zurecht fest, dass dieser mit der Ausdehnung der herrschaftlichen Befugnis auf die Verfolgung von Gotteslästerung „die betonte Unterscheidung von weltlichem und geistlichem Regiment ein Stück weit undeutlich“ macht: Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 423.
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bzw. sekundärer Nutznießer von der innertheologischen Säkularisierung der Natur. Seine Kausalitätsbehauptung wird theologisch unproblematisch, was zeitgenössisch ein lebensweltlich nicht zu unterschätzender Faktor für das Überleben der scientific community war.
3.2.5.4 Diskursteilnehmer als primäre Profiteure Der eigentliche, diskursinterne bzw. primäre Profiteur einer solchen melanchthonianischen politischen Theologie ist der Schrifttheologe: Er muss nicht mehr wie seine noch vermehrt naturrechtlichen Diskursvorgänger die Natur wesentlich als Rechtsquelle ansehen. In der Folge muss er sie auch nicht mühsam gegen wissenschaftliche Entdeckungen verteidigen, die diesen Status evidenter Maßen in Frage stellten.88 Die Fallibilität der Zuschreibungen an die Natur ist ihm gänzlich unproblematisch, denn das Naturkonzept ist für Fragen des auch politisch verbindlichen göttlichen Gebots indifferent. Das Überleben einer Theologie, die weiterhin moralische und politische Sätze formuliert, war beim Aufkommen der neuen Wissenschaften dann gesichert, als deren Korrekturen am Naturbild kategorisch keine moraltheologischen Korrekturen mehr darstellten. Solange nicht Gottes Autorität über die nunmehr eigentlich als Rechtsquelle wichtig gewordene Vernunft angezweifelt wurde, konnte die Theologie eine erstaunliche Beharrungskraft in der Staats- und Rechtslehre vorweisen. In dieser Weise wird der Begriff der politischen Theologie in der vorliegenden Untersuchung verwendet: Auf synchroner Ebene bleibt er mit Blick auf die Systemstellen eines politischen Denkens sensibel für Theologeme und damit auch in diachroner Perspektive89 beschreibungsscharf für den Wegfall, die Modifikation, die Intensivierung oder den Systemstellenwechsel eines Theologems. Relativ zum Systemganzen, das hier als politische Theologie in den Trauerspielen des Andreas Gryphius verfolgt wird, ist dieser Begriff von politischer Theologie schließlich ergebnisoffen und dabei dennoch ergebnisorientiert. Gerade die Varianz politischer Theologie bei Gryphius erlaubt im Zusammenhang mit der Erschließung der ideenhistorischen Kontexte, eine tatsächliche Geschichte seines politischen Trauerspielkomplexes zu erzählen, die über reine Chronologie hinaus geht: Wie zu zeigen ist, ist sie die Geschichte eines in der
88 Die für das sechzehnte Jahrhundert wohl prominenteste Infragestellung war sicher die, warum ein anthropozentrisches Naturrecht sein könne, wenn die Natur nicht einmal geozentrisch war: Vgl. Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus, S. 175. 89 Vgl. Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur, S. 5.
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Tat komplexer werdenden und insofern an Niveau gewinnenden politologischen Problembewusstseins des Andreas Gryphius.
3.3 Dichtung greift ein: Zum systematischen Potenzial ästhetischer Probehandlungen Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen. Aristoteles, Poetik.90
Die in der Einführung unternommene Überlegung, inwiefern Dichtung systematisch ein besonderes Reflexionspotenzial eignet (1.), ist hier zu vertiefen. Gryphius’ politische Dramen spielen verschiedene Konstellationen eines politischen Ausnahmezustandes durch, mithilfe derer Fragen des Herrschafts- und Widerstandsrechts, besonders aber der Wirkmacht des ius divinum geklärt werden sollen. Wie tief Gryphius sich mithilfe dieser ästhetischen Probehandlungen in die rechtstheoretische Reflexion vertieft, wird die vorliegende Arbeit ausführlich darlegen. Schon mit der Annahme einer rechtssystematischen Reflexionsleistung jedoch wird die literaturphilosophische Frage der Gattung aufgeworfen: Warum wählte der Schlesier zur Bearbeitung dieses Problems nicht die Form etwa des wissenschaftlichen Traktats, sondern die des Trauerspiels?
3.3.1 Dichtung als didaktische oder argumentative Disziplin?: Über einen blinden Fleck zeitgenössischer Poetik Die Frage nach Gryphius’ Formwahl ist erforderlich, weil sowohl die zeitgenössische Tragödientheorie als auch die Trauerspielgeschichte und Trauerspieltheoriegeschichte eine vermehrt moraldidaktische Zielsetzung des Trauerspiels nahelegen. „‚Corrigere hominum mores‘ – der Zweck von Dichtung und Tragödie liegt in dieser dürren Formel“,91 hält Hans-Jürgen Schings in seinem Beitrag
90 Aristoteles: Περὶ ποιητικῆς, 1448 b13–14: „μαντάνειν οὐ μόνον τοῖς φιλοσόφοις ἥδιστον ἀλλὰ καὶ τοῖς ἄλλοις ὁμοίως“. Im Folgenden wird, solange nicht anders angegeben, immer zitiert nach Aristoteles: Graece. Ex recensione Immanuelis Bekkeri. Ed. Academia Regia Borussica. Berlin 1831–1870. Übers. nach Fuhrmann: ders.: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann. 2. Aufl. Stuttgart 2010 (RUB 7828), S. 11. 91 Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland.
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zu einer historischen Poetik des barocken Trauerspiels zurecht fest. Diese aus Gerhard Vossius’ De artis poeticae natura ac constitutione92 entnommene Formel ist allerdings dürr, nicht weil sie knapp ist, sondern weil sie ausschließlich wirkungsästhetisch angelegt ist. In der Tat wird Vossius selbst dem nur wieder wirkungsästhetisch begegnen, insofern dieser in der Moraldidaxe nicht die einzige zu erzielende Lehre beim Rezipienten sieht.93 Ebenso verfolgt Schings nur solche inner-wirkungsästhetischen Paradigmenwechsel. Dass noch im selben Atemzug, in dem von dieser correctio morum die Rede ist, wie selbstverständlich zur purgatio und κάθαρσις übergegangen wird, hat zwar gute Tradition seit Plato und Aristoteles – und insofern folgt Schings historisch konsequent seinem Gegenstand –, leuchtet sachlich allerdings nicht unmittelbar ein.94 Denn um dem Zweck der Berichtigung der Sitten gerecht zu werden, reicht es nicht notwendiger Weise aus, die Sitten als objektiv unstrittig und beim Rezipienten lediglich unbekannt zu begreifen, so dass man sie nur noch dramatisch vorstellen müsste. Damit allein ist dem Zweck vor allem dann nicht geholfen, wenn die Sitten schon objektiv nicht mehr unstrittig sind, wenn sie also materialiter das Problem darstellen, wie es eben bei der Vermittlungsfrage von göttlichen Geboten und politischer Opportunität der Fall ist. Es gehört tatsächlich zur Eigenart der barocken Trauerspielpoetiken – seien sie aristotelisch oder platonisch –, dass sie nur wirkungsästhetisch bestimmen95 und die Frage der Wahrheitsähnlichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit sich im Wesentlichen nach der ‚wahren Wirkung‘ des Fingierten auf den Rezipienten, nicht aber nach einer ‚wahrhaften Auseinandersetzung‘ richtet. Es
Hg. von Reinhold Grimm. Bd. 1. Frankfurt am Main 1971 (Athenaion-Literaturwissenschaft 11), S. 1–44, hier S. 18. 92 Gerardus Joannes Vossius: De artis poeticae natura ac constitutione liber. Amsterdam 1647, S. 37. 93 Vgl. Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2009 (Historia hermeneutica: Series studia 8), S. 163. 94 Dabei nimmt etwa Vossius durchaus explizit wahr, dass es den „Ältesten“ um Empedokles weniger darum ging, „ein Abbild des menschlichen Lebens vor Augen zu bringen, sondern mehr darum, dass sie die Geheimnisse der Natur in Geschichten hüllen“, ja sogar die „Wissenschaft der Natur in Geschichten hüllen“, d.h.: Deskriptiv sieht Vossius ein Interesse der ‚alten‘ Poetik, das mehr objektiv-systematisch als rezeptiv-didaktisch ist. Er nimmt den ‚empedokleischen‘ Impetus als wiederum nur ästhetischen wahr, insofern dieser die Wissenschaften „nicht ohne jede Hülle festgehalten“ wissen will: Vossius: De artis poeticae natura ac constitutione liber, S. 37: „Empedocles, & similes, θεωρίαν sibi proposuere, non πρᾶξιν. Deinde, de antiquissimis, illis, qui Deorum amores, ac concubitus narrant, dici nequit, hoc eos egisse, ut ob oculos ponerent vitæ humanæ exemplar; sed potiùs, ut naturæ mysteria fabulis involverent“. und S. 41: „[A]ntiqui naturæ scientiam maluerint involvere fabulis, quàm absque involucro ullo consignare.“ 95 Vgl. Schings: Zur Theorie des barocken Trauerspiels, S. 11–18.
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wird so gut als nie thematisiert oder gar theoretisiert, dass die Tragödie etwas im starken Sinne verhandelt. Wenn Volkhard Wels „Dichtung als argumentative Disziplin“96 bespricht, die frühneuzeitliche Aristoteles- und Averroës-Rezeption ihm jedoch mehr als die Gleichnishaftigkeit97 und den moraldidaktischen Instrumentalcharakter98 von Dichtung nicht zu konstatieren erlauben, so deutet dies auf den jahrhundertelangen und schulenübergreifenden Konsens hin, dass Dichtung selbst nichts entwickelt: Argumentative Überzeugungskraft bezieht Dichtung aus ihrer Wahrscheinlichkeit (Aristoteles) bzw. ihrer Glaubhaftigkeit (Ibn Ruschd), d.h. aus einer Ähnlichkeit mit einem systematischen Allgemeinen bzw. einem Bekannten. Entwickelt werden beide allerdings auf anderem Felde als dem der Dichtung. Der Überschreibung der Dichtung als argumentativer Disziplin ist damit jedoch noch nicht Geltung verschafft worden: Zwar ist die Argumentationstheorie in der Antike sowie in der Frühen Neuzeit Teil der Rhetorik, allerdings wäre es ein Anachronismus zu meinen, Argumentation meinte damit zeitgenössisch schon das reine Kommunizieren eines Gegenstandes in persuasiver Absicht, unabhängig von dessen objektivem Wahrheitsanspruch: Die Entwicklung einer solchen ‚bloßen Rhetorik‘ setzt erst im achtzehnten Jahrhundert ein.99 Bis dahin ist mit dem Aufruf des Argumentativen der formale wie inhaltliche Charakter eines Sprechens angesprochen, dem es um das formell Überzeugende (elocutio) wie das Auffinden des sachlich Richtigen (inventio) gleichermaßen zu tun sein muss. Möchte man daher wie Wels vom argumentativen Charakter der Dichtung im Allgemeinen und des Trauerspiels im Speziellen sprechen, so ist mit Blick auf den zeitgenössischen Argumentationsbegriff das rein didaktische Moment noch nicht hinreichend, um einen argumentativen Charakter festzustellen. Es ist auf die sachliche Auseinandersetzung der Dichtung mit ihrem Stoff zu blicken.
96 Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, S. 11–21. 97 Ebd., S. 16. 98 Ebd., S. 19. 99 Christian Thiel: [Art.] Argumentation. In: EPhW 1, S. 161: „Argumentationen sind Gegenstand einer Argumentationstheorie, die in der Antike und wieder in der Zeit der Renaissance und des Humanismus zur Rhetorik gerechnet wurde und deren Probleme insbesondere bei Aristoteles in der Topik eingehende Behandlung finden. Während schon hier die Analyse ‚sophistischer‘ Scheinargumentationen breiteren Raum einnimmt, wird die Argumentationslehre in der Spätscholastik noch einmal ausdrücklich als Theorie der richtigen oder schlüssigen Argumentation verstanden und als solche in Lehrbüchern der Logik dargestellt. Erst die parlamentarische Rhetorik des 18. und 19. Jahrhunderts läßt die Disziplin der Rhetorik von einer Argumentationslehre zu einer Sammlung von Anweisungen zur erfolgreichen Überredung des Hörers oder Lesers durch den Sprecher oder Autors auch oder gerade entgegen widerstreitenden schlüssigen Überlegungen und damit zur ‚bloßen Rhetorik‘ im heutigen schlechten Sinne degenerieren.“
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Natürlich sprechen vormoderne Regelpoetiken von bestimmten Gegenständen, insofern die Stoffwahl für die tragische Wirkung nicht beliebig ist, aber eben nur insofern: Die Stoffwahl wird vom moraldidaktischen Telos her bestimmt; gewisse Gegenstände eignen sich für die Moraldidaxe in besonderem Maße. Jedoch ist dieses eben eine Bestimmung, die den Gegenständen selber äußerlich ist: Die Belehrung junger Heranwachsender im Schultheater ist schließlich nichts, was etwa der Frage des Ausnahmezustandes wesentlich wäre. Dennoch handeln die zeitgenössischen Poetiken nicht von der objektiven Arbeit am ausgewählten Gegenstand, sondern nur von seiner wirkungsvollen Positionierung, seiner Ausrichtung auf den Rezipienten. Es ist ein hier nicht zu befriedigendes Desiderat, die Erkenntnisse der Trauerspielforschung und der Trauerspieltheoriegeschichte zusammenzuführen, um die Frage dieses ‚blinden Flecks‘ der frühneuzeitlichen Poetiken zu klären, der sich mit Volker Meid wie folgt auf den Punkt bringen lässt: „So selten sich die Poetiker auf die aktuelle Dramenproduktion einließen, so wenig interessiert zeigten sich die Dramatiker an der gelehrten Diskussion“.100 Dass diese Poetiken, so sehr sie auch Regelpoetiken zur vor allem produktionsästhetischen Anleitung waren, materialiter hauptsächlich doch Wirkungspoetiken waren, ist m.E. noch nicht laut ausgesprochen worden, obgleich Harald Fricke die allein additive Funktionalitätsbestimmung von Dichtung durch eine offensichtlich ungemein beharrliche Tradition bereits längst angemahnt hat.101 Nichtsdestoweniger ist es die Überzeugung der vorliegenden Arbeit, dass Gryphius etwas verhandelt, den Gegenstand nicht nur als dramatischen Stoff wirkungsvoll positioniert, sondern auch an ihm arbeitet.
100 Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung. München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 5), S. 404. 101 Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981 (Beck’sche Elementarbücher), S. 97f.: „Die externe Funktion hat zwar sachlich und historisch mit überlieferten Ansichten über den eigentlichen Zweck der Dichtung sehr viel zu tun – sei dies nun aristotelische ‚Katharsis‘, das ‚movere‘ und ‚docere‘ des Horaz oder das barocke ‚Lob des Herrn‘, die ‚ästhetische Erziehung‘ Schillers oder die marxistische ‚Parteinahme im Klassenkampf‘. Nichts davon kann aber einfach zum Begriff der externen Funktion parallel gesetzt werden. Denn all diese Auffassungen versuchen, dem bereits als poetisch vorausgesetzten Werk dann zusätzlich noch eine gewisse Funktionen zuzuweisen.“
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3.3.2 Zu Literatur und Wissen Die Frage nach Gryphius’ Formwahl drängt sich des Weiteren deswegen auf, da besonders die Traktatistik ihm die Möglichkeit einer gegliederten, systematischen Untersuchung geboten sowie die explizite Auseinandersetzung mit bestimmten Ideengebern immer schon eingeräumt hätte. Dass Gryphius diese Diskurstechniken ebenso beherrschte, lassen die Leichabdankungen erahnen, die zwar auch im Zeichen der Gelegenheitsdichtung stehen, Gryphius aber dennoch die ausführliche Nennung der Autoritäten und Textstellen erlauben. Trotzdem erfolgt die Auseinandersetzung mit der Frage des Ausnahmezustandes in aller Nachdrücklichkeit tragisch, nämlich insgesamt viermal – wenn man die Fassungen des Carolus Stuardus von 1657 und 1663 unterscheidet, sogar fünfmal. In der Tat besteht Gryphius 1652 in der Leservorrede seines vierten OdenBuchs darauf, dass die poetische Dichtung gegenüber der rhetorischen Rede keinerlei Nachteil darin habe, dass jene lüge, diese aber nicht. Gryphius geht es zwar in diesem Zusammenhang vordringlich um den möglichen Wahrheitscharakter geistlicher Dichtung: Es „vermeynen etliche / es wre gar nicht erlaubet / daß Musen vmb das Creutz deß HErren singen solten“ (GdW 2, Oden. Das vierte Buch, Leservorrede, S. 100). Insofern er allerdings Gründe allgemeiner, produktionsästhetischer Natur anführt, hat Gryphius’ Verteidigung der poetischen Dichtung gegenüber der Rede ebenso allgemein zu gelten. Entscheidendes Moment von Gryphius’ Verteidigung eines systematischen Potenzials poetischer Rede ist dabei, dass nicht ein notwendiger Charakter von Wahrheitsreferenz der Dichtung bewiesen, sondern umgekehrt die Behauptung vom notwendigen Wahrheitsgehalt der rhetorischen Rede widerlegt wird: Poeten (spricht man) pflegen zu dichten; es ist war / aber auch Redner zu lgen. Und die Geschichte der Weltlichen vnd Kirchenhndel bezeugen / wer den grssesten Schaden thun knne / zumal wenn man den glntzenden Mantel der Scheinheiligkeit recht zu brauchen weiß. Es sey aber ferne / daß etlicher Geister Unart / die der edelsten Gaben Gottes / zu schaden ihrer Seelen vnd ihres Nechsten mißbrauchen / so schne Knste selbst auffheben solle. (ebd., S. 100f.)
Gryphius geht in der Betrachtung der Frage um ‚Dichtung und Wahrheit‘ nicht auf das Wesen von Poesie und Rede ein, insofern etwa dieses ihm differenzbildend sein könnte. Der Schlesier sieht den Unterschied vielmehr mit dem Gebrauch ebenso stehen wie fallen („recht zu brauchen“, „zu schaden […] mißbrauchen“). Die Nutzung des Mittels der Dichtung und der Rede zum Zweck der Lüge ist etwas der Dichtung Äußerliches. Ebenso ist das Potenzial, mithilfe von Dichtung Wahrhaftes auszudrücken, der Poesie nur genauso inhärent wie das
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Potenzial, Mittel zur Lüge zu sein. Produktionsästhetisch wird Gryphius’ Argumentation schließlich dort, wo an die Stelle einer wesentlichen Wahrheit bzw. Lügenhaftigkeit der Dichtung die Frage nach der Ursache tritt, die dem Dichter Wahrhaftes zu dichten erlaubt. Entlang einer olfaktorischen Analogie sucht Gryphius zu erweisen, dass der gute Dichter sich notwendiger Weise Wesentliches von dem guten Gegenstand aneignet, den er poetisch behandelt: So werden diejenigen welche in den kstlichen Wrtz=Laden der Balsam vnd Geruchkrmer sich auffhalten / auch vnwissend von dem guten Geruch gantz durchzogen / vnd die / welche eines treflichen vnd wolverdieneten Mannes Leben beschreiben / nehmen die Abbildungen der Tugenden an ihre Seele / in dem sie selbige rhmen / gleich einem Maaler / der eines Menschen Gestalt zuvor in seine Sinnen wol einfassen muß / ehe er denselbigen auff das Tuch entwerffen will. (ebd., S. 101)
Durch diese Analogie wird ein allgemeines Argument gewonnen, sodass Gleiches rezeptionsästhetisch gilt: Die derart gewonnene Beschreibung eines ‚treflichen‘ Gegenstandes vermag, ‚Abbildungen der Tugenden an die Seele‘ der Leser zu bringen. Der Mehrwert der Dichtung – für Gryphius natürlich besonders der geistlichen (ebd.)102 – könnte dem Lügenverdikt entgegen immenser kaum sein. Natürlich kann ein Blick auf Gryphius’ eigene poetologische Reflexion und die Prüfung ihrer Argumente nur immer historisch bleiben. Gleichwohl vermag dieser Blick im Umkehrschluss zu zeigen, dass die in systematischen Überlegungen gewonnenen Erkenntnisse zum Potenzial ästhetischer Probehandlungen nicht insofern unzulässig sind, als sie Gryphius’ eigenem poetischen Denken unvermittelt und damit unter Umständen ahistorisch unterstellt würden. Es lassen sich durchaus Überlegungen allgemein literaturphilosophischer Natur anstellen, die begreifen lassen, dass Gryphius gute Gründe für die Wahl der dichterischen Form zur progressiven (!) Behandlung eines außerliterarischen Themas hatte. Das Problem zum Stoff zu machen, bietet bei Dichtern wie Cervantes und Gryphius mehr Möglichkeiten als nur die Befriedigung des ästhetischen Bedürfnisses der Stofffindung: Zum Stoff gemacht und in der ästhetischen Probehandlung der dichterischen Darstellung nicht nur abgebildet, sondern weitergedacht, profitiert das Problem selbst von einer progressiven Arbeit der Dichtung am Stoff.
102 „Haben nun irdische vnd vergngliche Dinge die Krafft vnsere Leiber vnd Gemtter zu verndern / was wird der nicht knnen / der den seinen ist ein Geruch deß Lebens zum Leben / vnd dessen wehmttigste Blicke Petrum bekehren / vnd den am Creutze lsternden Mrder vmbkehren?“
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Dichtung Erkenntniswert überhaupt zuzusprechen, ist allerdings weder philologischer common sense103 noch herrscht auch nur Einigkeit darüber, worin dieser bestehen könnte, so man ihn denn annimmt. Im Gegenteil verteidigte Andreas Kablitz erst jüngst die Faktualität umgekehrt als Suppositionshorizont in der Interpretation auch fiktionaler Texte. Ihr Gewicht ist größer, „als es die Überzeugung von der Autonomie der Fiktion nahelegt“.104 Zurecht erinnert Kablitz an den Unterschied von fiktiv und fiktional und weist beiden ein ebenso kategorisch unterschiedliches Verhältnis zur Faktenwirklichkeit nach: Während der Wahrheitswert von Sätzen fiktionaler Rede durch diese selbst vergleichgültigt ist, d.h. dass sich ihr Wert oder Unwert nicht korrespondenztheoretisch bemessen lässt, ist ihr dargestellter Gegenstand und damit die Fiktivität durchaus skalierbar:105 „Das Dargestellte kann in der Tat mehr oder minder fiktiv sein; und diese Möglichkeit existiert für den fiktionalen Text nicht anders als für den ‚faktualen‘“.106 Kablitz beschränkt dies auf Leerstellen des Textes, also auf die Not des Rezipienten, auf faktuales Wirklichkeitswissen zurückgreifen zu müssen.107 Das hiesige Vorhaben ist nicht als selbstverständlich zu begreifen und darf nicht dem Vorwurf naiver Widerspiegelungsmechanismen ausgesetzt werden. Zwar wurde ebenso unlängst eine z.T. heftige Auseinandersetzung über ‚Wissen und Literatur / Literatur und Wissen‘ bzw. die Wissenspoetologie geführt. Die Vertreter letzterer setzen (lediglich konstatierte) Daten und (hinlänglich
103 Vgl. Fricke: Norm und Abweichung, S. 96: „Gleichwohl ist die Existenz solcher externen Bezugsmöglichkeiten für die Dichtung keineswegs unbestritten. Seit Kants ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ haben zahllose Autoren die Frage, ob die Relation zur Handlungswirklichkeit ein wesentliches und nicht bloß ein beiläufiges Merkmal von Dichtung bilden könnte, grundsätzlich verneint“ [Hervorhebung im Text]. 104 Andreas Kablitz: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der unreliable narrator und die Struktur der Fiktion. In: Comparatio 1 – 1 (2009), S. 113–144, hier S. 129. 105 Ders.: Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i. Br. u.a. 2013 (Rombach Wissenschaften: Litterae 190), S. 165–169. 106 Ebd., S. 169. 107 Ders.: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, S. 129: „Dieses Ergebnis […] verdient durchaus Beachtung im Hinblick auf die generelle Struktur des fiktionalen Textes, für den sich nun in der Tat herausstellt, daß seine Autonomie gegenüber dem faktualen Text geringer ist, als es die Überzeugung von der Autonomie der Fiktion nahelegt. Denn aus unseren Überlegungen ergibt sich nichts anderes, als daß jede Aussage – und auch diejenige des fiktionalen Textes –, solange sie am Gegebenen, an der historischen Faktizität keine ausdrücklichen Veränderungen vornimmt, sich auf eben diese Faktizität bezieht. Für historische Faktizität gilt insofern nichts anderes als das, was auch für alles Systemwissen zutrifft. So sind ja etwa auch die natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit solange gültig, als sie nicht, wie in phantastischer Literatur, durch ausdrückliche Aussagen außer Kraft gesetzt werden.“
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begründetes) Wissen indifferent.108 In der Folge wird jedwedes Wissen gehaltlich wie genetisch als letztlich narrativ begriffen. Damit gestatten sie eigentlich von einem eigenem Erkenntniswert von Literatur insofern gar nicht zu sprechen, als es in Folge der universalisierenden Volte gar keine Hierarchien von Wissen,109 mithin gar keine Erkenntnis jenseits der narrativen gibt. Wilhelm Schmidt-Biggemanns rezente Diskussion über den Wissensbegriff nimmt ihren Anstoß an eben solchen paradoxalen Diskursdialektiken zwischen Spezifikationsabsicht und dem ungewollten Effekt unscharfer Verallgemeinerung: „Mittlerweile gibt es eine Fülle von Adjektiven und Zuordnungen, die den Begriff von Wissen zu spezifizieren beanspruchen – aufs Ganze gesehen, verwölken sie ihn eher“.110 Genauso wenig aber ist die strikte Gegenposition in etwa Gideon Stienings111 für die vorliegende Untersuchung unmittelbar brauchbar: Unter Verweis auf die Charakteristika Wahrheitsbehauptung und Urteilsform des an Kant wie Hegel geschulten Wissensbegriffs wird die Rede vom Wissen insofern von der Literatur ferngehalten, als Literatur nicht Wissen ist.112 Während die Wissenspoetologie in
108 Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: Poetologien des Wissens um 1800. Hg. von Joseph Vogl. München 1999, S. 7–18, hier S. 7, der das Paradigma durch eine Perspektive charakterisiert sieht, „die die Herstellung von Wissensobjekten und Aussagen unmittelbar mit der Frage nach deren Inszenierung und Darstellbarkeit verknüpft. Es geht demnach diesen ‚Poetologien des Wissens‘ um die Erhebung und Verarbeitung von Daten ebenso wie um deren Repräsentationsformen in verschiedenen – literarischen, wissenschaftlichen oder technischen – Szenarien.“ 109 Vgl. etwa Roland Borgards, Harald Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens. Plädoyer für eine entgrenzte Philologie. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Hg. von Walter Erhart. Stuttgart, Weimar 2004 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 26), S. 210–222, hier S. 214: „Von den quellengeschichtlichen Arbeiten bzw. Untersuchungen einer spezialisierten Kontextforschung setzt sie [sc. die Wissenspoetik] sich dadurch ab, daß sie keiner Hierarchie zwischen Text und Quelle bzw. Kontext annimmt und die Quelle bzw. den Kontext als ein zu Interpretierendes versteht. Von einer Hierarchie kann deshalb keine Rede sein, weil alle Texte in einem sie umgreifenden Prozess einer Produktion und Reproduktion kulturellen Wissens ihren Ort haben.“ 110 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Wissen. In: Scientia Poetica 15 (2011), S. 297–299, hier S. 297; vgl. unmittelbar folgend: ders.: Welches Wissen? Vier aristotelische Meditationen. In: Scientia Poetica 15 (2011), S. 300–330. 111 Z.B. Gideon Stiening: Am ‚Ungrund‘ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘?. In: KulturPoetik 7 – 2 (2007), S. 234–248. 112 Ders. Schlechte Metaphysik. Zur Kritik der Wissenspoetologie. In: http://www.simonewinko. de/stiening_text.htm (2008) [zuletzt eingesehen am 12. März 2014]: „Es bedarf also für das Wissen – darauf hat Tilmann Köppe zu Recht das Fach hingewiesen – der Urteilsform, des Wahrheitsanspruches und der diesen transportierenden Begründungsleistung, um Wissen vorliegen zu haben. Daraus folgt aber ohne alle Einschränkungen, daß Literatur kein Wissen ist, d.h. daß literarische Texte keinen Wissensanspruch vertreten. Auch wenn von Jochen Hörisch, der vom Wissen der Literatur spricht, bis zu den Herausgebern der Scientia Poetica, die 2004 Literatur
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der Verabsolutierung des Narrativs über das Ziel, Literatur Erkenntniswert zuzuschreiben, sozusagen hinausgeht, droht Stiening schließlich dahinter zurückzubleiben. In der Tat muss der Wissensbegriff dahingehend verteidigt werden, dass Literatur kein Wissen ist. Es droht allerdings übersehen zu werden, dass Literatur gar nicht als Identität von Wissen gesehen werden muss, um trotzdem als Akteur von Ideen gelten zu dürfen. Literatur rezipiert, verarbeitet und transformiert Wissen ebenso wie Ideen: Diesen Sachverhalt vergegenwärtigt auch Stiening, wenn er einen materialen und formalen Wissensbegriff unterscheidet, um sowohl einer „wissenspoetologischen Überpotenzierung“ als auch einer „wissens-epistemologischen Depotenzierung des Wissensbegriffs“ vorzubeugen.113 Stienings Hinweis, dass Wissen „nicht mehr in seinem materialen Status als Wissen in Literatur auftaucht“,114 resultiert nur konsequent in der Feststellung: [E]s wäre ein Unsinn, Hölderlins Reflexionen auf die naturrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Kant und Fichte, die er in spezifischer Weise in seinem Roman gestaltet, unter philosophiegeschichtlichen – also systematischen und historischen – Gesichtspunkten als Moment der philosophischen Debatte zu bestimmen und zu rekonstruieren.115
Als Akteur von Ideen und von Wissen braucht Dichtung jedoch genauso wenig selbst Urteilsform haben, wie etwa Thomas von Aquin oder Immanuel Kant Urteilsform hatten. Natürlich darf in der Personifizierung der Dichtung nicht soweit gegangen werden, zu verkennen, dass Dichtung besonders eine Form, nicht je schon Handelnde ist wie Thomas oder Kant. Ein solches mystisches Apriori wäre die schlechteste Alternative. Gleichwohl ist zu unterscheiden zwischen der unmittelbar wesentlichen Form der Dichtung selbst – das ist hier vor allem die Fiktion – und der mittelbar realisierten Form ihrer Funktion. Entsprechend der sprachphilosophischen Bestimmung der Illokution Austins und ihrer Systematisierung durch Searle leuchtet gerade ein, dass zum Einen die im unmittelbaren propositionalen Akt der Dichtung vollzogenen Referenzen und Prädikationen sehr wohl textimmanent geschlossen und damit für die Textwelt stabil sein können, dass aber zum Anderen ein illokutionärer Akt der Dichtung denkbar
als kulturelles Wissen bezeichneten, eine methodologisch breit gefächerte Gruppe des Faches dies annimmt und natürlich immer wieder Literaten den Anspruch erheben, Wissen allererst in Literatur realisieren zu können, ist Köppe nachdrücklich Recht zu geben mit seiner strengen epistemologischen Distinktion zwischen Wissen und Literatur, weil allein die Urteilsform in vielen poetischen Texten fehlt, mehr noch der Wahrheitsanspruch und vor allem die Begründungsleistung.“ 113 Ebd. 114 Ebd. [Hervorhebungen im Text]. 115 Ebd. [Hervorhebung im Text].
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bleibt, der sich von deren Charakter sowohl unterscheidet als auch auf Anderes gerichtet ist.116 Die der propositionalen Form nach eindeutige Warnung kann der Illokution nach vielmehr eine Drohung sein. Ebenso kann sich dramatische Dichtung komplexer Theoreme politphilosophischer Natur annehmen, ohne sie nur dramatisieren zu wollen. Unbestritten: Damit ist zunächst nur eine Möglichkeit von Dichtung angesprochen. Es ist allein gezeigt, dass ihre Rollenannahme als Ideenakteur nur akzidentiell und nicht notwendig ist – ebenso wenig wie ihre Zurückweisung dieser Rolle notwendig ist. Es ist besonders ungeklärt, in welcher Weise diese Illokution rekonstruierbar sein soll, wenn nicht über die Referenzen und Prädikationen des Textes selbst. Im Wesentlichen sollte sich aber am einleitenden Don Quijote-Beispiel (1.) schon gezeigt haben, dass die Implizität der Referenz und die zeitgenössischen Diskurssituation jene ‚mittelbar realisierte Form der Funktion‘ der erdichteten Galeerensklavenepisode erkennen lassen: Die Referenz auf Gott und die Klugheit erfolgt in der Figurenrede des Don explizit, sodass im Redeganzen implizit auf Theonomie, prudentielles Kalkül und deren rigoristische Überspitzung referiert wird. Im letztendlichen Scheitern des einen wie des anderen Ansatzes wird der vorliegenden Dichtung, die ihrer unmittelbar wesentlichen Form nach unernst, ja spaßhaft ist, die mittelbar realisierte Form der Kritik gegeben, und zwar an der Unvermitteltheit jener Rigorismen. Wenngleich Dichtung wie der Don Quijote nicht Moment der philosophischen Debatte ist, so kann er dennoch als Moment der allgemeinen Debatte um theonome und pragmatistische Theoriegebung bestimmt werden, und dies unter durchaus systematischen Gesichtspunkten der Zeit. Cervantes und Gryphius suchten mit ihren poetischen Reflexionen Erkenntnisse über zeitgenössisch verbindliche Herrscherethik zu erschließen. Systematizität liegt nicht nur in dem Fall vor, wenn eine ‚Äußerung‘ eine geschlossene und insofern systematische Argumentationsbewegung von Behauptung, Beweis und Beispiel vollführt. Sie liegt auch dann vor, wenn sie sich nur als Teil einer solchen Argumentationsbewegung bzw. als Schritt einer intersubjektiven Argumentationssuche positioniert, d.h. „[l]iterarische Texte können daraufhin untersucht werden, in welcher Weise sie an den fraglichen Prozessen beteiligt sind“.117 Cervantes’ Galeerensklavenepisode vollzieht zwar darstellerisch, aber präzise die Problemanalyse des zeitgenössischen rechtstheologischen und politologischen Status quo. Damit
116 John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Deutsche Bearb. von Eike von Savigny. Stuttgart 1972 (RUB 9396–98), S. 114–116. 117 Tilmann Köppe: Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. v. Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011 (Linguae et litterae 4), S. 1–28, hier S. 11.
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ist sie natürlich noch weit davon entfernt, in die philosophische Debatte einzugreifen und selbst eine vollständige Argumentation als systematisches Ganzes zu vollführen. Beschränkt sich Dichtung in dieser Weise, so ist allerdings nicht die Systematizität dessen ausgeräumt, auf das die Dichtung als Problematisches oder als Anzustrebendes verweist. Und insofern Dichtung originell eine Problematik aufzuweisen in der Lage ist, ist sie eben doch auch systematisch wirksam.
3.3.3 Dasein, Sosein, Präsentation: Zu Gottfried Gabriels Überlegungen zu einem „Erkenntniswert der Literatur“118 Der traditionelle und gut begründete Wissensbegriff ist weder aufzuweichen noch gar zu verabschieden. Von Erkenntnis hingegen ist nicht nur dann zu sprechen, wenn fertig ausformuliertes Wissen mitsamt der Wahrheitsbehauptung und der Urteilsform vorliegt. Es wären damit kategorisch die Diskussionsstufen aus dem Blick genommen, die ‚sich ihrer Sache nicht so sicher‘ sind, für ihre Überlegungen noch nicht Wahrheitsgeltung in Anspruch nehmen und die Urteilsform nachgerade in Bewusstsein dessen meiden. Damit ist allerdings ihr Beitrag im Erkenntnisprozess de intentione wie de facto noch nicht vom Tisch, denn mit der Labilität des Wahrheitsanspruchs ist noch nicht der Impuls zur Wahrheitsfindung gefallen. Im Gegenteil: Erkenntnisfördernd kann schon sein, den Wahrheitsgehalt eines diagnostizierten Sachverhalts als labil zu markieren und darum umso nachdrücklicher als zu diskutierende Problematik bei der Fachdebatte einzuklagen, die allererst das gültige Wissen erschließt. Da der Erkenntniswert der Literatur damit nur zuletzt absolut, d.h. erfolgsgeschichtlich am Wissen zu messen ist, wohingegen sein ursprünglicher Impuls- oder Diagnosecharakter vermehrt relativ ist, stellt sich in einem die Blickrichtung wechselnden Schritt die Frage nach den Bezügen des dichterischen Fingierens. Hier führt der für die Literaturphilosophie bedeutende, in der literaturwissenschaftlichen Praxis aber noch immer zu wenig beachtete Gottfried Gabriel folgende einschlägige Unterscheidung durch: (1) D asein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren. Dies liegt vor, wenn Namen oder Kennzeichnungen ohne Wirklichkeitsbezug (Referenz) verwendet werden.
118 So der prominente Titel eines Aufsatzes Gabriels: Gottfried Gabriel: Der Erkenntniswert der Literatur. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Hg. von Alexander Löck, Jan Urbich. Berlin 2010 (Spectrum Literaturwissenschaft 24), S. 247–261.
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(2) S osein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt (zwischen als existierend anerkannten Objekten) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist. […] (3) Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt in bestimmter Weise präsentiert, obwohl er dieses gar nicht tut. Dies liegt insbesondere vor, wenn jemand einen Behauptungssatz äußert, ohne den Sprechakt der Behauptung zu vollziehen, d.h. ohne einen Wahrheitsanspruch zu erheben.119
Diese Distinktion ist aufschlussreich, nicht zuletzt, weil Gabriel die drei distinkten Relationen letzthin sprechakttheoretisch fasst, wie es oben schon versucht wurde: „Im Rahmen sprachphilosophischer Unterscheidungen lassen sich die angeführten Fälle so charakterisieren, dass fiktionale Rede die Ebenen (1) der Referenz, (2) der Proposition und (3) der Illokution betreffen kann“.120 Mit Hilfe ihrer den literarischen Gegenständen dieser Untersuchung zu begegnen, fällt allerdings nicht leicht. In den Fällen Gryphius’ und Cervantes’ liegt weder Fiktion im Hinblick auf das Dasein vor; denn sowohl der Anspruch des göttlichen Rechts als auch der machiavellistische Pragmatismus sind Teil der zeitgenössischen Wirklichkeit. Noch liegt Fiktion im Hinblick auf das Sosein vor, da auch der Sachverhalt ihrer relativen Unvermitteltheit eine Tatsache der zeitgenössischen Wirklichkeit ist. Tatsächlich trifft auch die von Gabriel gesehene dritte Bezugnahme des Fingierens, die Präsentation, auf die literarischen wie dramatischen Operationen nicht zu, da es nicht um eine illokutionäre Operation geht. Es ist zwar unbestritten Teil der vorliegenden These, dass etwa die Galeerensklavenepisode des Don Quijote in abstracto eine Behauptung ‚äußert‘ bzw. literarisch vollzieht, nämlich diejenige der relativen Unvermitteltheit von Theonomie und Pragmatismus. Dies vollzieht sie unverkennbar nicht in Form eines Behauptungssatzes, sondern in Form eines in bestimmter Weise disponierten Settings des Aufeinandertreffens literarischer Figuren, die für bestimmte Haltungen und Fehlverhalten einstehen. Wenn aber die Galeerensklavenepisode als Ganze der illokutionäre Akt ist, stellt sich die Frage, wer als ihr Sprecher zu gelten hat, der hier eine Behauptung als literarische Szenerie ausgibt. Man kommt so nur wieder auf den Autor Cervantes und die nur triviale Feststellung, dass die Leistung des Dichters diejenige ist, in seiner Literatur etwas Uneigentliches ausdrücken zu können. Damit ist nur wieder das übliche Verständnis von Fiktion erreicht und der Begründungszirkel hat sich lediglich einmal gedreht. Nichtsdestoweniger ver-
119 Ebd., S. 252f. [Hervorhebungen O.B.]. Gabriels in der Philologie mangelnde Rezeption verwundert in diesem Punkte umso mehr, als diese Distinktion in das von Gabriel verfasste Lemma Fiktion des Reallexikons Eingang gefunden hat: ders.: [Art.] Fiktion. In: RLW I, S. 594–598, hier S. 595. 120 Ders.: Der Erkenntniswert der Literatur, S. 253.
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gegenwärtigt Gabriels Distinktion, dass Dichtung nicht bloß systematische Verarbeitungsansprüche faktualer Probleme haben kann – was hier ja zu besprechen ist. Vielmehr kann gerade und nur Dichtung diese Verarbeitungen vollziehen, ohne selbst die Form von Behauptung, Deliberation o.ä. unmittelbar annehmen zu müssen. Wohlgemerkt: Don Quijote, die Wachmänner wie auch die Strafgefangenen äußern zwar unverdeckt Behauptungen und Don Quijote vollzieht unzweideutig Überlegungen. Die eigentliche Problemverarbeitung jedoch, die hier fokussiert wird, wird weder nur von einem noch von allen Beteiligten vollzogen, sondern von der Galeerensklavenepisode als ganzer. Diese aber besteht nicht nur aus Figurenreden, sondern auch aus redefreien Handlungsvollzügen, besonders dem Kampf Don Quijotes gegen die Wache und demjenigen der Sträflinge gegen Don Quijote. Die Episode hat nicht die Form von Behauptung und Deliberation, sondern die eines erdichteten Geschehens als eines Zusammenhangs ‚auseinander‘ folgender Ereignisse.121 Wohl aber vollzieht sie die faktualsystematische Behauptung der relativen Unvermitteltheit theologischer und prudentieller Theoriebildung sowie die ebenso faktual-systematische Überlegung von deren Ursachen, nämlich aprioristischer Systemblindheit und rigoristischem Reflexionsmangel (1.). Es bleibt daher allemal festzuhalten, dass Dichtung solche Reflexionsansprüche erheben und diese Reflexionen auch mehr als nur abbildend, sondern auch systematisch-progressiv erbringen kann. Es ist dies ein Teil ihrer wesentlichen Möglichkeiten, die Dichtung nutzen kann, wenngleich nicht nutzen muss. Dies macht den vertretenen Standpunkt einer systematisch-progressiven Dichtung allerdings nicht labil, weil nur relativ angreifbar: Den Fiktionsvertrag nämlich umfänglich auszunutzen hin zu einer textimmanenten Omnifiktivität, d.h. einem Fingieren der Dinge und Personen (Dasein), der Sachverhalte (Sosein) und auch der abstrakten Probleme – wie auch immer dies vorzustellen sei –, ist nur genauso eine Möglichkeit, die der Dichtung zu nutzen anheimgestellt ist, zu der sie aber nicht gezwungen ist. Es wäre aber erst diese Omnifiktionalität ein hinreichender Grund, Dichtung Erkenntnispotenzial abzusprechen.122 Der Dichtung ein systematisch-progressives Verarbeitungspotenzial kategorisch abstreiten zu wollen, würde die Möglichkeit der Omnifiktivität unvermittelt zur Notwendigkeit
121 Vgl. die bewährte Unterscheidung von Ereignis, Geschehen und Geschichte bei Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005, S. 109. 122 Vgl. Gottfried Gabriel: Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8 – 2 (1983), S. 7–21, hier S. 9: „Es ist […] der Nachweis zu führen, daß Fiktionalität kein hinreichender Grund ist, Dichtung einen Erkenntniswert abzusprechen, sondern im Gegenteil dazu zwingt, diesen Erkenntniswert ‚an der richtigen Stelle‘ zu suchen.“
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machen. Mithin ist es ein solches ästhetizistisches Apriori, das in Begründungsnot steht.
3.3.4 Aufweisen als genuin dichterisches Verfahren Dahingegen kann für das hiesige Vorhaben an Gottfried Gabriels Überlegungen zum Erkenntniswert von Literatur angeschlossen werden. Ausgangspunkt ist ihm die These: „Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in ihr enthalten mitgeteilt, sondern gezeigt“, der er noch im selben Satz die Begründung folgen lässt, „und zwar in der Weise, daß ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und so zu einem Besonderen geworden ein Allgemeines als neuen Sinn aufweist“.123 Geschult an Aristoteles’ Poetik,124 macht bereits diese allgemeine Bestimmung deutlich, dass Literatur das Allgemeine – sei es eine ‚Moral von der Geschicht‘, sei es eine Problematik wie die hiesige – gerade einzuholen vermag, insofern die historische Singularität suspendiert ist und damit die Frage umso drängender erscheint, wozu dann noch die Dichtung vollzogen wird. Diese Frage drängt besonders in Gryphius’ Dichtung, da ihm dem Gegenstand nach bessere Formalternativen vorliegen. Inwiefern Gabriels Argument systematisch umfassend standhält und nicht etwa in solcher Dichtung seine Grenze erfährt, die nach der Autonomieästhetik des l’art pour l’art ein außerliterarisches Telos des Dichters programmatisch bestreitet,125 ist hier nicht zu diskutieren. Für die hier zu besprechende Dichtung ist nichtsdestoweniger von Relevanz, wenn Gabriel drei Arten des Meinens bzw.
123 Ebd., S. 14. 124 Aristoteles: Περὶ ποιητικῆς, 1451b 5–7: „διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ’ἱστορία τὰ καθ’ἕκαστον λέγει.“ / „Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt vermehrt das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit“; Übers. nach Fuhrmann: ders.: Poetik, S. 29. Vgl. Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, S. 161. 125 Unzureichend sind solche Behauptungen zumindest immer dann, wenn von der intentionalen Programmatik eines Dichters oder Strömung unvermittelt auf die effektive Systematik geschlossen wird. Vgl. Wolfgang Ullrich: L’art pour l’art. Die Verführungskraft eines ästhetischen Rigorismus. In: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs. Hg. von Wolfgang Ullrich. Frankfurt am Main 2005, S. 124–143; Fricke: Eine Philosophie der Literatur, S. 97: „Auch und gerade bedeutende Dichtung hat – allen modernen l’art-pour-l’art-Manifesten zum Trotz – von der ‚Antigone‘ bis zur ‚Mutter Courage‘ zu allen Zeiten im Bezug auf die Wirklichkeit ihre wesentliche Funktion, ihre Legitimation für den Einsatz auch sprachverletzender Mittel gehabt.“
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Bedeutens unterscheidet, nämlich „das Verweisen (Bezugnehmen, Hinweisen) auf Gegenstände, das Mitteilen (Sagen) von Inhalten, insbesondere das Aussagen; das Aufweisen (Darstellen, Zeigen) von Allgemeinem und Sinn“.126 Im Don Quijote etwa werden die bedeuteten Grundgedanken, Gottes Straftätigkeit und die menschliche Klugheit durch das unmittelbare Sagen der Figur mitgeteilt. Ihre Problematik jedoch wird in der Darstellung der Galeerensklavenepisode als ganzer aufgewiesen. Gerade damit sind für Gabriel der Unterschied der Dichtung zum wissenschaftlichen Sprechen und ihr nichtsdestoweniger statthabender Erkenntniswert gleichermaßen angezeigt: Während nun in wissenschaftlichen Texten und auch in alltäglichen Gesprächen die Erkenntnis über das Mitteilen in Verbindung mit dem Verweisen übermittelt wird, wird sie in dichterischen Texten über das Mitteilen in Verbindung mit dem Aufweisen vermittelt.127
In einem weiterem Schritt kann gefragt werden, in welcher Weise genau Dichtung Ideenentwicklung vorantreiben können soll. Welche Mittel ermöglichen es der Dichtung hier, nicht nur Repräsentationsart von Problemen zu sein, die woanders außerliterarisch weiterentwickelt werden, sondern selbst als Organ einer bestimmten Weiterentwicklung unmittelbar zu wirken?
3.3.5 Techniken des Aufweisens Es wurde in 3.2 bereits angeschnitten, dass es Dichtung gerade durch eine eigentümliche Rubrifikation von tatsächlich relevanten Diskursaspekten vermag, deren im zuständigen Fachdiskurs übertönte Spannungsverhältnisse allererst augenfällig hervorzukehren (3.1.2). Diesen Gedanken gilt es nunmehr zu vertiefen. Natürlich vollzieht Dichtung mit ihrer verstärkten Problemwahrnehmung nichts, was dem jeweiligen Diskursexperten – hier Theologie, Jurisprudenz und Staatslehre – systematisch unmöglich gewesen wäre. Diese Diskursexperten können jedoch historisch in Spezialdiskurse vertieft sein, welche die Beschäftigung gerade mit vordergründig interdisziplinären Vermittlungsfragen wie der politischen Theologie praktisch – nicht systematisch! – behindern. Diese Problemlage wird durchaus von den Zeitgenossen selbst wahrgenommen: Mit Blick auf eine Universaljurisprudenz, die den Nachweis ihrer Universalität in seinen
126 Gabriel: Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis, S. 14. 127 Ebd.
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Augen bislang noch schuldig geblieben war, lehnte etwa Samuel Pufendorf noch 1688 die traditionelle Juristerei gerade deshalb ab, weil sie sich mehr um die Kompilation einschlägiger Autoritäten als um zureichende Begründungen bemühte.128 Seine Bezeichnung der Pandektenwissenschaften als „des Justiniani fricassée“ setzt die historisch komplexe, eben noch nicht systematisierte Diskurslage der Jurisprudenz ins Bild, die er mit Blick auf den Systematisierungsdruck beklagt.129 Dagegen ist es ein wesentliches Merkmal der dichterischen Fiktion, zu Beginn eine tabula rasa vor sich zu haben: Dieses Merkmal kann für den behandelten Zweck zum Verfahren erhoben werden. Natürlich ruft auch die Fiktion durch die Referenz Bekanntes aus der faktischen Wirklichkeit auf, d.h. etwas dezidiert nicht Voraussetzungsloses. Die Rede von der tabula rasa als Verfahren soll aber gerade sinnfällig machen, dass es der Dichtung möglich ist, Bekanntes aus seinem faktisch-wirklichen Bezugs- und Diskursrahmen zu extrahieren. Wolfgang Braungart verbindet mit diesen Verfahren als die wesentlich künstlerischen die politische Auseinandersetzung der Künste: „Die Künste modellieren das Politische mit, indem sie hervorheben oder weglassen: zwei ihrer elementaren ästhetischen Prinzipien“.130 Entsprechend vermag es Dichtung, Bekanntes voraussetzungslos im erdichteten Geschehen umzusetzen, insofern bestimmte Diskurselemente beiseite gelassen werden, nämlich vorzüglicher Weise diejenigen, die als gerade ablenkend, verfälschend, irreführend o.ä. begriffen werden: Warum etwa problematisiert Cervantes in der Galeerensklavenepisode die Gottesinstanz und die Klugheit, aber ausgerechnet nicht das menschliche positive Recht? Der Grund ist cum grano salis darin zu sehen, dass ein peinliches Recht natürlich auch in Spanien existierte, dieses aber dem zeitgenössischen Diskussionsstand nach selbst keine Auskunft oder gar Bestimmung über herrschaftliche
128 Vgl. Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistesund wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie. München 1972 (Münchener Studien zur Politik 22), S. 257. 129 Pufendorf an Christian Thomasius am 16.10.1688: Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 1: Briefwechsel. Hg. von Detlef Döring. Berlin 1996, S. 208–211, hier S. 209: „Ich habe […] meine gedancken hierüber entdecket, so dahin gingen, daß man in den Institutis und Pandectis eine separation anstellen sollte dergestalt, daß man zuerst alles, was ad disciplinam juris universalis s[ive] naturalis gehöret davon, und zu dieser disciplin thete. Aus den positivis aber ordentlich eine disciplinam juris seu fori Romani formirete, so würde man da sehen, wie mager das jus Romanum ut tale seyn würde, und wie wenig dasienige were, was davon ad nostra fora könnte appliciret werden. Hingegen daß das erste gelten müßte nicht weil es in des Justiniani fricassée stehet, sonder weil es juris perpetui ist.“ 130 Wolfgang Braungart: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen. Göttingen 2012 (Das Politische als Kommunikation 1), S. 31.
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Legitimation überhaupt geben konnte. Es ist höchst bezeichnend und von Cervantes sicherlich mit aller Bedacht formuliert, wenn ausgerechnet an der Stelle, wo die menschlichen Gesetze zur Sprache kommen könnten, Sancho Pansa eben nicht von diesen, sondern vom König spricht: „Wie? Zwangsarbeiter?“ fragte Don Quijote, „ist es möglich, daß der König irgendeinem Zwang antut?“ „Das sag ich nicht“, antwortete Sancho, „sondern es sind Leute, die um ihrer Vergehen willen gezwungen werden, dem König auf den Galeeren zu dienen“. „In einem Wort also“, versetzte Don Quijote, „wie dem auch sei, diese Leute gehen nur gezwungen, wohin man sie führt, und nicht aus eignem Willen“. „Beachte Euer Gnaden“, sagte Sancho, „daß die Gerechtigkeit, das heißt der König selbst, solchen Leuten weder Zwang noch Gewalt antut, sondern sie züchtigt zum Entgelt für ihre Vergehungen“.131
Sancho Pansa versucht erst gar nicht eine Berufung auf die peinliche Gerichtsbarkeit Spaniens, die in kodifizierter Form sehr wohl als Begründung dafür hätte herhalten können, dass die Häftlinge auf die Galeere müssen. Auf die Frage, die Don Quijote mit aller Beharrlichkeit stellt, warum nämlich überhaupt Zwangsanwendung gedurft, ja gesollt sein kann,132 hat positives Recht selbst keine Antwort parat. Der Geltungsgrund allen menschlichen Rechts wird vor Kants kategorischem Imperativ als dem menschlichen Recht selbst notwendig äußerlich gedacht.133 Daher ist eine Diskussion über diesen Geltungsgrund – nämlich Gott – ebenso wenig analytisch oder induktiv vom menschlichen Gesetz aus zu führen wie die Diskussion über die ethischen Bestimmungen klugen Handelns. Es ist umgekehrt die menschliche Gesetzgebung, die unter diese Diskussion gerade subsumiert wird und von dieser Diskussion allererst lernen soll. In diesem Sinne wäre das Verfahren des dichterischen Aufweisens in unseren Fällen gerade als solches beschrieben, das im Allgemeinen mit Rubrifikation, im Speziellen mit Extraktion, Isolation und Subtraktion arbeitet: Als relevant erachtete Ideen bzw. Ideenelemente werden extrahiert und von Irrelevantem ‚isoliert‘
131 Cervantes Saavedra: Don Quijote, S. 192. 132 Vgl. für den Fall der suárezischen Rechtstheologie Frank Grunert: Strafe als Pflicht. Zur Strafrechtslehre von Francisco Suárez. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 255–266. 133 Dabei ist ein solcher Externalismus im Hinblick auch auf solches gegenwärtiges Recht nicht ausgeschlossen, das wie das deutsche Grundgesetz in forma GG 1 seinen Geltungsgrund in sich selbst zu formulieren sucht: vgl. Ulrich Haltern: Unsere protestantische Menschenwürde. In: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven. Hg. von Petra Bahr, Reiner Anselm. Tübingen 2006 (Religion und Aufklärung 12), S. 93–124.
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in das erdichtete Geschehen eingebaut, um allererst angemessen zur Geltung zu kommen. Als irrelevant erachtete Ideen bzw. Ideenelemente werden dahingegen subtrahiert, d.h. im erdichteten Geschehen nicht behandelt bzw. an dessen Ausgang gestellt. Wohlgemerkt liegen Reminiszenzen an die philosophische resolutiv-kompositive Methode vor, insofern auch hier ein Problemverhalt in seine Einzelteile ‚aufgelöst‘ und diese in einem dichterischen Geschehen wieder dergestalt ‚komponiert‘ werden, dass neue Aufschlüsse über den Verhalt erzielt werden sollen. Zwar darf und muss auch die Philosophie resolutiv erschlossene Einzelteile als irrelevant bewerten. Jedoch hat sie ebendies zur Sprache zu bringen, wohingegen Dichtung in der ästhetischen Probehandlung den extrahierten Ideenelementen darstellerisch gerade auf den Zahn ihrer vermuteten Relevanz fühlen will. In eben diesem Sinne ist Schmidt-Biggemanns Schluss zuzustimmen, dass „fiktionale Kunst einen referentiellen Bezug zur ‚Wirklichkeit‘“ darin hat, dass sie ihr „dialektische[s] Moment von Wirklichkeitsbezug und unausweichlicher Wirklichkeitsverfehlung selbst mitinszeniert“:134 Es ist in unseren Fällen jedoch nicht ihr genuines Verfehlen, sondern dasjenige unzureichender staatsrechtlicher Thesenbildung, deren Wirklichkeitsverfehlung sie anklagt und deren Wirklichkeitsbezug sie letzthin einklagt. Die Abstraktionsleistung der Relevanzzuschreibung ist für Philosophie wie Dichtung grundlegend: Allerdings erfolgt sie dort in der Philosophie, wohingegen sie hier der Dichtung vorgängig ist. Die Entscheidung, das peinliche Recht in seiner Galeerensklavenepisode nicht zu besprechen, fällt Cervantes vor dem dichterischen Akt und damit gleichermaßen ganz als (Moral-, Rechts-, theologischer) Philosoph. Die Problematik zwischen der ihm relevant erscheinenden Theonomie und des ihm relevant erscheinenden Pragmatismus kehrt er mit all ihrer systematischen Wucht gerade als Dichter hervor.135
3.3.6 Fazit: ‚Silete poetae in munere alieno‘? Die systematische Wirkmacht des dichterischen Aufweisens Die Philosophie ist ihrem systematischen Charakter, Dichtung ihrem ästhetischen Charakter verpflichtet. Wenn Dichtung sich zum Systematischen der politischen Philosophie äußert und damit ihre eigentlich doch nur ästhetische Lizenz
134 Schmidt-Biggemann: Welches Wissen?, S. 330. 135 Vgl. Gottfried Gabriel: Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie. In: Literarische Formen der Philosophie. Hg. von Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht. Stuttgart 1990, S. 1–25, hier S. 10– 12.
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zu überschreiten droht, bezieht sie ihr Recht dazu aus der Tatsache, dass Politik „als kulturelle und soziale Praxis immer auch eine ästhetische Praxis“ darstellt, wie Wolfgang Braungart jüngst festhält.136 Damit ist zunächst auf Basis eines weiten Ästhetikbegriffs nur zurecht festgestellt, dass Politik bzw. politische Probleme sich sinnenfällig darstellen. Damit ist aber gerade noch nicht ausgesagt, dass diese Probleme nur ästhetisch – und nicht etwa systematisch – sind. Ebenso wenig ist geklärt, warum ausgerechnet dann, wenn diese Probleme sich bereits ‚von sich aus‘ als sinnenfällig darstellen, noch eine zusätzliche Ästhetisierung von der Dichtung aus vollzogen wird, mehr noch vollzogen werden muss. Die naheliegende, doch nur triviale Antwort lautet, dass die dichterische Ästhetisierung einen Mehrwert bewirkt. Diese Antwort ist solange unbefriedigend, wie ungeklärt bleibt, worin dieser Mehrwert besteht. Im Hinblick auf den drohenden Eindruck einer redundanten, mehrwertfreien Doppelung des Ästhetischen ist daher der engere Ästhetikbegriff von Interesse. Dieser meint die ästhetisch-produktive Erbringung bestimmter Reflexionsleistungen, und zwar nicht im Kontrast, sondern gerade im Verbund mit dem weiten Ästhetikbegriff, der jedwede Sinnenfälligkeit anzeigt. Dieser Verbund ist hierbei folgender Maßen gedacht: Wolfgang Braungart hält im letzten Zitat zurecht fest, dass Politik als gesellschaftliche, mithin menschengemachte und damit kulturelle Praxis „immer auch eine ästhetische Praxis“ darstellt.137 Befasst sich Philosophie daher mit der Politik, ist ihr Gegenstand ein auch praktischer wie empirischer, d.h. der Wahrnehmung zugänglicher. Gleichwohl systematisiert sie diesen Gegenstand, indem sie ihn durch weitestgehend wahrnehmungsunabhängige Kategorien zu beschreiben und auf wahrnehmungsübergeordnete Prinzipien – Vernunft, Gott, Nächstenliebe etc. – zu gründen sucht. Damit begeht die Philosophie keinen Kategorienfehler, sondern folgt dem ebenso sinnenfälligen Bedürfnis dieser kulturellen Praxis nach Regulierung: Es ist ein ästhetisch wahrnehmbares Bedürfnis nach etwas selbst nicht mehr unmittelbar Ästhetischem, nämlich allgemein gültigen Normen sowie deren Geltungsgewährleistung. Wenn nun Dichtung am Versuch dieser Bedürfnisbefriedigung partizipiert, wie es diejenige Gryphius’ und Cervantes’ tut, so nimmt sie zum Einen als ästhetische Form nur an einer kulturellen Praxis teil, die nach dem weiten Ästhetikbegriff sowieso nur selbst sinnenfällig ist. Zum Anderen nimmt sie im selben Vollzug nur genauso das umrissene Bedürfnis nach Regulierung wahr. Insofern dieses Bedürfnis keines nach nur selbst Ästhetischem, sondern Normativ-Systematischem ist, kann die Dichtung gerade auch als ästhetische Form nicht umhin,
136 Braungart: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen, S. 13. 137 Ebd.
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sich dieses Systematische zum Gegenstand zu machen (nämlich die tatsächlich drängende Frage danach, was Recht ist). Im Gegenteil: Würde sie das Systematische unterschlagen oder von sich fernhalten, würde Dichtung nicht etwa bloß systematisch, sondern gerade auch ästhetisch scheitern, weil sie das genannte Bedürfnis nicht wahrgenommen hat. Insofern die politisch-praktische Frage von der Philosophie in ein abstraktes systematisches Problem transformiert wurde, gilt es der Dichtung erstens, die nunmehr systematische Problemstellung zu reästhetisieren und von Neuem sinnenfällig zu machen. Zweitens gilt es ihr, durch Extraktion diejenigen Problem-, Ideen- oder Theorieteile hervorzuheben, die dem Dichter systematisch – nicht ästhetisch – die eigentlich relevanten sind und die sich im nur sinnenfälligen Feld der kulturellen Praxis, dem sie ursprünglich entstammen, nur ästhetisch – nicht systematisch – bewähren können: Was sich als systematisch konsistent erwiesen hat, muss nunmehr auch wahrnehmbar den Stich halten. Die Dichtung ‚wildert‘ nicht in fremden Gebiet, wenn sie sich der Politik als Teil der kulturellen wie ästhetischen Praxis annimmt, der sie selbst angehört. Sie ‚wilderte‘ wohl, wenn sie politische Philosophie betriebe: Systematische Abstraktion ist gerade nichts Ästhetisches mehr. Eine solche Systematik ist ihr unwesentlich und nur insofern ist hier Harald Frickes Urteil zuzustimmen, dass „[d]ie literarische Form […] keinen Beitrag zur Argumentation und damit zur philosophischen Theorie eines Textes leisten“ kann.138 Es bleibt jedoch die Systematizität dessen einzuklagen, was Dichtung in unserem Fall sehr wohl zur Argumentation beiträgt. Denn sehr wohl leistet sie in der ästhetischen Rückübersetzung des erprobungsbedürftigen Systematischen eben etwas, das im Interesse der kulturellen Praxis Politik und ihres Regulierungsbedürfnisses ist: Die eventuelle Korrekturbedürftigkeit des systematischen Entwurfs sinnenfällig zu machen, wie dies Cervantes und Gryphius unternehmen, ist eine ästhetische Handlung mit unbestreitbar systematischer Wirkung. Diese Wirkung ist mehr als nur der „verstörende Effekt poetischer Verfremdung“:139 Sie gibt den bisherigen systematischen Entwurf zur Überarbeitung an die Philosophie zurück.
138 Harald Fricke: Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker. In: Literarische Formen der Philosophie. Hg. von Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht. Stuttgart 1990, S. 26–39, hier S. 26. 139 Ebd., S. 39.
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3.3.7 Ausblick: Gryphius’ politische Trauerspiele zwischen systematischem Aufweis und historischer Verbürgung Wenn Andreas Gryphius sich schließlich nicht für eine beliebige Form der Dichtung, sondern die des historischen Dramas entscheidet, so ist ein abermals besonderer Anspruch und Status seiner politischen Trauerspiele zu vermuten: Auch Gryphius konzentriert sich in seinen politischen Trauerspielen auf das, was ihm in systematischer Hinsicht als wesentlich problematisch erscheint. Sein politisches Trauerspiel verweist als Besonderes durch die Extraktions- und Subtraktionstechnik auf Spannungsverhältnisse und Problematiken als sein Allgemeines. Indem er jedoch durchweg historische Problemfälle aufgreift und diese möglichst authentisch wiederzugeben versucht,140 gelingt ihm gerade die Verweisbewegung auf dieses Allgemeine vom „Historisch-Einzelnen“ aus und nicht von diesem weg. Indem die historischen Gegenstände Gryphius’ Stoffe werden, verlieren sie nicht ihren „Charakter des Historisch-Einzelnen“ – dies kann Gottfried Gabriel nur für eine Periode festhalten,141 die schon einen Begriff von historischer Singularität hat: In der Auseinandersetzung mit den Historiken des siebzehnten Jahrhunderts hat Wilhelm Vosskamp gerade im Hinblick auf die Geschichts- und Zeitauffassung bei Andreas Gryphius herausgearbeitet, dass der mit Bartholomaeus Keckermann einsetzende Paradigmenwechsel hin zu einer unvoreingenommenen Würdigung des historisch Einzelnen darin seine Grenze hat, dass nur die Blickrichtung gewechselt wird: „[D]as Individuelle wird nicht mehr aus dem Blickwinkel des Allgemeinen gedeutet, sondern im Individuellen vermag sich das Ganze zu zeigen“.142 Das Allgemeine bzw. Ganze wird noch als vorhanden gedacht und sein ontologischer Status erlischt gerade noch nicht mit dem zunächst bloß epistemologischen Wechsel: Die „Historie [bleibt] nicht auf ihre Faktizität festgelegt“,143 sondern „transzendiert sich selbst“.144 Der bloß epistemologische Wechsel führt mithin zu einer „Zwischenstufe eines nicht mehr geschichtsmeta-
140 Vgl. Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, S. 233. 141 Gabriel: Über Bedeutung in der Literatur, S. 14. 142 Wilhelm Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967 (Literatur und Wirklichkeit 1), S. 30; vgl. Janifer Gerl Stackhouse: The Constructive Art of Gryphius’ Historical Tragedies. Bern u.a. 1986 (Berner Beiträge zur Barockgermanistik 6), S. 69: „[W]e might here observe the metaphysical message which he [sc. Gryphius] hoped to project in his dramatization of a specific historical event.“ 143 Habersetzer, Karl-Heinz: Politische Typologie und dramatisches Exemplum, S. 60. 144 Alan Menhennet: The Historical Experience in German Drama From Gryphius to Brecht. Rochester, NY 2003 (Studies in German literature, linguistics, and culture), S. 13.
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physischen und noch nicht ‚historischen‘ Denkens“.145 Wie unter 4.3 zu zeigen sein wird, ist allerdings die Teleologie, die Vosskamp im Geschichtsdenken Gryphius’ angelegt sieht,146 auf die heilsgeschichtliche Eschatologie einzuschränken, wohingegen innerweltliche Wirkungszusammenhänge von Gryphius schon vermehrt nicht-teleologisch gesehen werden. Gerade das von Vosskamp gewählte prominente Beispiel des Sonetts Auf den Anfang des 1660zigsten Jahres deutet bereits hierauf hin: WIr zehlen was nicht ist vnd lngst in nichts verschwunden / Verwichner Zeiten Lauff vnd Menge vieler Jahr […] […] Ach! Jahr / Monat / Tag vnd Stunden / Sind kein bestndig Gut / doch bringen sie Gefahr Vnd hchsten Nutz zu vns. Sie bieten alles dar / Wodurch die Ewigkeit vns Menschen wird verbunden. (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XXI, S. 105, v. 1–8 [Hervorhebung O.B.])
Die Singularität des historisch Einzelnen und seine noch genauer zu besprechende Unverbundenheit mit den anderen historisch Einzelnen wird zwar durchaus in nicht nur chronologischer, sondern auch ordnungslogischer Hinsicht diagnostiziert. Für den lutheranischen Dualisten147 Gryphius ist damit jedoch eben nur ihr nonnormativer Zusammenhang ausgeräumt und ihr per contrarium verfahrender normativer Verweischarakter auf ein gerade zeitloses Allgemeines angezeigt. Dieses kann schon deshalb nicht im „Lauff“ der Jahre selbst angelegt sein, weil es nur „vns Menschen verbunden“ ist: Geschichte, mithin das historisch-politische Trauerspiel haben Andreas Gryphius nicht den unmöglichen Aufschluss darüber zu geben, was allgemein geschieht und wie dieses als immanenter Zusammenhang in normativer Hinsicht zu verstehen wäre. Sie verweisen hingegen darauf, was der Mensch von Gott als transzendenter Instanz zu tun verpflichtet ist, um gerade hinsichtlich der immanenten Zusammenhangslosigkeit nicht in eine moralische Haltlosigkeit zu verfallen. Daher sind es eben nicht die Natur oder gar der Körper des Menschen, die Gryphius im Sonettausgang anruft und auf Gott und jenes Allgemeine, seine Norm, verpflichtet, sondern die Seele: „Ach Seel! Ach! sey mit Ernst denn auf die Zeit bedacht“ (ebd., v. 12).
145 Vosskamp: Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 30. 146 Ebd., S. 106: „Die Ausrichtung des menschlichen Lebens auf ein Höheres, Ewiges verleiht der Zeit den Charakter des ständig fortschreitenden Unterwegsseins zu einem Ziel.“ 147 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 271f. Einen „wirklichen Dualismus“ (S. 271), der das Böse zum gleichgestellten Prinzip gegenüber dem Guten macht, vermeidet Luther natürlich. Dazu auch: Hans-Martin Barth: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers. Göttingen 1967 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 19), hier S. 188–203.
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Die Vergänglichkeit des Irdischen führt gerade nicht hin zu einem Historismus avant la lettre, der einer Systematik indifferent gegenübersteht: Denn ein solcher Indifferentismus erlaubte den kontrastiven Verweis vom historisch Einzelnen auf die Bedeutung des allein jenseitsrelevanten göttlichen Gebots schließlich ebenso wenig wie einen affirmativen Verweis von einem natur-eschatologisch angelegten historisch Einzelnen auf das Jenseits als seiner Zielform. Gryphius’ stets historische Beispiele erlauben ihm den Aufweis eines Problems als ihr Allgemeines, insofern sie sich für Gryphius’ extraktiv-kompositive Modellierung des relevanten Ideengefüges besonders eignen. Sie erlauben ihm ferner den Nachweis von der tatsächlichen Dringlichkeit des Problems, insofern sie als Empirie dieses Problem als nicht bloß theoretisches ausweisen: Gryphius’ ästhetische Probehandlungen sind ohne Zweifel solche, die sich in jener Modellierung durch ihre besondere Lizenz Verfremdung herausnehmen dürfen und hinsichtlich bestimmter Rubrifikationen auch herausnehmen müssen. Sofern sie politische Trauerspiele sind, die gegenüber verfahrenen Diskurslagen einen Mehrwert erbringen wollen, sind sie auf diesen bestimmten Experimentalcharakter sogar angewiesen. Dennoch wählen diese historischen Trauerspiele ihren Gegenstand zwar unter hauptsächlich systematischen Gesichtspunkten und arrangieren ihn respektive derer Relevanz und Relation experimentell. Da sie jedoch diesen Gegenstand selbst nicht ebenso experimentell erdenken, sondern der Geschichte entnehmen, sind sie keine Gedankenexperimente.148
148 Und selbst für Gedankenexperimente können durchaus überzeugende Überlegungen veranschlagt werden, dass sie ohne letzthin empirischen Input nicht auskommen: Tamara Horowitz, Gerald J. Massey: Preface. In: Thought experiments in science and philosophy. Ed. by Tamara Horowitz, Gerald J. Massey. Savage, Md 1991 (CPS Publications in Philosophy of Science 13), S. 1–28, hier S. 1.
4 Gryphius’ rechtsphilosophische Zeitgenossenschaft Hier ist zu rekonstruieren, welches rechtsphilosophische Wissen Gryphius besaß, mehr noch aber, wie er sich zu diesem verhielt. Dies kann nur zum Teil seiner Biographie entnommen werden, die Vorlesungen sowie die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Leiden aus den Jahren, in denen Gryphius dort gelehrt hat, existieren nicht mehr bzw. sind nicht auffindbar. Daher sind die biographischen Auskünfte zu korrelieren mit Gryphius’ expliziten Bezugnahmen einerseits – diese liegen nur in den Dissertationes funebres vor – und Gryphius’ impliziten, konzeptionell erschließbaren Bezugnahmen andererseits. Es sind gerade diese, welche die Rekonstruktion eines bestimmten Wissenschaftsverständnis Gryphius’ erlauben, gerade im Hinblick auf sein Verständnis der Theologie als Wissenschaft und ihres Verhältnisses zu den anderen Wissenschaften und Künsten, besonders aber zur Jurisprudenz und Morallehre. Bei der Frage nach einer politischen Theologie bei Andreas Gryphius wiederum nach dessen Wissenschaftsverständnis überhaupt zu fragen, hat seine guten Gründe für die Ermittlung des gryphschen Normverständnisses, seines Rechts- und Klugheitsbegriffs. Diese nämlich sind bei ihm und den Zeitgenossen in bestimmte Vorstellungen von Geltung, Zurechenbarkeit und Verantwortung eingebettet. Diese Vorstellungen sind zwar meist Teil jedes elaborierten Traktats der Staatsrechts- und Staatslehre, jedoch gilt dies nur für die Darstellung. Systematisch haben diese Vorstellungen nicht ihren Grund in einer etwa autonomen Jurisprudenz oder prudentia civilis selbst: Respektive der Geltungstheorie entspringen sie bestimmten Gottesbegriffen, hinsichtlich der Rechtsquellen- und Naturrechtslehre entspringen sie bestimmten Jenseitskonzepten und Naturvorstellungen sowie im Hinblick auf die menschliche Verantwortung entspringen sie einer bestimmten Erkenntnis- und Verstandeslehre. Schließlich wurde die machiavellische Idee einer voraussetzungslosen Staatslehre vom Erscheinen des Principe wie der Discorsi weg abgelehnt1 und nur in retheologisierten Modifikationen rezipiert.2
1 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III); ders.: ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria. 2 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, besonders S. 53, 65, 67. Der Gedanke einer voraussetzungslos textualistischen Gesetzesgeltung wurde erst von Hans Kelsens reiner Rechtslehre formuliert: Vgl. Schröder: Recht als Wissenschaft, S. 291–293; auch Oliver Bach: [Rez. v.] Jan Schröder: Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933). In: Scientia Poetica 16 (2012), S. 238–241.
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4.1 Die Herausforderung: Ausnahmezustand und Nezessität Mancher schilt auff diesen Mann/ folget ihm doch heimlich nach; Gibt ihm um die Lehre nicht / gibt ihm um die Oeffnung/ Schmach. Friedrich von Logau, Vom Machiavello3 [O]mne imperium herile, imo omne imperium, vbi imperantis vtilitas quæritur, esse tyrannicum: omnes Reges nihil aliud esse, quàm magistratus, quod Althusio inter sollennia carmina placet. cuius Politica […] Demagogica appeles merito. Johann H. Boecler, In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis Commentatio4
Die Neuerungen, mit denen Niccolò Machiavelli die traditionellen Staatslehren mit seinem Principe sowie mit seinen Discorsi konfrontierte, sind nicht zu unterschätzen. Die Machiavelli-Forschung ist zwar grosso modo in zwei Lager getrennt und ist sich uneins darüber, ob Machiavelli als ein Propagator gewaltsamer Tyrannis (Leo Strauss) oder ganz im Gegenteil als der republikanische Warner vor derselben (Cambridge School) zu gelten hat.5 Gleichwohl hat jüngst Stefano Saracino – selbst Vertreter einer differenzierten republikanischen Lesart – in einer präzisen Kontexteinbettung und Reanalyse des machiavellischen politischen Denkens überzeugend gezeigt, dass bei Machiavelli allemal eine „Verabschiedung der kategorischen Verbindlichkeit der moralischen Tugend für den Herrscher“ stattfindet. Der Fiorentiner Staatsdenker distanziert sich von der platonischen bzw. ciceronischen Auffassung, dass ausschließlich das Gute Mittel des Guten, das Schlechte nur Mittel des Schlechten sein kann.6 Machiavelli redet weniger der Tyrannis im Sinne Aristoteles’ als einer Staatsform das Wort, sondern verlagert das Attribut tyrannisch als handlungstheoretische Beobachtungskategorie auf die allgemeine politische Klugheitslehre.7 Dieser gemäß wendet auch der auf das Gemeinwohl gesinnte ordinatore8 bzw. Aisymnet (αἰσυμνήτης)9 solche Mittel
3 Friedrich von Logau: Salomons von Golaws Deutscher Sinn=Getichte Drey Tausend. Cum Gratiâ & Privilegio Sac. Caes. Majestatis. Breslau 1654, II. 8. 7. 4 Johann Heinrich Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio. Straßburg 1663, S. 234 (In Lib. I. Cap. III). 5 Stefano Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. Zur Genese einer antitraditionellen Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und Herrschaftsmoral. München 2012 (Humanistische Bibliothek, Abhandlungen 62), S. 18–20. 6 Ebd., S. 38. 7 Ebd., S. 213. 8 Ebd., S. 194. 9 Ebd., S. 331f.
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an, die moralisch, juridisch und religiös zweifelhaft, aber politisch notwendig sind.10 Diese tyrannischen Mittel im Normalzustand zu gebrauchen ist genauso unklug wie sie im Notstand ungenutzt zu lassen. Dies hat seinen vordringlichen Grund in Machiavellis ruhmesethischer bzw. thymotischer Anthropologie, die er vor allem der Tradition Xenophons und in eingeschränkterem Maße Aristoteles’ entnimmt:11 Die Furcht des Herrschers vor dem Zorn des Volkes, umgekehrt sein Ruhmesstreben wirken wiederum als konstante Hemmnisse gegen kategorisch schlechtes Handeln. Ruhm ist vordergründig nur durch prinzipielle Güte zu erwerben, Ruhmesstreben daher ein schon säkularer, aber wirkmächtiger Garant politisch guten Handelns. Andreas Kablitz hält zurecht fest, dass der Macht bei Machiavelli keine virtù vorgängig ist: Macht als das vorzügliche Medium des Ruhms trägt deshalb auch ihre Rechtmäßigkeit nun in sich selbst. Aus diesem Grund wird sie auch, wie in der traditionellen, philosophischen wie theologischen Erörterung der Macht, durch keine Tugend begründet oder begrenzt.12
Dieses Säkularisat mag unter den Zeitgenossen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts – so sie es gesehen haben – schon per se ein Skandalon gewesen sein. Skandalöser und bei weitem augenfälliger war und ist jedoch Machiavellis Relativierung der thymotischen Basis: Ruhm konnte nicht nur ehrlich erworben werden, sondern als bloßer Schein vorgegeben sein. Die Simulationstechniken lösen Machiavellis ‚Tyrannen‘ letztlich auch vom Thymos als unhintergehbarer Instanz. Diese Loslösung von der ruhmesethischen Konstante bleibt weitgehend unvermittelt. Machiavelli selbst jedoch sah simulatio und dissimulatio in einer Republik als weitgehend unproblematisch an, denn dort steht eine ausreichende Anzahl von Menschen in politischer Verantwortung, welche die Heuchelei eines Einzelnen durchschauen können und sanktionieren dürfen. Eine Problemlösung für das vorzüglich monokratische Staatsdenken der Zeit stellte dies gerade nicht dar. Es verschärfte es im Gegenteil noch um das Moment eines vermeintlichen Widerstandsrechts gegen den einen Oberen.
10 Im Hinblick auf die realpolitischen Kontexte Machiavellis versäumt Saracino ebenfalls nicht zu verdeutlichen, dass die aufkommenden monokratischen Signorien nicht bloß mit überpositiver Moral und göttlichem bzw. natürlichem Recht konfligierten, sondern ihr chronischer Legitimationsmangel auch und vor allem gegenüber (bisherigem) positivem Recht bestand: Ebd., S. 34f. 11 Ebd., S. 57–124. 12 Andreas Kablitz: Il Principe, Kapitel 24–26. In: Niccolo Machiavelli – Der Fürst. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2012 (Klassiker Auslegen 50), S. 139–159, hier S. 153.
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Das Herrschaftsrecht nämlich bringt Machiavelli schon von fundamentalsystematischer Seite her ins Wanken. Mit der Relativierung tyrannischer Mittel als nicht je schon schlechter Instrumente der Politik geht eine „Temporalisierung des Tyrannenbegriffs“13 einher: Die bloß zeitweilige Legitimität dieser Mittel respektive eines guten Ziels, ihre Bewährung und aposteriorische Legitimation durch das Erreichen dieses Ziels dynamisieren entsprechend auch das Herrschaftsrecht. Saracino bemerkt dabei treffend, dass Giovanni Botero, obgleich erst dieser das Wort ragion di stato prägt,14 die Staatsgründung gegenüber der Staatserhaltung vernachlässigt. Daher stellt tatsächlich schon Machiavelli die eigentlich grundlegenden Überlegungen zur Staatsräson an, obwohl sich dieser Begriff bei ihm nicht findet.15 Das ius dominandi ist nur genauso durch tatkräftiges Handeln zu erwerben, wie der Staat durch solches Handeln erhalten werden muss. Es ist nicht statisch, weil es nicht göttlich gegeben ist, sondern dynamisch, weil es durch Tugenden erlangt und durch mangelnde Tugend verloren wird. Dementsprechend sind kategorische Religiosität – besonders die christliche – für das politische Handeln gerade nicht nützlich, sondern schädlich. Theologische Apriorismen sind für eine politische Lehre nicht zu veranschlagen: In einem wortgewaltigen Verdikt in Discorsi II,2 schreibt Machiavelli es der weltabgewandten Duldungsethik des Christentums zu, „die Weltgeschichte den Bösen ausgeliefert zu haben“.16 Vor allem hier verbinden sich die fundamentale Infragestellung eines konstanten göttlichen Herrschaftsrechts und die Aufwertung des politischen Ausnahmezustandes zu dem Zündstoff, den Machiavellis Theorie für die Zeitgenossen darstellte. Besonders Michael Stolleis hat die Herausforderung, vor die sich die politische Philosophie mit Machiavellis Discorsi und Principe gestellt sah, sowie ihren eigentümlichen Umgang mit dieser eingehend behandelt. Dabei weist er ebenso schon auf die vordergründigen Widersprüchlichkeiten hin, die in diesem zeitge-
13 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 358. 14 Vgl. Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson. 15 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 274f. 16 Niccolò Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. Hg. von Corrado Vivanti. Turin 1983 (Nuova universale Einaudi 185), II,2, S. 224f.: „La nostra religione ha glorificato piú gli uomini umili e contemplativi che gli attivi. Ha dipoi posto il sommo bene nella umiltà, abiezione, e nel dispregio delle cose umane : quell’altra lo poneva nella grandezza dell animo, nella fortezza del corpo ed in tutte le altre cose atte a fare gli uomini fortissimi. E se la religione nostra richiede che tu abbi in te fortezza, vuole che tu sia atto a patire piú che a fare una cosa forte. Questo modo di vivere adunque pare che abbi renduto il mondo debole, e datolo in preda agli uomini scelerati; i quali sicuramente lo possono maneggiare, veggendo come l’università degli uomini per andare in paradiso pensa piú a sopportare le sue battiture che a vendicarle.“
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nössischen Umgang entstehen.17 Gideon Stiening hat sich in der Untersuchung des Rechtsdenkens Vitorias, Melanchthons und Suárezʼ eingehend mit diesen häufig paradoxalen Phänomenen der politischen Ideengeschichte befasst.18 Der Eindruck der Paradoxie entsteht dadurch, dass auf der einen Seite das Problembewusstsein des Principe und der Discorsi durchaus geteilt wird: Die häufige Schlechtigkeit anderer Fürsten, von innenpolitischen Widersachern und Umstürzlern ist allemal Fakt. Ihr kann nicht allein ‚gutmenschlich‘ begegnet werden, ohne die civitas zu gefährden.19 Das moralische Apriori, selbst wenn es in Kraft bleibt, ist nachgerade nicht mehr in der Lage, diesen Fakt zu invisibilisieren. Jede noch so moralische Gesinnung kann nicht mehr über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, dass der moralisch schlechte Politiker mit selbst schon moralisch guten Mitteln kaum zu bekämpfen ist, da er sich von ihnen gar nicht anfechten lässt. Auf die rechtssystematische Spitze getrieben, findet diese Problematik ihren allererst sinnfälligen wunden Punkt natürlich im Ausnahmezustand: Hier wird das Recht des Staates nicht nur mit dem Vollzug einer beliebigen Tathandlung gebrochen, sondern Sinn und Zweck der Tathandlung selbst ist überhaupt nur, dem geltenden positiven Recht eben diese Geltung streitig zu machen. Im frühneuzeitlichen Rechtsdenken, und zwar sowohl im neuscholastisch-theologischen als auch im kontraktualistisch-säkularen, ist mit dieser Situation gerade das von Gryphius zentralisierte Setting von Widerstand und Tyrannei eng verflochten. Die identisch gedachten Legislations- und Exekutivgewalten des Herrschers sind nämlich wesentliche Bestimmungen des Gesetzesbegriffes selbst.20 Werden diese seine Bedingungen angefochten, so wird nichts weniger als das ganze Gesetzeskorpus selbst angefochten. Begriffshistorien, die den Ausnahmezustand erst im
17 Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson; ders.: Arcana Imperii und Ratio Status; ders.: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. 18 Stiening: ‚Non est potestas nisi a Deo‘. Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext; ders.: Nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen? Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in De Indis; ders.: ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria; ders.: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III). 19 Wie Kurt Flasch deutlich machte, gilt dies exakt für Machiavellis eigenen Anspruch. Machiavelli vertrat keinen anthropologischen Pessimismus, unterstellte weder dem Menschen noch seiner Mehrheit, immer schlecht zu handeln; vielmehr sei unter Gesichtspunkten der Klugheit immer zu unterstellen, dass der Mensch schlecht handle, um schon das Einfallstor nur möglicher Feinde, Dissidenten, schlechter Einflüsse etc. präventiv zu unterbinden: Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. 2., rev. u. erw. Aufl. Stuttgart 2000 (RUB 18103), S. 648. 20 Vgl. Francisco Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Übers. u. hg. von Norbert Brieskorn. Freiburg, Berlin 2002, I. 8. 2, auch II. 2. 9; vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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Postabsolutismus diskursiviert sehen,21 beschränken sich im Grunde auf Rechtsinstitutsgeschichten. Damit vernachlässigen sie den von Carl Schmitt zurecht angemahnten Grenzbegriffscharakter der Souveränität: Schon der Absolutismus lebt in seiner Bestimmung von der Universalkompetenz des Herrschers, die an der ausnehmlichen Notwendigkeit erst ihre Nagelprobe erfährt. Die gegen einen bzw. in einem Ausnahmezustand aufzubringenden Mittel haben, um gegen den moralisch schlechten Feind wirken zu können, selbst wesentlich von Listklugheit geprägt zu sein. Sie bestehen mitunter aus Lüge, Täuschung, Hinterhalt und auch Mord. Diese Frage nach dem moralischen Charakter des Notwendigen und diejenige, ob und, wenn ja, von wem dieses Notwendige vollzogen werden dürfe, werden beileibe nicht erst von Machiavelli auf das Tableau gebracht: Schon 1302 diskutierte Aegidius Romanus in seinem Traktat De ecclesiastica potestate die Nezessitätsproblematik und löst sie in der Analogie von göttlicher und päpstlicher Macht auf, insofern der Pontifex Maximus durchaus eine situativ legitimierte absolute Macht im starken Sinne innehabe.22 Schon im sechzehnten Jahrhundert allerdings wurde die weltliche Autorität des Papstes nicht nur von reformatorischer Seite bestritten: Auch von katholischen Rechtstheologen wie Francisco de Vitoria war ein weltlicher Herrschaftscharakter des Papsttums widerlegt worden.23 Die Nezessität war nicht mehr je schon institutionell erledigt, sondern war von Neuem zu verhandeln. Da sich diese Debatte um ethische Erwägungen ebenso wenig vom rigorosen Pragmatismus Machiavellis stilllegen lassen wollte, hatte sie sich als gleichermaßen politisch-pragmatische und moralisch-juridische Diskussion zu profilieren. Neben konkreten Handlungsanweisungen moralisch integeren Verhaltens im Ausnahmezustand hatte
21 Z.B. Markus Trotter: Der Ausnahmezustand im historischen und europäischen Rechtsvergleich. Diss.jur. Heidelberg 1997, S. 4; aber auch Ernst Forsthoff: [Art.] Ausnahmezustand. In: HWPh 1, S. 669f., hier S. 669. 22 Vgl. Jürgen Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus. Hamburg 2007 (Paradeigmata 28), S. 104f. 23 Francisco de Vitoria: De Indis / Über die Indianer. In: Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche. Hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven, Joachim Stüben. Bd. 2. Stuttgart u.a. 1997 (Theologie und Frieden 8), S. 370–541, hier S. 420–431. Dem Papst verbleibt nur ein Widerstandsrecht für den Fall, dass durch politische Handlungen das Heil der Gläubigen gefährdet wird: ders.: De potestate ecclesiae I / Erste Vorlesung über die Gewalt der Kirche. In: Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche. Hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven, Joachim Stüben. Bd. 1. Stuttgart u.a. 1995 (Theologie und Frieden 7), S. 162–277, hier S. 248–252; vgl. Merio Scattola: Das Ganze und die Teile. Menschheit und Völker in der naturrechtlichen Kriegslehre von Francisco de Vitoria. In: Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (PPR II,3), S. 97–120, hier S. 102f.
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der Antimachiavellismus vor allem die zentrale Herausforderung desjenigen Nachweises zu stemmen, dass Klugheit und Gerechtigkeit einander eben nicht indifferent seien. Die Frage, die sich der so gut als ausschließlich ablehnenden Machiavellirezeption des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts stellt, lautet, wie die per se schlechten Mittel durch die Ausrichtung auf einen sie ‚heiligenden‘ guten Zweck legitimierbar sind oder ob sie sogar eine das Telos unbesehene, unverhandelbare Grenze kennen. Das offene Bekenntnis zum machiavellischen Pragmatismus war für den politischen Praktiker gefährlich, für den politischen Theoretiker ebenso gefahrvoll wie ungewünscht.24 Besonders dem Neotacitismus war es ein Anliegen, den Pragmatiker Machiavelli innerhalb seiner Domäne, der Geschichtswissenschaft, in der Auffassung zu widerlegen, schlechtes Handeln sei notwendig: Das universalhistorische Paradigma sollte Geschichte als Arsenal moralisch und rechtlich applizierbarer Exempel begreifen lassen, das die Geltung des normativen Apriori gleichsam in der longue duree bestätigt, statt sie anhand bloßer Einzelfälle zu falsifizieren.25 Dass die Anwendung moralisch fragwürdiger Mittel in jedem Fall über den Zweck des reinen Machterhalts und auch den der reinen Staatsstabilität hinaus legitimiert werden muss,26 war allgemeiner Konsens. Das zeichnet im Rahmen der angesprochenen Paradoxie die andere Seite aus, nämlich die eigentümliche Ablehnung der machiavellischen Lehre: Die Wahl der Mittel sollte durch bestimmte, selbst moralisch gute Zwecke bestimmt sein oder besser noch: durch schon existente Rechtsquellen, die diese Zwecke anzeigen. Wäre die Wahl der politischen Mittel nicht in diesem Sinne eingegrenzt, so unterscheide sich der Fürst in nichts von seinen Feinden und heule schließlich nur mit den Wölfen, wo er doch eigentlich vor solchen hätte beschützen sollen. Die Bewältigung dieses Problems zog den Fokus dergestalt auf sich, dass Machiavelli allein als politicus wahrgenommen wurde, weder als Historiker noch Statistiker, wie an der folgenden historia literaria deutlich wird:27 Im Grunde wurde erst im achtzehnten Jahrhundert der Indifferenz-Charakter des prudentistischen Apriori gegenüber Gott und Moral systematisch verstanden. Erst hier wurde eingesehen, dass der Vorwurf des Atheismus an Machiavelli ungerechtfertigt war. Seine
24 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Geschichte als Gegenwart: Formen der politischen Reflexion im deutschen „Tacitismus“ des 17. Jahrhunderts. In: Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Walter E. Schäfer. Tübingen 2001, S. 41–60. 25 Vgl. – auch zum zweifelhaften Erfolg dessen – ebd., S. 49. 26 Stiening: Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 9. 27 Vgl. Scattola: Machiavelli in der historia literaria, S. 134f.
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prudentia hatte weder im Guten noch im Schlechten irgendetwas mit denjenigen Moralvorschriften zu schaffen, die auf Gott schließen lassen sollten oder nicht.28 Bevor diese Erkenntnis breit verstanden war, konnte die Problembewältigung nur in einen weiteren Konflikt führen. Er fand statt zwischen denen, welche die Beliebigkeit der Herrschermacht durch ein Widerstandsrecht bannen wollten, und jenen, die darin einen Angriff auf die Göttlichkeit der Herrschersouveränität sahen. In 3.1 waren die Strukturmerkmale eines solchen Zusammenwirkens von partieller Ablehnung und teilweiser Anerkennung einer Theorie29 bereits erläutert und dort wie in 1 am Beispiel des Don Quijote veranschaulicht worden. Hier sind nunmehr die sowohl prominenten als auch für Gryphius relevanten unmittelbaren Aufnahmen machiavellischen Gedankenguts bzw. die Problematik des traditionellen Primats von Recht vor der Klugheit aufzuzeigen.
4.1.1 Gryphius’ souveränitätsrechtliches Problembewusstsein Schon der dreißigjährige Gryphius erkennt und benennt in der Vorrede des Leo Armenius die Problematik des Ausnahmezustandes exakt, denn es ist so vnerhrt nicht durch vorwendung geheimer Offenbarungen / Auffruhr vnd Krieg stifften Knigreich vnd Zepter an sich reissen / ja gantze Lnder mit Blutt alß einer newen Snflut berschwemmen. Nicht nur Europa, gantz Asien vnd Africa werden fr ein beyspiel dieser warheit wol hundert geben / vnd in der Newen Welt ist diese Pest wenig / alß bey vns newe vnter dem schein deß Gottes dienstes / (wie Michael vnd seine Bundgenossen) vngehewre Mord vnd Bubenstck ins werck zu richten. (GdW 5, Leo Armenius, Leservorrede, S. 4)
Diese Problemumschreibung ist deshalb exakt, weil sie erstens das juridische Moment des Dilemmas benennt: Von Seiten der Widerstandskämpfer wird sich nur ebenso auf Gott berufen wie seitens des Herrschers. Zwar lässt Gryphius keinen Zweifel daran, dass er diese Berufung als illegitim, als „vorwendung“
28 Ebd., S. 142. 29 Im Rahmen vermehrt geschichtswissenschaftlicher Forschungen ist dieser Umstand durchaus schon länger anerkannt und hat in Einzeluntersuchungen Bestätigung gefunden: vgl. Christoph Fürbringer: Necessitas und Libertas. Staatsbildung und Landstände im 17. Jahrhundert in Brandenburg. Frankfurt am Main u.a. 1985 (Erlanger historische Studien 10), der die Gleichzeitigkeit legitimationstheoretischen Rationalisierungsdrucks und praktischer Übernahme der „tradierten, feudalen Herrschaftsauffassung“ in gerade ökonomischer Hinsicht diagnostiziert (S. 36).
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und „schein“ ansieht. Das göttliche Recht ist ihm in seinem Gehalt in der Tat also nicht widersprüchlich, sondern verbietet Umsturz und Königsmord. Gleichwohl realisiert das Trauerspiel nichts anderes, als dass die Geltendmachung dieses Rechts fraglich erscheint. Damit ist zweitens das rechtspolitische Moment angezeigt: Was garantiert noch die Einholung des göttlichen Rechts, wenn die Königsmörder in ihrer falschen Überzeugung verharren, sodass sie von ihrem „vngehewre[n] Mord vnd Bubenstck“ gar nicht abstehen können? Diese Feststellung einer politischen Labilität der rein inhaltlichen Berufung auf göttliches Recht ist damit nichts anderes als die Frage nach der instanziellen Umsetzung dieses Rechts. Vom Beginn seiner politischen Trauerspieldichtung an hat Andreas Gryphius die Problematik voll erfasst, so unterschiedlich deren Facetten auch durch die Trauerspiele beleuchtet werden. Zwar wird der vanitas-Gedanke als Fluchtpunkt wohl in keinem anderen der Trauerspiele als der Catharina von Georgien derart häufig betont. Dennoch macht Gryphius auch hier die politische Ausweglosigkeit zum Ausgangspunkt, wie der erste Satz seiner eigenen Inhaltszusammenfassung zeigt: CATHARINE, Knigin von Georgien in Armenien / nach dem Sie ruhmwrdigst jhr Knig reich wider den grossen Knig in Persen zu vnterschiedenen malen beschtzet / jhres Schwehers vnd Ehegemahls Tod gerochen / vnd endlich von dem Knig auß Persen mit vnberwindlicher Macht vberfallen /hat Sie sich in eigner Person in das feindliche Lger begeben / vmb Frieden zu bitten: Alda sie stracks in gefngliche Hafft genommen […]. (GdW 6, Catharina von Georgien, Inhalt deß Traur-Spiels, S. 134)
Gryphius wählt seine Formulierungen mit allem systematischen Wissen und Geschick: Ursache der Niederlage waren nicht Unglück oder eigenhändige Fehler, sondern die schier „vnberwindliche Macht“ des Gegners Chach Abas. Wenn Gryphius noch im selben Satz erwähnt, dass auch noch die letzte Tür zu einer legitimen wie selbstständigen Lösung, nämlich „vmb Frieden zu bitten“, zugeschlagen wird, ist die genannte Ausweglosigkeit vollkommen: Alle den Georgiern menschlich-eigenständig zu Gebote stehenden Mittel – der gerechte Krieg wie auch das Friedensangebot – sind ausgeschöpft, das Problem jedoch ist nach wie vor nicht gelöst. Daher ist Gryphius’ Begriffswahl der unüberwindlichen Macht so treffend: In der Konstellation der irdischen politischen Akteure untereinander ist die Macht des Chach Abas die größte. Sie ist jedoch – daran lässt das Trauerspiel an keiner Stelle einen Zweifel – alles andere als legitim. Sie ist rein politische Macht und stützt sich nicht auf Recht. Dennoch soll das göttliche Recht mehr gelten als diese politische Übermacht eines politischen Akteurs. Wodurch also gewinnt dieses Recht seinerseits eine politische Macht, die diejenige des Chach Abas übertrifft?
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Dass Gryphius Macht und Recht als keinesfalls kongruent ansieht, spitzt er im Papinian in der geteilten Souveränität der zwei Kaiser weiter zu. Gryphius beweist ein regelrecht begriffslogisch geschultes Fingerspitzenfühl, wenn er den Protagonisten in dessen Eingangsmonolog die Disparatheit der beiden Begriffe beschreiben lässt: Welch rasen steckt euch an in Zanck verwirrte Brder! Ists billich daß ein Mensch selbst wt’ in seine Glieder Und eifer in sein Fleisch? Wie? Oder mag das Reich Das ersten Grund gelegt auff brderliche Leich / Nicht unter beyden stehn? (GdW 4, Æmilius Paulus Papinianus, I,1, S. 172, v. 39–43)
Papinian affirmiert sogar die systematisch ungeteilte Einheit der obersten Macht im Staat: Gerade davon zeugt seine Rede vom Wüten in denen eigenen Gliedern und dem Eifern im eigenen Fleisch. Dass diese oberste Macht sich selbst schwächt, ist für Papinian dabei nicht nur unsinnig, sondern vor allem unbillig und das heißt nach dem zeitgenössischen Begriff der Billigkeit: unrecht. Papinian schwant jedoch bereits die Erkenntnis, dass die systematisch ungeteilte Einheit der obersten Macht durch ihre personale Aufteilung sehr wohl gefährdet wird. Gerade mit dieser Erkenntnis einher geht die Unterscheidung von Macht und (ihrem) Recht: Ist bei der auch personal einheitlichen Souveränität das immanente Verhältnis von Macht und ihrer Legitimation als solches nicht problematisch, so ist es ein Trugschluss zu meinen, sie seien deshalb schon identisch. Der Fall Bassians und Getas belegt dies: Insofern ihre Macht geteilt ist, aber ihr Recht dazu dasselbe bleibt, d.h. ungeteilt ist und sein muss,30 wird die Differenz der Begriffe deutlich. Damit ist begrifflich erst die Möglichkeit begründet, dass es unrechte höchste Macht überhaupt geben kann, umgekehrt machtloses Recht. Soll aber ausgerechnet das höchste Recht eben nicht machtlos sein, um aus dem Dilemma des Ausnahmezustandes befreien zu können, so muss nach der Instanz seiner Geltendmachung gefragt werden. Sie ist gerade eine andere als der irdisch höchste bzw. eben nur gewaltsamste Machthaber. Von daher bestimmt sich auch Gryphius’ Sicht auf die englischen Independenten, über die er in den Anmerkungen zu Carolus Stuardus 1663 schreibt: „Man sihet hir auff die so genennete Independentes, welche wir Freysinnige oder Vngebundene nennen / eigentlich heissen es solche Leute / welche in Gewissens Sachen auff nimandes ihr Absehen haben“ (GdW 4, Carolus Stuardus B, Kurtze
30 Andernfalls nämlich wären entweder das Recht ebenso wie die Macht geteilt und damit zwei verschiedene Reiche mit je einem Kaiser Bassian bzw. Geta realisiert oder das Recht des einen größer als das des anderen und damit tatsächlich nur dieser im wirklichen Sinne der Souverän.
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Anmerckungen ber Carolum, S. 142). Er bestimmt ihr Unabhängigkeitsmotiv nur zum Einen nach dem Verhältnis zur politischen Herrschaft, insofern sie „selbst Haubt / Hirt und Bischoff“ zu sein anstreben bzw. dies meinen sein zu können.31 Damit sieht er zum Anderen den Kern des Problems in dem juridischen Irrtum, der sie leitet. Denn im Gewissen ist man dem einhelligen zeitgenössischen Diskurs nach nicht anderen Menschen, auch nicht dem König verpflichtet, sondern Gott. Wenn jedoch nicht einmal mehr die Gewissensqual als letzte Instanz des Skrupels im Menschen wirksam ist wie noch im Falle Chach Abas’ oder Bassians, wenn also die Menschen im Unterschied zu den Annahmen des melanchthonischen Innatismus (4.2.2.1f.) doch dazu in der Lage sind, ihr Gewissen zu manipulieren, sodass sie nicht einmal auf Gott „ihr Absehen“ haben, so spitzt sich das Problem, göttliches Recht geltend zu machen, weiter zu: Die Überwindung des Ausnahmezustandes im Rahmen des göttlich Erlaubten ist eines weiteren, irdisch vorhandenen Mittels beraubt. Es wird die deutliche Frage nach Gottes irdischer Strafinvention gestellt. Nicht nur das Beispiel Georg Schönborners wird zeigen, dass keineswegs nur der Gedanke einer allein jenseitigen göttlichen Strafe geläufig war.32 Gryphius’ Interesse am Ausnahmezustand schlägt sich also sowohl darstellerisch expositiv als auch gesamtdramatisch dispositiv nieder. Die ausnehmliche Situation des Herrschers bestimmt die Trauerspiele von Beginn an und führt ohne Umschweife in die Problemkonstellation des entweder gestürzten oder straffällig gewordenen Herrschers. Mit Catharinas und Charles’ Gefangenschaft gilt der faktenpolitische Ausnahmezustand in den Fällen von Catharina von Georgien und Carolus Stuardus schon vor Handlungsbeginn. In Leo Armenius und Æmilius Paulus Papinianus bestimmt er von Beginn an allemal die diskursive Problematik der Trauerspiele, gleichwenn gerade im Falle des Leo der faktische politische Ausnahmezustand erst am Dramenende eintritt. Leos skrupulöses Schwanken, politische Notwendigkeit oder den Weihnachtsfrieden Hauptmaxime im Umgang mit Michael Balbus sein zu lassen; Catharinas nur scheinbare Machtlosigkeit als georgische Königin gegenüber Chach Abas; die Kontroverse des Carolus über die je nur persönliche Auslegung des göttlichen Rechts; Bassians Zwiespalt zwischen personal ihm nur einheitlich denkbarem Machtanspruch und der Verpflichtung gegenüber dem Mitkaiser Geta und dem väterlichen Erblasser: Es scheint nachgerade so, als wolle Gryphius die Aspekte und denkbaren Konstellationen der Pro-
31 Ebd. 32 So nämlich Gerhard Kosellek: Das deutsche Barockdrama. Mit einem Exkurs über Andreas Gryphius’ ‚Leo Armenius‘. In: ders.: Silesiaca. Literarische Streifzüge. Bielefeld 2003, S. 115–129, hier S. 126.
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blematik rund um den status necessitatis regelrecht ‚durchdeklinieren‘ – Nezessität, der Rang der (List)Klugheit, je schon normative oder bloß dezisionistische Rechtsgeltung, Macht nicht nur als rechtspolitische Befugnis, sondern auch als rechtswirkliche Befähigung. In der Tat sind expositive und dispositive Funktion bzw. Wirkung des Ausnahmezustands nur schwer zu unterscheiden und wirken eng zusammen. Dies hat in der nicht bloß formalen, sondern auch gehaltlichen Bestimmung des Begriffs expositio seinen Grund: Sein formales Moment liegt in seinem Ort am Textanfang, sein gehaltliches Moment in der Aufgabe, das argumentum darzulegen. Insofern bedeutet dieses argumentum den dramatisch tragenden Sachverhalt, der die Disposition des Gesamtdramas auszumachen hat. Damit ist die Überschneidung oder sogar das Subordinationsverhältnis von dispositio (als leitendem und ordnendem Sachverhalt) und expositio (als Einführung des leitenden und ordnenden Sachverhalts) nicht von der Hand zu weisen.33 Dadurch dass der status necessitatis expositiv, also von Beginn an bestimmend ist, haben der Handlungs- und Diskussionsverlauf – die im Falle dieser Sprechdramen im Grunde gar nicht unterschieden werden müssen – ihren Reflexionshorizont immer am Ausnahmezustand. Dies ist auch dort der Fall, wo es sich wie bei den vermehrt stoizistischen oder martyrologischen Figuren- und Chorreden um Probleme suorum generum handelt: Sie gelten zwar als Probleme eigener Art, aber sie sind dies dennoch nicht nach eigenem Recht. Denn nur der Ausnahmezustand evoziert die Ausweglosigkeit, von der die constantia allererst auf den Plan gerufen wird. Erst die Befugnisproblematik erfordert die gleichsam gebotene und standhafte Unterlassung gotteslästerlicher Handlungen. Der gesamte Trauerspielverlauf zehrt von der Nezessität und ihren politischen wie rechtslogischen Aporien als von seiner wesentlichen Anlage, schöpft sein Potenzial ganz aus ihnen. In diesem Sinne bestimmt der Ausnahmezustand die gesamtdramatische Disposition. Wie aber seine Entfaltung durch Gryphius in den einzelnen Handlungsverläufen zeigt, gilt dies nicht bloß, weil er chronologische Initiale ist. Der Ausnahmezustand bestimmt den Handlungsverlauf nicht nur, weil er durch einen rein willentlichen Akt des Autors Gryphius expositiv gemacht wurde. Im Gegenteil sieht Gryphius wie seine Zeitgenossen das Problem des Ausnahmezustandes als dem Politischen wesentlich an. Er musste ihm das eigentlich Interessante am politischen Diskurs sein. Zwar war schon dem Mittelalter die Problematik des necessitas-Gedankens bekannt, allerdings wurde sie dort vor allem im Rahmen
33 Vgl. Bernhard Asmuth: [Art.] Exposition. In: RLW I, S. 548–550, hier S. 549; Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 3. Aufl. München 1982 (UTB 580), S. 124–137.
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der Lückenhaftigkeit der Gesetzesverschriftung gesehen und nur dementsprechend aufgelöst: Die necessitas verursacht diese Lücken nicht, sondern verweist nur auf sie, veranlasst sogar ihre Füllung und ist insofern selbst nur Rechtsquelle. Im Mittelalter ist die neccessitas juridisch letztlich unproblematisch.34 Anders als Giorgio Agamben meint, ist diese Integration des Notwendigen in die Rechtsordnung ebenso wenig genuin modern,35 wie das Bewusstsein für das Aporetische der Souveräntität erst postmodern wäre. Der mittelalterliche Begriff der necessitas konnte die umkämpfte Debatte um Staatsräson, autonomer prudentia und Rechtsgeltung, wie sie in der frühen Neuzeit geführt werden sollte, gar nicht hervorrufen. Denn er war mit Blick auf den Gesetzesbestand, nicht auf den Gesetzesbegriff gebildet. Erst der Ausnahmezustand im vermehrt rechtslogischen Bewusstsein des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts verdeutlicht – und hierin kann man sich mit Herfried Münkler historisch durchaus Carl Schmitt anschließen – die Souveränität als Grenzbegriff.36 Erst hier sind Probleme des Politischen in der Tat solche. Schon damit wird klar, dass mit einer moraldidaktischen Funktionszuweisung allein das Telos der gryphschen politischen Trauerspiele nicht umfassend begriffen wäre. Im siebzehnten Jahrhundert erlaubt die Beschäftigung mit dem Ausnahmezustand keine Lehre von Sachverhalten, die je schon fraglos wären und nur noch übermittelt werden müssten. Man kann daher die vornehmliche Inszenierung der Trauerspiele auf zeitgenössischen Schulbühnen als dem Gegenstand der Trauerspiele nicht angemessen verurteilen. Man kann aber ebenso umgekehrt den würdigenden Schluss ziehen, dass sich die damaligen Schultheater Stoffen anzunehmen in der Lage waren, die dem Schüler ihren Gehalt nicht nur plump indoktrinierten, sondern ihn allemal einer Problematik aussetzten, die noch nicht aufgelöst und zu zweifelsfreien Lehrsätzen geronnen war. Für einen Zeitgenossen der Nezessitätsdebatte konnte der darstellerische Anfangs- wie systematische Ausgangspunkt eines politischen Trauerspiels gar kein anderer sein als der Ausnahmezustand: Die expositio gehorcht hier der
34 Vgl. Johannes W. Pichler: Necessitas. Ein Element des mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechts. Dargestellt am Beispiel österreichischer Rechtsquellen. Berlin 1983 (Schriften zur Rechtsgeschichte 27), S. 48f. 35 Agamben: Ausnahmezustand, S. 36. 36 Schmitt: Politische Theologie, S. 9; Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, S. 187: „Erst das politische Denken der Neuzeit hat den Notstand, den politischen Ausnahmefall, zum Angelpunkt politischer Theoriebildung gemacht. Für das politische Denken des Mittelalters blieb der Ausnahmefall eine Ausnahme, und es war unvorstellbar, daß er den imperativischen Impuls der Theorie hätte bilden können.“
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Sicht auf den Gegenstand, nicht genuin der dichterischen Kunst.37 Sie ist mit der Wahl der politischen Thematik weniger gemacht als geboten. Ohne allzu sehr den Ergebnissen dieser Untersuchung vorzugreifen, kann hier dennoch Dietrich Walter Jöns’ treffliche, aber augenscheinlich wenig beachtete Feststellung mit allem Nachdruck neu bestätigt werden, dass nämlich „die signifikante Qualität der Dinge [und die ihrer Probleme] für Gryphius außer Frage steht. Das heißt, daß das Fundament einer feste Einzelbedeutungen gebenden ‚Symbolik‘ besteht, die weder durch den Dichter noch in der Dichtung erst existent wird […]“.38 Eine Exposition, die nicht schon unter dem Leitstern der necessitas steht, vermochte kaum auf eine zentral politische Dramenhandlung vorauszuweisen. Eine Disposition, die nicht vom Ausnahmezustand bestimmt ist, hätte das Politische nur als Nebensache zugelassen.
4.1.2 Der normative Primat im aristotelisch-thomistischen Rechtsdenken und die entschiedene Unzuständigkeit der prudentia für den Ausnahmezustand Wie im Gange dieses vierten Teils gezeigt werden soll, liegt Gryphius’ Innovationsleistung bereits in der Fragestellung begründet, nämlich danach, was im Falle dessen geschieht bzw. gültig zu erwarten ist, dass das weltliche Oberhaupt nicht mehr dem natürlichen und göttlichen Recht gemäß herrschen will oder kann, d.h. im Falle einer Tyrannis oder eines Umsturzes. Die Traktate aus dem Bereich der Jurisprudenz wie dem der Politik nehmen sich dieser Frage zum Großteil gar nicht an. Die juristische Traktatistik tut dies dabei aus anderen systematischen Gründen als die frühneuzeitliche Politikwissenschaft: Sie sieht sich vor allem für Normfragen zuständig. Ihre Behandlung der Tyrannis wie auch des Widerstands findet daher so gut als immer mit der Feststellung ihr Ende, dass diese vor dem natürlichen und göttlichen Recht illegitim sind. Die politischen Klugheitslehren der Zeit hingegen sind natürlich auch der non-normativen Sphäre verpflichtet. Dennoch lassen sie die von Gryphius beharrlich gestellte Frage außerhalb ihres Fokus’. Als Grund liegt die Vermutung
37 Vgl. ähnlich Brenner: Das Drama, S. 551f.: „Die politische Orientierung des Trauerspiels hat poetologische Folgen.“ 38 „[…] sondern im theologischen Bereich zuhause ist“. (Dietrich Walter Jöns: Das ‚Sinnen-Bild‘. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966 (Germanistische Abhandlungen 13), hier S. 79). Wie sehr diese festen Einzelbedeutung oder auch nur ihre Symbolik in der Tat und das meint vor allem: im Einzelnen ‚im theologischen Bereich zuhause‘ sind, gilt es dieser Untersuchung für das Feld des politischen Denkens Gryphius’ herauszufinden.
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nahe, dass sie als Vademecum des Regierenden wie seiner Räte wenig Sinn darin sehen, eine Situation zu besprechen, in welcher der Herrscher nicht mehr Herrscher ist. Offenbar war das disziplinäre Selbstverständnis der prudentia civilis insofern gefestigt, als es einer Lehre von den menschlichen Entscheidungen und Handlungen obsolet erscheinen musste, innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs Fälle zu besprechen, in denen dem Menschen zu handeln unmöglich geworden ist. Dies ist ganz im Sinne der aristotelischen Tradition, schließlich hält dieser in der Nikomachischen Ethik unmissverständlich fest, dass die Klugheit sich mit Sachverhalten, die nicht zu ändern sind, nicht zu befassen habe („[…] βουλεύεται δ’οὐθεὶς περὶ τῶν μὴ ἀδυνάτον ἄλλως ἔχειν“).39 Das verwundert um so mehr, als der Machiavellismus gerade nicht den Mo narchomachen, sondern den politischen Theorien des Absolutismus die größeren Schwierigkeiten bereitete: So große Erfolge der Absolutismus realpolitisch nämlich bisweilen feiern konnte, so wenig darf dies übersehen lassen, dass seine politische Theorie von Beginn an einen ‚Zwei-Fronten-Krieg‘ führte und führen musste. Es galt zum Einen, die monarchomachische Behauptung eines Widerstandsrechts zu widerlegen. Ebenso aber galt es zum Anderen, den Vorwurf der naturrechtlichen Indifferenz des absoluten Herrschertums zu widerlegen, wollte man den rex legibus solutus nicht als Opportunisten hingestellt wissen.40 Damit wurde sich aber eine Erklärungsnot eingehandelt, die den gesamten politischen Diskurs bis Gryphius (und über ihn hinaus) bestimmte: Soll auch der absolute Herrscher transhumane Gesetze nicht nur instrumentalisieren, sondern sich nach ihnen richten, so heißt das, dass sie auch für ihn gelten. Das ist allemal systematisch, keinesfalls aber problemgeschichtlich trivial: Sobald nämlich der absolute Herrscher nicht mehr nur als Erfüllungsinstanz dieser Gesetze diskutiert wird, schlägt diese einfache rechtslogische Folgerung in die Gegenfrage wider den Absolutismus um: Wie werden denn diese natürlichen und göttlichen Gesetze geltend gemacht, wenn sich der Herrscher nicht mehr an sie hält?
39 Aristoteles: Εθικων Νικομαχειων, 1140 a31–32. In der Tat scheint mir dieses Moment der Klugheitsbestimmung das aristotelische Traditum zu sein, dass die größte Beharrungskraft sowohl in neoaristotelischen als auch vermehrt ramistischen und sogar dezidiert antiaristotelianischen Politiken zeigt und nicht etwa die politische Anthropologie des animal politicum (so etwa Dieter Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen. In: Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius. Hg. von Emilio Bonfatti, Giuseppe Duso, Merio Scattola. Wiesbaden 2002 (Wolfenbütteler Forschungen 100), S. 133–164, hier S. 148). 40 Vgl. Niklas Luhmann: ‚Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik‘. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 2. Aufl. Bd. 3. Frankfurt am Main 1998 (stw 1093), S. 65–148, hier S. 94.
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Eine Bewegung entlang des Höhenkamms praktisch-philosophischer Ideengeschichte vermag hier kaum die in 3.1 entwickelten Ansprüche einzulösen, mithin nicht aufzudecken, inwiefern genau Gryphius unter seinen Zeitgenossen Neuerungen aufnahm bzw. sogar anstieß.41 Es bedarf des Blicks in die zeitgenössisch verbreiteten, heute jedoch nur noch spärlich bearbeiteten politischen Reflexionen des ausgehenden sechzehnten und frühen bis mittleren siebzehnten Jahrhunderts. Dort ist zu beobachten, in welchen Punkten die angeführte aristotelische Auffassung ihre stete Wirkung zeigte. Insofern die antiaristotelische de dicto-Polemik nachgerade zum mentalitätsgeschichtlichen Inventar der Zeit gehörte, ist der Blick in die Traktatistik selbst unabdingbar, um die demgegenüber kontrafaktischen de facto-Übernahmen aristotelischer Überzeugungen nachzuweisen.
4.1.2.1 Justus Lipsius Dass der große niederländische Philologie und politische Philosoph Justus Lipsius (1547–1606) nicht nur für seine Gegenwart, sondern noch für das ganze siebzehnte Jahrhundert von Bedeutung war, braucht nicht weiter dargelegt zu werden. In der Gryphiusforschung herrscht der breite und berechtigte Konsens, dass Lipsius auch für den schlesischen Dichterjuristen prägend war. Lipsius’ Ruhm war jedoch in der Tat so verbreitet und seine Lehren fanden in so verschiedenen Lagern Anwendung, dass die Feststellung, er sei für Gryphius wichtig, ebenso zutreffend wie unspezifisch ist. Es ist hier daher nicht der Forschung zu widersprechen, dass Lipsius bedeutsam war. Sie ist vielmehr um die Erläuterung zu erweitern, inwiefern Lipsius’ Lehre in den De Constantia libri duo (1584) sowie den Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex (1589) für Gryphius tragend und relevant gewesen sein mag. Trotz seiner tatsächlich „schroffen“ Bevorzugung des autoritär-absoluten Monarchen,42 kommt Lipsius schon in seiner Erläuterung des Tyrannenbegriffs auf Aspekte zu sprechen, die eine durchaus differenzierte Haltung zum Widerstandsrecht offenlegen: „Tertia inter Ciuilis belli caussas , Tyrannis. Quid ea est? Violentum unius imperium, præter mores et leges. Aio violentum, quia in
41 Vgl. Hans Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität. In: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Hg. von Hans Ebeling. Frankfurt am Main 1976 (stw 1211), S. 144–207, hier S. 146: „Gelegentlich verhelfen zweitrangige Texte, gerade weil sie präparativ verfahren, dazu, einen Sachverhalt schärfer wahrzunehmen.“ 42 So Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992 (Studia Augustana 4), S. 106.
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cōmuni omniū odio, necessariò Tyrannus decurrit ad hoc asylū“.43 Lipsius versteht die Gewaltsamkeit des Tyrannen als Resultat eines dem Herrscher bereits entgegenschlagenden Hasses, – ein Gedanke, den er unverkennbar von Machiavelli übernimmt.44 Lipsius nennt hier seinen eigentlichen Ideengeber jedoch nicht beim Namen, sondern versucht die These in der Sache einer anderen Autorität zuzuschreiben, nämlich Seneca: Er führt ein Seneca-Zitat an, das zwar in inhaltlich ähnlicher, argumentativ jedoch nicht hinreichender Weise davon spricht, dass „dasjenige um so strikter durch Waffengewalt geschützt wird, von dem man weiß, dass es dem Willen der Bürger zuwider ist“.45 Nur Machiavelli vollzieht Lipsius’ Argumentationsbewegung in derselben Weise und spricht von einer Verursachungskette von Hass, Furcht, Gewalt und Tyrannis: „[I]n modo che, cominciando il principe a essere odiato e per tale odio a temere, e passando tosto dal timore all’offese, ne nasceva presto una tirannide“.46 Desweiteren führt Lipsius aus Tacitus’ Agricola eine für den zeitgenössischen Status quo der politischen Debatten innovativen Gedanken ein: Gott erhalte ehrbare Leute zum Nachteil des Tyrannen.47 Jedoch erfolgt diese besondere Erhaltung nicht zu dem Zweck, dass diese aktiven Widerstand leisteten. Vielmehr lassen sie in ihrer vorbildlichen Tadellosigkeit die Tyrannei gleichsam korrodieren. Wie genau sich Lipsius diesen quasi determinierten Prozess vorstellt, lässt er indessen unausgesprochen: Geht es um die Annahme des positiven Vorbilds durch den Tyrannen, der sich daraufhin zum guten Herrscher bessert? Sei es auch nur, dass der vormalige Tyrann seine Herrschaftspraxis nur ändert, weil er die Unehre scheut, die er sich mit seiner Tyrannis zugezogen hat: Unter dieser Lesart hätte diese doch nur pragmatische Haltung einen dennoch unmittelbaren Erfolg. Oder geht es um eine Vorbildsfunktion für die künftigen Herrscher, insofern sie von der tyrannischen Herrschaftspraxis ihres Vorgängers Abstand nehmen? In der Vertröstung auf kommende Herrschergenerationen macht diese Interpretation nurmehr eine mittelbare Wirkung der Tugendhaftigkeit aus. Dennoch wäre
43 Justus Lipsius: Politica Sive Civilis Doctrina. Leyden 1589, S. 352f. 44 Dieser übernimmt ihn offenbar wiederum von Polybios, den Lipsius ebenso nicht selbst nennt: Niccolò Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe übers., eingel., erl. u. hg. von Rudolf Zorn. 2. Aufl. Stuttgart 2007 (Kröners Taschenausgabe 377), S. 425. 45 Lipsius: Politica, S. 353: „Seneca Herc. Fur. Quod ciuibus tenere te inuitis scias, Strictus tuetur ensis“ [Hervorhebung im Text]. 46 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, I,2, S. 21. 47 Justus Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex. Leiden 1590, S. 291: „Nam contrá, punitis ingeniis gliscit auctoritas. Neque aliud externi reges, aut qui eâdem sævitiá vsi sunt, nisi dedecus sibi, atque illis gloriam peperêre“ [Hervorhebung im Text].
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auch hier der Tugendhaftigkeit ein dergestalt wirkmächtiger Mechanismus zugeschrieben, dass sie politische meliorative Wirkung zeitigt. Auch hier hätte man es mit einer Sicht auf Tugendhaftigkeit und Beständigkeit zu tun, die nicht mehr allein einem fatalistischen constantia-Gedanken verpflichtet ist. Beständigkeit wird damit nicht allein individualethisch gedacht, sondern die gesamte civitas profitiert von der Besserung des Tyrannen oder seiner Nachfolger. Indem Lipsius den Tyrannen weiter als permanent vom Gewissen gequälten Menschen charakterisiert, nimmt er ein weiteres remedium wider die Tyrannis vorweg: „Adde cruciatus & tormenta interna. Nam si Tyrannorum mentes recludantur, possint aspici laniatus & ictus. quando vt corpora verberibus, ita sævitiâ, libidine, malis consultis animus dilaceretur. [Marginalie:] Tac. VI. Ann.“.48 Der innere Gerichtshof des Gewissens ‚erledigt‘ die Bestrafung zum Gutteil selbst. Tacitus ist hier jedoch vermehrt humanistisch-rhetorisches Schmuckwerk. Die eigentliche systematische Tradition, wie sie sich bei Lipsius niederschlägt, ist die Gewissenstheorie seit Augustinus. Schon Augustinus unternimmt die formelle, besonders aber instanzielle Bestimmung des Gewissens, insofern er conscientia als ein Wissen um das eigene Stehen vor Gott begreift.49 In bilderreichen Schilderungen des Gewissens z.B. als Stachel liefern auch Origenes und Chrysostomos eine Vorstellung des Gewissens nicht nur als Ort des moralischen Urteils, sondern auch einer ersten Urteilsvollstreckung.50 Dies ist laut Seneca ebenso schon von Epikur gedacht worden, indem dieser von einem geißelnden Gewissen spricht.51 Den umfassenden Charakter der Gewissenstätigkeit als einer gleichermaßen aufdeckenden, strafenden, belehrenden und mahnenden Instanz formuliert bereits Philo Alexandrinus. Er behauptet auch die für Lipsius so wichtige Konstanz des Vorhandenseins sowie der Funktionstüchtigkeit des Gewissens.52 Die Zuspitzung der Vorstellung
48 Ebd., S. 292 [Hervorhebung im Text]. 49 Vgl. Hans Reiner: [Art.] Gewissen. In: HWPh 3, S. 575–592, hier S. 580. 50 Ebd. 51 Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch. Bd. 4: Ad Lucilium Epistulae Morales. Hg. von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1995, lib. 16, ep. 97, 15, S. 520: „[H]ic consentiamus [cum Epicuro], mala facinora conscientia flagellari et plurimum illi tormentorum esse eo quod perpetua illam sollicitudo urget ac uerberat“ [Hervorhebung O.B.]. 52 Philo Alexandrinus: De decalogo. In: Die Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Leopold Cohn. Bd. 1. Berlin 1909, S. 369–409, hier S. 390: „Denn das jeder Seele angeborene und in ihr wohnende Gewissen, das nicht gewohnt ist etwas Unrechtes zuzulassen, das nur den Hass gegen das Schlechte und die Liebe zur Tugend kennt, ist Ankläger und Richter zugleich; wenn es einmal geweckt ist, tritt es als Ankläger auf, beschuldigt, klagt an und beschämt; als Richter hinwiederum belehrt es, erteilt Zurechtweisung, mahnt zur Umkehr; und hat es überreden können, dann ist es erfreut und ausgesöhnt, konnte es das aber nicht, dann kämpft es unversöhnlich
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von einer Gewissensqual auf eine intramentale Höllenqual (Lipsius: „cruciatus & tormenta interna“) erfolgt in der frühen Neuzeit prominent durch Luther: „[E]in bse gewissen ist die Helle selbs, und ein gut gewissen ist das Paradis und himmelreich“.53 Ebenso war es Luther an gleicher Stelle, der mit Blick auf den tyrannischen Herrscher die Gewissensinstanz in gerade doppelter Hinsicht funktionalisiert: Zum Einen fungiert das forum internum nicht bloß entlastend für den Unschuldigen, sondern besonders für den Leidenden – derjenige hat das reinste Gewissen, der nicht nur kein Unrecht tut, sondern Unrecht erleidet. Zum Anderen birgt schon sein Gewissensverständnis strukturell das göttliche Strafversprechen für eine schlechte Obrigkeit in sich, gegen die von unten sich aufzulehnen laut Luther ebenso illegitim ist.54 Das Gewissensargument wird bei Lipsius in ähnlicher Weise in das Argument von Gottes Richtstuhl integriert. Mit der Verschränkung (nicht Identität!) von forum internum (Gewissen) und forum Dei stellt die Gewissensqual bereits eine erste irdische göttliche Strafe dar. Lipsius greift der entscheidenden Frage Gryphius’ und seiner Zeitgenossen in einem wichtigen Punkt vor: Die göttliche Straftätigkeit ist in der Tat nicht bloß jenseitig. Lipsius versucht damit den Ansatz, auf den sich später Keckermann eher ablehnend beziehen wird: Die
und gibt Tag und Nacht keine Ruhe, sondern versetzt unheilbare Stiche und Wunden, bis es das elende und fluchwürdige Leben vernichtet hat.“. 53 WA 38, S. 113. 54 WA 38, S. 112f.: „[U]nrecht thun kan nicht on bse, betrbt, unrgig gewissen bleiben, Ja auch die jhenigen, so zu straffen und zu rechen befelh haben und recht dran thun, mssen jnn der fahr und sorge stehen, das sie zu viel odder zu wenig thun, und knnen nicht so ein fein, still, rein gewissen haben als die so unrecht leiden. […] freude uber alle freude ist ein gut, sicher gewissen, Und leid uber alles leid ist das hertzleid, das ist ein bse gewissen. Denn ein bse gewissen ist die Helle selbs, und ein gut gewissen ist das Paradis und himmelreich […] Also seid ir nu auch mit unschldigem leiden von Leyptzig gescheiden, und lasst ewre Tyrannen da selbs jnn jrem unrecht bleiben, Es gelte nu, wer am besten dran sey und wer gewonnen habe“. Vgl. Andreas Solbach: Amtsethik und lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius’ ‚Papinianus‘. In: Daphnis 28 (1999), S.631–673, hier S. 665. Vor dem Hintergrund der Repressionen Herzog Georgs des Bärtigen von Sachsen gegen die Evangelischen 1533 in Leipzig (vgl. ausführlich Christoph Volkmar: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525. Tübingen 2008 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 41), S. 543–553) erklärt Luther in dieser Schrift Verantwortung der aufgelegten aufrur das Gewissen als allein Gott verantwortlich, womit diese Instanz unverhandelbar und nicht instrumentalisierbar ist: Der Anfrage des Leipziger Lutheraners Dominikus Holtz, ob die Evangelischen um des bürgerlichen Friedens Willen ein katholisches Bekenntnis vortäuschen dürften (vgl. O. Brenner: [Vorbemerkung zu:] Verantwortung der aufgelegten Aufruhr 1533. In: WA 38, S. 86–96, hier S. 88.), erklärt Luther eine klare Absage, insofern dies das kurzfristige Leiden unter Georg zwar schmälern, die langfristige Qual des Gewissens und der göttlichen Strafe nur verstärken kann.
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in der Gewissensqual der Tyrannen sich realisierende göttliche Strafe soll das Widerstandsrecht ebenso auszuräumen erlauben wie es das ‚eigentliche‘ Bedürfnis der Monarchomachen zu befriedigen sucht, nämlich das nach der Bestrafung des Tyrannen. Indem diese Gewissenstheorie ebenso Widerstand verbietet wie es die Strafe des Tyrannen verspricht, versucht sie zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Das Souveränitätsrecht auf unantastbare irdische Herrschermacht wird ebenso gestützt wie die naturrechtliche Pflicht zur guten Herrschaft. Es ist bemerkenswert, dass es Lipsius in der Erläuterung der Tyrannis- und Widerstandsrechtsfrage der Politica bei der Gewissensstrafe belässt. Denn noch fünf Jahre zuvor, in De Constantia war das erwogene Spektrum göttlicher Strafe wider die Tyrannis deutlich umfangreicher. Diese fand auch im forum externum statt: Lipsius widerlegt den Vorwurf an Gott, seine Strafen ungleich bzw. zu zögerlich auszuüben. Dabei verweist Lipsius erstens auf Gottes höchste und eigenständige Macht, zweitens auf die historischen Beispiele des Caligula, Nero und Tiberius: ‚Aber‘, wirst du sagen, ‚ich hätte gerne, daß dieser Tyrann jetzt bestraft würde, so daß mit seinem jetzigen Tod so viele arme unterdrückte Leute Genugtuung fänden. Dann würde uns die Gerechtigkeit Gottes heller erscheinen.‘ Nein! Vielmehr würde mir dein Stumpfsinn heller erscheinen. Denn wer bist du, daß du Gott nicht nur die Strafe, sondern auch die Zeit und Stunde, zu der diese erfolgen soll, vorschreiben dürftest? […] Du wirst von Zorn und Rachgier getrieben, von der er so weit wie nur möglich entfernt ist, er, der auf die Beispielhaftigkeit schaut und auf die Verbesserung anderer. Er weiß am allerbesten darüber Bescheid, welchen Menschen die Bestrafung nützlich sein könnte und warum. Der Zeitpunkt ist äußerst wichtig, und die heilsamste Medizin ist schon oft, wenn sie nicht zur rechten Zeit eingegeben wurde, zu Gift geworden. Gott hat Caligula in der ersten Phase seiner Tyrannis hinweggenommen. Nero hat er ein bißchen länger wüten lassen. Am längsten Tiberius. […] Ihm [sc. Gott] scheint es eingepflanzt zu sein, daß er mit sehr langsamen Schritten darangeht, zu strafen, dieselbe Langsamkeit aber mit um so schwererer Strafe aufwiegt.55
55 Justus Lipsius: De Constantia libri duo, Qui alloquium praecipuè continent in Publicis malis. Antwerpen 1584, II,13, S. 115f.: „Sed vellem, inquies, Tyrannum illum nunc puniri, & præsenti cæde eius satisfieri tot oppressis. clarior enim ita nobis dei iustitia. Clarior iustitia? imò tuus mihi stupor. Quis enim tu ille es, qui deo non ad pœnam solum præeas, sed eius etiam tempora præscribas? […] Te calor exagitat, & aufert vindictæ quædam cupido. à quibus ille remotissimus, Exemplum spectat, & correctionem aliorum. Scit autem optimè quibus ea vtilis esse, & quando. Magna momenta temporum sunt, & saluberrima sæpe medicina abiit in perniciem data non opportunè. Caligulam in primo tyrannidis suæ cursu sustulit: Neronem grassari paullò diutius siuit: diutissimè Tiberium. […] cui [sc. Deo] videtur insitum, vt lento gradu ad vindictam sui procedat, tarditatémque supplicii grauitate compenset“. Übers. nach Neumann: ders.: Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch – Deutsch. Übers. u. komm. von Florian Neumann. Mainz 1998 (excerpta classica XVI), S. 259–261 [Hervorhebung im Text].
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Die göttliche Strafe fällt gerade umso stärker aus, je später sie erfolgt. Gott iniquitas vorzuwerfen ist damit ebensowenig begründet, wie Widerstand legitimiert ist. Gerade darin scheinen jedoch auch die Schwächen der von Lipsius gewählten Beispiele auf. Offensichtlich gewahrt Lipsius erst nach De Constantia den eigentlich politischen Hergang jener „magna momenta temporum“, die er hier nur anstößt, jedoch nicht vertieft: Caligula wurde von Prätorianern ermordet; Nero wurde vom Senat und dem an Macht gewinnenden Lucius Galba entmachtet und in den Selbstmord getrieben; Tiberius schließlich war vom Prätorianerpräfekten Lucius Seianus zum Rückzug auf Capri überredet und praktisch seiner Macht beraubt worden. Dass Lipsius in der Widerstandsdiskussion seiner Politica diese Beispiele nicht mehr anführt, hat einen naheliegenden Grund: Politischer Widerstand ließ sich kaum plausibel durch historische Verweise auf göttliche Strafen deskreditieren, die selber nur im aktiven Widerstand von Untertanen bestanden. Warum Lipsius in der Politica jedoch die göttliche Strafe im forum externum ganz aus dem Katalog seiner Contra-Argumente gegen untertänigen Widerstand streicht, kann nicht beantwortet, sondern nur vermutet werden: Entweder fehlte es ihm hierfür an schlagenden Beispielen einer göttlichen Strafe, die sich nicht im Widerstand realisiert; oder er sieht diese Frage implizit schon durch die Naturkatastrophen etc. beantwortet, allerdings ohne diese im Tyrannenkapitel als Strafe zu systematisieren. Wie Keckermann nach ihm sieht Lipsius die rein pragmatische Möglichkeit, einer Tyrannis durch Abschaffung Herr zu werden.56 Im Unterschied zu Keckermann jedoch führt er diesen Gedanken nicht weiter aus. Zwar weiß er ein illustres Beispiel anzuführen, das der alten Griechen nämlich, die jenen göttliche Ehren zuschrieben, die einen Tyrannen töteten. Dafür kann sich Lipsius auf niemand Geringeren als Cicero in seiner Rede für Milo beziehen. Dies erlaubt ihm, sich vor dem Hintergrund eines ciceronianisch geprägten Humanismus durchaus affirmativ zum Widerstand zu äußern: „Nec ego reprimo [...]“.57 Dennoch wendet sich Lipsius normativ gegen Widerstand. Sollte daran bis an diese Stelle Zweifel bestanden haben, so macht der Text nunmehr unzweideutig klar, dass damit auch ein Widerstandsrecht systematisch ausgeräumt wird. Zunächst spricht gegen den Widerstand die „Norm der Weisheit“.58 Dabei betont Lipsius besonders das prudentielle Moment dieses Arguments. Denn es ist vor allem die Nutzenerwägung des öffentlichen Wohls, das in seinen Augen der Widerstandshandlung die Duldung der Tyrannis vorziehen soll.
56 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 292f. 57 Ebd., S. 293. 58 Ebd.: „Sed tamen hoc alterum magis è Sapientiæ normâ censeo, & sæpius è publico vsu.“
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Mit der Frage, warum das öffentliche Wohl von einer Widerstandshandlung mehr bedroht als gerettet wird, stößt man nun auf den theologischen Grund der Argumentation der Politica: Lipsius antwortet mit der rhetorischen Frage, „nónne à Deo reges sunt?“.59 Systematisch leitend ist dabei natürlich nicht die als einziger Beleg angeführte Tacitus-Stelle, man solle sich nicht mit dem Blut irgendeines Fürsten besudeln.60 Bestimmend ist die verschwiegene, aber im Wortlaut unüberhörbare Berufung auf Röm 13: „Non est potestas nisi a Deo“,61 den offenbarungstheologischen Leitsatz jedweder politischen Theologie im Allgemeinen und der absoluten Souveränitätslehren im Besonderen (wobei sich auch von Seiten der Monarchomachen in bestimmter Weise auf Röm 13 berufen wurde). Aus dieser Prämisse folgert Lipsius in wiederum prudentieller Hinsicht, dass ein Aufstand gegen die Herrschaft Bürgerkrieg nach sich ziehe. Dieser sei allemal schlimmer als jede noch so große Tyrannei.62 Wohl gerade deshalb betont Lipsius im unmittelbaren Anschluss die Gottgewolltheit auch der Tyrannis, insofern nämlich alle Übel himmlischer Herkunft seien. Daher sei die Tyrannei nur genauso zu ertragen wie Naturkatastrophen.63 Damit denkt Lipsius nicht schon in antik-stoischer Manier einen universalen, d.h. auch die menschlichen Handlungsspielräume einengenden Determinismus. Tatsächlich erwägt Lipsius den Widerstand: Dem Menschen ist die Möglichkeit, einen Tyrannen zu stürzen, nicht schon immer entzogen wie diejenige, ein Erdbeben zu verhindern o.ä. Durch ihrer beider göttlicher Abkunft werden Naturkatastrophen und Tyrannei aber gleich, einmal insofern der Mensch gegen eine Katastrophe nichts tun kann, ein andermal insofern er gegen einen Tyrannen nichts tun darf. Lipsius sieht den Zweck des von Gott verfügten Übels in dessen Strafcharakter: Denn das tyrannische Verhalten des Herrschers ist ihm notwendig durch das Temperament der ungehorsamen Untertanen verursacht (genauso gründet umgekehrt die herrschaftliche Milde nicht in der Regierungsart der Könige und Fürsten selbst, sondern im Temperament der Gehorchenden).64
59 Ebd. 60 Ebd.: „Tac. XV. Annal. [Marginalie] ergo anceps, caede se qualiscumque Principis cruentare.“ 61 Röm 13, 1. 62 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 294: „Peius detriusque esse tyrannide siue iniusto imperio, bellum Ciuile“ [Hervorhebung im Text]. 63 Ebd.: „Vt celestia omnia mala [Marginalie] A deo enim ista & ab alto. & quomodo sterilitatem, aut nimios imbres, & cetera naturæ malæ, sic luxum & auaritiam dominantium tolerare debemus. [Marginalie:] Tac. IV. Hist.“ [Hervorhebungen im Text]. 64 Ebd., S. 295: „Regum ducumque clementia non in ipsorum modò, sed in illorum qui parent ingeniis sita est“ [Hervorhebung im Text].
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Damit ist aber der Umkehrschluss schon vorweggenommen: Durch eine Widerstandshandlung provoziert der Untertan selbst das Schicksal bzw. ein Urteil: „[C]ontumaciâ atque inani iactatione famam fatúmque prouocas“.65 Damit ist natürlich kein Urteil seitens des Tyrannen gemeint. In diesem Falle hätte Lipsius poena geschrieben. Das sah der Übersetzer der zeitgenössischen deutschen Fassung, Melchior Haganaeus, genauso und übersetzt fama mit Gottes Strafe.66 Sonach wendet sich Lipsius gegen das Argument der Freiheit. Dieses sei insofern nicht schlüssig gegen die Tyrannei aufzubringen, weil es gegen jedwede Herrschaftsform schlagend wäre: Denn auch die besten Herrscher gewähren Freiheit nur nach Maß.67 Hier sieht man am prominenten Beispiel Justus Lipsius’, dass vor Rousseau und Kant die Freiheit als Argument für Widerstandsrecht nicht eingesetzt werden konnte: Solange nämlich Recht als Beschränkung und nicht als Verwirklichung von Freiheit angesehen wird, erscheint die Feststellung, dass gesetztes Recht gegen die natürliche Freiheit verstoße, als bloß trivial .68 In Bezug auf seinen Freiheitsbegriff betont Lipsius die Vorzüglichkeit einer jedweden Herrschaftspraxis: Im Vergleich zu einer zwieträchtigen Freiheit ist es weitaus nützlicher, wenn es einen gebe, dem man dienen könne.69 Im Ergebnis mag sich Lipsius damit proto-hobbesianisch ausnehmen. Allerdings gründet Hobbes die kategorische Prävalenz des status civilis vor dem status naturalis auf die Widersprüchlichkeit des Naturrechtsbegriffs,70 nicht wie Lipsius auf die Vorstellung einer empirischen, chaotischen Freiheit. Zusammenfassend ist natürlich an Michael Stolleis’ Urteil anzuschließen, dass Justus Lipsius eine Vermittlung der seit Machiavelli erstarkenden pragmatischen Perspektive und den normativen Vorstellungen der naturrechtlichen und rechtstheologischen Tradition versucht. Das Kapitel gegen die Tyrannis ist auf
65 Ebd. 66 Justus Lipsius: Von Vnterweisung zum Weltlichen Regimēt: Oder / von Burgerlicher Lehr / Sechs Bücher […] So fürnemlich auff den Principat oder Fürstenstand gerichtet […] übergesetzet. Durch Melchiorem Haganaeum. Amberg 1599, S. 348: „Dann mancher offt vngehorsamb ist / vnnd durch widerspnstigkeit vñ mutwillen/ ldet Er jme selbsten ein bß Gercht / vnd Gottes Straff oder verhnknus ber den Hals.“ 67 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 295: „Plenam meramque libertatem spiras nescius, quomodo peßimis Principibus sine modo dominationem; ita quamuis optimis modum libertatis placere“ [Hervorhebung im Text]. 68 Vgl. Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit; Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. 69 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 295: „Assiduè cogita: quanto libertate discord seruientibus sit vtilius, vnum esse cui seruiant“ [Hervorhebung im Text]. 70 Vgl. Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, S. 69–75.
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die handlungstheoretische Zweckfrage hin aufgestellt und ausformuliert, was seitens der Untertanen im Falle einer Tyrannis zu unternehmen ist. Ebenso ist das Telos des Kapitels eine Handlungsregel, so lautet nämlich der letzte Satz: „Concludo igitur, Ferenda regum ingenia, neque vsui crebras mutationes“.71 Schon das Gerundiv darf jedoch nicht übersehen lassen, dass es sich hier nicht etwa um eine nur anempfohlene Handlungsalternative handelt, die nach genuin prudentiellen Gesichtspunkten lediglich ratsamer als andere wäre (eben Widerstand und Tyrannenmord). Tyrannei zu ertragen und zu dulden, ist die von Lipsius herausgestellte Norm. Blickt man darauf zurück, wie Lipsius diese Handlungsanweisung normativ einholt, treten die Grenzen der möglichen Relevanz Lipsius’ für Gryphius deutlich zu Tage: Wenn sich seine Überlegungen nämlich auf ein Widerstandsverbot hin zuspitzen, beruft sich Lipsius auf vorgelagerte Theologeme, besonders dasjenige der höllengleichen Gewissensqual und dasjenige der Göttlichkeit aller Herrschermacht nach Röm 13,1. Er diskutiert jedoch nie diese normative Grundlage selbst, sondern akzeptiert sie als je schon gültig. Hier ist die oben in Klammern geführte Bemerkung nunmehr auszuklammern: Auch monarchomachische Theorien wie die des Althusius wissen sich auf Röm 13,1 zu berufen. Damit wird diese Bemerkung zum veritablen wie virulenten Einwand. Die Göttlichkeit der weltlichen Macht wird dort insofern zum Drohargument der Untertanen gemacht, als gerade sie diese göttliche Macht dem einen Herrscher lediglich delegiert hätten. Die Schlagkraft des Theonomie-Arguments wird so gerade auf die Seite der Untertanen gezogen. Justus Lipsius stellt die Erörterung des Widerstandes unter eine vermehrt pragmatische Leitperspektive, ohne sich von impliziten politisch-theologischen Annahmen normativer Art zu befreien. Damit lässt sich Entscheidendes hinsichtlich seiner Bedeutung für Andreas Gryphius sagen: Lipsius’ pragmatische Erörterung des Widerstands bzw. der Widerstandspraxis ist insofern unvermittelt, als die fundamentale, dabei aber eben wesentlich jurisprudentielle Frage des Widerstandsrechts gar nicht erörtert wird. Gleichwohl stellt sich Lipsius diese Frage: Das zeigt sich schon in nichts weniger als der schlicht gesetzten Entscheidung Lipsius’, dass Widerstand illegitim ist. Lipsius wählt also lediglich eine pragmatische Perspektive, nicht aber ein pragmatistisches Apriori. Die Distanzierung von diesem, eben machiavellischen Überbau politischer Theorie ist schließlich stetes Anliegen des gemäßigten Tacitismus.72 Lipsius erörtert die wesentlich juridische Frage nach dem Widerstandsrecht jedoch nicht. Ebenso wenig lässt er sie unter echtem pragmatistischem
71 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 296. 72 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status.
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Apriori überflüssig werden: Daher verhält er sich gegenüber der Juridizität von Souveränitäts- bzw. Widerstandsrecht in der Tat nicht indifferent, sondern insolvent: Er löst den Begründungsbedarf seiner dem Anspruch nach innovativen Theoretisierungsstrategie nicht ein. Eben darum ist Justus Lipsius nicht als ausschlaggebende Quelle des Gryphius zu konstatieren. Mithin ist es mit der bloßen Kontextualisierung des Schlesiers mit Lipsius nicht getan: schlicht weil in der herausgestellten, eminent jurisprudentiellen Frage, die Gryphius in all seinen politischen Trauerspielen zentral interessiert, Lipsius mit seinem nur aposteriorischen Pragmatismus und seiner fundamentaljuridischen Insolvenz den Ausschlag gar nicht geben kann.
4.1.2.2 Johannes Althusius Die geschichtliche Bedeutung des calvinistischen Rechts- und Staatsphilosophen Johannes Althusius (1563–1638) ist umstritten – ebenso die Einordnung seines Staatsdenkens zwischen Tradition und Innovation.73 Diese Auseinandersetzungen weiterzuführen, kann an dieser Stelle nicht Aufgabe sein. Gleichwohl ist der politisch-theologische Charakter seines Staatsdenkens nicht von der Hand zu weisen. Eine politische Theologie bei Althusius wird dennoch bisweilen sowohl von denen bestritten oder zumindest als geringfügig erachtet, die dem Emdener Stadtsyndikus große Wirkung zuschreiben,74 als auch von denen, die ihn zwischen Bodin und Hobbes bis Rousseau und Kant als nur geringfügig wirksam erachten:75 Die Grundlegungen dieser nur effektiven Übereinstimmung differieren. Einmal wird in Althusius’ föderaltheoretischer Staatslehre eine nur gewissermaßen depotenzierte politische Theologie gesehen. Den politischen Akteuren steht ein normativer Handlungsspielraum offen und sie genießen im Rahmen
73 Vgl. als Beispiele der jüngeren Vergangenheit: Peter Nitschke: Religion und Politik in der Föderaltheorie des Johannes Althusius. In: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Hg. von Manfred Walther. Baden-Baden 2004 (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 5), S. 141–149; Karl-Wilhelm Dahm: Traditionsbezug und Systemtranszendierung. Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie. In: ebd., S. 151–159. 74 So etwa Dahm: Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie, unter besonderem Verweis auf die politische Wirkung von Althusius’ Denken für die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika (S. 156–158). 75 So Nitschke: Religion und Politik in der Föderaltheorie des Johannes Althusius, in eben dieser – durchaus zutreffenden Sicht – auf Althusius’ polittheoretische Wirkung. Obwohl Nitschke und Dahm sich unmittelbar miteinander auseinandersetzen, ist nicht zu übersehen, dass sich ihre Argumentationen nicht auf derselben Ebene treffen, mithin dass sich ihre wesentlich unterschiedlichen Perspektivierungen gar nicht gegenseitig falsifizieren können.
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des generativen Ordnungsmodells eine bestimmte, unverhandelbare Autonomie gegenüber dem Staatsoberhaupt.76 Ein andermal wird politische Theologie als nur rudimentär oder systematisch gar nicht vorhanden erachtet. Der Traditionsbezug Althusius’ auf politische Theologeme geschehe in einer allein instrumentalen Wendung derselben zum eigentlichen, nämlich innovativen Zweck.77 Die vermehrt säkularen Lesarten der althusiusschen Lehre liegen durch den Anspruch und die einzelnen, dabei tatsächlich nicht dezentralen Momente seiner Argumentation durchaus nahe. Sie sind nicht aus der Luft gegriffen: Schon zu Beginn des voluminösen Traktats (Kap. I, § 29) legt dies eine Formulierung nahe, die nichts weniger als die Ursache der Vergemeinschaftung betrifft: „Aus dem Gesagten folgern wir nun, dass die Wirkursache der politischen Gemeinschaft die Übereinstimmung und der Vertrag (consensus et pactum) sich vereinigender Bürger ist“.78 Dennoch ist die Wirkursächlichkeit des Vertragsschlusses noch keine echt säkulare: Denn zur Vereinigung entschließen sich die Bürger weder aus eigenem Belieben noch aus reinen Vernunftgründen. Der Entschluss fällt aufgrund ihrer schöpfungstheologischen Ausstattung und der göttlichen Gesolltheit der Vergemeinschaftung überhaupt. Gott „gab den Menschen unterschiedliche Gaben, damit jeder Einzelne auf die des anderen angewiesen sei“.79 Ebenso erklärt Gott in seiner Offenbarung jegliche Lebensweise der Abschottung – Eremiten-, Einsiedler- und Mönchstum – zur Gotteslästerung.80 Erst jene Anthropologie eines göttlichen Beschlusses sowie diese göttliche Anweisung zur Vergemeinschaftung machen die Übereinstimmung und den Vertrag der Menschen zur Wirkursache der politischen Gemeinschaft. Der Vertragsschluss ist nicht alleinige Wirkursache. Er hat nicht etwa das abgeschüttelt, was er von seinen Wirkursachen Anthropologie und Theonomie in sich begreift. Der vertragliche Zusammenschluss muss jedoch diese Bestimmungen seiner ihm vorgängi-
76 Ebd., S. 147: „Insofern ist der Politikbegriff bei Althusius nicht einfach (nur) der Politischen Theologie geschuldet: Das Unverfügbare bleibt zwar der zentrale Kern der Gestaltungschancen der Menschen, doch dieser Kern bedarf weiterhin (und dann um so mehr) der sozialen Ausgestaltung. So lange die politisch Beteiligten davon ausgehen können, dass sie alle an einer gemeinsamen Glaubensbotschaft [...] teilnehmen, können die praktischen Interessen verschiedene Optionen eingehen.“ 77 Dahm: Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie, S. 153. 78 Johannes Althusius: Politik. Übers. von Heinrich Janssen. In Auswahl hg., überarb. und eingel. von Dieter Wyduckel. Berlin 2003, S. 29 (Kap. I, § 29). 79 Ebd., S. 29 (Kap. I, § 26). 80 Ebd. (Kap. I, § 28).
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gen Ursachen weiter in sich tragen, wenn Althusius’ Ephorentheorie81 wie auch seine Widerstandslehre plausibel sein sollen. Denn nicht aus dem vertraglichen Zusammenschluss selbst, sondern aus jener asymmetrischen Anthropologie folgt erst der bevorzugte politische Status jener Ephoren. Ebenso folgt die antiabsolutistische Inpflichtnahme des obersten Magistrats nur zum Einen aus der Wechselseitigkeit des Vertrags und dies auch nur instanziell, d.h. gegenüber wem der oberste Magistrat verantwortlich ist. Zum Anderen folgt die Inpflichtnahme gehaltlich allein aus dem, was theologisch als Telos des Staates bestimmt ist: Das Ziel des symbiotischen politischen Zusammenlebens der Menschen ist eine fromme (sancta), gerechte, angemessene und glückliche Lebensgemeinschaft […].82
Die Regel für die Art des Lebens, Gehorchens und Verwaltens ist allein der Wille Gottes.83 Die Bestimmung der Staatsziele, gerade der nicht unmittelbar politischen und dennoch erstgenannten Frömmigkeit, resultiert nicht aus dem Gesellschaftsvertrag. Erst dann jedoch könnte man von einer gesteigerten Autonomie und Säkularität sprechen. Es bleibt nichts weniger als politische Theologie, wenn der Mensch nur unter Handlungsoptionen wählen kann, die das göttliche Gesetz übrig lässt.84
81 Vgl. diesen Begriff bei Winfried Schulze: Zwingli, lutherisches Widerstandsdenken, monarchomachischer Widerstand. In: Zwingli und Europa. Referate und Protokolle des Internationalen Kongresses aus Anlaß des 500. Geburtstags von Huldrych Zwingli. Hg. von Heinrich Richard Schmidt, Andreas Lindt, Alfred Schindler. Zürich 1985, S. 199–216, hier S. 207; Martin Honecker: Grundriss der Sozialethik. Berlin, New York 1995 (De-Gruyter-Lehrbuch), S. 371. 82 Althusius: Politik, S. 24 (Kap. I, § 3). 83 Ebd., S. 225 (Kap. XXI, § 16). 84 Politische Theologie meint ja nicht nur Gebotsgesetze, die nur eine, nämlich die gebotene Handlung zu tun übrig lassen, sondern auch göttliches Recht, das dem Menschen Handlungsalternativen in den Grenzen des Erlaubten freistellt. Entsprechendes gilt für den Gesellschaftsvertrag: Unbestritten ist „der Vertrag der Bürger Wirkursache des gesellschaftlichen Zusammenschlusses“ (Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen, S. 154) – er ist jedoch allein nicht hinreichende Wirkursache, insofern der Entschluss, dass sich überhaupt zusammengeschlossen wird, nicht bloß klug ist, letztlich also im Belieben der Menschen läge, sondern insofern er göttlich gesollt ist. Ebenso geschieht Althusius’ Aufwendung politischer Theologeme nicht instrumental, sondern fundamental. Dass sie nur instrumental eingebracht würden, versucht Karl-Wilhelm Dahm nahezulegen, indem in einem werkgenetisch wie rezeptionsästhetisch fokussierten Ansatz diese theologischen Argumente und Fundamente Althusius’ ganz über das ideenhistoriographische Argument der ‚Plausibilitätsstruktur‘ externalisiert werden (Dahm: Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie, erstmals S. 154): Althusius formulierte seine politische Theorie mithin theologisch, weil das den Bedürfnissen der
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Insofern deutet auch die von Althusius explizit angekündigte Hintanstellung aller „rein theologischen, juristischen und philosophischen Fragen“85 nicht auf eine Independenzerklärung der politischen Wissenschaften hin: Wilhelm Schmidt-Biggemann hält zurecht fest, dass es Althusius nur um die Marginalisierung der rein theologischen, juristischen und philosophischen Erwägung geht. Damit einher geht „im Gegenteil der Einbau der politischen Theorie in den Kontext des biblischen Gesetzes“.86 In nichts weniger als der Politik zeigt sich für Althusius das sachliche Ineinanderreichen der drei Disziplinen als in ein eben gleichermaßen theologisches, jurisprudentielles und philosophisches Feld. Damit ist Althusius’ politische Lehre nicht nur nicht säkular: Sie fällt auch hinter die zeitlich ältere Lehre Bodins (1572) sowie den zeitgenössischen Entwurf des Francisco Suárez (1612) zurück. Gerade Letzterer erarbeitet auch politische Theologie, vermag aber durch das Eingeständnis genuin philosophischer Probleme wie realpolitischer Gegebenheiten säkularere Entwürfe aufzugreifen und, wenn auch ungewollt, selbst Säkularisierung zu befördern.87 In Althusius’ Staatslehre wird der theologische Supremat hingegen wieder so mächtig, dass er sich für Fragen der ihm untergeordneten Disziplinen vermehrt verschlossen zeigt. Auch auf die Konfessionalisierung gibt er nicht einmal eine theologische Antwort: Dieses Problem wird schlicht ausgespart. Der theologische Supremat, wie er schließlich auch bei Rechtstheologen wie Melanchthon oder eben Suárez vorliegt, wird bei Althusius in ein theologistisches Apriori übersteigert. Der Wittemberger Reformator und der Conimbricenser Theologe hatten immer wenigstens eine theologische Antwort auf das Multikonfessionalitätsproblem parat, nämlich Missionierung. Althusius setzt hingegen die konfessionelle Homogenität des Volks immer schon voraus, mehr noch: In den Theorien der Monarchomachen geschah […] nichts Geringeres als die nachreformatorische Neudefinition des Begriffs eines Volks (und seiner Souveränität) vom Anspruch der Religion her. Während vorher der Begriff des souveränen Volks politisch war (seit Marsilius von Padua) wurde das souveräne Volk jetzt als Religionsgemeinschaft begriffen. Die
Zeit angemessen sei und anders seine Schrift nicht gelesen worden wäre. So notwendig werkgenetische Rücksichten wie rezeptionsästhetische Überlegungen zur angemessenen Einordnung eines Werkes auch sind, so sind sie dies unmöglich alleine, d.h.: sie können weder die textimmanente Argumentationssystematik allein erbringen noch sie alleine falsifizieren; – das bedeutete ein kontextualistisches Apriori. 85 Althusius: Politik, S. 13 (Vorwort zur dritten Auflage der Politica 1614). 86 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Althusius’ Politische Theologie. In: Politische Theorie des Johannes Althusius. Hg. von Karl-Wilhelm Dahm, Werner Krawietz, Dieter Wyduckel. Berlin 1988 (Rechtstheorie: Beiheft 7), S. 213–231, hier S. 225. 87 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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Umdeutung der Rechtsbegründung entlegitimierte den Staat, beanspruchte die Summa potestas für eine nicht politisch definierte Gruppe.88
Auf eines der virulentesten Probleme von Gryphius’ Werk und Leben ist keine Antwort bei Althusius möglich. Auch die bestimmte Gestalt des Widerstandsrechtsdenkens des Althusius wird weiter prädeterminiert. Schon aufgrund der Wechselseitigkeit des Gesellschaftsvertrags und seiner Gottgewolltheit besteht ein Widerstandsrecht. Hier erfährt es seine konkrete Zuspitzung in einem Verständnis von Herrschaft als religiös-konfessioneller Erfüllungsinstanz: Die politische Ermöglichung des Lebens des Volks meint nicht die Gewährleistung jedweden bloß sicheren Lebens, sondern des sicheren religiösen Lebens. Damit ist klar, dass sich der Herrscher bzw. Magistrat nicht wie in den katholischen und melanchthonianischen Rechstheologien in einem Freiraum bewegt, der zwischen positiven Recht und natürlichem bzw. göttlichem Recht bestünde: Dieser Freiraum kann bei Althusius nicht bestehen, denn die staatlichen Gesetze gewährleisten nicht bloß die irdische Schadlosigkeit in den Grenzen göttlicher und natürlicher Gebote, sondern sie haben ihre eigene Zielform in der nicht nur exnegativischen, sondern positiven Gottgefälligkeit selbst. Gerade darum ist auch der oberste Magistrat an das positive Recht seines Staats gebunden:89 Dieses positive Recht bewegt sich nicht innerhalb eines Ermessensspielraums des transhumanen Rechts. Genauso wenig kann sich daher der Magistrat mit gleicher Freiheit vom positiven Recht darin bewegen. Weltliches positives Recht ist vielmehr göttliches Recht. Deshalb ist noch der oberste Magistrat vom positiven Recht genauso wenig entbunden wie vom göttlichen Recht. Wird die genannte Erfüllung daher nicht erbracht, ist nicht nur ein Widerstandsrecht gegeben: Dieter Wyduckel erkennt als einer der wenigen, dass bei Althusius das Widerstandsrecht durch die Einziehung der Ephoren-Ebene nur hinsichtlich der realpolitisch befürchteten Folgen eines vom ‚Pöbel‘ vollzogenen Widerstands entschärft wird. Jurisprudentiell wird gerade so das Widerstandsrecht zu einer Widerstandspflicht verschärft.90 Denn Althusius macht unmissverständlich klar, dass der Magistrat im Staat nur als eingesetzte Verwaltung begriffen wird und ihre Herrschaftsgewalt gerade geringer ist als die der Ephoren.91 Damit sind nicht nur die Legitimität, sondern auch die machtpolitischen Mittel des Widerstands immer schon gegeben. Sie nicht zu nutzen, wäre sträflich:
88 Schmidt-Biggemann: Althusius’ Politische Theologie, S. 221. 89 Althusius: Politik, S. 174 (Kap. XVIII, §§ 39, 40). 90 Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen, S. 144. 91 Althusius: Politik, S. 172 (Kap. XVIII, § 26).
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Die Ephoren heben ungerechte oder tyrannische Maßnahmen des obersten Magistrats auf oder vereiteln sie, gleichen seine Trägheit durch Wachsamkeit und Sorgfalt aus und tragen auf jede erdenkliche Art und Weise Sorge dafür, dass das Gemeinwesen durch das Handeln des Herrschers keinen Schaden nimmt. Tun sie das nicht, so werden sie selbst zur Rechenschaft gezogen und mit Recht Verräter des Gemeinwesens genannt […].92 Die Aufgabe der Ephoren besteht deshalb nicht nur darin, darüber zu urteilen, ob der oberste Magistrat seine Pflicht erfüllt oder nicht, sondern auch darin, ihm Einhalt zu gebieten und Widerstand zu leisten, wenn er tyrannisch wird […].93
Nicht nur hinsichtlich der Lebenszeit- und Erbephoren wird diese Einhegung des Widerstands in ein institutionalisiertes Legalitätskonzept jedoch problematisch. Wie schon angesprochen, vertraut das Volk sich auch den Wahlephoren nach Althusius „des Nutzens und der Notwendigkeit wegen“ an. Sie tun dies nicht nur, weil politische Beschlüsse durch die Menge der privati nur schwer einholbar wären.94 Zu diesem bloß quantitativen Argument kommt die qualitative und damit allererst schlagende Überlegung hinzu, es seien „diejenigen zu wählen, die große Macht und entsprechende Mittel haben, da sie als Wächter des öffentlichen Wohls mit umso mehr Liebe, Einsatz und Fürsorge für das Gemeinwesen handeln“.95 Es ist die vorzügliche Befähigung des Einzelnen, das Ephorenamt auszufüllen. Ebenso ist es diese Befähigung, die im Falle der Absetzung eines tyrannischen Herrschers ein geordnetes Interim garantiert.96 Damit tut sich die angekündigte Problematik auf: Auf der einen Seite haben die Ephoren eine Widerstandspflicht, die sie gegenüber dem Tyrannen verwirklichen müssen und die sie dem Volk schulden. Auf der anderen Seite sieht Althusius dem jedoch nur eine Unterstützungspflicht des einfachen Volks97 und das Verbot eines eigenhändigen Widerstands98 korrespondieren. Er bietet also nichts Vergleichbares auf, was diese Schuld im Zweifelsfall einholbar machte, d.h. wenn die Ephoren dieser Pflicht eben nicht nachkommen. Im Gegenteil hat Althusius einer Lösung dieses Problems die nötigen Kanäle regelrecht verbaut, und zwar
92 Ebd., S. 177 (Kap. XVIII, § 51). 93 Ebd., S. 183 (Kap. XVIII, § 84); auch Ebd., S. 396 (Kap. XXXVIII, § 38). 94 Ebd., S. 177f. (Kap. XVIII, § 56): „Diesen Ephoren vertraut sich das volk sicher an und überträgt all sein Handeln auf sie, so dass, was sie tun, das ganze Volk zu tun scheint, Dig. 50.17.160. Und dies geschieht des Nutzens und der Notwendigkeit wegen. Denn es wäre sehr schwierig, wie Covarruvias, a. a. O., lib 1 n. 4 sagt, die Stimmen aller Bürger und Gliederungen eines Gemeinwesens von den Einzelnen einzuholen.“ 95 Ebd., S. 178 (Kap. XVIII, § 60). 96 Ebd., S. 183 (Kap. XVIII, § 87). 97 Ebd., S. 398 (Kap. XXXVIII, §§ 48, 49). 98 Ebd., S. 402 (Kap. XXXVIII, § 65).
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als er das Problem einer absoluten Herrschersouveränität zu lösen suchte. Zwar sind schlechte Ephoren als Einzeltäter abwähl- bzw. absetzbar – dies ist auch in Althusius’ Lehre selbst institutionalisiert. Für den Fall jedoch, dass alle Ephoren selbst tyrannisch werden, stehen eigentlich alle bisherigen Argumente, die gegen den Herrscher für die Ephoren aufgebracht wurden, einem echten Widerstandsrecht der privati entgegen. Gleichwohl hat Althusius diesen Fall eigentlich im Blick: Schließlich kann seitens der Ephoren und Optimaten durch Nachlässigkeit, Treulosigkeit, List, oder ein Komplott mit dem Fürsten, durch Pflichtverletzung oder Verrat dem Recht des Volkes nichts genommen, noch etwas der Willkür eines Tyrannen überlassen werden […]. Es wäre unbillig und absurd anzunehmen, die Ephoren könnten einem Tyrannen etwas übertragen, was sie selbst nie besessen haben […].99
In dieser Sache bleibt Althusius jedoch ganz jurisprudentiell: Eine Erörterung der politischen Realisierung dieses unveräußerlichen Rechts des Volkes, das es jenseits der Ephoren besitzt, erfolgt nicht. Bartholomäus Keckermann wird dieses Problem erkennen. Es bleibt also nur zu vermuten übrig, warum Althusius diese Stelle in seiner umfangreichen politischen Lehre unbesetzt lässt. Ist es eine realpolitische Wahrscheinlichkeitserwägung, die Althusius es als unwahrscheinlich verwerfen lässt, dass dieser besondere Fall tatsächlich eintreten könnte? In dieser Weise Überlegungen aus dem nur kontingenten Grund der Wahrscheinlichkeit aktiv zu unterlassen, wäre jedoch nicht die Absicht einer ramistischen Wissenschaft, die mit systematischem Vollständigkeitsanspruch antritt und die wie bei Althusius eben methodice und nicht probabiliter entfaltet wird. Oder ist es der theonome, ja theokratische Gesamthorizont der Politica, der den Fall einer Ephorentyrannei unproblematisch macht, insofern diese der Strafe, wenn auch nicht des Volkes, so doch Gottes ausgesetzt ist – womit dieser Horizont die Erläuterung der Ephorentyrannei als eines wiederum rein theologischen, weil allein Gott anheimgestellten Problems innerhalb einer Politiklehre überflüssig oder sogar deplaziert machte? Letztere Vermutung muss ebenfalls eine bleiben, nicht zuletzt weil Althusius die göttlichen Strafen selbst dort nicht erörtert, wo es um rein religiöse Angelegenheiten geht:100 Schließlich stellt sein Staatsverständnis alle Mittel zur Verfügung, Religion staatlich zu realisieren und Häresie weltlich zu bestrafen. Daher kann gerade in einer Religionsstaatslehre die Religion ganz weltlich realisiert
99 Ebd., S. 191 (Kap. XVIII, § 124). 100 Ebd., S. 122f. (Kap. IX, § 45), S. 278–295 (Kap. XXVIII), besonders S. 292 (Kap. XXVIII, §§ 57, 58).
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werden, ohne dass zu diesem Behuf auf Gott verwiesen werden müsste. Umso weniger verwundert es also vordergründig, dass Althusius Gott an anderer Stelle ebenso wenig als Urteilsinstanz aufruft. Allerdings darf diese letztere Vermutung größere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen als die erste. Allemal lässt Althusius mit dem echten Ausnahmezustand ein virulentes Problem in seiner Radikalform unangesprochen, das er eigentlich mit großem Aufwand hat lösen wollen. Wenn dieses Problem nicht als der eigentliche „blinde Fleck in der politischen Theorie des Johannes Althusius“ gedeutet werden soll,101 dann muss Althusius’ Schweigen in der politologischen Problemlosigkeit der Ephorentyrannei seinen Grund haben: Das Problem löst sich in der nurmehr theologischen Regelungsgarantie auf. Dann handelte es sich nicht um einen blinden Fleck, sondern um eine Zuständigkeitsverschiebung. Althusius’ ständerechtlich verankertes Widerstandsrecht ist als Gedanke einer vermehrt empirischen Politologie ebenso hilfreich wie es für eine echte politische Theorie gerade hinderlich ist. Die Idee, dass die Optimaten bzw. Ephoren das Widerstandsrecht besitzen, stützt Althusius nicht nur auf rein juridische Erwägungen – deren privilegierten Stand. Er untermauert diese Idee auch mit der pragmatischen Überlegung, dass die Ephoren mit ihrer politisch angemessenen Bildung und Erfahrung geeignet seien, den Staat nach Absetzung des Tyrannen umgehend wieder in geordnete Verhältnisse zu überführen. Althusius’ Ephorentheorie ist also hinsichtlich der realpolitischen Kausalitäten im und um das Reich sogar durchaus genial zu nennen: Denn sie vermag nichts weniger, als die Furcht zu mindern, mit dem Widerstand werde vom status civilis je schon in den herrschaftsfreien Naturzustand übergetreten. Damit ist aber gleichzeitig eindeutig, warum Althusius für Gryphius’ Interessenlage vermehrt unergiebig sein musste: Gryphius verhandelt in seinen politischen Trauerspielen die Tyrannen- bzw. Widerstandsrechtsfrage immer als Frage der vollkommenen Handlungsunfähigkeit sowie Regelfreiheit. Ihn interessiert die Frage des Souveränitäts- und Widerstandsrechts nur, insofern sie an ihre theoretisch erst so reizvolle wie ergiebige Grenze getrieben wird, indem sie als Frage des Ausnahmezustands gestellt wird. Gerade vom Ausnahmezustand entfernt Althusius die Souveränitäts- und Widerstandsrechtsproblematik. Er spannt
101 So Schmidt-Biggemann im Hinblick auf die konfessionelle Homogenität: Schmidt-Biggemann: Althusius’ politische Theologie, S. 224: „Seine Beschränkung aufs Staatsrecht […] brachte die calvinistische Kongruenz von politischer Einheit und konfessionell bestimmter Gemeinde ganz selbstverständlich in die Voraussetzungen seiner Argumentation hinein. Die Präponderanz der eigenen Konfession war so etwas wie der blinde Fleck in der politischen Theorie des Johannes Althusius.“
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unter der Ebene des obersten Magistrats die Optimatenstruktur als souveränitätsrechtliches Netz, das die Fallhöhe von der vollkommenen Ordnung hinunter zur vollkommenen Unordnung gar nicht zulässt. Damit hat Althusius’ Bedeutung für Gryphius’ politisches Denken seine klaren Grenzen: Als prominenter wie angefeindeter Motor der Widerstandsrechtsdebatte hat Althusius allemal zu gelten und zeitigt in diesem Sinne bis hin auf Gryphius sein Wirkung. Wie im Falle Lipsius’ auch kann Althusius aber nicht als ein politischer Denker gelten, der den Ausschlag für Gryphius’ Position gibt. Er kann dies deshalb unmöglich sein, weil Althusius mit seiner Ephorentheorie gerade denjenigen Zugang zum Problem des Ausnahmezustands verschließt, den Gryphius’ Trauerspiele ausschließlich zu nehmen suchen: den Gedanken der menschlichen Handlungsunfähigkeit und Regelungsfreiheit.
4.1.2.3 Jacob Bornitius Es war der kameralistische Reichspublizist Jakob Bornitz (ca. 1560–1625), der den Terminus Staatsräson im Deutschen Reich einführte.102 Dennoch diskutiert er den Ausnahmezustand nicht als problematisch seitens des Souveräns. Von Nezessität im weiteren Sinne ist nur bezüglich politischer Krisen die Rede, als deren Bewältigungsinstanz der aktuelle Herrscher immer schon vorausgesetzt wird. Das fällt besonders daran auf, dass Bornitz in seinen Partitionum politicarum Libri IV (1608) die Behandlung der Erhaltung des Staates103 von derjenigen der ‚Heilung‘ des Staates104 wohl unterscheidet und trennt. Diese Distinktion ergibt sich ihm allerdings nicht aufgrund der Souveränitätsfrage. In beiden Kapiteln ist das Handlungssubjekt, dem die klugen Mittel anempfohlen werden, der Inhaber der Herrschaft. Wenn Bornitz im vierten Buch (De republica curanda) von den ‚Medikamenten‘ („De remediis“) der Staatsführung handelt, beschränkt er sich dementsprechend auf das Bildungsinventar einer neostoizistischen Handlungslehre: Harte Krisen erfordern harte Maßnamen und kleinere Missstände sind auszuhalten, solange sich mit größeren beschäftigt wird.105
102 vgl. Stolleis, Michael: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 41 und S. 57; auch schon Paul-L. Weinacht: Fünf Thesen zum Begriff der Staatsräson. Die Entdeckung der Staatsräson für die deutsche politische Theorie (1604). In: Staatsräson. Studien und Geschichte eines politischen Begriffs. Hg. von Roman Schnur. Berlin 1975 , S. 65–71. 103 Jacob Bornitius: Partitionum politicarum Libri IV. In quibus ordine & summatim capita artis Politicae designantur. Hanau 1608, S. 68–114. 104 Ebd., S. 120–131. 105 Ebd., S. 130: „Inchoandum quoque ab iis mali, quæ pernitiosiora & periculosiora cæteris. Qualia sunt quæ adversus statum & salute Reip. tendunt. Extremis malis extrema remedia quæ-
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Auch bei Bornitz ist der geltungstheoretische Horizont der politischen Mittelwahl nicht von der Hand zu weisen. Sein politischer Neostoizismus nimmt seinen Ausgang nicht nur an realpolitischen und realökonomischen Kausalitäten, sondern ist vor allem rechtstheologisch eingehegt: Zu tun ist nicht etwa, was bloß noch zu tun übrig bleibt, sondern besonders, was überhaupt getan werden darf. Anstatt quasi-deterministischer Alternativlosigkeit sind die direktiven Normen handlungsleitend. So hält Bornitz schon 1602 im Discursus Politicus de Prudentia Politica Comparanda unmissverständlich fest: Nachdem wir von der Klugheit im Kriegswesen gehandelt haben, wollen wir nun über die bürgerliche, im Besonderen aber von der genannten politischen Klugheit handeln, und zwar, welche Klugheit der Frömmigkeit und Tugend wahrhaft verbunden ist, und nicht bloß vorgetäuscht, wie sie die Pseudopolitiker und Anhänger Machiavellis mit dem besonderen Namen der Staatsräson verfolgen. Ihr Ziel sei die Erhaltung und das Wachstum des Staates, welche die Fürsten anstreben sollen. Was diese betrifft, so können sie alle beliebigen Mittel, ob schlechte oder gute, gerechte oder ungerechte, fromme oder frevelhafte benutzen, solange sie dem Staat nutzen. Diese Begründung aber ist sicherlich nicht Klugheit, sondern die allergrößte Schlechtigkeit. […] Die Gerechtigkeit von den übrigen Tugenden zu trennen, was ist das anderes, als das Fundament der Klugheit, das in der rechten Vernunft seinen Sitz hat, zu zerstören! Und wer gleichermaßen ohne rechte Vernunft und Gerechtigkeit und ohne andere Tugenden darauf baut, schafft eben keine Klugheit. Eine Staatsräson, auch wenn sie sich mit diesem Titel schmückt, ist falsch. Es ist offensichtlich, dass jene die wahre Staatsräson ist, welche sich auf den Glauben und die Tugend stützt, und nur für sie tragen wahre Politiker Sorge, wohingegen die andere Art von Staatsräson verabscheuenswert ist.106
Der Staatszweck ist nicht der Staat als Selbstzweck. Er ist nicht bloße Stabilität wie bei Machiavelli, sondern das Gute. Hierbei ist hervorzuheben, dass Bornitz
renda: Publica mala in curando privatis præferenda: Novis nova antidota aut similia veteribus adhibenda. Interim pluribus malis concurrentibus, minus fuerit tolerandum, ut deteriora saltem ordine & successu temporis tollantur“ [Hervorhebungen im Text]. 106 Ders.: Discursus Politicus de Prvdentia Politica comparanda. Erfurt 1602, f. A20f., s. Marginalie Ratio status. Quid vulgo: „Omissa prudentia militari, de civili tantùm sic, seu in specie politica dictâ agemus, & quidem, quæ vera prudentia est pietati & virtuti consociata, non simulata ista, quam Pseudopolitici & Machiavelli asseclæ specioso nomine, Ratione status prætendunt; cujus scopus conservatio sit & incrementum Reipubl. quò principes collineare debeant; quem ut attingant, mediis quibuscunq; malis, an bonis, justis, an injustis, pietate, an impietate, modò Reipubl. prosint, utantur: Quæ ratio certè non prudentia, sed summa malitia est. […] Iusticiam autem, & virtutes cæteras separare, quid aliud est, quàm fundamentum prudentiæ in recta ratione situm destruere, ut quāsi absq; recta ratione & justicia, alijsque virtutibus quis astruat, nullam prudentiam adstruat . Ratio status, quæ titulo fucato proponitur, falsa est & apparēs, vera illa, quæ religione & virtute innititur, quæ etiam veris politicis curæ, altera detestanda est“. Übersetzung O.B.
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einen für Gryphius entscheidenden Gedanken in Ansätzen entwickelt: Das Telos der Machiavellisten beurteilt er konsequent als falsch, weil es eben nicht das Gute ist. Diese Staatsräson sei deswegen fatal, weil sie die Gerechtigkeit von der Klugheit abtrennt, nur weil sie unterscheidbare Dinge seien. Mit dieser Unterschiedenheit auch einen Konnex von apriorischer Gerechtigkeit und Klugheit zu leugnen, ist für Bornitz der entscheidende kategorische Denkfehler der „Parteigänger Machiavellis“. Klugheit, die nicht auf dem Fundament des moralisch guten Telos aufbaut, ist folglich nicht nur verwerfliche Klugheit, sondern schlicht gar keine Klugheit. Dies ist eine Form der Kritik am säkularen Pragmatismus, welche die moral- wie rechtstheologischen Suprematieansprüche nicht mehr bloß normativ, sondern auch prudentiell zu verteidigen versucht. Dabei führt Bornitz in den Partitionum politicarum Libri IV ausdrücklich Gottes Strafe als mittelbare Ursache der ‚Staatskrankheiten‘ an. Sie ist die Reaktion auf Häresien, besonders aber auf Verstöße wider die göttlichen Gebote der zweiten Gesetzestafel.107 Wenn Bornitz in dieser Deutlichkeit die politische Bedeutung derjenigen quoad homines formulierten göttlichen Gesetze konstatiert, bewegt er sich bereits in jenem Bereich politischer Theologie, der nicht nur göttliche Geltungshoheit, sondern auch göttliche Handlungswirklichkeit reflektiert. Damit spitzt sich politische Theologie bereits in Ansätzen zu einer theologischen Politologie zu. Bornitz argumentiert nicht nur mit der juridischen Geltung, sondern bereits mit dem praktischen, politischen Nutzen des göttlichen Gesetzes: Quibus vitiis & delictis summa iniquitas adversus legem DEI & Jus Gentium in Remp. invehitur, & unio civilis turbatur & disrumpitur: DEUS verò ad justitiam & pœnam adeoque vultus sui occultationem invitatur.108
Liest man den zweiten Satz des Zitats sogar dahingehend, dass es eben Gottes Strafe ist, die als politische Wirklichkeit über den Staat hereinbricht, so nimmt Bornitz noch exakter den Gedanken vorweg, der für Gryphius traditionsbildend sein wird: Gottes Strafe wäre in dieser Lesart dergestalt in das säkular-politische Kalkül des homo politicus mit einzubeziehen, dass sie nicht nur eine jenseitigheilsökonomisch orientierte Praxis betrifft, sondern selbst ganz weltlich ist: Von ewigkeitsrelevanten Erwägungen kann also ganz abgesehen werden, um Gottes
107 Ders.: Partitionum politicarum Libri IV, S. 125: „Disunionis DEI causa est potissima Relligionis defectus & corruptio, quando nulla religio aut corrupta in Rep. Habetur. Quod sit cum Atheismus & Epicureismus, Idololatria & Magia omnis generis […] Deindè cum & quævis alia ἀνομία & injustitia adversus secundam tabulam in Rep. grassatur.“ 108 Ebd., S. 126.
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Strafe nichtsdestoweniger eine eminent weltliche Wirklichkeit zuzugestehen. Zu Gottes Strafhandlungen zählen auch weltliche Handlungen. Die eigentliche Schlagkraft von Bornitz’ Machiavelli-Polemik speiste sich so allererst hieraus: Wenn die „asseclae Machiavelli“ meinen, Gottes Gesetze aus dem weltlich-politischen Handlungskalkül ausschließen zu können, so übersehen sie gerade, dass Gottes Strafhandlungen nur genauso zu den weltlichen Kausalitäten gehören, welche die Machiavellisten als allein relevant erachten. Die Frage jedoch, wie genau diese göttliche Strafe vorzustellen ist, wenn sie denn in das eigene Kalkül eingebunden werden soll, spart Bornitz aus. Ob sie und ihr Eintreten gar prognostiziert werden könnten, wird im entsprechenden Kapitel De prognosticis morborum civilium nicht besprochen.109 Hierin realisiert sich allerdings weniger ein Unzuständigkeitsempfinden einer politischen Lehre, sondern vielmehr das Denken vom Deus absconditus und die dem Menschen damit anheimgestellte Herausforderung: Gottes Gesetze müssen zwar angenommen und Gottes Strafe als sicher gefürchtet werden. Ihre genaue Gestalt und ihren exakten Zeitpunkt prognostizieren zu wollen, hieße Gott in unstatthafter Weise durchschauen zu wollen: Diejenigen Willensentschlüsse, die nicht geoffenbart sind und allein im freien, unhinterschreitbaren Wollen Gottes fußen, bleiben unbegreifbar.
4.1.2.4 Bartholomäus Keckermann Der Reformierte Bartholomäus Keckermann (1572–1608) ist als Theologe und Philosoph ohne Zweifel in die Denktradition politischer Theologie zu rechnen, ohne jedoch die Herausforderung des aufkommenden Rationalisierungsdrucks zu scheuen. „Sein Interesse zielte v.a. auf die enzyklopäd. Ordnung des verfügbaren Wissens in der Symbiose von Theologie und Philosophie“,110 und dementsprechend können bei ihm aspektuale Säkularisierungsleistungen verzeichnet werden, die besonders das Verhältnis von Jurisprudenz und Politiklehre betreffen. Sie sind nicht etwa bloß segmental kooptierte Disziplinen, sondern teilen ihr wesentlich gemeinsames Begründungsverhältnis für die Frage des Ausnahmezustandes. Dabei kommt allerdings auch Keckermann an bestimmte Grenzen, was wiederum Gryphius alles Recht geben wird, das virulente Problem weiterzuverfolgen. Dass Gryphius Keckermanns politisches Denken gekannt, dieses auf den Dichterjuristen zumindest gewirkt haben muss, legt allein Keckermanns Wirken als Konrektor des akademischen Gymnasiums in Danzig nahe. Diese
109 Ebd., S. 129. 110 Wilhelm Kühlmann: [Art.] Keckermann, Bartholomäus. In: Killy 6, S. 335f.
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spätere Lehranstalt Gryphius’ wurde von Keckermann als der großen Leitfigur der analytischen Methode nachhaltig geprägt. Seine Lehrbücher wurden selbst vom scharfen Protestantengegner Caspar Schoppe111 als wichtigste unter die der Politik, Ethik und Ökonomie gezählt.112 In seinem 1607 erstveröffentlichten Systema disciplinae politicae greift Keckermann Carl Schmitt gewisser Maßen voraus und anerkennt die Souveränitätsfrage und die mit ihr eng verbundene Problematik des Widerstandsrechts als die „schwierigste aller politischen Fragen“.113 Eine Ideengeschichte, die nach den in 3.1 erarbeiteten Maßgaben nicht nur Entwicklungs- und Wirkungslinien, sondern auch vorgängige Problemwahrnehmungen berücksichtigen muss, hat diese Sicht Keckermanns unbedingt festzuhalten. Keckermann lässt schon eingangs dieser Frage unbezweifelt, dass es ein Widerstandsrecht prinzipiell gibt: „Respectu habito ad principem, mutant subditi resp. vel ex causis vim iuris habentibus, vel ex causis iniustis“.114 Ebenso früh anerkennt Keckermann, dass die traditionellen rechtstheologischen Argumente gegen ein Widerstandsrecht einige Zugkraft haben. Sie zu widerlegen, wird Keckermann auf eben rechtstheologischer Ebene tatsächlich nicht gelingen: Neben der besonders begriffslogischen und damit als naturrechtlich behaupteten Universalität des Obrigkeitsrechts115 zählt zu diesen Kontra argumenten vor allem das von Melanchthon stark gemachte Analogon von Vater und Herrscher: Die Achtung des Herrschers ergibt sich nicht nur aus Röm 13, sondern zudem aus der Vorschrift des vierten Gebots, den Herrscher genauso zu ehren wie Vater und Mutter.116 Als ein weiteres Argument vermehrt pragmatischer Art gegen den Widerstand könne das Risiko eines ordnungsfreien, chaotischen Zustandes angeführt werden, der sich schlimmer als derjenige der Tyrannis erweisen könnte.117 Schließlich würde Gott nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift
111 Siehe dazu Herbert Jaumann (Hg.): Kaspar Schoppe (1576–1649). Philologe im Dienste der Gegenreformation. Beiträge zur Gelehrtenkultur des europäischen Späthumanismus. Frankfurt am Main 1998 (Zeitsprünge 2). 112 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: [Art.] Philosophie III. Renaissance, Humanismus, Reformation. E. Protestantische Schul-philosophie. In: HWPh 7, S. 674–679, hier S. 679. 113 Bartholomäus Keckermann: Systema disciplinae politicae. Hanau 1608, S. 425: „Trahit nos ordo materiarum politicarum ad quæstionum omnium vt decisione difficilimā […] & tractāda est controuersia: Vtrum subditi possint magistratui suo resistere, eumq; si se nō emendet, abdicare imperio.“ 114 Ebd. 115 Ebd.: „Nullus inferior potest sibi vsurpare potestatem in superiorem.“ 116 Ebd., S. 425f. 117 Ebd., S. 426: „Princeps etiam tyrannus non potest deponi sine periculo totius reip. atque adeo etiam ipsorum deponentium; ergo non est tentanda ista depositio.“
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zur Strafung straffällig gewordener Tyrannen niemals deren Untertanen benutzen, sondern von außen kommende Feinde. Hervor sticht dabei das bei Claude Saumaise wiederkehrende Beispiel Davids, der sich nachgerade weigert, gegen König Saul handgreiflich zu werden (4.4.6.2).118 Die üblichen Argumente für ein Widerstandsrecht referiert Keckermann so, dass sie und ihre entsprechenden Kontraargumente sich nachgerade aufzuheben scheinen: Dem naturrechtlichen Souveränitätsrecht wird das ebenso naturrechtliche Notwehrrecht entgegengehalten, das die Untertanen im Interesse ihrer Selbsterhaltung auch gegen ihren Souverän behalten.119 Der melanchthonischen Ableitung des Souveränitätsrechts aus dem vierten Gebot stehen ebenso biblische Zeugnisse gegenüber. Diese erlauben eine Gehorsamsverweigerung gegenüber „gottlos handelnden“ Eltern, mithin gottlos handelnden Regenten nicht nur, sondern gebieten sie sogar.120 Daher kann die in Röm 13 grundgelegte Gehorsamspflicht gegenüber dem von Gott eingesetzten Herrscher nur eine bedingte sein. Der Herrscher hat sich an das göttliche bzw. natürliche Recht zu halten, aus dem seine Herrscherpflichten nur genauso entspringen wie sein Herrschaftsrecht.121 Was das pragmatische Kontraargument betrifft, eine Tyrannis sei weit weniger ruinös als das zu befürchtende Chaos einer Anarchie,122 so steht diesem unter den Proargumenten ein vermehrt verlaufslogisches gegen-
118 Ebd., S. 426f.: „[A]b exemplo sacrarum literarum: Deus in populo Iudaico hunc modum seruauit, vt cum vellet malos reges punire, non puniuerit per Iudæos, tanquam subditos, sed per Assyrios & Babylonios. Idcircò Dauidem continuit, ne Saulum vel deponoret regno, vel interficeret; sed potius Philistinos aduocauit, qui Saulum vlciscerentur. Moses & Aaron non concitarunt populum Israeliticum conta Pharaonem. Ieremias non tradidit Iudæis gladium corporalem contra Nabuchodonosorem, sed gladium spiritualem deuotarum precum. Christus tributum Cæsari, non venenum dari iubet […]“. Zur Spannung der Samuelbücher gerade gegenüber den Königsbüchern, die den Königsmord offensichtlich befürworten, siehe: Walter Dietrich: Die Samuelbücher im deuteronomistischen Geschichtswerk. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments II. Stuttgart 2012 (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, Zehnte Folge 201), S. 105–111. 119 Keckermann: Systema disciplinae politicae, S. 428. 120 Ebd., S. 428: „[I]nter subditos & principem non est maior obligation quam inter parentes & liberos, inter virum & uxorem. At verò liberi parentes nefariè agentes, possunt impedire, & filius potest se defendere contra patrem […]. Prius membrum antecedētis, nempe, quod liberi possint impedire parentes nefariè agentes, probatur Lucæ 14. v. 16. Matth. 10. v. 37. Ephes. 6. v. 8. & 9. vbi idem ius conceditur seruis in dominos […]“. Gemeint ist Lk 14. 26. 121 Keckermann: Systema disciplinae politicae, S. 428: „[S]ubditi principi suo conditionaliter obligantur, si nempe rectè imperet. […] Ratio sumitur ex obligation, quâ Deo obstringuntur subditi, vtpote cui debent magis obedire, quâ suo principi, ita vt teneantur impedire omnia, quæ contra Deum & eius præcepta fiunt […].“ 122 Vgl. Weber: Prudentia gubernatoria, S. 108.
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über. Dieses versucht ein ‚Tyrannenrecht‘ hinsichtlich seiner fraglichen Verallgemeinerbarkeit an sein Ende zu denken: Die Tyrannei würde grassieren und den Gutteil des Menschengeschlechts gefährden,123 und wäre damit nicht minder gefährlich als ein Chaos. Keckermann versucht nun gerade nicht, diese juridischen Streitfragen naturrechtlich aufzulösen. Er erschließt nicht etwa eine naturrechtliche Fundamentalnorm höheren Ranges, das die Prävalenz entweder des Souveränitäts- oder des Notwehrrechtes festzustellen erlaubte. Keckermanns eigene „Canones“ laufen zwar, wie angekündigt, auf ein Widerstandsrecht hinaus. Allerdings versucht er eine eigene Erörterung, ohne eine unvermittelt affirmative Übernahme der referierten Proargumente zu unternehmen: Denn weder übernimmt Keckermann alle ihm traditionellen Argumente für ein Widerstandsrecht noch verwirft er jedwedes Argument gegen ein Widerstandsrecht. Dies gelingt Keckermann nicht etwa in einer widerspruchsvollen Dialektik, sondern durch einen Perspektivenwechsel. Zunächst in der möglichen Kürze zu den wesentlichen „Canones“ selbst: Erstens gibt Keckermann zu bedenken, dass die Absetzung eines legitim an die Herrschaft gekommenen Fürsten häufig große Widrigkeiten nach sich ziehe. Zweitens ist bei der Organisation des Widerstandes zu bedenken, dass die Anarchie schlimmer als jede Tyrannis ist.124 Jeder Widerstand hat schlechte Ordnungen also nicht nur zu beseitigen, sondern muss auch eine gute Ordnung in gewisse Aussicht stellen können. Drittens ist daher bereits zu erwägen, wer wem wann wie und wie lange Widerstand leistet.125 Damit möchte Keckermann viertens darauf hinaus, dass einem Fürsten nicht wegen jedweder ‚Befehlsunfähigkeit‘ schon Widerstand geleistet werden dürfe.126 Sie muss nämlich nicht notwendiger Weise aus Unklugheit oder Böswillen, sondern kann auch aus Alternativlosigkeit hinsichtlich äußerer Umstände resultieren. Insofern ist der Fürst fünftens nicht vorschnell („protinus“) als Tyrann zu erachten. Vielmehr sei ihm eine quasi menschenübliche Fehler- und auch Sündhaftigkeit ebenso zu verzeihen wie anderen Menschen auch.127 Insofern gibt Keckermann ebenso sechstens zu bedenken, dass einem vertraglich an bestimmte Bedingungen gebundenen Herrscher einfacher Widerstand zu leisten sei als einem absoluten Monarchen. In jenem Fall sei der Verstoßfall schon ex ante und bilateral bestimmt worden, in diesem jedoch
123 Ebd., S. 429: „Sublata hac resistentiâ & defensione subditorum contra Tyrannos, licentia Tyrannorum in infinitum grassaretur, & destrueretur tota societas ciuilis, & melior pars generis humani.“ 124 Ebd., S. 430. 125 Ebd., S. 430f. 126 Ebd., S. 431: „Non statim resistendum est principi ad imperandum inepto […].“ 127 Ebd.
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nicht.128 Ferner spricht sich Keckermann siebtens respektive einer Erbmonarchie gegen den Gedanken der Sippenhaft aus: Die Thronfolge sollte bei den Erben des Abgesetzten verbleiben.129 Was achtens die Frage nach dem Subjekt des Widerstandes betrifft, erklärt Keckermann in expliziter Anlehnung an Althusius, dass die eigentliche Befugnis, das Widerstandsrecht geltend zu machen, bei den ‚Optimaten‘ liege.130 Auch bei ihm liegt nahe, dass dies nicht nur normativ in ihrer ständerechtlichen Privilegiertheit begründet liegt, sondern auch pragmatisch in der unterstellten Fähigkeit, nach erfolgtem Widerstand umgehend eine neue Ordnung herzustellen. Dabei haben die Optimaten neuntens Einstimmigkeit zu erzielen, bevor der Widerstand beschlossen wird.131 Der einfache Untertan („subditus priuatus“) hingegen hat zehntens die Optimaten zu unterstützen, darüber hinaus aber elftens gewisser Maßen nur ein Beschwerderecht respektive des Herrschers. Allein in dem Falle, dass die Optimaten entweder uneinig sind oder mit dem Tyrannen gar gemeinsame Sache machen, dürfen die Untertanen sich eigenhändig einen ‚Rächer‘ („vindex“) erwählen, um die Tyrannei zu bekämpfen.132 Keckermann mahnt zwölftens an, dass der Vorwurf der Tyrannis von den Optimaten vor einer Volksversammlung mit gewissen Dokumenten öffentlich zu beweisen ist.133 Dem entspricht jedoch nicht nur eine Rechtfertigungspflicht der Optimaten gegenüber den einfachen Untertanen, sondern dreizehntens auch ein Abmahnungsrecht des Tyrannen: „Non prius est resistendum principi tyranno, quam creberrime sit admonitus, & rogatus vt ab ista tyrannide desistat“.134 Somit sind vierzehntens im Allgemeinen erst alle Mittel auszuschöpfen, bevor es zum „Extrem“ der Absetzung kommt.135 Dies gilt jedoch fünfzehntens auch für den Prozess des Widerstands selbst: So sind zuerst (sechzehntens) defensive Mittel, nämlich Worte zu benutzen und der Tyrann entweder zu seiner Besserung oder zu seiner Abdankung zu überreden.136 Erst dann ist siebzehntens ein Waffengang gegen den eigenen Herrscher legitim. An diesem müssen sich neutral verhaltende Untertanen nicht beteiligen.137 Keckermann unterscheidet Verbesserungs-
128 Ebd. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 432. 131 Ebd. 132 Ebd., S. 432f. 133 Ebd., S. 433. 134 Ebd. 135 Ebd.: „Prius omnia remedia sunt tentanda, quam ad extremum deueniatur, & ad abdicationem procedatur.“ 136 Ebd., S. 433f. 137 Ebd., S. 434.
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und Beseitigungswiderstand (achtzehntens) und gelangt damit neunzehntens zu einem Recht auf die Möglichkeit zur Verbesserung, das auch noch der Tyrann besitzt. Dem enstpricht seitens der Optimaten wie der Untertanen die Pflicht, jeden weiteren Widerstand zu unterlassen, sobald der Herrscher sich gebessert hat.138 Erst wenn keinerlei Aussicht auf Besserung besteht, ist zwanzigstens eine Absetzung des Herrschers gerechtfertigt. Damit ist Keckermann allerdings noch nicht am Ende: Der Widerstand hat sich einundzwanzigstens zusätzlich dadurch zu legitimieren, dass er die offensichtlichen Übel der vormaligen Tyrannenherrschaft auch tatsächlich beseitigt.139 Geschieht dies nicht oder treten schließlich zweiundzwanzigstens während des Widerstandes Widrigkeiten auf bzw. mündet der Bürgerkrieg in einer Pattsituation, so ist die „Amnestie zu verordnen“.140 Es ist nicht zu übersehen, dass Keckermann insofern gar nicht auf die Legitimitätsfrage eingeht, als er unter pragmatischer Perspektive immanente Alternativen einer Widerstandshandlung durchspielt. Gleichwohl nimmt er zur Legitimitätsfrage schon dadurch Stellung, dass er Widerstand als rechtmäßig möglich ansieht. Allein in seiner Durchführung ist nochmals zu unterscheiden. Gerade dadurch nimmt Keckermann aber vielfach normative Implikationen auf, die er selbst nicht begründet: So stellt er z.B. den Vorrang des defensiven Widerstandes nicht etwa als klüger, sondern als geboten heraus. Mehr noch: Häufig genug erschließt Keckermann nach der einmal zugelassenen Legitimität von Widerstand Subnormen im Widerstandsrecht, die durchaus dem zugute kommen, gegen den Widerstand geleistet wird (Abmahnungsrecht, Verbesserungsrecht). So unbegründet Keckermanns Entscheidung also auch ist, Widerstand als legitim anzusehen, so erlaubt sie doch das Erschließen von Binnendifferenzierungen. Weil aber Keckermann viele Unterpunkte seiner Widerstandslehre als rechtsförmig ansieht, kann seine bloße Setzung des Widerstandsrechts ihm eben nicht darüber hinweghelfen, dass fundamentale juridische Fragen hätten propädeutisch geklärt werden müssen: Wenn es z.B. um die Beweispflicht (zwölftens) geht, eröffnet sich die Frage nach der ebenso befugten wie befähigten Schiedsinstanz, welche die angeführten Beweise prüft. Meint Keckermann im Hinblick auf die Volksversammlung ein Urteil, das die ihm doch eigentlich nur einfachen Untertanen über die Stichhaltigkeit der von den Optimaten angeführten Beweise gegen den Herrscher fällen? So ließe sich mit Keckermann so gut als jede Herrschaftsform auf die Demokratie hinunterbrechen, wenn es zum Ausnahmezustand kommt. Das strukturgleiche Problem betrifft auch den Fall, dass die ein-
138 Ebd. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 434f.
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fachen Untertanen den Widerstand eigenhändig initiieren (elftens): Denn wie können die Untertanen den Sachverhalt, die Optimaten seien dem Tyrannen gegenüber entweder treu oder handlungsscheu, überhaupt adäquat ermessen? Schließlich wurde doch (viertens) zu bedenken gegeben, dass die Kausalitäten des Regierungsgeschäftes eine so komplizierte Herausforderung darstellen, dass ihr eigentlich nur die Optimaten (achtens) gerecht werden? Nicht erst dem jesuitischen Kritiker Keckermanns, Jakob Keller (1568–1631), stach diese Schwachstelle Keckermanns ins Auge:141 Keckermann hatte sie selber präpariert. Alle berechtigte Kritik an Keckermanns Widerstandslehre kann nicht darüber hinwegtäuschen, welche Weiterentwicklung sie im Vergleich zu Lipsius und Althusius darstellt. Keckermann spielt die ihm denkbaren Alternativen eines einmal erwogenen Widerstandes zwar analytisch durch, aber damit verstellt er sich eben nicht den Blick für die wirklichen Möglichkeiten des Problems. Vielmehr vermag er gerade dadurch die Problematik an die eigentliche, erst wahrhaft juridische und politische Grenze zu treiben, wie sie auch noch den systematischen Kern von Carl Schmitts Politischer Theologie darstellen wird. In der Kontroverse zwischen absolutistischen und monarchomachischen Positionen zu Widerstand und Widerstandsrecht war man bislang nicht über die Legitimitätsfrage des Widerstandes allein hinausgekommen. Mit seinem strikten Durchexerzieren realpolitischer Möglichkeiten der Krisenbewältigung zeigt Keckermann demgegenüber auf, dass Tyrannis bzw. Widerstand selbst noch nicht die Grenzbestimmung von Staats- und Souveränitätslehre ausmachen, mithin dass sie selbst noch nicht den Ausnahmezustand darstellen. Tyrannis und Widerstand ipsae factae sind zwar juridisch fragwürdig, aber noch nicht politisch unbewältigbar. Man konnte jedoch die Frage ab hier nicht weitertreiben, solange man im antimachiavellistischen Furor, dem sowohl die frühen Absolutisten als auch Monarchomachen verfallen waren, juridische und politische Fragen nicht einmal theoretisch zu trennen bereit war. Demgegenüber macht sich Keckermann von diesem verabsolutierten Identitäts- oder Inklusionsgedanken so weit frei, realisiert den Unterschied von Widerstand und Widerstandsrecht142 und gestattet sich den Gang an die eigent-
141 Vgl. Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648). Leiden 2007 (Studies in medieval and reformation traditions 126), S. 91f. 142 Dabei ist die unzulässige Vermengung bzw. Verwechslung dieser beiden – hier politologischen, dort juridischen – Kategorien nicht nur ein Malus frühneuzeitlicher politischer Theorie, sondern mitunter auch noch der gegenwärtigen politischen Ideengeschichte: siehe z.B. Robert von Friedeburg: Universitas christiana und Konfessionskonflikt. Vaterland und Kirchennation in England, den Niederlanden und den protestantischen Territorien im Reich, 1570–1660. In: ‚Europa‘ im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Hg. von Klaus Bußmann, Elke Anna Werner. Stuttgart 2004, S. 203–230, hier S. 226: „Diese konzeptuelle Einteilung der
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liche Grenze: Erst in der Verfahrenheit eines Bürgerkrieges zwischen Widerständlern und Tyrann oder zwischen uneinigen Widerstandsgruppen ist die ursprüngliche Problematik auch politisch nicht mehr handhabbar. Keckermann macht sich aber von dem genannten Gedanken nunmehr zu weit frei: Er meint, nach der Zurücklassung einer rein juridischen Grenzfrage zur Grenze einer rein politischen Frage gekommen zu sein. Im Unterschied zu Schmitt sieht er nicht, dass er mit dieser Grenze eine sowohl politische als auch juridische erreicht hat: Das ‚Reset‘, das die Amnestie vollziehen soll, ist nicht nur ein politisch mauer Versuch, weil der angefochtene Tyrann die Amnestie durch seine Feinde denselben kaum danken wird. Er steht auch juridisch auf tönernen Füßen, weil Keckermann damit meint, eine bilaterale Konfliktsituation unilateral auflösen zu können. Daher stellt sich die schon oben häufig angemahnte instanzielle Befugnisfrage am deutlichsten im Amnestiefall. Hier tritt die Aporie zutage: Wer aus einer uneinigen Widerstandsbewegung kann inwiefern die Befugnis haben oder erlangen, eine Amnestie zu verordnen („ἀμνηστία sancienda“)? Das ist widerspruchsfrei nicht zu denken: Hier macht Keckermann die Frage nach einer Schiedsinstanz auf, die er selber nicht beantwortet. Bartholomäus Keckermanns politische Theorie ist damit auch ein herausragendes Beispiel für vermehrt säkular intendierte Entwürfe, die entweder unabsichtlich oder in Ermangelung fundamentaler Vor- und Zuarbeiten Leerstellen, Aporien bzw. Fragen hinterlassen. Diese geben bei allem Säkularismus, der in einem System bis an diese Stelle herrscht, ohne Weiteres Raum für mitunter theologische Füllungen dieser Leerstellen, theologische Auflösungen dieser Aporien bzw. theologische Antworten auf diese Fragen. Dass Keckermann diese Leerstelle nicht erörtert, ist darum so erstaunlich, weil er unter den rechtstheologischen Gegenargumenten ein Argument referiert hatte, das durchaus ein Angebot zur Füllung dieser Lücke darstellt: Gott delegiere seine Strafe in jedem Fall nicht an die Untertanen, sondern benutze entweder
Behandlung von Widerstand in ein ständisches Widerstandsrecht, ein Notwehrrecht des einzelnen Untertanen […] oder auch einfach als Naturrecht der Selbstverteidigung, und ein Recht der Gegenwehr eines gesamten Gemeinwesens als ‚Vaterland‘ war keineswegs eine Besonderheit der Politica des reformierten Althusius“ [Hervorhebungen O.B.]. Wie ein wesentlich nonnormativer Begriff in normative Begriffe konzeptuell eingeteilt werden können soll, kann nicht nur nicht einleuchten, sondern verstellt auch den Blick für den historischen Bruch, der hier für Keckermanns Fall herausgestellt werden soll. War nämlich in der Tat Nonnormatives mit Normativem unzulässig vermengt worden, insofern auch eine gemeinsame Traktierung systematische Differenzierungen erlaubt, so war es eben Keckermann, der diese Vermengung zu überwinden versucht, – mit zweifelhaftem Erfolg freilich, aber in jedem Fall ist Keckermanns Innovationsversuch nicht aufzudecken, wenn der Kategorienfehler seiner Vorgänger mitgemacht wird.
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‚Externe‘ oder vollziehe die Strafe eigenhändig. Dieses Argument betrifft de intentione zwar das Verbot jedweden Widerstands sowie die Bestrafung des Tyrannen allgemein; es ist nicht auf die Patt-Situation im Bürgerkrieg beschränkt. Darum ist dieses Argument dennoch so systematisch allgemein, dass der Systematiker Keckermann die allemal deduzierbare Folgerung hinsichtlich der Befugnisfrage hätte erörtern müssen: Gott selbst entscheidet politisch legitim und wirkmächtig über das Unentschieden des Bürgerkriegs. In der Tat steht diesem Kontraargument kein entsprechendes Proargument gegenüber.143 In der Tat also herrscht zwischen den von Keckermann selbst referierten Diskursparteien kein Gleichgewicht, das auf eine genuin neue Argumentationsstrategie Keckermanns dergestalt drängte, wie es zunächst den Anschein hat. Ebensowenig vermag diese eigene Strategie Keckermanns das angebliche Unentschieden mit neuen Argumenten zu überwinden. Sie führt nur unbemerkt, aber systematisch notwendig zurück auf eine der beiden Diskursparteien und entlarvt diese als überlegen: die Partei der Argumente gegen ein Widerstandsrecht. Dabei ist schon bei Keckermann nur schwer der bestimmte Grund dafür zu übersehen, dass dem Argument von Gottes eigenhändiger Straftätigkeit wider die Tyrannen nur schwer hätte widersprochen werden können: Wenn es den Untertanen in der Erwägung des Widerstandes bzw. den Monarchomachen in der Erwägung des Widerstandsrechts nur darum zu tun ist, sich der Geltendmachung des göttlichen Rechts zu versichern, so kann das Argument vom diesseitig strafenden Gott dieses Bedürfnis befriedigen und schließt ein Widerstandsrecht dennoch aus. Es ist diese politische Bilateralität des Arguments, die unter prärousseauschen bzw. präkantianischen Vorzeichen ein Kontraargument gar nicht sinnvoll erscheinen lässt: Solange der Mensch sein ihm wesentliches Recht nicht unbedingt eigenhändig geltend machen können will, behält dieses Argument seine Attraktivität. Ebenso bleibt es reizvoll, solange der Untergang von Tyrannen noch als göttlich-notwendig und nicht schon als bloß historisch-kontingent erscheint (womit er gar keine Antwort auf eine systematische Frage mehr sein kann). Es ist das gewichtige Argument sowohl einer normgebenden politischen Theologie als auch einer normerfüllenden theologischen Politologie. Bemerkenswert ist, dass dieses Argument bei Keckermann wirkt, ohne dass er es dezidiert vertritt.
143 Ebd., S. 427–430.
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4.1.2.5 Henning Arnisaeus Den protestantischen Aristotelismus des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636) hat Horst Dreitzel sowohl in seiner Systematik ausführlich erörtert als auch in Ansätzen historisch eingeordnet. Es war unter anderen Arnisaeus, der die Souveränitätslehre Jean Bodins mit den polittheoretischen Bedürfnissen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zu vermitteln suchte: Die Wahl- und Einspruchsrechte der Reichsstände gegenüber dem gewählten Kaiser und König kollidierten schließlich mit einer absolutistischen Herrschersouveränität, wie sie Bodin konzipiert hatte.144 Vor dem Hintergrund dieses Interesses entwickelt Arnisaeus eine Tyrannis- und in der Folge eine Widerstandsrechtslehre, die erstens rechtstheologische Erfordernisse einzulösen versuchen. Dem Verpflichtungscharakter des göttlichen Gesetzes über den irdischen Souverän gilt es durch dessen wirkmächtige Inpflichtnahme gerecht zu werden. Zweitens suchen sie pragmatische Erwägungen der politischen Stabilität angemessen einzuholen. Hier wird sich von der tatsächlichen Geltendmachung eines Widerstandsrechts behutsam distanziert, und zwar nicht unter Absehung vom normativen naturrechtlichen Fundament seiner Staatslehre, sondern unter wiederum theologischer Einbettung eben dieser Stabilisierungsstrategien. Anders als etwa für Georg Schönborner fällt in Arnisaeus’ De Avctoritate Principum (1612) die bartolistische Distinktion vom tyrannus absque titulo und tyrannus ex parte exercitii nicht mit derjenigen von legitimem und illegitimem Widerstand zusammen. Zwar befindet auch Arnisaeus im Falle des usurpatorischen Tyrannen Widerstand als uneingeschränkt legitim, unabhängig davon, ob dieser eine gute oder schlechte Herrschaftspraxis pflegte. Demgegenüber ist die tyrannische Herrschaft des legitimen Herrschers jedoch nicht durchweg legitim: Hier kann theoretisch das Herrschaftsrecht verwirkt werden, womit auch in diesem Falle ein Widerstand nicht unrechtmäßig wäre. Arnisaeus lehnt es jedoch ab, hier tatsächlich von Widerstandsrecht zu sprechen: Denn der ‚vollkommene Tyrann‘ hat sich durch seine Missetaten bereits seiner Herrschaftsrechte begeben.145
144 Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ‚Politica‘ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesbaden 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz 55), S. 411f. 145 Henning Arnisaeus: De Autoritate Principum In Populorum Semper Inviolabili; Seu Quod Nulla Ex Causa Subditis Fas Sit Contra Legitimum Principem Arma Movere. Commentatio Politica Opposita Seditiosis Qvorvndam Scriptis, Qui Omnem Principum Majestatem subjiciunt censura Ephororum & populi. Straßburg 1673 [Erstdruck: Frankfurt an der Oder 1612], S. 64a (Cap. IV, Nr. 15): „Traditur enim principi in eum finem, ut illi præsit ad salute omnium, à quo si prorsus desciverit, etiam de potestate cadit, quam non alio sine sibi commissam habebat“. [Erstdruck: Frankfurt an der Oder: Thimius, 1612].
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Der Widerstand trifft also keinen Oberen mehr, gegen den er als ein besonderes Widerstandsrecht eigens juridifiziert werden müsste. Wie Dreitzel überzeugend urteilt, gelingt es Arnisaeus auch im Rahmen seines widerspruchsvollen Gewaltenteilungskonzepts nicht, das Problem zu lösen, dem sein eben nur theoretisch überzeugender Gedanke einer Legitimitätsverwirkung zu begegnen versucht.146 Er verschärft es nur: Denn bei der nicht bloß per definitionem, sondern auch per exercitium vollzogenen Entfaltung dieses Gedankens stellt sich erstens abermals die Frage nach der instanziellen Befugnis ein: Wer stellt den „Zustand, in dem alle Bürger zu Sklaven geworden sind,“147 fest, so dass der Widerstand nicht nur auf ungefestigte Vermutungen oder Einzelmeinungen fußt? Zweitens ergibt sich als zumindest zwischenzeitliches Ergebnis – nicht erst des Widerstands, sondern bereits der Souveränitätsverwirkung – der Eintritt in einen herrschaftsfreien Zustand. Man kann zum Einen vermuten, dass Arnisaeus dies vor dem Hintergrund seines politischen Aristotelismus als wenig problematisch empfindet: Die naturrechtliche Selbstregelungskraft des je schon politischen Wesens Mensch erlaubte vordergründig eine weitgehend geordnete Überbrückung dieses staatsrechtspolitischen ‚Blackouts‘.148 Zum Anderen darf man über die Wege stutzen, die Arnisaeus in der Behandlung dieser Situation tatsächlich beschreitet. Denn wie angekündigt, erläutert Arnisaeus an dieser Systemstelle vor allem zwei Gründe, den Widerstand zu unterlassen und diesen herrschaftsfreien Zustand gerade zu vermeiden. Dies sind erstens pragmatische Erwägungen, insofern die Beseitigung des Tyrannen – so gerechtfertigt sie auch sein mag – nicht die Möglichkeit ausschließt, dass ein nur tyrannischerer Herrscher nachfolgt. Dieser Möglichkeit billigt Arnisaeus offensichtlich einige Wahrscheinlichkeit zu.149 Diese Erwägungen geben ihren qua Pragmatismus säkularen Ansatzpunkt jedoch zweitens schon in dem Moment wieder preis, wo es um die in der Sache heikle Beurteilungskompetenz geht, den Tyrannen zu stürzen oder nicht, ihn gar zu töten oder nicht. Hinsichtlich der Tötungsfrage verweist Arnisaeus ihre Erörterung explizit an die Theologie weiter.150 Aber auch respektive der ersten Frage,
146 Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 244. 147 Ebd., S. 235. 148 vgl. Manfred Riedel: Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie. In: ders.: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie. Frankfurt am Main 1975 (stw 720), S. 254–279, hier S. 259. 149 Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 236; Arnisaeus: De Autoritate Principum, S. 65a (Cap. IV, Nr. 16): „Quin etiam ejecto uno Tyranno, novus plerunq; succedit multò deterior […]“ 150 Ebd., S. 64b (Cap. IV, Nr. 16): „Tyrannum consummatum & notorium, contra quem non datur aliud remedium, vel à subditis ipsis posse à Republ. amoveri, (nam de cæde ejus relinquimus
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der Vertreibung des Tyrannen aus dem Amt, offenbart Arnisaeus’ Argumentation einen eminent theologischen Fluchtpunkt. Arnisaeus wendet den Charakter der Tyrannis nämlich straftheologisch gerade so, dass der Tyrann nicht nur als Objekt, sondern vielmehr als Mittel der göttlichen Strafe anzunehmen ist: „Præterea, licet Deus non sustenet Tyrannos, quibus exitium ubique minitatur, prout sustenat potestatem legitimam à se ordinatam: tamen non dubium est, quin peccata subditorum puniat sævitia principum“.151 Damit werden die Untertanen unvermittelt von Klägern zu Beklagten. Das Erwehren gegen die Tyrannis ist unter dieser Perspektive keine andere als das gegen Gottes Strafe. Vor allem aber macht Arnisaeus anhand eines Lutherzitats zu den Türkenkriegen die Sündenfreiheit bzw. Befreiung von Sünden zur Bedingung eines ebenso erfolgreichen wie allererst dergestalt legitimen Widerstands.152 Da aber die Gewissensprüfung nicht nur für den Lutheraner eine letzthin immer intrinsische ist, zwischenmenschlich also nie den Status der bloßen Wahrscheinlichkeit überwinden kann, bleibt die Unternehmung des Umsturzes mit dem Risiko seiner potenziellen Rechtswidrigkeit behaftet. Deshalb erwägt Arnisaeus diese zwei Argumente zur Unterlassung des Widerstandes nicht getrennt, sondern im engen Zusammenhang: Denn mündet der Widerstand in einer noch schlimmeren Tyrannis, ist dies gerade Zeichen einer Strafe Gottes, die nunmehr deshalb schwerer ausfällt, weil die vorangegangene Strafe – der ‚weniger schreckliche‘ Tyrann – nicht angenommen wurde. Horst Dreitzel interpretiert diese Normenkollision von illegitimer Herrschaft und zeitgleich doch illegitimem Widerstand daher unzutreffend als eine von „moralischer Zulassung“ einerseits und von „Rechtsverletzung“ andererseits.153 Dem bis dahin von Arnisaeus Entwickelten gemäß ist die Selbstentrechtung des Herrschers durch seine Tyrannis nämlich nicht nur im Bereich bloßer Moralität zu verorten, wohingegen nur das Widerstandsverbot rechtsförmig wäre. Tatsächlich ist beides juridischer Natur: Genauso wie der vollkommene Tyrann sein Herrschaftsrecht verloren hat, bleibt dem Volk seine Entmachtung im Endeffekt verboten. Denn anders als bei Althusius ist die summa potestas ebenso wenig
rem piis animis considerandam, aut ex Theologorum scholis petendam) sine magno scelere.“ 151 Ebd., S. 64b (Cap. IV, Nr. 16). 152 Ebd., S. 64b (Cap. IV, Nr. 16): „Sicut igitur Luther rectè dixit: Frustra à nobis pugnari contra Turcam, nisi causam victoriæ toties de nobis relatæ prius amoliti fuerimus, hoc est, nisi peccata prius nostra expiaverimus“. Es sind Äußerungen Luthers wie diese, die den häufig behaupteten säkularen Charakter des politischen Regiments nicht nur in Frage stellen, sondern nachgerade widerlegen. Wer nämlich bescheidet über die für den politischen Erfolg ausreichende Sündenfreiheit der Soldaten, wenn nicht der Theologe? 153 Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 236.
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eigentliches Eigentum des Volks.154 Dieses Dilemma des Menschen zwischen zwei Normen stellt eine ebenso politisch wirksame wie juridisch gewollte Zumutung dar und diese Zumutung ist Arnisaeus nur dann widerspruchsfrei zuschreibbar, wenn sie nicht anders als rechtstheologisch gemeint ist: In der allemal ratsameren Duldung eines Tyrannen realisiert sich gerade keine juridische Aporie, solange Gott diejenige Verbotsinstanz gegen den Tyrannen ist, den zu stürzen die civitas kaum nachweisbar legitimiert ist. In dieser Duldung realisiert sich ferner keine politische Aporie, solange Gott als der einzig Einsicht und Recht Besitzende sein Verbot gegen den Tyrannen durch wirkmächtige Strafhandlungen gegen diesen realisiert. Das ist der eminent rechtstheologische wie theologisch-politologische Schluss, der aus Arnisaeus’ Lehre von der Tyrannis und dem Widerstandsrecht zu ziehen ist. Allein: Arnisaeus selbst buchstabiert diesen Schluss nicht aus.
4.1.2.6 Christoph Besold Die Synopse der Politik (1620) des Kepler-Schülers Christoph Besold (1577–1638) führt neben seinem Verhältnis zu Johann Valentin Andreae und zur Rosenkreutzerbewegung nachwievor ein Schattendasein, und zwar zu Unrecht:155 Sie kann als Ausdruck einer Staatsrechtslehre gewertet werden, die Souveränitäts- wie Nezessitätsfragen zu klären versucht, und dabei deren eigentliche fundamentale Probleme allererst aufwirft. Der Hauptschrift des zum Zeitpunkt ihres Erscheinens noch lutheranischen156 Besold merkt man nicht nur die hauptamtliche juristische Berufung ihres Autors an: Der Tübinger Ordinarius für Pandekten-
154 Vgl. Merio Scattola: Controversia de vi in principem. Vertrag, Tyrannis und Widerstand in der Auseinandersetzung zwischen Johannes Althusius und Henning Arnisaeus. In: Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jh.). Hg. von Angela De Benedictis, Karl-Heinz Lingens. Frankfurt am Main 2003 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 165), S. 175–249, hier S. 231. 155 Vgl. Martin Brecht: Christoph Besold: Versuche und Ansätze einer Deutung. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), S. 11–28, hier S. 26. 156 Vgl. Laetitia Boehm: Christoph Besold (1577–1638) und die universitäre Politikwissenschaft seiner Zeit. Zum Bildungs- und Erfahrungshorizont seiner Staatslehre. In: Christoph Besold: Synopse der Politik. Übers. von Cajetan Cosmann. Hg. von Laetitia Boehm. Frankfurt am Main, Leipzig 2000 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 9), S. 291–337, hier S. 298: „Nach der Schlacht von Nördlingen (6.9.1634), die mit dem Sieg der Kaiserlichen über die Schweden zur Auflösung des protestantischen Heilbronner Bundes und zur habsburgischen Rückeroberung Württembergs führte, trat er ab 27.7.1635 in österreichische Dienste als Regierungsrat in Stuttgart […] Wohl am 9.8.1635 legte Besold öffentlich das Bekenntnis zum Katholizismus ab“. Ausführliche biographische Angaben geben Barbara Zeller-Lorenz, Wolfgang Zeller: Christoph Besold (1577–1638).
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wesen157 unterstellt praktische Handlungsfragen nicht bloß einem rechtlichen Primat, sondern beantwortet schon in den Praecognita politische und rechtliche Fragen wiederum auf theonomem Fundament.158 Unter Anwendung der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre sieht Besold im göttlichen Auftrag die Wirkursache legitimen Herrschens.159 Hinsichtlich des unübersehbar intentionalen Charakters dieses Auftrags fällt damit die letzte Finalursache mit dieser causa efficiens immer schon zusammen. Den mithin nur sekundären Zweckursachencharakter derjenigen fines des Staates, die Besold selbst bestimmt (öffentliches Wohl und öffentliche Gesittung), reflektiert er indessen nicht.160 Bildet Theonomie zwar das notwendige Legitimationsfundament, so ist Religion erklärter Maßen nicht Staatszweck: Besold argumentiert besonders gegen jesuitische Widerstandstheoretiker und redet im Resultat einer konfessionsindifferenten politischen Theonomie das Wort.161 Das Konzept der heute so genannten dualen Souveränität schlägt sich in der Distinktion der maiestas realis und der maiestas personalis nieder. Als Mittelsuche zwischen Herrschaftssouveränität und Volkssouveränität wäre Besolds Entwurf im Ergebnis nur wenig treffend beschrieben. Die maiestas realis ist nicht die des Volks, sondern die der Verfassung und des Staats als eines politischen Körpers. Die maiestas personalis des Herrschers ist nur durch die formale Bestimmung dieser maiestas realis eingeschränkt, insofern er die bestehende Ordnung im weitesten Sinne pflegen, das Staatswohl (nicht das Wohl des Volkes!) besorgen und den Staat stabilisieren soll. Allerdings kennt der Herrscher instanziell keine andere Zwangsgewalt über sich als diejenige Gottes.162 Damit stellt sich das Problem, dass im Zweifelsfall die maiestas realis keine eigene vis coerciva zur Einholung ihrer Ansprüche besitzt. Diese können nur von Gott selbst gegenüber der maiestas personalis des Herrscher eingeklagt werden – so er es denn politisch, also bereits diesseits-irdisch tut. Dies hat mit Volkssouveränität wenig zu schaffen.
Polyhistor, gefragter Consiliator und umstrittener Konvertit. In: Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät. Hg. von Ferdinand Elsener. Tübingen 1977 (Contubernium 17), S. 9–18. 157 Wilhelm Kühlmann: [Art.] Besoldus, Besold, Christoph(orus). In: Killy 1, S. 506f., hier S. 506. 158 Vgl. Brecht: Christoph Besold, S. 23. 159 Christoph Besold: Synopse der Politik. Übers. von Cajetan Cosmann. Hg. von Laetitia Boehm. Frankfurt am Main, Leipzig 2000 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 9), S. 27 (Praecognita. 26). 160 Ebd., S. 28 (Praecognita. 29). 161 Ebd., S. 30–32. 162 Ebd., S. 44–46 (1. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 4–12).
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Dennoch lässt Besold dieses Problem einer fehltretenden maiestas personalis nicht völlig ungelöst. Von Strafen spricht Besold im entsprechenden Kapitel allerdings nur im Sinne der staatlichen Strafverfolgung, im Falle von Verstößen gegen das menschliche Gesetz des Staates also,163 an das der Herrscher ohnehin nicht gebunden ist.164 Die Bestrafung des Herrschers im Hinblick auf dessen Vergehen gegen göttliches und natürliches Recht behandelt Besold innerhalb dieses zweiten Buches De Conservatione Civitatis nicht. Dieses setzt allein den bestehenden, stabilen Staat voraus. Die Bindung der Mittel zur Erhaltung des Staates an das göttliche Gebot, eine mithin theonome prudentia civilis ist allerdings auch in dieser Abteilung nicht zu übersehen: Die Lehre von den Arcana bzw. der Staatsräson wird in Anlehnung an Clapmarius’ Unterscheidung von Arcana der Republik und Arcana der Herrschaftsausübung165 moraltheologisch eingehegt. Die ‚Wirkursache‘ der Arcana muss die Intention sein, gerecht zu herrschen und Gott in der Herrschaftspraxis nicht zu beleidigen.166 Auch Besold hegt also ähnlich Bornitz schon in Ansätzen die Idee, dass Klugheit als solche ohne Gott und seine Gesetze nicht zu haben sei. Dabei begründet Besold die zeitgleiche Absolutheit des Herrschers von den eigenen Staatsgesetzen durchaus ebenso pragmatisch wie rechtstheologisch: Die menschlichen Gesetze sind gegenüber dem allein umfassenden göttlichen und natürlichen Recht notwendig defizitär. Daher könne der Herrscher gar nicht gut herrschen, wenn er sich stets an die menschlichen Gesetze hielte. Er würde immer dann schlecht herrschen, wenn er sich in Situationen an den menschlichen Gesetzen orientieren würde, für die diese Gesetze gar keine Regulierungshandhabe bieten.167 Von den göttlichen wie natürlichen Gesetzen ist der Herrscher allerdings nicht gelöst. Sie drängen den Herrscher zwar nicht zur eigenen Einhaltung der Staatsgesetze als sein politisches Mittel, wohl aber drängen sie ihn zur Stabilisierung der Geltung des staatlichen Gesetzes als zu seinem politischen Ziel.168
163 Ebd., S. 192–199 (2. Buch, 1. Teil, 3. Kapitel). 164 Ebd., S. 52 (1. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 30). 165 Ebd., S. 229 (2. Buch, 1. Teil, 9. Kapitel. 3); vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. 166 Besold: Synopse der Politik, S. 229 (2. Buch, 1. Teil, 9. Kapitel. 5): „So gewiß aber die Prinzipien solcherart von Arcana nicht zwischenzeitlich zu vernachlässigen sind, so darf für deren Wirkursache nichts anderes gehalten werden – wie es die Machiavellisten und Hofpolitiker wollen –, als daß es kein größeres und nützlicheres Arcanum gibt, als gerecht zu herrschen und Gott nicht zu beleidigen.“ 167 Ebd., S. 54 (2. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 36). 168 Ebd., S. 54f. (2. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 37).
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Auf der Suche nach einer Ausformulierung des Gedankens einer göttlichen Strafe über den Herrscher – denn nichts anderes verbleibt Besold systematisch noch als legitime Auflösung desjenigen Ausnahmezustands, wie er hier interessiert – wird man nur eingeschränkt fündig. Im einzigen Kapitel des letzten Buches De Morbis Rerumpublicarum; earumque Causis, Praesagijs, Curatione etc. erfährt man zwar von der ausdrücklichen Juridizität desjenigen Aktes göttlicher Vorsehung, der eine civitas untergehen lässt: „Als gewiß kann gelten, daß die göttliche Vorsehung Königreiche nicht aus einem absoluten Entscheid heraus zerstört, sondern wegen Ungerechtigkeit und anderer Sünden der Großen oder der Untertanen […]“.169 Erstens aber führt Besold unter dem entschiedenen Verweis auf die Undurchschaubarkeit dieser Vorsehung170 nichts über Zeitpunkt und Gestalt dieser effektiven Strafhandlungen Gottes aus. Zweitens behandelt Besold mit dem Untergang der gesamten Civitas eben nur gleichermaßen eine Kollektivstrafe Gottes, jedoch nicht den spezifischen Fall eines Vergehens des Herrschers gegen das göttliche Gesetz. Hier bleibt der Fokus ganz irdisch-politisch, mithin segmental, aber nicht systematisch säkular: Denn die eigentlich dringende Frage der göttlichen Strafinstanz bleibt schlicht ausgespart. Ein Widerstandsrecht wird abgestritten; lediglich auswärtige Souveräne dürfen sich diplomatisch ins Mittel legen oder intervenieren:171 Diese subsidiäre Strafgewalt ist die einzige Form legitimierter Strafung eines straffällig gewordenen Souveräns, die Besold andenkt und wie sie auch schon von Francisco de Vitoria172 und von Philipp Melanchthon entwickelt wurde (4.4.4.2). Die göttliche Strafe gerade an der Stelle, wo es die maiestas realis gegen die maiestas personalis zu verteidigen gölte, bespricht Besold nicht, auch wenn er diese Stelle durch seine bedingt duale Souveränitätssystematik selbst markiert.
4.1.2.7 Ein Fazit aus der Perspektive Gryphius’ Im Hinblick auf diese Traditionen ist Andreas Gryphius in bestimmter Weise als ein Subjekt der politischen Ideengeschichte zu beschreiben: Er drängt auf eine befriedigende Ausformulierung derjenigen pragmatischen Folgerungen, die aus den bis dato vermehrt widerspruchsvollen Entwürfen zwischen Rechtstheologie
169 Ebd., S. 279 (4. Buch, Einziges Kapitel. 8). 170 Ebd., S. 280 (4. Buch, Einziges Kapitel): „Gleichwohl ist der Fortgang der göttlichen Vorsehung ziemlich dunkel, denn natürlich gehört er zu dem, was der göttlichen Maiestas vorbehalten ist […].“ 171 Ebd., S. 284f. (4. Buch, Einziges Kapitel. 25f.) 172 Heinz-Gerhard Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden. Köln 1991 (Theologie und Frieden 5), S. 73.
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und Frühabsolutismus allererst zu entwickeln sind. Arnisaeus etwa denkt eine per definitionem dergestalt strikte Bindung der maiestas personalis an deren politisch-theologische Herrscherpflicht, dass eine Verwirkung des Herrschaftsrechts zwar denkbar wird. Dennoch ist diese Idee sowohl für die theonomen Geltungsansprüche als auch für die politischen Dringlichkeitsinteressen des Menschen nur eingeschränkt brauchbar: Denn solange die Verwirkung des Herrschaftsrechts nur konstatiert, ein Widerstand jedoch kaum als legitimer Umsturz realisiert werden kann, bleibt die politische Gemeinschaft in den Schranken zweier letztlich göttlicher Gesetze eingegrenzt. Jedoch soll zum Einen der Glauben an die Göttlichkeit des transhumanen Gesetzes nicht erschüttert werden, insofern zumindest dem vollkommenen Tyrannen doch irgendwie strafender Einhalt geboten wird. Zum Anderen soll weiterhin gelten, dass der Untertan diesen strafenden Einhalt nicht selbst vollziehen kann oder darf. Daher muss jener arnisaeische Gedanke eben auch per exercitium an sein Ende gedacht werden. Erst in diesem Denken per exercitium vermag ein vordringlich praktisches Interesse befriedigt zu werden, weil erst hier die Antwort(en) auf diejenige Frage ausformuliert werden, was politisch gültig zu erwarten ist, wenn der Herrscher entweder schwer sündigt oder illegitim beseitigt wird. Die angeführten politischen Lehren sparen diesen Grenzfall gerade aus oder delegieren ihn weiter, wenngleich sie sich seiner bisweilen durchaus bewusst sind. Sie sind daher vordringlich Stabilisierungshandbücher. Sie lassen den Ausnahmezustand als äußerste Nezessität aus: Denn diese Frage sucht weniger nach Rat für politisches Handeln, sondern erkundigt sich nach einem politischen Geschehen, das den naturrechtlichen Befugnisbestimmungen gemäß gar nicht mehr menschlich-handlungstheoretisch beantwortet werden kann. Den Fall, dass die herrschaftliche Stabilität bereits kollabiert ist, subsumieren diese Lehren durchweg unter die eversio civitatis, d.h. den Kollaps der gesamtstaatlichen Stabilität überhaupt. Es kann hier nur angemerkt werden, dass sich schon in der Traktatistik des Frühabsolutismus derjenige Kerngedanke manifestiert findet, der erst im Diktum „L’État, c’est moi“ des ‚Hochabsolutismus‘ seinen berühmtesten Namen bekommen wird: Die implizite Identifikation von Herrschaftsstabilität und Staatsstabilität, mithin die von Herrscherperson und Staat reicht zumindest so weit, dass die Behandlung herrschaftlichen Stabilitätsverlustes unter anderen Vorzeichen als der gesamtstaatlichen eversio offensichtlich als redundant erscheint. Ein vermehrt definitorisches Denken von politischen Kategorien und ihrer Distinktionen schlägt schließlich in ein Denken um, das diese Kategorien und Distinktionen per exercitium weiterentfaltet. Dennoch ist damit nicht schon ein Säkularisierungsautomatismus in Gang gesetzt, so sehr die Interessenperspektive dieses Denkens auch diejenige des säkular-politischen Bereiches ist. Mit Andreas Gryphius soll in dieser Arbeit ein Beispiel gegen eine solche Vermutung vorge-
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stellt werden. Ohne die Ergebnisse der noch folgenden Detailuntersuchungen vorwegzunehmen: Es ist zu zeigen, dass die Forderung, geltendes natürliches Recht müsse, um politisch wirksam zu sein, auch irdisch geltend gemacht werden, noch keinen Umschlag ins profane Naturrechtsdenken bedeutet. Die traditionelle Rechtstheologie und die aus ihr abgeleitete Staatslehre wird zwar zunehmend als unbefriedigend empfunden: Dass der tyrannische Herrscher nur nach dem Tod gestraft würde, ist eine eschatologische Vertröstung, jedoch keine politische Perspektive. Nichtsdestoweniger ist die nunmehr vermehrt eingeforderte politische Perspektive nicht notwendig eine anthroponome oder gar autonome. Wenn ferner die Politiken der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts eben deshalb nur Stabilisierungshandbücher darstellen, weil sie sich in Folge von Aristoteles’ Klugheitsbegriff gerade unzuständig für Fragen der Alternativlosigkeit sahen und damit unzuständig für die Frage des echten Ausnahmezustandes, so wird auch deutlich, welche grundsätzlichen Vorteile eine dramatische Behandlung des Themas dem Dichterjuristen Gryphius bieten konnte. Die Dramenform war nicht je schon von den Bestimmungen des prudentia-Begriffes eingeschränkt wie die zeitgenössischen Politiken: Von diesen Bestimmungen war die Dramenform frei. Das Trauerspiel des Andreas Gryphius konnte sich der politischen Themen Tyrannei und Widerstand also annehmen, ohne an die Grenzen einer sozusagen gattungsspezifischen Deputation zu stoßen. Das Trauerspiel des Andreas Gryphius konnte hinter diesen Grenzen der prudentia weiter eindringen in das vordergründig rein theologische Feld göttlichen Strafens und allererst so danach fragen, inwiefern es nicht doch auch politisch und vielleicht sogar prudentiell relevant ist.
4.1.3 Antimachiavellistische Rechtslehre: Melanchthon, Suárez, Schönborner 4.1.3.1 Philipp Melanchthon Philipp Melanchthon (1497–1560) behandelt die Aporien des weltlichen Regiments ebenso ausführlich wie die Frage nach Gottes bestimmtem Verhältnis zu diesem. Diese beantwortet er – das sei hier schon angekündigt – in jener Weise, wie sie für Schönborner und besonders für Gryphius bestimmend sein wird. Dies zeigt sich in seinem Hauptwerk, den Loci theologici tertiae aetatis (1559) in voller Entfaltung, kommt aber auch schon in einer dem Titel nach von Justus Jonas, vermutlich aber in weiten Teilen von Melanchthon selbst angefertigten deutschen Fassung von 1558 (erstmals 1555) zur Geltung:173 den Heubtartikel Christ-
173 So Robert Stupperich: Melanchthons deutsche Bearbeitung seiner Loci nach der Olmützer Handschrift. Amsterdam, London 1973.
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licher Lere. Schon diese beinhaltet gegenüber den Loci secundae aetatis deutliche Erweiterungen. An dieser Stelle ist davor zu warnen, von dem eminent theologischen Charakter eines frühneuzeitlichen Traktats wie der Loci auf ein politisches Desinteresse desselben zu schließen. Die lutherische Lehre von den zwei Regimentern legt diesen Schluss systematisch zwar nahe, darf aber nicht übersehen lassen, dass schon Luther selbst die Theologie stärker politisiert als anzunehmen: Die historische Semantik und Übersetzungsforschung hat z.B. aufgezeigt, dass ausgerechnet „Luther – im Unterschied zu den voraufgehenden Bibelübersetzungen – das Lehnwort Tyrann häufig und zwar weit häufiger als die lat. oder griech. Bibel (33 Belege bei Luther, acht in der Vulgata)“ verwendet.174 Ebenso wenig schließt Melanchthons theologisches Lehrwerk politische Fragen aus: Insofern die Theologie für Fragen nach einem Deus politicus (4.4.4) eminent und allein zuständig ist, schließt sie die prudentia politica notwendig ein. Dass Werke wie das Melanchthons dementsprechend nicht das politisch, politica, prudentia regalis in ihren Titeln führten, hat vermutlich zu den wirkungsgeschichtlichen Irrtümern beigetragen, die auf der Suche nach Gryphius’ Kontexten und Übernahmen – überspitzt formuliert – nur in solchen Texten haben suchen lassen, die das politisch im Titel führten. Besonders die tertia aetas der loci 1559, aber auch schon die Heubtartikel 1558 weisen in entscheidenden Punkten ein immer schon großes politisches Interesse auf. Auf diejenigen Lehren und Folgerungen, die für Gryphius’ politische Trauerspiele, besonders für die Idee des politisch irdisch strafenden Gottes (4.4.4), von entscheidender Bedeutung sein werden, kommt Melanchthon dabei an mehreren Stellen seines Lehrwerks zu sprechen. Das ist dem topologischen Aufbau seiner Loci geschuldet, deren topoi sich nach hauptsächlich theologischen und religionspraktischen Grundfragen gliedern. Zum systematischen Aufbau der Darstellung bekennt sich Melanchthon schon explizit in der Leservorrede der Heubtartikel: Wer nützlich selbs lernen, oder andere deutlich vnterrichten vnd leren will, der mus die Heubtstücke in der selbigen Materia fassen/ von anfang bis zum ende/ vnd wol mercken/ wie ein jedes stück vff das ander volget/ gleich wie ein Bawmeister/ so er ein Haus bawen will/ den gantzen Baw zuvor in gedancken fassen/ vnd jm ein bilde fürmachen mus.175
Es wird der Systematik des theologischen Inhalts von Allgemeinem und Besonderem gefolgt. Das Bekenntnis zum ramistischen Aufbau führt jedoch nicht vom
174 Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses, S. 40. 175 CR XXII, Sp. 51.
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Status der Theologie als eigenständiger, ja übergeordneter Disziplin weg und zu einem Primat der Philosophie heran – geschweige denn, dass Melanchthon zu einer Staatsphilosophie käme, die von Gottes Gesetz entbunden ist. Vielmehr ist die Philosophie als ancilla theologiae bloße Lieferantin von Unterscheidungskategorien. Diese besitzen selbst keinen prinzipiellen Charakter dahingehend, dass sie die widerspruchsvollen Grundlagendogmen der Theologie widerlegen könnten. Die Philosophie muss sich die Verabfolgung von Schlüssen aus letztlich den Sinnen zugänglichen Grundlagen nach der via demonstrativa zur Aufgabe zu machen. Die Theologie bedient sich allein dieser via demonstrativa. Ihre Grundlagen jedoch bildet das von Gott nachweislich Gesagte. Des möglichen Vorwurfs einer Philosophisierung seines Gegenstandes ist sich Melanchthon sichtlich genauso bewusst wie des Vorwurfs einer gefährlichen Entkopplung der Staatslehre vom göttlichen Recht. Daher erweitert Melanchthon in den Loci tertiae aetatis die Leservorrede um diese Unterscheidung von philosophischen Verfahren und ihrer theologisch geleiteten Benutzung.176 Die via demonstrativa bleibt natürlich philosophisch. Die Tatsache jedoch, dass die Menschen mit ihrer Hilfe die Dinge nach Ordnung und Zahl begreifen, ist wiederum Gottes Wille geschuldet, die Philosophie mithin nicht autonom, sondern von göttlicher Lizenz: Die Menschen wurden von Gott so geschaffen, dass sie Zahlen und Ordnung erkennen und ihnen beim Erlernen jedes Dinges Zahlen und Ordnung zu Hilfe kommen. Daher wird beim Erlernen der Künste mit besonderer Sorgfalt die Ordnung der Teile aufgewiesen und ihre Anfänge, ihr Weg und ihr Ziel angezeigt. Diese Form des Erklärens nennt man in der Philosophie Methode. Diese aber wird in diesen Künsten, die auf Beweisen aufbauen, anders als in der Lehre der Kirche eingesetzt. Denn die beweisende Methode geht von demjenigen aus, das den Sinnen zugänglich ist, sowie von ersten Kenntnissen, die Prinzipien genannt werden. In der Lehre der Kirche wird allein die Ordnung benötigt, nicht aber jene beweisende Methode. Denn die Lehre der Kirche wird nicht aus Beweisen gewonnen, sondern aus dem Gesagten, das Gott durch gesicherte Offenbarungszeugnisse dem menschlichen Geschlecht überliefert hat, durch die er in seiner immensen Güte sich und seinen Willen offenbart. […] in der Lehre der Kirche liegt der Grund der Gewissheit in der Offenbarung Gottes.177
176 Vgl. Günter Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560). Leipzig 1995 (Erfurter theologische Studien 67), S. 58–60. 177 CR XXII, Sp. 603f.: „Ita conditi sunt homines a Deo, ut numeros et ordinem intelligant et in discendo multum utraque re, numeris et ordine, adiuventur. Quare in artibus trandendis singulari cura monstratur ordo partium et indicantur initia, progressiones et metae. Hanc explicandi formam in Philosophia vocant Methodum, sed haec in iis artibus, quae demonstrationibus extruuntur, aliter quam in doctrina Ecclesiae instituitur. Nam demonstrativa methodus progreditur ab iis, quae sensui subiecta sunt, et a primis notitiis, quae vocantur principia. Hic in doctrina Ecclesiae tantum ordo quaeritur, non illa methodus demonstrativa. Nam haec doctrina Ecclesiae
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Die Prinzipien der Theologie sind qua Offenbarung verbürgt und bedürfen daher keines Regresses mehr auf weiter dahinterliegende Gründe. Gott ist Grund und Ursache von allem und damit der Endpunkt eines finiten Regresses. Mithin dienen die philosophischen Unterscheidungskategorien eben ausschließlich der Unterscheidung und besitzen – dies gilt auch für den Satz vom Widerspruch – keinen Absolutheitsanspruch: Kategorien im späteren kantschen Sinne von „wahren Stammbegriffen des reinen Verstandes“178 sind die philosophischen Grunddistinktionen daher genauso wenig wie diejenigen der praktischen, mithin der politischen Philosophie. Melanchthon verfolgt den Weg einer theologischen Lehre und kommt auf Fragen der Staatsrechts- und Regierungslehre dort zu sprechen, wo diese theologische Lehre es erlaubt und erfordert. Wo politische Überlegungen daher zwischenzeitlich unterbrochen scheinen, wird in der Tat die theologische Reflexion nahtlos fortgesetzt und lässt stets nur ihrer selbst entsprechend auf das Politische zurückkommen. Wie zu zeigen sein wird, wird dies gerade jener Anforderung des Ausnahmezustandes gerecht, wie sie sich den Zeitgenossen präsentierte: Das Dilemma des status necessitatis gründet nicht nur im Mangel realer Handlungsmöglichkeiten, sondern auch im Zwiespalt zweier göttlicher Gebote. Damit ist vor allem der Zwiespalt zwischen dem Verbot eines aktiven Widerstandes einerseits und dem Verbot einer Unterstützung des Tyrannen andererseits angesprochen, wie er besonders im Papinian behandelt wird. Indem der Ausnahmezustand nicht nur die menschliche Handlungsmacht übersteigt, sondern auch in göttlichen Geboten einen seiner Gründe hat, kann er nur von der Theologie erklärt und durch die Theologie gelöst werden.
4.1.3.2 Francisco Suárez Die Bedeutung des Theologen und Rechtsgelehrten Francisco Suárez (1548–1617) ist weder zu bestreiten noch zu unterschätzen. Schon 1928 zeichnet Karl Eschweiler die Rezeptionslinien nach, die vor allem Suárez’ Metaphysik nicht erst durch Leibniz erfährt: Sie bot eine „erste umfassende Synthese“, die für die „metaphysischen Tendenzen der melanchthonianischen Dialektiker ihre großartige Erfüllung“ darstellte.179 Dies war nicht allein konjekturalen Bedürfnissen geschuldet,
non ex demonstrationibus sumitur, sed ex dictis, quae Deus certis et illustribus testimoniis tradidit generi humano, per quae immense bonitate se et suam voluntatem patefecit. […] in doctrina Ecclesiae certitudinis caussa est revelatio Dei […]“ [Hervorhebungen O.B.; Übersetzung O.B.]. 178 KrV A 81|B107. 179 Karl Eschweiler: Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts. In: Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft 1 (1928), S. 251–325, hier S. 274f.
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insofern der protestantische Aristotelismus keine eigenständige Metaphysik entwickelt hätte.180 Auch vollzog sich die Annahme der suárezischen Metaphysik durch die lutheranischen und reformierten Hochschulen nicht allein durch Entfremdung von der eigenen Theologie, d.h. durch eine Katholisierung lutheranischen und reformierten Denkens.181 Ludger Honnefelder stellte jüngst zurecht fest, dass Suárez’ konfessionsübergreifende Wirkung ihre Ursache in den „gleichen sachlichen und historischen Beweggründe[n]“ hatte, „nämlich der theologischen Argumentation jenes unstrittige Fundament zu vermitteln, das weder den theologischen Quellen noch bloßer Aristoteles-Interpretation abzugewinnen war“.182 Gleiches gilt für Suárezʼ Rechtslehre: Wie seine Kollegen der protestantischen Rechtstheologien versuchte auch der Conimbricenser Jesuit den Anspruch des göttlichen und natürlichen Rechts gegen das pragmatistische Ansinnen zu verteidigen, dieses tauge nicht für die Praxis. Jüngste, auch eigene Forschungen waren vor allem bemüht, die suárezischen Vermittlungsleistungen „zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit“ herauszustellen.183 Dennoch reicht der Universalitätsanspruch von Suárez’ Traktat De legibus ac Deo legislatore (1612) eben soweit, auch die praktische Staatslehre in seinen Kompetenzbereich zu subsumieren. Seine Rechtslehre sieht ebenso eine Gesetzes-Hierarchie vor, aufgrund derer transhumanes Recht der weltlichen Gesetzgebung und Staatsführung nicht nur lose über-, sondern systematisch streng vorgeordnet ist.184 Dies konfligiert nicht nur mit der Idee Machiavellis, dass der Fürst in seinem Handeln von jeglicher Prärogative frei sein müsse; sondern Suárez unternimmt sowohl die normative als auch praktische Widerlegung dieser Idee. Im dritten Buch seines Rechtstraktats analysiert Suárez beobachtungsscharf die Auffassung der machiavellischen Politik, dass allererst die weltliche Macht und das weltliche Recht den politischen Zustand und die Erhaltung des Staates
180 Ebd., S. 270 181 Vgl. Ernst Lewalter: Spanisch-jesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der iberisch-deutschen Kulturbeziehungen und zur Vorgeschichte des deutschen Idealismus. Hamburg 1935 (Ibero-amerikanische Studien 4), S. 16–19. 182 Ludger Honnefelder: Anlass, Kontext, Aufbau und Wirkung von Suárez’ Disputationes Metaphysicae. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 3–26, hier S. 8. 183 Bach, Brieskorn, Stiening (Hg.): Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. 184 Vgl. Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez; Stiening: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez.
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anzielen.185 Aufgrund dieser Auffassung gelange man zur Ansicht, dass die Gerechtigkeit indifferent sei für die Gestaltung der staatlichen Gesetze genauso wie für politische Handlungsmaßnahmen: Deren Maßgabe sei allein, dass die dadurch angestrebten Güter der civitas von Nutzen sind.186 Hier nennt Suárez den großen gemeinsamen Gegner aller Rechtstheologien schließlich auch beim Namen: Haec est doctrina politicorum huius temporis, quam praecipue persuadere conatus est principibus secularibus Machiavelus solumque fundatur in hoc: quod non potest aliter temporalis respublica conservari. Unde illius iudicium perversum est: non posse esse verum regem et stabilem qui legibus virtutis astringitur eisque omnino subicitur.187
Als den fundamentalen Irrtum Machiavellis macht Suárez die Annahme aus, dass überhaupt andere Tugenden als die iustitia das Staats- und Gemeinwohl stärken könnten. Denn er stimmt dem Fiorentiner durchaus soweit zu, dass Friede und Glück des weltlichen Gemeinwesens das Ziel staatlicher Macht sind, weshalb in der Tat nur zu deren Behuf Gesetze zu erlassen sind.188 Frieden und Glück jedoch sind exklusive Gegenstände der iustitia: „Sed huiusmodi est materia iustitiae et non aliarum virtutum“.189 Suárez argumentiert nicht gegen eine utilitaristische Per spektive überhaupt. Statt einer Inadäquanz des Utilitarismus stellt Suárez die Unangemessenheit der Prämisse heraus, der gemeine Nutzen könne anders als durch die Gerechtigkeit, ja sogar entgegen dieser erreicht werden. Im Gegenteil zeigt Suárez mit Cicero und Augustinus, dass nur die Gerechtigkeit dem Nutzen als hinreichende Realisierungsbedingung genüge, den die Politici so stark hervorheben: [S]umi potest ex Augustino (lib. II De civitate, cap. 21) ubi ex Cicerone refert „concordiam esse arctissimum atque optimum in omni republica vinculum incolumitatis eamque sine iustitia nullo pacto esse posse“, significans cum illa esse posse et illam solam sufficere ad illum finem.190
185 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 12. 2, Bd. 1, S. 210: „Una [opinio] est potestatem laicam et ius civile per se primo intendere statum politicum eiusque conservationem et augmentum […].“ 186 Ebd., III. 12. 2, Bd. 1, S. 210/212.: „[I]n ordine ad hunc finem has leges ferri sive in eis vera honestas inveniatur sive tantum simulata et apparens, dissimulando etiam illa quae iniusta sunt, si reipublicae temporali sint utilia.“ 187 Ebd., III. 12. 2, Bd. 1, S. 212. 188 Ebd., III. 12. 3, Bd. 1, S. 214: „[F]inis potestatis civilis est pax et felicitas temporalis reipublicae humanae. Ergo solum potest leges ferre in materia iustitiae ad pacem hanc et felicitatem conservandam.“ 189 Ebd., III. 12. 3, Bd. 1, S. 214. 190 Ebd., III. 12. 3, Bd. 1, S. 214 [Hervorhebung O.B.].
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Die Lehrmeinung des Machiavelli verurteilt Suárez konsequent als „völlig falsch und irrig“.191 Von der Gerechtigkeit her bestimmen sich sowohl der Begriff des Rechts, des Gesetzes192 als auch des staatlichen Gemeinwohls. Schon der Gesetzesbegriff lässt eine (staats)rechtsförmige Ungerechtigkeit schlicht nicht zu. Die Auffassung, dass ungerechte Gesetze keinen Gesetzesstatus erlangen, übernimmt Suárez hierbei schon von Thomas von Aquin.193 Suárez unterschlägt in seiner Machiavelli-Kritik nicht, dass dessen Lehrmeinung aus etablierten Rechtskorpora sogar potenziellen Zuspruch ziehen könnte – so man diese denn falsch auslegt. Diesen Fluchtpunkt hat Suárez schon im Blick, wenn er umstandslos eingesteht, dass jede Quelle der justinianischen Rechtssammlung solche vordergründigen Verrechtlichungen von Rechtlosigkeit enthalte: Potestque hic error iuvari ex legibus civilibus quae interdum sustinent et fovent actus pravos propter temporalem commoditatem, ut in lege Dolo, C. De inutilibus stipulationibus, datur actio non obstante dolo et in § Namque Institutionum, De actionibus, conceditur actio fraudulenta; et in lege Pacisci, ff. De pactis, pactum contra leges sustinetur.194
Es sind ein Kodex- genauso wie ein Institutionen- und Digestentitel, die eine solche Rechtmäßigkeit ungerechter Ansprüche konzedieren wie schlechter Absicht („dolus“), betrüglicher Klage („actio fraudulenta“) und eines gesetzeswidrigen, aber dennoch gültigen Vertrags („pactum contra leges“).195 Suárez hegt sichtlich die Befürchtung, diese Gesetze könnten aufgrund ihrer langen Tradition und hohen Autorität den Politici als unbotmäßige Unterstützung dienen. Unbotmäßig wäre dies schon deshalb, weil Codex, Institutionen und Digesten selbst nur leges civiles sind. Systematisch wäre eine Berufung auf diese daher schon deshalb unzureichend, weil sich iustitia abgesichert nur im göttlichen und natürlichen Recht findet. Allerdings unterstellt Suárez den vorgestellten justinianischen Gesetzestiteln gar nicht, tatsächlich gegen die natürliche Billigkeit und Sittlichkeit zu verstoßen und verweist auf den Kommentar des Fortunius Garcia:
191 Ebd., III. 12. 4, Bd. 1, S. 214: „Prior [sc. Machiavelli] ex his sententiis omnino falsa et erronea est.“ 192 Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. 193 STh I–II, q. 93, art. 3: „[D]icendum quod lex humana intantum habet rationem legis, inquantum est secundum rationem rectam: et secundum hoc manifestum est quod a lege aeterna derivatur. Inquantum vero a ratione recedit, sic dicitur lex iniqua: et sic non habet rationem legis, sed magis violentiae cujusdam“. Vgl. Bach: Juridische Hermeneutik. 194 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 12. 2, Bd. 1, S. 212. 195 Cod. 8. 38. 5 (CIC 2, S. 351b); Inst. 4. 6. 4 (CIC 1, S. 47b); Dig. 2. 14. 31 (CIC 1, S. 60a).
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Ad illud autem quod ex usu legum civilium afferebatur, dicendum est imprimis nihil esse in legibus ibi citatis quod directe adversetur aequitati naturali vel honestati, quod late tractat Fortunius (in dicto tractatu De ultimo fine) vindicans ius civile ab hac tota.196
Auf Fortunius einzugehen ist hier weder der Raum noch ist dies notwendig. Festzuhalten ist zunächst, dass Suárez durchaus eingesteht, dass es Situationen gibt, in denen von Naturrechtsnormen – etwa dem dolus-Verbot – abzusehen erlaubt ist. Legitim ist ihm dies jedoch gerade darum, weil es nur systematisch untergeordnete Normen des ius naturale betrifft. Ihre Aufhebung gebietet in jenen Situationen nur wiederum eine übergeordnete Norm des Naturrechts. Dass dies wiederum im weltlichen Recht kodifiziert wird, ist darum nur konsequent und nicht widersinnig. Mit der suárezischen Lehre von der Interpretation weltlicher Gesetze hat sich der Verfasser andernorts eingehend beschäftigt.197 Mit Blick auf das Problem einer machiavellisch anmutenden Erlaubnis naturrechtswidriger Gesetzgebung genügt hier deshalb folgender Umriss. Die Problematik eines Verbotes eines transhumanen Gebotes wird nicht erst von Suárez, sondern schon von Thomas von Aquin als Scheinproblem entlarvt. Thomas erläutert dies anhand des natürlichen Gesetzes, dass verwahrtes Gut dem Eigentümer auf dessen Verlangen hin wieder auszuhändigen sei. Dieses natürliche Gebot gilt jedoch genau dann nicht, wenn der Eigentümer mit dem Gut, z.B. einer Waffe, einem anderen Menschen oder dem Gemeinwesen widerrechtlich zu schaden beabsichtigt.198 Für diesen Fall ist die Herausgabe des Eigentums sowohl dem Einzelnen untersagt als auch vom weltlichen Gesetzgeber zu untersagen. Im Gegenteil wäre das Beharren eines weltlichen Gerichts auf dem naturrechtlichen Eigentumsprinzip wider das Naturrecht. Denn dieses sieht allemal die Prävalenz des Gebots der Nächstenliebe vor dem Eigentum, d.h. den höheren Rang des fünften gegenüber dem siebten Gebot vor. Diese Ansicht des Aquinaten teilt Suárez schon im zweiten Buch seiner Rechtslehre und folgert: Wir sprechen oft über solche Vorschriften in einer Weise, als wenn sie sich vollständig ohne irgendeine Bedingung in Worten darstellen ließen; in der Folge scheinen es diese Vorschrif-
196 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 12. 6, Bd. 1, S. 218. 197 Bach: Juridische Hermeneutik. 198 STh I–II q. 94, art. 4., resp.: „Ex hoc autem principio sequitur quasi conclusio propria, quod deposita sint reddenda. Et hoc quidem ut in pluribus verum est, sed potest in aliquo casu contingere quod sit damnosum, et per consequens irrationabile, si deposita reddantur; puta si aliquis petat ad impugnandam patriam. Et hoc tanto magis invenitur deficere, quanto magis ad particularia descenditur, puta si dicatur quod deposita sunt reddenda cum tali cautione, vel tali modo, quanto enim plures conditiones particulares apponuntur, tanto pluribus modis poterit deficere, ut non sit rectum vel in reddendo vel in non reddendo.“
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ten dann erdulden zu müssen, dass von ihnen eine Ausnahme gemacht wird, und dies nur, weil unsere sprachliche Wiedergabe nicht der naturrechtlichen Vorschrift, so wie sie in sich ist, gerecht wird. Denn tatsächlich erleidet die Vorschrift für sich betrachtet gar keine Ausnahme, weil ja die natürliche Vernunft selbst vorschreibt, dass dieses Gebot nur auf eine sehr bestimmte Weise und nicht anders erfüllt werden dürfe oder müsse oder nur unter bestimmten Umständen und eben dann nicht, wenn diese fehlen sollten.199
Im sechsten Buch, De Interpretatione legum humanarum, wendet Suárez dies auf diejenige obrigkeitliche Befugnis an, die schon ihrer Idee nach mit dem weltlichen und auch dem transhumanen Recht in Konflikt zu geraten droht, nämlich auf die Dispens. Insofern weltliches Recht dem natürlichen und göttlichen Recht gemäß zu sein hat, scheint Dispens nicht nur weltliches, sondern auch natürliches und göttliches Recht zu brechen. Dies ist schon souveränitätsrechtlich nicht wenig heikel, denn schließlich betont auch die suárezische Souveränitätslehre ausführlich, dass der weltliche Herrscher nicht an seine eigenen Gesetze gebunden ist.200 Wie jedoch können sich Absolutheit und Dispensabilität vom weltlichen Recht mit dem transhumanen Recht vertragen, wenn jenes diesem stets konform zu sein hat? Anders als die Monarchomachen macht Suárez deutlich, dass Konformität noch nicht Identität bedeutet. Weltliche Gesetzgebung besitzt in den Grenzen des natürlichen und göttlichen Rechts einen Spielraum, innerhalb dessen es z.B. etwas verbieten kann, was diese erlauben. Der Verfasser hat an genanntem Ort dies wie folgt ins Bild zu setzen versucht: Natürliches und göttliches Recht erlauben wohl das Schwimmen in Seen. Zum Zweck der Versorgung mit sauberem Trinkwasser verbietet das menschliche Gesetz eines Staates jedoch das Schwimmen in einem bestimmten See. Der Fürst dispendiert nunmehr einen einzelnen Untertan von diesem Verbot, und dies entweder aus gutem Grunde, etwa weil des Untertanen Kind in den See gefallen ist und gerettet werden muss. Dies stellt allerdings ohnehin ein höheres Gebot dar und wäre daher nicht eigentlich Dispens, sondern Billigkeit. Oder der Fürst dispendiert den Schwimmer ohne (gerechten) Grund, womit der Fürst nur etwas erlaubt, was vom natürlichen und göttlichen Recht ohnehin erlaubt ist. 201 Weiter trägt die autonome Rechtssetzungs- und Rechtsenthebungsgewalt der weltlichen Obrigkeit bei Suárez nicht. Alle jenen Befreiungen von naturrechtlichen Normen finden natürlich nicht im Rahmen dieses Spielraums der weltlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung statt, weil sie diesem nicht zugehören. Wenn wie in Thomas’ Beispiel vom Schwert, das dem Wahnsinnigen oder Mordlusti-
199 Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, II. 13. 7, S. 531. 200 Ders.: De legibus ac Deo legislatore, III. 35, Bd. 2, S. 322–363. 201 Bach: Juridische Hermeneutik, S. 302f.
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gen nicht zurückgegeben werden darf, das natürliche Recht auf Eigentum dem natürlichen Recht auf Leben untergeordnet wird, so vollzieht sich keine Dispens, sondern aequitas.202 Suárez ist es damit weniger um die Einengung des weltlichen Souveräns zu tun als vielmehr um den Nachweis, dass das transhumane Recht politisch umfassend leistungsfähig ist: Für alle statūs necessitatis ist im natürlichen und göttlichen Recht immer schon eine politisch machbare und rechtlich mögliche Handlungsanweisung angezeigt, die es ‚lediglich‘ aufzufinden gilt. Die Meinung der Politici, Maßnahmen im Ausnahmezustand seien entweder unmöglich rechtsförmig oder stifteten allererst Recht, hat im Lichte des Suárez also in nichts weniger ihren Grund, dass diese das ius divinum und naturale fälschlicher Weise als lückenhaft empfinden. Die iustitia ist nicht nur hehre Rechtsquelle des Staates, sondern sie ist selbst sowohl dessen als auch ihre eigene beste Verteidigerin. Machiavellisten argumentieren daher nie für, sondern stets gegen den Nutzen, den der Staat allein aus der Gerechtigkeit ziehen kann.
4.1.3.3 Georg Schönborner Als gewichtiger Ideengeber und Vorgänger von Andreas Gryphius darf sein Mentor Georg Schönborner (1579–1637) gelten. 1636 publiziert Gryphius seinen Parnassus renovatus, in dem der gerade Zwanzigjährige den hohen Rang seines Mentors poetisch denkbar stark ins Bild setzt: Niemandem Geringeren als den Göttern stellt Gryphius seinen Lehrer als Ratgeber zur Seite. Die Konfliktlagen des Olymp genausowenig überschauend wie die irdisch-menschlichen Probleme, benötigen die Götter den Rat Georg Schönborners; diesen empfiehlt Pallas Athene: „Est mihi VIR praestans studiis, sincera bonorum / Jn qvo congeries, in qvo vestigia recti, / Et mores video ductos meliore metallo“.203 Schönborner legt eine vermehrt differenzierte Sicht des machiavellischen Prudentismus an den Tag. Denn gerade indem er fundamentale Distinktionen Machiavellis sowie die Überzeugung von der pragmatischen Bedeutung der Geschichte teilt,204 vermag Schönborner eine politologische Kritik am
202 Ebd., S. 303. 203 Andreas Gryphius: Parnassus renovatus. In: Lateinische Kleinepik, Epigrammatik und Kasualdichtung. Hg., übers. u. komm. v. Beate Czapla und Ralf Georg Czapla. Berlin 2001 (Bibliothek seltener Texte 5), S. 9–35, hier S. 28. 204 Merio Scattola: ‚Historia literaria‘ als ‚historia pragmatica‘. Die pragmatische Bedeutung der Geschichtsschreibung im intellektuellen Unternehmen der Gelehrtengeschichte. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Frank Grunert, Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, S. 37–63, besonders S. 51, Anm. 36.
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Italiener zu entwickeln, die nicht mehr nur dogmatisch auf dem Primat normativer Geltungsprinzipien beharrt, sondern in einer eigentümlichen Synthese politisch-theologischer und pragmatischer Erwägungen besteht. Über einen gerade nicht schon exklusiv rechtstheologischen Argumentationsgang, sondern vermittels einer genuin prudentiellen Perspektive wird Gott ebenso als Norminstanz gerettet, wie er als handelnder Akteur selbst in die politische Lehre eingeführt wird (4.4.5). Allzu wohlfeilen machiavellistischen Entgegnungen, dass der politische Bereich zunächst rein nonnormativ sei und daher normative Argumente diesem Bereich wesentlich unangemessen seien, weiß Schönborner mit seiner theologischen Politologie einen wirksamen Riegel vorzuschieben (4.2.3). Schönborner entnimmt die Forderung an den klugen Herrscher, „die Dinge zu erkennen und [entsprechend] auszuwählen, welche öffentlich und privat zu fliehen oder anzustreben sind“,205 bis in den Wortlsaut hinein ungenannt Justus Lipsius’ Politica:206 Klugheit ist das Mittel, Alternativen zu unterscheiden, um sich dann der Tugend gemäß für eine zu entscheiden und entsprechend zu handeln.207 Damit wird natürlich noch Aristoteles’ Unterscheidung von den dianoëtischen und ethischen Vorzügen der Tüchtigkeit übernommen.208 Schönborner misst der Klugheit genauso wie Lipsius hohe Bedeutung zu,209 wenn im Bilde des Architekten ohne Lineal und Wasserwaage ein von Klugheitserwägungen befreiter Moralismus als unwirksam diskreditiert wird.210 Dies ist Ausdruck derjenigen Konzessionen, welche die Zeitgenossen dem Pragmatismus Machiavellis um 1600 durchaus einzuräumen bereit waren: Diese als prudentia mixta umschrie-
205 Georg Schönborner: Politicorum libri septem. 7. Aufl. Amsterdam 1650, S. 160: „Post Clementiam, Prudentia Principi injungitur: quæ non aliud est, quam notitia rerum eventuumque & judicium in iis rectum: ut videlicet intelligere & deligere nôrit res, quæ publice privatimque fugiendæ, aut appetendæ, atque ea, quæ sibi, quæque aliis conducunt, dispicere possit. Arist. 4. Eth. 5 nec non præterita recordetur, futura provideat, præsentia ordinet.“. 206 Lipsius: Politica Sive Civilis Doctrina, lib. I, cap. VII, S. 20: „Quam [prudentiam] definio, INTELLECTVM ET DILECTVM RERVM, QUÆ PVBLICE PRIVATIMQVE FVGIENDÆ AVT APPETENDÆ“. Großschreibung im Text. 207 Ebd., S. 19f.: „VIÆ tuæ Ducem vnum habes, Virtutem: adiungo nunc alterum, quem Prudentiam dixi. Is non tuus solum, sed si inspicis, Virtutis ipsius rector, certe director. Sine prudentia enim quæ potest esse virtus? Caussa hæc. quòd Virtus omnis in Electione & Modo est: non hæc sine Prudentiâ: ergo nec Virtus. Atque vt architectis opus nullum recte processerit, sine labellâ & lineâ: non item nobis, sine normâ hac directrice.“ 208 Aristoteles: Εθικων Νικομαχειων, 1103 a14: „Διττῆς δὲ τῆς ἀρετῆς οὔσης, τῆς μὲν διανοητικῆς τῆς δὲ ἠθικῆς.“ 209 Weber: Prudentia gubernatoria, S. 111. 210 Lipsius: Politica Sive Civilis Doctrina, lib. I, cap. VII, S. 19.
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bene Klugheitslehre sah zum Einen den unklugen Moralisten als handlungsunfähig an. Er konnte bei aller ethischen Integrität Situationen und Sachverhalte nicht adäquat erfassen. Die prudentia mixta betrachtete aber zum Anderen den unmoralischen Pragmatiker als schädlich, denn dieser folgte trotz seiner dianoëtischen Befähigung nicht dem ethischen letzten Prinzip der Handlungsentscheidung.211 Abstrakter gesprochen: Die Zuständigkeit der prudentia besteht darin, die der προαίρεσις des Handelnden zur Wahl vorliegenden Optionen zu unterscheiden und in ihren Erfolgsaussichten zu bemessen. Der Entscheidungsgrund stellt jedoch nicht allein Machbarkeit, sondern auch und vorzüglich die moralische Güte der gewählten Option dar. Bei Aristoteles selbst spielt die Unterscheidung von technisch Machbarem und ethisch Praktikablem André Laks zufolge bemerkenswerter Weise keine Rolle für die Erläuterung der προαίρεσις.212 Dementgegen muss diese Unterscheidung für die nach-machiavellischen Staatsdenker eine eminente Bedeutung einnehmen. Erst sie kann die prudentia als entscheidungsleitende, nicht aber als entscheidungsgründende Fähigkeit und Lehre stark machen, als Mittel und Maßstab praktischer Erkenntnis, aber nicht als Geltungsgrund.213 Das Problem, das einer politischen Ideenhistoriographie hier begegnet, ist das eines historischen Homonyms: Die Zeitgenossen übertrugen in ihren
211 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 53f. und S. 60; Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 152. 212 André Laks: [Art.] Prohairesis. In: HWPh 7, S. 1451–1458, hier S. 1452. 213 Aristoteles unterschlägt den Aspekt des sittlich Guten als Zweck der Handlung durchaus nicht; im Gegenteil ist bei ihm dieser Aspekt eben nur im Hinblick auf die vorauswählende προαίρεσις, nicht aber hinsichtlich der φρονήεσις irrelevant. Auch wenn Aristoteles letztere unter den dianoëtischen Tüchtigkeiten abhandelt, sieht er in ihr ausdrücklich die gerade in der Abwägung von technisch Machbarem und ethisch Praktikablen gründende und in der Wahl eines auf den sittlichen Zweck final ausgerichteten Realisierbaren sich niederschlagende praktische Synthese von Normativität und Pragmatik gefasst: Aristoteles: Εθικων Νικομαχειων, 1140 a24–28: „Περὶ δὲ φρονήσεως οὕτως ἂν λάβοιμεν, υεωρήσαντες τίνας λέγομεν τοὺς φρονίμους. δοκεῖ δὴ φρονίμου εἷναι τὸ δύνασθαι καλῶς βουλεύσασθαι περὶ τὰ αὑτῷ ἀγαθὰ καὶ συμφέροντα, οὐ κατὰ μέρος, οἷον ποῖα πρὸς ὑγάιαν ἢ ἐσχύν, ἀλλὰ ποῖα πρὸς τὸ εὖ ζῆν.“ / „Was Klugheit sei, können wir daraus lernen, dass wir betrachten, welche Menschen wir klug nennen. Ein kluger Mann scheint sich darin zu zeigen, dass er wohl zu überlegen versteht, was ihm gut und nützlich ist, nicht in einer einzelnen Hinsicht, z.B. in Bezug auf Gesundheit und Kraft, sondern in Bezug auf das gute Leben“. Übers. nach Rolfes/Bien: ders.: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hg. von Günther Bien. 4., durchgesehene Aufl. Hamburg 1985 (Philosophische Bibliothek 5), S. 135 [Hervorhebungen O.B.]. Reiner Wimmer hält zu Recht fest, dass für Aristoteles ebenso wie schon für Plato die Klugheit immer sittlich gute Klugheit meint (Reiner Wimmer: [Art.] Klugheit. In: EPhW 2, S. 413–415, hier S. 413f.).
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Aristoteles-Übersetzungen den terminus technicus φρονήσις mit prudentia.214 Damit war mit diesem lateinischen Wort zum Einen diejenige praktische Erkenntniskraft angezeigt war, die Technik und Ethik, Machbares und Gutes in der Entscheidungsfindung subsumiert. Zum Anderen konzipierten sie selbst die prudentia bzw. das, was sie selbst mit prudentia bezeichneten, gerade nicht gemäß Aristoteles’ Begriff der φρονήσις. Sie meinten damit diejenige praktische Erkenntniskraft, welche die Wahloptionen nur erkennt, von der aber die entscheidungsgründenden ethischen Tugenden klar unterschieden sind. Dasselbe Wort prudentia beschreibt Anfang des siebzehnten Jahrhunderts also zwei unterschiedliche Gegenstände, zwischen denen ein Inklusionsverhältnis herrscht: Prudentia steht für ein Ganzes und ein ihm untergeordneten Teil gleichzeitig: die Lehre von der sittlich guten Entscheidung überhaupt sowie die zunächst nur technisch sinnvolle Alternativenfindung im Speziellen. Schönborner spitzt ebenso wie Aristoteles und Lipsius die Klugheit auf die sittliche Klugheit zu. Die guten Sitten haben schon in die Ausbildung des Herrschers zu zählen. Schönborner übernimmt also exakt Lipsius’ Begriff von prudentia: Denn wenn er davon spricht, dass großartige Lehren auch zu schändlichen Zielen führen können, so macht er deutlich, dass ihm das gute Ziel dem Begriff nach noch nicht in der Klugheit und ihrer Lehre enthalten ist: „In his omnibus nihil ornamenti deprehendes, quam præditos eos fuisse doctrina eximia; quam tamen fœdis suis factis conspurcarunt. Et quid doctrina absque moribus?“.215 Dennoch ist, wenn schon nicht terminologisch, so doch normativ, das kluge Handeln auf das sittlich Gute abzustellen. Denn auf Schönborners rhetorische Frage, „was eine solche Lehre ohne die Sitten“ sei, kann die zeitgenössische Antwort nur lauten: Machiavellismus. Aber gerade von diesem übernimmt Schönborner wie Lipsius die Erkenntnis, dass Zweck noch nicht den guten Zweck, zweckrationales Handeln noch nicht hinreichend das moralisch richtige Handeln bedeuten. Diesen machiavellischen
214 Vgl. Aristoteles: Αριστοτελους Ηθικων Νικομαχειων Βιβλία Δέκα. Aristotelis Ethicorum ad Nicomachum, Lib. X. Ita Graecis interpretatione recenticum Latinis coniunctis, vt fermè singula respondeant, in eorum gratiam qui Graeca cum Latinis comparare volunt. Paris: Adrianus Turnebus, 1555, S. 130; ders.: Αριστοτελους Ηθικων Νικομαχειων Βιβλια Δεκα. Aristotelis Ethicorum ad Nicomachum Libri Decem ab Antonio Riccobono Latine conversi: capitum partitionibus, ac periochis distincti […]. Hannover: Haeredes Claudii Marnii, 1610, S. 238; ders.: Αριστοτελους Ηθικων Νικομαχειων Βιβλία Δέκα. Aristotelis Ethicorum ad Nicomachum Libri Decem. Cum Dionysii Lambini Versione Latina, à Matthia Bergio interpolata. Accesserunt huic Editioni […] Singulorum capitum Summaria, & in Paragraphos sectio. Cura Samuelis Rachelii. Helmstädt: Henning Müller, 1660, S. 180. 215 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 163.
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Begriff von klugem Handeln teilt Schönborner mit Lipsius, gibt also die bei Aristoteles im Begriff selbst schon verborgen normative Stoßrichtung preis. Ist dem Klugheitsbegriff die Normativität nunmehr zwar äußerlich, so wird im Gegenzug der Endzweck jeder politischen Handlung umso deutlicher als gottgewollt gekennzeichnet.216 Erst das korrekte Verständnis von Machiavellis Moralindifferentismus gestattet Schönborner eine Kritik sowohl gegen unmoralisches als auch gegen nur opportun moralisches Handeln. Schönborner teilt mit Justus Lipsius zwar die Auffassung Machiavellis, dass mit Zweckrationalismus noch nichts über die Güte der Zwecke ausgesagt ist. Er unterscheidet aber von diesem Pragmatismus insofern seinen Prudentismus, als diesem das Gute, personifiziert und politisch umgesetzt im irdisch handelnden Gott, doch notwendiger Gegenstand sein muss. Schönborner kann Gott politisieren, indem er ihn aus einer exklusiv heilsgeschichtlichen Zuständigkeit befreit. Die politischen Handlungsanweisungen Schönborners sind vergleichsweise knapp und in ramistischer Form gehalten,217 dabei verhältnismäßig von eingehenden Reflexionen entschlackt, blickt man etwa auf die eingehenden Abwägungen, wie man sie bei Francisco Suárez vorfindet.218 Einzig die Frage der Tyrannis wie des Widerstandes empfindet Schönborner in einer Weise als dringend, dass er ihnen größere Aufmerksamkeit widmet und selbstständige Reflexionen anstellt. Im Rahmen dieser Überlegungen kommt auch der politisch, d.h. im Irdischen handelnde Gott zur vollen Entfaltung. Hierauf ist erst unten, vor allem in 4.4.5, zurückzukommen, nachdem in 4.2.3 Schönborners Grundlagen hinrei-
216 Hinsichtlich der oben erläuterten historischen Homonymie von prudentia1 (praktische Erkenntnis des Machbaren und Guten) und prudentia2 (praktische Erkenntnis des Machbaren) liegt also das merologische Verhältnis der Begriffe mit ihrem Verhältnis als Allgemeines und Besonderes in bemerkenswerter Weise über Kreuz: Obwohl im Sinne der φρονήσις Aristoteles’ prudentia2 disziplinärer Teil von prudentia1 ist, ist sie nichtsdestoweniger gegenüber prudentia1 das begriffslogische Allgemeine, insofern sie jedwede Zweckrationalität in ihrem Begriff fasst und eine sittlich gute Zweckrationalität in der Bedeutung von prudentia1 nur ihr Besonderes darstellt. In diesem Über-Kreuz-Liegen liegt die Spannung der neoaristotelischen Politiken der Frühen Neuzeit begründet: Staatsrechtslehrer wie Schönborner und Lipsius lehnen Machiavellis Pragmatismus zwar wegen seiner moralischen Indifferenz ab und bekräftigen die Subsumtion des Zweckrationalen unter das moralisch Gute, nicht nur um Aristoteles’ φρονήσις die wissenschaftliche Geltung zu erhalten, sondern auch aus letztlich polittheologischen Überzeugungen, die hier erst noch zu erläutern sind; gleichzeitig müssen sie Machiavelli aber wegen seiner größeren begriffslogischen Exaktheit ernst nehmen. 217 Vgl. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band: 1600–1800, S. 118f. 218 Vgl. Stiening: Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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chend erläutert wurden. An dieser Stelle ist dem nur in den Punkten zum Machiavellismus vorzugreifen. Bevor Schönborner auf die politische Klugheit selbst als Tugend zu sprechen kommt, spricht er von der clementia, der er wie der Sittlichkeit einen hohen Rang einräumt. War diese ihm die ‚Fackelträgerin‘ aller Tugenden gewesen, so ist ihm unter Berufung auf Seneca die „Milde eine der eigentümlichen Tugenden, die am Steuerruder der Dinge sitzen“.219 Mit dieser Würdigung der Milde stellt Schönborner die der Stittlichkeit nicht unbedingt in Frage. In der Rangfolge geht die castitas der clementia wie den anderen Tugenden voran. Mit dem Bild vom Steuerruder jedoch scheint Schönborner der Milde dennoch die eigentliche operative Wirksamkeit zuzusprechen. Dabei betont Schönborner jedoch ebenso die Wirkung der clementia für die Erscheinung des Fürsten, wenn er sie als Schmuck bezeichnet: „Nullumque ornamentum Principis fastigio dignius, pulchriusque est, quam illa corona ob cives servatos“.220 Schönborner stützt sich hier zwar auf den das Telos der Herrschaft bildenden Gemeinwohlgedanken und nicht wie Machiavelli auf ein fundamentales Stabilitätsprinzip. Gleichwohl scheint schon mit der Rede vom ornamentum und der damit einhergehenden Wendung in die Sphäre von Erscheinen und Wahrnehmen eine Zuspitzung auf die Stabilität der Herrschaft durch. Diese mag in diesem Satz durchaus noch eher en passant, als willkommener Effekt, nicht als stets schon angezielter Zweck plausibilisierbar sein. Allerdings entwickelt Schönborner daraus wenige Sätze später in prudentieller Hinsicht einen Lehrsatz, der eigentlich der machiavellischen Klugheitslehre gerecht wird: „Errat, si quis existimat tutum esse ibi regem, ubi nihil à rege tutum est“.221 Diese Feststellung ist vermehrt prudentieller Natur und sie ist dies umso mehr, als Schönborner diesem Lehrsatz unverbunden die Feststellung folgen lässt, dass „Sicherheit durch gegenseitige Sicherheit bedingt“ sei: „Securitas securitate mutua paciscenda est“.222 Es geht um Sicherheit, d.h. Stabilität mit begründungslogischem Rang, dergegenüber in der Folge die zwar rhetorisch als Grund stark gemachte Tugend der Milde auch Schönborner unter den Händen zum bloßen Mittel dieser anvisierten Stabilität verkümmert. Die Erkenntnis, dass ein immer gegen die Moral erfolgendes Handeln des Fürsten gerade nicht klug wäre, stellt die prudentistische Wendung des Tugend-
219 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 158: „Clementia propria eorum virtus est, qui ad gubernacula rerum sedent.“ 220 Ebd., S. 159. 221 Ebd. 222 Ebd.
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argumentes dar und strebt der Sache nach gegen die üblichen antimachiavellistischen Fehlinterpretationen des Principe durch die Zeitgenossen und wird eine starke Wirkung auf Gryphius ausüben. Machiavellis wohl meistzitierter Satz, „Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein“,223 wurde vom zeitgenössischen Antimachiavellismus häufig in der Art ausgelegt, dass der Fürst notwendig und immer naturrechtswidrig bzw. wider die Moral handeln müsse. Bei dieser Auslegung wird jedoch der zweite Halbsatz Machiavellis unterschlagen: Der Fürst soll nämlich „[…] diese [i.e. Fähigkeit, O.B.] anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit“.224 Die für Machiavellis politische Klugheitslehre zu Recht konstatierte moralische Indifferenz meint, dass das politische Handeln weder notwendig naturrechtskonform noch notwendig naturrechtswidrig sein muss. Für Schönborners Fall ist daher festzuhalten, dass ihm das Begriffspaar klug/ unklug mehr interesseleitende Kategorie geworden ist, als er dies, der vordergründigen, expliziten Systematik seines Werks nach zu schließen, wohl eigentlich wollte. Georg Schönborner ist daher schon hier als Phänomen einer bemerkenswerten Zwischenstufe in der Wirkungsgeschichte des Machiavellismus festzuhalten: Hier hat in der theoretischen Sache weder eine bloße Ablehnung Machiavellis statt noch werden wie etwa bei Francisco Suárez bewusst Leerstellen der machiavellischen Lehre unter Anerkennung ihrer Problemstellung gefüllt mit moraltheologischer und rechtsphilosophischer Legitimationstheorie, die Machiavelli letztlich doch diskreditieren sollen und müssen.225 Bei Schönborner schleicht sich Machiavelli in eine der Absicht nach aristotelische Politica nachgerade ein.
4.1.4 Staatsräson als Gebot der Nächstenliebe: Luis de Molinas Versuch einer Reethisierung Auf Luis de Molina (1535–1600), wie Suárez ein Gewächs der Schule von Salamanca und Professor für Philosophie und Moraltheologie in Coimbra und Madrid, kann hier nur in gebotener Kürze eingegangen werden. Es gilt sich gewahr zu werden, wie weit die Versuche seitens der Theologie teilweise tragen, den status
223 Niccolò Machiavelli: Il Principe / Der Fürst. Italienisch / Deutsch. Übers. u. hg. von Philipp Rippel. Stuttgart 1986 (RUB 1219), XV, S. 118/119: „Onde è necessario a uno principe, volendosi mantenere, imparare a potere essere non buono [...].“ 224 Ebd.: „[...] e usarlo e non lʼusare secondo la necessità“ [Hervorhebung O.B.]. 225 Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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necessitatis und die Staatsräson in die Rechtstheologie einzubetten und unter das göttliche Gesetz zu subsumieren. Daher darf der Rechtstheologe der Societas Jesu hier nicht übergangen werden. Nicht nur innerhalb seines eigenen, des sechzehnten Jahrhunderts, sondern auch innerhalb des siebzehnten Jahrhunderts darf Luis de Molina als derjenige Rechtsdenker gelten, der die Staatsräson umfassend auf göttliches Recht zurückzuführen versucht, d.h. auch in ihren radikalen, um nicht zu sagen: machiavellistischsten Dimensionen. Dabei leistet auch Molina seinen Beitrag zum Völkerrecht und sieht ebenso wie Vitoria und Suárez eine Interventionsbefugnis von Souveränen über Souveräne gegeben, die es gestattet, obrigkeitliche Vergehen gegen das ius naturae, gentium oder gar divinum wirkmächtig zu ahnden. Dies gilt aus speziell missionarischen Gründen,226 aber auch allgemein das Recht auf Leben kann zur iusta causa eines Krieges werden: „Jeder Behinderung von Leben müsse ein Recht als Behinderung der Behinderung entgegentreten können, dessen Arsenal bis hin zur Todesverhängung zu reichen habe“.227 Wenn es jedoch um die Subjekte dieses Verhinderungsrechts geht, zeigt sich, dass dieses nur bei anderen Souveränen liegt. Daher mögen Unrechtstaten eines Herrschers durchaus evident auf der Hand liegen, dennoch wäre ein Vorgehen seiner Untertanen gegen ihn rechtswidrig. Von den Monarchomachen, die dem Gemeinwesen ein Entlassungsrecht zuschreiben, wendet Molina sich ab.228 Dass Molina jegliches Eingriffsrecht der Untertanen gegen Unrechtstaten ihres Herrschers als nichtig und unter keinerlei Bedingung konzedierbar denkt, zeigen seine Ausführungen zum Notwehrrecht in seinem rechtstheologischen Opus Magnum De Justitia et Jure (erschienen 1595–1609). Was eine Notwehrsituation unter Gleichrangigen betrifft, räumt Molina nicht nur ein Notwehrrecht ein, sondern sieht sogar eine Notwehrpflicht gegeben, durch die der Angegriffene unter Androhung der Todesstrafe (!) gehalten ist, den Angreifer zu töten, wenn das erstens möglich ist und das eigene Leben zweitens nicht anders geschützt
226 Vgl. Matthias Kaufmann: Luis de Molina über subjektive Rechte, Herrschaft und Sklaverei. In: Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik. Hg. von Matthias Kaufmann, Robert Schnepf. Berlin 2007 (Treffpunkt Philosophie 8), S. 205–226, hier S. 223f.; vgl. auch Bach: ‚At nobis contrarium videtur verum‘ – Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas. 227 Norbert Brieskorn: Luis de Molinas Weiterentwicklung der Kriegsethik und des Kriegsrechts der Scholastik. In: Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit I. Hg. von Norbert Brieskorn, Markus Riedenauer. Stuttgart u.a. 2000 (Theologie und Frieden 19), S. 167–190, hier S. 174. 228 Kaufmann: Luis de Molina über subjektive Rechte, Herrschaft und Sklaverei, S. 223.
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werden kann. Grund für diese Stärkung der Notwehr in dieser Hinsicht ist das Gebot der Nächstenliebe: Ducitur, primō, quoniam caritatis ordo obligat sub culpa lethali in re graui: sed ordine caritatis vita propria præferri: debet alienæ, amissioque propriæ vitæ est res grauis: ergo aggressus sub reatu lethalis culpæ tenetur interficere aggressorem si possit, quando aliter conseruare non potest vitam propriam. 229
Es ist nicht das Leben selbst, das als allein notwendige und hinreichende Bedingung der Notwehr gedacht wird. Insofern das Leben anderen geschuldet wird, ist es nicht eigentlich Akt einer Notwehr, sondern der Liebe zum Nächsten, um dessentwillen das eigene Leben erhalten wird. Diesem gereicht das eigene Leben der Möglichkeit nach zum Nutzen oder besser noch zum Heil. Dies bedeutet für Molina eine verstärkte Notwehrpflicht bei demjenigen, der als politische Führungsperson oder Vater für viele andere Menschenleben verantwortlich ist: Quando aggressus persona esset, cuius vita multum Reipublicæ, vel in spiritualibus vel in temporalibus, referret, teneretur sub reatu culpæ lethalis interficere aggressorem, si posset, vt vitam suam conseruaret. […] Quamuis enim cedere potest iuri suo, permittendo se ab aggressore interfici […]: non tamen posset cedere iuri suorum, quibus vita ipsius est necessaria, & quibus alimento, educationem, ac protectionem debet, quæ à vita ipsius pendent.230
Hier ist die unterlassene Notwehr ein rücksichtloses Vergehen an den Leben Anderer, denen diese Rücksicht aufgrund der lex charitatis geschuldet gewesen wäre. Das Notwehrrecht gilt ebenso wenig unbedingt, wie es einen unbedingten Anspruch auf das eigene Leben gäbe. Die Nächstenliebe ist allein die notwendige Bedingung des Schutzes der Nächsten. Was zu diesem Schutzinteresse als hinreichende Bedingung hinzutritt, ist allerdings variabel. Daher ist das Gebot der Nächstenliebe der Grund dafür, dass Notwehrpflicht ebenso wie Notwehrrecht eben nur bedingt statthaben. Die lex charitatis kann unter anderen gegebenen Umständen das genaue Gegenteil gebieten: Quando aggressor esset talis, cuius vita multum Reipublicæ interesset, aggressus verō esset persona communis, tunc aggressus sub reatu lethalis culpæ teneretur potiùs mortem pati, quam in sui defensionem talem interficere injustum aggressorem. Ratio autem est, quoniam lege caritatis teneretur præferre tantum commune bonum suæ proriæ vitæ.231
229 Luis de Molina: De justitia et jure. Mainz 1659, Tomus 4, Sp. 570 (Tract. 3, disp. 14). 230 Ebd. [Hervorhebung O.B.]. 231 Ebd.
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Hier ist die vollzogene Notwehr ein rücksichtsloses Vergehen an den Leben Anderer, denen diese Rücksicht durch das Gebot der Nächstenliebe geschuldet worden wäre. Ist das Leben Einzelner für das Gemeinwesen von besonderem Interesse, so ist dieses Leben nicht nur dann schützenswert, wenn dieser selbst der Angegriffene ist. Die Pflicht, sein Leben um des Gemeinwohls willen zu erhalten, besteht interpersonell auch dann, wenn er der Angreifer ist. Das Notwehrrecht besteht beim Angegriffen aus denselben Gründen nicht,232 wie es unter anderen Umständen besteht: der Nächstenliebe und dem Schutz anderer Leben, zu deren Realisierung das eigene Leben mal zu erhalten, mal zu opfern ist. Das ist weniger ein bloßer Vermittlungs-, sondern im starken Sinne ein Einbettungsversuch. Denn durch die eigentümliche Argumentation, wie Molina die Nächstenliebe als Fundament anführt, werden die Nezessität und mithin die Willkürbefugnisse des Herrschers, wie sie bei Machiavelli bestehen, gar nicht eingeschränkt oder abgemildert. Vom Souverän aus wird nicht argumentiert, sondern von der Pflicht des Untertanen, gegenüber dem Herrscher auf sein Notwehrrecht verzichten zu müssen, und zwar unter Absehung der Motivation des Fürsten. Die Anführung der lex charitatis ist für Molina gerade das Argument, das davon zu abstrahieren erlaubt: Der Untertan hat den eigenen Tod, auch den willkürlichen und zweckfreien, durch den König deshalb zu dulden, weil ihm die Nächstenliebe gebietet, den anderen Untertanen ihren König zu erhalten. Dieser ist, seiner situativen Willkür und Grausamkeit zum Trotz noch allemal der Geeignetste zur Staatsführung. Ihn in Notwehr zu töten, bedeutete, den ganzen Staat und mit ihm alle Mituntertanen zu gefährden. Diese Gefährdung verbietet das Gebot der Nächstenliebe. Dadurch behält er sein Herrschafts- und Lebensrecht auch dann noch, wenn er am Einzelnen – Molina sagt es selbst – Unrecht verübt („injustus aggressor“). Damit werden auch alle im Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen in ihrem vollen machiavellischen Umfang theologisiert, d.h. durch die Rechtstheologie nicht eingeschränkt, sondern begründet. Anders als Mattthias Kaufmann angibt, ist Molina in der Tat nicht weit von Hobbes’ Konstruktion eines vollständigen Rechtsverzichts entfernt.233 Mithilfe des Gebots der Nächstenliebe wird das Souveränitätsrecht als Recht auf Unrecht sogar enorm gestärkt.
232 Vgl. auch Eckehard Quin: Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600. Berlin 1999 (Beiträge zur politischen Wissenschaft 109), S. 567f. 233 Kaufmann: Luis de Molina über subjektive Rechte, Herrschaft und Sklaverei, S. 223.
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4.1.5 Einig im Antimachiavellismus: Schlesien und die religions- und bildungshistorischen Dispositive eines politischen Denkstils Warum nach Schlesien? Warum nicht nach Schlesien? Golo Mann, Wallenstein234
Möchte man die Herausforderung begreifen, die der Machiavellismus ebenso wie seine versuchten Entgegnungen für Gryphius darstellten, ist der Blick auch nach Schlesien zu werfen. „Warum nach Schlesien? Warum nicht nach Schlesien?“ – Es ist diejenige Frage nicht gering zu achten, wie sich das Problem des Ausnahmezustandes, des Herrschafts- und Souveränitätsrechts dem Schlesier Gryphius präsentierte. Diese Frage drängt sich in doppelter Hinsicht auf: zum Einen in einer gleichermaßen spezifisch schlesischen Problemgeschichte der politischen Theologie, zum Anderen in der speziell schlesischen Bildungs- und Ideengeschichte, die der Bewältigung dieses Problems nur eingeschränkte Ressourcen bot. Was erlaubt oder gebietet politische Theologie dem evangelischen Schlesier, mit Blick auf die Auseinandersetzungen mit der katholischen Obrigkeit Habsburg zu denken – und zu tun? Was kann der evangelische Schlesier diesbezüglich überhaupt zu denken erlernen? Die große Studie Herbert Schöfflers Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung darf nach wie vor als Standardwerk zur Religions-, Geistesund Bildungsgeschichte Schlesiens gelten. Seit ihrer zweiten Auflage 1956 hat sie kaum nennenswerten Widerspruch erfahren. Die verdienstvollen Arbeiten und Impulse, die allen voran Gerhard Kosellek in diesem Bereich gegeben hat, sind weniger als Widersprüche zu werten denn als Vertiefungen und Differenzierungen. Die große These Schöfflers spiegelt sich freilich schon im allgemeingeschichtlichen Titel seines Buches wider: Dass es sich nämlich auf den besonderen Fall Schlesiens konzentriert, offenbart erst Schöfflers Vorbemerkung: Im katholisch regierten und lutherisch bevölkerten Schlesien, wo confessio Augustana und Tridentina durcheinanderwohnt, kann das Spektrum der verschiedenen Geisteshaltungen durch das Prisma der historischen Gegebenheiten wie in einen Brennpunkt zusammengestrahlt werden.235
Schöfflers Fokus auf Schlesien bedeutet für ihn gerade keinen geistesgeschichtlich unzulässigen Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, sondern das All-
234 Golo Mann: Wallenstein. Frankfurt am Main 1971, S. 711. 235 Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, Vorbemerkung zur Neuausgabe [nicht paginiert].
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gemeine ballt sich im Einzelfall: Schlesien ist nicht meritologisch als Teil mitteleuropäischer Geistesgeschichte zu verstehen, sondern als ihr konzentrierter Ausdruck. Schon aus der Sicht einer konfessionshistorischen Geistesgeschichte lässt sich die Situation des gebildeten Schlesiers im siebzehnten Jahrhundert im Sinne einer Trias von lutheranischen, katholischen und calvinistischen Einflüssen ausdrücken: Der Lutheraner wird durch die Gegenreformation „in hundert kleinen und großen Einsprengseln“236 geprägt, um schließlich in Holland, vorzugsweise in Leiden, zu studieren und dort mit calvinistischer Kultur in Berührung zu kommen.237 Besonders mit Blick auf das Verhältnis des Protestantismus zum Katholizismus hält Siegfried Wollgast zu Recht fest: Freilich hat sich auch das protestantische Schlesien den künstlerischen und literarischen Einflüssen aus dem Süden, die von den Brennpunkten der katholischen Kultur seines Herrscherhauses weiterstrahlten, bereitwillig geöffnet. Die Blüte der Dichtung in der habsburgischen Zeit ist wesentlich auf diese Mittlerstellung zurückzuführen. Andreas Gryphius und Johannes Scheffler sind z.B. ohne diese geistige Lage nicht vorstellbar.238
Dass zumindest der Rechtsdenker Andreas Gryphius auch Elemente katholischer Scholastik aufnimmt, wird diese Untersuchung schließlich zeigen.
4.1.5.1 Politische Theologie und Konfession: Das bestimmte Interesse der Evangelischen in Glogau Als Gryphius am 3. Mai 1649 zum Glogauer Syndikus vereidigt wird,239 ist der Krieg noch kein Jahr vorbei und Niederschlesien hat den zwischenzeitlichen Höhepunkt der Gegenreformation noch vor sich: In den Jahren 1653 und 1654 werden so viele evangelische Kirchen geschlossen, dass Gottesdienste u.a. nur noch in Friedenskirchen wie derjenigen Glogaus stattfinden konnten.240 Es nimmt daher
236 Ebd., S. 27; vgl. auch Arno Herzig: Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Hg. von Mirosława Czarnecka u.a. Breslau 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), S. 63–69, hier S. 66. 237 So vor allem Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, S. 57. 238 Siegfried Wollgast: Morphologie schlesischer Religiosität in der Frühen Neuzeit. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S.113–190, hier S. 116. 239 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 39. 240 Vgl. Jan Harasimovic: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2010 (Neue Forschungen zur schlesi-
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nicht wunder, dass Gryphius in diesem Amt 1653 mit der Edition der Glogauisches Fürstenthumbs Landes Privilegia den Nachweis unternimmt, dass die Ansprüche der evanglischen Stände in Schlesien nicht lediglich einseitig beschränkte Aufenthaltsbefugnisse sind. Wären sie nur solche, würden sie nur von den Folgen der Rechtsfreiheit dispensieren (vor allem Vertreibung). Diese Rechtsfreiheit bliebe jedoch allemal beibehalten und die folglich nur temporäre Dispens könnte jederzeit wieder zurückgenommen werden. Gryphius ging es insbesondere um den Rechtscharakter der Zugeständnisse an die Evangelischen in Großglogau. In seiner Dokumentensammlung ließ Gryphius hoheitliche Urkunden von 1310 bis 1652 abdrucken, deren bedeutendste Sektion die Erteilungs- und Erneuerungserklärungen der Privilegien durch die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von Maximilian II. (1571) bis zu Ferdinand III. (1638) abbildet.241 Diese Privilegien gestatteten ohne Zweifel nur eine regional eingeschränkte, besonders aber nur abkünftige Souveränität der evangelischen Stände Glogaus gegenüber katholischen Übergriffstendenzen. Was die habsburgische Obrigkeit betrifft, werden auch Privilegien letztlich nur eingeräumt und bleiben gerade mit der Gnade juristisch wie rechtstheologisch eng verbunden. Die mangelnde Allgemeinheit des Privilegs als ius singularis stellt für die Rechtslehre vor Hobbes, Rousseau und Kant allerdings kein Problem für den Rechts- und Gesetzescharakter des Privilegs dar, wie Merio Scattola jüngst nachweisen konnte:242 Das Privileg lebt gerade von der Anerkennung derjenigen Instanz, die es erteilt – unabhängig davon, wie umfangreich diese Vorrechte sind: Von einem ‚Aufbegehren‘ Gryphius’ kann
schen Geschichte 21), S. 7; Herzig: Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts, S. 65. 241 Andreas Gryphius (Hg.): Glogauisches Fürstenthumbs Landes Privilegia aus denn Originalen an tag gegeben Von Andrea Gryphio. Lissa 1653, S. 117–127. Vgl. Dirk Lentfer: Die Glogauer Landesprivilegien des Andreas Gryphius von 1653. Frankfurt am Main u.a. 1996 (Rechtshistorische Reihe 147), S. 51–54. 242 Merio Scattola: Das Privileg des Gesetzes. Francisco Suárez und die alte Lehre des Vorrechts (DL VIII). In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 333–367, hier S. 342: „[W]enn sie [sc. die ältere Rechtslehre] das Gesetz definierte, verlangte sie von ihm keine Eigenschaft der Allgemeinheit. Gesetz war nämlich eine öffentliche Maßnahme zur Besorgung des Gemeinguts, das immer inhaltlich, d.h. im Sinne einer materiellen Gerechtigkeit, definiert wurde und sich daher auf unterschiedliche Subjekte als deren Träger, Erzeuger oder Ziele beziehen konnte: allgemeine, besondere oder sogar einzelne Subjekte. In diesem Sinn konnte das Privileg als eine echte Art des Gesetzes gelten und wurde eigentlich als ein ‚privates Gesetz‘ definiert, was in neuzeitlicher Auffassung ein klarer Widerspruch wäre.“
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in dieser Hinsicht daher nicht die Rede sein.243 Dass sich allerdings schon ein Pochen auf diese iura singularia gegen die habsburgische Obrigkeit allein wegen deren Souveränität verboten hätte,244 deren Recht Gryphius hier und andernorts enorm stärkt, muss allerdings ein tendenzieller Widerspruch bleiben, den Gryphius ebensowenig wie die Privilegientheorie aufzulösen in der Lage war. Dieser unmittelbare Blick in die politische Gegenwart Schlesiens lohnt natürlich nicht zuletzt, weil sie Gryphius’ eigene Amtstätigkeit betrifft. Jedoch lohnt er auch gerade, weil die zeitgenössische Bewertung von Gryphius’ Syndikat Aufschlussreiches über die geistesgeschichtliche Lage der Evangelischen in Glogau bereithält – besonders, wenn es darum geht, Gryphius politische Theologie und ihre Anschlussnahmen verstehen zu wollen. Es wurde soeben schon gezeigt, dass die Verteidigung der evangelischen Privilegien rechtsphilosophisch die Anerkennung der katholischen Obrigkeit mehr voraussetzte, als dass sie Widerstand bedeutet hätte. Die Stärkung der eigenen politischen Ansprüche des evangelischen Glogaus stellte diejenigen Habsburgs systematisch tatsächlich nicht wirklich in Frage. Ebensowenig bedeuteten solche Statusstärkungen seitens der Lutheraner die notwendige Ablehnung katholischer Größen. Es wird augenscheinlich nicht als Widerspruch empfunden, wenn Gryphius’ erster Biograph Baltzer Siegmund von Stosch bei der Leichenrede 1664 den verstorbenen Syndikus mit Cardinal Richelieu vergleicht. Genau wie Andreas Gryphius eine ‚Säule‘ seines Fürstentums war, war Richelieu eine Säule Frankreichs wie ganz Europas: „Cardinal Richelieu war ein Oraculum Ludwigs des Gerechten / welches en balance gantz Europa erhielt / und das wichtige Contrepoids allen mächtigsten Monarchen leistete“.245 Das Potential dieser Wertschätzung, mentalitätsgeschichtlichen Aufschluss über die Situation Schlesiens zu liefern, ist nicht zu unterschätzen. Richelieu wird als politischer Akteur wahrgenommen, der sich den Monarchen nicht durch Ungehorsam oder gar Aufruhr widersetzt, sondern ihnen mit gutem Rat sowohl Frieden als auch Macht erhalten hilft. Er wirkt sowohl gegen das Risikopotential des Absolutismus, aus dem Status legibus suis solutus eine Unabhängigkeit auch vom transhumanen Recht zu folgern; als auch widerlegt sein Wirken die Notwendigkeit monarchomachischer Widerstandslehren. Innenpolitisch stärkte Richelieu sogar die Zentralmacht des absoluten Herrschers und schwächte zu
243 So aber Szarota: Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, S. 207; vgl. dagegen Gerhard Spellerberg: Barockdrama und Politik. In: Daphnis 12 – 1 (1983), S. 127–168, hier S. 151. 244 Vgl. auch Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, S. 271. 245 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 7.
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diesem Zweck im Gnadenedikt von Alès die politische Macht der französischen Protestanten. Er beließ ihnen einerseits ihre Religionsfreiheit, andererseits entzog er ihnen ihre militärischen Sicherungen.246 Wenn also der von Habsburg bedrängte Lutheraner Stosch dem katholischen Cardinal solche Wertschätzung zukommen lässt, liegt nahe, dass die Politisierung der Protestanten als Protestanten den Schlesiern, zumindest den Glogauern des Jahres 1664, kein primäres Anliegen mehr war. Ohne Zweifel geht es ihnen um eine Duldung ihres Glaubens und, insofern es dabei natürlich um Glaubenspraxis geht, ist dieses Anliegen notwendig politisch. Dieser Anspruch gipfelt jedoch nicht mehr notwendig in einem auch souveränitätspolitischen Unabhängigkeitsstreben. Er möchte diesem nicht einmal mehr nur soweit nachkommen, dass die Auswanderung in protestantische Staaten angedacht würde. Es geht den Lutheranern darum, dass ihnen der Genuss der Rechtssubjektivität nicht auf Grund ihrer lutherischen Konfession verwehrt wird. Das bedeutet allerdings nicht mehr, dass ihnen diese Rechtssubjektivität an ihr Luthertum geknüpft ist. Das Interesse am Recht ist kein lutheranisches, sondern politisches, insofern balance, d.h. Frieden unter der Bedingung ausgewogener Mächteverhältnisse gewünscht ist. Unter diesen Vorzeichen ist auch und gerade von Seiten schlesischer Lutheraner die hohe Achtung eines Katholiken wie Richelieu möglich: Schließlich handelt er aus ihrer rechtspolitischen Sicht nicht katholisch, sondern intervenierte im Gegenteil gegen die rechtliche Übergriffigkeit des Habsburger Katholizismus. Die Religion bleibt natürlich nachhaltig im Fokus der Rechtsdebatten; davon zeugt auch Stoschs Leichabdankung. Es geht jedoch nurmehr darum, dass Religion nicht mehr Rechtshindernis sein soll: Damit durfte sie gerade nicht mehr Rechtsgrundlage sein. Diese Sicht ist sichtlich neu und findet sich bei Gryphius Amtsvorgänger und frühen Mentor Georg Schönborner noch nicht: Wenn rechtes Recht nur unter rechtstheologischen Bedingungen zu haben ist, so ist für Schönborner dieses Recht auch nur unter der Bedingung zu verwirklichen, dass an die oberste Verpflichtungsinstanz Gott auch in der richtigen Weise geglaubt wird (4.2.3.2). Gryphius wird keine Exklusion Falschgläubiger mehr denken – ausgenommen freilich die Muslime (5.2.5.2): Stosch bescheinigt Gryphius, kein Argument vertreten zu haben, „dadurch er das Politisiren in Glaubens-Sachen hätte vertheidigen können“.247 Zwar wird Gryphius in seinem politisch-theologischen Denken das Schriftprinzip so sehr stärken (4.4, 5.4), dass sich natür-
246 Vgl. Ernst Hinrichs: Renaissance, Religionskriege und Begründung der absoluten Monarchie (1498–1661). In: Kleine Geschichte Frankreichs. Hg. von Ernst Hinrichs. Stuttgart 1994 (RUB 9333), S. 125–185, hier S. 175. 247 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 41.
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lich die Frage eröffnet, inwiefern ein Nicht-Lutheraner schon allgemein theologisch die Voraussetzungen erfüllt, göttliches Recht überhaupt adäquat zu erkennen. Dennoch gibt Stosch uns ein Bild eines politischen Denkens der evangelischen Schlesier, das mehr vom Interesse geleitet ist, nicht Opfer obrigkeitlicher Willkür im Allgemeinen zu werden, als nicht lutheranischer Untertan eines katholischen Kaisers und Königs sein zu wollen. Wie das hiesige Kapitel 4.1 bislang zeigen sollte, war seit Machiavelli die Willkür obrigkeitlicher Politik ein allgemeines Problem politischer Theorie. Zu ihm verhielten sich katholische Rechts- und Moraltheologen nur genauso wie die protestantischen dahingehend, dass der Princeps sich eben nicht moralisch indifferent verhalten durfte. Daher konnten die Glogauer in ihrem politischen Interesse durchaus Sympathie für den Katholiken Richelieu empfinden. Dass ausgerechnet die zeitgenössisch starken Repressionen ausgesetzten Lutheraner Schlesiens Rechtstheologeme katholischer Provenienz aufnehmen konnten, hat systematische genauso wie bildungsgeschichtliche Gründe.
4.1.5.2 Land ohne Hochschule: pädagogische Chance? Schlesien als Land im engeren Sinne zu verstehen und seine Geschichte als Landesgeschichte zu schreiben, fällt von vornherein schwer, denn „[s]eitdem Schlesien im hohen Mittelalter in Erscheinung getreten war, war es im Kern wohl weniger staatlich-politisch als vielmehr siedlungsgeschichtlich-gesellschaftlich und kirchlich-kulturell bestimmt gewesen“.248 Seitdem Schlesien 1526 unter habsburgische Hoheit kam, stand die lutheranische Bevölkerungsmehrheit zudem einer räumlich externen, aber mächtigen katholischen Obrigkeit gegenüber.249 Schlesien stellte ein komplexes Gebilde aus mittelbar und unmittelbar unterstellten Fürstentümern dar, zu deren letzten Gruppe Gryphius’ Heimat Glogau gehört.250 Schon dies macht das Vorhaben einer einheitlichen Geschichtsschreibung Schlesiens eigentlich fragwürdig, insofern eine Homogenität in der Sache nie bestand. Man schreibt weniger Geschichte als Geschichten über Schle-
248 Andreas Rüther: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Eine historische Grundlegung. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S. 3–47, hier S. 9. 249 Vgl. Gerhard Kosellek: Deutsche und Polen in Schlesien. In: ders.: Silesiaca. Literarische Streifzüge. Bielefeld 2003, S. 307–325, hier S. 308. 250 Vgl. Norbert Conrads: Regionalismus und Zentralismus im schlesischen Ständestaat. In: Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der frühen Neuzeit. Hg. von Hugo Weczerka. Marburg 1995 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 16), S. 159–170, hier S. 161.
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sien und diese rubrifizieren mehr die Negationen, in denen diese Geschichten allein ihr Gemeinsames zu haben scheinen: die Verwehrung des jus reformandi, der Bürgerrechte und veritabler Hochschulen. Durch die habsburgische Hoheit waren die schlesischen Fürsten vom Augsburger Religionsfrieden ebenso ausgenommen wie vom Reformationsrecht: Dennoch gingen weder Ferdinand I. noch Maximilian I. realpolitisch wirksam gegen die Ausbreitung des Protestantismus vor.251 Dies bedingte die eigentümliche Situation einer zwar katholisch ungewünschten, aber politisch ungehinderten Verbreitung des Protestantismus in Schlesien bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Besonders die relative Situation von Gryphius’ Heimat Niederschlesien darf nicht über Gebühr kleingeredet werden. Gerhard Kosellek erinnert zurecht daran, dass besonders Oberschlesien seit dem Tode Johann II. von Oppeln 1532 unter fortwährend wechselnder Obrigkeit nachlässig behandelt wurde.252 Ähnliches gilt für die Voraussetzungen in der Buch- und Literaturkultur. Während Wolfgang Kessler große Zweifel äußert, „ob es eine eigenständige ‚Literaturlandschaft Oberschlesien‘ im siebzehnten Jahrhundert gegeben hat“,253 ist allein nicht von der Hand zu weisen, dass alle namhaften Poeten aus Niederschlesien stammen.254 Dennoch sind auch die Möglichkeiten des jungen Niederschlesiers Andreas Gryphius deutlich eingeschränkt. Seitdem die Gegenreformation mit der Jahrhundertwende einen zweiten Anlauf nahm, greift sie zu zusehends drastischeren Mitteln, um das große Aufkommen protestantischer Untertanen überhaupt zu bewältigen: Die ab 1628 geübte Praxis, Liechtensteiner Dragoner bei der Stadtbevölkerung einzuquartieren und sie erst dann wieder abziehen zu lassen, wenn diese vom Luthertum abschwören, ist ebenso berühmt wie berüchtigt.255 Einer protestantischen Hochschulgründung auf katholischem
251 Jörg Deventer: Konfrontation statt Frieden. Die Rekatholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien im 17. Jahrhundert. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S. 265–283, hier S. 267–270. 252 Gerhard Kosellek: Unterschiedliche Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung in Oberund Niederschlesien. In: Die oberschlesische Literaturlandschaft im 17. Jahrhundert. Hg. von Gerhard Kosellek. Bielefeld 2001 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 11), S. 11–19, hier S. 11f. 253 Wolfgang Kessler: Das oberschlesische Buchwesen im 17. Jahrhundert. In: Die oberschlesische Literaturlandschaft im 17. Jahrhundert. Hg. von Gerhard Kosellek. Bielefeld 2001 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 11), S. 389–404, hier S. 403. 254 Kosellek: Unterschiedliche Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung in Ober- und Niederschlesien, S. 16. 255 Deventer: Konfrontation statt Frieden, S. 278.
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Hoheitsgebiet war der Weg zu Gryphius’ Lebenszeit noch mehr versperrt als zuvor.256 Das nachteilige Urteil Schöfflers bleibt nach den berechtigten Differenzierungsangeboten Koselleks bestehen. Für die Zeit ab den 1620er Jahren ist es sogar noch zu verschärfen: Zumindest am Falle des Andreas Gryphius ist festzustellen, dass es um den Bildungsstandort Schlesien nicht erst hinsichtlich der Hochschullehre schlecht stand. Auch schon um die schulische Bildung, den Zugang zu Lateinschulen und Gymnasien scheint es in der konzentrierten Gemengelage aus Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg wenig gut bestellt gewesen zu sein. Als Gryphius’ Heimatfürstentum Glogau ebenfalls Opfer der Dragoner wird, 257 ist dort kein Bleiben mehr. Nicht minder gefährlich als das Leben als Lutheraner in Schlesien ist in dieser Zeit jedoch jede Reise durch schlesisches Gebiet: Als Gryphius am 17. April 1631 mit noch nicht 14 Jahren nach Görtlitz aufbricht, um sich an der dortigen Schule einzuschreiben, scheitert dieses Vorhaben am Krieg: „Aber auch diese Hoffnung ist wegen der Martialischen Unruh zerschmolzen“.258 Gryphius geht ins weitaus nähere polnische Fraustadt. In die Jahre als dortiger civis scholasticus 1631–1634 fällt die Anfertigung der beiden Herodes-Epen (4.4.3).259 Wie Stosch berichtet, konnte sich Gryphius damit schon früh einen Namen beim „Fraustädtischen Rath und Volcke“ machen.260 Die Begeisterung Stoschs für das frühe öffentlichkeitswirksame Auftreten Gryphius’ als Dichter muss durchaus nicht allein dem Anlass einer Leichenschrift geschuldet sein: Blickt man auf die besondere Situation Schlesiens, sein akademisches Vakuum, leuchtet eine Mentalität der Begierde nach sichtbarer Exzellenz ein. Sie findet sich in jener Begeisterung Fraustadts für den fünfzehnjährigen Andreas Gryphius bestens bestätigt. Dennoch markiert diese Begeisterung die akademische Leere Schlesiens mehr, als dass sie sie verdeckte. Es ist auch Fraustadt, wo Gryphius während seiner Zeit als Hauslehrer im Hause Schönborner 1636–1638261 die dortige Bibliothek eines privilegierten Gelehrten und hohen Beamten benutzen kann. Dazwischen, in den Jahren 1634–1636 liegt schon das ‚Studium‘ am akademischen Gymnasium im vergleichsweise fernen Danzig (4.2.1).
256 Vgl. Herzig: Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts, S. 66. 257 Ebd. 258 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 25. 259 Ebd., S. 26–28. 260 Ebd., S. 27. 261 Ebd., S. 29f.
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Das Studium trieb den jungen Schlesier notwendig ins Ausland, vorzüglich nach Holland. Dies eröffnete Gryphius natürlich multiple Perspektiven und das Studium protestantischer genauso wie katholischer Autoren war vergleichsweise einfach. Je tiefer im Folgenden in das politisch-theologische Denken des Andreas Gryphius eingedrungen wird, umso deutlicher werden sich in der Tat Deckungen mit Positionen sowohl katholischer Rechtslehrer wie des Francisco Suárez als auch calvinistischer Staatslehrer wie des Justus Lipsius auftun. Es ist dies zumeist ein Teilen von Meinungen, das inhaltlich nicht auf der interkulturellen Prägung des Gryphius beruht. Schon für den Fall des Suárez und seiner Wirkung konnte hoffentlich kenntlich gemacht werden, dass die Zustimmungsfähigkeit seiner Rechtslehre beim Protestantismus weniger durch etwa synkretistische oder synergetische Vermittlungen ex post zustande kam, sondern sich aus der ex ante gemeinsamen Ablehnungshaltung gegen den allemal verdammungswürdigen Machiavelli speiste (4.1.3.2). Ähnliches gilt für die Debatte um das Widerstandsrecht. Dass der populäre Anschein, der Lutheraner müsste in der Widerstandsrechtsfrage notwendig mit Jesuiten und Calvinisten in Konflikt geraten, wenig bis gar nicht der Wirklichkeit der Rechtsphilosophiegeschichte entspricht, trat hier ebenso schon zu Tage. Weder die Jesuiten noch die Calvinisten genießen ein Monopol auf Widerstandsrechtslehre, noch viel weniger aber sind sie auf eine Bejahung des Widerstandsrechts abonniert. Im Gegenteil entpuppte sich mit Luis de Molina gerade ein Jesuit als der denkbar radikalste Vertreter obrigkeitlicher Unbelangbarkeit (4.1.4). Ein prominenter Calvinist wie Bartholomäus Keckermann legt große Skrupel gegenüber dem Widerstandsrecht offen (4.1.2.4). Der ohnehin breit rezipierte Justus Lipsius schließlich befürwortete weder ein Widerstandsrecht noch ließe sich diese Haltung an seiner Konversion zum Calvinismus oder Rekonversion zum Katholizismus festmachen: Seine sichtlich konfessionsindifferenten Argumente zum ius resistendi bleiben unverändert (4.1.2.1). Es ist vielmehr deren sichtliches Bemühen, gegen einen vollständig moralfreien Pragmatismus eine behutsame prudentia mixta zu etablieren, das Lipsius’ Staatslehre bei calvinistischen Hörern in Leiden genauso rezipierbar machte wie bei den katholischen Studenten in Löwen und beim lutheranischen Leser Andreas Gryphius. Dennoch bleibt Gryphiusʼ Status als schlesischer Sonderfall von enormer Bedeutung für sein antimachiavellistisches Denken. Denn zwar beruht das Teilen von katholischen und calvinistischen Lehrmeinungen systematisch nicht auf der interkulturellen Prägung des Gryphius. Dennoch verdankt sich deren Wahrnehmung und Aneignung allein der Tatsache eines notwendig auswärtigen Studiums sowie seiner peregrinatio academica durch West- und Südeuropa. Es ist in der Tat ein bildungsgeschichtlich bemerkenswertes Phänomen, dass Schlesien mit Gryphius, Lohenstein, Hoffmannswaldau, Opitz u.v.a.m. die
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unstrittig bedeutendsten poetae docti des gesamten deutschsprachigen Barock hervorbrachte,262 gerade weil es einer Hochschule im eigenen Lande ermangelte, welche die protestantische Mehrheit hätte aufnehmen können:263 Während in einem Territorialstaat mit Universität die Landeskinder – schon wegen des Förderungswesens mannigfacher Art – an der Landeshochschule studierten, mochte sie nun derzeit schlecht sein oder gut, haben die Schlesier sich stets die besten hohen Schulen der Ferne zum Ziel nehmen können, da sie ja ohnehin in die Ferne ziehen mußten.264
Gegenüber Schöfflers Umkehrschluss, dass der Mangel einer Hochschule selbst schon notwendig Indoktrination und diskursive Einfalt verhinderte, sind mit Blick auf das hiesige Interesse natürlich die im Grunde schon genannten Bedenken anzumelden. Weder nämlich kollidieren lutheranisches, katholisches und reformiertes Denken, solange bei der Ablehnung des großen gemeinsamen Feindes Machiavelli darin Einigkeit besteht, dass mit bewusst amoralischem Handeln Gott gelästert wird. Noch hätte jede beliebige Hochschule ein vielfältiges, um nicht zu sagen ‚befreites‘ Denken gefördert: Der Sonderfall Schlesien verdankt sich immer auch dem Sonderfall der liberalen Niederlande bis zum Sturz Johann de Witts, denen sich schließlich auch nicht-schlesische Innovatoren wie Baruch de Spinoza schon existenziell verdanken.265 Es liegt letzten Endes beim Einzelnen, wie Andreas Gryphius viele Eindrücke einzusammeln: in Schlesien, in Danzig, in Leiden, in Paris, Florenz, Rom, Venedig und Straßburg. Eine Bildungsgeschichte Schlesiens scheint als Präliminarium der Werkgenese Gryphius’ schon insofern kaum sinnvoll betrieben werden zu können, als mangels institutionalisierter schlesischer Bildung nur die Bildungsgeschichten schlesischer Landsleute zugänglich sind. Der Bildungsgang wird daher genauso individualisiert wie der Zugang, den die Studierenden zu ihren Lektüren gewinnen. So liegt es eben bei Andreas Gryphius, zum Beispiel in seinen Leichabdankungen den Jesuiten Athanasius Kircher zur meistzitierten Geistesgröße seiner eigenen Gegenwart zu machen und dabei dessen universalwissenschaftliches Denken dennoch in einer Weise zu rezipieren, wie sie dem theologischen Voluntarismus eines Lutheraners verträglich bleibt (4.4.2.2).
262 Siehe die reichhaltige Aufzählung Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, S. 40 und S. 46. 263 Ebd., S. 32. 264 Ebd., S. 55. 265 Vgl. Wolfgang Röd: Benedictus de Spinoza. Eine Einführung. Stuttgart 2002 (UB 18193), S. 40f.
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Dass Gryphius gefestigter Lutheraner war, bezeugt schon Stosch in seiner Leichenrede auf Gryphius 1664: Billich htten wir unter die Res gestas oben an setzen sollen seine Gottesfurcht und Christenthumbh / da er sich der ungenderten Augspurgischen Confession iederzeit zugethan gestanden / auch das ostende fidem tuam herrlich practiciret.266
Die Besonderheit eines schlesischen Bildungsweges machte also nicht nur aus, heterogene, ja heterodoxe Gedanken wahrnehmen zu können, sondern auch, dass die eigene theologische Position hiervon weitgehend unberührt bleiben konnte. Die Distinktion eines Thomas von Aquin und Bartolus a Saxoferrato zwischen tyrannus absque titulo und tyrannus in exercitio zum Beispiel konnte auch deshalb aufgenommen werden, weil sie die Frage nach der Intelligibilität von Gottes Ratschluss zunächst nicht berührt (4.3.1 und 4.4.1f.). Sobald es jedoch in deren Sinne um die Bedingungen geht, unter denen dem Menschen das Wissen um das göttliche Recht möglich sein soll, kommt man auf fundamentaltheologisches Gebiet. Dessen vermehrt voluntaristische Warte ist vordringlich protestantisch besetzt, wohingegen die vermehrt intellektualistische Warte besonders von der katholischen Spätscholastik vertreten wird. Es ist der lex aeterna-Gedanke in seiner eben melanchthonischen Form der lex Dei, der sich als für Gryphius’ Rechtsdenken grundlegend herausstellen wird (4.2.2.1 und 4.4.3.1f.).
4.2 Beharrliche Tradition: Rechtstheologie Der Begriff Herausforderung wurde für die Überschrift des Abschnitts 4.1 bewusst gewählt. Ideengeschichtlich zeigt er zwar besonders den Innovationsanspruch an, den im vorliegenden Falle der Machiavellismus mit Blick auf den Ausnahmezustand bedeutet: Dabei wird die Tradition als Gegner auf Augenhöhe jedoch immer mitgedacht. Ein ohnehin erlahmtes, kaum satisfaktionsfähiges ‚Altes‘ machte eine Herausforderung kaum reizvoll, die Rede von ihr wäre mithin kaum treffend. Dies führt zu einem wichtigen Umkehrschluss: Wird einer Herausforderung begegnet, sei sie auch wie im Falle des Machiavellismus innovationsträchtig, so wäre es gerade widersinnig zu meinen, dass dieses Begegnen bloß affirmativ erfolgte. Es ist schon in 4.1 zu Tage getreten, dass Herausforderungen nicht nur angenommen werden, indem auch all ihre Prämissen angenommen werden. Der Begriff der Herausforderung unterstellt vielmehr eine Kollision derselben mit eigenen Prämissen, die es zu verteidigen gilt. Man kann diese Verteidigung zum
266 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 41.
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Einen unternehmen, indem Antworten auf Machiavellis Pragmatismus gesucht werden, die selbst im starken Sinne neu sind wie dieser selbst. Diese zu skizzieren, wird mitunter Aufgabe von 4.3 sein. Zum Anderen liegt jedoch vor einem solchen Innovationsaufwand nahe, die eigenen traditionellen Prämissen dahingehend zu prüfen, wie stark sie von Machiavelli überhaupt angefochten werden. Bevor nicht Inventur gemacht wurde, braucht auch konservatives Rechtsdenken nicht voreilig Insolvenz anmelden. Darum hat es im vorliegenden Abschnitt 4.2 zu gehen. Hier ist der in 3.2 erläuterte und entwickelte Gedanke aufzunehmen, dass sich Fortschritte für den heutigen Beobachter aspektuell ausprägen, Zeitgenossen bestimmte Teile von Ideen affirmieren und zu einer Weiterentwicklung vorantreiben, wohingegen andere Teile entweder bewusst abgelehnt oder als potentiell vorhanden gar nicht wahrgenommen, mithin die dadurch entstehenden Leerstellen mit Traditionellem gefüllt werden.267 Es muss im Folgenden also um die Prüfung der Validität dieser Tradition genauso zu tun sein wie darum, wie stark diese Tradition noch wirkt.
4.2.1 Das Danziger akademische Gymnasium: Theologische Suprematie Zu Recht wird das Danziger akademische Gymnasium – wobei nicht sicher ist, ob es die Bezeichnung schon zu Gryphius’ Zeit dort besaß268 – in den zeithistorischen wie sozialgeschichtlichen Darstellungen als weltoffener und vergleichsweise progressiver Kultur- und Studienort bezeichnet. Mithin wird eine geistesgeschichtliche Privilegierung derjenigen Dichter und Denker gefolgert, die vor allem im Falle der Schlesier ursprünglich mehr aus Mangel an eigenen Bildungseinrichtungen diesen Ranges nach Danzig gingen.269 Der erste GryphiusBiograph Stosch umschreibt die wissenschaftliche und wirtschaftliche Blüte der Stadt, in der Gryphius am 23. Juni 1634 eintrifft, mit den denkbar größten alle-
267 Vgl. zum Barock: Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), S. 136–188 sowie S. 31–43. 268 Vgl. Theodor Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, in ihren Hauptzügen dargestellt. Danzig 1837, S. 18, hat die Vermutung, dass die Anstalt diese Bezeichnung erst seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts trug. 269 Vgl. etwa Willi Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne. Halle an der Saale 1921, S. 29– 31; Szyrocki: Der junge Gryphius, S. 9–24; Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. In: Deutsche Dichter. Bd. 2: Reformation, Renaissance und Barock. Hg. von Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max. 2. Aufl. Stuttgart 2000 (RUB 8612), S. 225–250, hier S. 230; Stolleis: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, S. 264.
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gorischen Mitteln, nämlich als die „Stadt / welche zugleich dem Phœbus und Mercurio geneigt ist“.270 Auch Danzig hatte keine Universität bzw. promotionsberechtigte Akademie, besaß aber mit dem Gymnasium eine Anstalt, die dies soweit zu kompensieren versuchte, als sie ihre Schüler in allen Fakultätswissenschaften ausbildete. Auch wurde versucht, eine gewisse universitätsähnliche Kultur und Schulpraxis zu etablieren. Walter Fabers Einschätzung ist daher darin zuzustimmen, dass dies zu einer eigentümlichen Mittelstellung des Gymnasiums zwischen ‚Trivialschule‘ und Universität führte.271 Dieser Status war auch extern anerkannt, insofern das Danziger Curriculum mit dem Einbezug von Philosophie, Jurisprudenz, Mathematik etc. „ein abgeschlossenes ‚kleines Studium‘“ darstellte, „das trotz seiner Schulmäßigkeit für Viele den Besuch einer Universität überflüssig machte und für den mittleren, ja sogar höheren Stadt- und Kirchendienst ausreichte“.272 Das zeigt auch das Beispiel des Andreas Gryphius selbst: Er immatrikulierte sich an der Universität Leiden bereits unter Führung des Magistertitels.273 Diesen hatte er zwar nicht vom Danziger Gymnasium erhalten, sondern von Georg Schönborner verliehen bekommen.274 Dass jedoch in der Tat auch seine inhaltlichen Kenntnisse bereits bedeutend vorgebildet waren, stellt allein seine umfangreiche Lehrtätigkeit in Leiden unter Beweis.275 Die Schüler des Gymnasiums führten schon kleinere Disputationen, die dem Namen nach zwar meist etwas verniedlichend „Geplänkel der Leichtbewaffneten“ (velitatio) genannt wurden, die sich in der Sache aber durchaus durch ein bestimmtes Niveau der Fachkenntnis, der Problemstellung, der Gliederung und des Latein auszeichneten und bisweilen auch in Druck gegeben wurden; über zwei solche velitationes ist gleich noch zu sprechen.
270 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 28. 271 Walter Faber: Johann Raue. In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 68 (1928), S. 187–242, hier S. 209f. 272 Ebd. 273 Rieu: Album Studiosorum Academiae Lugduno Bataviae. Bd. 1: MDLXXV–MDCCCLXXV, S. 298: „26. [Jul. 1638] M. Andreas Gryphius Silesius. 22, P[hilosophiae studiosus; so die Notarum Explicatio auf S. 1]“. Ferner führen die Leidener Universitätsakten keine Notiz von einer Magisterpromotion Gryphius’ vor Ort: Philipp Christiaan Molhuysen: Bronnen tot de geschiedenis der Leidsche Universiteit. ʼs-Gravenhage 1913, S. 218–290. 274 Vgl. Szyrocki: Der junge Gryphius, S. 120; auch Heinz Ludwig Arnold: Zeittafel. In: Text+Kritik 7/8: Andreas Gryphius. 2., revidierte und erweiterte Aufl. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1980, S. 106–111, hier S. 107. 275 Vgl. Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 32.
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Die zurecht konstatierte Weltoffenheit und Progressivität des Standortes Danzig darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Progressivität und Weltoffenheit nur eine relative ist. Sie ist eingebunden in einen Entwicklungsgang, der wohl stetig und mit ziemlicher Sicherheit auch gegenüber anderen Studienstandorten weiter gediehen war. Wohl aber darf man sich, gerade wenn es um die Frage geht, wie modern, mithin säkular Gryphius’ Denken schon qua Ausbildung geschult ist, als Ideen- und Bildungshistoriker keine Wunderdinge vom Danzig der 1630er Jahre erhoffen. Schaut man in die wenigen Berichte über das Danziger Gymnasium wie diejenigen Theodor Hirschs oder Walter Fabers,276 so wird deutlich, dass jene Fortschrittlichkeit zum Einen natürlich in der Betonung einer breiten Bildung überhaupt ihren Grund hat. Wie gesagt, bot Danzig ähnlich dem nicht minder berühmten Breslauer Elisabeth-Gymnasium ein Curriculum an, das „über das übliche Gymnasialpensum hinaus“ geht.277 Zum Anderen jedoch stellen Hirsch und Faber die gelehrte Streitkultur in Danzig heraus, deren wichtigstes Zentrum mitunter das Gymnasium bildete. Hier wurden in den Jahren von 1629 bis 1669 wichtige Auseinandersetzungen geführt zwischen Calvinisten und anderweitig Reformierten, auch Socinianern, und strengen Lutheranern. Diese wussten seit 1630 in persona Johann Botsacks einen ebenso konservativen wie theologisch beflissenen Vertreter ihrer Konfession im Rektorenamt.278 Als wohl prominentester Fall zu Gryphius’ Lebens-, allerdings nicht Danziger Schulzeit, dürfte der Heinrich Nicolais gelten, der seit 1631 die Professur für Logik und Metaphysik innehatte und, unter dem Ruf der Heterodoxie stehend, in den Streit zwischen Irenikern um Georg Calixt und Zeloten um Abraham Calov geriet – nicht ganz ungewollt, wie der Titel seiner lange hinausgezögerten,279 aber 1645 doch erfolgten Stellungnahme Irenicum Sive De differentijs Religionum conciliandis, Succinta Commentatio zeigt. Es darf in der Tat als Zeichen einer gewissen Offenheit der Stadt Danzig wie seines Rats gelten, dass die unterschiedlichen Kontroversen hier ausgetragen werden konnten, ohne dass die Streitigkeiten über die sachliche Diskussion wesentlich hinausgingen: In jedem Fall zeitigten sie im Falle Nicolais keine ad personam gehenden, existenzgefährenden Konsequenzen in
276 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig; Faber: Johann Raue. 277 Vgl. Arno Seifert: Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Hg. von Notker Hammerstein. München 1996, S. 197–374, hier S. 304: Dessen „Lehrplan umfaßte das ‚tyrocinium artium, philosophiae, linguarum, doctrinae Ecclesiae‘, also über das übliche Gymnasialpensum hinaus die Grundlagen von Philosophie und Theologie“. 278 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, S. 24ff. 279 Vgl. August Bertling: [Art.] Nicolai, Heinrich. In: ADB 23, S. 591–592, hier S. 591.
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der Art, dass Nicolai sein Irenicum gegen Calovs Einflussnahmen nicht in Danzig hätte publizieren können, seine Anstellung verloren oder gar der Stadt verwiesen worden wäre. Erst ab 1647 nahm die konfessionelle Kontrolle seitens der Lutheraner zu,280 und Nicolai nahm 1651 den Ruf nach Elbing auf eine Professur für Theologie und Philosophie offensichtlich dankbar an.281 Als Ort der Auseinandersetzung war Danzig in den Jahren, in denen Gryphius dort studierte, mit Sicherheit einer, wo vielfältige Meinungen gehört werden konnten. Schon damit war eine bestimmte Möglichkeitsbedingung eines freieren Denkens als andernorts realisiert, nämlich schlicht die, heterodoxe Lehrmeinungen als Alternativen überhaupt wahrnehmen zu können, die allererst zur Auseinandersetzung nötigen. Nichtsdestoweniger wurden sie eben als durchaus heterodox von den gegenseitigen Konfliktparteien empfunden und bezeichnet: Die Möglichkeit der Auseinandersetzung, die Danzig bot, verunmöglichte gerade noch nicht die gegenseitigen Diskreditierungsversuche und das Bestreben, in den eigenen Reihen pädagogisch orthodox zu wirken. Die Streitkultur, die im Falle Nicolais etwa mit bisweilen durchaus bedächtigen, methodisch geleiteten Überlegungen vermeintliche Differenzen aufzulösen suchte, war eben keine radikal-relativistische: Auch in den Augen Nicolaus sollten die Streitpunkte nicht unter dem Leitbild etwa von absoluter Toleranz indifferent gesetzt werden, sondern nach ihrem Ursprung, Gründen, Umständen usw. erklärt und soweit dogmatisch möglich geklärt werden.282 Rainer Forst hat in seiner systematischen wie historischen Rekonstruktion der Toleranzdebatten herausgearbeitet, dass solche vermehrt auf eine Inklusions- oder Reduktionsstrategie setzenden Vermittlungsversuche
280 Hans Joachim Müller: Konfession, Kommunikation und Öffentlichkeiten. Der Streit um die Irenik in Danzig 1645–1647. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. von Kaspar von Greyerz u.a. Heidelberg 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201), S. 151–178, hier S. 168. 281 Bertling: [Art.] Nicolai, Heinrich, S. 591. 282 Vgl. z.B. Heinrich Nicolai: Irenicum Sive De differentijs Religionum conciliandis, Succinta Commentatio. Danzig 1645, S. 2: „QVi differentias ac diversitates in negotio aliquo ad concordiam redigere velit, eum ad differentiarum originem, occasiones, causas, modos, formales rationes, attributa, circumstantias, ac similia attendere oportet, & ut ista omnia vel removeantur, vel moderatiùs ponantur“ [Hervorhebungen im Text]. Auch mit Toleranz überhaupt hat diese Situation wenig zu schaffen, schließlich geht es Nicolai nicht darum, etwas zu erdulden, was als andersartig und heterodox verbleibt, sondern darum, vordergründige Differenzen als eben nur scheinbare zu entlarven. Was über die systematische Prüfung hinaus als andersartig bleibt, ist mithin als heterodox nicht notwendig zu dulden.
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gerade noch nicht dahingehend konzeptualisiert waren, dass das Andere als Anderes in seinem Anderssein akzeptiert und toleriert wurde.283 Konkret wird das Danziger Gymnasium für die Einordnung der gryphschen Trauerspiele von Bedeutung, blickt man auf das schon erwähnte breite Curriculum sowie die bestimmte Hierarchie der Wissenschaften. Dabei interessieren natürlich Rang und Gestalt der politischen Lehre und Jurisprudenz, wie sie in der Danziger Anstalt vertreten und vermittelt wurden. Hirschs ausführliche Übersicht beinhaltet auch die Professorenlisten: Laut diesen waren die Rektoren des Gymnasiums immer Theologen, womit institutionell eine Vorrangstellung der Theologie bereits angezeigt ist. Ferner wurden auch die unteren Professuren meist mit Theologen besetzt. Wenn 1631 eine Stelle für „reine Philosophie“ eingerichtet wird,284 so darf dies nicht zu übereilten Schlüssen hinsichtlich der Systematik der somit betriebenen Philosophie verleiten. Denn dass es sich dabei tatsächlich nicht um eine theologiefreie Philosophie handelt, sondern schlicht um die Denomination der Professur, beweist e contrario ein Blick in die systematische Gestalt der philosophischen Abhandlungen. Dies lässt schon Hirschs eigene Auskunft durchscheinen: „Der Prof. Philos. lehrt Metaphysik und Politik und wendet in Disputationen jene auf theologische, diese auf juridische Materien an“.285 Es ist anhand der genannten velitationes zu zeigen, dass nicht etwa nur die Metaphysik auf theologische Materien angewendet würde, nur die Politik auf juridische Gegenstände: Vielmehr ist aus diesen Disputationen der umfassende Fundamentalcharakter der Theologie für Politik und Jurisprudenz ersichtlich. Diese velitationes sollen dem Schüler Gelegenheit bieten, sich in gelehrter Disputation zu üben. In speziell politischer Materie fanden solche Übungen unter der Schirmherrschaft des Professors für Geschichte und Jurisprudenz Christophorus Riccius (1590–1643) statt. Neun dieser velitationes, abgehalten 1626, wurden im selben Jahr in Danzig gedruckt. Die erste, zweite, dritte, vierte und neunte velitatio sind heute noch in der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten. Sie zeigen ihren eigentümlichen Charakter in ihren Titeln explizit auf: „Palæstræ Politicæ, Velitatio Prima [Secunda etc.], in quâ apud Gymnasium Dantiscanum Sub Umbone Christophori Ricci, respondendo pugnabit [Name des respondieren-
283 Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt am Main 2004 (stw 1682), S. 104f. 284 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig; S. 39: „Für die untern Professuren wurden meist Theologen ernannt und ihnen verschiedentlich einzelne Theile der philosophischen und philologischen Wissenschaften zugewiesen. Seit 1631 jedoch wurde eine Stelle ausschliesslich der reinen Philosophie [...] gewidmet.“ 285 Ebd., S. 50.
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den Schülers]“.286 Auf diesem Übungsplatz („palæstra“) findet also die Disputation unmissverständlich als „Übung eines Leichtbewaffneten“ statt („velitatio“). Jedoch wird die Rolle des Professors nicht als die eines bloßen Vorsitzenden („praeses“) umrissen, sondern als die eines Beschirmenden („umbo“). Dem gehaltlichen Ernst dieser Veranstaltungen und Publikationen tut dies mitnichten Abbruch. Die erste velitatio des Respondenten Karl von Nittenberg widmet sich der Wissenschaftlichkeit der Politica überhaupt. Dabei wird schon hier die große Bedeutung von Gryphius’ Mentor Schönborner als instruktiver Autorität deutlich: Ausdrücklich soll „in den meisten Dingen der Methode des großen Rechtsgelehrten Herrn Schönborner gefolgt werden“.287 Leitend ist die Absicht, die Meinung zu widerlegen, die Politik könne nicht aus sicheren Vorschriften erschlossen und gelehrt werden: Diese Meinung unterliegt schon früh dem Verdikt, „schnatterhaft“ („clanguida“) zu sein und entspringt gerade mangelnder Bildung in Sachen politischer Klugheitslehre.288 Es dürfe durchaus nicht in Abrede gestellt werden, dass eine solch große Mannigfaltigkeit der politischen Sachlagen vorliege, die nur schwer zu sicheren Regeln hinführe. Diese seien mithin auch nicht apodiktisch, sondern nur als Wahrscheinlichkeitssätze zu erschließen: „Sanè diffiteri non licet, tantam inibi reperiri varietatem, quæ ad certas haud facile conducatur regulas. Atque ideò etiam non apodictica, sed probabilia tantum hic èxpetenda ac expectanda“.289 Das in der Formulierung verwendete Gerundiv legt jedoch genauso wie die noch folgenden Ausführungen offen, dass alle Anstrengungen Riccius’ und Nittenbergs dem Nachweis gelten, dass sich diese Wahrscheinlichkeitssätze selbst wiederum bestimmten Grundlagen verdanken. Aus diesen ergeben sich die probabilia in ihrer Gesamtheit zwingend: „probabilia tantum hic expetenda ac expectanda“.290 Auch dasjenige, was sich augenscheinlich beständig verändert, ist der Sache nach notwendig: „ob oculos perpetim versetur, necessum est“.291 Wenn daher festgehalten wird, dass das „Übrige“ aus dem „Viergestirn“ von erstens Usus, zweitens Geschichte, drittens Reiseberichten und viertens dem
286 Vgl. Christoph Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Prima, in quâ apud Gymnasium Dantiscanum Sub Umbone Christophori Ricci, resondendo pugnabit Carolus â Nittenberg, Nob. Moravus. die 19. Jan. hor. pom. 1. in auditorio primo. Danzig 1626, Titelblatt [Hervorhebungen im Text]. 287 Ebd., § 2. 288 Ebd.: „[Q]uæ plerisque nunc fermè inolevit opinio, Politicam certis non posse concludi aut doceri præceptis, clanguida nimis est, neque studiosam facile turbabit mentem.“ 289 Ebd. 290 Ebd. 291 Ebd.
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‚Austausch‘ mit weisen Lehren zu ziehen ist,292 kann nicht übersehen werden, dass auch die politische Klugheitslehre über ein systematisch festes, d.h. dem Anspruch nach gewisses Fundament verfügt. Dieses Fundament bildet für die praktische Vernunft, d.h. im Verabfolgen praktischer Syllogismen, stets den Obersatz: An dessen Geltung ist nicht zu zweifeln, er selbst ist mithin kein bloßes probabile. Usus, Geschichte, Reiseberichte und korrelierte Lehren beliefern somit nur das ‚Übrige‘, nämlich den Untersatz des jeweiligen Syllogismus. Insofern ist dieser Untersatz variant und damit auch der Schluss des Syllogismus. Probabilia sind diese praktischen Schlüsse also ausschließlich aufgrund der Varianz der Untersätze, sie teilen jedoch allesamt das feste Fundament ihres gemeinsamen Obersatzes. Der Probabilismus der Staatslehre ist damit kein absoluter, sondern nur ein relativer. Er gilt nur hinsichtlich der handlungstheoretischen Folgerungen, wohingegen die Staatslehre im Hinblick auf ihr Fundament doch eine politische Wissenschaft ist. Diese systematische Abstufung von gesichertem Fundament und varianten Schlussfolgerungen schlägt sich entsprechend in der Ordnung dieser politischen Wissenschaft selber nieder. Hierfür wird sich abermals an Schönborner angelehnt: 11. Definitur à Schönbornero, quod sit prudentia bené de Rep. judicandi, eamque recte constituendi & ad salutem civium administrandi. 12. Eaque ipsa prudentiæ politicæ disciplina, ut conveniente pertractetur ordine, omniū primū de Reip. (quæ unica est politicæ possessione) constitutione, tum de administratione, & tandem de ejusdem eversione fuerit explicandum.293
In der Bestimmung von Respublica wird direkt an Aristoteles Anschluss genommen, insofern Staat neben der Ordnung der Bürgerschaft wie anderer Herrschaftsformen vordringlich auf die Ordnung der umfassenden, obersten Macht zielt („μάλιστα τῆς κυρίας πάντων“).294 Diejenige Frage schließlich, die das genannte feste Fundament der politischen Wissenschaften bildet, ergibt sich für Riccius und Nittenberg mit durchaus frühaufklärerischem Interesse aus dieser aristotelischen Bestimmung: Wenn nämlich der Staat eine Ordnung zweifacher Übereinkunft ist – nämlich erstens über die Staatsgründung, zweitens über die Übertra-
292 Ebd., § 3: „Reliquum quod est, ex usu, historiis, peregrinatione, selecta cum sapientioribus conversatione hauriendum. Illa enim appropriata quadriga est, quâ enixus studii politici conatus tandem consummatur“. Im Detail §§ 4–7. 293 Ebd., §§ 11, 12. 294 Ebd., § 13: „Resp. ab Aristotele 3. Pol 6. dicitur ταξις τῆς πὸλεως τῶντε ἄλλων καὶ μάλιστα τῆς κυρίας πάντων: id est ordo civitatis tum aliorum imperiorum, tum præcipuè summæ Majestatis.“
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gung der höchsten Macht an einen Herrscher295 –, worauf baut diese Ordnung dann eigentlich auf, was drängt zu dieser Übereinkunft?296 Dass die nunmehr in den Fokus genommene Staatsentstehung etwa zufällig oder auch nur unüberlegt geschehe, wird explizit bezweifelt.297 Ebenso abgelehnt wird die These vom Zusammenschluss aus bloßer Furcht.298 Damit gelangt der frühaufklärerische Impetus prompt an seine Grenze, insofern er sich dieser proto-hobbesianischen Überlegung kategorisch verschließt. Das Fundament der vertretenen Staatslehre, der Anlass der Staatsentstehung, liegt in einem theologisierten Aristotelismus, nämlich in der gottgewollten Neigung des Menschen zur Vergemeinschaftung: „Naturalis hominum inclinatio, divino afflatu incitata, causam huic rei dedit“.299 Diese theonome Grundlegung der Respublica, wie sie nahezu wortwörtlich von Schönborner übernommen wird,300 plausibilisiert dabei nicht nur die Notwendigkeit von Staat und Ordnungsfindung, sondern wirkt gleichzeitig verbindlich auf die Gestalt des Staates und seiner Gesetzgebung (4.2.3). Wenn es nämlich um Erhalt und Wachstum des nunmehr gebildeten Staates geht, erzeugt die göttliche Instanz auch Verbindlichkeit hinsichtlich der hierfür aufzuwendenden Mittel. In direkter Auseinandersetzung mit Machiavellis Discorsi sollen dessen „merkwürdige Anweisungen“ zurückgewiesen werden: Juvant autem Rerump. incrementa mirum in modum I. Vicinarum Rerump. ruina. Ita Roma ruinis crevit Albæ. Liv. libr. I. Et alibi etiam occasio unius pereuntis orienti alteri non semel initium præbuit Chokier in disp. pol. cap. 13. q. 5. v. Machiav. disp. lib. 2. Cap. 3. Ea vero expectanda magè, quàm facienda. Nam quod aliqui ruinam & accessionem non vicinarum tantùm sed & aliarum Rerump. quovis etiammodo ac impetus quærendam suadent, Christianum satis non est, & periculosum omninò. Multi enim, ut verè Valerius Max. lib. 4. sua perdiderunt, inhiando alienis […]. Res ipsa loquitur: & loquetur amodò. Dii omen avertant tristius.301
Riccius und Nittenberg führen dabei schon ein bestimmtes Argument, das den Keim für Gryphius’ politisches Denken bilden wird. Dass bisweilen ein Staat vom Untergang eines anderen profitiert, ja aus diesem erst hervorgeht, darf nicht zu
295 Ebd., § 16. 296 Ebd., § 17: „Cum igitur Respub. sit ordo cœtus duplicis, haud immeritò quæri possit, quomodo is congestus sit?.“ 297 Ebd.: „Sed an fortuitum aut temerarium? dubitamus.“ 298 Ebd., § 18: „Alii enim metus causa cöivisse homines clamitant […] alii defensionis […]. Sed frustrà.“ 299 Ebd. 300 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 6: „Naturalis hominum inclinatio est divino afflatu incitata.“ 301 Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Prima, § 24 [Hervorhebungen im Text].
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Machiavellis Fehlurteil führen, dass dieser Untergang vom politischen Akteur aktiv herbeizuführen sei: Es ist allerhöchstens erwartbar („expectanda magè, quàm facienda“). Das eigenhändige Bezwecken des Untergangs benachbarter und fremder Staaten ist vielmehr unchristlich und gefährlich. Dass es gefährlich, weil unchristlich, im weiteren Sinne gegen göttliches Gebot, ist, zeigen die letzten beiden zitierten Sätze. Die Erkenntnis, dass viele Herrscher „das Ihrige verlieren, indem sie nach Fremdem gieren“, zielt dabei auf mehr als einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung: Der gierige Herrscher verliert das Seine nicht etwa, weil er dieses in der Gier nach Fremdem vernachlässigt oder unbeaufsichtigt lässt. Solcher pragmatischen Überlegungen war Machiavellis Prudentismus allemal habhaft. Vielmehr stehen die Gier nach Fremdem und der Verlust des Eigenen in einem kaum mehr nur impliziten Verhältnis von Rechtsbruch und Strafe: Die Gier nach dem Fremden ist als Verstoß gegen das neunte und zehnte Gebot sowohl unchristlich als auch gegen das als universal empfundene göttliche Gesetz. Der Anrufung, „die Götter mögen ein elenderes Unglück abwenden“, korrespondiert der neben Machiavelli angeführte Jurist, Kanonist und Theologe Jean de Chokier (1571–1650).302 Im 13. Kapitel sowohl des fünften als auch des sechsten Buches seines Thesaurus Politicorum Aphorismorum (1611) ist ein unmittelbarer, einschlägiger Bezug zur verhandelten Frage zu finden: Sowohl gehöre es zu den vordringlichen Zielen politischer Klugheit, die schändliche Begierde abzulegen;303 als auch ist höhere göttliche Gewalt die eigentliche Ursache des Unterganges von Staaten zum Zwecke der Bestrafung verübten Unrechts: „[A]nnon regna de gente in gentem transferuntur propter iniustitias, & contumelias, & diuersos dolos? transferuntur sanè“.304 Dieses Denken vom theonomen Fundament und der damit auch juridischen Grundlegung der politischen Klugheit und politischen Wissenschaft schlägt sich in den „Corollaria Juridica“ nieder, die zum Schluss der velitatio angeführt werden. Sie sind jurisprudentielle Grundüberzeugungen, die mehr axiomatisch veranschlagt als aus der vorangegangenen velitatio gefolgert sind. Nichtsdestoweniger korrespondieren sie den polittheoretischen Sätzen der velitatio: 1. An error, aut opinio jus faciat? Neg[atur]. 2. An sint in jure, seu legibus, quæ tribus præceptis, honestè vivere, neminem lædere, suum cuiq; tribuere, contrarientur? N[egatur].305
302 Herbert Jaumann: [Art.] Chokier, Jean de, Baron de Surlet. In: ders.: Handbuch der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin 2004 , S. 182. 303 Jean de Chokier: Thesavrvs Politicorvm Aphorismorvm. Rom 1611, S. 364–366. 304 Ebd., S. 476. 305 Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Prima, Corollaria Juridica [nicht paginiert].
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Wenn weder Irrtum noch bloße Meinung rechtsbegründend sein kann, und zwar weder diejenige der Menschen der Gemeinschaft insgesamt noch diejenige des Herrschers, was gewährleistet dann die objektive Korrektheit des Rechts? Staatliches Recht stützt sich demnach auf ein ihm übergeordnetes Recht, dessen Prinzipien in den Digesten Ulpians festgehalten wurden: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“.306 Dieses universale Recht wiederum ist selbst sowohl widerspruchsfrei als auch enthält es konkrete allgemeingültige Vorschriften für den Menschen, im Staat genauso wie im Naturzustand: Wie Gerald Hartung abschließend festgestellt haben dürfte,307 ist die Kollisionsfreiheit dieser drei Vorschriften vom anständigen Leben, der Schadensfreiheit des Anderen und dem Zugeständnis des natürlichen Rechts eines jeden auf das Seine vor Hobbes nur denkbar unter dem systematisch erst versichernden Einschluss einer göttlichen Verpflichtungsinstanz. Sie überwacht die Kollisionsfreiheit von menschlichem und transhumanem Recht. Martin Honecker bemerkt zurecht, dass schon die dem ulpianischen Naturrechtsgedanken zugrunde liegende stoische Metaphysik in der Weltvernunft Gott gerade nicht ausschließt, sondern ihn mit Mensch und Welt vereint denkt.308 Hier ist er nicht mehr bloßer Teil dieser Einheit, sondern Gott ist Grundlage der inhaltlichen Geltung sowie handlungswirksamen Umsetzung dieses allgemeinverbindlichen Naturrechts. Diese Haltung expliziert abschließend die neunte velitatio, gehalten von Adrian von Linde, in den Jahren 1635–1682 Protoscholarch des akademischen Gymnasiums:309 „Nos verô in Scholâ Christianâ causam efficientem primam Legum agnoscimus DEUM opt.: Max. causam & fontem omnis boni in naturâ“.310 Gott ist für Riccius und Linde nicht nur erste Wirkursache der Gesetze, womit sie bloß an den allgemeinen Konsens jeder Rechtstheologie anschließen. Die velitatio bestätigt darüber hinaus die vordringlich melanchthonianische Prägung der in Danzig gelehrten Jurisprudenz und Politologie. Die universale Kenntnis
306 Dig. 1. 1. 10 (CIC 1, S. 29b). 307 Hartung: Die Naturrechtsdebatte; ders.: Gesetz und Obligation. Die spätscholastische Gesetzestheologie und ihr Einfluß auf die Naturrechtsdebatte der Frühen Neuzeit. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert, Kurt Seelmann. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 68), S. 381–402. 308 Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik. Berlin, New York 1990 (De-GruyterLehrbuch), S. 113f. 309 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, S. 64. 310 Christoph Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Nona, in quâ apud Gymnasium Dantiscanum Sub Umbone Christophori Ricci, respondendo pugnabit Andrianus de Linda Dantiscanus die 18. Apr. hor. 9. antem. in auditorio primo. Danzig 1626, § 6.
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des Naturrechts wird durch seine Angeborenheit angenommen: Gott ist nämlich ferner auch die Instanz, „qui divinos mentibus hominum indidit igniculos, ex quibus, quid æqum & justum, quidque iniqum & injustum sit, perspicere possunt“.311 Zum ideengeschichtlichen Status quo des Danziger akademischen Gymnasiums, wie er sich Gryphius präsentierte und wie er auf Gryphius auch prägend wirkte, ist zunächst zu resümieren: Wenn man schon an der Bestallung ausschließlich von Theologen mit dem Rektorenamt einen großen Stellenwert der Theologie allgemein feststellen konnte, so wird anhand der behandelten velitationes deutlich, wie es um diesen Stellenwert der Theologie genau bestellt ist. Die Theologie ist nicht etwa irgendwie hoch angesehen oder nur irgendwie wichtiger, weil etwa die Religion im Leben des Menschen des siebzehnten Jahrhunderts eine größere Rolle spielt und Leerstellen der heilsgeschichtliche Sinngebung füllt (wohingegen die übrigen Disziplinen diese Funktion nicht erfüllen). Die Theologie hat vielmehr eine systematisch übergeordnete Stellung inne in der Hierarchie und im Verbund der Einzelwissenschaften. Sie ist ihnen sachlich übergeordnet und liefert ihnen, wie im Falle der velitationes gesehen, die erst entscheidenden Unterscheidungs- und Bewertungskategorien. Es gibt mithin keinen den Disziplinen äußeren Bewertungsmaßstab, der über eine größere Relevanz der Theologie entscheidet. Entscheidend ist die immanente Architektur des frühneuzeitlichen Systemgebäudes, in der die Theologie nicht komparativ wichtiger ist als andere Wissenschaften, sondern als Grundlagenwissenschaft für die anderen schlicht unentbehrlich und damit absolut wichtig ist.
4.2.2 Schlesischer Philippismus: Melanchthons Naturrecht Es gehört zu den Eigentümlichkeiten und besonderen Herausforderungen einer jeden Ideengeschichte, gerade solche Denker als wirkmächtig zu entdecken, die von den zeitgenössischen Rezipienten nicht namentlich genannt werden. Deren Wirkungen drohen unverdienter Maßen verdeckt zu werden. Philipp Melanchthon ist – anders als Georg Schönborner – eine der wirkmächtigen Gestalten, die Andreas Gryphius weder in seinen ‚theoretischen‘ Schriften, den Leichabdankungen, noch in seinen Trauerspielen explizit beim Namen nennt – ebenso wenig wie den Niccolò Machiavellis. Genau so wie dieser hat jedoch auch Melanchthon Gryphius’ Bildung beeinflusst und nachhaltigen Eingang in sein theologisch fundiertes Rechts- und Staatsdenken gefunden. Es ist dieser Arbeit also auch
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um die Erhärtung der Hinweise Wilhelm Kühlmanns auf die vermehrt melanchthonianische Tradition des gryphschen Rechtsdenkens zu tun.312 Zurecht stellt Anton Hügli im Historischen Wörterbuch der Philosophie unumwunden fest: „Der eigentliche, bis zum Ende des 17. Jh. dominierende N[aturrechts]-Lehrer des Protestantismus blieb Ph[ilipp] Melanchthon“.313 Dies liegt schon durch den wissenschafts- und theologiegeschichtlichen common sense nahe, dass Melanchthons Loci methodisches Vorbild für die Orthodoxie sowohl der Altlutheraner als auch der Altreformierten wie auch für katholische Denker wie Melchior Cano waren – natürlich „z.T. unter Tilgung des Autornamens“.314 Der Philipporamismus war ferner im protestantischen Deutschland seit 1580 schulbildend.315 Ebenso besaß der Philippismus u.a. in Gryphius’ Heimat Schlesien eines seiner Zentren.316 Melanchthons Status als praeceptor Germaniae gilt auch für den Fall des Danziger Gymnasiums: Hier sind bis zum Rektorat Samuel Schelwigs (1685–1715) die loci communes verbindlicher Lehrstoff für alle Schüler, ungeachtet derer besonderen akademischen Ambitionen.317 Vor allem aber behandelt Melanchthon systematisch auch die Frage nach einem Gott, der im Rahmen des weltlichen Regiments bestraft, und beantwortet sie in jener Weise, wie sie für Schönborner und besonders für Gryphius bestimmend sein wird. Dies kommt in seinem Hauptwerk, den Loci theologici tertiae aetatis (1559), aber auch schon in der dem Titel nach von Justus Jonas, vermutlich aber in weiten Teilen von Melanchthon selbst angefertigten deutschen Fassung Heubtartikel Christlicher Lere von 1556 zur vollen Entfaltung,318 die gegenüber den Loci secundae aetatis bereits deutliche Erweiterungen beinhaltet.
4.2.2.1 Angeborene Ideen: Naturrecht oder theonomes Vernunftrecht? Die politische Bedeutung eines transhumanen Rechts einerseits und der juridischen Grundlegung eines göttlichen Strafeingriffs andererseits müssen angemessen eingeordnet werden. Hierfür sind Fragen der inhaltlichen Herkunft der
312 Wilhelm Kühlmann: Der Fall Papinian. Ein Konfliktmodell absolutistischer Politik im akademischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 11 (1982), S. 223–252. 313 Anton Hügli: [Art.] Naturrecht IV. Neuzeit. In: HWPh 6, S. 582–594, hier S. 583. 314 Vgl. Heinz Scheible: [Art.] Melanchthon, Philipp (1497–1560). In: TRE 22, S. 371–410, hier S. 395. 315 Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650, S. 144. 316 Vgl. Scheible: [Art.] Melanchthon, Philipp (1497–1560), S. 395. 317 Vgl. Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, S. 48f. 318 Vgl. Stupperich: Melanchthons deutsche Bearbeitung seiner Loci nach der Olmützer Handschrift.
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transhumanen Gesetze sowie der Herkunft ihrer Verpflichtungskraft genauso zu klären wie die stets schon politischen Fragen selbst. Denn schon die wissenschafts- und disziplintheoretische Vorrede Melanchthons haben gezeigt, dass der ungeheuerliche Anspruch eines umfassend theologischen Denkens kein geringerer ist, als vordergründig juridische Fragen der Rechtsherkunft wie der Rechtsgeltung und vordergründig politologische Fragen des Handlungsdrucks – gerade im Ausnahmezustand – im Vollzug einer Antwort klären zu können (4.1.3.1). Die Antworten auf jene sind als Rechtstheologie, die Antworten auf diese sind als politische Theologie und theologische Politologie nichts anderes als der Ausdruck der einen, sich in ihren Subdisziplinen vollziehenden Generalwissenschaft Theologie. Es muss gerade für Melanchthons Fall geklärt sein, unter welchen Bedingungen das irdische politische Eingreifen Gottes beim Reformator steht. Diese Bedingungen werden sich hinsichtlich Gryphius’ Denken als differenzbildend herausstellen. Damit kann im Rahmen der hier vertretenen, für aspektuale Veränderungen offenen Ideenhistoriographie allererst präzise aufgezeigt werden, welche Wirkung das melanchthonianische Naturrecht beim Schlesier zeitigt. Denn Gryphius wird zwar die Idee eines politisch strafenden Gottes als solche über Schönborner von Melanchthon übernehmen (4.4.4.2, 4.4.5.3). Allerdings wird er dessen anthropologische Grundlagen – so sei hier schon behauptet – nicht teilen. Daher müssen diese Grundlagen betrachtet werden, um Gryphius später entweder eine anschlusslose, willkürlich eklektische Rezeption des Deus politicus oder aber eine solche Rezeption präzise nachweisen zu können, die eine Neueinbettung des politischen Gottes darstellt. Philipp Melanchthons natürliche Gesetze sind nicht bloß natürlich in der Weise, dass sie im Naturzustand Geltung besitzen, sondern sie sind auch im Menschen je schon vorhanden. Jeder Mensch hat moralisches Wissen unabhängig von seiner Konstitution, Herkunft und Konfession. Dem Inhalt nach entsprechen die natürlichen Gesetze dem Dekalog, womit dieser gleichzeitig naturalisiert und umgekehrt die spätestens seit der Spätscholastik übliche leges-Hierarchie von lex aeterna, lex divina, lex naturalis und lex humana gewissermaßen ‚dekalogisiert‘ wird: In jedem Fall bietet Melanchthon eine Vermittlungsleistung an, die den Dekalog nicht als additives positives Gesetz Gottes erscheinen lassen möchte wie die mittelalterliche Naturrechtslehre.319 Das Naturrecht ist dem Menschen nicht
319 Vgl. Norbert Brieskorn: Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? Sinn und Notwendigkeit des Naturrechts aus philosophischer und theologischer Sicht. In: ‚Vom Rechte, das mit uns geboren ist‘. Aktuelle Probleme des Naturrechts. Hg. von Winfried Härle, Bernhard Vogel. Freiburg im Breisgau S. 97–126, hier S. 104 und S. 122f.
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mehr äußerlich. Durch seine propositional-innatistische Internalisierung kann ein persönliches Unrechtsempfinden mit diesem äußeren Recht unmöglich mehr kollidieren. Daher gehen bei Melanchthon Jurisprudenz und Ethik in eins, wie Merio Scattola zurecht konstatiert.320 Die praktischen Prinzipien, in deren Einhaltung Gott zu gehorchen ist, die gesamte Unterscheidung von Gut und Schlecht, sind im Menschen vorhanden: Ut lumen oculis divinitus inditum est, Ita sunt quaedam notitiae mentibus humanis inditae, quibus agnoscunt et iudicant pleraque. Philosophi hoc lumen vocant notitiam principiorum, vocant κοινὰς ἐννοίας et προλήψεις. Ac vulgaris divisio nota est, alia esse principia speculabilia, ut notitias numerorum […] Alia sunt principia practica, ut totum discrimen naturale honestorum et turpium. Item, Deo est obendiendum. Ac debebant quidem haec practica principia tam illustria nobis esse et firma, quam sunt notitiae numerorum.321
Melanchthons auf Röm 2,14–15 aufruhende innatistische Lehre322 gewährleistet für eine Natur- und Staatsrechtslehre gleich Mehrfaches. Schon Günter Frank, Merio Scattola und Gideon Stiening weisen zurecht darauf hin, dass mit der Idee von den notitiae communes als ideae innatae zugleich erstens ihre propositionale Universalität, zweitens ihre kognitive Ubiquität und drittens ihr Normcharakter garantiert ist.323 Die eingeborenen Ideen gelten (ad 1) inhaltlich für jeden Menschen, da Gott sie gegenüber ihrem Gegenstand invariant in die menschlichen
320 Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 50f.: „Das Naturrecht gehört also nicht zur Jurisprudenz, sondern fällt mit der gesamten Ethik zusammen [...] Die Grundsätze des Naturrechts gelten als Prinzipien der Ethik, und da sie zugleich auch die Prinzipien des Rechtes sind, liegt der Schluß nahe, daß das Recht aus den Grundsätzen der Ethik hergeleitet werden soll.“ 321 CR XXI, Sp. 711f. 322 Röm 2,14–15: „Denn so die Heiden / die das Gesetz nicht haben / vnd doch von natur Das natürliche Gesetz ist / Was du wilt dir gethan vnd vberhaben sein von einem andern / das thu vnd vberhebe du auch einen andern. Darinnen das gantze Gesetz Mosi begriffen ist / wie Christus sagt / Math. 7 An welchem Gesetz die Heiden auch nicht mehr denn das eusserliche werck thun / wie die Jüden an Moses Gesetz. Vnd das verklagen vnd entschüldigen ist / das eine sünde grösser ist / denn die andere / wider das Gesetz. thun des Gesetzes werck / dieselbigen / dieweil sie das Gesetze nicht haben / sind sie jnen selbs ein Gesetz / amit / das sie beweisen / des Gesetzes werck sey beschrieben in jrem hertzen / Sintemal jr Gewissen sie bezeuget / da zu auch die gedancken / die sich vnternander verklagen oder entschüldigen.“ 323 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 112ff.; Gideon Stiening: ‚Deus vult aliquas esse certas noticias‘. Philipp Melanchthon, Rudolf Goclenius und das Konzept der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Ausstellungskatalog. Hg. von Barbara Bauer. Bd. 2. Marburg 1999 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 89), S. 757–787; Merio Scattola: ‚Notitia naturalis de Deo et de morum gubernatione‘: Die Naturrechtslehre Philipp Melanchthons und ihre Wirkung im 16. Jahrhundert. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Ausstel-
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Geister gelegt hat. Daher ist dieser Gehalt universal. Neben der somit gültigen Wahrheit der Ideen ist durch ihr schon propositionales Vorhandensein im Menschen (ad 2) auch die Wahrheit ihres Erkennens plausibilisiert:324 Da Gott Autor der notitiae communes genau so ist wie das Subjekt der Innation, sind diese Kenntnisse dem korrumpierenden Vor- und Eingriff des Menschen in gleicher Weise entzogen, wie das bei der conscientia schon bei Luther und später bei Schönborner der Fall ist. Die von Gott selbst eingegebenen Kenntnisse sind deutlich klarer als die von der menschlichen mens selbst gebildeten.325 Die moralischen Prinzipien sind also nicht nur überall identisch, sondern sie werden auch von jedem Menschen adäquat gewusst. Durch die Göttlichkeit ihrer Erlassungsund Geltungsinstanz ist zudem (ad 3) der Normcharakter der moralischen Prinzipien schon unmittelbar gegeben. Dies gilt extern, insofern die moralischen Prinzipien durch einen strafend eingreifenden Gott zwangsbewehrt und vor allem von diesem gewollt sind.326 Dies gilt allerdings auch intern, insofern das systematisch erste Gebot dasjenige der Verehrung Gottes ist. Gegenüber diesem stehen alle übrigen principia practica nurmehr in einem reinen Ableitungsverhältnis. In seiner Lehre von den Graden der Sünde wider den Dekalog folgert Melanchthon somit jeden Verstoß letztlich auch als mittelbaren Verstoß gegen diese Pflicht der Gottesverehrung. Dies ist die die systematische Folge, die Melanchthon aus einer letztlich externen voluntaristischen Rechtsgründung zieht: Der letzten Bestimmung des ‚Naturrechts‘ aus dem göttlichen Willen – und allein aus diesem – korrespondiert die Liebe des Menschen zu Gott als Gebot. Nur in dieser Liebe wird der Mensch seiner Gottesebenbildlichkeit gerecht und ist mithin nur so wirklich Mensch.327 Für alle anderen leges divinae ist diese lex Dei Geltungsgrund und Praemissa Maxima zugleich.328
lungskatalog. Hg. von Barbara Bauer. Bd. 2. Marburg 1999 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 89), S. 865–882, S. 865–882. 324 Stiening: ‚Non est potestas nisi a Deo‘. Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 14. 325 CR XXI, Sp. 1084: „NOTITIAE sunt actiones mentis et cerebri, quibus formantur imagines, quae sunt lumen, quo res monstrantur, ut Iulius cogitans Pompeium absentem ea ipsa cogitatione format imaginem eius. […] Fiunt autem illustriores Notitiae, quando Deus ipse hoc lumen accendit.“ 326 Scattola: Die Naturrechtslehre Philipp Melanchthons, S. 869f. 327 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 109. 328 CR XXI, Sp. 1077: „LEX DEI, quae nominatur Lex moralis, est sapientia aeterna et immota in Deo, et norma iustitiae in voluntate Dei, discernens bona et mala, quae est patefacta rationali creaturae in creatione, et postea saepe repetita et sancita voce divina in Ecclesia, ostendens quod sit Deus, et qualis sit, et quod sit iudex, obligans omnes rationales creaturas, ut sint conformes illi normae Dei, et damnans omnes ac denuntians horribilem destructionem omnibus, qui non congruent ad illam normam Dei“. Vgl. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 38.
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Viertens jedoch erlaubt der Gedanke eines inhaltlich eingeborenen moralischen Wissens, das Vorhandensein einer zutreffenden Normenkenntnis als anthropologische Konstante zu denken, ohne dass hierfür ein aristotelischer Naturzustand angenommen werden müsste. Für Melanchthons Innatismus ist es entscheidend festzustellen, dass dieser im Unterschied zum cartesianischen dispositionalen Innatismus nicht nur propositional ist,329 sondern zudem eine doppelte Beweiswirkung besitzt: Melanchthons Absicht nach lassen sich nämlich mit den Gemeinbegriffen sowohl Moraltheologie und Ethik universal gültig nachweisen, insofern sie aus diesen eingeborenen Prinzipien deduziert sind; als auch geben die „‚natürlichen Kenntnisse‘ als Strahlen der göttlichen Weisheit im menschlichen Geist offenkundige Zeugnisse von Gott“330 selbst. Der Gedanke eines inhaltlich eingeborenen moralischen Wissens erlaubt also, das Vorhandensein einer zutreffenden Normenkenntnis als anthropologischer Konstante zu denken, ohne dass hierfür von einem aristotelischen Naturzustand ausgegangen werden müsste. Für den Innatisten ist die Frage, wie sich aus dem natürlichen Stande des Menschen Fundamentalnormen des Naturrechts erschließen lassen, unzulänglich, mehr noch sogar unzutreffend gestellt, denn schließlich ist das Wissen um Recht und Unrecht beim Menschen qua Geburt je schon vorhanden, unabhängig davon, in welchem äußeren Stand er sich befindet, – ob allein oder in (regel)loser Vergemeinschaftung im Naturzustand oder in einem guten oder schlechten Staat. Der Begriff Naturrecht trifft bei Melanchthon also nur bedingt, nämlich für lediglich einen bestimmten Geltungsbereich der moralischen notitiae communes zu, nämlich denjenigen außerhalb des Staates und seines gesatzten Rechts. Die notitiae entstammen diesem Bereich jedoch nicht. Dem Rechtsurheber nach handelt es sich in starkem Sinne immer um göttliches Recht, weil es seinen Weg in die Natur des Menschen ohne Umweg über die Natur findet. Der Erschließbarkeit seiner Subnormen per modum determinationis nach ist es Vernunftrecht, wie schon Clemens Bauer überzeugend festhält.331 Der Anthropozentrismus der natürlichen Gesetze gilt lediglich aspektuell, insofern die Geltung und Kenntnis des Naturrechts in der Gottesebenbildlichkeit jedes
329 Dieser dispositionale Innatismus entwickelt lediglich die allgemeine Befähigung zur Begriffsbildung unabhängig von sinnlichen Eindrücken, nicht jedoch schon diese Begriffe selbst: vgl. Stiening: Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 14. 330 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 109. 331 Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre, hier S. 87: „Von der Erkennbarkeit her ist das jus naturae Vernunftrecht, d.h. rational einsichtig. Die Lehrsätze des Naturrechts präsentieren sich dem erkennenden Verstand als ‚communes sententiae‘ im Sinne von Axiomen. Sie zu sichten und zu entfalten, ist Sache der Philosophie“.
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Menschen liegt:332 Bedingung der Geltung ist jedoch die vis obligativa Gottes, da allein Gott die Gesetze erlassen und in die menschliche mens hineingelegt hat.
4.2.2.2 Leistungen und Aporien des propositionalen Innatismus gegenüber der Herausforderung Die Beweiskraft fällt allerdings unterschiedlich aus. Die Deduktion des ‚Naturrechts‘ aus den eingeborenen moralischen Ideen erfolgt mit dezidiertem Gewissheitsanspruch.333 Schließlich eignen den ideae innatae sowohl Allgemeinheit als auch Unveränderbarkeit. Daher kann kein gültiger Rechtssatz gedacht werden, der zugleich zutreffend und nicht aus diesen Ideen abgeleitet oder nur zeitlich eingeschränkt zutreffend wäre. Der Gewissheitsanspruch dieser eingeborenen Ideen gründet aber gerade auf ihrer Stiftung durch Gott als einer aus schon dogmatischen Gründen unbezweifelbaren Instanz. Wissenschaftstheoretisch gesprochen, werden die eingeborenen Ideen ebenso wie ihre Gültigkeit schlicht gesetzt. Damit ist der Gewissheitsanspruch wider eine Nachweisforderung der letzten Gründe selbst nur um den Preis zu haben, dass er eine Gewissheitsbehauptung bleibt.334 Dabei unternimmt Melanchthon durchaus einen theologischen Begründungsversuch der Gewissheit der angeborenen Ideen. Dessen offensichtlicher Anspruch bleibt allerdings, nicht in gotteslästerlicher Weise einen weiteren Regress in die dem Menschen notwendig unzugängliche Sphäre des göttlichen Willens zu unternehmen. Dies leitet über zur zweiten Beweiswirkung der ideae innatae: Die angeborenen Ideen bilden selbst ein Gottesindiz – noch nicht den Gottesbeweis. Dies hat ein schon ideeninhaltliches und aber besonders ein empirisches Moment. Im Kapitel „Von Gott“335 der Heubtartikel geht es weniger um die angeborenen Ideen als solche, sondern zunächst steht Gott selbst im Zentrum der Fragestellung. Gerade hier aber weist Melanchthon hinsichtlich des Inhalts der eingeborenen Ideen zuerst darauf hin, dass Gott die „erkentnis der Tugenden in die menschen eben darumb gepflantzet, das wir jn dabey erkennen und mercken“.336 Der Verweischarakter dieser eingeborenen Ideen ist also ein mittelbarer, insofern
332 Strohm: Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon. 333 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 125. 334 Insofern ist Gideon Stiening streng wissenschaftstheoretisch zuzustimmen: Die letzthinnige Gesetztheit der notitiae naturales ist nicht zu bestreiten: Stiening: Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 15; ders.: ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria, S. 143. 335 CR XXII, Sp. 64–72. 336 CR XXII, Sp. 67.
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sie selbst zunächst nur die Unterscheidung von Gut und Böse, von Recht und Unrecht erlauben. Sie lassen auf einen diese Unterscheidungen stiftenden Gott nur schließen, da sie einer Instanz bedürfen, die zum Einen nur aus einer ihr wesentlichen Absolutheit heraus diese fundamentalen Distinktionen vollziehen kann. Diese Instanz kann daher zum Anderen wegen dieser ihrer Absolutheit nur durch eigenen Willensentschluss zur Leistung dieser Distinktionen bewegt werden. Eine Subordination unter schon präexistente Vernunftregeln schließt sie gerade aus. Melanchthon stellt zudem an gleicher Stelle fest: „[I]st doch menschlicher vernunfft erkendnis von Gott eingebildet, wie erkendnis der zal, Alle menschen wissen von natur, das ein ewig, allmechtig Wesen ist“.337 Damit sind eingeborene Ideen von unmittelbarem Verweischarakter angesprochen: In ihnen gibt Gott, ohne den Umweg über einen seiner Schöpfungsgegenstände zu nehmen, ersten Aufschluss über sich selbst. Diese Ideen von Gott sind vom Menschen nicht regredierbar. Dieses umweglose Kundtun Gottes zumindest davon, dass er ist, ist dergestalt nur noch unter der Voraussetzung denkbar, dass Gott diese Selbstauskunft will. Damit sind wieder die Absolutheit wie auch die Allmacht Gottes angesprochen. Sie machen gleichermaßen die göttliche Gewolltheit der Gotteserkenntnis selbst und diejenige der moralischen Prinzipien notwendig. In beiden Fällen schlägt sich eine von Luther überkommene streng voluntaristische Geltungstheorie der principia practica nieder, unabhängig von der streng rationalistischen Intelligibilität der aus ihnen deduzierten Subnormen. Mehr noch: Diese rationalistische Einsehbarkeit der verabfolgten Subnormen ist für Melanchthon eben nur um den voluntaristischen Preis zu haben, dass die prämittierten praktischen Prinzipien nur durch göttlichen Willen hinreichende Gewissheit gewinnen, um wiederum gewisse Konklusionen rational ableiten zu können. Das angesprochene empirische Moment des Gottesindiz’ ist im schon angeführten Zitat enthalten: „Alle menschen wissen von natur, das ein ewig, allmechtig Wesen ist“.338 Hier möchte Melanchthon eine bestimmte Indizkraft verstärken, indem er die empirische Tatsache vom ubiquitären Wissen um Gott als Argument für die Wahrheit dieses Wissen als auch für die Existenz Gottes benutzt. Dieses Argument ist – so hält schon Clemens Bauer fest – entscheidend, wenn es Melanchthon um eine eben universale, ubiquitäre, aber systematische Geltung des ‚Naturrechts‘ zu tun ist. Es ist auch bei jenen Menschen bekannt und in Kraft, die nicht das Offenbarungswissen besitzen.339 Nimmt man nämlich an, dass alle
337 CR XXII, Sp. 66. 338 CR XXII, Sp. 66 [Hervorhebung O.B.]. 339 Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre, hier S. 65f.
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Menschen dieses Wissen besitzen, ohne dass sie sich über dieses Wissen intersubjektiv ausgetauscht haben können, so kann dieses Wissen nur von dritter Seite eingegeben worden sein, nämlich von Gott. Damit versucht Melanchthon, die unterschiedlich relationierbaren Wissens- und Wahrheitsbegriffe im ens perfectissimum zusammenzuführen: Nur Gott kann diese bemerkenswerte intersubjektive Übereinstimmung der ideae innatae in den Menschen gewährleisten. Als Verfasser und Eingießer dieser Ideen garantiert er sowohl ihre objektive als auch ihre subjektive Geltung. Nichtsdestoweniger wird das Vorhandensein des Wissens um Gott und die ersten moralischen Prinzipien in allen Menschen von Melanchthon letztlich nur empirisch behauptet, nicht empiristisch nachgewiesen. Die Zustimmung des zeitgenössischen Lesers zur unbestreitbaren Evidenz der empirischen Tatsache setzt Melanchthon schlicht voraus. Melanchthon bleibt sich innerhalb seiner eigenen Argumentation darüber bewusst, dass der Indiziencharakter der ideae innatae gerade noch nicht die umfassende Auskunft über Gott gibt, um die es ihm zu tun ist: Manifest sind Existenz, Absolutheit und Allmacht Gottes sowie eine gewisse Güte insofern, als er die Kenntnis von Recht und Unrecht gespendet hat. Über weitere entscheidende Dogmen, etwa der Trinität, die hier nicht diskutiert werden kann und soll, besonders aber hinsichtlich des hier interessierenden göttlichen Eingreifens geben diese Indizien noch keine differente Auskunft: Sie können etwa für einen Theismus wie Deismus gleichermaßen gelten. Schließlich ist mit der Feststellung von Gottes Existenz, Omnipotenz und Schöpfung von Recht sowie Rechtskenntnis nichts darüber ausgesagt, ob Gott die concordia iuris nur jenseitig oder auch diesseitig stabilisiert. Nicht umsonst fragt Melanchthon schon in den Heubtartikeln unverzüglich: „Ist dieser verstand von Gott nicht gnug? Antwort. Dieser Gesetz verstand von Gott ist nicht gnugsam“.340 Offensichtlich geben die eingeborenen Begriffe von Recht und Unrecht selbst keinen exakten Aufschluss über die Bestrafung derjenigen Untaten, über die ein irdischer Gesetzgeber und Richter nicht richten kann. Gemeint sind Untaten, die sich gerade auf der Ebene des irdischen Souveräns selbst abspielen: Weiter bleiben auch die selbigen Weisen nicht bey dem natürlichen verstand, fallen in zweiffel, die weil sie diese vngleicheit sehen, Das öffentliche Gottes verechter vnd Tyrannen, die vielen menschen vnrecht thuen, reichthumb vnd ein frölich Leben haben, Dagegen aber tugentliche Leute in elend vnd kumer leben, werden vnschüldiglich von den Tyrannen getödtet.341
340 CR XXII, Sp. 67. 341 CR XXII, Sp. 67.
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Gott gibt in den eingeborenen Ideen von Recht und Unrecht noch keine Auskunft über sein irdisch politisches Eingreifen. Hinsichtlich der Existenz von Tyrannei und ihrer zumindest nicht sofortigen Bestrafung ziehen daher viele ‚Weise‘ in Melanchthons Augen einen ethischen Fehlschluss: Die fundamentalen natürlichen Gesetze besäßen keine Geltung, insofern die Geltendmachung dieser Gesetze nicht evident ist. Daher leugnen sie die eingeborenen Ideen oder, schlimmer noch, sie leugnen Gott oder seine Allmacht: Darumb sprachen Cato vnd Pompeius, sie wusten nicht, ob Gott regire oder nicht, dieweil sie in einer guten Sache (wie sie meineten) vnfall hetten, also wird das natürliche liecht in den selbigen weisen Leuten gantz verblendet, vnd meinen Gott sey kein Richter vnd kein Helffer, suchen darnach andere fantaseyen, werden Epicurei, oder Stoici, Epicurei sageten, Gott sey nichts, Stoici liessen Gott etwas sein, aber sie bunden jm hende vnd füsse, sageten, alles wie es geschehe, gutes vnd böses, müste also geschehen aus natürlicher vnwandelbarer ordnung.342
Dies berührt freilich die Frage der Theodizee, interessiert an dieser Stelle jedoch allgemeiner hinsichtlich der Geltung von Gottes Geboten. Ohne Polemik gegen Epikureer und Stoiker, aber systematisch pointierter formuliert Melanchthon den referierten Zweifel schließlich in der tertia aetas aus – mithin ein Zeichen, dass er diesen Zweifel ernst nimmt und nicht schon als Frage dogmatisch abtut: „Quia enim poenae differuntur, et bonis male est, et malis bene, ambigit ratio de providentia, hoc est, de ipsa prima Lege, An Deus benefaciat bonis et puniat malos“.343 Es dies eine Frage, die wie gesehen auch Justus Lipsius beschäftigen wird (4.1.2.1), und dies schon in einem eigenen Kapitel seiner De Constantia libri duo (1584). Dort wird sie allerdings mit der Gleichsetzung der Erstursächlichkeit und Güte des göttlichen Willens zügig erledigt, womit Lipsius auf Maß und Mittel seiner Gerechtigkeit kein Eingehen nötig scheint: Cedò caussas, inquis, cur diuina vltio hos prætereat, illos tangat. Caussas? tutissimè dicam me nescire. Non enim cepit me vnquam cælestis illa curia, nec ego eius decreta. Hoc tantùm scio, caussam antè omnes caussas esse, voluntatem dei. A quâ qui quærit aliam, vim & potentiam ignorat naturæ diuinæ. Nam caussam omnem necessum est, genere quodam, priorem & maiorem esse suo effectu. at deo & eius voluntate nihil prius aut maius. non ergo vlla eius caussa. Deus præteriit, deus tetigit. quid vltrà hîc vis? Summa iustitia est, vt rectè & piè Saluianus ait, voluntas dei.344
342 CR XXII, Sp. 67f. 343 CR XXI, Sp. 713. 344 Lipsius: De Constantia libri duo, II, 12, S. 112f.
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Wie gesehen, wird Lipsius’ Haltung zur göttlichen Strafe über Tyrannen in der Politica noch zurückhaltender und ganz auf tormenta interna beschränkt. Philipp Melanchthon, wenngleich selbst auch theologischer Voluntarist, macht es sich mit der Beantwortung dieser Frage sichtlich nicht so einfach. Der offensichtlich unergründbare Weg der göttlichen Strafe verleitet viele zu der, wenn auch falschen, so doch reflektierten Annahme, dass die Begriffe von Recht und Unrecht entweder nicht existierten oder zumindest keinen Bestand hätten. Denn ihre Geltendmachung erfolgt nicht gleichermaßen reguliert und erwartbar wie bei einer weltlichen Jurisdiktion. Dies ist etwas entscheidend Anderes als die von Melanchthon ebenso besprochene Verdunkelung des menschlichen Geistes durch den Sündenfall: Dieser begegnet er dadurch, dass die ideae innatae im Zustand der Sünde als dennoch vorhanden behauptet werden.345 Der Unterschied zwischen diesen beiden Bedingungen von Zweifeln an den ideae innatae – hier die verdunkelte Erkenntnisfähigkeit im postlapsaren Zustand, dort der Widerspruchsvorwurf an göttliche Gesetze – besteht also im Kern darin, dass der Irrtum einmal einer unreflektierten, jedenfalls passiven Verwirrung entstammt, ein andermal aus reflektierter Betrachtung resultiert.
4.2.2.3 Die Notwendigkeit der nicht-innatistischen Lösung Es ist gerade der Widerspruchsvorwurf, den Melanchthon ernst nehmen muss, rührt er doch an die grundlegende Frage jeder Rechtsphilosophie: Warum nämlich soll Gesetz überhaupt gelten? Diese konnte vor Thomasius (4.3.5), besonders aber vor dem kategorischen Imperativ nur mit einer dem Gesetz stets äußerlichen Zwangsbewehrtheit und Strafandrohung beantwortet werden.346 Melanchthon ist sich der drohenden falsifikatorischen Wirkung des Widerspruchsvorwurfs vollkommen bewusst: Da die Strafen sich unterscheiden und nicht klar ersichtlich ist, dass Gott die Unrechten bestraft, ist die Vernunft unschlüssig hinsichtlich des ersten Gesetzes selbst („ambigit ratio […] de ipsa prima Lege“).347 Da dieses erste
345 CR XXII, Sp. 147.: „Aber da Adam vnd Eva in die sünde vnd Gottes zorn gefallen sind, vnd Gott von jnen gewichen ist, da sind auch die natürlichen kreffte seer schwach in jnen worden, Das liecht im verstand ist viel tunckeler worden, wiewol noch etwas bleibet, als zal, vnd vnterschied guter vnd böser werck, vnd gesetzlere, denn Gott will haben, das alle Menschen die sünde erkennen, vnd will vns mit vnserem eigenen Gewissen richten vnd straffen, will auch haben, das alle menschen eusserliche zucht halten, Darumb bleibet noch in dieser verderbten Natur, dennoch ein erkentnis, wiewol sie tunckel ist“. 346 Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau; Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit. 347 CR XXI, Sp. 713.
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Gesetz wie gesagt allen übrigen systematisch übergeordnet ist, droht mit seiner Widerlegung nichts weniger als der Zusammenbruch des gesamten ethisch-naturrechtlichen Theoriegebäudes. Dem Widerspruchsvorwurf kann Melanchthon mit dem Innatismus selbst nicht mehr begegnen. Denn dieser Vorwurf resultiert aus dem stringenten Gesetzesbegriff, den Melanchthon selbst vertritt, mehr noch: hinsichtlich seines obligationstheoretischen Voluntarismus’ vertreten muss. Tatsächlich erhält nämlich auch in Melanchthons Augen ein Gesetz erst dann seine normative Kraft, wenn es entsprechend zwangsbewehrt ist und das Rechtssubjekt zur Einhaltung angehalten bzw. im Verstoßfall bestraft wird: Gebot nennet man die von nötigem gehorsam reden, also, das alles so wider die gebot Gottes ist, ist sünde, vnd bringet ewige straffe […] Radt nennet man diese lere, die nicht Gebot ist, vnd macht das werck nicht nötig, aber sie lobet das werck, als vnstrefflich, vnd etwa zu nützlich.348
Diese normative Kraft können die Gesetze jedoch nicht in sich selbst haben – etwa im Sinne einer rechtslogischen Widerspruchsfreiheit mit entsprechenden normativen Folgen wie später bei Rousseau und Kant.349 Sie wird als dem Gesetz selbst notwendig äußerlich gedacht: Es bedarf einer Instanz, die das Gesetz selbst nicht ist. Diese Instanz muss entsprechend mächtig sein, um das Gesetz geltend zu machen und d.h. für den Verstoßfall eine Strafe zu vollstrecken. Für die Situation des Gesetzverstoßes innerhalb des Staats ist die Frage dieser Geltendmachung empirisch eindeutig gelöst: Es gibt Gerichte und Strafvollzug. Über die Geltendmachung der positiven Gesetze besteht also kein empirischer Zweifel, mithin kein rechtslogischer Zweifel über ihre Geltung und Existenz. Was aber gilt für die Gesetzesverstöße außerhalb des Staates, wenn ein weltlicher oberster Herrscher, Gesetzgeber und Richter derjenige ist, der entweder wider göttliches Recht verstößt oder qua Umsturz seiner Handlungsmacht
348 CR XXII, Sp. 284. Bemerkenswerter Weise erfolgt diese Unterscheidung in den späteren Loci tertiae aetatis nicht annähend so prägnant wie hier: CR XXI, Sp. 719f. 349 Das Rechtssubjekt kann – auch nicht willentlich demokratisch! – kein Gesetz erlassen, das ihm rechtslogisch letztlich diesen Status als Rechtssubjekt gerade abspricht, weder unmittelbar faktisch noch auch nur der Möglichkeit nach. Das Gesetz wäre inhaltlich und in seiner Konstitution gleichermaßen widersinnig und daher nichtig, da das notwendige Rechtssubjekt, das jedes Gesetz braucht, sich den Status des Rechtssubjekts abspricht, womit das Gesetz kein Rechtssubjekt besitzt und daher gegenstandslos ist. Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, hier S. 172–189. Eine solche normative Kraft des Logischen, wie sie Rousseau und vor allem Kant unstrittig bewiesen haben, kann ein Denken, das selbst den Satz vom Widerspruch nicht als absolut anerkennt wie der lutheranische Voluntarismus, nicht erkennen.
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beraubt ist? Damit ist der Bogen wieder zurückgeführt auf die Gryphius entscheidend interessierende Frage: Hinsichtlich der empirischen Tatsache von Tyrannei und Umsturz muss schon Philipp Melanchthon auf diese vordergründig politische Frage unter jenem außerordentlichen Druck eine Antwort finden, unter den er sich durch seinen eigenen Gesetzesbegriff, seine eigene voluntaristische Geltungstheorie und seinen eigenen weltlichen Souveränitätsbegriff selbst gesetzt hat. Tatsächlich ist die Frage des politischen Ausnahmezustands bei Melanchthon zunächst eine, die aus der rechtstheologischen Systematik des Reformators selbst resultiert. Durch die empirische Tatsache der Existenz von Tyrannei und Umsturz wird sie hingegen nur angestoßen, sie hat in dieser Tatsache jedoch nicht ihren systematischen Grund. Dabei wird deutlich, dass es eines der zentralen Irrtümer Carl Schmitts ist zu meinen, dass Probleme des Ausnahmezustands mit politischer Theologie nur gelöst werden, nie aber in dieser selbst gründen könnten.350
350 Schmitt hat in der Tat nicht verstanden, dass die von ihm durchaus richtig erkannte Tatsache, dass allgemeine Normen logisch unmöglich ihr eigenes Nichtwirken formulieren können, nicht notwendig auf eine politische Zwangsgewalt verweisen muss. Diese Tatsache ist nämlich nur bei jenen Normen fatal, bei denen es tatsächlich einen möglichen Bereich ihres Nichtwirkens gibt. Schmitt übersieht demgegenüber die entscheidende Erkenntnis Rousseaus wie Kants, dass es gerade die souveränitätsrechtlichen Normen sind, die selbst logisch fundiert sind und daher logisch unmöglich ihr eigenes Nichtwirken formulieren können, insofern sie logisch unmöglich ihre eigene Bejahung und Verneinung setzen können. Dies gilt für den allgemeinen Fall von Gesetzen, in denen Rechtssubjekte im Rahmen einer Selbstunterwerfung auf ihren Status als Rechtssubjekte verzichten. Vgl. nochmals Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 172–189. Es ist diese normative Kraft des Logischen, etwas zu gebieten, was unmöglich anders gedacht werden kann, die Schmitt verkennt und die ihn Lügen straft, wenn er behauptet, „[d]ie Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung“: Schmitt: Politische Theologie, S. 24. Es gibt keinen möglichen Bereich des Nichtwirkens vom Widerspruchsverbot und es ist dieses, das gleichermaßen Begründung ist und rechtliche Kraft hat. Wenn Schmitt daher beharrlich von denknotwendigen politischen Theologemen und ihren per analogiam halbgar vollzogenen Säkularisaten spricht, verkennt er entweder den Satz vom Widerspruch und dessen eigene rechtslogische Wirkung und Macht (Macht tatsächlich im eigentlichen Sinne) oder er betrachtet diesen nur gleichfalls als säkularisiertes Theologem (ebd., S. 37f.), mithin also als historisch variant. Die Konsequenzen sind dabei dieselben: Die autonome und invariante Geltung des Satzes vom Widerspruch ist, samt dessen durchaus komplexem Zusammenhang mit dem Identitätssatz und dem Satz vom Grund, grundlegend für jedwede wissenschaftliche Argumentation: vgl. Michael Wolff: Der Satz vom Grund, oder: Was ist philosophische Argumentation?. In: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 89–114. Es ist erst Schmitts Theologisierung des Widerspruchverbots, die es in Anschluss an Nietzsches Gott ist tot erlaubt, das Widerspruchsverbot als gleichermaßen tot zu erachten, und damit häufig fatale Konsequenzen in den Geisteswissenschaften zeitigt. Dass Schmitt demgegenüber eine politische Theologie – ob nun eine bekennende oder
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4.2.3 Theologischer Politologe: Gryphius’ Mentor Georg Schönborner Der aufgewiesene Mangel an Schönborner-Untersuchungen ist nicht als Mangel der politischen Philosophiegeschichte misszuverstehen: Denn tatsächlich gibt es im Rahmen dieses Fokus’ gute Gründe, sich nicht mit Georg Schönborner (1579– 1637) zu beschäftigen. Weder gewinnt Schönborner selbst einschneidende Neuerkenntnisse, noch vollzieht er auch nur besondere Volten in der Auslegung der politologischen Tradition. Auf wirkmächtige Denker der politischen Theorie hat Schönborner selbst kaum gewirkt. Gleichwohl ist seine Bedeutung im Rahmen einer ideengeschichtlichen Perspektive nicht zu unterschätzen: Seine Politicorum libri septem (1609) sind allein bis zum Tode des Andreas Gryphius elfmal aufgelegt worden, wobei sie nie inhaltlich überarbeitet wurden. Den Erschütterungen bestimmter Überzeugungen und Perspektivenwechseln zum Trotz, die der Dreißigjährige Krieg im politischen Denken der Zeitgenossen unbestreitbar evozierte, blieb Schönborners Lehrbuch Standard, ohne auf diese Erschütterungen und Wechsel selbst durch inhaltliche Nachsteuerung reagieren zu müssen. Zum Einen ist in Schönborner ein Phänomen politischen Denkens jenseits des theoriegebenden Höhenkamms zu erkennen, das im Rahmen ausschließlicher Theorielehre einen dauerhaften Erfolg zeitigt. Diese Lehre schien bestimmte Fragestellungen der Zeit nachhaltig zu befriedigen und daher durch die verschiedenen Auflagen hindurch als aktuell wahrgenommen worden zu sein. Zum Anderen kann hierin Grund und Anlage dessen vermutet werden, wie sich mit diesem Erfolg konservative Denktraditionen wie juridische Theologeme u.ä. im breiten politischen Denken des Gryphius’ und seiner Zeitgenossen perpetuieren konnten. Über die besondere Hervorhebung des Deus politicus hinaus (4.4.5) sind Schönborners Politicorum libri septem also nicht als Theoriegebung zu verstehen. Schon diesen konzipiert er nicht selbst, sondern übernimmt ihn aus der Theolo-
scheinsäkularisierte – als durchaus denknotwendig folgern möchte, im Vollzug also auf die Gültigkeit des Satzes vom Grund wie dessen vom Widerspruch gerade setzt, beweist nur die Unmöglichkeit des Vorhabens, widerspruchsvoll und schlüssig argumentieren zu wollen. Die sich nur absolut vollziehende Hingabe an die Beliebigkeit einer den Grundgesetzen der Logik angeblich entzogenen Instanz verkennt also volens nolens (!), dass diese Gesetze notwendig gelten und ihre Leugnung unmöglich plausibilisierbar ist. Vor ihnen können nur noch lustvoll die Augen verschlossen werden: Der Lust am Irrationalismus ist mit rationalen Argumenten nicht mehr beizukommen. Schmitts Leugnung der Geltung des Satzes vom Widerspruch korrespondiert daher nur die empirische Leugnung oder gar Selbstleugnung des Rechtssubjekts: Sie kann nicht widerspruchsfrei rechtskräftig sein, sondern nur noch aufgezwungen werden. Insofern Schmitts Begriff einer politischen Theologie nur so greift, sind nicht erst die empirischen Diktaturen, sondern Carl Schmitts Politische Theologie selbst notwendig faschistisch.
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gie des späten Melanchthon (4.4.4). Auch in der allgemeinen Strukturierung des Textes ist eine mehr didaktisch-einführende als wissenschaftlich-behandelnde Anlage nicht zu übersehen. Schönborner spricht alle für die prudentia civilis relevanten Lehren an, eine Besprechung erfolgt jedoch nur selten: weder im Sinne einer Reflexion auf die Begründungsbedingungen der in Rede stehenden Normen oder Handlungsanweisungen noch im Sinne einer Reflexion auf die möglicher Weise kollidierenden Folgerungen aus diesen Normen und Anweisungen. Häufig nennt Schönborner noch nicht einmal die juristische oder juridische Quelle der von ihm vertretenen Lehrsätze: Diese werden dann schlicht gesetzt oder als schon bekannt bzw. je schon zustimmungsfähig ‚präsentiert‘. Dementgegen problematisiert und diskutiert Andreas Gryphius gerade Begründungs- und Kollisionsfragen intensiv. Ein solches Denken hat er an Schönborners Politica jedenfalls nicht geschult.351 Des Weiteren wird eine grundlegende Legitimationstheorie von Schönborner weder geliefert noch referiert: Die legitimationstheoretischen Annahmen des Lipsiusschülers bleiben weitgehend stumm und sind im Folgenden überhaupt erst zu rekonstruieren. In den Kapiteln über die Herrscherpflichten spricht Schönborner ausschließlich von Tugendpflichten wie der magnanimitas, der clementia und der fortitudo.352 Gerade darum scheint es Gryphius jedoch auch oder sogar vordringlich zu gehen: Er problematisiert Herrscherpflichten stets als Rechtspflichten, wenn nicht vor dem Volk, so doch vor Gott.
4.2.3.1 Theonome Begründung von Staat, Recht und Machterwerb Schönborner führt seinen Traktat mit der Feststellung ein, dass die hervorragendste Tugendlehre die politische ist.353 Es wird schnell deutlich, dass dieses Urteil relativ auf das Telos der von ihm favorisierten prudentia eingeschränkt ist. Es wird durch die Gottesinstanz verbürgt, die im Folgenden vor allem nicht nur
351 Es können weitere allgemeine Aspekte angeführt werden, in denen Schönborner sich grundlegend vom Denken und Interesse seines Schülers Gryphius unterscheidet und die schon jetzt anzeigen, dass sich die Kontexteinbettung der Trauerspiele mit der Erörterung der schönbornerschen Politica nicht erschöpft haben wird. In der Auseinandersetzung mit dem Machiavellismus etwa zeigt sich Schönborner ganz defensiv und entzieht sich der unmittelbaren Reflexion über dessen Prudentismus’, indem er Machiavelli nur als historischen Quellengeber zitiert: Zwar werden historische Beispiele zur Veranschaulichung politischer Problemlagen angeführt, die Schönborner immerhin namentlich dem Principe entnimmt, jedoch schließt er sich weder dem eigentlich von Machiavelli entwickelten Lehrsatz an noch diskutiert er ihn auch nur: Schönborner: Politicorum libri septem, S. 128f. 352 Ebd., S. 139–160. 353 Ebd., S. 1
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als Ursache der Schöpfung, sondern auch mit Blick auf ihre vis obligativa thematisiert wird. Vor dem Hintergrund einer unvermittelten Theologisierung der aristotelischen politischen Anthropologie, ist für Schönborner Gottes Schöpfungsakt gleichermaßen Schöpfung und Verpflichtung des Menschen: „Deus enim est, qui hominum animis inclinationem ad civilis vitæ societatem insevit, unde illud Philosophi ἄνθρωπον τῇ φύση ζῶον πολίτικὸν ἔισιν. Aristot. I. Polit. 2“.354 Die Neigung des Menschen zur Vergemeinschaftung ist eine anthropologische Konstante. Die von Aristoteles eingeführte Natur wird von Schönborner unvermittelt, aber in der üblichen Weise als Gottes Schöpfung gelesen. Die inclinatio zur bürgerlichen Gemeinschaft wird somit als von Gott in den Menschen hineingelegt gedacht. Schönborner lässt hier weder systematisch noch rhetorisch irgendeinen Zweifel darüber aufkommen, dass seinem politischem Denken über die anthropologische Anlage hinaus eine unverbrüchliche Theonomie zugrundliegt. Hinsichtlich der Rechts- und Staatsbegründung sowie ihrer Erhaltung darf Gottes ordnender Eingriff nicht bloß deistisch gedacht werden: Deus enim est, qui hominum animis inclinationem ad civilis vitæ societatem insevit [...] Deus est, qui populi sui politiam fundavit legibus: Deus est, cujus lege immobilis rerum humanarum ordo seritur [...] qui transfert & stabilit regna.355
Der Parallelismus wie auch die Anapher verdeutlichen: Schönborner legt die Gottesinstanz nicht nur systematisch zugrunde, er pocht regelrecht auf diese Grundlage. Diesem Fundament stellt er zudem das glückliche Leben der Bürger als den Zweck der politischen Herrschaft zur Seite. Damit scheint schon hier ein willkürlicher Absolutismus verunmöglicht. Schließlich ist der Handlungsraum des Herrschenden derart zwischen Gottes Willen und dem je schon vorgegebenen Staatszweck eingeschränkt, dass Schönborner an dieser Stelle nicht von rex, imperator o.ä., sondern zurückhaltender vom bloßen moderator spricht.356 Doch Schönborners Einengung des herrschaftlichen Spielraums durch dem Staat präexistente und äußerliche Vorgaben reicht noch weiter: Zwischen Gott als Wirk ursache und der beata vita der Bürger als Zielursache von Staat und Recht steht auch ihre Materialursache schon vor und außerhalb der politischen Gestaltungs-
354 Ebd. Der tatsächliche Wortlaut lautet nach Bekker: „ἐκ τούτων οὖν φανερὸν ὅτι τῶν φύσει ἡ πόλις ἐστί, καὶ ὅτι ἄνθρωπος φύσει πολιτικὸν ζῷον“. (Aristoteles: Πολιτικων, 1253a1–3 [Hervorhebung O.B.]). 355 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 1 [Hervorhebungen O.B.]. 356 Ebd.: „Vt gubernatori cursus secundus, Medico salus, Imperatori victoria: sic moderatori Reipubl. beata civium vita proposita est.“
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kraft. Schönborner spricht von vorstaatlichen, für den Staat gleichermaßen konstitutiven Gesetzen: „Leges certas esse dico, quæ constituunt Remp. nam si hæ absint, mera ἀταξία & confusio est, qua deterius nullum est malum“.357 Entscheidend ist hier die diesen Gesetzen selbst zugrundegelegte Spannung, insofern sie zwar schon konstitutiv wirken, aber selbst noch nicht vollständig realisiert sind: Sie sind im Stand der Natur nur normativer Art, sichern aber selbst noch nicht das geschützte und zufriedene Leben in diesem Zustand. Im Naturzustand besteht vielmehr Chaos, das als größtes Übel angesehen wird. Schönborner sieht darin keinen Widerspruch gegenüber der mit Aristoteles nicht minder als natürlich konstatierten Gesellschaftlichkeit des Menschen. Die Natur ist gleichzeitig chaotisch und drängt doch schon selbst auf Ordnung. Dies hat seinen Grund in einer Naturteleogie. Durch dieses Spannungsverhältnis von Naturzustand und der Gefahr des Chaos’ scheint nämlich schon der Zweck der Staatsbildung und -erhaltung als das eigentlich Schöpfungsgemäße und Gottgewollte hindurch.358 Hier liegt nicht etwa eine säkulare Staatsentstehungstheorie vor, insofern der überlebensfeindliche Naturzustand zur Notwendigkeit der Staatsbildung bereits hinreichte. Schönborner führt Gott als letztlich einzige Ursache ein und konstatiert schon hier die ständige Teilhabe alles Seienden an Gott über seine Erschaffung hinaus: Quemadmodum vero omnia entia esse suum dependens & participatum habent à summo illo Ente: Ita & Imperia ab unico hoc fonte. [...] Deus varias Rerumpub. formas, vices, & mutationes ordinat, gaudetque distinctione Statuum, & ordinata hominum pro diversitate donorum in quemcunque eorum collatorum dispositione.359
Sich der Nähe seiner bisherigen Ausführungen zu Entwürfen einer pessimistischen Anthropologie offenbar bewusst, grenzt sich Schönborner von solchen Ansichten unmissverständlich ab: „Neque enim Epicuri probanda est opinio, qui homines temere & fortuito casu coaluisse somniat. Cic. I. & 2. de Nat. Deor. nec eorum qui dicunt, homines initio instar pecudum in campis esse obvagatos [...]“.360 In seinem Begriff von der Partizipation des Menschen wie alles Seienden an einem höchsten Seienden („participatum habent à summo illo Ente“) schließt sich Schönborner stillschweigend, aber unverkennbar der thomistischen Tradition an: Während für Hobbes der Urtrieb des Menschen in dessen conatus der
357 Ebd., S. 5. 358 Ebd., S. 5: „Bonum publicum addidi: nam moderatori Republ. beata civium vita proposita est , Cic. 5. de Republ.“ 359 Ebd., S. 5. 360 Ebd., S. 6.
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Selbsterhaltung liegen wird,361 sieht der Thomismus den Kern dieses Strebens eben in der Partizipation der endlichen Dinge am höchsten, d.h. dem absoluten Sein.362 Entsprechend lehnt Schönborner auch die auf der Nimrod-Gestalt Bezug nehmende These Jean Bodins ab, initialer Ursprung der Staatsbildung sei Gewalt.363 Entscheidend und allein hinreichend konstitutiv ist trotz aller Gewalt, die der Obrigkeit im Ergebnis zugesprochen wird, die freie Willensentscheidung zur Übereinkunft über gegenseitige Rechte und Pflichten: „Sane non videtur hoc: Voluntarium enim est non violentum, quod homines inter se mutuorum officiorum causa conveniunt“.364 Aufgrund dieser wesentlichen Freiwilligkeit der konstitutiven Konvention droht die Staatsbildung kontingent zu sein. Dieses zweite Problemmoment seiner kurzen Staatsentstehungstheorie fängt Schönborner abermals theologisch ab: Denn was kann es vor dem Hintergrund dieses Paradoxons noch sein, was den interhuman freien Willen notwendig auf die Staatsbildung hindrängt, außer die den menschlichen Willen lenkende Gottesinstanz?: „Quid ergo est, quod causam huic rei dederit? Naturalis hominum inclinatio est divino afflatu incitata“.365 Diese letztendlich transhumane Unfreiheit des Willens erlaubt es Schönborner einerseits, Bodins These von der Herrschaft als je schon wesentlicher Zwangsgewalt abzulehnen. Andererseits löst er damit die Problematik eines liberum arbitrium willenstheologisch im üblichen lutheranischen Denken vom servum arbitrium auf. Zwei entscheidende Bedingungen für Schönborners Staatsentstehungstheorie sind daher Panrationalismus und eben die Naturteleologie. Ersterer verbürgt die Naturgesetzlichkeit, mithin die Gesolltheit aller Ordnung überhaupt.366 Damit versucht Schönborner abermals die These vom chaotischen Naturzustand abzulehnen und gleichzeitig den menschlichen Gemeinschaften eine Ordnung naturrechtlich zuzuschreiben. Hier tut sich ein nicht unerhebliches Problem auf, wie es schon vor dem Hintergrund der anarchistischen
361 Vgl. Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie. 362 Hieronymus Friedrich: Begehren, appetitus naturalis. In: HWPh 1, S. 776–777, hier S. 776. 363 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 6: „Quid vero Bodini tribuendum assertion. 1. De Repub. Cap. 6. & 4. cap. 1. qui imperia omnia, vi primum cœpisse colligit, quandoquidem primus Nimrod in fundatione Imperii Assyriaci visus fuerit homines à domestico partioque communionis jure ad publicam eamque severam redegisse consociationem?“ 364 Ebd. 365 Ebd. 366 Ebd., S. 6f.: „Et nihil in toto hoc universo constitit absque ordine, qui est proprium naturæ effectum. Denique imperare & parere, non solum necessariorum sunt, verum etiam utilium.“
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Utopien367 und der Arkadienliteratur hervortritt: Weshalb nämlich verbleibt der Mensch denn nicht im Naturzustand, wenn dieser doch ebenso vom ordo durchdrungen ist? Dem hilft Schönborner unverzüglich mit der Naturteleologie ab: Quod vero melius semper intendit natura: atque etiam ideo homini articulatus sermo datus, qui quasi quidam portitor animi nostri est, cujus communicatione civiles conventus indicuntur, artes coluntur, sapientiæ necessitudines homini cum hominibus intercedunt. Scal. I. Poet. I. pr.368
Die außer- bzw. vorstaatliche Natur drängt selbst zur Staatengründung und damit zum Austritt des Menschen aus ihr selbst. Sie hat dem Menschen schließlich die Sprache als „Fährmann seiner Seele“ gegeben, womit dieser sich austauschen und in bürgerlicher Vergemeinschaftung zusammenkommen konnte und musste. Dem liegt keine auf eine Staatengründung hinführende Dialektik von Natur und Unnatur zugrunde, sondern vielmehr die Annahme einer ‚eigentlichen Natur‘. Die genannte vor- und außerstaatliche Natur ist nur ein Teil dieser eigentlichen Natur und würde mit dieser nur unzutreffend identifiziert. Aus dieser Natur ist der Staatszustand schließlich genauso zu deduzieren wie die vor- und außerstaatliche Natur. Der status civilis ist nur genauso von Natur. In Schönborners Theorie ist eigentlich zu unterscheiden zwischen vor- bzw. außerstaatlicher Natur einerseits und natürlichem Staat andererseits.
367 Vgl. Richard Saage: Die moderne Utopie und ihr Verhältnis zur Antike. Leipzig 2000 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig; Philologisch-Historische Klasse 137,2); ders.: Die ‚anthropologische Wende‘ im utopischen Diskurs der Aufklärung. In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. von Jörn Garber, Heinz Thoma. Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 24), S. 307–321. Die Begründungsverhältnisse von Natur und Staat bzw. nichtstaatlicher Vergemeinschaftung liegen im Vergleich gesehen über Kreuz: Die archistische Utopie hat einen anarchistischen Naturzustand zur Prämisse, welche die Gründung eines die politische Ordnung überhaupt erst einführenden Staates notwendig macht; die anarchistische Utopie setzt eine selbst schon archistische Natur voraus, in der sich je schon politisch geordnet leben lässt. Allerdings differenziert diese ursprünglich von Voigt herkommende Unterscheidung nicht ausreichend hinsichtlich der Frage, ob die archistische Natur selbst die Gesetze und Regeln der staatsfreien Vergemeinschaftung nur formuliert oder auch selbst schon immer realisiert: Während im ersten Falle immer noch eine gegenüber der Natur akzidentielle, also artifizielle Zwangsgewalt als Realisierungsbedingung der gesollten Ordnung hinzuzutreten hat – womit dies den meisten optimistischen Naturstandsutopien des siebzehnten Jahrhundert nahekommt –, ist im zweiten Falle alles bereits faktisch und nicht nur normativ besorgt, und auch theoretisch denkbare Konfliktfälle sind dadurch ausgeräumt, dass die Menschen in immer schon vorgängiger Harmonie gar nicht in dergestalte Interessenkonflikte geraten. 368 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 7.
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Damit wird der Staat bei Schönborner nicht zum Fluchtpunkt vor, sondern zur Erfüllungsinstanz der Natur. Das Streben der Natur zum Besseren („melius semper intendit natura“) ist keines aus sich heraus, kein letztlich selbstverleugnendes Streben der Natur. ‚Das Bessere‘, nämlich die staatliche Ordnung, ist im Arsenal der Natur selbst ebenso schon angelegt wie der vorstaatliche Naturzustand und die damit immanente Dynamik, die immer in der Natur von diesem vorstaatlichen Naturzustand hin zum natürlichen Staat treibt.369
4.2.3.2 fides in der ratio status? – status in der ratio fidei! Wie von einer Staats- und Regierungslehre zu erwarten, verwendet Schönborner einige Mühe auf Klugheitsregeln, welche die Erhaltung der Macht betreffen. Sie zu erlernen und sich anzueignen, ist für die Staatsführung wie den Machterhalt essenziel.370 Diese Klugheitsregeln sind bei Schönborner vor allem Verhaltensregeln, die ihre Quelle zwar vor allem im neostoizistischen Denken haben – hier darf vor allem Justus Lipsius’ Einfluss gesehen werden –, die von Schönborner allerdings besonders unter pragmatischen Gesichtspunkten erwogen werden. Solange Schönborner nicht zu den Fragen des Widerstandsrechts kommt, behält sein Traktat diese prudentistische Stoßrichtung bei. Geradezu unverblümt ist in dieser Hinsicht das bloß halbseitige Kapitel über die Gerechtigkeit. Hier geht es Schönborner nicht um wesentliche oder gar begründungslogische Fragen des Rechts- bzw. Gerechtigkeitsbegriffes, sondern um ihre sinnvolle, d.h. kluge Verwaltung: „De Iustitia Subditis æquabiliter administranda“.371 Dieses Kapitel wird ohne jede Umschweife mit einer Erwägung politischer Klugheit eingeführt und von dieser durchweg bestimmt: „IVstitia stabilitur principatus“.372 Unter den in 4.2.3.1 skizzierten theonomen Vorzeichen von Schönborners Denken darf jedoch nicht übersehen werden, dass dies eben nicht einen Prudentismus bedeutet. Wie z.B. bei Bornitz und Besold auch (4.1.2.3, 4.1.2.6) wird die Klugheit unter die Bedingung der Gerechtigkeit gestellt. Denn der principatus legt die Gerechtig-
369 Diese Sicht stützt Schönborner zuletzt mit einer historischen Deutung des aristotelischen Stufenmodells von Familie, Dorf, Stadt und Staat: „Dixi naturaliter homini esse inditum, ut simili cohabitet: Nunc videndum quomodo certis gradibus societas illa creverit. Primo omnium sola fuit maritalis conjunctio: deinde tota domestica societas coaluit: ex illa integræ familiæ gentilitæ, quibus extraneæ accesserunt, sic ut distinctis locis habitantes primo vicos, deinde pagos, post oppida & urbes, denique provincias & regna constituerent“. (Ebd., S. 7f.). 370 Lernfaulheit – die Schönborner u.a. dem historischen Michael Balbus vorwirft – bedeutet mithin den Verlust der herrscherlichen Macht von der Wurzel an: ebd., S. 164. 371 Ebd., S. 158 [Hervorhebung O.B.]. 372 Ebd.
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keit nicht nach eigenem Belieben fest, sondern verwaltet sie lediglich. Nicht nur in seiner schon erläuterten Staatsentstehungstheorie, sondern auch in seinen Kapiteln über die Gesetze und die Religion macht Schönborner daher eine unverbrüchliche Theonomie von Rechts- und Staatslehre deutlich. Dabei profiliert er seine politische Theologie im Sinne einer Zivilgesetzgebung als Amt. Die große politische Bedeutung der Gesetze und ihre Operationalisierung auf den Staatszweck hin – die gottgewollte irdische Glückseligkeit der Bürger – ist ebenso wenig autonom wie dieser Staatszweck selbst. Unter dem zugegeben theonomen Telos des Staates wäre eine selbstständige Wahl der Mittel zur Erreichung dieses Telos sogar noch denkbar: Das weltliche Regiment würde nach dem Erhalt seines Auftrags durch Gott gewisser Maßen in die ‚Weltlichkeit entlassen‘.373 Dennoch ist auch diese Wahl der Mittel eingeschränkt durch eine den Gesetzen selbst vorgängigen und theologisch fundierten Gerechtigkeit: Denn Schönborners Rede davon, dass die Gesetze mit Beginn des Staates selbst geschrieben werden,374 meint ausdrücklich nur das positive Recht. Diese Setzung soll jedoch nicht willkürlich erfolgen, sondern ist selbst wiederum reguliert, nämlich zunächst von der Vernunft: „Lex enim ex ratione semper æstimanda est, ut ubi ratio non est, ibi nec lex sit“. 375 Gegenüber dem natürlichen und göttlichen Recht buchstabiert der oberste positive Gesetzgeber rechtslogisch nur aus und aktualisiert sozusagen nur, was in diesen transhumanen Rechten als normatives Potential je schon enthalten ist. Diese Bindung und Unfreiheit des weltlichen Herrschers hält Schönborner gerade dort fest, wo es ihm mit Ulpian376 um die Freiheit des Souverän vom positiven Recht geht: „A superiori regula excipitur princeps, qui cum ferendi & abrogandi leges potestatem habeat, legibus est solutus. l. 13. ff. de legib. nempe supra leges civiles est, non enim supra eas, quæ sunt juris naturæ aut gentium“.377 Was die dem Gesetz wesentliche ratio gewährleistet und worin sie gründet, ist gleich ausführlicher zu erörtern. Jedoch gilt bereits hier: Sobald die Vernünftigkeit der Gesetze zur Bedingung der Gesetzgebung, ja sogar des Gesetzesbegriffes gemacht wird, ist der Souverän schon an eine ihm vorgängige und übergeordnete Instanz gebunden. Dass diese Vernünftigkeit nicht nur mit einer formellen
373 So eine Formulierung Böckenfördes bezüglich Martin Luthers Begriff vom weltlichen Regiment: Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 411: „Die weltliche Herrschaft wird – theologisch begründet und orientiert – in die Weltlichkeit entlassen“. 374 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 179: „LEx anima & spiritus est Civitatis: & una cum ipsius Civitatis primordiis scribe coepit.“ 375 Ebd., S. 182. 376 Dig. 1. 3. 31 (CIC 1, S. 34b): „Princeps legibus solutus est“. 377 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 184.
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Schlüssigkeit des positiven Gesetzeskorpus selbst abgegolten ist, sondern schon gehaltlich geprägt ist, wird durch Schönborners Hinweis auf eine leges-Hierarchie deutlich: Der Fürst steht nicht über dem Natur- und Völkerrecht. Festzuhalten ist entsprechend dieser juridischen Subordination des Herrschers, dass seine positive Gesetzgebung nur eine vernünftig schließende ist. Das menschliche Gesetz darf nichts gebieten, was das natürliche und das göttliche Recht verbieten; umgekehrt darf es nichts verbieten, was das natürliche oder göttliche Gesetz gebieten: Diese Haltung teilen so gut wie alle zeitgenössischen Naturrechtslehren (4.1.3.2). Ebenso hält Schönborner daher fest, dass „das Gesetz immer nach der Vernunft zu veranschlagen ist“.378 Die Vernunft des Legislators zieht ihre juridischen Schlüsse ausgehend von der transhuman geltenden Gerechtigkeit. Schönborner richtet sich nach der systematischen leges-Hierarchie des Thomismus und bringt sie in seiner Regierungslehre zur Anwendung. Respektive Luthers eigener expliziter Ablehnung des Thomismus wie der Scholastik überhaupt zeigt Schönborners Fall, wie doch gerade die thomasische Beschränkung weltlicher Gesetzgebungsbefugnis auf letztlich bloße Ausführung vereinbar war mit dem lutherischen Verständnis vom weltlichen Amt als einer gegenüber Gott ebenso nur ausführenden Instanz.379 Politisches Handeln meint bei Schönborner auch für die positive Gesetzgebung immer nur Amt im strengen Sinne: Es führt normativ nur aus, es ideiert nie. Schon damit ist eine politische Theologie im Sinne einer letztlich theonomen Begründung von weltlichem Recht und weltlicher Ordnung angezeigt. Im Kapitel „Über die Religion“380 macht Schönborner darüber hinaus deutlich, dass dieses weltliche Amt Gott nicht nur zum begründungslogischen Fundament hat. Nicht nur eine angemessene Gotteserkenntnis, sondern auch die Verehrung Gottes ist für das weltliche Regiment grundlegend: SVmmum illud & æternum Numen neque mutabile, neque interiturum, quod interest animis nostris, & cogitationibus mediis intervenit, ex quo omnia, per quod omnia, in quo omnia, recte agnoscere, & sincere colere, fundamentum est & columna totius Reipubl.381
378 Ebd., S. 182: „Lex enim ex ratione semper æstimanda est, ut ubi ratio non est, ibi nec lex sit“ [Hervorhebung O.B.]. 379 Vgl. Böckenförde: Rechts- und Staatsphilosophie, S. 402; im Einzelnen Denis R. Janz: Luther on Thomas Aquinas. The angelic doctor in the thought of the reformer. Stuttgart 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 140); gegenüber Luther selbst systematisch revidierend Lohse: Luthers Theologie, S. 49–52. 380 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 189–193. 381 Ebd., S. 189.
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Hiermit ist Luthers Lehre von den zwei Regimentern insofern zurückgenommen, als Schönborner dem weltlichen Regiment Kompetenzen in Fragen der Religionsausübung zuerkennt. Dass Schönborner damit jedoch weniger mit Luther bricht, als nur eine Problematik aufgreift, die der späte Luther selbst schon angestoßen hat, zeigt schon die Lutherforschung selbst: Das Gebot einer Nichtintervention der weltlichen Herrschaft in Glaubensfragen hört auch für den Wittemberger dort auf, wo diese ihrerseits den weltlichen Frieden der Politia bedrohen.382 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist Schönborners Formulierung, laut der die Verehrung Gottes dem Staat nicht nur irgendwie zur Pflicht gemacht, sondern als fundamental angesehen wird („SVmmum illud & aeternum Numen […] sincere colere, fundamentum est“). In jedem Falle konstatiert Schönborner eine politische Funktion von Glauben. Es stellt sich entsprechend die Frage, ob entweder diese Funktion einen je schon wesentlichen Effekt des Glaubens selbst darstellt, mithin vom politischen Akteur gar nicht zu vermeiden und notwendig zu berücksichtigen ist, oder diese Funktion in der religio selbst enthalten ist und vom politisch Klugen erst hergestellt wird: Im ersten Fall spräche man lediglich von einer Berücksichtigung der immer statthabenden politischen Funktion von Religion, im zweiten Fall erst von einer aktiven Funktionalisierung von Religion. Dass es Schönborner anders als Machiavelli um ersteres geht, verdeutlichen seine weiteren Ausführungen. Eine politisch erfolgreiche Funktion nämlich kann nicht jedweder, sondern ausschließlich der richtige Glaube übernehmen.383 Damit ist zunächst eine Instrumentalisierung des Glaubens zumindest darauf eingeschränkt, dass nicht jeder beliebige Glaube zum politischen Mittel gemacht werden darf. Auch könnte nicht jeder beliebige Glaube politisch erfolgreich sein. Für Machiavelli war in seinen Discorsi die Frage, um welche Religion es sich handelt, insoweit irrelevant, als der Herrschende schlicht den meist verbreiteten Glauben für seine politischen Zwecke benutzt. Dies bedeutet eine politisch geleitete Wahl des Glaubens und nicht umgekehrt eine theologisch geleitete Wahl der Politik.384 Bei Machiavelli liegt eine Instrumentalisierung eines Mittels vor, bei
382 Vgl. Böckenförde: Rechts- und Staatsphilosophie, S. 421. 383 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 189: „Vtrique autem tam qui imperant, quàm qui parent, arcta quadam catena inter se devincti, magnum Imperio robur & fulcrum addunt, si non ficte, non perfunctorie, non superstitionis animis Religionem tueantur & propagent: magnam è contra eidem ruinam & stragem accersunt, si susceptæ fuerint, contra quam fas est, impiæ religiones.“ 384 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, I,14, S. 81: Machiavelli behandelt unter dem Leitthema politischer Instrumentalisierung von Religion den antiken Vielgötterglauben genauso wie den jüdisch-christlichen Monotheismus, ohne dass ihr Unterschied hinsicht-
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dessen Wahl nichts anderes als sein Zweck zum Maßstab gemacht wird. Indem Schönborner demgegenüber die Rechtgläubigkeit zum Kriterium erhebt, liegt eine zusätzliche, nicht vom Zweck her bestimmbare Einschränkung in der Wahl der Mittel vor. Der rechte Glaube ist unstrittig, ja notwendig von politischem Nutzen. Er ist insofern auch bei Schönborner tatsächlich ein Mittel in der Hand von Obrigkeit und Untertanen. Sie können „dem Reich Stärke und Stütze hinzufügen, wenn sie […] den Glauben beschützen und verkünden“.385 Allerdings sind sie nur Subjekte der Nutzung, nicht der Wahl dieses Mittels: Diese bestimmt sich danach, dass es sich um den rechten Glauben handeln muss und falsche, unfromme Glauben abzulehnen sind. Wenn Schönborner fordert, dass der rechte Glaube zu schützen und zu verkünden sei, dann nicht aus einem politischen Kalkül. Dieses erlaubt schließlich, das Mittel nach seiner erfolgreichen Nutzung zu vernachlässigen oder neu gegebenen Umständen anzupassen. Die Forderung erfolgt aus einem Grund, der dem Glauben selbst innewohnt: Den rechten Glauben anzunehmen, zu wahren und zu verbreiten ist gegenüber der politischen Handlung ein Selbstzweck. Dessen Nichtverfolgung ist unmissverständlich unter Strafe gestellt, denn „sie ziehen große Zerstörung und Verwüstung auf sich, wenn sie einen unfrommen Glauben annehmen“.386 Das Ausbleiben dieser Strafe als Effekt der Rechtgläubigkeit kann also nur im Rahmen einer bloß scheinbar zweckrationalen Handlung des weltlichen Regiments ‚angezielt‘ werden: Tatsächlich aber ist der weltliche Entscheidungsträger nicht eigentlicher Herr über dieser Zwecksetzung, denn vor dem Hintergrund der ruinösen Strafe mangelt es ihm an sinnvollen Alternativen. So prudentistisch sich Schönborner hier abermals in so mancher Formulierung ausnehmen mag, so bleibt dennoch deutlich, dass die Religion bei ihm gerade keinem Prudentismus unterworfen ist: Der Nutzen, den der Staat aus der Pflege des rechten Glaubens zieht, ist Wirkung des Einhaltens eines göttlichen Gebots. Mit Blick auf den legitimationstheoretischen Aspekt dieser Erkenntnis ist hier eine unbestreitbar starke politische Theologie festzustellen. Schönborner vollzieht jedoch mit einem Zitat aus Senecas Tragödie Thyestes die neuerliche Volte in die politische Klugheit: „Canit […] Seneca. Vbi non est pudor, Nec cura
lich des in Aussicht gestellten politischen Erfolgs differenzbildend ist: „Né ad altro fine questo modo dello aruspicare, che di fare i soldati confidentemente ire alla zuffa, dalla quale confidenza quasi sempre nasce la vittoria.“ 385 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 189: „Vtrique autem tam qui imperant, quàm qui parent, […] magnum Imperio robur & fulcrum addunt, si […] Religionem tueantur & propagent“. 386 Ebd.: „magnam è contra eidem ruinam & stragem accersunt, si susceptæ fuerint, contra quam fas est, impiæ religiones“.
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juris, sanctitas, pietas, fides, Instabile regnum est“.387 Diese Volte ist nicht etwa ein wiederum prudentistisches Gegenstück zur doch gerade erst entwickelten legitimationstheoretischen Theonomie, sondern sie ist ihre pragmatische Folgerung: Die fatalen politischen Folgen des falschen Glaubens lassen dem Menschen zwar nur eine binäre Wahl. Dennoch sind sie genau so notwendiger Teil des menschlichen politischen Kalküls wie im Umkehrschluss der Nutzen der Rechtgläubigkeit. Wer wie Machiavelli die rechte Religion als für politische Fragen irrelevant erachtet, verkennt daher die Tatsache, dass der falsche wie der rechte Glaube nicht nur einer normativen oder gar nur jenseitigen Sphäre angehören. Sie zeitigen durch ihre diesseitigen Wirkungen gerade politische Effekte, die sie für das politische Kalkül des weltlichen Regiments relevant machen. Ein säkularer Prudentismus ist also gerade unkluger Prudentismus, insofern er eine Art politischer Ereignisse kategorisch außer Acht lässt, nämlich die irdischen Strafhandlungen Gottes. Damit erfährt schon die politische Theologie Schönborners durch das Zitat aus dem Thyestes eine Zuspitzung auf ihre pragmatische Konsequenz, eine theologische Politologie. Diese bildet bei Gryphius’ Mentor auch die Basis einer fatalen konfessionspolitischen Intoleranz, die ihm theologisch und politisch notwendig gleichermaßen ist. Denn der Glaube ist einmal der Lebensgeist des Staates. Ein andermal gilt dies nur für den einen wahren Glauben –, so Schönborners auch hier nachdrückliche Formulierung: Vnum Imperii corpus una religione regi necesse est: Istud est vinculum, per quod Resp. cohæret: ille spiritus vitalis, quem hæc tot millia trahunt: nihil ipsa per se future, nisi onus & præda, si mens illa Imperii subtrahatur. Quod si is, qui anathematis nomine invisus est, fugiendus, quid statuendum de eo, qui neglecta vera religione, alienam amplectitur? Consortium ejus evitandum: præcidendum putridum aliquod membrum, ne pars sincera trahatur.388
Durch den falschen Glauben schwächen einzelne Glieder die gesamte politische civitas: Um wieviel schwächer muss daher eine Kette sein, die ausschließlich aus schwachen Gliedern besteht! Für jemanden wie Schönborner lieferte der von Ernst-Wolfgang Böckenförde als Säkularisierungsmotor gewürdigte Augsburger Religionsfrieden389 daher nur die Realisierungsbedingungen, unter denen
387 Ebd., S. 190. 388 Ebd., S. 192 [Hervorhebung O.B.]. 389 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main 1976 (stw 163), S. 42–64, hier S. 50.
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Lutheraner im lutheranischen Regiment in Frieden leben konnten. Nichtlutheraner jedoch waren in notwendiger Ermangelung eines guten Staates notwendiger Weise dem Untergang geweiht.390 Die von Böckenförde angesprochene, durch Augsburg in ihren ersten Ansätzen gewonnene Freiheit kann im Lichte von Schönborners politischer Theologie nur die Freiheit bedeuten, falsch zu liegen. Von den harten Konsequenzen dessen ist der Nichtlutheraner allerdings nicht befreit. Der Status Schönborners als konfessionspolitischer Hardliner gegenüber der positiven realgeschichtlichen Wirkmacht des Religionsfriedens, die Böckenförde zutreffend beobachtet, überrascht nur vordergründig. Systematisch ist er in fataler Weise folgerichtig. Bleibt es nämlich bei der Annahme, dass es einen richtigen Glauben gibt, dem andere Glauben bloß als falsche Glauben gegenüberstehen können – und diese Behauptung und dieser Anspruch wurden mit dem Religionsfrieden weder von der katholischen noch der evangelischen Kirche unmittelbar aufgegeben391 –, so muss es entsprechend eine richtige Theologie geben, neben der andere nur falsche, jedenfalls unzutreffende Theologien sein können. In der weiteren Folge muss es eine richtige politische Theologie entgegen
390 Dieser Rigorismus des Lutheraners Schönborner gegenüber Andersgläubigen bildet eine markante historische Pointe in jenem Jahr 1609, in dem doch ausgerechnet die Lutheraner durch den schlesischen Majestätsbrief seitens der Habsburger „gantz und vollkhomblich in Fried vnnd ruehe gelassen“ zu werden erreicht hatten. Zit. n. Christian-Erdmann Schott: Der Augsburger Religionsfrieden und die Evangelischen in Schlesien. In: Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches. Hg. von Gerhard Graf, Günther Wartenberg, Christian Winter. Leipzig 2006 (Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 6), S. 93–106, hier S. 96. 391 Vgl. dazu bereits die deutlichen Worte des katholischen Kirchenhistoriker Nikolaus Paulus: Religionsfreiheit und Augsburger Religionsfriede. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 149 (1912), S. 356–367 und 401–416, hier S. 416: „Für den Gedanken der Religionsfreiheit in modernem Sinn hat man auf dem Augsburger Reichstag von 1555 weder auf katholischer noch auf protestantischer Seite ein Verständnis gehabt“.; vgl. weiter Martin Brecht: Der Westfälische Friede – ein Modell für den Religionsfrieden?. In: Religionsfriede als Voraussetzung für den Weltfrieden. Hg. von Detlef Kröger. Osnabrück 2000, S. 41–47, hier S. 42. Vgl. dazu auch im Rahmen einer immanenten juristischen Analyse des Vertragswerks Heiner Lück: Der Augsburger Religionsfrieden und das Reichsrecht. Rechtliche Rahmenbedingungen für ein epochales Verfassungsdokument. In: Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches. Hg. von Gerhard Graf, Günther Wartenberg, Christian Winter. Leipzig 2006 (Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 6), S. 9–23, hier S. 17–20. Lück spricht vom Religionsfrieden als einer „formal provisorischen und faktisch endgültigen (Nicht-)Lösung des Religionskonflikts“ (S. 17). Vgl. außerdem Jan-Dirk Müller: Andreas Gryphius et la théorie politique calviniste. In: Calvin et l’humanisme. Actes du symposium d’Amiens et Lille III (25–26 novembre 2009). Hg. von Bénédicte Boudou, Anne-Pascale Pouey-Monou. Genève 2012 (Cahiers d’Humanisme et Renaissance 99), S. 237–258, hier S. 238.
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anderen falschen, unzutreffenden politischen Theologien geben. Als Phänomen und Ergebnis dieser Folge präsentieren sich Schönborners Politicorum libri septem.
4.2.4 Der Straßburger Einfluss: Johann Heinrich Boeclers Geltungsvoluntarismus Als ein weiterer Ideengeber des Andreas Gryphius muss der Straßburger Staatshistoriker und -theoretiker Johann Heinreich Boecler gelten (1611–1672). Die Einflüsse im Rechtsdenken, die Gryphius außerhalb ‚seiner‘ Universität Leiden aufnehmen konnte, sollten nicht als marginal eingestuft werden. Denn Gryphius’ erster Biograph Stosch berichtet, dass Gryphius seine prudentia civilis besonders auf seiner am 4. Juni 1644392 begonnenen peregrinatio academica vertieft: „Vber dieses hat er das Glcke gehabt / seine Civilische prudentz hher zu bringen / durch die vorgestossene Gelegenheit / fernere Lande zu sehen“.393 Seine Reise führt Gryphius 1646 nach Straßburg, das er erst am 25. Mai 1647 wieder verlässt. Dort macht er die Bekanntschaft mit zahlreichen Gelehrten,394 als deren wichtigster Johann Heinrich Boecler gelten darf. Als Sohn Johann Boeclers und Enkel Simon Boeclers, der beiden letzten lutheranischen Pfarrer seiner Geburtsstadt Cronheim,395 erfährt Boecler früh interkonfessionelle Spannungen, deren Auflösung er, wie Wilhelm Kühlmann zurecht anmerkt, vermehrt im Naturrecht suchen wird.396 Bekannt ist er vor allem als philologischer wie politischer Kommentator des Tacitus,397 besonders aber als Kommentator von Hugo Grotius’ De Jure Belli ac Pacis. Boecler nimmt mit dieser Doppelkompetenz am Oberrhein, wo das tacitistische Schrifftum besonders blühte,398 eine Mittlerrolle ein. Vergangenheit sollte Teil „entscheidungsbezogener Konsultationsverfahren“ werden;399 gleichwohl ging es Boecler dabei sichtlich um ihren prudentiell bloß devianten Charakter: Handlungen durchschauen hilft die Geschichte – Handlungen zu leiten, erlaubt letztlich nur das Recht.
392 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 34. 393 Ebd., S. 33. 394 Ebd., S. 36. 395 Paul Wentzcke: [Art.] Boeckler (Boecler), Johann Heinrich. In: NDB 2, S. 372f. 396 Wilhelm Kühlmann: [Art.] Boeckler, Boeclerus, Johann Heinrich. In: Killy 2, S. 22f., hier S. 22. 397 Vgl. ebd.; Stolleis: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, S. 259–261. 398 Vgl. Kühlmann: Geschichte als Gegenwart, S. 45f. 399 Ebd., S. 48.
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Auf die In Hugonis Grotii Ius Belli Et Pacis, Ad Illustrißimum Baronem Boineburgium Commentatio kann hier nur eingeschränkt Bezug genommen werden, schließlich ist sie erst 1663/64 gedruckt worden und so dem 1664 verstorbenen Gryphius wohl nur bedingt bekannt geworden. Ideen, die sich in diesem Kommentar niederschlagen und sich auch bei Gryphius finden, sollten daher auch in früheren Schriften Boeclers gesucht werden, um eine Rezeption und nicht bloße Koinzidenz annehmen zu können.
4.2.4.1 Majestät: Denknotwendigkeit des Gottesgnadentums Als besonders hilfreich erweist sich eine vergleichsweise kurze und m.E. noch unbeachtete Schrift Christi Servatoris Fasciae, gedruckt 1643 in Straßburg. Sie verdient Aufmerksamkeit nicht nur auf Grund ihrer zeitlichen Nähe zu Gryphius’ Aufenthalt in Straßburg 1646,400 bei dem er mit Boecler eine offensichtlich gute Bekanntschaft machte und pflegte: Hiervon zeugt schließlich der einzig erhaltende Brief des Gryphius, den er im Juli 1647 aus Amsterdam an Boecler schreibt.401 Dieses Opusculum formuliert ein bestimmtes politisches Theologem, das für alle politischen Trauerspiele des Gryphius wegweisend sein wird. Besonders im Leo Armenius wird es seine ausführliche dramatische Verhandlung erfahren: Es handelt sich um das Theologem herrschaftlicher Majestät. Deren göttliche Abkünftigkeit ist natürlich keine neue, genuin boeclersche Erkenntnis. Der Diskurs um das Herrschaftsrecht erfährt in den Christi Servatoris Fasciae jedoch eine besondere Schärfung. Boecler zählt das ius dominationis und die Majestät unter die Arcana: „Nostris fasciis Arcana Majestatis inuoluuntur, quæ sunt vere arcana, quia profundissimæ meditationis sunt; & sola arcana, quia quidquid in ceteris boni est includunt; & suprema arcana, quia nihil majestate est superius“.402 Insofern es sich um die Arcana der Majestät selbst handelt, ist ihre Verborgenheit jedoch nicht menschengemacht. Dass Majestät darin bestehe, die Schärfe menschlichen Intellekts zu übersteigen, ist auch für Boecler nur unzureichende Deskription, denn sie lässt die Ursache unbeachtet:
400 Eberhard Mannack: Kommentar. In: Andreas Gryphius: Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt am Main 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 67), S. 851–1317, hier S. 882. 401 Andreas Gryphius: I. H. Boeclero (Brief, 1647). In: Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des siebzehnten Jahrhunderts. Nach Handschriften. Hg. von Alexander Reifferscheid. Bd. 1. Heilbronn 1889, S. 616f. 402 Johann Heinrich Boecler: Christi Servatoris Fasciae. Straßburg 1643, S. 14.
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Majestatis enim profundissima est notitia: vt solet in rebus, quae ipsa magnitudine sua & splendore humani intellectus aciem obtundunt. Multum dicunt, qui de summa potestate & summa dignitate hic pronuntiant: sed vtriusque fontem, ipsumque majestatis genium nondum assequitur, qui ista audiuit.403
Die Quelle der politischen Majestät kann nicht in ihren Phänomenen gefunden werden, denn diese sind unbegreiflich und übersteigen die menschliche Verstandeskraft. Diese Unfassbarkeit selbst ist nicht überwindbar: Eben darin liegt der arkane Charakter der Majestät begründet. Boecler hält es daher im Umkehrschluss für naheliegend, die notwendig unerkennbare Größe von Majestät dort zu suchen, wo sich diese Größe in besonderer Unbegreiflichkeit kundtut: Nos vt altius ascendamus, rursum descendemus in speluncam Betlehemiticam, ad eum, qui nostra caussa è cælo in tam angusta hospitia descendit, ibique denuo fascias admirandi Infantis tractabimus: quæ solæ continent, quod nulla capiunt Palatia, ingens decus majestatis. Illae fasciæ non regem modo vincunt, sed qui Rex ab æterno, ex regia stirpe rex in tempore natus est, vt regibus regna daret, & quæ ipsis regnis est augustior, regiam majestatem. Nemo meretur potestatem in alios: nemo dignitatem supra omnes. omnis à Deo potestas, omnis à Deo dignitas necesse est.404
Die größte, weil ‚unfassbarste‘ Majestät – nämlich die göttliche – muss auch Ursache und Grund der politischen Majestät sein. Der Zielpunkt von Boeclers Argumentation ist unübersehbar die nur leicht paraphrasierte Sentenz aus Röm 13: „Non est potestas nisi a Deo“.405 Der kaum zu bestreitende Voluntarismus von Boeclers Gedankengang gewährleistet dabei gleich zweierlei: Der göttliche Wille ist erstens der selbst nicht regredible Grund aller Majestät. Schon insofern ist der Majestät genauso wie dem göttlichen Willen nicht ohne Gotteslästerung zu widersprechen. Boecler hebt aber zweitens auch die epistemologische Konsequenz dessen hervor: Ebenso wenig wie die göttliche Majestät fassbar ist, kann die politische Majestät fassbar sein bzw., aus welchen Gründen sie bestimmten Trägern zukommt. Boecler folgert nicht nur rechtslogisch das Herrschaftsrecht aus Gott. Er folgert ebenso umgekehrt, dass das Herrschaftsrecht notwendig göttlich sein muss, weil es in einer Weise unbegreiflich ist, dass es nur göttlich sein kann. Die Zirkularität dieser Denkfigur ist hier nicht zu diskutieren: Transzendenz und Transrationaliät sind gerade dann denknotwendig, wenn die ermessende menschliche Vernunft an ihre Grenzen stößt. Die göttliche Konzession politischer Majestät ist grundsätzlich nicht zu verstehen. Da Majestät qualitativ (splendore)
403 Ebd. 404 Ebd., S. 14f. [Hervorhebung O.B.]. 405 Röm 13,1.
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wie quantitativ (magnitudine) unbegreifbar ist, fehlt auch ein Maß, dass es dem Menschen erlaubte, politische Majestät zu beurteilen, wichtiger aber: im Zweifelsfall zu verurteilen. In diesem Sinne kann Macht nicht verdient werden: „Nemo meretur potestatem in alios“. Dem Gedanken eines verdienstlogischen Herrschaftserwerbs, von Meritokratie, setzt Boecler denjenigen väterlicher Zueignung entgegen. Sie hat in nichts Sachlichem, sondern allein im väterlichen Willen ihr rechtsbegründendes Moment. Majestät ist zudem ebenso wenig vom Menschen zuteilbar: Octavian etwa irrte sich in der Meinung, seinen status augustus dem Senat und Volke Roms zu verdanken. Obwohl Augustus kein Christ war, verdankte er seine Macht allein dem ihm unbekannten göttlichen Willen: Gaudet nouo sanctoque nomine Augustus: eiusque gratiam SPQ Romano se debere credit. Erras Auguste. dixerunt te Romani, non fecerunt Augustum. neque te fecisti ipse talem, sed qui te Augustum voluit, iussit, nec agnoscitur in tua aula, nec colitur. & interim tamen (vide bonitatem ignorati tibi numinis!) quod orbis pleramque partem sub ditione tua contines [...].406
Die Pflicht guter politischer Berater ist es daher, alles zu vermeiden, was dem Ursprung und dem Wesen der Majestät widerstrebt. Dabei ist nicht zu übersehen, welche Künste Boecler mit dieser Anspielung im Auge hat: Præcipuum boni consultoris & administri opus est, majestatis decori & vsibus se in solidum dedicare, id est, quæ majestatis origini & naturae repugnant, sedulo semper euitare. Malarum artium breuis gratia, infelix præmium, æterna turpitudo est.407
Diese schlechten artes sind mit Blick auf die Politik natürlich diejenigen, die von Gottes sowohl schöpfungs- wie rechtstheologischem Primat absehen und weltliche Majestät nicht auf göttlich-rechtlicher Zuweisung fußen lassen wollen – etwa auf Verdienstethik, List oder physischer Gewalt. Boecler wendet sich gegen den Pragmatismus Machiavellis und verweist ihn, selbst unklug zu sein, verspielt er doch die Gnade, erwirbt unglücklichen Preis und ewige Schmach. Boecler ist damit ein Beispiel eines lutheranischen Rechtsdenkers, der in fundamentalen Angelegenheiten göttlichen Rechts – der Majestät – das Befolgen des Gesetzes auch als eminent heilsrelevant ansieht, ja wegen der Strafbewehrtheit von Gesetzen als heilsrelevant ansehen muss.
406 Boecler: Christi Servatoris Fasciae, S. 17. 407 Ebd., S. 18.
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4.2.4.2 Naturrecht als göttliches Recht: Boeclers Kritik an Hugo Grotius Der Stiftungs- und Bedingungscharakter der Gottesinstanz beschränkt sich bei Boecler jedoch nicht nur auf das Herrschaftsrecht und bleibt auch nicht Episode: Die Theonomie seiner Rechts- und Staatsauffassung ist ebenso systematisch umfassend wie werkgenetisch konstant. Dies wird besonders am prominenten Beispiel seines Grotius-Kommentars deutlich. Seine theonome Perspektive trifft einen wunden Punkt der grotianischen Prolegomena, der Gryphius im Carolus Stuardus intensiv beschäftigt (5.4.6). Dabei schätzt der Straßburger De Jure Belli ac Pacis durchaus und macht schon in der Leservorrede seine Bewunderung für Grotius’ Werk deutlich. Boecler verurteilt sogar das Verbot von De Jure Belli ac Pacis durch die katholische Kirche scharf: Er selbst habe kaum „zwei oder drei Dinge gefunden, die es verdienten, mit dem Schwamm weggewischt oder korrigiert zu werden“.408 Würde gegen alle Bücher so rigoros vorgegangen – so Boecler –, so würde der Index der verbotenen Bücher immens anwachsen.409 Dennoch kommt Boecler nicht umhin, seine schon in den Christi Servatoris Fasciae zur Denknotwendigkeit erhobene Theonomie zu verteidigen gegen Grotiusʼ berühmte These von der Profanibilität des Naturrechts. Grotius habe nicht „behutsam“ genug formuliert, als er bezüglich der Vernünftigkeit des ius naturae sagte, dass es auch dann statthätte, wenn es Gott entweder nicht gäbe bzw. er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht kümmere.410 Boecler begründet dies, indem er den Gesetzesbegriff mit einem theologischen Voluntarismus verbindet: Ceterum in ratione iuris naturalis assignanda per dictamen rectæ rationis, non satis caute locutus est Grotius, cum dicit, illa locum habitura, etiamsi daretur, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab illo negotia humana. Certum enim est iuris rationem non dari, nisi per imperium & obligationem: adeoq; iuris naturalis rationem, sine imperio & indicatione supremi Numinis, in dictamine rectæ rationis, & per illud, nullam esse. sicut grauiter & erudite ostendit Seldenus.411
408 Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio, Leservorrede, f. 1r: „Perlustraui librum: vix duo vel tria notaui, quæ spongiam aut correctionem merentur.“ 409 Ebd., f. 1v: „[S]i eodem rigore agendum esset cum plerisque libris aliis, in immensum augeretur index librorum prohibitorum.“ 410 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis libri tres. In quibus jus naturae & Gentium: item juris publici praecipua explicantur. Editio secunda emendatior, & multis locis auctior. Amsterdami 1631, Prolegomena f. 3: „Et hæc quidem quæ jam diximus, locum aliquem haberent etiamsi daremus […] non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana.“ 411 Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio, In Prolegomena, S. 7.
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Es gibt überhaupt keine Ursache und keinen Grund von Recht – ratio meint in dieser Hinsicht Ursache bzw. Grund – außer einem vorgängigen Befehl (imperium) und einer daraus folgenden und in das Gesetz hineingelegten Verpflichtungskraft (obligatio). Es ist vor allem auf den besonders voluntaristischen Gehalt des Wortes numen zu achten: Ohne den Befehl und die Anzeige des höchsten göttlichen Willens ist ein Grund des Naturrechts im Urteil der rechten Vernunft gar nicht vorhanden, sodass sie aus diesem irgendwelche Normen bzw. praktische Syllogismen ableiten könnte. Durch die rechte Vernunft selbst ist kein Grund des Naturrechts in ihr vorhanden. Solange eine der Vernunft externe Stiftungsinstanz des natürlichen Rechts angenommen wird – und dies tut Grotius –, darf von dieser nicht abstrahiert werden: Es würde erstens die Vernunft unter den unerfüllbaren Leistungsdruck gesetzt, eine ihr unmögliche Prinzipienbildung zu vollziehen. Es würden zweitens der Befehls- und Zwangscharakter des Gesetzes verloren gehen, die für Boecler nur als vernunftexterne Bestimmungen des Gesetzes denkbar sind. Die recta ratio kann sehr wohl die Prinzipien des Naturrechts erkennen, sie kann sie jedoch nicht selbst generieren. Die rechte Vernunft kann sehr wohl begrifflich bestimmen, was ein Gesetz ist,– nämlich ein mit Verpflichtungskraft ausgestatteter, weil zwangsbewehrter Befehl. Sie kann jedoch nicht selbst gewährleisten, dass es ein Gesetz ist, d.h. sie kann selbst nicht die Verpflichtungskraft ausüben, derer ein Gesetz bedarf. Es ist dieser Geltungsvoluntarismus, der Boecler auf John Selden verweisen lässt, der 1640 in seinen De Iure Naturali Et Gentium, Juxta Disciplinam Ebraeorum, Libri Septem, in Boeclers Wirkungsstätte Straßburg 1665 gedruckt, in derselben Weise feststellt, dass ein Naturrecht ohne die Verpflichtungskraft des Höchsten weder Konsistenz noch Verpfichtungskraft erhalte: „Ex Rationis solo & simpliciter sumto usu, tum quia adeo incertus est & sibi inconstans, tum quia sine Superiori, cui subsit, imperio obligationem non inducit, non rite satis edifici Jura Naturalia“.412 Augenscheinlich fällt es Boecler nicht schwer, Grotius hier nur eine unvorsichtige Formulierung, aber keinen systematischen obligationstheoretischen Intellektualismus zu unterstellen. Nicht zufällig – und durchaus nicht unberechtigt – zitiert Boecler auch Grotius’ Parenthese, dass die hypothetische Abstraktion von der Gottesinstanz nicht ohne größtes Verbrechen geschehen könnte („quod sine summo scelere dari nequit“): Grotius benennt letztlich den Rechtscharakter, den die Anerkennung der Stiftungsinstanz selbst besitzt. Diese lex Dei ist für Boecler ganz im Sinne Melanchthons das Fundament des Naturrechts (4.2.2.1), seiner Formulierung nach sogar mit diesem identisch: „[C]ivita-
412 John Selden: De Iure Naturali Et Gentium, Juxta Disciplinam Ebraeorum, Libri Septem. Straßburg 1665, I,7, S. 85; vgl. Lutterbeck: Jurisprudenz als ‚ausübende Rechtslehre‘?, S. 63.
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tem humani generis demonstrat, commendat, constituit, regitque lex naturæ, quæ est lex Dei“.413 Aus eben demselben Grund lehnt Boecler auch den Naturzustand des Thomas Hobbes ab: „Male ergo Hobbesius statum mere naturalem nominat, & fingit: […] ut omnibus omnia liceat agere, appetere, possidere, nulla est ratio, nulla natura recte atque integre judicans, quæ dictet“.414 Boeclers Anschlussnahme an Philipp Melanchthons lex Dei reicht noch weiter: Besonders der Dekalog bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Achtung der Gottesinstanz selbst Norm ist und damit das Fundament bildet für die übrigen Prinzipien des Naturrechts. Damit ist der Dekalog für Boecler die vorzügliche Quelle des Naturrechts: Jus naturæ enim egregie est in Decalogo expressum: atque ita quidem accurate perfecteque, ut prorsus existimem, ethnicos hanc methodum unice amplexuros fuisse, si ab ipso DEO promulgatam tabulisque comprehensam Legem naturæ credidissent. Multum certe minueretur de labore requirendi & exprimendi capita juris naturalis, eademque à Jure gentium distinguendi, si præmonstratam ab ipso DEO disciplinam, citra ambages sequeremur, quod faciendum esse demonstravit instituta enumeratione Philippus Melanchthon in Philosophia morali.415
Die weitreichenden Folgen für den Innatismus Melanchthons stechen ins Auge: Das Naturrecht findet sich in den zehn Geboten Moses’ dergestalt luzide ausgedrückt, dass sie die Mühen es zu erkennen erheblich mindert. Umgekehrt ist dem Heiden die Erkenntnis des angeborenen Naturrechts zwar möglich, sie ist jedoch nur unter erheblich größerer Anstrengung zu haben. Dieser Herausforderung sind die ethnici offensichtlich nicht allseits gewachsen, denn sichtlich ist Boecler nicht der Auffassung, dass sie die Lehre des Naturrechts umfassend begriffen hätten. Wie gezeigt, ist diese Grenze des Innatismus auch bei Melanchthon selbst schon angelegt (4.2.2.3). Die negativen Folgen eines solchen christlichen Naturrechts416 für seinen Anspruch, eine Universaljurisprudenz zu begründen, reflektiert Boecler nicht. Er liefert nämlich nicht den bestimmten Grund, weshalb das Naturrecht als angeborenes schlechter erkennbar sein soll als durch die Schriftoffenbarung der zwei Tafeln. Bei Melanchthon findet sich dieser Grund und deshalb wird auf ihn zurückzukommen sein (4.4.4).
413 Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio, In Prolegomena, S. 50. 414 Ebd. 415 Ebd., Præfatio, S. 4. Hervorhebung im Text. 416 Vgl. Falk Wagner: [Art.] Naturrecht II. Neuzeitliche und evangelische Interpretationen seit der Reformation. In: TRE 24, S. 132–185, hier S. 159.
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Wie gesagt ist es unwahrscheinlich, dass Gryphius diese Ausführungen Boeclers noch vor seinem Tod zu Gesicht bekommen hat. Zudem wäre eine Rezeption des 1663 gedruckten Kommentars mit Blick auf die früher erschienen Trauerspiele grundsätzlich nicht zu plausibilisieren. Dennoch konnte anhand der früheren Schrift Christi Servatoris Fasciae und des dort niedergelegten Majestätsbegriffs aufgezeigt werden, wie stark Boecler sein Naturrecht und Staatsdenken theonom begründet. Die Theonomie darf als Konstante des boeclerschen Denkens vom Recht und vom Staat gelten. Wenn sich im Carolus Stuardus eine Kritik Gryphius’ an Grotius’ vernunftrechtlichem Anspruch in eben derselben Weise finden wird (5.4.6), wie sie in Boeclers Kommentar erscheint, so darf zudem zweierlei vermutet werden: Gryphius blieb erstens wohl weit über den Straßburger Aufenthalt 1646 und den Amsterdamer Brief von 1647 hinaus mit Boecler in Verbindung und nahm auf diesem Wege dessen Gedanken zum Ursprung des Rechts zur Kenntnis, so dass er sie schon in den Carolus Stuardus einarbeiten konnte. Zweitens darf für eine Werkgeschichte Boeclers angenommen werden, dass der Straßburger diesen zentralen Punkt seiner Grotius-Kritik schon 1659 ausgearbeitet hatte, insofern sie sich schon zu diesem Zeitpunkt in der ersten Fassung des Carolus Stuardus seines Schülers Gryphius in genau derselben Weise wiederfindet, wie sie aus seiner eigenen Feder erst 1663 gedruckt werden sollte.
4.3 Schlagkräftige Innovation: Finalismuskritik Der Gliederung der Kapitel 4.2–4.4 wurde zwar der Antagonismus von Tradition und Innovation zugrunde gelegt und sein Münden in eine neuerliche Antwort ist keineswegs konstruktivistisch. Dennoch hat Kapitel 3.1 verdeutlicht, dass auch und gerade den ideenhistorischen ‚Frontgängern‘ keineswegs unterstellt werden darf, für bestimmte Herausforderungen oder Ideenelemente des Neuen zum Preis entsprechender Elemente des Alten vollkommen verschlossen gewesen zu sein – und umgekehrt. Im Gegenteil ergibt eine neuerliche Antwort nur Sinn, wenn die Innovatoren zumindest soviel von der Tradition übernehmen bzw. insofern auf traditionellem Felde ihre Ansprüche erheben, als dass eine konservative oder gar restaurative Antwort überhaupt noch erfolgen kann und muss. Dieses Kapitel soll daher selbst schon mehr Ambivalenzen aufdecken, als das alte Konstrukt eines einheitlichen Frontverlaufs von ‚Neuem‘ und ‚Altem‘ rehabilitieren.
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4.3.1 Der Leidener Einfluss: Gryphius’ ‚Wissenschaftslyrik‘ am Ausgang des Neuen „Dichterphilosophen haben seit der Renaissance Probleme des Erkennens, die in der epistemischen Defizienz des erkennenden Subjekts oder in der grundsätzlichen Unzugänglichkeit der Dinge außer ihm ihren Grund haben, in Parabeln, Allegorien, Mythen und Märchen gekleidet“:417 Mit diesen treffenden Worten lenkt Barbara Bauer den beständigen Fokus der Barockforschung von der vanitas-Frage auf Aspekte erkenntnistheoretischer Auseinandersetzungen der Poesie. Sie gelten auch für Andreas Gryphius. Dabei verhandelt der Schlesier epistemologische Fragen keineswegs isoliert oder in Konkurrenz zum Topos der Vergänglichkeit. In Leiden verfasste Gryphius 1639 das Sonett Auff das Fest der Heiligen Dreyfaltigkeit Rom 11. Joh. 3, das in zwei Varianten vorliegt: einmal in der Druckfassung von 1639 der Sammlung Son- undt Feyrtags Sonnete418 und in andermal in überarbeiteter Form von 1657 im dritten Sonettbuch.419 Dem Römerbrief wie auch dem Johanneskapitel geht es sowohl um „beide der weisheit vnd erkentnis Gottes“ als auch um die Unbegreiflichkeit von Gottes Gericht und Ratschluss:420 Entsprechend reflektiert Gryphius das Verhältnis von Wissenschaften und Gotteserkenntnis. Hieraus lässt sich auch das Verhältnis von Diesseits und Jenseits erschließen, wie Gryphius es verstand. Es soll mithin gezeigt werden, dass dieses Verhältnis einer schriftzentrierten Offenbarungstheologie (dazu 4.4) genau so entspricht wie das Selbstverständnis vieler neuen Naturwissenschaften des siebzehnten Jahrhunderts: [1639] [1657] O reiche wissenschaft! wer kan O Reiche Wissenschaft! wer kan die weisheit grunden die Kunst ergrnden Durch die man Gott recht kent. Durch die man Gott erkennt’ / mag dieser augen licht mag dieser Augen=Licht
417 Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 33. 418 GdW 1, Sonntagssonette, 38, S. 150. 419 GdW 1, Sonette. Das Dritte Buch, XXXVII, S. 207. 420 Röm 11,33–36: „O welch ein tieffe des reichthums / beide der weisheit vnd erkentnis Gottes / Wie gar vnbegreifflich sind seine gerichte / vnd vnerforschlich seine wege. Denn wer hat des HERRN sinn erkand? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat jm was zuuor gegeben / das jm werde wider vergolten? Denn von jm / vnd durch jn / vnd in jm / sind alle ding / Jm sey Ehre in ewigkeit / Amen“; Joh 3,11–12: „Warlich warlich ich sage dir / Wir reden / das wir wissen / vnd zeugen / das wir gesehen haben / Vnd Jr nemet vnser zeugnis nicht an. Gleubt jr nicht / wenn ich euch von jrdischen dingen sage / Wie dürdet jr gleuben / wenn ich euch von Himelischen dingen sagen würde.“
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Erforschen seine weg, begreiffen Begreiffen seine Weg / erforschen sein’ gericht? Sein Gericht? VVer wirdt des Herren sin’ durch Wird man deß HErren Sinn durch seine sinne finden? Durch vnser Sinnen finden? Uns mus verstandt undt geist, vor seinen Vns muß Verstand vnd Geist vor seinen wercken, schwinden, Wercken schwinden: VVir wissen was die erdt, undt was Wir wissen was die Erd / vnd was sie einschleust, nicht. Sie einschleust / nicht: VVer könnte dan verstehn, was er Wer sol verstehn was Er von seinem vom Himmel spricht. Himmel spricht. (GdW 1, Sonntagssonette, 38, S. 150, (GdW 1, Sonette. Das dritte Buch, XXXVII, v. 1–7) S. 207, v. 1–7)
Die Würdigung der Wissenschaft als reich ist nicht ironisch gemeint und schwindet unter der voluntaristischen Demutsgeste keineswegs dahin. Dies legen nicht erst Gryphius’ Studium, eigene Lehre und besonders auch anatomische Gelehrsamkeit nahe: Auch seine weitere poetische Reflexion bestätigt den Eindruck einer hohen, wenn auch bedingten Würdigung der Wissenschaften. Daher ist ein notwendiger Seitenblick vom Dreifaltigkeitssonett weg auf zwei Epigramme Gryphius’. Uber die Himmels Kugel konstatiert die erstaunliche Leistung menschlicher Erkenntnistätigkeit, Phänomene und Gegenstände zu erkennen, die der Mensch mit all seinen Sinnen doch eigentlich nicht mehr erfahren kann: Schaw hir des Himmels Bild / diß hat ein Mensch erdacht/ Der doch auff Erden saß: O bergrosse Sinnen / Die mehr denn iemand schawt durch forschen nur gewinnen! Soll diß nicht himlisch seyn was selber Himmel macht? (GdW 2, Bey-Schrifften [Epigramme]. Das Dritte Buch, S. 206, XXII)
Ein auf physiologische Wahrnehmung zugespitzter Empirismus ist Gryphius gerade nicht alleinige Ermöglichungsbedingung zutreffender Erkenntnis. Der Begriff Sinne wird mit bergrosse ins Metaphorische gewendet und dient gerade der Abgrenzung von einem Wissenschaftsverständnis, das nur die physische Perzeption achtet (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken). Besonders gegenüber dem unterprivilegierten ‚schawen‘ kann Wissenschaft einen Mehrwert erbringen, und dies bündelt Gryphius im Begriff des Forschens. Eben dieses ist ihm ein ‚bergrosses Sinnen‘, insofern es mehr ist als die einzelnen menschlichen Sinne und auch mehr als ihre Summe.421 Worin dieser Mehrwert schließlich besteht bzw. wie er methodologisch überhaupt gedacht und erbracht werden kann, um epistemologisch statt zu haben,
421 Vgl. Kühlmann: Neuzeitliche Wissenschaft in der Lyrik des 17. Jahrhunderts, S. 525f.
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erklärt das unmittelbar folgende Epigramm Uber die Erd=Kugel. Auch hier wird die vom Forscher ausdrücklich in absentia erbrachte und dabei doch erfolgreiche, d.h. zutreffende Erkenntnis gefeiert: Der Erden rundes Hauß das Vih und Menschen trgt / Ist noch nicht gantz beschawt / doch ist es gantz gemessen. Was nie der Leib bezwang hat doch der Geist besessen. Der Land und Wellen Zill hir / auch abwesend / legt. (ebd., XXIII)
Mit der Erde ist hier zwar von einem Erkenntnisgegenstand die Rede, der den physischen Sinnen des Menschen nähersteht als die Himmelskugel. Dennoch ist auch hinsichtlich dieses Gegenstandes nicht notwendig, ihn allein sinnlich zu erfahren, um wahre Erkenntnisse über ihn zu gewinnen. A fortiori gilt also: Wenn der Geist tatsächlich ‚besitzt‘, „was nie der Leib bezwang“ und wenn er es vermag, „der Land und Wellen Zill hir / auch abwesend“ zu legen, so ist bei Gryphius in jedem Fall ein Eintreten für den Rationalismus festzustellen. Im Folgenden gilt es herauszufinden, welcher Rationalismus genau Gryphius vermehrt zuzuschreiben ist – absoluter bzw. metaphysischer oder epistemologischer Rationalismus. Schon das Epigramm selbst deutet an, welches Mittel bzw. genauer: welche Methode dem Geist diese Erkenntnisleistung erlaubt. Wenn nämlich festzuhalten ist, „der Erden rundes Hauß […] Ist noch nicht gantz beschawt / doch ist es gantz gemessen“, so drückt sich hierin die Zuversicht eines Wissenschaftsverständnisses aus, die sich den Möglichkeiten eines nicht nur maßnehmenden, sondern schon abstrakt berechnenden Messens verdankt. Eine solche im siebzehnten Jahrhundert besonders von Descartes eingeleitete Algebraisierung der Geometrie422 hatte ihre Konsequenz im Anspruch eines tatsächlichen Erkenntnisgewinns, den eine analytische Methode im Unterschied zu bloßer Ableitung schon feststehender, impliziter Wissensinhalte gegenüber der Synthese erhob. Gryphius’ Würdigung der reichen Wissenschaft ist also auch im Dreifaltigkeitssonett, wo es um die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaften geht, ernst gemeint und ernst zu nehmen.423 Diese Leistungsfähigkeit besteht nicht trotz ihres Scheiterns an der Erkenntnis von Gottes Ratschluss. Vielmehr stellt der Grund der Notwendigkeit dieses Scheiterns erst die Ermöglichungsbedingung der Rationalisierung derjenigen Wissenschaften dar, die sich mit dem Diesseits befassen. Ihre Grenze erfährt die Wissenschaft in der Gotteserkenntnis,
422 Vgl. Hans Freudenthal: [Art.] Geometrie. In: HWPh 3, S. 324–327, hier S. 325. 423 Vgl. Ferdinand van Ingen: Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Bonn 1981 (Nachbarn 26), S. 14.
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insofern es von dieser keine scientia, auch keine ars gibt, die ein Instrumentarium zur Verfügung stellte, mit der man Gott ‚beobachten‘ könnte. Die beiden in diesem Vers differenten Versionen verdeutlichen, dass dieser systematische Sachverhalt Gryphius selbst vor ein terminologisches, wenn nicht gar wiederum systematisches Problem stellt. Denn in der Bezeichnung derjenigen ‚Disziplin‘, die eine Gotteserkenntnis ermöglichen soll, wechselt er zwischen den Fassungen die Begriffe: Spricht er 1639 noch von Weisheit, so wechselt er 1657 zu Kunst. Gotteserkenntnis kann, den ersten Versen folgend, in jedem Fall weder durch Apodeixis aus ersten allgemeinen Prinzipien erfolgen noch durch Induktion aus vereinzelter oder auch gesammelter Beobachtung. Die Unmöglichkeit der Apodeixis ist dabei aus dem Gottesbegriff nicht nur der reformatorischen, sondern eigentlich aller christlichen Allmachtstheologie evident: Würde Gott aus Prinzipien erkannt bzw. deduziert werden können, so wären ihm diese Prinzipien vorgängig. Mithin existierte etwas vor Gott und dies ist in einem schöpfertheologischen Monotheismus denkunmöglich. Interessanter ist allerdings der Fall der von Gryphius weitaus deutlicher zur Sprache gebrachten unmöglichen induktiven Gotteserkenntnis: Gott ist aus seinen Werken nicht erkennbar. Gott hat diese Werke, seine Schöpfung, mithin die Welt und die Dinge in ihr, in einer Art und Weise angelegt, dass sie von ihm nichts preisgeben außer seine Existenz (insofern sie von irgendwem ex nihilo geschaffen worden sein müssen). Über Gottes Wesen und seine Sphäre, über die Kohärenz seiner Beschlüsse lässt sich aus der Natur nichts erschließen: „mag dieser Augen=Licht Begreiffen seine Weg / erforschen sein Gericht?“. Selbst einer Gotteserkenntnis aus der Offenbarung wird im letzten Vers kritisch begegnet, zumindest wohl insofern, als die Selbstauskünfte aus dem eigenen Wort Gottes nicht über sich selbst hinaus transzendiert werden können. Warum schränkt Gryphius seine Behauptung, Gotteserkenntnis sei als Weisheit unmöglich (1639), 1657 dahingehend ein, dass er nurmehr die Kunst ausschließt? Dies ist hier nicht eindeutig zu beantworten. In jedem Fall bezeichnet sapientia etwas weitaus Umfassenderes: Sie schließt scientia, artes und prudentia ein und verknüpft sie dergestalt, dass theoretisches Wissen allererst in einer dienlichen Praxis Sinn erhält, andersherum Praxis durch adäquates Wissen nicht droht in unklugen, nachgerade blinden Aktionismus zu verfallen. Mithin scheint Gryphius’ Unzulänglichkeitsverdikt 1639 ein umfassenderes als 1657 zu sein, da es sich dort nur auf eine Kunst, d.h. eine τέχνη, bezieht. Die Problemlage gestaltet sich komplexer: Diese nur scheinbare Einschränkung folgt lediglich einer Erkenntnis Gryphius’, dass es die umfassendere Weisheit sehr wohl gibt. Hingegen gibt es nicht diejenige Kunst, um diese Weisheit außer Gott noch dem Menschen zugänglich zu machen. Es liegt also eine Umbesetzung des Weisheitsbegriffs vor, insofern Gryphius 1657 bei der Rede von einem
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Erkenntnismittel die Weisheit nicht mehr als den treffenden Begriff empfindet. „[W]er kann die weisheit grunden Durch die man Gott recht kent“,424 macht dort keinen Sinn, wo Weisheit das Ziel von Erkenntnis und mithin mit Erkenntnis identisch ist. Mittel – gerade in dem starken Sinne, wie Gryphius schon 1639 von Instrumentarien der Erkennens spricht (Sehen, Verstand und Geist ) – sind eine Frage der ars. Insofern also Weisheit 1657 nicht bestritten, ihr Erreichen vor dem Hintergrund der Gotteserkenntnisdiskussion jedoch für den Menschen bezweifelt wird, findet beim späten Gryphius demnach eine verstärkte Retheologisierung des Weisheitsbegriffs statt: Erstens können Wissenschaften die vollkommene Weisheit unmöglich erreichen helfen, obgleich sie exhaustiv betrieben werden. Dies hat gerade in der Frage der Gotteserkenntnis seinen Grund, insofern an dieser alle Wissenschaften scheitern müssen. Zweitens wird die Existenz einer vollkommenen Weisheit nicht bestritten. Daher ist schließlich das Subjekt dieser vollkommenen Weisheit während des Interims allein Gott, der Mensch allererst sub lumen gloriae.425 Als Grund jener begrifflichen Präzisierung von weisheit (1639) hin zu kunst (1657) hat jedoch dasjenige metaphysische und kosmologische Dispositiv zu gelten, wie es im letzten Vers beider Fassungen pointiert zur Geltung kommt: „Wer könnte dan verstehen, was er vom Himmel spricht“ bzw. „Wer sol verstehn was Er von seinem Himmel spricht“. Als Aussage im letzten Vers bildet ihr Inhalt nur didaktisch den Zielpunkt des Sonetts. Systematisch bezeichnet diese Aussage allererst Grund und Ursache des bis dahin Entwickelten. Es geht Gryphius hier mitnichten um philosophische Resignation, sondern gerade um die Erkenntnis desjenigen Sachverhalts, der für das lutheranische Denken tragend ist, nämlich des theologischen Voluntarismus. Denn es ist die Tatsache, dass Gott vom Himmel spricht, nämlich seine Schöpfung genauso wie seinen Ratschluss. Gott widerspricht sich zwar nicht; dennoch wird das nicht als notwendiger Hinweis auf einen Intellektualismus zugelassen. Gerade Philipp Melanchthon versuchte zu zeigen, dass es sich nicht um ein Unterworfensein Gottes unter den Satz vom Widerspruch handelt, sondern um ein im Rahmen des freien Willen Gottes vollzogenes Selbstbinden an den Satz vom Widerspruch: Dies wird in 4.4.4 ausführlich zu erläutern sein. Es ist jedenfalls gerade dieser, in eigentümlicher Weise autonom rationalisierte Voluntarismus, dessen epistemologische Folgen das Sonett genauso reflektiert wie es den Grund im Schlussvers konstatiert: Denn zwar sind einerseits das Interim und die in ihm weilende Welt, Natur und Menschheit zuverlässigen Gesetzen unterwor-
424 Hervorhebung O.B. 425 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 212–216.
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fen. Diese Gesetze sind konsistent und konstant und können daher durch Wissenschaft erschlossen werden. Dies macht diese zu eben nichts geringerem als einer reichen Wissenschaft. Andererseits bedeutet der Spruchcharakter dieser Gesetzmäßigkeiten, so widerspruchsfrei sie auch sind, gerade auch, dass sie als Notwendigkeit anzeigende Gesetze selber nicht notwendig sind. Gryphius wählt die Metapher des Sprechens im Hinblick auf ihren Kontingenz anzeigenden Charakter bewusst: Gott hätte die Gesetze auch anders sprechen können. Sie sind nicht alternativlos, d.h. nicht dergestalt notwendig und hinreichend in Gott vorhanden, dass von der Erkenntnis der Gesetze auch auf Gottes Willen geschlossen werden könnte. Die Gesetze sind nur Ausdruck seines Wollens und nicht etwa Phänomene seines Wesens. Im Hinblick auf ihre Ursache Gott sind diese Gesetze kontingent. Eben diese Kontingenz des Notwendigen426 räumt das Verstehen von Gottes Willen dort aus, wo es um seine freien möglichen Alternativen geht. Dass Gottes Wille für Gryphius im starken Sinne frei und besonders in der Schöpfungshandlung nicht an eine bestimmte, endliche und dem Willen damit vorgängige Auswahl von Alternativen gebunden war, zeigt sich im Nachlasssonett An GOtt den Vater: „Dir war es leicht aus nichts mich / Schpffer / vorzubringen“ (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XIV, S. 101 [Hervorhebung O.B.]). Das spätestens seit der Gnosis drängende Problem einer theologischen Philosophie, die Weltentstehung unter monotheistischen Vorzeichen zu denken,427 soll in einem solchen theologischen Voluntarismus seine Auflösung finden. Denn zum Einen bestätigt der Gedanke der creatio ex nihilo Gottes absolut voraussetzungsloses Wollen und Vermögen („aus nichts mich / Schpfer / vorzubringen“). Zum Anderen wird dieser Gedanke mit der Überzeugung des ex nihilo nihil fit vermittelt, indem allemal der Wille des selbstursächlichen Gottes der Schöpfung vorausgeht. 1643 veröffentlicht Andreas Gryphius in seinem ersten Sonettbuch das gleichfalls aufschlussreiche Sonett In Bibliothecam Nobiliss. Amplissimiq Domini Georgii Schonborneri &c.. Auch hier kommt die Weisheit zur Sprache. Noch deutlicher aber als noch 1639 kommt hier zur Geltung, dass die Theologie mit dieser sapientia nicht identisch ist: DIs ist der trawte sitz den Themis ihr erkohren. Dran Svada sich verlibt / der hohen weisheitt zelt Das aller knste schar in seinen schrancken hlt. Vnd was berhmte leut aus ihrem sin gebohren.
426 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 99–126. 427 Vgl. Gerhard May: Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo. Berlin, New York 1978 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 48), S. 40–46.
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Hier les ich was vorlngst Gott seinem volck geschworen Hier sindt gesetz vndt recht’ hier wird die grosse welt In bchern / vnd was mehr in bildern vorgestelt. Hier ist die zeitt die sich von anbegin verlohren. Hier find ich was ich will / hier lern’ ich was ein Geist. Hier seh ich was ein leib / vnd was man tugend heist. Schaw aller stdte weiß’ vnd wie man die regiret. Hier blht natur vnd kunst / vndt was man seltzam nnt. Doch als ich diesen mann / der alhier lebt erknt; Befandt ich / das ihn diß vndt mehr den dises zihret. (GdW 1, Sonette. Das erste Buch, XIV, S. 38)
Findet hier im Gegensatz zum Dreifaltigkeitssonett eine Enttheologisierung der Weisheit statt, insofern die Theologie ihr mereologisch untergeordnet ist? Die Einschränkungen, die schon in den Erläuterungen zum Dreifaltigkeitssonett erörtert wurden, treffen auch hier zu: Mit der Rede von dem „was vorlngst Gott seinem volck geschworen“, ist zunächst nur die Heilige Schrift, mithin mit einer Theologie nur die Schrifttheologie angesprochen. Sicherlich ist dem Lutheraner alle wahre Theologie nur diejenige der Schrift. Dies gilt allerdings nur als Beschränkung des Menschen auf die einzig Zugang bietende Autorität der Schrift, ohne dass damit schon behauptet wäre, dass die Bibel alles Wesen von Gott preisgäbe. Ausgeschlossen ist damit gerade noch nicht ein der Schrifttheologie übergeordneter Überbau umfassender Weisheit. Der theo-epistemologische Erkenntnisanspruchs der Schrifttheologie wird gegenüber der göttlichen Weisheit selbst eingeschränkt. Das Sonett In Bibliothecam stimmt damit der lutherischen Epistelauslegung zu, wie sie Gryphius im Dreifaltigkeitssonett auf die neuen Wissenschaften appliziert hatte: Luther betont eben, „daß wir Gott erkennen (so), wie er hat erkannt werden wollen“.428 Die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Weisheit gilt erst sub lumen gloriae und insofern – und nur insofern – ist säkulare Wissenschaft nichtig und eitel. Es ist unumgänglich, an dieser Stelle über den Eitelkeits-Topos bei Andreas Gryphius zu sprechen. Denn auch und gerade an Gryphiusʼ dichterischer Entfaltung der vanitas ist die Korrosion finalursächlicher Erklärungsmuster zu beobachten. Schon im Eitelkeitssonett wird ex negativo eine bestimmte Unverbundenheit von irdischen Dingen bzw. irdischen Ereignissen konstatiert. Erst diese Unverbundenheit stellt den systematischen metaphysischen Grund der verhaltensethischen Folgerungen dar:
428 Martin Luther: Epístel=Auslegung. 1. Band: Der Römerbrief. Hg. von Eduard Ellwein. Göttingen 1963, S. 185 [Hervorhebungen O.B.].
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ICh seh’ wohin ich seh / nur Eitelkeit auff Erden / Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein / Wo jtzt die Stdte stehn so herrlich / hoch vnd fein / Da wird in kurtzem gehn ein Hirt mit seinen Herden: Was jtzt so prchtig blht / wird bald zutretten werden: Der jtzt so pocht vnd trotzt / lst vbrig Asch vnd Bein / Nichts ist / daß auff der Welt knt vnvergnglich seyn […]. (GdW 1, Lissaer Sonette, VI, S. 7f., v. 1–7)
In jeder einzelnen Feststellung von Vergänglichkeit liegt eine unausgesprochene Verwunderung, die sich aus der Textlogik allemal erschließen lässt: Dass Gryphius die vordergründig ohne Weiteres einleuchtenden, scheinbar trivialen Antithesen mit aller Bedacht setzt, macht nur dann Sinn, wenn sie dem zeitgenössischen Diskussionsstand nach gerade nicht als trivial gelten dürfen. Sie konstatieren eine Unverbundenheit und sogar Gegenläufigkeit eben dort, wo sich das lyrische Ich eigentlich eine Verbindung hätte erwarten mögen. Gerade im zweiten Vers wird das Staunen über das Unerwartete in nachgerade physikoteleologischer Perspektive ins Bild gesetzt: Derjenige, der etwas „heute bawt“, kann dadurch nicht auch hinreichend gewährleisten, dass dies nicht ein anderer sogar „morgen“ schon, mithin in unmittelbarer zeitlicher Folge „einreißt“. Dies deutet bereits auf den Kern eines finalitätskritischen Problembewusstseins hin. Wenn etwas gewirkt wurde, so dass es im ganz perfektiven Sinne erbaut ist, so ist dieser Prozess insofern abgeschlossen, als er nicht mehr gegen einen ihm entgegengesetzten Prozess – den des Einreißens – selbst schon ankommen kann. Die prinzipielle Abgeschlossenheit von Prozessen, Ereignissen, Handlungen ist also grundlegend für Gryphius’ hiesige Feststellung. Mit ihr einher geht die Erkenntnis, dass prinzipiell abgeschlossene Handlungen eben kein Fortwirken mehr haben, das ein Entgegenwirken anderer Kräfte je schon aufheben, mehr noch überkompensieren könnte. Dies legt allerdings nahe, dass hier Aktion – das Erbauen durch den Einen – schon vordringlich als reines Wirken gedacht wird, demgegenüber eine Finalität als Fortwirken eben grundfalsch sein muss. Denn ein Wirken über das eine Gewirkte hinaus erscheint unsinnig, weil doch das andere Gewirkte – das Einreißen bzw. Eingerissene – von etwas bzw. jemandem vollkommen Anderen gewirkt ist. Damit handelt es sich eben um eine bestimmte Unverbundenheit der beiden Ereignisse – hier von Erbauen und Einreißen –, nämlich eine teleologische. Dieser wird eine ebenso bestimmte, nämlich vermehrt wirkursächliche Verbundenheit der Ereignisse selbst gegenüber gestellt. Gryphius setzt hier nicht etwa eine „Ordnung des Chaos“
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ins Bild: 429 Weder werden Ereignisse und Prozesse in keinerlei Weise mehr beschreibbar – nichts anderes vollzieht sich schließlich im Sonett –, noch ist in irgendeiner Weise von Urstoffen die Rede.430 Gryphius geht es auf Grundlage einer jedenfalls diesseitskosmologischen Kausallogik um einen notwendig folgenden Orientierungsverlust. Die Ordnung der Dinge erlaubt keine heilsgeschichtliche Aussage mehr und in dieser Hinsicht sind die Dinge eitel bzw. nichtig. Die nichtsdestoweniger statthabende Ordnung eines a-soteriologischen Diesseits ist also mitnichten Chaos. Damit ist freilich noch nicht angezeigt, dass der Schlesier alles, sogar Intention selbst als kausallogisch verursacht ansähe wie wenige Jahre später Thomas Hobbes. Allerdings lässt sich bei Gryphius dasselbe Problembewusstsein feststellen: Denn zwar lässt sich die Absicht hegen, das Gewirkte durch genuin neues, eben auf die Erhaltung gerichtetes Handeln zu bewahren. Selbst diese Absicht vermag selbst nicht die Realisierung dieses Vorhabens zu garantieren. Dies hat in nichts Anderem seinen Grund, als dass der Bewirkende selbst vergänglich ist: „Der jtzt so pocht vnd trotzt / lst vbrig Asch vnd Bein“. In pochen und trotzen kommt eben ein willentliches Ausrichten der Handlung zum Ausdruck, das sich der Gegenwirkung widriger Einflüsse durchaus bewusst ist. Mit dem mangelnden Erfolg dieser Absicht ist daher umso mehr Vergeblichkeit ausgedrückt: Im notwendigen Ausrichten einer Handlung auf ein Ziel kann nicht schon die hinreichende Erfolgsbedingung dieses Ziels gesehen werden. Zweck und Wirkung sind Gryphius nicht nur grundverschiedene Erklärungsmodelle von Entwicklung, sondern Gryphius verschiebt auch Ziel- und Zwecksetzung ganz in den Bereich des Psychologischen und Handlungstheoretischen. Der Bereich der Wirkungen ist davon eben strikt getrennt. Zudem ist Gryphius in dieser impliziten Finalismuskritik offenbar gar nicht mehr in der Lage, von Mittel-Zweck-Rationalismen anders als im Rahmen eines grundsätzlich kausallogischen Verständnisses zu sprechen. Denn zwar ist und bleibt die angesprochene Verwunderung des lyrischen Ichs diejenige darüber, dass einmal erfolgte Ereignisse und Handlungen über ihr mutmaßliches Ziel hinaus nicht wirken: Gerade diese Problembeschreibung allerdings erfolgt schon ganz im Rahmen eines Denkens von Ursache-Wirkung-Relationen. Denn „dieser“ wie „jener“ werden ganz als Wirkursachen und das ‚Erbaute‘ wie das ‚Eingerissene‘ ganz als Wirkungen begriffen. Das Sonett inauguriert mithin weder kausallogisches Denken noch Finalismuskritik überhaupt. Es illustriert nur die
429 Vgl. Will Hasty: The order of chaos. On ‚vanitas‘ in the work of Andreas Gryphius. In: Daphnis 18 (1989), S. 145–157. 430 Vgl. Ulrich Dierse, Rainer Kuhlen: [Art.] Chaos II. In: HWPh 1, S. 982–984.
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Unmöglichkeit, de intentione finalistische Erklärungsmodelle im Rahmen einer kausallogischen Wirklichkeitswahrnehmung überhaupt fassen zu können. Der polemisierte Irrtum ist nicht derjenige eines tatsächlich noch finalistischen Denkens, sondern nurmehr derjenige, an Finalursachen noch festhalten zu wollen, obwohl die Weltsicht schon von der Ursache-Wirkungs-Relation bestimmt ist. Es ist der Irrtum eines eigentlich bereits kausallogischen Denkens aus sich heraus, das sich noch in finalistische Fragen verirrt, die es doch als solche schon gar nicht mehr beim Namen nennen kann: Wirkende bleiben Wirkende, Wirkungen bleiben Wirkungen und nur die Tatsache, dass über die Wirkung hinaus vom Wirkenden nichts Notwendiges mehr zu erwarten ist, ist noch Grund dieses residualfinalistischen Staunens. Dies zeitigt zwei Folgen: Zum Einen stellt Gryphius die innerlichkeitstheologische Kernaussage seiner gesamten vanitas-Dichtung auf eine Basis, die im neuen naturwissenschaftlichen Weltbild nicht ihren Gegner hat, sondern einen Lieferanten schlagender Argumente. Philosophie- und Ideenhistoriker wie Hans Blumenberg, Manfred Riedel, Barbara Bauer und jüngst Holger Glinka431 unterstrichen bereits die eigentümlich starke Vermittelbarkeit von lutherischer Orthodoxie und neuen Wissenschaften: Die neue Weltwahrnehmung widersprach weniger den theologischen Lehren der Diesseitsenthaltung, sondern sie gab ihr vielmehr von sich aus das erst entscheidende Argument in die Hand, dass weltliche Dinge nicht auf das Heil hin ausgerichtet sind. Das belegt auch der eigentümliche Doppelsinn des dritten Verses: Mit dem Hirten nämlich, der in Kürze dort seine Herde hüten wird, wo jetzt noch Städte stehen, ist nicht etwa nur der menschliche Hirte gemeint, sondern gemäß Psalm 23 auch Gott. Die heilstheologische Nichtigkeit der Welt, ihr ateleologischer Charakter sind eben nichts anderes als von Gott selbst gewollt: Die Stadt – vor allem die Stadt Babylon – kann schon darum nicht teleologisch auf Gott ausgerichtet sein, da sie nach Offb 18–19 doch vor dem Weltgericht untergehen soll: Gottes Herrschaft als Hirte nach dem Jüngsten Gericht will sich vom vormaligen depravierten Zustand gerade absetzen und nicht als dessen Zielform gelten. Das Dogma des soteriologischen sola fide musste nicht mehr aus sich selbst allein wirken, sondern wusste in dem vermehrt ateleologischen Denken gute Gründe dafür auf seiner Seite, dass nichts Anderes
431 Vgl. etwa Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus. Zur Geschichte der Dissoziation von Theologie und Naturwissenschaft; Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie; Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 15–20; Holger Glinka: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und in der Aufklärung. Hamburg 2012 (Paradeigmata 31), S. 71–74.
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als das Wort Gottes über das Heil Auskunft gibt. Gryphius’ vanitas-Dichtung ist mithin ‚nur‘ noch hinsichtlich der verhaltensethischen Folgerungen eigentlich geistliche Dichtung. Respektive des undogmatisch aus Wirklichkeitsbeobachtungen entwickelten Bewusstseins von der ateleologischen Beschaffenheit der Dinge ist sie nachgerade weltlich. Zum Anderen hat dies Folgen für ein natürliches Recht und jedwedes Verständnis von Erkenntnis und Geltendmachung transhumaner Normen, wie sie für Gryphius’ gesamte Problemwahrnehmung und -behandlung von Bedeutung sind. Einer starken teleologieverhafteten Tradition zum Trotz machte Gryphius schon frühzeitig entscheidende Ent-Teleologisierungen der physischen Natur mit. Hinsichtlich dieser Vermutung ist nicht nur seine Dichtung zu konsultieren und der zentral anentelechische Charakter der vanitas zu reflektieren. Es ist im Folgenden auch zu vergegenwärtigen, dass schon im siebzehnten Jahrhundert die vermehrt kausallogische Denkweise eine gute Alternative darstellte, und zwar weniger nur zur anmaßenden aristotelischen Lehre substantialer Formen, sondern auch besonders als theologisch bessere Alternative zur Gnosis bzw. zum Manichäismus: Hans Blumenberg hält zurecht fest, dass Gnosis und Manichäismus die Entelechie aufrechtzuerhalten versuchten, durch die sich die Frage schlechter Teloi eigentlich stellte. Sie beantworteten sie mit dem unvollkommenen Demiurgen, der diese schlechten Teloi setzte und gegenüber dem der eigentliche Gott zwar übergeordnet blieb, aber schöpfungstheologisch in den Hintergrund rückte. Die fundamentale Verabschiedung der substanzialen Formen und damit auch der Entelechie stellte demgegenüber allemal die auch theologisch befriedigendere Lösung dar, so sehr sie die diesseitswissenschaftliche Säkularisierung auch vorantrieb: Der monotheistische gütige Gott blieb so näher an der Welt und dennoch unverantwortlich für das Böse in ihr.
4.3.2 Funktionalismus jenseits der Teleologie: Niccolò Machiavellis Pragmatismus Besonders mit Blick auf die politische Theorie ist zu vergegenwärtigen, dass die Teleologie nicht nur und nicht erst durch die expliziten Verabschiedungen seitens der Physik und Metaphysik ins Wanken geriet. Die Teleologie wurde hier nicht erst geschwächt, als sie theoretisch bestritten wurde. Sie brach schon früher ein, nämlich im wissenschaftspraktischen Vollzug einer Staatslehre, die vermehrt auf wirkursächliche Gegebenheiten als auf zielursächliche Gesolltheiten schaute. Die Rede ist wiederum von Niccolò Machiavellis politischem Denken. Stefano Saracino bemerkt jüngst, dass sich hier in einer für das sechzehnte Jahrhundert wohl einmaligen Weise ein nahezu rein kausallogisches Denken realisiert: „Es
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ist offensichtlich, dass Machiavelli mit dem klassischen (aristotelischen) teleologischen Naturverständnis bricht. Die Natur vermag bei Machiavelli nicht mehr Ziel- und Formursache menschlicher und politischer Entwicklungsprozesse zu sein“.432 Schon Leo Strauss hatte – wenngleich in systematisch abwehrender Haltung – mehrfach die frühe Beteiligung Machiavellis „an der Zerstörung des klassischen Naturrechts- und Physis-Begriffs“ festgehalten.433 Die Definalisierung der Natur gilt nicht nur für die Natur im Allgemeinen, sondern auch für die menschliche Natur im Besonderen. Missverständnisse sind bei diesem Aspekt von Machiavellis Denken unbedingt zu vermeiden: Natürlich geht es Machiavelli erstens besonders im Principe, aber auch in den vermehrt politkonsultativen Passagen der Discorsi stets um eine Handlungslehre. Eine solche ist natürlich immer, d.h. auch unter systematischen Gesichtspunkten, teleologisch, insofern sich Handlungen von anderen Prozessen durch „gehaltvolle Absichten“ konstitutiv unterscheiden:434 Setzung von Zielen ist für Handlungen wesentlich, von Zielen zu sprechen daher für eine Handlungslehre unabdingbar. In eben dieser Weise reflektiert auch Machiavelli zweitens stets die Ziele, die sich zu setzen für einen ambitionierten Politiker sinnvoll ist. Ebenso handelt er von den Mitteln, die erfahrungsgemäß mehr oder minder wahrscheinlich diese Ziele zu erreichen helfen. Damit ist jedoch schon das bestimmte Moment, mithin die Grenzen der Teleologie einer modernen wie auch der machiavellischen Handlungslehre angezeigt: Ziele sind mal mehr, mal weniger sinnvoll. Damit ist schon von vornherein die Rede von der moralischen Güte dieser Ziele eingeschränkt. Ziele werden nicht etwa gesteckt, weil sie dem Handelnden von außen zu setzen aufgetragen würden. Ziele werden sich jedoch besonders nicht etwa deswegen gesetzt, weil sie selbst schon ursächlich wirkten auf den Erfolg sie zu erreichen. Wäre dem so, d.h. zöge ein Ziel in der Tat die Dinge auf sich, die dem Augenschein nach auf es zulaufen, wäre schon die Überlegung überflüssig, ob das Setzen des Ziels selbst sinnvoll ist. Tatsächlich aber vollzieht schon die aristotelische Handlungs- und Entscheidungstheorie die Reflexion auf Zielsetzung – und das nicht nur in normativer Hinsicht, sondern auch respektive der Realisierbarkeit von Zielen (siehe in 4.1.3.3). Erst Machiavelli setzt dieses gerade rein kausallogische Moment innerhalb von Zweck-Mittel-Rationalismen konsequent um: Die Frage nach der Realisierungsbedingung wird vom Ziel auf die Mittel umgelagert und damit wird ein wirkursächliches Denken vorherrschend. Welche Bedingungsfaktoren sind in
432 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 298. 433 Ebd., S. 299f.; 434 Wolfgang Detel: Philosophie des Sozialen. Stuttgart 2007 (Grundkurs Philosophie 5), S. 15.
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welchem Maße vorhanden, um unter ihrer tatkräftigen Instrumentalisierung das gesetzte Ziel zu bewirken? Welche anderen Bedingungsfaktoren sind in welchem Maße vorhanden, die das Ziel zu bewirken verhindern? ‚Teleologisch‘ ist daher bei Machiavelli das Ziel nurmehr, insofern es als beabsichtigtes prospektiv ist. Es ist nur noch der chronologische Aspekt der Zukünftigkeit, der von Ziel sprechen lässt, nicht eigentlich mehr eine Systematik. Schon die Absicht selbst wird von Machiavelli meist auf wirkursächliche Bedingungsfaktoren zurückgeführt. Auch vordergründig freiwillige Entscheidungen bemüht sich der Fiorentiner noch auf Notlagen oder auf gute Gründe, in jedem Fall auf etwas zurückzuführen, das der zielgebenden Entscheidung sachlich vorausliegt, und sich rational erschließen lässt. So heißt es z.B. zur Übergabe der civitas unter fremde Herrschaft: Was die Eroberung der Städte durch Übergabe betrifft, so kann diese freiwillig oder gezwungen erfolgen. Die Freiwilligkeit ist entweder auf eine äußere Notwendigkeit zurückzuführen, die sie zwingt, sich unter deinen Schutz zu begeben wie Capua unter den Schutz der Römer; oder die Freiwilligkeit gründet in dem Wunsch, gut regiert zu werden, wenn eine Stadt durch die gute Regierung eines Herrschers verlockt wird, dem sich schon andere freiwillig überantwortet haben, wie Rhodos, Massilia und andere Städte, die sich den Römern ergeben haben.435
Erst das vordringlich wirkursächliche Denken lässt Machiavelli die Notwendigkeit von Erneuerung hervorheben, um den Staat zu erhalten. Mantenere lo stato ist keine auf sich selbst als Zweck rückführbare Handlung, sondern beruht auf rinovare lo stato, ohne dass dies noch als widersprüchlich empfunden würde. Kausallogisch ist dieser Gedanke darin, dass Machiavelli ausschließlich jene Erneuerungen als erfolgsversprechend deklariert, die sich auf die faktischen Ursprünge des Staates besinnen: Da ich hier von kollektiven Gemeinschaften spreche, wie es die Staaten und die Sekten sind, so behaupte ich, dass ihnen nur diejenigen Veränderungen zum Heil gereichen, die sie zu ihren Anfängen zurückführen. […] Es ist klarer als das Tageslicht, dass solche Gemeinschaften ohne Erneuerungen nicht von Dauer sind. Das Mittel zur Erneuerung aber ist, wie
435 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, II,32, S. 352: „Quanto allo acquisitare le terre per dedizione, o le si danno volontarie o forzate. La volontà nasce, o per qualce necessità estrinseca, che gli constringe a riffuggirtisi sotto, come fece Capova ai romani, o per desiderio di essere governati bene, sendo allettati da il governo buono che quel principe tiene in coloro che se gli sono volontari rimessi in grembo, come fecero i rodiani, i massilensi ed altre simili cittadi che si dettono al popolo romano“ [Hervorhebung O.B.]. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, II,32, S. 281.
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gesagt, sie zu ihren Anfängen zurückzuführen; denn in ihren Anfängen müssen ja alle Religionen, Freistaaten und Königkreiche notwendig etwas Gutes gehabt haben, dem sie ihr ursprüngliches Ansehen und ihre ursprüngliche Durchschlagskraft zu verdanken hatten. Da dieses Gute im Laufe der Zeit verdirbt, muss der betroffene Körper notwendigerweise absterben, solange nichts eintritt, das das ursprünglich Gute wieder herstellt.436
Auch die Beibehaltung vorgenommener Teloi wird von Machiavelli nur als Re stitution bedingender Wirkursachen gedacht. Machiavelli reflektiert hier schon ebenjenes Bedingungsgefüge, wie es auch in Gryphius’ Sonett Vanitas, Vanitatum, et omnia Vanitas aufgezeigt wurde. Bei Gryphius genauso wie bei Machiavelli kann derjenige, der etwas „heute bawt“, nicht schon dadurch auch hinreichend gewährleisten, dass dies nicht ein anderer „einreißt“. Anders als Gryphius verkündet Machiavelli natürlich nicht die Eitelkeit des Versuchs, auf der absichtsvollen Zielsetzung zu „pochen“. Ebenso wenig münden seine Gedanken im heilsökonomischen Pessimismus von der Nichtigkeit jedweden aktiven Handelns gegen widrige Umstände: Diese Perspektive spielt bei Machiavelli gar keine Rolle mehr. Damit läuft sein säkularer kausallogischer Fokus auf eine Wahrnehmung von Zusammenhängen hinaus, die allein in Wirkursachen noch angemessen ist und dennoch nicht handlungshemmend wirkt. Wenn die Klugheit die gegebenen Umstände sowie die zur Verfügung stehenden Mittel nur ausreichend berücksichtigt, vermag sie durchaus, projektierte Ziele zu ‚perpetuieren‘. Im Übrigen erklärt sich Machiavelli selbst die Absicht der Staatserhaltung und -erneuerung selbst wiederum wirkursächlich: Diese Rückführung auf den Ursprung erfolgt bei Staaten durch ein von außen kommendes Ereignis oder aus inneren Impulsen. Was das erstere betrifft, so sieht man, wie notwendig für Rom die Eroberung durch die Gallier war, notwendig für seine Wiedergeburt, für die Erneuerung seines Lebens und seiner Tüchtigkeit.437
436 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, III,1, S. 355f.: „E perché io parlo de’ corpi misti, come sono le republiche e le sètte, dico che quelle alterazioni sono a salute che le riducano inverso i principii loro. […] Ed è cosa piú chiara che la luce, che non si rinovando questi corpi non durano. Il modo del rinnovargli è, come è detto, ridurgli verso e’ principii suoi. Perché tutti e’ principii delle sètte e delle republiche e de’ regni conviene che abbiano in sé qualche bontà, mediante la quale ripiglino la prima riputazione ed il primo augumento loro. E perché nel processo del tempo quella bontà si corrumpe, se non interviene cosa che la riduca al segno, ammazza di necessità quel corpo“. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, III,1, S. 284. 437 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, III,1, S. 356f.: „Questa riduzione verso il principio, parlando delle republiche, si fa o per accidente estrinseco o per prudenza intrinseca. Quanto al primo, si vede come egli era necessario che Roma fussi presa dai franciosi a volere che
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Bestimmend ist die anthropologische438 Annahme, der Mensch vernachlässige in Ermangelung von Herausforderungen seine angestammten Tugenden. Der psychologische Mechanismus drohender oder hereinbrechender Missstände wirkt daher ursächlich auf die Herausbildung derjenigen Absicht, ebendiesen Missständen entgegenzuwirken oder zumindest deren Folgen zu verhindern. Damit einher geht jene in 4.1 geschilderte Temporalisierung des Herrschaftsrechts: Die Besinnung auf variante wirkende Umstände und ihre Bevorzugung vor gleichbleibenden Normen bedeutet eine Dynamisierung des politischen Handelns, das sich der Beurteilung durch apriorische Legitimität entzieht. Dass der in der Notdiktatur notwendig monokratische ordinatore zweifellos andere Befugnisse haben muss, als die vorzugsweise republikanische Regierung im funktionierenden Staat, kennzeichnet schließlich Machiavellis Denken vom Ausnahmezustand: Eine normative Beurteilung der monokratischen Notstandsdiktatur von Seiten der republikanischen Blüte verbietet sich für Machiavelli nicht nur genauso wie der umgekehrte Fall. Vielmehr wäre sie unter der Maßgabe seines rein auf faktenpolitische Kausalbedingungen konzentrierten Denkens regelrecht unsinnig. Die politische Handlung ist nur danach beurteilbar, ob sie den herrschenden Bedingungen angemessen ist. Dementsprechend geht der Streit, ob Machiavelli kategorischer Förderer der Tyrannei oder der Republik sei, schon an den physischen wie metaphysischen Grundlagen des Fiorentiners vorbei.439 Wohlbemerkt behält Machiavelli das Vokabular der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre durchaus bei: „[P]erché altri ordini e modi di vivere si debbe ordinare in uno suggetto cattivo che in uno buono, né può essere la forma simile in una
la rinascesse, e rinascendo ripigliasse nuova vita e nuova virtú […]“. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, III,1, S. 285. 438 Vgl. dazu Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, S. 648, der mit guten Gründen bei Machiavelli kein prinzipielles Anthropologisieren erkennt. Machiavelli „drückte nicht etwa die theoretische Ansicht aus, die Gesamtheit der Menschen (oder ihre überwiegende Mehrheit) handle immer schlecht. Selbst wenn Machiavelli sich gelegentlich so ontologisch ausdrückte, intendierte er eine Einsicht anderer Art: Zu den Bedingungen politischen Erfolgs gehört es, zu unterstellen, der Handlungsraum sei von politischen Mächten umstellt, die ohne Rücksicht auf moralische Normen ihre Interessen durchzusetzen versuchen würden. […] Der ‚anthropologische Pessimismus‘ muß angenommen werden, als Handlungsregel, wenn Politik als Machterhaltung und Machterweiterung verstanden und wenn Sicherung von Macht als oberster Wert des Zusammenlebens von Menschen angesehen wird“. (ebd. [Hervorhebung im Text]). 439 Dies darf als die entscheidende Erkenntnis von Saracinos penibler Text- und Kontextanalyse des machiavellischen Opus’ gelten: Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 435–441.
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materia al tutto contraria“.440 Form bedeutet für Machiavelli jedoch nur noch dem Begriffe nach Aktualisierung der Möglichkeiten, die dem Stoff innewohnen. Die Beschreibungskategorien Form und Materie haben bei ihm nurmehr aposteriorische Geltung. Die Eignung von (Regierungs)Formen für bestimmte Zustände der Gemeinschaft bestimmt Machiavelli nach benennbaren vorausliegenden Bedingungen, nicht nach einer notwendig unzugänglich-mythischen Entelechie. Form und Stoff werden von Machiavelli de re nur genauso auf Wirkursachen heruntergebrochen wie Ziel und Intention. Damit ist das Geschäft der politischen Klugheit zwar auch für ihn ohne Zweifel kompliziert. Dennoch ist es nicht mehr auf Auspizien angewiesen. Denn gerade dank der Benennbarkeit von Bedingungsfaktoren wird das politische Kalkulieren endlich zur Vernunftsache. Es ist ein menschenmögliches Geschäft, in dem nicht mehr der Haruspex, sondern „ein kluger Mann den Übelstand bereits voraussehen“ kann, „wenn er noch in weiter Ferne liegt und erst zu entstehen beginnt“.441 Wenn Machiavelli der tatsächlichen Entteleologisierung die fortdauernde Rede von Form, Stoff und Zweck gegenüberstellt, so ist dies zwar nicht nur als bloß rhetorisch konzessive Sprachregelung gemeint. In einem eigens hierfür vorgesehenen Kapitel (II,29) beschäftigt sich Machiavelli gerade damit, dass das Schicksal durchaus Absichten und Ziele habe.442 Gemäß einem Livius-Zitat verblendet Fortuna jedoch die Geister hinsichtlich dieser Ziele, weshalb Machiavelli nur wieder zu der Folgerung gelangt: […] Titus Livius […] schließt mit den Worten: „So verblendet das Schicksal die Geister, wenn es nicht will, daß seine hereinbrechende Gewalt gehemmt wird“. Nichts ist wahrer als diese Schlussfolgerung. Deshalb verdienen auch die Menschen wegen des großen Unglückes, in dem sie leben, weniger Lob oder Tadel. Denn meistens sieht man, dass sie ins Unglück oder zu ihrer Größe gekommen sind, weil ihnen der Himmel die Gelegenheit zu trefflichen Taten schenkte oder nahm. […].443
440 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, I,18, S. 95 [Hervorhebungen O.B.]. 441 Ebd.: „[A] volergli rinnovare pocco a pocco, conviene che ne sia cagione uno prudente che vegga questo inconveniente assai discosto, e quanto e’ nasce“. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, I,18, S. 68. 442 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, II,29, S. 336–340 („La fortuna acceca gli animi degli uomini, quando la non vuole che quegli si opponghino a’ disegni suoi“). 443 Ebd., II,29, S. 338: „Tito Livio […] conchiude dicendo: ‚Adeo obcaecat animos fortuna, cum vim suam ingruentem refringi non vult‘. Né può essere vera questa conclusione: onde gli uomini che vivono ordinariamente nelle grandi avversità o prosperità meritano manco laude o manco biasimo. Perché il piú delle volte si vedrà quelli a una rovina ed a una grandezza essere stati convinti da una commodità grande che gli hanno fatto i cieli, dandogli occasione o togliendoli di potere operare virtuosamente“ [Hervorhebungen O.B.]. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, II,29, S. 271.
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Dem Menschen ist die Erkenntnis von den Zielen des Schicksals von diesem selbst, bzw. vom Schöpfergott verunmöglicht worden.444 Es präsentiert sich ihm nur in den sichtbaren wirkenden Ursachen. Kurt Flaschs Urteil, Machiavelli „beschrieb […] zwar das Anwachsen des Schicksalsglaubens, aber er teilte ihn nicht“,445 trifft insofern nicht exakt den Punkt: Fortunas Zielsetzungen sind Machiavelli offensichtlich zwar unstrittig, hingegen für das menschliche Erkennen und Entscheiden müssen sie folgerichtig indifferent sein. Deshalb kann man Saracino darin zustimmen, dass Fortuna selbst nur wieder zu einer „Kausalkraft in Machiavellis naturalistischem Weltbild“ wird,446 – unter dem Zusatz, dass Machiavelli dennoch versucht, die exklusive Wirkursächlichkeit, in der sich die Natur dem Menschen präsentiert, als dennoch vom Schicksal teleologisch verfügte zu denken. Auch Machiavellis Fortuna-Kapitel II,29 ist der bemerkenswerte Versuch eines frühmodernen Denkers, seine effektive Innovation traditionellkonservativ aufzufangen.
4.3.3 Bacon und Descartes: Gottes freier Wille und die Priosierung der causa efficiens Die Philosophiegeschichte hat hinreichend gezeigt, dass die epistemologische Wende des siebzehnten Jahrhunderts keineswegs schon deshalb eine notwendige Abwendung von der Theologie bedeutete, weil sie gegen die Scholastik Stellung bezog. Auch wenn man Panajotis Kondylis’ Auffassung nicht teilen muss, dass „[d]as Bekenntnis zum voluntaristischen Gott […] ja eine Pflichtübung jedes Gegners thomistischer Scholastik“ gewesen sei,447 trifft sie auf entscheidende Akteure dieser Wende zu. Hans Blumenberg hat es im Hinblick auf Melanchthons Kopernikusrezeption schon gezeigt, dass ein gediegen reflektierter Voluntarismus mit dem neuen wissenschaftlichen Weltbild keineswegs nur kompossibel sein musste (3.1.4):448 Dieser Ausweg auf den tönernen Füßen der Kontingenz musste nicht beschritten werden, um einen systematischen Zusammenhang von der Allmacht Gottes und der anentelechischen Struktur von Natur und Welt zu sehen. Zurecht beschreibt Kondylis die Verbindung von Voluntarismus und Entteleologi-
444 Vgl. Kablitz: Il Principe, Kapitel 24–26, S. 152. 445 Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, S. 643. 446 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 290 [Hervorhebung O.B.]. 447 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 184 [Hervorhebung O.B.]. 448 Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus.
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sierung unter den Bedingungen postscholastischer und präkantianischer Annahmen als historisch dringend: Denn nicht nur je schon theologische, sondern auch metaphysische Bedürfnisse gegen die Theorie der substanzialen Formen legten die Verteidigung des freien Willens Gottes nahe. Es waren die Finalursachen, die in der thomistischen Scholastik in der Weise apriorisch gedacht wurden, dass die in Gottes Intellekt vorhandenen Wahrheiten seinem Willensentschluss insofern vorgängig waren, als sie gerade diesen Willen zielorientierten.449 Wenn Gryphius daher im Dreifaltigkeitssonett die Erkenntniskunst am Wesen Gottes scheitern sieht, widerstrebt das nur scheinbar dem aufkommenden Anspruch der philosophischen Gottesbeweise. Die Diagnose einer sachlichen Unvereinbarkeit von Gryphius’ ‚New Philosophy‘-Rezeption einerseits und seines Schriftglaubens andererseits ist in der Gryphius-Forschung nach wie vor wirkmächtig: Für Hugh Powell liegt bei Gryphius eine „Inkonsistenz“ vor, insofern profane und sakrale Themen bei diesem „nebeneinander exisitieren“450 – ohne Interferenzen, höchst widersprüchlich und schon gar nicht in systematischer Vereinbarkeit. Dabei ist dieses Missverständnis nicht dadurch zu korrigieren, dass ein falsch verorteter Standpunkt des Gryphius richtiggestellt würde. Vielmehr müssen die Ansprüche der neuen Philosophie angemessen in Betracht kommen, vor allem im Hinblick auf die Autorität der Offenbarung und des Willen Gottes. Die Zurücknahme eines philosophischen Universalanspruchs funktioniert bei Gryphius nicht als bloßer ideenhistorischer Rückschritt. Denn diesem Universalanspruch geht es gerade nicht um die Erkenntnis des So-Seins des Willens Gottes. Die Gottesbeweise beschränken sich noch auf das Da-Sein des ens perfectissimum. Auf der anderen Seite ist es Gryphius’ praktischem Interesse besonders um die Unhintergehbarkeit des göttlichen Willens zu tun. Der Schlesier nimmt in den Dissertationes funebres ausdrücklich und vollkommen unbefangen auf Bacon und Descartes Bezug. Daher fragt sich, wie sehr er einen (rechts)theologischen Voluntarismus vom theoretischen Empirismus Bacons’ einerseits und vom theo-
449 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 185. 450 Hugh Powell: Andreas Gryphius and the ‚New Philosophy‘. In: German Life & Letters 5 (1951/52), S. 274–278, hier S. 275f.: „Our poet accepted the dogma of the Lutheran Church and yet recognized as valid the results of practical investigations which were at variance with that set of doctrinal beliefs. […] For Gryphius, as for many of his European contemporaries, there were most probably two kinds of truth – one ofe faith or religion, the other of reason or science. […] [H]e does seem to have been able to live in ‚divided and distinguished worlds‘ […] In his poetry sacred and profane motifs exist side by side. […] It is from this amphibious quality that the above-mentioned inconsistency derives.“
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retischen und epistemologischen Rationalismus Descartes’ andererseits überhaupt gefährdet sehen musste.
4.3.3.1 Bacons ars-Begriff als Beleg göttlicher Unverfügbarkeit Wenn Gryphius im Dreifaltigkeitssonett 1657 die ars als perfektibles Mittel menschlicher Selbstbehauptung begreift, bedient er sich des vordringlich baconschen ars-Begriffs. Erst die baconsche Ablehnung all der Künste, die „auf Phantasie und unkritischem Vertrauen auf Autorität beruhen“,451 gibt Gryphius die Möglichkeit, diese Ablehnung autoritätshöriger Künste in eine Selbstlimitation der neuen Wissenschaften umzudeuten. Hierin liegt der Kern der historischen Möglichkeit, gerade als protestantischer Zeitgenosse wie Gryphius die neuen Wissenschaften samt ihrem diesseits-epistemologischen Anspruch affirmativ zu rezipieren und dabei den hohen Rang der Theologie nur noch mehr zu stärken, – ohne dass dies einen Widerspruch darstellte, wie auch Kondylis bemerkt: Es mag paradox klingen, und doch ist es so, daß die weltanschaulich-ontologische Gesamtaufwertung der Natur eine Verachtung derselben Natur in ihrer qualitativen Vielfalt nach sich ziehen mußte – denn nur deren Beseitigung, d.h. nur die Quantifizierung der Natur konnte dieselbe ganz berechenbar und daher auch zum höchsten Erkenntnisgegenstand machen.452
In den Augen der eigenen Polemik war es gerade der präbaconsche Kunstbegriff, der dem Schrift- und Allmachtstheologen ein Dorn im Auge sein musste. Denn dieser implizierte die Möglichkeit einer menschlichen Gotteserkenntnis aus päpstlicher Autorität, schlimmer noch aus poetischer Intuition.453 Es ist die Besinnung auf die Natur als dem Menschen kognitiv und empirisch durchaus verfüg-
451 Alfons Reckermann: [Art.] Kunst, Kunstwerk II. Der Kunst-Begriff vom Hellenismus bis zur Aufklärung. In: HWPh 4, S. 1365–1378, hier S. 1373. 452 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 91. 453 Dies hat zwar seine auch vorreformatorische und sogar vorbaconsche Tradition: Schon Paracelsus war bereits relativ „unbeeinflußt von teleologischen Prinzipien“ (Vgl. Erwin Metzke: Erfahrung und Natur in der Gedankenwelt des Paracelsus (1939). In: Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte. Hg. von Karlfried Gründer. Wittenberg 1961 (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 19), S. 20–58, S. 47). Insofern hatte schon bei ihm jede Spekulation über das Wesen Gottes gefehlt. Sie fehlte jedoch gerade in Anerkennung der Gottesinstanz, insofern bei ihm „in der Gottes-Erfahrung […] die Besinnung auf die Natur als die unverfügbare Wirklichkeit [erfolgt], innerhalb derer als begrenzender und tragender Macht, über die sich das Leben weder erheben kann noch soll, der Mensch seine Existenz hat“ (Ders.: Mensch, Gestirn, Geschichte bei Paracelsus (1941). In: Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte. Hg. von Karlfried Gründer. Wit-
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bare Wirklichkeit, wie sie die ‚Scientific Revolution‘ bestärkte. Sie ist deshalb von Gott dergestalt getrennt, dass der ungehindert mögliche Zugang zur Wirklichkeit gerade nichts mehr mit Gotteserkenntnis zu tun hat, mehr noch: Dieser Zugang hat seine Möglichkeitsbedingung gerade darin, dass die natürliche Wirklichkeit von Gottes letztlich unhintergehbaren Beschlüssen nicht durchdrungen ist. Das eben ist auch im Schlussvers von Gryphius’ Dreifaltigkeitssonett ausgesagt. Erst so wird der Unterschied von Gott und Welt sowie ihrer jeweiligen Erkenntnis kategorisch. Diese Kategorizität wird gleichermaßen von der neuen Epistemologie begründet und von der reformatorischen Theologie begrüßt: Selbst die Schrift liefert nur beschränkten Aufschluss über Gott und dementsprechend hatte sich auch schon in Luthers Augen die Theologie von dem Versuch zu distanzieren, Gottes Wesen verstehen zu wollen.454 Die einzig vorliegende Stelle, an der Andreas Gryphius Bacon ausdrücklich anführt und zitiert, zeugt davon, dass er bei Francis Bacon eine gleichzeitig wissenschaftlich behutsame und im Anspruch zurückhaltende Haltung realisiert sah. In der Dissertatio funebris Schlesiens Stern in der Nacht (1649) heißt es: Verulamio redet sehr vernnfftig / wenn er spricht: Ein trefflicher Artzt und weltweiser Mann bekomme kaum ein Werck vor sich / in welchem er seiner Kunst und Tugend rechte Probe geben knne; sondern der Ausgang bringe beyderseits die Ehre darvon. Woraus denn ein gar ungerechtes Urtheil entstehe / weil ja der wenigste erkenne / ob der Krancken Tod oder Gesundheit / und des gemeinen Wesens Untergang oder Erhaltung dem unversehenem Fall oder wolbedachtem Rath zuzuschreiben. (GdW 9, Schlesiens Stern in der Nacht, S. 36–50, hier S. 44)
Die Einschränkung auf den Arzt und Politiker erfolgt dabei nicht aus systematischen, sondern aus gelegenheitspoetischen Gründen, ist doch der Verstorbene der ehemalige Grünberger Syndikus und schwedische Oberkriegskommissar Sigismund Müller (1612–1649). Hinter der in der Marginalie nur groben Zitatangabe „IV. de Augmento Scient.“ verbirgt sich Bacons Feststellung im zweiten Kapitel des vierten Buches, dass für alle Wissenschaften und Künste gleichermaßen das Problem der „Veränderlichkeit und Verschiedenheit“ der Dinge gelte. Der Fachmann ist in Ermangelung umfassenden Wissens dergestalt auf Mutmaßungen angewiesen, dass er nicht nach dem Erfolg und dem Ergebnis selbst beurteilt werden dürfe, sondern nur nach seiner Tüchtigkeit und Verrichtung:
tenberg 1961 (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 19), S. 59–116, hier S. 114f.) 454 Vgl. Martin Seils: [Art.] Gott VII. Renaissance und Reformation 2. Reformation a) Luther. In: HWPh 3, S.751–753, hier S. 753.
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Ergo demum ista subjecti inconstantia et varietas artem reddidit magis conjecturalem; ars autem tam conjecturalis cum sit, locum ampliorem dedit non solum errori, verum etiam imposturæ. Siquidem omnes aliæ propemodum artes et scientiæ virtute sua et functione, non successu aut opera, judicantur. […] At Medicus, et fortasse politicus, vix habent actiones aliquas proprias quibus specimen artis et virtutis suæ liquido exhibeant; sed ab eventu præcipue honorem aut dedecus reportant, iniquissimo prorsus judicio. Quotus enim quisque novit, ægroto mortuo aut resituto, item republica stante vel labante, utrum sit res casus an consilii?455
Gryphius kapriziert sich auf den von Bacon stark gemachten „unversehenen Fall“, der den seriösen Fachmann Abstand von der Hybris des Vollkommenheitsanspruchs nehmen lässt, mit anderen Worten: Abstand davon, ‚Gott zu spielen‘. Hinsichtlich der innersäkularen Systematik von Varianz und Kontingenz gilt für alle Künste die Limitation des epistemologischen Erfolgsanspruchs. Dies muss für Bacon a fortiori für die Erkenntnis von Gottes Willen gelten. Der Empirist Bacon sah sein naturwissenschaftliches Weltbild mit entscheidenden Dogmen der Schrift wesentlich vereinbar: Zwar strebt der forschende Mensch nach abgesichertem Wissen. Gerade im Hinblick auf Gottes Willen scheint für Bacon dieser Erkenntnisanspruch mit guten Gründen ausgeschlossen. Schon der Versuch scheint gefährlich zu sein, wie seine Schrift Of interpretation of nature verdeutlicht: For if any man shall think by view and inquiry into these sensible and material things, to attain to any light for the revealing of the nature or will of God, he shall dangerously abuse himself. It is true that the contemplation of the creatures of God hath for end (as to the natures of the creatures themselves) knowledge, but as to the nature of God, no knowledge, but wonder […] so doth the sense discover natural things, but darken and shut up divine. And this appeareth sufficiently in that, there is no proceeding in invention of knowledge but by similitude; and God is only selflike, having nothing in common with any creature, otherwise than in shadow and trope.456
Bacon kommt unter zwei Prämissen zum Schluss einer wissenschaftlich unmöglichen Gotteserkenntnis. Da ist erstens das wissenschaftstheoretische Argument des induktiven Empirismus: Wissen wird durch die Ähnlichkeit der Phänomene
455 Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum (Libri I–VI). In: The Works. Ed. by James Spedding, Robert Leslie Ellis, Douglas Denon Heath. Vol. 2. New York, Boston 1864, S. 97– 498, hier S. 321f. 456 Francis Bacon: Of interpretation of nature. In: The Works. Ed. by James Spedding, Robert Leslie Ellis, Douglas Denon Heath. Vol. 3. London 1857, S. 217–252, hier S. 218 [Hervorhebung O.B.]; vgl. Ulrich Dierse: [Art.] Gott VIII. Der philosophische Gottes-Begriff vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: HWPh 3, S. 756–783, hier S. 756f.
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generalisierend erschlossen. Da ist zweitens ein theologisches Dogma, nämlich die auch von Bacon schlicht gesetzte Einmaligkeit Gottes. Wissenschaftliche, epistemologische und methodologische Neuerungen gehen mit fundamentaltheologischen Doktrinen bisweilen noch Hand in Hand, und dies auch bei einer „Persönlichkeit der Zeitenwende“ wie Bacon.457 Dabei ist bemerkenswert, dass es nicht mehr allein das theologische Dogma ist, das auf den wissenschaftlichen Anspruch limitierend wirkt. Dieses kommt bei Bacons Argumentation ‚nur‘ noch im Untersatz zur Geltung. Entscheidend kommt das genuin wissenschaftliche Argument im Obersatz zum Tragen. Es setzt mit dem Kriterium der Ähnlichkeit gerade selbst die Grenze. Mit der Akzeptanz der zweiten, theologischen Prämisse wird diese Grenze berührt: Da gilt, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur durch den Vergleich mehrerer ähnlicher Phänomene möglich ist (Obersatz), und da ebenso gilt, dass Gott einmalig ist (Untersatz), lautet Bacons Schluss konsequent, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis von Gott unmöglich ist.
4.3.3.2 Descartes’ epistemologisch-rationalistische Anerkennung der Offenbarungsautorität René Descartes’ Denken scheint Gryphius schon früh bekannt gewesen zu sein. Denn unter den Kollegien, die Gryphius in Leiden hielt, hebt Baltzer Siegmund von Stosch eines hervor, in dem Gryphius „Philosophiam Peripateticam und Neotericam“ verglich.458 Der umwälzende Charakter von Descartes’ Denkens ist unbestritten. Dennoch sieht sich die Philosophiegeschichtsschreibung gegenüber vereinfachenden Zuschreibungen zurecht wiederholt in der Pflicht, denjenigen Irrtum zu betonen, Descartes artikuliere mit der umfassend rationalistischen Erklärbarkeit der Welt immer auch einen umfassenden Erkenntnisanspruch über Gottes Willen.459 Indem Descartes göttlichen Intellekt und Willen verschränkt, entzieht er gerade nur der Teleologie ihre göttliche Grundlage: Gott schafft die Welt als causa efficiens, genauso wie er der Schöpfer der Wahrheiten ist.460 Insofern zehrt Gryphius auch von der cartesischen Tradition. Um die Beseitigung der Teleologielehre war es diesem nämlich nicht nur zum Zweck der
457 Röd: Die Philosophie der Neuzeit I, S. 21. 458 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 32; vgl. Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, S. 132f.; Szyrocki: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk, S. 30. 459 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes; Shapin: Die wissenschaftliche Revolution, S. 180. 460 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 185.
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Anerkennung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu tun. Auch der frei wollende Gott ließ sich verteidigen. Die Frage nach einer Descartes-Rezeption Gryphius’ wurde von der Forschung wiederholt gestellt, aber eher zurückhaltend oder gar nicht beantwortet. Das Interesse für einen cartesischen Kontext des Schlesiers ist dabei mit dem gleichzeitigen Aufenthalt Gryphius’ und Descartes’ in Leiden biographisch zwar gut begründet. Die Exklusivität dieses Interesses allerdings scheint unzulässig aus einem bestimmten philosophiegeschichtlichen Fokus zu resultieren, nämlich dem auf umfassende Systementwürfe – weshalb eben auch Bacon zur Sprache kommen musste.461 Dabei ist in dieser Studie nicht der Ort, exhaustiv Systeme abzugleichen. Für das hiesige Vorhaben ist es schließlich nicht notwendig. Parallelen zwischen dem Denken Gryphius’ und Descartes’ sind hier eben nur im Hinblick auf die rechts- und politisch-theologischen Zuspitzungen aufzuzeigen, wie sie für Gryphius von Bedeutung sind. In der Tat darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass die Geltung göttlichen Rechts metaphysischen Möglichkeitsbedingungen anhängig ist. Diese dürfen nicht deshalb schon unter den Tisch fallen gelassen werden, nur weil sie selbst noch nicht rechtstheologisch sind. Das betrifft zum Ersten den Status des vollkommensten Wesens als Verursacher der je nur unvollkommenen Dinge, mithin deren ausnahmslose Verursacht- und nicht Zweckgerichtetheit. Zum Zweiten betrifft es das damit aufgeworfene Problem eines natürlichen Rechts und die Auflösung der emimenten Geltungsfrage im göttlichen Willen und seiner Offenbarung. Die einzige explizite Bezugnahme Gryphius’ auf Descartes findet sich abermals in einer Leichabdankung, Winter=Tag Menschlichen Lebens (1653). Bezeichnender Weise bezieht sich Gryphius hier auf den Essay Les Météores (1637),462 der ebenso wie die Dioptrik und Geometrie dem epochemachenden Discours de la méthode angehängt war. Descartes’ Meteorologie als Wissenschaft derjenigen offenbar unregelmäßigen, traditionell als wundersam empfundenen Phänomene gehört genau so in das Systemganze seines Rationalismus wie das Cogito, die Geometrie und Dioptrik. Dass der Gegenstand dieser Schrift ein per se empirischer ist, hat zu schon allein editorischen Irrtümern geführt: Der Discours wurde
461 Vgl. Wolfgang Röds Kritik allein an dieser philosophiehistorischen Konzeption: Die Philosophie der Neuzeit, S. 14: „Wenn man das 17. Jh. vor allem als die Zeit Descartes’, Hobbes‘ und Spinozas [...] und nicht sosehr als die Zeit Bacons und Gassendis betrachtet, dann erklärt sich aus dem Umstand, daß die ersteren, anders als die letzteren, philosophische Systeme schufen, die auf wenigen, dem Anspruch nach vernünftig einzusehenden Prinzipien beruhten. Die umfassenden Systementwürfe wirken meist eindrucksvoller als die Ergebnisse eines Denkens, das sich nicht im Rahmen von Systemen entfaltet.“ 462 Gryphius bezieht sich auf die Formen von Schneekristallen: GdW 9, Winter-Tag Menschlichen Lebens, S. 94–121, hier S. 116.
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schon früh von den drei Essays entkleidet ediert. Die empirischen Gegenstände der Essays erschienen offensichtlich als Fremdkörper gegenüber der rationalistischen Grundlagentheorie des Discours. Wie Claus Zittel in seiner Edition der Météores zurecht erinnert, trügt dieser Schein: Der Anspruch, mit Hilfe des Rationalismus je nur rationale Gegenstände handhaben zu können, wäre nicht nur banal, sondern ist schlicht nicht der Anspruch des Descartes.463 Eine solche reduktionistische Edition des Discours ereignete sich bereits zu Gryphius’ Lebzeiten, in der englischsprachigen Londoner Drucklegung von 1649,464 d.h. nur zwölf Jahre nach Erscheinen der französischsprachigen Erstausgabe. Diese Reduktion blieb jedoch zwischen der Erstausgabe 1637 und Gryphius’ Tod 1664 die einzige: Alle vordringlich in Amsterdam und Leiden gedruckten französisch-, lateinisch- und holländischsprachigen Ausgaben umfassten auch ‚den empirischen Descartes‘,465 der in den Météores laufend Bacon zitiert.466 Und wie zu sehen ist, verliert gerade Gryphius diesen Descartes nicht aus dem Blick. In einem Brief vom April 1637 stellt Descartes klar, dass die Behandlung der Meteore scharfe und geduldige Beobachtung genauso verlangt wie gediegene Reflexion von deren Ergebnissen. Deshalb sieht er hierin ein Beispiel gerade rein philosophischer Beschäftigung.467 Descartes’ rationalistisches Vorhaben wollte
463 Claus Zittel: Einleitung [zu Descartes’ ‚Les Météores / Die Meteore‘]. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 10 – 1/2 (2006), S. 1–28, hier S. 5f.: „Der Discours de la Méthode war nur die Einleitung zu einem Corpus von Essays, das aus der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie bestand. […] Die schon früh vorgenommene und seither fast immer beibehaltene gewaltsame editorische Trennung und separate Rezeption dieser Einleitung von den die Methode exemplarisch vorführenden Essays ist daher Faktor und Symptom zugleich für das bis heute vorherrschende reduktionistische Descartesbild“. Dieses reduktionistische Descartesbild führt vor allem in der Rezeptions- und Bildungsgeschichte zu Irrtümern, z.B. Edward G. Ruestow: Physics at 17th and 18th-Century Leiden: Philosophy and the New Science in the University. Den Haag 1973, S. 89: „Descartes had sought that certainty which only rational demonstration from indubitable first principles could ensure. The bias of his method was towards the purely mental, and he opposed the powers of the isolated mind to the uncertain experience of the senses“. Natürlich war der Irrtum bald historischer Fakt; jedoch droht die wirkungsgeschichtliche Rekonstruktion fehlzutreten, wenn sie von den Irrtümern der Rezipienten auf den entsprechenden Irrtum des Rezipierten schließt. 464 René Descartes: A discourse of a method for the well-guiding of reason, and the discovery of truth in the science. London 1649. 465 Verwiesen sei hier auf die Suchergebnisse der elektronischen Verbundkataloge, vor allem des Karlsruher Virtuellen Katalogs, zum betreffenden Zeitraum 1637–1663. 466 Zittel: Einleitung [zu Descartes’ ‚Les Météores / Die Meteore‘], S. 15. 467 René Descartes: Descartes a *** [Leyde? 27 avril 1637]. Correspondance LXXIV. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam; Paul Tannery. Vol. 1. Paris 1897, S. 368–371, hier S. 370: „Ie propose à cet effet vne Methode generale, laquelle veritablement ie n’enseigne pas, mai ie tasche d’en donner
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gerade auch die Erfahrungswissenschaften subsumieren können,468 ohne sich ihnen mit einem unangemessenen Apriori deduktiven Vorgehens einfach nur aufzudrängen: Der mos geometricus ist für Descartes eine vermehrt analytische Methode.469 In eben dieser Gestalt wird der geometrischen Methode von Gryphius im Epigramm Uber die Erd=Kugel gehuldigt (4.3.1). Wenn Gryphius daher Descartes’ Météores benutzt, verliert er gerade nicht aus dem Blick, dass sie dem Discours auch systematisch anhängig sind. Descartes’ pointierte Polemik wider die Wundertätigkeit in der Natur zum Beginn und Ende der Meteorenschrift musste starken scholastischen wie allgemein religiösen Widerspruch erfahren: Als umso stärker hat daher Gryphius’ Überzeugung zu gelten, dass diese Polemik den wollenden Gott, wie ihn der Discours und die Principia philosophiae stark machten, nicht nur nicht trifft, sondern sich in das dort begründete Systemganze des epistemologischen Rationalismus einfügt. Gerade die Verve, mit der Descartes ausgerechnet das bislang als göttlich überhöhte Unverstandene als „leicht zu verstehen“ bezeichnet, musste unter Zeitgenossen den Eindruck einer Hybris regelrecht erzwingen: „[I]’espere que ceux qui auront compris tout ce qui a esté dit en ce traité, ne verront rien dans les nuës a l’auenir, dont ils ne puissent aysement entendre la cause, ny qui leur
des preuues par les trois traitez suiuans, que ie joins au discours où i’en parle, ayant pour le premier vn sujet meslé de Philosopie & de Mathematique [i.e. la Dioptrique]; pour le second, vn tout pur de Philosophie [i.e. les Météores]; & pour le 3(e), vn tout pur de Mathematique [i.e. la Géométrie], dans lesquels ie puis dire que ie ne me suis abstenu de parler d’aucune chose, (au moins de celles qui peuuent estre connuës par la force du raisonnement), pource que i’ay crû ne la pas sçavoir; en forte qu’il me semble par là donner occasion de iuger que i’vse d’vne methode par laquelle ie pourois expliquer aussi bien toute autre matiere, en cas que i’eusse les experiences qui y seroient necessaires, & le temps pour les considerer“ [Hervorhebung O.B.]. Bei dem Empfänger handelte es sich vermutlich um einen Freund von Marin Mersenne (1588–1648; vgl. S. 368). 468 Vgl. als Beispiel eines Philosophiehistorikers, auf den Zittels Reduktionismusverdikt nicht zutrifft Bernard Williams: Descartes. Das Vorhaben der reinen philosophischen Untersuchung. Aus dem Engl. v. Wolfgang Dittel u. Annalisa Viviani. Königstein i.T. 1982, S. 16 und S. 220–222. 469 Vgl. nach wie vor führend Hans Werner Arndt: Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1971 (Quellen und Studien zur Philosophie 4), S. 47: „Der enge Zusammenhang, der für Descartes zwischen dieser als einer allgemeinen, den einzelnen Wissenschaften übergeordneten Grundlehre der mathematischen Wissenschaften und dem Gedanken einer Einheit aller Wissenschaften besteht, welche die ‚sapientia humana‘ ausmachen, wird in den ‚Regulae‘ deutlich und ist in der Literatur oft hervorgehoben worden. Dieser Zusammenhang kommt jedoch bei Descartes nicht in einer tatsächlich unternommenen Untersuchung und Darstellung der deduktiven Abhängigkeit der einzelnen Wissenschaften zum Ausdruck“. Vgl. Carl Friedrich Gethmann: [Art.] Methode, analytische/synthetische. In: HWPh 5, S. 1332–1336, hier S. 1333.
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donne suiet d’admiration“.470 Unter dem Eindruck der rhetorischen Wucht, mit der Descartes eine Übernatürlichkeit im Natürlichen bestreitet, formierte sich der Irrtum einer Descartes-Kritik, er leugne Gottes Macht. Dabei zeigt im Grunde schon Descartes’ Formulierung zu Beginn des Traktats, dass es vielmehr die traditionellen Zuschreibungen seien, die Gottes Status unterschätzen: Sie lozieren Gott in einer zwar ihnen unverständlichen, aber nichtsdestoweniger sichtbaren Sphäre: „[T]outefois a cause quil faut tourner les yeux vers le ciel pour les [i.e. les nuës] regarder, nous les imaginons si relevées, que mesme les Poëtes & les Peintres en composent le throsne de Dieu“.471 Gott aus der Natur herauszuhalten, dient ‚nur‘ auf der einen Seite der Rationalisierung der diesseitigen Welt. Auf der anderen Seite vermeidet Descartes damit gerade, Gott so nah an die Welt zu holen, wie es der notwendig äußerlichen Position eines allmächtigen Schöpfers nur inadäquat sein kann: Deshalb ist für Descartes mit den Wolken eben nicht der Ort von Gottes Thron gefunden. Jede Zuschreibung eines konkreten Ortes in der Welt ist gegenüber dem allmächtigen Gott anmaßend. Die Erhöhung (relevées) der Wolken kann nur eine scheinbare (imaginons), schlussendlich vor allem aber nur eine falsche sein, da sie doch den Augen (tourner les yeux vers le ciel) sichtbar sind und bleiben. Falsch kann Descartes diese Vorstellung allerdings nur unter den wesentlichen Maßgaben einer voluntaristischen Allmachtstheologie sein: Der rationalistische Impetus hätte für sich gar nicht hingereicht, um hinter einem erklärbaren Phänomen schon Gottes Sitz zu leugnen, nur weil es nunmehr erklärbar ist. Ein solcher Impetus hätte Gottes Sitz im Erklärbaren rundheraus affirmieren können, um allererst so einen absoluten Erkenntnisanspruch zu artikulieren. Daher kann das ebenso entschiedene wie selbstverständliche Ausschließen Gottes aus dem Rationalisierbaren selbst gar nicht rationalistisch erfolgen: Es folgt allein einer bestimmten, genuin theologischen Überzeugung. Damit wird deutlich, dass der theologische Voluntarismus Descartes’ nicht bloß „ein nur nicht konsequent überwundener Restbestand überholter Scholastizität“ ist, wie Jürgen Goldstein zurecht herausarbeiten konnte.472 Denn in der Tat hat „die Annahme, daß Gott in seiner Allmacht die ewigen Wahrheiten wie ein König erlassen hat, […] erkennbare Konsequenzen für die Integrität der humanen Vernunft“.473 Diese nämlich kann sich nur deshalb auf die Dauerhaftigkeit der
470 René Descartes: Les Météores / Die Meteore. Faksimile der Erstausgabe 1637. Hg., übers., eingel. und kommentiert von Claus Zittel. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 10 – 1/2 (2006), S. 30–305, hier S. 302–304 [Hervorhebung O.B.]. 471 Ebd., S. 30. 472 Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 101. 473 Ebd., S. 116.
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Ordnung in der Welt verlassen, weil ein autonomer und mächtiger Gott sich weder widerspruchsvoll in dieser Welt bewegt noch in ihre Gesetze verändernd eingreift.474 Dass dieser Eingriff ausbleibt, folgert Descartes dabei weniger aus dem Allmachtsbegriff selbst als aus einem Verständnis von Vollkommenheit, das Gottes Güte je schon impliziert: Primum Dei attributum quod hîc venit in considerationem, est, quòd sit summè verax, & dator omnis luminis: adeò ut plane repugnet ut nos fallat, sive ut propriè ac positive sit causa errorum, quibus nos obnoxios esse experimur. Nam quamvis forte posse fallere nonnullum ingenii argumentum apud nos homines esse videatur, nunquam certè fallendi voluntas nisi ex militia vel metu & imbecillitate procedit, nec proinde in Deum cadere potest.475
Täuschen ist stets die unzweifelhafte Folge von Bosheit, Furcht oder Schwäche und kann darum nie von Gott gelten.476 Mit dieser Verteidigung des frei wollenden Gottes vermag Descartes Ansprüche der christlichen Metaphysik einzuholen, die ihr mit dem Bezug auf Aristoteles’ Bewegungslehre nicht hat gelingen können: Wie Blumenberg zeigt, hat sich die mittelalterliche Scholastik ihren Hemmschuh selbst angezogen, indem sie Bezug nahm auf Aristoteles’ ersten Beweger. Dieser jedoch sah nur die initiale Bewegung bereits vorhandener Materie vor, nicht noch deren Erschaffung aus dem Nichts.477 Wenn daher Descartes gegen scholastische Traditionen opponiert, dann besonders gegen deren Pseudoaristotelismus.478 Er
474 Ebd., S. 118: „Die Reflexion des Auseinanderfallens von göttlicher Schöpfungskreativität und humaner Verstandes-kapizität soll zur cartesischen Grundbedingung gehören, über die Natur ‚richtig zu philosophieren‘. Die Beachtung des theologischen Voluntarismus wird dadurch zu einer Grundbedingung des cartesischen Rationalismus.“ 475 René Descartes: Principiorum Philosophiae Pars Prima. De principiis cognitionis humanae. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam, Paul Tannery. Vol. 8/1. Paris 1905, S. 5–39, hier S. 16. 476 Inwiefern dies im Grunde einen ‚Taschenspielertrick‘ Descartes’ darstellt, insofern die bonitas Dei dessen einmal sub specie creationis manifestierten Willen durchaus rationalisierbar macht, ist hier nicht der Ort zu diskutieren. Wenn Goldstein festhält, „[d]ennoch läßt Descartes keinen Zweifel daran, daß Gott nicht der Verwirklichungstendenz seiner Bonität unterliegt, da er erst durch seinen Entscheid festlegt, was als gut anzusehen ist“ (Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 111), so wäre demgegenüber durchaus einzuwenden, wie Gott gegen seine Güte verstoßen können solle, wenn ein solcher Verstoß gar nicht als ein solcher zu verstehen wäre, sondern als eine Änderung dessen, was als gut zu gelten hat. 477 Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, S. 166f. 478 Ebd., S. 170: „Zwar sollte Aristoteles der Bezugspunkt der Selbstabstoßung und Gegenformierung der neuzeitlichen Wissenschaft werden; aber genauer muß festgestellt werden, daß in entscheidenden Punkten ganz einfach eine Art Pseudoaristotelismus der Scholastik den Bezugspunkt der Gegnerschaft abgibt.“
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konnte ihren eigentlichen, von Descartes konsentierten Anspruch nur behindern, „im Begriff der Kontingenz erst die radikale Auslegung des Schöpfungsgedankens“ zu finden.479 Wenn Descartes Gottes einmal sub specie creationis manifestierten Willen als ebendort unveränderlich denkt, erklärt er Gott als reine causa efficiens und mit ihm jede Relation als Wirkursächlichkeit. Denn Finalursachen anzunehmen und zu erwägen, ist Descartes hinsichtlich der Gott unzählig möglichen Ratschlüsse ohne Vermessenheit nicht möglich: Es hieße, Gottes Willensabsichten erkennen zu wollen. Diese allmachtstheologische Dimension der Verabschiedung der Teleologie ist weder in den Principia philosophiae noch in den Meditationes de prima philosophia zu übersehen: Ita denique nullas unquam rationes, circa res naturales, à fine quem Deus aut natura in iis faciendis sibi proposuit, desumemus: quia non tantum nobis debemus arrogare, ut ejus consiliorum participes esse putemus. Sed ipsum ut causam efficientem rerum omnium considerantes […].480 Cùm enim sciam naturam meam esse valde infirmam & limitatam, Dei autem naturam esse immensam, incomprehensibilem, infinitam, ex hoc satis etiam scio innumerabilia illum posse quorum causas ignorem; atque ob hanc unicam rationem totum illud causarum genus, quod a fine peti solet, in rebus Physicis nullum usum habere existimo; non enim absque temeritate me puto posse investigare fines Dei.481
Es ist dies das Vermessenheitsverdikt gegen eine aristotelische Naturphilosophie, wie es schon den Eingang des von Gryphius gelesenen Meteorentraktats auszeichnet. Der theologische Voluntarismus drängt auf eine teleologiefreie Naturphilosophie genauso wie auf die Annahme einer voraussetzungslosen, nur in diesem freien Willen gründenden Schöpfung aus dem Nichts, wie sie Gryphius im Sonett An GOtt den Vater so stark macht (4.3.1). Selbstbewegt ist nurmehr Gott. Die Dinge hingegen verharren selbst in Ruhe, solange sie nicht von einer stets ihm äußerlichen und damit Wirkursache angestoßen und so in Bewegung gebracht werden.482
479 Ebd., S. 165. 480 Descartes: Principiorum philosophiae pars prima, S. 15f. 481 Ders.: Meditationes de prima philosophia. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam, Paul Tannery. Vol. 7. Paris 1904, S. 17–90, hier S. 55. 482 Ders.: Principiorum philosophiae Pars Secunda. De principiis rerum materialium. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam; Paul Tannery. Vol. 8/1. Paris 1905, S. 40–79, hier S. 62: „Atque ex hac eâdem immutabilitate Dei, regulæ quædam sive leges naturæ cognosci possunt, quæ sunt causæ secundariæ ac particulars diversorum motuum, quos in singulis corporibus advertimus. Harum prima est, unamquamque rem, quatenus est simplex & indivisa, manere, quantum in se est, in eodem simper statu, nec unquam mutari nisi à causis externis.“
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Die nonnormativen, deskriptiven Vorteile dieses ersten Schrittes einer Entteleologisierung der Wissenschaften bestehen nur zum Einen in der Rettung eines theologischen Voluntarismus. Zum anderen vermag die vermehrt wirkursächliche Anlegung der Welt Katastrophen zu plausibilisieren, mit welchen gerade das siebzehnte Jahrhundert massiv aufbot. Ereignisse streben als Lauf der Natur nicht per se auf ein bestimmtes Ziel zu. Insofern stellt es keinen Widerspruch zu einem etwaigen guten Telos der Natur dar, wenn sie dieses Telos nicht erreichen. Der vordergründige normative, präskriptive Nachteil erwächst allerdings gerade erst aus dieser Weltsicht: Denn was ist nun noch der Geltungsgarant eines Naturrechts, das seinem Begriffe nach immer teleologisch angelegt ist, wenn dieses Telos an der Natur gar nicht mehr abgelesen werden kann? Es darf im Hinblick auf diese Frage nicht übersehen werden, dass Descartes den Entelechie-Ausschluss auf den Bereich der körperlichen Natur beschränkt: „[T]otum illud causarum genus, quod a fine peti solet, in rebus Physicis nullum usum habere existimo“.483 Die menschliche und Gesellschaftsgeschichte ist im Unterschied zur Naturgeschichte eine Gemengelage aus der wirkursächlich bestimmten, für unumgängliche Wirkungen nicht zur Verantwortung zu ziehenden Veranlagung des Menschen als res extensa einerseits und seiner davon unterschiedenen Seelen- und Erkenntniskraft als res cogitans andererseits.484 Letztere wiederum ist im Hinblick auf den handlungstheoretischen Rahmen durchaus in der Lage, Teloi zu bestimmen und zu verfolgen. Dass diese unter Einwirkung widriger Gegenwirkungen bisweilen nicht verwirklicht werden können, war im Grunde schon jeder Imputationstheorie bewusst, die nicht mehr auf einem plumpen Erfolgsprinzip aufbaute. Descartes traktiert diese Lücke einer Ethik und Moralphilosophie nie eigens und ausführlich,485 sondern versucht sie durch eine provisorische Ethik zu schließen. Im Unterschied zum radikalen Zweifeln der theoretischen Vernunft orientiert sie sich doch an tradierten Normen, solange diese bewährt sind, und erfolgt durch das Abwägen von lang- und kurzfristig günstigeren Handlungen.
483 Ders.: Meditationes de prima philosophia, S. 55. 484 Im Vokabular der gegenwärtigen Handlungs- und Entscheidungstheorie wäre dies mit einer Mischung aus der physikalischen Einstellung und der intentionalen Einstellung ausdrückbar: Detel: Philosophie des Sozialen, S. 13. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass eben die gegenwärtige Handlungstheorie auch Intentionen letztlich auf den Charakter von Wirkursachen herunterzubrechen versteht: ebd., S. 17f. 485 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 284: „Sämtliche Äußerungen, die Descartes zur Moralphilosophie gemacht hat, gehen aber nicht über das Maß einer provisorischen Moral (vne morale par prouision), wie er sie nennt, hinaus“. Auch Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650, S. 761.
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Dieser Neostoizismus ist mit seiner Güterabwägung so gesehen kein Wertelieferant. Bei Descartes tritt er nicht einmal mehr mit einem solchen systematischen Anspruch an. Vielmehr ist er im strengen Sinne eine Verhaltensethik. Sie gewinnt Verhaltensregeln gegenüber anderen Menschen nicht aus schon Gewissheit beanspruchenden sittlichen Normen. Descartes’ Stoizismus ist vielmehr auf höherer Ebene eine Ethik, die sich gerade dem Mangel schon gewisser Fundamentalnormen gegenüber zu verhalten erlauben soll.486 Zu diesem neostoizistischen Provisorium, das gerade „ohne die Hilfe der Religion oder der Philosophie“ auskommen soll, wie der Untertitel der Recherche de la verité betont,487 gesellt sich in den Principia philosophiae die Autorität der Offenbarung. Zwar reflektiert Descartes dort nicht den normativen Gehalt der Heiligen Schrift und wendet diese Normen und Vorschriften entsprechend nicht auf seine ethischen Überlegungen an. Allerdings liefert Descartes durchaus ein – von ihm selbst unausgeschöpftes – Angebot zur Frage moralischer Normgeltung, und zwar im Hinblick auf eine nicht bloß provisorische Entscheidungslehre, sondern eine Gewissheit beanspruchende und damit manifeste Normenkenntnis. Denn der Offenbarung gesteht Descartes die immer schon größere Glaubwürdigkeit zu, selbst „wenn das Licht der Vernunft auf das Klarste und Einleuchtendste etwas Anderes darzubieten scheint“: Præter cætera autem, memoriæ nostræ pro summâ regulâ est infigendum, ea quæ nobis à Deo relevata sunt, ut omnium certissima esse credenda. Et quamvis fortè lumen rationis, quàm maxime clarum et evidens, aliud quid nobis suggerere videtur, soli tamen authoritate divinæ potiùs quam proprio nostro judicio fidem esse adhibendam.488
Entsprechendes hätte in der Folge für das geoffenbarte Sittengesetz Gottes zu gelten. Diese Folgerung zieht Descartes selbst nicht. Gerade sie bietet jemandem wie Gryphius eine valide Alternative zu einem solchen Denken, das die Teleologie nicht nur wie Descartes aus der Physik, sondern auch aus der Metaphysik verabschiedet. Erst hier wird eine universale Rechtsgeltung jenseits der allein wir-
486 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 285. 487 René Descartes: La recherche de la vérité par la lumière naturelle. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam, Paul Tannery. Vol. 10. Paris 1908, S. 495–514, hier S. 495: „La Recherche de la vérité par la lumière naturelle Qui toute pur, & sans emprunter le secours de la Religion ni de la Philosophie, determine les opinion que doit avoir un honneste homme.“ 488 Ders.: Principiorum Philosophiae Pars Prima, S. 39. Vgl. schon an früheren Stellen: „Ita si fortè nobis Deus de se ipso vel aliis aliquid relevet, quod naturales ingenii nostri vires excedat, qualia jam sunt mysteria Incarnationis & Trinitatis, non recusabimus illa credere, quamvis non clarè intelligamus.“ (S. 14) und „[M]emores tamen [sumus], ut jam dictum est, huic lumini naturali tamdiu tantùm esse credendum, quandiu nihil contrarium à Deo ipso relevatur.“ (S. 16).
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kursächlichen Willensleistung des Menschen denkunmöglich. Möchte Gryphius die sittlich normative Kraft Gottes als ubiquitäre und nicht nur jenseitig-heilsgeschichtliche beibehalten, muss er diese bei Descartes angelegte Alternative nutzen, um nicht den Weg einer allererst absolut anentelechischen Denkweise mitgehen zu müssen.
4.3.4 Thomas Hobbes: Eliminierung der Vier-Ursachen-Lehre und Selbsterhaltungstrieb Diesen Weg schlug Gryphius’ unmittelbarer Zeitgenosse Thomas Hobbes ein. Seine Rechtsphilosophie hat daher als Horizont- und Fluchtpunkt der Debatten zu gelten, die hier referiert werden. Hobbes vollzieht einen Bruch in der Staatsrechtslehre, wie ihn die bisherigen Theorien, ob sie nun vordergründig scholastisch oder antischolastisch gesinnt waren, nicht erbracht hatten. Auch an dieser Stelle ist es im Hinblick auf das Vorhaben entscheidend, denjenigen Aspekt zu erfassen, der für Gryphius’ Rechtsdenken ideenhistoriographischen Aufschluss verspricht. Während Gryphius’ Bezugnahmen auf Machiavelli aus den Dramentexten selbst, auf Bacon und Descartes aus den Leichabdankungen augenscheinlich bzw. explizit erfolgen, ist ein direkter Hobbes-Bezug des Schlesiers nur schwer zu belegen. Es ist auf der einen Seite nicht ausgeschlossen, dass Gryphius die 1647er Amsterdamer Ausgabe Elementa philosophica de cive schon druckfrisch bei Elzevir zu Gesicht bekommen hat.489 Schließlich hielt er sich im Juli 1647 in Amsterdam auf, wie sein Brief an Johann Heinrich Boecler belegt.490 Auf der anderen Seite war die erste Auflage von De cive (1642) so klein gewesen, dass z.B. Günter Gawlick ihr eine geringe, den nachfolgenden Auflagen allerdings immense Wirkung bescheinigt.491 Immerhin zeugt eben jener Brief an Boecler von Gryphius’ regem Interesse am Fortgang der englischen Revolution und auch das Schicksal von Charles’ I. Kindern verfolgt er noch bis ins Privateste: Der Brief nennt dabei jedoch nur das eheliche Verhältnis von Prinzessin Mary und William of Orange.492 Ob Gryphius darüber hinaus exakt vom Leben des Prä-
489 Thomas Hobbes: Elementa Philosophica de Cive. Amsterdam 1647. 490 Gryphius: I. H. Boeclero, S.616f. 491 Günter Gawlick: Vorwort des Herausgebers. In: Thomas Hobbes: Vom Menschen / Vom Bürger. Elemente der Philosophie II / III. Eing. u. hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1994 (Philosophische Bibliothek 158), S. IX–XXXIV, hier S. XVIf. 492 Andreas Gryphius: I. H. Boeclero, S. 617: „Inter Arausionesem et sponsam, regis Britanni filiam, gliscunt simultates, cum haec illius vagas libidines, iste huius fastum non aeque ferat. Nuperi ex Anglia rumores immensum hic turbarunt; Fairfaxium ad regem defecisse. Londinum
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tendenten, des künftigen Königs Charles’ II., informiert war, mithin davon, dass eben Thomas Hobbes seit Herbst 1646 der Mathematiklehrer des Prince of Wales war,493 muss Spekulation bleiben. Dasselbe gilt für die Vermutung, dass Gryphius Hobbes schon aus der Pariser Ausgabe von Descartes’ Meditationes de Prima Philosophia von 1641 kannte, in deren Anhang unter anderem Hobbes’ Einwände gegen Descartes abgedruckt sind.494 Zwar hat sich auch Boecler mit Hobbes auseinander gesetzt, jedoch findet sich ein nachweislicher Niederschlag dessen erst in seinem Grotius-Kommentar. Dieser erschien erst 1663/64, kurz vor Gryphius’ Tod (4.2.4.2).495 In früheren Drucken Boeclers, die eine Auseinandersetzung mit Hobbes thematisch durchaus nahegelegt hätten, waren keine Hobbesbezüge zu finden.496 Es existieren keine de dicto-Lektürezeugnisse wie in den Dissertationes funebres und auch keine schlagwortartigen Aufrufe hobbesianischer Theoreme in den Trauerspielen, so dass Figuren etwa vom Recht Aller auf Alles sprächen oder den homo homini lupus in der Rede führten. Zwar klingt Ähnliches in Wilhelm Lauds Rede im Carolus Stuardus an, wenn er die Situation nach der Machtübernahme durch die Independenten wie folgt beschreibt: „Die Herde geht zustreu’t und irr’t in hchster Noth; / Wie wenn der Wolff einreist / und Hirt und Wchter tod“ (Carolus Stuardus B, II,1, S. 76, v. 99f.).497 Allerdings
armis ferme septam, e directoribus comitiorum potissimos celeri fuga Roterodamum appulisse, provincias aliquot, et quod maxime Batavis formidandum, maritimas totumque Tamesin in regis verba iurasse. Adeoque nova videtur et atrocior Britannis imminere tempestas.“ 493 Gawlick: Vorwort des Herausgebers, S. XIIf. 494 Thomas Hobbes: Objectiones tertiae ad Cartesii Meditationes. In: René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia, in qua Dei existentia, & animae immoralitas demonstratur. Sequuntur objectiones… cum responsionibus authoris. Paris 1641, S. 233–271. 495 Vgl. systematisch Hartung: Gesetz und Obligation, S. 393. 496 Durchgesehen wurden: Johann Heinrich Boecler: Orationes Quaedam. Straßburg 1654; De Potentia Civitatum. In Inclyta Argentoratensi Academia, Praeside Ioh. Henrico Boeclero Historiarum Professore Ordinario in publico & Solenni congressu respondebit m. Augusti d. Iacobus Maclier. Straßburg 1655; De Dominio Eminente Disquisitio Politica. De qua in Inclyta Argentoratensium Academia, Praeside Joh. Henrico Boeclero Historiar. Professore, & h.t. Academiae Rectore: Respondebit M. Michael von Oppenbusch. Straßburg 1659; Iosephus Philonis, Siue Bios Πολιτικου, Vita Viri ciuilis. De quo libro in Inclyta ARgent. Academia praeside Jo. Henrico Boeclero, Historiarum Professore prdinario, respondebit in Auditorio Solenni Ioh. Adamus Otto. Straßburg 1660; Qvies in tvrbis sive Societatis bellicae declinatio. De qua in Inclyta Argentoratensi Academia Praeside Jo. Henr. Boeclero Histor. Prof. Ordinario, Collegii Philosof.h.t. Decano In Solenni auditorio respondebit Johannes Sibrandus. Straßburg 1660; De eo qvod civitas egit. In incluta Argentoratensi Academia Praeside Joh. Henrico Boeclero, Historiarum Professore ordinario. publice more Academico respondebit Johannes Zechius. Straßburg 1660. 497 Auch GdW 4, Carolus Stuardus A, I,1, S. 6, v. 99f.
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sind mit dem Wolf allein die Independenten ins Bild gesetzt. Die Wolfsmetapher beschreibt daher hier vermehrt eine Asymmetrie. Hobbes jedoch meint das reziproke Verhältnis eines jeden zu einem jeden als dessen Wolf. De re-Bezüge Gryphius’ auf hobbesianisches Gedankengut werden also zum Einen als besondere Bezüge in den Relektüren noch herauszuarbeiten sein. Zum Anderen ist hier bereits der Charakter der Rechtslehre Hobbes’ zu umreißen, wie er für die Fragen der Souveränität, des Ausnahmezustands und der Geltung transhumanen Rechts bedeutsam ist. Ob Gryphius nämlich Hobbes Schriften gekannt hat oder nicht: Erst Hobbes beantwortet diese Fragen in einer derart neuen Weise, dass seine Zeitgenossenschaft nicht außer Acht gelassen werden darf, um Gryphius’ ideengeschichtliche Stellung beurteilen zu können. Entscheidendes über Hobbes’ Rechtsdenken, besonders den eminent rechtslogischen Charakter seiner Begriffsfindung, brachte bereits die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt in 3.2 zur Sprache. Kurze Erinnerungen des dort Erläuterten werden hier also ausreichen.
4.3.4.1 Vermittelbarkeit der hobbesschen Metaphysik an lutheranische Theologie Wie Julius Ebbinghaus zutreffend festhält, ist Hobbes „der erste moderne Staatsdenker […], der den Bruch mit der peripatetisch-stoischen lex naturalis auf dem moralischen Felde vollzog, nachdem die Physiker es auf dem theoretischen längst getan hatten“,498 nämlich eine Befreiung von natürlichen Zweckmäßigkeiten. Für die vorhobbessianische Naturrechtstradition ist der Zustand der Menschheit, gedacht als natürliche Rechtsgemeinschaft, letztlich ein Zustand prästabilierter Harmonie. Natürlich gibt es Kriege und Verbrechen, diese jedoch sind schon Ausnahmen von diesem Zustand, Verstöße gegen seine rechtsförmige Gesetzmäßigkeit. Die Natur ist zweckmäßig eingerichtet, entsprechend hat der Mensch sowohl das Recht als auch die Pflicht, diese ihm nur natürlichen Zwecke zu verfolgen. Manfred Riedel arbeitet luzide heraus, dass Hobbes nicht nur den politischen Aristotelismus überwindet, sondern in der Teleologiekritik auch bedeutend weiter geht als Descartes: Descartes bevorteilt das Kausalitätsargument innerhalb der Vier-Ursachen-Lehre nur, löst diese allerdings noch nicht auf:
498 Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit, S. 402.
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Der Einwand, der die causa efficiens aus der Verklammerung mit dem Schema der vier Ursachen löst und die Kausalität in dem uns geläufig gewordenen Begriffssinn auf den mechanischen Wirkungszusammenhang der Natur umstellt, ist von demselben Gedanken des Zwecks bestimmt, den er destruieren soll.499
Descartes konnte die Teleologie nicht endgültig überwinden, weil seine kausallogische Philosophie von einem Wirkursachenbegriff lebt, der sich selbst wiederum aus der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre speist: Es liegt also immer noch ein Begriff der causa efficiens zugrunde, der Finalursachen metaphysisch allemal anerkennt. Ob dies im starken Sinne einen Zirkel darstellt, wie Riedel systematisch behauptet, ist hier nicht der Ort zu diskutieren. Historisch stellt Riedel jedenfalls zutreffend für Hobbes’ Innovationsleistung fest: Der Punkt, an dem Hobbes den genannten Zirkel in der Argumentation durchbricht, läßt sich ziemlich genau angeben; er liegt, mit einem Satz gesagt, darin, daß er die causa finalis in seinem System nicht nur aus der Physik, sondern auch aus der Metaphysik ausschließt.500
Gelingen konnte dies Hobbes nur, indem er nicht etwa nur die Vier-UrsachenLehre auflöste, sondern schon deren systematische Grundlage, nämlich die aristotelisch-scholastische Unterscheidung von Akt und Potenz.501 Diese Unterscheidung hatte ein Hervorgegangenes gerade deshalb als Ziel ansehen lassen, weil es als Akt die Verwirklichung einer Möglichkeit (Potenz) darstellte, die dem Hervorbringenden innewohnt bzw. dieses selbst ist. Hobbes sah in diesem Konzept gerade eine Widersprüchlichkeit, insofern einerseits der Akt die Potenz immer schon auf sich hin bestimmen soll. Anders machte die Rede von Möglichkeit nämlich keinen Sinn: Der Akt bestimmt die Potenz als Möglichkeit-zu-sich. Andererseits muss für alle nicht-verwirklichten Potenzen angenommen werden, dass der Akt sie sowohl auf sich hin bestimmt als auch nicht, zumindest nicht hinreichend. Diese nicht-verwirklichten Potenzen sind allerdings gemäß Aristoteles unbedingt zu berücksichtigen, denn die Wirklichkeit gewinnt gerade im Hinblick auf sie ihren ontologischen Vorrang.502 Schon im Hinblick auf Aristoteles hält Dieter Schlüter fest: „Das Mögliche bedurfte eines anderen Wirklichen, um ins Sein zu kommen“.503 Gerade daraus ergibt sich für Hobbes schon die Hinfälligkeit des Akt-Potenz-Konzepts genauso wie die der Teleologie: Eigentliche
499 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 420. 500 Ebd. [Hervorhebung O.B.]. 501 Ebd., S. 421. 502 Vgl. Dietrich Schlüter: [Art.] Akt/Potenz. In: HWPh 1, S. 134–142, hier S. 137. 503 Ebd. [Hervorhebung im Text].
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Relevanz besitzt dasjenige, was das Ins-Sein-Kommen von etwas wirkt, und dies ist nichts anderes als die Wirkursache.504 Sie ersetzt die Finalursache genauso, wie das Konzept von gleichgerichteten – mal realisierten, mal nicht realisierten – Potenzen ersetzt wird durch das Konzept von einander entgegengerichteten Bewegungen: Bewegung und Gegenbewegung. Ruhe als prinzipieller Zustand, aus dem heraus ein Telos etwas auf sich zieht, wird verabschiedet. Sie ist nurmehr denkbar als die gegenseitige Aufhebung zweier entgegengesetzter Bewegungen. Manfred Riedel hat auf die Attraktivität hingewiesen, die der Sache nach in dieser Teleologiekritik für die reformatorische Theologie bestehen musste: Gegenwärtige Dinge zielen nicht auf zukünftige Dinge, insofern diese jene anzögen. Daher ist auch jenseitiges Heil nicht durch gute Taten anzielbar. Die den Reformatoren unerträgliche gotteslästerliche Vorstellung gerade der aktiven Potenz, dass also der Mensch, nicht Gott das Heil ausmachte, konnte nur aus dem eigenen Weltbild ausgeschlossen werden, wenn das Heil nur von Gott selbst gewirkt, vom Menschen nur empfangen werden kann. Eine Metaphysik, die alle Dinge einschließlich der intentionalen Handlungen des Menschen nur nach dem Kausalitätsprinzip organisiert sieht, schließt die Frage kategorisch aus, auf die jede Teleologie notwendig hinführt: Wenn alles auf irgendetwas abzielt, zielt es letzthin auf Gott ab und soll mithin Gott nur der Akt der Potenz seiner eigenen Schöpfung sein? Auch menschliche Intention ist nicht mehr innere „Anlage oder Potenz zur Bewegung“ hin auf „jenen Akt, den sie nie erreicht und der sie doch von sich her bestimmen soll“.505 Damit sind Natur und Gott, Diesseits und Jenseits, irdisches Leben und Heil in der Weise getrennt, derer die reformatorischen Theologien bedurften. Riedel hält insofern überzeugend fest: [D]ie Kritik bei Hobbes ist weder ein theoretisches Lehrstück neben anderen noch das Ergebnis oder gar die Voraussetzung der mechanistischen Naturtheorie, sondern wesentlich ein Bestandteil seines Kampfes gegen die Dogmatik der Schule, die den ursprünglichen Sinn des biblischen Christentums durch die Rezeption der heidnisch-antiken Philosophie verkehrt hat. In diesem Kampf, der die neue Naturwissenschaft und die theologischen Lehren der Reformation (Luther und Calvin) als Bundesgenossen sieht, steht Hobbes im 17. Jahrhundert nicht allein.506
504 Vgl. Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 425–427. 505 Ebd., S. 427. 506 Ebd., S. 432. Vgl nochmals Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 15– 20.
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Die Theologien der Reformation können die „mechanische Theorie als Hinwen dung zum wahren Christentum“ begreifen, „weil sie mit den substantiellen Formen und Zwecken die heidnischen Götter und Dämonen vertreibt, die auf dem Umweg über die Philosophie wieder Eingang in die Natur gefunden hatten“.507
4.3.4.2 Hobbes’ Naturrechtsanalyse Genauso wie Julius Ebbinghaus hat sein Schüler Georg Geismann schon mehrfach herausgestellt, was die rechtsphilosophischen – nicht ethischen! – Mängel des aristotelischen und scholastischen Naturstands- und Naturrechtskonzeptes sind und warum Thomas Hobbes zurecht als Revolutionär gelten darf.508 Die Ergebnisse Riedels zur Metaphysik Hobbes’ erhellen dies zusätzlich: Ist das Konzept natürlicher Zwecke nämlich erst einmal verabschiedet, bleibt für Hobbes nur noch der wirkende conatus der Selbsterhaltung übrig. Dasjenige Naturrecht, welches bei Hobbes damit einzig Bestand hat, ist das auf Selbsterhaltung: Fertur enim unusquisque ad appetitionem eius quod sibi bonum, & ad Fugam ejus quod sibi malum est, maxime autem maximi malorum naturalium, quae est mors; […] Non igitur absurdum neque reprehendendum neque contra rectam rationem est, si quis omnem operam det, ut à morte & doloribus proprium corpus & membra defendat conservetque. Quod autem contra rectam rationem non est, id juste & Iure factum omnes dicunt. […] Itaque Iuris naturalis fundamentum primum est, ut quisque vitam & membra sua quantum potest tueatur.509
Dieses Recht läuft per exercitium – nicht per definitionem – auf seine rechtslogische Widersprüchlichkeit hinaus:510 Der Rechtsanspruch eines Jeden auf Alles konfligiert mit dem Rechtsanspruch eines jeden Anderen auf ebenso Alles. Damit führt das Selbsterhaltungsrecht im Naturzustand nur auf die Erkenntnis seiner Nichtigkeit hinaus: Das ius omnium in omnia ist ein Recht auf nichts, weil das Recht des einen auf etwas nur genauso gut und damit genauso schlecht ist wie
507 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 432. 508 Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau; ders.: Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ‚klassischen‘ Politischen Philosophie. In: Jahrbuch für Politik 2 – 2 (1992), S. 319–336; ders.: Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die ‚klassische‘ Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben. In: Jahrbuch für Politik 5 – 1 (1995), S. 141–177. 509 Hobbes: De Cive, S. 11f. [Hervorhebung im Text]. Vgl. ders.: Vom Menschen / Vom Bürger. Elemente der Philosophie II / III. Eing. u. hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1994 (Philosophische Bibliothek 158), S. 81. 510 Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, S. 69–75.
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das des anderen. Das natürliche Recht der Selbsterhaltung ist als Naturrecht nicht widerspruchsfrei denkbar. Einzulösen ist es notwendiger Weise nur durch den Eintritt in den status civilis und die Schaffung eines positiven Rechts. Daher besteht Souveränitätsrecht nicht in einem natürlichen Rechtsüberschuss des Herrschers, sondern in einem Rechtsverzicht seitens der Untertanen: Iuris autem translationem in solâ non resistentiâ consistere, ex eo intelligitur, quod ante iuris translationem, is in quem transfertur, jus habebat jam in omnia; unde novum jus dare non potuit, sed justa transferentis resistentia, propter quam, jure suo alter frui non potuit, extinguitur.511 Voluntatum haec submissio omnium illorum, unius hominis voluntati, vel unius Concilii tunc fit; quando unusquisque eorum unicuique caeterorum se Pacto obligat ad non resistendum voluntati illius hominis, illius Concilii cui se submiserit.512
Wie soll derjenige, der nun Herrscher ist, im Naturzustand mehr Recht auf die Macht gehabt haben, wenn alle das Recht auf alles hatten? Mehr als alles ist nicht denkbar, daher also die Denknotwendigkeit des Rechtsverzichts seitens der Untertanen. Die Verpflichtungskraft gewinnt dieses vom Herrscher geschaffene positive Recht nur zum Einen aus dessen Strafandrohungen und Strafvollzug. Es zieht seine vis obligativa zum Anderen vor allem aus der denknotwendigen Vorzüglichkeit jedweden positiven, auch des tyrannischen Rechts gegenüber dem nichtigen Naturrecht: Im status civilis ist allemal irgendeine Ordnung rechtsförmig gewährleistet, auch wenn sie den einen Herrscher einseitig bevorteilt. Im Naturzustand droht hingegen allemal der Konflikt mit allen Menschen. Die vis obligativa resultiert aus dem Selbsterhaltungstrieb, der reflektierter Weise darum weiß, dass er sich selbst nicht gerecht zu werden vermag. Mithin resultiert sie aus der schlichten Angst, im Naturzustand den Tod zu erleiden, den dort kein Recht verhindert. Mit Thomas Hobbes wird mit einer Theonomie sowohl in der gehaltlichen als auch in der verpflichtungstheoretischen Grundlegung von Recht überhaupt gebrochen. Verpflichtungskraft kommt durch die Übereinkunft zustande, die im Hinblick auf die Nichtigkeit eines Rechts Aller auf Alles rechtslogisch – und nicht mehr theologisch oder anthropologisch – notwendig wird.
511 Hobbes: De Cive, S. 23 [Hervorhebung im Text]. Vgl. ders.: Vom Bürger, S. 88. 512 Ders.: De Cive, S. 86 [Hervorhebung im Text]. Vgl. ders.: Vom Bürger, S. 128.
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4.3.4.3 Widriger Naturzustand bei Gryphius Ohne dass bei Gryphius explizite hobbesianische Lesefrüchte nachzuweisen sind, lässt sich durchaus danach fragen, wie es um den Zustand des Menschen außerhalb des status civilis bei Gryphius beschaffen ist. Antworten bietet nicht erst seine politische Trauerspieldichtung, sondern auch seine Lyrik. Im Sonett zum Geburtstag seiner Tochter Maria Elisabeth nimmt sich der Dichter den auf dieses Datum fallenden Tag der Concordia513 zum Anlass über Eintracht zu sprechen: Komm Pfand der Eintracht komm / die grimmen Vlcker wtten / […] Du findest nichts allhier / als ungebundne Sitten / Ach wenn des Hchsten Hertz von Menschen zu erbitten Daß Er / der einig nur die Eintrachts Mittel kennt / Durch seines Geistes Glut / die nur bey Frieden brennt / Wolt aller Menschen Sinn / weil du noch lebst / begten. Ists mglich / es gescheh: Bit aber ich zuviel / So bleibe deinem Gott mit Eintracht doch verbunden […] Erreichst du diesen Wuntsch / so wirst du nicht nur mein: Nein: sondern auch dreymal mehr / des Hchsten Tochter seyn. (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XXXV, S. 112.)
Das Sonett hat unbestritten einen geistlich-religiösen Fluchtpunkt darin, dass die Eintracht mit Gott gesucht werden soll, wenn schon die Eintracht unter den Menschen nicht verwirklicht wird. Es nimmt allerdings seinen Anstoß an der Diagnose der politischen Gegenwart. Gryphius konstatiert eine empirische Rechtsfreiheit des Natur- bzw. Kriegszustandes und benennt dabei einen bestimmten Grund: Eintracht ist dem Menschen nicht angeboren. Das hat natürlich nichts mit einer rechtslogischen Reflexion des Naturrechts wie bei Hobbes zu schaffen. Gryphius reflektiert den allgemein staatsrechtsfreien Zustand anthropologisch wie schon die scholastische und neoscholastische Tradition: Er kapriziert sich auf eine bestimmte Eigenschaft des Menschen, nämlich die nur kontingente, nicht angeborene Eintracht. Dieses Anthropologisieren von wesentlichen und akzidentiellen Eigenschaften stellt Gryphius der vor- bzw. (später) anti-hobbesianischen Tradition nahe. Sehr deutlich sieht Gryphius allerdings, dass die Kontingenz der Güte eben nicht der Notwendigkeit der Schlechtigkeit gleichbedeutend ist. Er hält nämlich 1663 im Weicher-Stein fest, dass ihm die umfassende moralische Verdorbenheit der Menschen ein Phänomen seiner Gegenwart ist:
513 Den Namenstag nach zu schließen also der 13. August.
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In der hchstbetrbten Zeit / Drinne wir nach Gottes Willen schweben; Hat der dicke Schlamm der Neid Schir den meisten Theil der Welt umbgeben. (GdW 3, Weicherstein, S. 44, v. 41–44)
Darüber hinaus imaginiert Gryphius im Ersten Straff-Gedichte einen menschheitsgeschichtlichen Abschnitt, der umgekehrt von eminenter Tugendhaftigkeit geprägt war: Diß reden / was man meint / so leben / wie man lehret / War jene Zeit gemein; da man die Tugend ehret / […] Als ein Gesetz alleine Fr tausend Lnder stund […] (GdW 3, Vermischte Gedichte, [VI], S. 187, v. 177f. und 182f.)
Gryphius erachtet die Moralität des Menschen als kontingent, indem er ihre historische Varianz herausstellt. Daher ist auch seine Anthropologie nicht notwendig pessimistisch. Ebenso wenig erfolgt bei Gryphius der Umkehrschluss, dass einer mangelnden natürlichen Eintracht ein wiederum natürliches Streben zu bürgerlicher ‚Eintracht‘ notwendig folgen müsste: Dieser Schluss vom unwirtlichen Naturzustand auf einen appetitus societatis wie bei Grotius oder auf eine zur bloßen Anlage depotenzierten socialitas wie bei Pufendorf514 erfolgt bei Gryphius nicht. Das Vertrauen in die Geltung des Naturrechts, das „alleine fr tausend Lnder stund“, scheint beim Schlesier nachhaltig erschüttert: Er kann weder die für eine Universalität notwendige Ubiquität noch Perennität feststellen. Bei Gryphius ist zwar kein Vertrauen in einen Selbstregulierungsmechanismus einer prekären Natur zu finden, der schon in dieser Natur selbst veranlagt wäre wie bei Schönborner. Gryphius geht jedoch noch nicht den Schritt, den hinreichenden Grund von Vergemeinschaftung in des Menschen Vernunft- und Willensbegabung zu sehen wie Hobbes. Damit wird Frage nach einem Ausweg dringend.
514 Fiammetta Palladini hat die keineswegs univoke Verwendung von socialitas durch Pufendorf aufgezeigt. Pufendorf bezeichnet damit erstens den Fundamentalsatz des Naturrechts, d.h. die Pflicht zum Erhalt und zur Förderung der societas; zweitens benutzt Pufendorf socialitas als Bezeichnung für dessen Bedingung, also das menschliche Bedürfnis nach einer oder der societas, mithin also im Sinne von Soziabilität: Fiammetta Palladini: Pufendorf disciple of Hobbes: The nature of man and the state of nature: the doctrine of socialitas. In: History of European Ideas 34 (2008), S. 26–60. Diese Unschärfe ist Pufendorf im Hinblick auf seine Beweisführung, aber nicht terminologisch vorzuwerfen. Denn selbst noch im achtzehnten Jahrhundert ist die Trennung von socialitas und sociabilitas nicht geläufig.
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Nach den von Menschen an Menschen verbrochenen Greueln des Dreißigjährigen Krieges, die er in der Tat in extenso miterlebte, musste dem Schlesier die These von einem Vergemeinschaftungsstreben schlicht wirklichkeitsfremd sein. Ob Gryphius dabei das aristotelisch-schönbornersche double bind einer sich selbst fliehenden Natur des Menschen systematisch erkannte, lässt sich nicht entscheiden: Sein empirisches Verdikt hat es eigentlich widerlegt. Fest steht, dass Gryphius ebenso vor dem hobbesschen Lösungsansatz zurückschrecken musste: Schließlich war ihm doch der Wille des Menschen gerade so vom ‚eitlen‘ amor sui geprägt, dass er auch von der Vernunft kaum einholbar sein konnte, um das langfristige Interesse der Selbsterhaltung sich kurz- und mittelfristige Interessen unterordnen zu lassen. Besonders die handlungstheoretisch fokussierte Eitelkeits-Dichtung Gryphius’ atmet durchweg denjenigen Pessimismus, dass der Mensch en gros auch selbstbestimmter Zwecksetzung unfähig sei. Durch sein kurzfristiges Strebens verblendet, fährt der Mensch langfristige Verluste ein.515 Diese ‚Tollheit‘ – so die Überzeugung Gryphius’ im Weicher-Stein – macht die Unerträglichkeit des Diesseits gerade aus: Drumb weil alles Neides voll / Und fast nimand nach der Tugend ringet; Rennet auch die Welt so toll In den Abgrund / der sie gar verschlinget. (GdW 3, Weicherstein, S. 45, v. 65–68)
Der theologische vanitas-Topos bringt neostoische Ethik insofern ins Wanken, als die Menschen sie nicht annähernd erfüllen können. Sie können aus ihr keine Sozial-‚Ethik‘, geschweige denn eine Grundlage über- und zwischenstaatlicher Rechtssicherheit jenseits von Gewalt schaffen. Mehr noch: Das gryphsche vanitas-Subjekt reicht mehrheitlich noch nicht einmal an diejenige Kompetenz epikureischen voluptas-Kalküls heran, wie Cicero sie in De finibus tradiert hatte: „Temporibus autem quibusdam et aut officiis debitis aut rerum necessitatibus saepe eveniet, ut et voluptates repudiandae sint et molestiae non recusandae“.516 Es ist bemerkenswert, dass Gryphius den Weg des Hobbes deshalb nicht einschlägt, weil ihm dessen Anthropologie nicht zu ‚pessimistisch‘, sondern im Gegenteil noch zu optimistisch sein musste.517
515 Vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 26. 516 Marcus Tullius Cicero: De finibus bonorum et malorum. Hg. von Harris Rackham. Cambdrige, Massachusetts 1971 (The Loeb classical library), I, 33, S. 36, weiter: „Itaque earum rerum hic tenetur a sapiente delectus ut aut reiciendis voluptatibus maiores alias consequatur aut perferendis doloribus asperiores repellat.“ 517 Wobei nicht aus dem Blick zu verlieren ist, dass für Hobbes selbst eine pessimistische politische Anthropologie schlicht deshalb nicht zu konstatieren ist, weil anthropologische Er-
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Gryphius’ intensive Auseinandersetzung mit der Tyrannei, besonders im Herodes, der Catharina und im Papinian wird allemal deutlich machen, dass ihm Hobbes’ Staatsrechtslehre keine zu befürwortende Alternative darstellte. Tatsächlich wird der Willensentschluss zur Selbstunterwerfung schon deshalb nicht dem Selbsterhaltungstrieb gerecht, weil das Selbsterhaltungsrecht gegen mehrere empirische Willküren dadurch gesichert werden soll, dass man auf all sein Recht gegenüber einer empirischen Willkür verzichtet.518 Hobbes gesteht sogar durchaus zu, dass der Selbsterhaltungstrieb auch im status civilis rechtlich dergestalt gewahrt bleibt, dass der wehrdienstpflichtige Soldat aus Angst vor dem Kampf davonlaufen darf: Upon this ground, a man that is commanded as a Souldier to fight against the enemy, though his Soveraign have Right enough to punish his refusall with death, may neverthelesse in many cases refuse, without Injustice […] there is allowance to be made for naturall timorousnesse, not onely to women, (of whom no such dangerous duty is expected), but also to men of feminine courage. When Armies fight, there is on one side, or both, a running away; yet when they do it not out of trechery, but fear, they are not esteemed to do it unjustly, but dishonourably. For the same reason, to avoyd battell, is not Injustice, but Cowardise.519
Die im Vollzug dieses Gedankens sich ergebenden Alternativen sind jedoch beide für eine Staatslehre mit systematischem Anspruch unbefriedigend: Denn einmal ist fraglich, ob der geflohene Soldat im Staat tatsächlich nicht verurteilt wird oder ob seine Flucht aus dem Staat ihn nur in den allemal prekären Naturzustand versetzt, so er nicht umgehend Bürger eines anderen Staates wird. Ein andermal fordert das Recht aller Soldaten, ihren Selbsterhaltungstrieb geltend zu machen,
wägungen für seine rein rechtslogische Prüfung der Naturrechtsidee schlicht indifferent sind. Gleichwohl gerade Georg Geismann mehrfach hierauf hingewiesen hat, zeitigt dieses vor allem vom zeitgenössischen Anti-Hobbesianismus überkommene Verdikt einer pessimistischen politischen Anthropologie nach wie vor Folgen: vgl. z.B. Wolfgang Dietrich: Variationen über die vielen Frieden. Bd. 1: Deutungen. Wiesbaden 2008 (Schriften des UNESCO Chair for Peace Studies der Universität Innsbruck 1), S. 213; Jan Rohls: Geschichte der Ethik. 2., umgearb. und erg. Aufl. Tübingen 1999, S. 614, obgleich Rohls zuvor die Widersprüchlichkeit des ius omnium in omnia durchaus erfasst (S. 331f.). 518 Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 169; vgl. ebd.: „Der einzige Wille, der mit diesem Vertrag erklärt wird, ist der Wille, sich der (angeblich dadurch legitimierten) Herrschaft des Staates und der durch sie als Recht deklarierten Freiheitseinschränkung bedingungslos, also welche es auch sei, zu unterwerfen“. 519 Thomas Hobbes: Leviathan Or the Matter, Form and Power of A Commonwealth Ecclesiasticall and Civil. London 1651, S. 112 [Hervorhebung O.B.]. Vgl. : Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Eing. u. hg. von Iring Fetscher. 9. Aufl. Frankfurt am Main 1999 (stw 462), S. 169.
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zur Frage heraus, wie der Staat so noch angemessen gesichert werden soll, wenn seine gesamte Schutzmacht potenziell die Waffen strecken dürfte. Gryphius geht Hobbes’ Lösungsweg nicht mit, so sehr seine Dichtung davon zeugt, dass er das Problembewusstsein einer offensichtlichen Zweckfreiheit der Natur in physischer wie moralisch-gesetzlicher Hinsicht teilt. Er geht aber genauso wenig den Weg solcher Antihobbesianer wie Samuel Pufendorf, der den in der Tat dezisionistischen Despotismus bei Hobbes durch die Einführung einer dualistischen Seins- und Sollens-Ordnung zu umgehen sucht.520 Noch weniger geht Gryphius auf dem rechtslogisch eigentlich richtigen Wege weiter wie erst Rousseau und Kant – nämlich den, Hobbes’ Denkfehler eines denkunmöglichen Verzichts der Rechtssubjekte auf ihre Rechtssubjektivität zu vermeiden.521 Gryphius fällt aber auch nicht auf ‚naiv‘ scholastische Gleise zurück, indem er etwa an der Ablesbarkeit von Recht und Unrecht sowie ihrer Geltung aus der Natur festhielte. Welchen Weg Gryphius einschlägt, zeigt 4.4.
4.3.5 Ausblick: Nulla lex sine poena? Christian Thomasius’ Bruch mit dem praeceptum-Charakter der göttlichen und natürlichen Gesetze Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Charakter des Naturrechts als einer Vorschrift (praeceptum) noch lange über Gryphius’ Wirken und Tod hinaus Geltung besaß und behielt. Die z.T. zähen Diskurse und Mühen, Gottes Willen mit seinem legislator-Charakter und Fragen der Theodizee zu vermitteln (4.4), lassen sich nicht erklären ohne den allemal statthabenden Konsens, dass Gottes natürliche Rechte nicht bloße Ratschläge (consilia) sind. Besäße das Naturrecht ähnlich den consilia keinerlei Verpflichtungskraft, wäre dem Staunen darüber jeder Grund entzogen, dass Gott einerseits Gebote erlässt, diese aber nicht strafend geltend macht. Vor Christian Thomasius (1655–1728) und dessen Fundamenta iuris naturae et gentium (1705) wird niemand mit der Prämisse brechen, dass göttliches und natürliches Recht verpflichtende Vorschriften sind. Es ist daher zu skizzieren, wie Thomasius diesen Bruch vollzieht. Üblicherweise als ‚Vater der deutschen Aufklärung‘ gefeiert, wird Thomasius ausgerechnet in seinem rechtsphilosophischen Kerngebiet häufig vorgeworfen,
520 Pufendorf übernahm von seinem Lehrer Erhard Weigel die Distinktion von Entia Physica und Entia Moralia: vgl. Klaus-Gert Lutterbeck: Pufendorfs Unterscheidung von physischem und moralischem Sein und seine politische Theorie. In: Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf. Hg. von Dieter Hüning. Baden-Baden 2009 (Staatsverständnisse 23), S. 19–35. 521 Vgl. abermals 3.2 und Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 170f.
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„unselbständiger Schüler S. Pufendorfs“ zu sein.522 Schon Thomasius’ rechtsdidaktische und interpretationstheoretischen Neuerungen widerlegen diesen Vorwurf.523 Den entscheidenden Umbruch im Naturrechtsdenken vollzog Thomasius auf der obligationstheoretischen Ebene. Gegenüber seinem ersten Naturrechtsentwurf, den Institutiones iurisprudentiae divinae (1688),524 übt Thomasius selbst 1705 vor allem darin Selbstkritik, bislang von der naturständlichen Dominanz der Vernunft über den Willen ausgegangen zu sein: Er spricht vom „Haupt-Irrthum / von der geschickten Ubereinstimmung des Verstandes und Willens / das ist / von der Herrschaft des Verstandes ber den Willen“.525 Von besonderem Interesse ist Thomasius’ Verabschiedung eines jus divinum positivum universale und damit die Verabschiedung des Strafkriteriums aus dem Naturrecht. Zur Aufgabe des positiven göttliche Universalrecht zwingt Thomasius seine strikte Unterscheidung der Zuständigkeitsbereiche und Teloi des göttlichen und natürlichen Rechts, dass nämlich „der End-Zweck der Heiligen Schrifft das glckseelige Leben der zuknfftigen Welt ist / die Sitten-Lehre aber und die gantze Rechts-Gelahrheit bloß zur wahren Glckseeligkeit des gegenwrtigen Lebens abzielet“.526 Zwar anerkennt Thomasius wie schon in den Institutiones die Existenz göttlicher Offenbarungsgesetze, die sich durchaus irdisch zwischenmenschlicher Angelegenheiten annehmen.527 Diese sind jedoch zeitlich wie auch im Geltungsbereich begrenzt erlassen worden und insofern gehören sie nicht der Universaljurisprudenz zu.528 Die vorausgehende Begründungsleistung macht den
522 Matthias J. Fritsch: Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen. Hamburg 2004 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 28), S. 52; vgl. auch Christoph Bühler: Die Naturrechtslehre und Christian Thomasius (1655–1728). Regensburg 1991 (Theorie und Forschung: Rechtswissenschaften 3), S. 4. 523 Vgl. Friedrich Vollhardt: Vorwort. In: Christian Thomasius: Cautelen zur Erneuerung der Rechtsgelehrtheit. Hg. von Friedrich Vollhardt. Hildesheim u.a. 2006, S. V–XXXVI, hier S. IXf.; Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 423–437; Schröder: Recht als Wissenschaft, S. 137. 524 Vgl. zum dortigen Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz Grunert: Normbegründung und politische Legitimität, S. 173. 525 Christian Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. Hg. von Frank Grunert. Hildesheim u.a. 2003, Vorrede § 6. 526 Ebd., Vorrede § 19 [Hervorhebung O.B.]. 527 Vgl. Oliver Bach: Natur als juridisches Argument an der Schwelle zur Aufklärung. Zu den theonomen, rationalistischen und voluntaristischen Systemstellen des Denkens vom Naturzustand bei Samuel Pufendorf und Christian Thomasius. In: Jahrbuch Aufklärung 25 (2014), S. 23– 50, hier S. 41–44. 528 Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts, I. Buch, 5. Hauptstück, § 52: „[D]ie Verrichtungen / wovon das offenbarte Recht qua tale handelt / seyn nicht nach der Natur allen Menschen und allezeit gut und bse“
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Unterschied: Thomasius nimmt die Relevanz der Kriterien Ubiquität und Perennität für die Universaljurisprudenz nicht begriffslogisch an, sondern er gewinnt sie aus einer Unterscheidung von Gottvater und Strafgott, mit der er den eigentlichen Unterschied von natürlichem und positivem Recht aufzeigt. Thomasius geht es um die perseitas natürlicher Güte bzw. Schlechtigkeit, die ihm für ein qua Vernunft erkennbares Naturrecht notwendige Ermöglichungsbedingung ist: [W]enn ein GOtt / als ein absoluter Gesetz-Geber / der den Menschen usserlich zur Straffe verbindet / concipiret und die Ehrligkeit und Schndligkeit mit der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit vor einerley genommen wird; so ist falsch / daß es solche Verrichthungen gibt / die vor sich ihrer Natur nach und vor den gttlichen Willen ehrlich oder schndlich seyn.529
Thomasius ist damit nicht etwa auf einen theologischen Intellektualismus aus; in der Tat nämlich hat Gott als Urheber auch der natürlichen Gesetze die moralische Güte bzw. Schlechtigkeit von Handlungen durch seinen Willen festgelegt. Thomasius geht es um eine konsequent als additiv verstandene Strafandrohung, wie sie einen Gesetzgeber und ein Gesetz im strengen Sinne ausmachen. Diese wäre zum Einen ein den natürlichen Dingen unmöglich wesentliches Attribut, sondern notwendig äußerlich und akzidentiell. Zum Anderen bedeutet diese Akzidentialität für Thomasius im Umkehrschluss den Wesentlichkeitsverlust der Naturrechtsnormen und damit nichts weniger als den Verlust ihres Universalitätsanspruchs: Das Naturrecht wäre nur solange in Kraft, wie die Strafandrohung durch Gott gilt, oder schlimmer noch nur solange, wie diese Strafandrohung unter den Menschen ausreichend bekannt ist. Da dieses Recht nur für diese Zeit Geltung besäße, wäre es mehr auf die Offenbarung dieser Strafandrohung angewiesen als auf inhaltliche Schlüssigkeit. Das Ergebnis wäre kein universales Naturrecht, sondern ein begrenztes positives Offenbarungsgesetz. Demgegenüber sieht Thomasius im consilium-Charakter, der für die gesamte Tradition noch das wesentlich Unterschiedene von jedwedem Recht dargestellt hatte, die epistemologische Chance für sein universales Recht. Dessen obligationstheoretische Schwächen nimmt er bewusst in Kauf nimmt: Aber weñ Gott / als ein Vater / Rath oder Lehrer concipiret wird / und die Ehrligkeit und Schndligkeit mehr die Gte u. Boßheit oder das Laster berhaupt / als ins besondere die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bedeutet / so ist es wahr / daß die Verrichtungen / von welchen das so wohl, als stricte genommene Recht der Natur handelt / vor sich und ihrer moralischen Natur nach / in Ansehung des gantzen menschlichen Geschlechts bse und gut seyn.530
529 Ebd., I, 5, § 51. 530 Ebd., I, 5, § 52; vgl. auch ebd., I, 6, § 6.
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Weil sich das consilium auf Inhaltliches beschränkt, ist jede Anzeige von Gut oder Böse als wesentlich anzusehen und allererst natürlich zu nennen. Hingegen schlägt das Naturrecht unter der Annahme einer göttlichen Strafandrohung notwendig in Positivismus um. Dem Unterschied von Wesentlichkeit und Akzidentialität entspricht der von Allgemeinheit und Besonderheit zwangsfreier Naturrechtsnormen und positiver Zwangsgesetze. Dieser Bruch mit dem praeceptum-Charakter des transhumanen Rechts ist auch deshalb bemerkenswert, weil Thomasius den Unterschied von innerer Verpflichtung und äußerem Zwang aufgreift, wie er der Spätscholastik ebenso wie dem philippistischen Naturrecht eigentlich bereits bekannt war, ihn jedoch anders umsetzt: Thomasius bestreitet wie gesagt weder die Akzidentialität äußerer Zwangsandrohung, noch bestreitet er die exklusiv naturrechtliche Gewissensverpflichtung; noch auch jedoch bestreitet Thomasius, dass Gott als Urheber des Naturrechts dieses der Sache nach mit Strafen ausstattet. Jedoch „die Ubel / so GOtt denen Ubertretern des natrlichen Rechts gesetzet hat / kommen verborgen und heimlich“.531 Damit ist der Vernunft dem Begriffe nach unmöglich, sich in der Erkenntnis des Naturrechts an Strafandrohungen zu halten: „Die blosse Vernunfft weiß nicht / daß sie sich GOtt vorstellen soll / als einen Knig oder Herrn / der diejenigen mit usserlicher willkhrlicher Straffe belegen wolle / die wieder die Gebothe des natrlichen Rechts handeln“,532 denn „die Verknpffung des Ubels mit der Snde fllet nicht in die Augen / obgleich vielleicht das Ubel selbst sichtbar ist“.533 Die Verpflichtungskraft der positiven menschlichen Gesetze als rein äußerlich zwingender Vorschriften ist auf die Sichtbarkeit ihrer Strafandrohungen und Strafen angewiesen, um seine Gewissensneutralität kompensieren zu können. Das Naturrecht bedarf dessen für seine Erkennbarkeit gerade nicht. Im Gegenteil verhinderte die räumlich wie zeitlich notwendige Eingeschränktheit einer nur als Offenbarungsakt möglichen Strafandrohung das Erkennen des Naturrechts als universalen Rechts. Insofern vollzieht Thomasius in der Tat nur eine Positivierung des Rechtsbegriffs, zumal nur des engeren. Gegen eine „radikale Positivierung“534 arbeitet Thomasius hingegen gerade an. Auch in Thomasius’ reifem Naturrecht wird also ein eminent theologisches Argument veranschlagt, insofern es „der Vollkommenheit gttlicher Gtigkeit
531 Ebd., I, 5, § 39. 532 Ebd., I, 5, § 37. 533 Ebd., I, 5, § 39. 534 So Jan Schröder: ‚Naturrecht bricht positives Recht‘ in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts?. In: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat. Hg. von Dieter Schwab, Dieter Giesen, Joseph Listl. Berlin 1989, S. 419–433, hier S. 426.
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eher zukommet / der Menschen bestes zu suchen / als in denen der Menschen Hertzen eingeschriebenen Gesetzen auf despotische Art und Weise seinen Nutzen zu suchen“.535 Die Erkenntnis der natürlichen Gesetze kommt ohne eine explizierte Versicherung einer Zwangsbewehrtheit aus. Die traditionelle Veranschlagung des Strafkriteriums würde umgekehrt nur die Verunsicherung des göttlichen Vollkommenheitsgedankens zur Folge haben. In einem bloß symmetrischen Verhältnis von bedrohten Befehlsempfängern und drohendem Befehlsgeber stünde Gott in Thomasius’ Augen gerade nicht als allmächtiger Gottvater, sondern als verunsicherter Rachegott da, der die concordia juris seiner Schöpfung von der mangelnden Furcht seines Geschöpfes Mensch bedroht sieht. Thomasius betont die notwendige Unmöglichkeit einer natürlichen Erkenntnis von Gottes Strafandrohung und Straftätigkeit durch seine Positionierung im theologischen Voluntarismus: Gottes Wille ist jenseits des Offenbarungszeugnisses nicht erkennbar, Thomasius ist mithin vollkommen schleierhaft, „woher ich erkenne / ob dieses oder jenes der Wille Gottes sey“.536 Thomasius’ zweiter Naturrechtsentwurf leistet einen deutlichen Säkularisierungsschub, wenn der menschliche Verstand nunmehr weder inhaltlich noch verpflichtungstheoretisch auf die Gottesinstanz zu regredieren hat. Nichtsdestoweniger ist die thomasianische Befreiung des Naturrechts vom Kriterium göttlicher Strafe allenthalben auf ihre allmachtstheologische Begründung angewiesen.
535 Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts, I, 5, § 41. 536 Ebd., I, 6, § 3.
Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus
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4.4 Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus als Entscheider über den Ausnahmezustand [D]eshalb glauben die Utopier, daß nach diesem Leben Strafen für unsere Verfehlungen festgesetzt, Belohnungen für unsere Tugenden uns bestimmt sind. Wer das Gegenteil glaubt, den zählen sie nicht einmal unter die Menschen […]; noch viel weniger denken sie also daran, ihn unter die Bürger zu rechnen: würden ihm doch alle bürgerlichen Einrichtungen und moralischen Grundsätze keinen Pfifferling gelten, wenn ihn nicht die bloße Furcht in Schranken hielte. Thomas Morus, Utopia.537
In den Kapiteln 4.2 und 4.3 wurden wie angekündigt nicht statische ‚Kombattanten‘ von Tradition und Innovation erläutert, sondern es wurde versucht, das entscheidende Schlaglicht auf deren durchaus wechselseitige Dynamik zu werfen. Dabei kristallisierte sich als wohl wichtigster Konsenspunkt die Vereinbarkeit von theologischem Voluntarismus einerseits und epistemologischem Rationalismus wie Empirismus andererseits heraus. Wo es besonders lutheranischem Denken vordringlich um die Unmöglichkeit zu tun war, den göttlichen Willen zu verstehen, kamen ihr de re weder Bacons Empirismus noch Descartes’ Rationalismus ‚ins Gehege‘: Bacon enthielt sich mit genuin empiristischen Gründen ganz des Anspruchs, eine Gottesinstanz wissenschaftlich erkennen zu wollen. Descartes’ ontologischer Gottesbeweis beschränkte sich auf die Erkenntnis von Existenz und Allmacht des vollkommensten Wesens, ohne ihm dessen Willen ablesen zu wollen. Gryphius darf als einer jener Zeitgenossen gelten, die im Denken Descartes’ genauso wie im Denken Bacons die Chance sahen, die neuen Wissenschaften zu befürworten, und zwar nicht nur, ohne um ihren allmächtigen Gott fürchten zu müssen, sondern auch, um ihn allererst durch diese szientologische Säkularisierung angemessen anerkannt zu sehen. Wenn in diesem Kapitel nunmehr eine weitere Antwort präsentiert wird, dann kann das sinnvoller Weise nur geschehen, insofern diese Antwort auf eine Frage gegeben wurde, die sich trotz der grundsätzlichen Vereinbarkeit von theologischem Voluntarismus und epistemologischen Rationalismus bzw. Empirismus nach wie vor stellte: Was ist gültig zu erwarten, wenn der Herrscher ent-
537 Thomas Morus: Utopia. Übers. von Gerhard Ritter, Nachw. von Eberhard Jäckel. Stuttgart 2009 (RUB 18875), S. 130f.
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weder zum Tyrann wird oder seiner Macht durch Widerstand beraubt ist? Diese Frage ist beleibe nicht neu. Allerdings präsentiert sie sich erst jetzt geschärft, in ihrer eigentlichen ideen- wie problemgeschichtlichen Disposition: Sie ist die Frage nach dem Geltungsgrund transhumanen Rechts, wie sie von der Politiklehre Machiavellis aufgeworfen wurde, und damit gleichzeitig die Frage danach, inwiefern dieser Geltungsgrund für politisches Handeln different ist. Mit Blick auf den Geltungsgrund konnte sich eine Rechtstheologie durch die Innovationen der neuen Wissenschaften gestärkt sehen: Als Obligationsinstanz eines materialen natürlichen bzw. göttlichen Rechts muss Gott vordringlich als wollender Gott gedacht werden, wie ihn sowohl lutheranische Theologie als auch die neuen säkularen Systementwürfe wie der cartesische aus allgemeinen Gesichtspunkten ihres jeweiligen Vorhabens stark machten. Jedoch mit Blick auf die Differenz dieser Obligationsinstanz für irdisches politisches Handeln hatte jener Konsens noch keine hinreichende Lösung liefern können. Vielmehr produzierte allererst er das entscheidende Problem für eine konsequent verstandene politische Theologie: Der göttliche Voluntarismus war schließlich durch die Selbstbehauptung der säkularen Wissenschaften insofern gerettet worden, als von den weltlichen Dingen nicht auf Gottes Willen geschlossen werden konnte. Damit stellte sich nur umso stärker die Frage, warum und inwiefern Gott nunmehr dennoch für die weltliche Politik differenzbildend sein sollte. Diese Frage ist mitunter keine geringere als die, warum ausgerechnet für die prudentia civilis nicht derselbe Säkularisierungscharakter gelten sollte – und diese Frage stellt sich in der Tat ausgerechnet für die politische Klugheitslehre, ist doch gerade von Luther das weltliche Regiment klar vom geistlichen getrennt worden. Soll das göttliche Recht für den irdisch handelnden Politiker gelten und dieser sich vor dem präthomasianisch strafenden Gott fürchten (4.3.5), dann muss der theologische Voluntarismus die Politiklehre gerade darin einholen, dass ausgerechnet sie diejenige mit weltlichen Dingen befasste Wissenschaft und Kunst darstellt, die nicht umfassend säkularisiert sein kann und darf. Der offene Ausgang des Carolus Stuardus in der Fassung von 1657 benennt das Problem: Wie und vom wem ist im Falle dessen zu entscheiden, dass beide Konfliktparteien sich auf göttliches Recht berufen und dadurch allein eben noch kein politischer Friede zu erzielen ist? Besonders aber: Welchen politischen Wert hat ein rein jenseitiges Strafversprechen über einen Gotteslästerer wie Cromwell, wenn dieser weder sein Unrecht erkennt noch unter dem Korrektiv eines drückenden Gewissens leidet und die englische civitas dem Untergang entgegensteuert? Thomas Morus’ obige Herausstellung der Notwendigkeit von Strafe seitens des Gesetzgebers bzw. der Notwendigkeit von Furcht seitens der Gesetzesempfänger ist daher nur als Motto anzuführen: Morus benennt zwar früh das Problem, das
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sich noch lange ungelöst durch die politischen Theologien von Lipsius über Arnisaeus bis Besold bewegen sollte (4.1.2). Klarer und lauter als mancher von diesen betont schon Morus, dass ein Gesetz, dessen zwangsbewehrte Geltendmachung nicht zu befürchten ist, wirkungslos zu werden droht, ja schon wirkungslos ist. Morus’ Problemlösung ist allerdings von den faktenpolitischen Problemen, wie sie besonders im Deutschen Reich in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts virulent sind, noch weit entfernt: Denn Morus sieht Gottes Straftätigkeit als allein jenseitig an. Unter den Menschen muss also zur politisch wirksamen, d.h. irdischen Geltung des göttlichen Gesetzes doch zumindest soviel Minimalkonsens herrschen, dass an dieses Jenseits geglaubt und es allemal gefürchtet wird. Diese Transzendierung der Gottesfurcht aber empfinden gerade Gryphius’ Zeitgenossen und ebenso seine Trauerspiele als entscheidendes Problem: Was nützt eine auf das Jenseits verweisende Gottesfurcht dem weltlichen Regiment, wenn der Dreißigjährige Krieg die Annahme verstärkte, dass zahlreiche Menschen die Gesetze Gottes nicht angemessen kannten oder sie das Jenseits nicht kümmerte? Mag auch Gryphius’ lutheranisch vermittelte neostoizistische constantia den Menschen von der Nichtigkeit der Welt ebenso versichern wie sie ihm ertragen helfen: Dennoch muss eine im Irdischen wirkende Macht gedacht werden, die das weltliche Regiment dauerhaft stabilisiert, indem sie auch den Irrenden, Verblendeten, den Häretiker oder gar Atheisten trifft, und zwar unabhängig davon, welche Vorstellungen diese Unrechtstäter vom Jenseits haben. Daher muss Gott vermehrt als selbst politisch Handelnder gedacht werden. Der gesetzgebende Gott der Rechtstheologie muss sich vermehrt zum gesetzesvollziehenden Gott einer politischen Theologie, mehr noch aber einer theologischen Politologie säkularisieren lassen. Gerade wenn die weltlichen Dinge keine Auskunft über Gottes Gesetzeswillen mehr geben, müssen diese Gesetze wie auch Gott von außen ins irdische politische Geschehen hineinstoßen, – das Gesetz als geoffenbartes und Gott als Deus politicus.
4.4.1 Gryphius’ Kirchhofsgedanken: Jenseitiges Gericht 1656, siebzehn Jahre nach dem Dreifaltigkeitssonett, hat Gryphius an seinem Wissenschaftsverständnis nichts verändert: In diesem Jahr veröffentlicht er seine Kirchhofsgedanken, fünfzig systematisch aufeinander bezogene Stanzen, die eine klar bestimmbare Argumentation verfolgen. Hier entfaltet Gryphius ausführlich sein in der Heiligen Dreyfaltigkeit angedeutetes Verständnis von Wissenschaft, und zwar sowohl im Allgemeinen hinsichtlich ihrer Zuständigkeit und ihrer kognitiven Möglichkeiten als auch im Speziellen, d.h. respektive der Leistungsfähigkeit einzelner Disziplinen und historischer Theorieentwürfe. Ihre Ausführlichkeit
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macht die noch relativ unbearbeiteten Kirchhofsgedanken zu einem zentralen Schlüsseltext. Beim imaginierten Gang über den Kirchhof sinniert das lyrische Ich538 über die Bedeutung des Todes für den Menschen. Schon in der dritten Stanze erfolgt die Feststellung, dass diese Frage nicht in den Kompetenzbereich einer säkularen Wissenschaft fällt, insofern sie das Heil betrifft: Ob diß nicht wol bebaute Land Mit keinen Granadillen pranget: Doch trgt es / wornach mich verlanget Vnd Welt-gesinnte nie erkand. (GdW 3, Kirchhofsgedanken, S. 5, v. 21–24)
Diese Erklärung einer eminenten Unzuständigkeit in Fragen des Heils richtet sich auf jedwede Wissenschaft, die sich von theologischen Fundamenten entweder befreit hat oder auf diese gar nicht aufbaut. Ebenso richtet sie sich gegen eine welt-gesinnte Philosophie, die sich in der Reflexion auf die Gottesinstanz mit reinen Vernunftmitteln versucht, ohne apriori je schon theologische Kategorien zu veranschlagen. Die ‚weltweise Anmaßung‘ besteht besonders in heilsgeschichtlichen Aussagen auf Basis rein philosophischer Kategorien und war gerade den Lutheranern unerträglich, widerspricht sie doch dem Offenbarungsprinzip überhaupt. Daher waren dem reformatorischen Denken solche naturwissenschaftlichen und philosophischen Positionen durchaus nahe, die ihrer eigenen Säkularität zum Trotz die offenbarungstheologische Sache stärkten, indem „sie mit den substantiellen Formen und Zwecken die heidnischen Götter und Dämonen vertreib[en]“539 und selbst keine heilsgeschichtlichen Aussagen mehr formulieren.
538 Dieser Begriff ist hier zunächst rein formal gemeint, insofern ein Subjekt pronominal im Text identifizierbar ist. Begriffsverständnisse vor allem bereits interpretativer oder gar literaturkritischer Art, dass etwa Subjekt und Objekt vereinigt wären oder es sich um ein biographisches Ich handele, sind hier nicht eingeschlossen. Vgl. dazu Dietmar Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht. Eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1995, S. 35–68. Karl Pestalozzi gelang bereits der Nachweis, dass das lyrische Ich-Verständnis zwar historisch variant ist, dabei aber die je variierende Stellung des Ich zwischen Selbst- und Fremdbezug durch die Geschichte systematisch festgestellt werden kann: Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich, S. Xf., bzgl. des Barock S. 43–77. 539 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 432; vgl. schon im Hinblick auf die Scholastik Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 22–24. vgl. Wolfgang Röd: Der Gott der reinen Vernunft. Ontologischer Gottesbeweis und rationalistische Philosophie. München 2009 (Beck’sche Reihe 1876), S. 55–70.
Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus
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Gryphius ist es in den Kirchhofsgedanken weniger um eine exklusive Legitimationsstrategie der Theologie zu tun. Die Relevanz der Heilsfrage soll mitnichten dadurch verteidigt werden, dass die Gegenstandsbereiche anderer Problemfelder für hinfällig erklärt würden. Von besonderem Interesse ist daher die fünfte Stanze: O Schul! ob der / was in der Welt Vor klug geachtet; sich entsetzet! Die / was verpicht auff Ehr vnd Geld Vor mehr / den hchst-erschrecklich schtzet O Schul! ob der der Seelen graut Die alles weiß / ohn was Gewissen: O Schul! ob welcher Zittern mssen Die mehr auff Stahl als Recht getraut. (GdW 3, S. 6, v. 33–40)
Schon auf den ersten Blick ist nicht zu übersehen, dass Gryphius gegen die Lehre Niccolò Machiavellis Front macht. Mit denjenigen, die „mehr auff Stahl als Recht getraut“ haben, sind unmissverständlich diejenigen praktischen wie theoretischen Politici angesprochen, denen das Recht der Gewalt nachgeordnet ist. Sie befürworten und betreiben eine Klugheitslehre, die Handlungsentscheidungen von rechtlichem, ethischem und moralischem Regulierungsdruck befreit ansehen.540 Damit ist der Gegner Machiavelli klar umrissen (4.1, 4.3.2). Ursache dieses moralindifferenten Prudentismus ist in Gryphius’ Augen seine unangemessene Säkularität. „[W]as in der Welt Vor klug erachtet“ wird, ist weniger systematisch moralindifferent als vielmehr moralisch blind, weil einem eben systematisch unangemessenen Fokus unterworfen. Die ‚Schul‘, vor der eine rein weltliche Lehre immer unterprivilegiert ist, ist die Theologie. Eine Lesart als ‚Schule des Sterbens‘541 trifft insofern den Punkt, als der Ursprung aller Dinge, der Geltungsgrund allen rechten Rechts und Zentralgegenstand der Theologie – eben Gott – erst nach dem Tod voll begriffen werden kann: Da der Tod allerdings nicht die einzige Schwelle hin zum vollendeten Zustand der cooperatio Dei et hominum im lumen gloriae ist,542 ist mit dem Sterben allein noch nicht allzu viel ‚schul‘ zu machen.
540 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 53 und S. 67. 541 So Johann Anselm Steiger: Schule des Sterbens. Die Kirchhofgedanken des Andreas Gryphius (1616–1664) als poetologische Theologie im Vollzug. Heidelberg 2000, S. 36–41. 542 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 212–216; auch Eilert Herms: Opus Dei gratiae. Cooperatio Dei et hominum. Luthers Darstellung seiner Rechtfertigungslehre in ‚De Servo Arbitrio‘. In: Lutherjahrbuch 78 (2011), S. 61–136, hier S. 110.
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Inwiefern die Theologie übergeordnet ist, verdeutlicht Gryphius schon in der vierten Stanze: O Schul / in der die hchste Kunst Vns sterblichen wird vorgetragen! In der nicht Bltter voll von Dunst / Kein Buch voll Wahn wird auffgeschlagen! (ebd., v. 25–28)
Der für Gryphius berechtigte Anspruch der Theologie ist kein geringerer als derjenige der Unfehlbarkeit: Die Theologie ist letztlich die einzige Wissenschaft, die weder der Gefahr nebulöser Argumentationen („Dunst“) noch gar dem Risiko des Irrtums („Wahn“) ausgesetzt ist. Interessant und für die gesamte hiesige Fragestellung sinnfällig ist nun der Multifunktionalismus, den Gryphius in der Theologie wesentlich realisiert sieht. Denn in der Tat ist die Gewissheitsgarantie, die in der unmittelbaren Selbstauskunft Gottes offenbarungstheologisch verbürgt ist – Gott lügt nicht543 –, von Gryphius zwar unbezweifelt. Darstellerisch aber wird sie nicht als erstes genannt: Was zuerst von der ‚Schul‘ gesagt wird, ist, dass sie eine Kunst, und zwar die höchste ist. Mit Anrufung des Begriffs der ars ist zunächst der Praxisbezug der Theologie angesprochen. Wenn Gryphius in der Folge auf ihre Eigenschaft als scientia zu sprechen kommt, d.h. auf das Merkmal der Gewissheit, dessen die Kunst dem Verständnis des Aristoteles nach gerade entbehrt,544 so ist das nicht inkonsequent oder gar widersprüchlich. Vielmehr wird deutlich, welch ungeheure Leistungsfähigkeit Gryphius der Theologie zuerkennt: Die Theologie kann als Kunst Gewissheitssätze formulieren und umgekehrt als Wissenschaft eminent praktische Folgerungen ziehen.545 Gerade dieser Charakter der Theologie als immer auch praktischer Theologie, die sich entgegen allen übrigen artes unter Gewissheit vollzieht, ist dasjenige, was Gryphius einen säkularen, apriorischen Prudentismus zu diskreditieren erlaubt: Was klug ist, ist gerade nicht durch Loskoppelung von Rechtsfragen herauszufinden. Damit erreicht sein Machiavellismusverdikt eine ganz bestimmte Schlagkraft: Eine säkulare Klugheitslehre hat nicht einfach darin ihren Mangel, dass sie immoralisch ist, sondern insofern sie wegen ihres Immoralismus unklug ist. „In der Welt“ wird nur „Vor klug geachtet“ – der Malus der weltlichen Klug-
543 So Mal 3,6: „[I]ch bin der HERR / der nicht leuget / Ders nicht endert. Ders da bey bleiben lesst“. Vgl. dazu auch 4.4.4. 544 Vgl. Armin Müller: [Art.] Kunst, Kunstwerk I. Der Kunstbegriff in der Antike. In: HWPh 4, S. 1357–1365, hier S. 1362. 545 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie. Frankfurt am Main 1973 (stw 676), S. 232–234.
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heitslehren und sein Grund sind hier in einem Satz konzentriert: Sie können für klug nur erachten, d.h. lediglich Vermutungen anstellen, was klug sein könnte. Sie besitzen kein Wissen hiervon. Das ist insofern kein neuer Gedanke, als schon Aristoteles die Klugheitslehren nicht unter die apodiktischen Wissenschaften zählte.546 Anders, als Machiavelli das in Gryphius’ Augen geglaubt hatte, formuliert die Theologie eben nicht nur Sätze von Gut und Schlecht, Recht und Unrecht: Das war für Gryphius nur das entscheidende Missverständnis der Machiavellisten. Die Theologie formuliert auch Sätze von Klug und Unklug. Dass sie dies in steter Verbindung zu den juridischen Bestimmungen tut, ist Gryphius’ Anspruch nach eben nicht paradox, sondern weißt auf den Kern dieses Anspruchs hin: Es ist unklug, unrecht zu handeln, da man „zittern“ muss vor dessen Konsequenzen. Hier scheint konzeptionell bereits durch, was im Hinblick auf die nächsten Kontexte des Gryphius, Melanchthon und Georg Schönborner, noch weiter zu erhärten sein wird: Dem göttlichen Recht korrespondiert offenbar eine Strafanordnung, die nicht nur heilsgeschichtliche, sondern auch diesseitig-irdische Ausdehnung besitzt. Wer einer solchen irdischen göttlichen Strafe nicht gewahr ist, unterlässt die Einbeziehung dieser irdischen Wirkmacht in sein irdisches Handlungskalkül. Die Kirchhofsgedanken verhalten sich zudem in der siebten Stanze auch explizit zu den Hauptautoritäten der traditionellen Philosophie: O Schul! Ich Komme voll begier / Die wahre Weißheit zu ergrnden! Durchforsche mich / du wirst bey mir Ein munter Ohr vnd Auge finden! Was mich ie Socrates gelehrt / Hlt ja nicht Stich: der Stagirite Vorfllt itzt gantz! der weise Scythe Wird nun auff keinem Stull geehrt. (ebd., S. 6f., v. 49–56)
Wenn die ‚Schul‘ den Anspruch hat, die „wahre Weisheit zu ergründen“, so wird dieser Anspruch hier weniger systematisch gestärkt als in den schon besprochenen Stanzen 4 und 5. Vielmehr spricht das lyrische Ich von einem Bedürfnis des Menschen, Weisheit zu erlangen. Insofern die Frage des Lebens nach dem Tod als dergestalt virulent betrachtet wird, wird die Relevanz der Theologie auch subjektiv gestärkt und anschaulich aus der theoretischen Isolation befreit. Dass es sich bei dieser Theologie allerdings um die evangelische handelt, wird im dritten Vers dieser siebten Stanze deutlich. Nur scheinbar überraschend
546 Vgl. Müller: [Art.] Kunst, Kunstwerk I, S. 1362.
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verkehren sich nämlich hier die Rollen von Forscher und zu Erforschendem: „Durchforsche mich“. Offensichtlich ist jene begehrte Weisheit keine, die auch nur irgendwie durch forschende Tätigkeit proprio sensu erlangt werden kann. Dem menschlichen Subjekt verbleibt nur ein gewisses Prädisponieren seiner selbst: „du wirst bey mir Ein munter Ohr vnd Auge finden!“. Eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit fällt tatsächlich in jeder Hinsicht unter den Tisch: Weder apodiktisch-deduzierendes Beweisen noch empirisches Sammeln und induktives Abstrahieren bieten einen Zugang zu dieser Weisheit. Nicht umsonst richtet sich die unmittelbar folgende Polemik sowohl gegen den platonischen Idealismus – denn jenen darf man in der Rede von Sokrates vertreten sehen, ist dieser doch vor allem über Platons Dialoge bekannt – als auch gegen den mehr empirischen Stagiriten Aristoteles. Für Gryphius entscheidet die ‚wahre Weisheit‘ der evangelischen Theologie diesen schon 2000 Jahre alten Streit zwischen Peripatetikern und (Neo)Platonikern nicht, sondern hält beiden ihren je unangemessenen Aktionismus vor. Sie durchforscht den Menschen und nicht umgekehrt. Mit der Vorstellung einer den Menschen durchdringenden Weisheit ist der Heilige Geist ins Bild gesetzt. Dieser vermittelt die Wahrheit von Christus durch sein Wirken, gebunden an die äußeren Mittel von Wort und Sakrament: Der Mensch ist demgegenüber passiv, er durchforscht nicht, sondern wird durchforscht.547 Damit leuchtet auch die Polemik gegen den im Text selbst durchaus als „weise“ gewürdigten Skythen Anacharsis ein: Dieser wurde seit der Geschichtsschreibung vor allem des Diogenes Laertios, der ihn zu den sieben Weisen zählte, dem Kynismus zugerechnet.548 Dessen Einsicht in die Unbegründbarkeit ethischer Normen durch Tradition und Konvention kommt zwar der theologischen Auffassung entgegen, Gewohnheitsrecht als solches für nicht ausreichend obligativ zu erachten. Der Rückzug der Kyniker in eine gesteigerte Natürlichkeit aber widerspricht gerade der reformatorischen Auffassung, dass die diesseitige Natur als depravierter Einflussbereich des princeps mundi unmöglich Quelle eines göttlichen Rechts sein kann. Die Annahme, allgemein-verbindliche Normen in der Natur vorzufinden, war bei aller zutreffenden Problemanalyse der Irrtum des Kynismus. Daher wird sein Vertreter Anacharsis in Gryphius’ Augen zurecht „auff keinem Stull geehrt“. Die achte Stanze wiederholt ex negativo diese passive Wahrheitserlangung. Das lyrische Ich lässt sich in seinem in Stanze 7 eigentlich schon kundgetanen Kenntnisstand zurückfallen in die Position, nochmals nach Möglichkeiten eigenen Schlussfolgerns aus Gründen zu fragen:
547 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 252–255. 548 Vgl. Franz Kiechle: [Art.] Anacharsis. In: Pauly 1, S. 325.
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Wer aber ists / der mir erklr Was ich zu lernen mich bemhe? Vnd der die Grnde mir bewehr? Vnd fest Schlsse darauß ziehe? (ebd., S. 7, v. 57–60)
Es ist diese Form von curiositas, illegitimer Neugier, die nicht nur gotteslästerlich ist, sondern schlicht dem Gegenstand unangemessen. Die folgenden Stanzen 9–16 imaginieren ein selbstständiges Öffnen der Gräber und Särge, die Stanzen 22–25 und 27–31 stellen den Verwesungszustand aller Leichen vor. Die dazwischen liegenden Stanzen 17–21 und 26 reflektieren das Gesehene: Der Tod ist absolut indifferent. Sterblichkeit realisiert sich bei Lasterhaften ebenso wie bei Tugendhaften und Frommen: Sind diese die / die vnser Land Beherrscht / getrotzt / gepocht / geschtzet! Die dolch vnd Spiß vnd Schwerdt gewetzet / Die stets gedruckt mit Stahl vnd Brand? Sind diese die / die Gottes Hertz/ Erweicht mit Seufftzen=reichem Beten? Die (Trotz dem jammerschwangern Schmertz!) Vor sein erzrnt Gesich getreten. Die nichts denn ihre Schuld beklagt? (ebd., S. 9, v. 125–133)
Schon wenig später wird deutlich, dass es in der Hauptsache um Konformität bzw. Nonkonformität gegenüber göttlichem Recht geht (ebd., v. 137–140).549 Wenn Gryphius in diesem Zusammenhang auch die Wissenschaft zur Sprache bringt (ebd., S. 10, v. 165–168),550 berührt er folglich nicht den nonnormativen Aspekt neben dem normativen. Er setzt vielmehr die Fehlerhaftigkeit einer bestimmten Wissenschaftsform in das Licht einer göttlich-rechtlichen Beurteilung. Es kommt darin die normative Kehrseite des hohen Ranges der Theologie zur Geltung: Eine säkular begründete Wissenschaft muss nicht nur sachlich falsch, sondern auch moralisch schlecht sein. Die Leugnung der notwendigen Bedingung – Gott – ist nicht nur ein Irrtum, sondern auch Sünde gegen nichts weniger als das erste Gebot. Die Verse 199–202 der 25. und 26. Stanze stellen vorübergehend wieder die Erkenntnisfrage nach der ‚wahren Weißheit‘ in den Vordergrund: Das lyrische
549 „Sind diese die / die Scham vnd Zucht Vnd das entweyhte Recht verjaget? Die was deß Himmels Zorn verflucht Auß seiner Hell ins Licht vertaget?“ [Hervorhebung O.B.]. 550 „Wo sind / ob derer Wissenschafft Sich das entzckte Volck entsetzet / Die man der Weißheit Vter schtzet! Die Zeit hat all’ hinweg gerafft.“
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Ich beklagt, dass es selbst tugendhafte Menschen nicht von Sündern unterscheiden kann. Die ausführlich dargestellte Verwesung lässt keinerlei Hinweise auf den Lebenswandel, mithin die moralische Integrität des Verstorbenen mehr zu. Entscheidend ist allerdings der in der 47. Stanze reflektierte Umstand, dass auch vor dem Tod die Urteilsfähigkeit des Menschen über die moralische Integrität Anderer bedeutend eingeschränkt ist: Viel / die man groß vnd heilig schtzt; Schtzt Gottes Außspruch vor verlohren! Viel / die man schmeht / verspeyt / verletzt: Sind zu dem grossen Reich erkohren. Starrt ob dem schnen Marmel nicht / Stein Schmuck vnd Grabschrifft knnen trgen. Die Leiche nur weiß nicht von Lgen: Nichts von betrgen diß Gericht. (ebd., S. 17, v. 369–376)
Dieser eingeschränkten Erkenntnis-, mithin Urteilsfähigkeit des Menschen wird die Unfehlbarkeit des göttlichen Gerichts gegenübergestellt. Die bislang unabhängig voneinander entwickelten Diskurse von Wissenschafts- und Rechtstheorie werden zusammengeführt: Die allumfassende ‚Erkenntnisfähigkeit‘, d.h. das Allwissen Gottes ist Grund des Supremats der Theologie und Ursache einer universalen Gerechtigkeit gleichermaßen. Das Verhältnis des menschlichen Subjekts zu diesem Wissen kann, wie schon gezeigt, nur ein letztlich passives sein. Dies gipfelt bereits in der 43. Stanze in einem radikalen, aber theologisch gut fundierten Aufschub: Da werd ich / euch / die ich itzt schau / Vnd doch nicht weiß zu vnterscheiden / Wie ich voll fester Hoffnung trau Sehn ganz vertufft in Freud vnd Leiden! In Freuden / die kein Sinn’ ersinn’t; In Leid / das Niemand kann ermssen! In Lust / die aller Angst vergessen / In Leid / das nimmer nicht zerrinnt. (ebd., S. 16, v. 337 – 344)
Evidenz darüber, wer in der Tat tugendhaft und wer Sünder ist, kann es nur nach dem Tod geben, in Ansehen des Jüngsten Gerichts. Damit nimmt sich die Theologie in ihrem eigenen, genuin theologischen Erkenntnisanspruch natürlich auch selbst zurück: Wie schon im Dreifaltigkeitssonett ist der Theologie eine Gotteserkenntnis über den Beweis, dass Gott ist, und seine geoffenbarten Selbstauskünfte, wie er ist, hinaus nicht möglich. Eine spekulative oder natürliche Theologie, die sich nicht an die exklusive Autorität der Heiligen Schrift gebunden fühlt, wird abgelehnt. Das schadet allerdings nicht dem hohen Rang der Theologie:
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Erstens nämlich gilt die eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen für alle Wissenschaften und Künste. Zweitens ist die Erkenntnis von dieser Eingeschränktheit wiederum eine theologische. Damit behält die Theologie ihren Führungsanspruch bei. Was dem Menschen hinsichtlich dessen zu tun übrig bleibt, ist zwar in eine Parenthese verschoben, aber dennoch entscheidend für Erkenntnis-, Geltungsund Verhaltensfragen: „Wie ich voll fester Hoffnung trau“. Dem diesseitigen Schauen („euch / die ich itzt schau“) ist sein unzuverlässiger, Unterschiede gerade nicht ausmachender Charakter („nicht weiß zu vnterscheiden“) schon nachgewiesen. Dem Schauen wird nun nicht nur über die Reimform, sondern auch systematisch das Trauen gegenübergestellt: Dieses Vertrauen zeichnet sich durch einen Zugang zum angestrebten Erkenntnisgegenstand aus, der von den Sinnen unabhängig ist und der darin dennoch nicht seinen Nachteil hat, sondern seinen Vorteil gewinnt. Während die Sinneswahrnehmung das lyrische Ich gerade verunsichert hatte, kann das Vertrauen auf die letzthinnige Herstellung der Gerechtigkeit in fester Hoffnung erfolgen. Der Indikativ unterstreicht die Überzeugung, dass im jenseitigen Zustand dem Menschen die Einsicht über Gottes Ratschlüsse zugänglich sein wird: „Da werd ich / euch […] Sehn“. Es ist abermals der zentrale Baustein lutherischer Theologie, dass über die Rätsel des Deus absconditus erst sub lumine gloriae Aufschluss gegeben wird.551 Dass auf das Jenseits nicht nur zu hoffen bleibt, sondern in aller Zuversicht gehofft werden kann, schlägt sich im fest nieder: Das Hoffen auf die jenseitige Einsicht in Gottes Ratschlüsse ist gerade nur in den Begriffen des diesseitigen Denkens epistemologisch unterprivilegiert. Das Festhalten an Hoffnung folgt im Gegenteil einer Überzeugung. Dies stellt nur eine Seite der von Gryphius lyrisch verarbeiteten Drei-LichterLehre dar. Zwar ist es den Kirchhofsgedanken im Wesentlichen um das Potenzial menschlicher Reflexion auf heilsgeschichtliche Fragen zu tun. Die Frage des tätigen menschlichen Verhaltens wird allerdings notwendig mit aufgerufen, und zwar nicht getrennt von, sondern in systematisch-theologischem Zusammenhang mit der Frage der menschlichen Erkenntnis von Gottes Ratschluss. Es geht den Kirchhofsgedanken schließlich nicht um jedwede Ununterscheidbarkeit, nicht um beliebige Phänomene. Das Interesse liegt durchweg auf der Unterscheidung von Rechtsbrechern und Unbescholtenen. Das jenseitsgerichtete Erkenntnisinteresse des lyrischen Ichs ist immer ein ethisches Interesse. Nur konsequent steht in der genauen Mitte des 400 Verse umfassenden Textes die Frage des lyrischen Ichs nach einem ethischen Urteil: „Wehn sol ich hoch / wehn edel nennen?“ (ebd., S. 11, v. 199). Mit der Prekarisierung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit
551 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 212.
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in Angelegenheiten göttlichen Rechts geht eine ebenso große Verunsicherung des menschlichen Subjekts darin einher, sich entsprechende Urteile über Andere zu bilden und diese vor allem selbst auszuführen. Denn wie die 47. Stanze deutlich macht, richtet sich dieses Urteil nicht nur auf Verstorbene, sondern ebenso auf noch Lebende: Mithin geht es in diesem vordergründig ganz auf Jenseitsfragen konzentrierten Gedicht auch um bedeutende Fragen diesseitigen Handelns. Die rechtstheologische Basis führt dabei über die offenbarungstheologische Erkenntniskritik hin zu einer neostoischen Ethik auf lutheranischer Basis: Gerade im Hinblick auf Gryphius’ Papinian wurde die altbekannte constantia mit dem Begriff des leidenden Gehorsams zu fassen versucht:552 Im Zweifelsfall korrespondiert dem epistemologischen Gedulden ein praktisches Dulden des zweifelhaften Status quo.553 Gryphius widmet sich solchen Zweifelsfällen, d.h. Ausnahmezuständen, ausgiebig in seinen politischen Trauerspielen. Ein solcher leidender Gehorsam kennzeichnet etwa das papinianische Dilemma, zwischen zwei göttlichen Geboten nicht mehr vermitteln zu können: Papinian darf weder den Brudermord schönreden noch den nach wie vor legitimen Kaiser Bassian stürzen. Das Unterlassen eigener politischer Maßnahmen folgt nicht nur der persönlichen Unsicherheit über das ethische Urteil des menschlichen Subjekts selbst. Es resultiert auch aus dem überzeugungsgleichen Vertrauen in die tatsächliche Geltendmachung des göttlichen Rechts, mithin in den tatsächlichen Vollzug eines rechtlichen Urteils, das nicht mehr eigenhändig zu fällen ist. Die feste Überzeugung, dass die göttliche Strafe tatsächlich stattfindet, ist es schließlich, die den Machiavellismus als gerade unklug begreifen lässt. Ein sich als säkular für möglich haltender Pragmatismus verkennt apriori, dass es sich bei den göttlichen Gesetzen nicht um allein normative Spekulation handelt: In ihrer Geltendmachung, in Gottes Strafvollzug, werden sie zu Tatsachen. Indem Gryphius in der Annahme einer wahren, unfehlbaren Theologie eine unter Gewiss-
552 Z.B. Müller: Andreas Gryphius et la théorie politique calviniste, S. 239. 553 Reiner Strunk betont den schon für Luther selbst bedeutsamen Zusammenhang von Vertrauen und theologischer Ethik: Reiner Strunk: [Art.] Vertrauen I. Ethisch. In: TRE 35, S. 71–73, hier S. 72f.: „Luthers theologische Zentrierung des Vertrauens in der Gottesbeziehung bedeutet freilich nicht, daß Vertrauen ausschließlich für die Glaubenslehre und nicht ebenso für die Ethik relevant wäre. Seine Interpretation von fides durch fiducia erfolgt immerhin in Auslegung des ersten Gebots und damit im Zusammenhang der theologischen Grundlegung einer Ethik der Gebote. Die Entfaltung dieser Gebotsethik in einzelnen Verhaltensregeln intendiert dabei grundsätzlich eine gelingende Kommunikation zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch, die in der Vertrauensrelation des ersten Gebots ihre Basis hat und ihre Zielrichtung findet. So wenig deshalb Vertrauen zu den konkreten Forderungen einer materialen Ethik gerechnet werden darf, so sehr gehört es doch in den Begründungszusammenhang einer theologischen Ethik.“
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heit operierende Klugheitslehre denkbar macht, vermag er genuin prudentielle Erwägungen in Moral- und Rechtstheologie zu integrieren, ohne sie unvermittelt unter einen normativen Primat zu stellen und damit ihres Prudentismus zu benehmen. Gryphius’ hat begriffen, dass die Universalität der Theologie gerade von der Not befreit, die normative Sphäre nur als solche verteidigen zu können: Sie erlaubt hingegen, vom Klugen zu sprechen, ohne damit schon von normativen Kategorien getrennt zu sein. Naturrechtsdenker des sechzehnten Jahrhunderts wie Francisco de Vitoria hatten die Rechtstheologie nur normativ und damit im Grunde gegen jedwede Klugheitslehre verteidigt: Damit hatten auch sie die Trennung von normativer und nonnormativer Sphäre mitgemacht, die in Ansehen der Theologie selbst und ihres umfassenden Charakters gerade unzutreffend ist: Spätscholastische Verteidigungsversuche der Rechtstheologie mussten letztlich erfolglos bleiben, da ihre Distinktionskategorie normativ-nonnormativ bereits zu säkular war. Ihr Fehler lag in der unzulässigen Ontologisierung dieser Distinktionskategorie im Hinblick auch auf Gott und die Theologie selbst. Für den Lutheraner Gryphius zeigte sich darin nur die scholastische Distinktionswut: Sie ging über den Absolutheitscharakter Gottes wie der Theologie hinweg, insofern ihr die Aufhebung dieser Unterschiede in Gott unklar war. Dies ist schließlich die eigentlich inklusive Legitimationsstrategie der Theologie. Sie setzt sich von anderen, vermeintlich säkularen Disziplinen nicht einfach ab im Verweis auf die außerordentliche Dignität eines Gegenstandes. Sie ordnet sich diesen Disziplinen insofern über, als sie sie sich einverleibt. Jurisprudenz, Politik, Ethik usw. sind nur dem Anwendungsbereich, nicht aber der Begründungstheorie nach säkular. Für die politische Ideengeschichte wird damit auch deutlich, dass sich das Luthertum und mit ihm die Zwei-Reiche-Lehre nur eingeschränkt als Motoren der Säkularisierung plausibilisieren lassen: Das weltliche Regiment ist zwar nicht mehr geistlich, sondern säkular institutionalisiert und organisiert. Dennoch aber ist Recht nur auf Basis einer ‚Schul‘ zu haben, die selbst nicht nur ‚in der Welt achtet‘, ja vor der sich eine reine Weltlichkeit nachgerade „entsetzet“. Die Weltlichkeit des vom protestantischen Naturrecht konzipierten Staates ist nur als theonome Säkularität gedacht.
4.4.2 Philosophia perennis? Gryphius und die (Selbst)Limitation der neuen Wissenschaften In Gryphius’ erläuterter ‚Wissenschaftslyrik‘ ist von ewiger Weisheit die Rede und diese Weisheit ist ebenso unüberwindlich wie dem Menschen als ganze unzugänglich. Daher ist zu prüfen, inwiefern Gryphius eine Nähe zum traditionsrei-
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chen Denken der philosophia perennis zu attestieren ist. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat einen systematisch wie historisch umfassenden Umriss dieses Denkens vorgelegt, auf den sich hier ohne Einschränkungen gestützt werden kann.
4.4.2.1 Philosophia perennis und Gryphius’ Begriff von universaler sapientia Gryphius’ Wissenschaftsverständnis steht dem Gedanken einer solchen Weisheitslehre nahe, ohne in der systematischen Begründung den Spiritualismus der philosophia perennis zu teilen. Denn hinsichtlich des Einheitsgedankens von Philosophie und Theologie, wie er für die philosophia perennis charakteristisch ist, hält Schmidt-Biggemann fest: Es ist die Bedingung dieser Wissenschaft, daß sie zwischen Philosophie und Theologie nicht trennt. Philosophia perennis ist Philosophie unter den Rahmenbedingungen der Theologie mit der erklärten philosophischen Absicht, die Theologie zu stützen. Sie will nichts weniger als die Philosophizität der Theologie beschreiben, sie nimmt die Konfrontation von Philosophie und Theologie gar nicht erst wahr. Die Philosophia perennis steht deshalb nicht unter Anklage, sie muß sich nicht verteidigen.554
Übereinstimmungen mit Gryphius finden sich einmal in der sachlichen Ununterschiedenheit von Philosophie und Theologie, zumindest hinsichtlich des grundlagentheoretischen Charakters letzterer. Übereinstimmungen finden sich weiter in der angesprochenen „Absicht, die Theologie zu stützen“. In den übrigen Punkten differieren allerdings sowohl Gryphius’ Problembewusstsein als auch seine Problemlösung. Sie scheinen sogar von einer regelrechten Umkehrung derjenigen Verhältnisse geprägt, wie sie in der philosophia perennis vorzufinden sind: Gryphius stützt erstens die Theologie nicht, indem er „die Philosophizität der Theologie beschreibt“: Er weist umgekehrt die Theologizität wenngleich nicht der Philosophie als solcher, wohl aber ihrer Grenzen nach. Gleichwohl treiben ihn dabei zweitens die wissenschaftlichen Neuerungen dazu, durchaus einen Konflikt zwischen Philosophie und Theologie wahrzunehmen. Wenn daher Gryphius’ Wissenschaftslyrik drittens nichts anderes ist als eine Verteidigung der Idee einer ewigen Weisheit, dann insofern er nachzuweisen sucht, dass die Konfrontation von Philosophie und Theologie sachlich unrichtig ist und auf falschen Annahmen über philosophische und theologische Kategorien gründet. Im Wesentlichen wurde bereits gezeigt, dass diese Annahmen in Gryphius’ Augen deshalb falsch sind, weil sie die absolute, nicht relative Eigenständigkeit
554 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt am Main 1998, S. 49.
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dieser Kategorien behaupten. Gryphius hingegen geht es in seiner Wissenschaftslyrik darum, dass die philosophischen Kategorien und Methoden durchaus zur Anerkennung der theologischen führen, nämlich dort, wo die Philosophie über die Grenzen ihrer eigenen Leistungsfähigkeit reflektiert. Für die philosophia perennis war die Einheit bzw. das Zusammengehen von Theologie und Philosophie im obersten Prinzip und der ersten Ursache der Welt schlicht gesetzt: Sie nahm „die Konfrontation von Philosophie und Theologie gar nicht erst wahr“. Gryphius problematisiert diese einfache, implizite Setzung. Ihren Inhalt aber versucht er durch die Angabe seiner Gründe zu bestärken. Während Gryphius die Existenz einer ewigen wie umfassenden, dem Menschen aber unerreichbaren Weisheit auf der einen Seite affirmiert, kritisiert er auf der anderen den apriorischen Mystizismus ihrer Grundlegung in der philosophia perennis. Diese Gründe entstammen dabei einer philosophisch geleiteten Erkenntniskritik. Theonom ist ‚nur‘ die Setzung des Vorhandenseins der ewigen Weisheit. Gryphius’ Erkenntnis ihrer Unerreichbarkeit für den Menschen ist insofern philosophisch, als sie auf Verstandes- und Sinnesvermögen reflektiert. Gryphius ist also Rationalist und selbst Sensualist genug, um den erkenntniskritischen Wert von Verstand und Sinneswahrnehmung gegen jedwede mystische Tendenz zu würdigen. Dieser sein bloß erkenntnistheoretischer Rationalismus führt Gryphius allerdings noch nicht zu einem metaphysischem Rationalismus, der ihn schließen ließe, dass es die ewige Wahrheit auf Grund ihrer verstandesmäßigen Unzugänglichkeit gar nicht gäbe. Die Existenz der ewigen Weisheit beruht schlicht auf göttlicher Setzung. Hierin schließlich und nur hierin teilt Gryphius ein Fundament der philosophia perennis. Die Unerreichbarkeit der ewigen sapientia wird nicht quantitativ begründet, etwa mit der Kürze des Lebens oder mangelnder Verstandeskapazität. Die ewige Weisheit ist aus qualitativen Gründen nicht zu erreichen: Denn erstens sind das menschliche ingenium und die menschlichen Sinne dem Wesen Gottes apriori inadäquat. Zweitens aber ist die Tatsache, dass die gesetzdurchwirkte Welt gegenüber ihrem Schöpfergott dennoch kontingent ist. Es war unter den neuen Denkern schließlich auch Francis Bacon, der – eigentlich Empirist – diese qualitative Unmöglichkeit behauptet hatte: „God is only selflike, having nothing in common with any creature“.555 Gottes Einmaligkeit macht ihn einem generalisierenden Empirismus von vornherein unzugänglich, da dieser notwendig auf secunda comparationis angewiesen ist (4.3.3.1). Entscheidende Traditionen wie diejenige des für das Luthertum so gewichtigen Augustinus werden dabei unter verkehrte Vorzeichen gestellt: In dessen
555 Bacon: Of interpretation of nature, hier S. 218 [Hervorhebung O.B.].
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Augen macht empirisches Beobachten den Menschen seiner selbst insofern verlustig, als er dafür des Blicks nach innen bedarf – diese Doktrin aus Confessiones X, 8 bildet auch den pointierten Höhepunkt von Francesco Petrarcas Mons Ventosus-Brief.556 Anders als Augustinus erkennt Gryphius’ Wissenschaftsverständnis dem rationalen Denken und empirischen Forschen mehr Wert zu. Im Hinblick auf die Gotteserkenntnis bzw. die Erkenntnis seines Gesetzes aber ist die Natur gerade nicht Erkenntnisquelle: Das ist das augustinische Erbe im Luthertum, wie es Gryphius im neuen Wissenschaftsverständnis gerade nicht widerlegt, sondern rundheraus bestätigt sieht. Die Raum- und Zeitlosigkeit der Gottesinstanz hat notwendig zur Folge, dass sie den räumlich wie zeitlich umschränkten Gegenständen der Schöpfung nicht greifbar innewohnen kann.557 Gryphius übernimmt das schon von Melanchthon depotenzierte Erbe nicht als universal-epistemologischen Augustinismus, sondern als theologischen Augustinismus. Dieser braucht die Autorität der Schrift von den neuen säkularen Erkenntnisansprüchen gar nicht als bedroht anzusehen, solange das rechtstheologische Substrat, nämlich die normative Kraft der Schrift und die Geltungsleistung durch die göttliche Strafinstanz Geltung behält. In diesem Sinne hat man es bei Gryphius’ Wissenschaftslyrik mit einer bemerkenswerten Entwicklungsstufe in der Säkularisierung der Wissenschaftsphilosophie zu tun: Die Feststellung einer theonomen sowie dem Menschen unerreichbaren Universalweisheit ist ohne Zweifel konservativ. Es ist allerdings nunmehr die Philosophie selbst, die diese Limitation ihrer Mittel mit diesen Mitteln zu erkennen vermag: Die Philosophie ist zwar noch beschränkt, sie ist dies jedoch nicht mehr per definitionem aus theologischer Doktrin, sondern weiß darum per exercitium ihrer selbst.
556 Aurelius Augustinus: Confessiones. Lat.-dt. Übers. u. hg. von Wilhelm Thimme. Düsseldorf 2004 (Sammlung Tusculum), S. 442, X, 8: „eunt homines mirari altra montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos“. Francesco Petrarca: Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten. Übers. u. hg. von Berthe Widmer. Bd. 1. Berlin, New York 2005, S. 185. 557 Vgl. auch Augustinus: Confessiones, S. 433–435, X, 6: „amo […] amplexum interioris hominis mei, ubi fulget animae meae, quod non capit locus, et ubi sonat, quod non rapit tempus […]. hoc est, quod amo, cum deum meum amo. et quid est hoc? interrogavi terram, et dixit, non sum. et quaecumque in eadem sunt, idem confessa sunt. interrogavi mare et abyssos et reptilia animarum vivarum, et responderunt, non sumus deus tuus. interrogavi auras flabiles, et inquit universus aer cum incolis suis, fallitur Anaximenes; non sum deus. interrogavi caelum, solem, lunam, stellas: neque nos sumus deus, quem quaeris, inquiunt. […] homines autem possunt interrogare, ut ‚invisibilia dei per ea, quae facta sunt, intellect conspiciant‘, sed amore subduntur eis et subditi iudicare non possunt“ [Hervorhebungen O.B.]. Vgl. Norbert Fischer: Augustins Weg der Gottessuche. ‚foris‘, ‚intus‘, ‚intimum‘. In: Trierer Theologische Zeitschrift 100 (1991), S. 91–113.
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Die docta ignorantia ist bei Gryphius eine zweifellos fromme, jedoch keine verfügte mehr. Gelehrt an dieser Unwissenheit ist nicht mehr nur die Beflissenheit im Bereich dessen, was zu wissen übrig bleibt, sondern gelehrt ist nunmehr auch die Herleitung ihrer Tatsache: Die Unwissenheit hat bestimmte und auch bestimmbare Gründe. In der Tat ist es die Erkenntnis, dass etwas qualitativ nicht mehr gewusst werden kann, und keine Verfügung mehr, dass etwas normativ nicht gewusst werden soll. Wer meint, das dem Menschen zugängliche Wissen über seine sachlichen Grenzen hinaus transzendieren zu können, ist bei Gryphius weniger mehr nur ein Häretiker, der sich der Hybris schuldig macht, sondern ein Narr. Er ist weniger nur ein schlechter Christ als vielmehr auch ein schlechter Philosoph. Dass dies homolog für die Staatslehren und die prudentia civilis bei Gryphius zu gelten hat, wird im Folgenden detaillierter aufzuweisen sein. Im Kern kann diese These wie folgt formuliert werden: Gryphius verteidigt die Geltung des fundamentalen Theologems von der Unerreichbarkeit von Gottes Wesen und Wissen nicht mehr dogmenschwer gegen die Philosophie, sondern er ergründet es mit der Philosophie. Entsprechend geht es Gryphius’ staatsrechtlichem Denken um den Nachweis, dass ein von göttlichem Recht und göttlicher Strafe kategorisch absehender Prudentismus nicht nur amoralisch, sondern gerade auch unklug ist.
4.4.2.2 Gryphius’ Kircher-Rezeption und Kritik einer Universalwissenschaft: Ein Widerspruch? Verwirrung vermag Gryphius’ affirmative Rezeption Athanasius Kirchers stiften: Kircher ist in Gryphius’ Leichabdankungen mit vier Nennungen die namentlich meistzitierte Autorität.558 Dessen Geschichte machender universalwissenschaftlicher Ansatz gilt als synkretistisch und steht daher dem expliziten Verdikt Gryphius’ gegen den Synkretismus scheinbar unversöhnlich gegenüber, das sich in der Leichabdankung Uberdruß menschlicher Dinge auf Adam Henning (1655) findet. Zum Verständnis dieser Rezeptionshaltung bedarf es eines differenzierteren Blicks sowohl auf Kirchers Werk als auch auf das gryphsche Denken. Letzteres wurde hier bereits entsprechend entfaltet und wird auch noch entsprechend zugespitzt werden. Kirchers wissenschaftliches Denken und Wissenschaftsdenken – was gerade bei Gryphius nicht dasselbe ist – können hier ohne Zweifel nicht im Entferntesten angemessen ausgebreitet werden. Hier kann es nur um den Hinweis gehen, dass Kirchers universalwissenschaftlicher Ansatz keineswegs von der Magie oder gar dem Okkultismus geprägt ist, welche die Kircher-
558 GdW 9, S. 82, 114, 135, 173f.
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Forschung lange Zeit vermutete. Bereits Barbara Bauer kritisierte diese „Stilisierung Kirchers zur tragischen Figur des Verlierers im Prozeß der neuzeitlichen Emanzipation der Einzelwissenschaften aus der Oberherrschaft der Theologie“ und sah deren Ursache zurecht in „einer einseitig-eklektischen Lektüre aller derjenigen Schriften Kirchers, die Magisches im weitesten Sinne berühren“.559 Vielmehr erinnert schon Bauer daran, „daß man Kircher auch ganz entgegengesetzt als empirischen Naturwissenschaftler verstehen kann, der sich entsprechend dem Wissenshorizont seiner Zeit bemühte, theoretische Begriffe, die durch eine hermetische oder alchemistische Tradition vorbelastet waren, mit einem neuen empirischen Sinn zu füllen“.560 Thomas Leinkauf korrigiert schließlich die von Bauer angemahnten Fehler, die eine eklektische Lektüre in der Philosophiegeschichte hinterlassen hat, und vermittelt Athanasius Kircher in den seinem Werk allein adäquaten Differenzierungen. Leinkauf unterschlägt freilich nicht, dass „[d]ie Indifferenzierung von Sache und Methode […] zum intrinsischen Problem universalwissenschaftlicher Theorien und deren Umsetzung seit R[aimund] Lull“ gehört.561 Daher nähert sich Leinkauf dem Vorhaben Kirchers mit besonders aufmerksamem Blick dafür, inwieweit der Anspruch dieser Universalwissenschaft im Hinblick auf das menschliche Wissenssubjekt denn tatsächlich statthat. Gleichfalls macht Leinkauf besonders anhand des Iter exstaticum (1656) deutlich, dass auch und gerade das menschliche Wissen begrenzt, allemal also ein „Konfinium menschlichen und göttlichen Wissens präsent“ gehalten wird.562 Gerade „das kühnste hypothetische Extrapolieren“ wird, „wenn es durch den ekstatischen Blick haltbar erscheint, als nur im göttlichen Intellekt sicherbares Wissen und nur durch das Syndrom Offenbarung/ Evidenz zugängliches Wissen erwiesen“:563 Eben darin hat Kirchers Vorhaben von Universalwissenschaft mit Gryphius’ Verständnis von allgemeiner Weisheit mehr gemein, als es Gryphius’ Synkretismus-Kritik und ein verzerrtes Bild von Kirchers Wissenschaftsphilosophie prima vista vermuten ließen.
559 Barbara Bauer: [Rez. v.] John E. Fletcher (Hg.): Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit. In: Arbitrium 9 – 1 (1991), S. 59–62, hier S. 60. 560 Ebd. Bauer stützt sich dabei auf William Hine: Athanasius Kircher and Magnetism. In: Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit. Hg. von John E. Fletcher. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 17), S. 79–97. 561 Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680). 2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufl. Berlin 2009, S. 29. 562 Ebd. Der iter exstaticum hat insofern, um mit Barbara Bauer zu sprechen, etwas Faustisches an sich: Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 24. 563 Leinkauf: Mundus combinatus, S. 29 [Hervorhebungen im Text].
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Ihren Unterschied haben die Positionen Kirchers und Gryphius’ in der Begründung dieser jeweiligen Exklusivität göttlichen universalen Wissens. Für Gryphius ist vor allem der Voluntarismus leitend, insofern die ersten Prinzipien der Welt als rein willentliche Ratschlüsse Gottes gar nicht intelligibel sein können. Bei Athanasius Kircher hingegen herrscht ein theologischer Intellektualismus vor. Die „eingeschränkte menschliche Optik“ findet ihre Scheidewand nicht an einer überhaupt jenseits von Erkennen liegenden Willentlichkeit, sondern an der „Tiefenschärfe des idealen Intellekts“.564 Damit präsentiert sich Kircher zum Einen als Forscher, der sich der Herausforderung empirischer Sinnfüllung der Einzeldisziplinen in der Weise stellt, wie es Bauer nahelegte. Zum Anderen erscheint er auch als Denker, der in dieser allein einzelwissenschaftlichen Sinnfüllung gerade keine Verunmöglichung einer universalwissenschaftlichen Kategorien- und Ansatzbildung sieht: Diese liegt ohnehin beim idealen und somit nur göttlichen Intellekt. Sinnfällig wird dies im ‚Magnetismus‘, dessen Prinzip Kircher seinen Be obachtungen nach in der ‚Einheit der Gegensätze‘ sieht und welches er zum „Erklärungsmodell aller Wissenschaften“ erhebt.565 An der gegenseitigen Anziehung und Abstoßung anorganischer wie organischer Körper und Dinge, d.h. eben auch von Lebewesen,566 macht Kircher seine fundamentalen Begriffe von Sympathie und Antipathie fest. In Kirchers Formulierungen lässt sich ein ansatzweise vorhandenes, wenn auch eingeschränktes induktiv-empirisches Moment nicht übersehen: Seine Formulierungen arbeiten sich doch sehr behutsam am allemal Beobachtbaren entlang, dass sich nämlich Dinge genauso wie Lebewesen einander nähern und voneinander entfernen.567 Für die Interpretation der gemachten Beobachtungen leitend und insofern von einem echten Empirismus entfernt ist schließlich die immer schon aufgewandte Terminologie von appetitus und appetere: Sie prädisponiert die magnetistische Systematisierung, insofern sie im Rahmen einer petitio principii eine andere Rede als die von Anziehung und Abstoßung gar nicht zulässt (etwa diejenige von Impuls, steter Bewegung und
564 Ebd. 565 Jürgen Mittelstraß: [Art.] Kircher, Athanasius. In: EPhW 2, S. 397–400, hier S. 398. 566 Athanasius Kircher: Magnes siue De Arte Magnetica. Rom 1641, S. 751–773 (lib. III, pars VI Ζωομαγνετισμὸς, ìdest, De Magnetica facultate, siuè magnetismo Animalium). 567 Ebd., S. 751 (lib. III, pars VI, cap. VI): „Triplicem Magnetismi rationem in animalibus reperio, vel enim est appetitus, quo certo loco & regioni quouis animal ita alligatur, vt extra eam viuere non possit; Secundò est vis quædam in animalibus, qua simile trahit sibi simile, quod est fundamentum omnis sympathiæ, & antipathiæ animalium cum animalibus, alijsq; rebus. Tertiò, specifica quædam virtus, siue dos quædam particularis à tota substantia promanans, vis inquam magnetic, qua aliud corpus naturaliter appetit.“
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Gegenbewegung/Gegenimpuls; vgl. 4.3.4.1). Die generalisierende Beschreibung der Näherungen und Entfernungen von Dingen als Anziehungen und Abstoßungen ist voraussetzungsvoll. Daher wird auch die Universalität des Magnetismus gefolgert, mithin unter theistischen Vorzeichen die Einheit der Gegensätze als denknotwendig angesehen. Das Aufgehen von Sympathie und Antipathie in der „absoluten Einheit“568 Gottes erfolgt vor theologischem Hintergrund genauso, wie er auf diesen Hintergrund bekräftigend zurückverweisen soll. Der zeitgenössischen Philosophie vor Hobbes stand gerade noch kein reifes an-entelechisches Begriffsinventar zur Verfügung (vgl. 4.3.4.1).569 Die (theo-)teleologische Erklärung von Anziehung und Abstoßung war also mangels etablierter Alternativen gleichsam unumgänglich. Daher darf nicht geringgeschätzt werden, wie sehr Kirchers Magnetismus tatsächlich beobachtungsgeleitet ist. Im prinzipiell teleologischen Begriffsrahmen konnten diese Beobachtungen schlechterdings nicht anders, als auf Gott als das eine Telos, den einen Anziehenden, den einen Magneten hinzuweisen: Ebenso begreift es später Gryphius in der Magnetischen Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen (GdW 9, S. 70). Kircher selbst prägt dafür vor allem den Begriff der Weltseele.570 Andreas Gryphius nimmt gerade den empirischen Naturwissenschaftler Kircher wahr. In seinen Leichabdankungen zitiert er zweimal dessen so wichtige Magnetlehre, zweimal die Lehre Kirchers von Licht, Lichtbrechung und Schattenwurf. Es lässt sich dabei feststellen, dass Gryphius die naturwissenschaftlichen Sätze Kirchers nicht durchweg metaphorisch, allegorisch oder anderweitig
568 Leinkauf: Mundus combinatus, S. 320. 569 Vgl. Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, sowie Stephan Schmid: Finalursachen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen. Berlin, New York 2011 (Quellen und Studien zur Philosophie 99). 570 Vgl. Mittelstraß: [Art.] Kircher, Athanasius, S. 398, dies natürlich mit den entsprechenden Zweideutigkeiten, diese Weltseele als natürlich-immanent, göttlich-transzendent oder natürlich-göttlich gleichermaßen aufzufassen, wie Leinkauf: Mundus combinatus, S. 54, deutlich macht: „Gerade ein nicht mechanistisches Verständnis des Naturganzen mußte die relative Eigenständigkeit und damit Substantialität eines organisierenden Prinzips immer wieder betonen und zwar gerade dann, wenn es zugleich galt, eben dieses Prinzip – als instrumentum resp. ars – immer intensiver als innere Kraft zu denken. Denn als solche innere Kraft mußte sie als ein gegenüber den einzelnen Kraftäußerungen, den konkreten verschiedenen Naturprozessen, ein selbst Nicht-Einzelnes, Allgemeines bleiben, für das es streng genommen keine ontologische Position mehr gab“ [Hervorhebungen im Text]. Vgl. besonders ebd., Anm. 36: „Als ‚Inhalt‘ zur Besetzung dieses Allgemeinen bot sich daher entweder das absolute Naturprinzip selbst (Gott) an oder zumindest das, was man als dynamisches Wirkpotential, als göttlichen Mandatsträger bezeichnen könnte: Natur als ars Dei oder virtus/ potestas Dei.“
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bildspendend auf seinen eigentlichen Gegenstand appliziert.571 Gryphius erfasst diese Sätze ihrem zeitgenössischen, naturwissenschaftlich-empirischen state of the art gemäß. Gerade mit Blick auf die genannte Leichabdankung Magnetische Verbindung des Herrn Jesu darf nicht für ausgemacht gelten, dass Gryphius den Magneten nur als Bildspender verwendet, d.h. bloß als äußerlichen und somit nur rhetorischen Vergleich, der über ein weitgehend unbestimmtes Anziehungsprinzip als dem tertium comparationis funktionierte und daher keine sachliche systematische Relation anzeigte.572 Zwar legen Gryphius’ Formulierungen prima vista eine dergestalt allein vergleichende Inbezugsetzung nahe: Wie nun der Magnet dem Eysen seine Krafft mittheilet: Eben so hat man verspret daß der HErr die Seele unserer nunmehr seligsten Jungfrauen Mariane und gleicher Begierde entzndet / daß sie nach nichts als dem verlanget / der einig nach ihr getrachtet. (GdW 9, S. 65 [Hervorhebung O.B.])
571 In seiner ersten Bezugnahme auf Kircher in Folter menschlichen Lebens (1648) nimmt Gryphius einen Bericht Kirchers auf, wonach in einer Schlangenhöhle nahe Rom „die Ausstzigen und mit schweerenden Kranckheiten angesteckte Leiber von den Nattern umschlinget und belecket / und durch solches Mittel von ihrer Abscheuligkeit gereiniget / und von Grundaus geheilet“ werden (GdW 9, Folter menschlichen Lebens, S. 173f.). Die von Gryphius selbst nicht genau bibliographierte Stelle findet sich in Kircher: Magnes siue De Arte Magnetica, S. 802– 806 (lib. III, pars VII, § 11 De spelunca serpentum & mirabilibus eius). Zweitens wird in der Leichabdankung Winter-Tag Menschlichen Lebens (1653) die Eigenschaft von Rauch, Schatten abzubilden, „aber wegen der steten Bewegung“ dennoch zu verzerren, mit einem Charakteristikum des Neides verglichen, nämlich „die Tugenden berhmter Gemther“ durchaus zu erkennen, „aber selbe andern (wie unsaubere Spiegel) gantz verkehrt und schrecklich“ vorzustellen; Kircher wird hier aus seiner Ars magna lucis et umbrae von 1646 zitiert (GdW 9, Winter-Tag Menschlichen Lebens, S. 114). Das gleiche Werk Kirchers wird in der Leichabdankung Uberdruß menschlicher Dinge (1655) zitiert, wo Gryphius drittens Schattenbilder und Ruhm auf ihre – einmal lichtphysikalische, mal diesseitig-irdische – Einseitigkeit hin vergleicht; genauso wie das Bild jenseits des Schirms, im Dunkeln nicht mehr existiert, so besitzt Ruhm jenseits des Todes keine soteriologische Relevanz (GdW 9, Uberdruß menschlicher Dinge, S. 135). Schließlich wird viertens die „vereinigende Krafft“ von Magneten und Jesu Christi dergestalt verglichen, dass Gryphius titelgebend von der „Magnetischen Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen“ (1660) spricht; Athanasius Kircher wird mit seinem astronomischen Itinerarium extaticum (1656) zitiert, wonach auf die Erde gefallenes Mondgestein alsbald wieder an seinen Ursprungsort gezogen würde (GdW 9, Magnetische Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen, S. 82). 572 Z.B. Misia Sophia Doms: Die ‚Wirklichkeit‘ der Transzendenz. Überlegungen zur Magnetbildlichkeit in der Leichabdankung ‚Magnetische Verbindung des HErrn JESV / und der in Jhn verliebten Seelen‘ von Andreas Gryphius. In: Daphnis 38 (2009), S. 9–37, behandelt die gryphsche Anwendung des Magnetismus auf christlich-seelische Aspekte nur als metaphorisch (besonders S. 14–21).
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Es bildet auch diese Verstrckung des Magnets durch das Eysen die Vereinigung der Menschlichen Natur mit der Gttlichen an unserm Heyland ab. (ebd., S. 70 [Hervorhebungen O.B.])
Als bloß bildspendend und bloß vergleichend darf allerdings nur die Applikation des Ferromagnetismus auf das seelische Angezogensein zu Christus gelten. Damit ist jedoch noch nicht ausgemacht, dass ein allgemeiner Magnetismus, dessen der Ferromagnetismus auch bei Kircher nur ein Teil ist, bloß metaphorisch auf die Attraktion von Psyche und Herr Jesus angewandt würde. Ferromagnetismus und animalischer bzw. seelischer Magnetismus sind als zwei unterschiedene Besondere auf einander tatsächlich nur in Form uneigentlicher Rede zu bezeichnen. Im Magnetismus überhaupt jedoch haben sie ihr gemeinsames Allgemeines. Auf dieses wird der seelische Magnetismus nicht metaphorisch, allegorisch oder sonstwie nur bildlich bezogen, sondern er gehört ihm de re systematisch zu.573 So spricht schon Hans-Jürgen Schings zu Recht, wenn auch unter Aufwendung anderer, nämlich testamentlicher und theologiehistorischer Argumente, von der „objektiven Verbindlichkeit“ der „Gleichung Christus-Magnet“574 und nicht etwa von einer rhetorischen Bildlichkeit eines Vergleichs. Gryphius nimmt die einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse Kirchers auf, nicht aber den tatsächlichen Gedanken einer menschenmöglichen Universalwissenschaft: Auch ein ekstatisch-fingierter Blick in den göttlichen Intellekt, wie er bei Kircher ‚möglich‘ bleibt, verbietet sich dem theologischen Voluntaristen. In der Dissertatio funebris Uberdruß menschlicher Dinge erklärt Gryphius die Theologie zur höchsten der Wissenschaften, beobachtet aber auch innerhalb ihrer selbst Streitigkeiten: Und was sollen wir sagen / wenn wir alle Wissenschaften durchgehen / welche ist wol hher als diese / die uns GOTT selbst entdecket / und die den Weg zu einem unsterblichen Leben zeiget? Wer ist aber der nicht erkenne / daß wir ihre verborgene Geheimnß nur als in einem Spiegel schauen / wie viel Zwietracht und Uneinigkeit findet sich allhier / in dem schier ieweder seine eigene Gedancken und Glossen dem ausgedruckten Wort vorzeucht. (GdW 9, S. 132)
573 Natürlich erinnert Doms zu Recht daran, dass zu bedenken wäre, „[o]b die Ähnlichkeit des Magneten mit dem Menschen in den einzelnen hier [i.e. aus dem Artikel von Zedlers UniversalLexicon] angeführten Zitaten erst durch die zu seiner Beschreibung gewählten Begriffe zustande kommt (d.h. durch eine bewusst oder unbewusst anthropomorphe Darstellungsweise generiert wird)“: Doms: Die ‚Wirklichkeit‘ der Transzendenz, S. 11. 574 Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Köln, Graz 1966 (Kölner germanistische Studien 2), hier S. 105. Gerade auf Schings bezieht sich Doms jedoch in extenso: Doms: Die ‚Wirklichkeit‘ der Transzendenz, z.B. S. 21f.
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Hiermit reicht Gryphius natürlich in den Toleranzdiskurs hinein – mit einem, wie Rainer Forst deutlich gemacht haben dürfte, bedingt erfolgreichen Ansatz: Denn schon Gryphius’ Problemsicht legt den lutheranischen Lösungsweg als den Königsweg nahe, schließlich verdanke sich aller Dissens in theologischen Fragen der Abweichung vom sola scriptura-Prinzip. Doch um die Validität von Gryphius’ irenischem oder gar Toleranzdenken hat es hier nicht zu gehen. Für sein Wissenschaftsverständnis ist entscheidend festzuhalten, dass Gryphius als Lösung des theologischen Konfliktproblems den Synkretismus575 gerade ausschließt, und zwar mit einem Argument, das in Gryphius’ Augen für die Theologie genauso gilt wie für andere Wissenschaften: Mit kurtzem / es bleibet darbey / daß der allein Weise der Menschen Weisheit verlache / und daß sich die Theologi vergebens mit dem Syncretismo, die Rechtsgelehrten umsonst mit richtiger Vergleichung der Antinomiarum, die Medici sonder Furcht mit dem Universal, die Politici sonder Fortgang mit der allgemeinen Monarchi, die Geometræ mit der Qvadratura Circuli, die Mechanici mit dem Mobili perpetuo, die Chymici mit ihrem Lapide bemhen / daß ich nicht erwehne / wie offt grosse Wissenschafft mit einem geringen Urtheil und schlechten Verstande vermhlet. (ebd., S. 133)
In allen aufgezählten Wissenschaften verortet Gryphius bestimmte Fundamentalprobleme, die er für den Menschen als unauflösbar ansieht. Sie sind dem „allein Weisen“, nämlich Gott, zugänglich, schlicht weil er sie in seinem absoluten, dem Verstand nicht einsichtigen Willen gesetzt hat, wie die Analyse des DreyfaltigkeitSonetts (4.3.1) zeigte. Gott hat die Gesetze der jeweiligen Disziplin – theologische Dogmen, Naturgesetze, Naturrecht etc. – ebenso wie ihre Aporien und Unauflösbarkeiten gestiftet. Von besonderer Relevanz ist hier natürlich die Bedeutung dieses Denkens für die Rechtslehre, wie sie Gryphius explizit benennt: „Es bleibet darbey […] daß sich […] die Rechtsgelehrten umsonst mit richtiger Vergleichung der Antinomiarum […] bemhen“ (ebd.). Andreas Gryphius befindet auch 1655 die grundlegenden Normen des göttlichen Rechts für einander unvermittelbar. Das göttliche Recht ist zwar universal, aber es ist nicht konsistent. Es konfligieren vor allem
575 Wie Rainer Forst in seiner kritischen Argumentationsgeschichte aufzeigt, sind reduktive Konzeptionen von Toleranz tatsächlich und aus anderen Gründen als dem gryphschen zum Scheitern verurteilt. Ist zwar die Intention, in den Grundlagendogmen die entscheidend einheitliche Basis zweier oder mehrerer im Dissens befindlicher Konfessionen zu suchen, vordergründig tadellos, so muss dennoch schon an dem Punkt der Dissens von Neuem und um so heftiger ausbrechen, wo eine der anderen Konfliktpartei auferlegen möchte, was diese als fundamentales Dogma, was als bloßes Adiaphoron anzusehen habe: Forst: Toleranz im Konflikt, S. 137–142.
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das allein Gott verpflichtete Souveränitätsrecht einerseits und andererseits die Herrscherpflicht zur Einhaltung des göttlichen Rechts: Diese stehen einander antinomisch gegenüber, weil ein Widerstandsrecht (zu Lasten des Herrscherrechts, zu Gunsten der Herrscherpflicht) ebenso wenig angedacht wird wie ein tatsächlicher, hobbesscher Absolutismus (zu Gunsten des Herrscherrechts, zu Lasten jeder Herrscherpflicht). Für das göttliche Recht bedeutet das im Hinblick auf seine Geltendmachung nichts anderes, als dass es letztlich nur von Gott geltend gemacht werden kann. Nur so wird die Antinomik von absolutem weltlichem Herrschaftsrecht und Herrscherpflicht zwar nicht aufgelöst, aber ihrer praktischen Brisanz benommen.
4.4.3 Gryphius’ lateinische Epik und Melanchthons privatio: Notwendigkeit, Ort und Status des Bösen Die obligationstheoretische Frage hat sich daher zugespitzt und lässt sich präziser fasen: Inwiefern sind göttliche Normen nicht nur different für menschliches Rechtsempfinden, sondern unmittelbar für das menschliche Handeln? In einem insgesamt theologischen Denken liegen die Bestimmungsgrundlagen dessen jenseits der speziell rechtlichen und politischen Erwägungen selbst: Gottes Haltung zu Recht und Unrecht gründet allein in seinen Willensentscheidungen, die Bestimmungen von Recht und Unrecht überhaupt zu setzen. Dies ist nicht wenig problematisch, schließlich ist im abrahamitisch-abendländischen Diskurs Gottes Befürwortung des Guten/Rechten bzw. seine Ablehnung des Bösen/Unrechten ebenso mitgedacht wie die Schöpfung allen Seins und seiner Bestimmungen allein durch ihn, d.h. auch derjenigen des Bösen und Unrechten. Wie jedoch dieses Böse bzw. Unrechte nunmehr ins Sein kommt, wie und besonders von wem es verursacht wird: dies zu denken führt zu dilemmatischen Konflikten mit Gottes Güte. Prominenter Maßen versuchten der Manichäismus und die Gnosisphilosophie, Gottes Allmacht bzw. seine Alleinursächlichkeit mit seiner Güte vereinbar zu denken (4.3.1). Ihr Schicksal zeugt nicht nur von diesen systematisch-theologischen Konflikten. Sie zeugen auch vom diskursiven Konfliktpotential, das sich erst mit den Lehren der Manichäer bzw. der Gnosis voll auftat und das Blumenberg diese zurecht zu wiederholten Protagonisten seiner philosophiegeschichtlichen Darstellungen machen lässt: Ihr Versuch, Gottes Güte durch die Verursachung des Bösen durch einen differenten Demiurgen zu verteidigen, führte zum Vorwurf des Poly-, allemal des Bitheismus: Sie sprächen Gott die Allmacht ab. Die Sprengkraft dieser Problematik auch und gerade für Staatsrechtslehren war deren frühneuzeitlichen Protagonisten durchaus bewusst. Dies zeigt u.a. das Beispiel Jean Bodins, der in seiner Dæmonomania
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Magorum (1580) die Herkunft des Bösen ebenso wie Melanchthon und Gryphius privationistisch erklärt.576 Das vor- und frühmoderne menschliche Rechtsdenken war mit allmachtsund schöpfungstheologischen Fundamenten verbunden, die dieses Denken nicht nur untermauern sollten, sondern auch selbst erschüttern konnten. Es ist daher kein Zufall und abermals kein poetisches Belieben, wenn ein poeta doctus wie Andreas Gryphius epische Darstellungen der göttlichen Bestrafung menschlichen Unrechts verbindet mit Darstellungen der göttlichen Haltung zum und der göttlichen Verursachung des Bösen überhaupt: Die Rede ist von seinen lateinischen Epen Herodis Furiae & Rahelis lachrymae (1634), Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus (1635) und Olivetum libri tres (1648). In der barocken Tragödie hätten göttliche wie teuflische Gestalten höchstens per analogiam, nicht aber unmittelbar auftreten können. Die Trauerspielbühne war cum grano salis dem menschlichen Handlungspersonal vorbehalten. Daher ist es ein Glück für die Gryphiusforschung, dass es unmittelbaren poetischen Darstellungen von Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Gut und Böse aus Gryphius’ Feder gibt: Sie erlauben anders als seine Trauerspiele einen direkten Einblick, wie Gryphius erstens das Verhältnis von Gut und Böse konzipiert, zweitens das Zustandekommen und Wirken des Bösen denkt und drittens Gottes Bestrafung des Bösen begreift. Direkt ist dieser Blick dadurch, dass Gott genauso wie der Teufel in den Herodes-Epen und dem Olivetum in unmittelbare Erscheinung treten. Damit ist die vorgenannte poetische Beliebigkeitsfrage wieder aufgenommen: Gryphius lässt den Teufel als Verführer des Herodes bzw. des Judas und Gott als Bestrafer der beiden auftreten. Damit stellt sich ihm im Rahmen der zeitgenössischen Nöte sowie einer (rechts)systematisch ambitionierten Theologie zwingend auch die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Teufel. Um sein eigenes Interesse willen konnte Gryphius gar nicht umhin, die Figuren Gott, Teufel und menschlicher Missetäter in einem Dreiecksverhältnis proprio sensu darzustellen: Es handelt sich nicht bloß um zwei zwar parallele, aber weitgehend voneinander isolierte Figurenkonstellationen Mensch-Gott und Mensch-Teufel. Diese Konstellationen generieren nicht etwa erst aus dem dichterischen Genie, sondern sind
576 Jean Bodin: De la Démonomanie des Sorciers. Paris 1581,f. 4r–5r, besonders f. 4r–v: „[I]l y ayt iniquité en Dieu, comme faisoit Manes Persan chef des Manicheans, lequel pour euiter, comme il disoit, l’absurdité que le mal vint de Dieu, s’il confessoit qu’il eust creé sathan maling par nature: ny pareillement que Dieu eust creé sathan en perfection, qui par consequēt ne pouuoit pecher, (comme il disoit) ne degenerer en nature maligne, & peruerse: posa deux principes égaux en puissāce & origine: l’vn principe de bien, l’autre du mal: qui est la plus detestable Heresie, qui fut onques, & de laquelle S. Augustin s’est departy, disant que le mal n’est que priuation de bien […].“
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für Gryphius der systematisch-theologischen Sache nach notwendig. Insofern kann hier auch Aufschluss gewonnen werden für die Interpretation der politischen Trauerspiele: Gott und Teufel treten dort zwar nicht als Figuren auf wie im Epos. Ihre theologisch-systematische Bedeutung als Sachrelationen gilt jedoch hier wie dort. Denn in den Epen genauso wie in den politischen Trauerspielen ist die Frage nach der Geltung göttlichen Rechts systematisch bestimmend. Das Wie der poetischen Figurenkonstellationen ist fremdbestimmt aus den Sachrelationen der leitenden theologischen Lehre. Poetischer Konvention folgt ‚nur‘ das Ob ihrer unmittelbaren Darstellung. Wenn daher die Darstellung dieser Sachrelationen als Figurenkonstellationen in den Trauerspielen ausbleibt, darf hiervon nicht auf die Hinfälligkeit ihrer hintergründigen Geltung und Bedeutung geschlossen werden. Umgekehrt ist die handlungstragende Relevanz der Sachrelationen sehr wohl auch dort zu veranschlagen, wo sie den Gesetzen der tragischen Gattung nach nicht als dramatis personae figuriert werden, – und zwar sobald die Geltung dieser Sachrelationen beim Dichter Gryphius unter gleichen Voraussetzungen (dem juridisch-politischen Diskurs) nachgewiesen ist. Ebendiesen Nachweis erlauben die drei lateinischen Epen: Indem sie die Gott-Mensch-Teufel-Relationen offen darstellen, erleichtern sie den Zugang zu einem juridisch wie politisch fundamentalen Zug von Gryphius’ Denken, der auch den Hintergrund der politischen Trauerspiele bildet. Klaus Kipf hat jüngst das frühe politische Interesse gerade an Herodes als Tyrann bzw. Wüterich (frmhd. wuoterich, wuetrich, wüetrîch) betont.577 Dementsprechend kehren auch Gryphius’ Herodes-Epen das außerordentliche Unrecht, das von einem Souverän begangen und von Gott bestraft wird, schon im Titel hervor: Der „Wut des Herodes“ („Herodis Furiae“) antwortet „der Sturm des strafenden Gottes“ („Dei Vindicis Impetus“). Das erste Epos umreißt das juridische Problem des Ausnahmezustandes: Mit Herodes handelt gerade der irdische Souverän und Gesetzgeber selbst wider göttliches Recht. Das zweite Epos nimmt die Lösung dieses Problems in den Fokus, nämlich Gottes eigenhändige Geltendmachung seines Rechts. Gott tritt allerdings nicht erst im zweiten Epos in Erscheinung. Die wesentliche Anlage von Problem und Lösung ist schon im ersten Epos zu finden. Diese Anlage kann wie folgt umrissen werden: Der Luzifer-Akolyth Beelzebub578 verwendet Herodes als Instrument, um Gottes Sohn im Vollzug eines
577 Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses, S. 38. 578 Zur Tradition einer bestimmten Hierarchie der gefallenen Engel vgl. Isabel Grübel: Die Hierarchie der Teufel. Studien zum christlichen Teufelsbild und zur Allegorisierung des Bösen in Theologie, Literatur und Kunst zwischen Frühmittelalter und Gegenreformation. München 1991 (Kulturgeschichtliche Forschungen 13), S. 39–42.
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ganz Betlehem erfassenden Kindermordes zu töten. Luzifer erkennt sehr richtig, dass Gott mit seiner Menschwerdung die zweite Strafhandlung gegen den gefallenen Engel seit dessen Verbannung aus der Himmelsburg anzielt: Die Höllenwesen sollen ihr Wirken endgültig nicht mehr eigenmächtig von der Hölle auf die ‚Oberwelt‘ ausdehnen. Es wird also nicht nur Herodes’ Verstoß gegen das fünfte Gebot verhandelt, sondern auch das ursprüngliche Vergehen des Teufels sowie wie dessen Herkunft und seine positive, von Gott ihm zugedachte Funktion: Luzifer ist wie auch die himmlischen Engel ein Geschöpf Gottes und seine Aufgabe ist die Marter der Sünder nach dem Tod. Er ist das jenseitige Strafinstrument Gottes gegen das Unrecht. Sein höllisches Wirken ist rundheraus gottgewollt. Sein Verbrechen besteht in der Versuchung des Menschen zur Sünde. Wenn nunmehr von Beginn an klar ist, dass der Teufel als gleichzeitig Bestrafter und Bestrafender in Gottes Dienst steht, so ist vorgezeichnet, dass sein erneutes, unerhörtes Verbrechen gegen den Gottessohn wiederum Gott selbst als Strafenden auf den Plan rufen wird: gegen Herodes und gegen Luzifer. Jedoch wird Herodes’ Schuld am Kindermord dadurch nicht relativiert, dass er von Beelzebub dazu verführt wurde, sondern seine Schuld behält ihr Gewicht bei, ohne zur bloßen ‚Beihilfe‘ zu schrumpfen. Daher muss ein bestimmes Verständnis von Verschulden unterstellt werden, wie es offensichtlich speziell gegenüber den göttlichen Gesetzen vorliegt und das weder nach einem simplen Verursacherprinzip noch nach einem ebenso einfachen Schuldunfähigkeitsprinzip veranschlagt werden kann. Auch der Olivetum, obwohl er weder das juridische Problem noch seine Lösung titelgebend macht, täuscht von Beginn an nicht darüber hinweg, dass dieses Problem auch hier zentral ist. Zwar bilden unbestritten die Passion Christi das Setting und die Erlösung der an ihn Glaubenden den Fluchtpunkt des religiösen Epos. Gryphius lässt jedoch durch den gesamten Text- und Handlungsverlauf keinen Zweifel daran, dass die entscheidenden epischen Beobachtungskategorien die von Recht und Unrecht sind. Sie bleiben dies auch mit Christi Erlösungstat. So lässt Gryphius zu Beginn Gott der personifizierten Rache versichern, dass die Erlösung von der menschlichen Schuld an Christus gebunden ist und er dadurch Richter derjenigen ist, die nicht an ihn glauben und mit ihrem Unrecht vor ihm schuldig werden.579 Ebenso wünscht der personifizierte Fluss Kedron zum Schluss in wütendem Antisemitismus dem schuldigen Jerusalem „bittere Strafen“ („accerba supplicia“) für das „gotteslästerliche Vergehen“ („nefandum scelus“).580 Auch im Olivetum wird dieselbe Relation von Gott, Teufel und
579 Olivetum I, S. 172–174, v. 181–203. 580 Olivetum III, S. 254, v. 568–570: „At tibi quam rabiem, quae digna furentibus ausis / Imprecer infelix Solyme? quis acerba nefando / Supplicia indicet sceleri […]“. Die ausführlichen
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menschlichem Verbrecher entfaltet wie im Herodes: In einem letzten und sinnlosen Versuch, gegen Gott aufzubegehren, verführt Luzifer Herz und Sinn des Judas, um diesen zum Verrat an Jesus und dessen Vernichtung zu bewegen. Abermals ist die Motivation des Teufels deutlich: Er möchte der Einschränkung seines Wirkens auf den Höllenkreis und seine göttlichen Strafpflichten entgegenwirken. Ebenso wie im Herodes ist damit die Motivation des Menschen zum Unrecht zwar angezeigt: Sie ist eine äußerliche und teuflische. Dennoch folgt daraus ebenso wenig wie beim judäischen Vasallenkönig die Entschuldigung des Judas nach einem Verursacher- oder Schuldunfähigkeitsprinzip, das alle eigentliche Schuld bei Luzifer liegen sieht. Ist die Verbrechenstat also in beiden Fällen letztlich vom Teufel gewirkt, so muss das menschliche Verbrechen in einem zusätzlichen, aber in systematischem Zusammenhang stehenden Unrecht bestehen. Dieses unterscheidet sich von der bloßen Tatschuld und bedarf daher einer eigenen Bestrafung. Der fundamentale Kontextgeber dieser lateinischen Epik des Gryphius ist abermals Philipp Melanchthon: Er entwickelt eine Theorie vom ontologischen Status und vom Ursprung des Bösen genauso wie von der Zurechenbarkeit von Unrecht, wie sie für Gryphius’ Epen konsistenzstiftend ist.
4.4.3.1 privatio: das nicht-wesentliche Böse Für eine Rechtstheologie ist von geltungstheoretisch entscheidender Bedeutung, dass das Böse und Unrechte in der Welt, wie eingangs erläutert (4.4.3), nicht von Gott als dem Schöpfer aller Dinge selbst gewollt ist. Auch für eine theologische Rechtslogik wäre es paradox, wenn die Instanz, die Gesetz erlässt und Verbrechen straft, diese Verbrechen verursacht. Die Geltung allen Rechts drohte zerstört zu werden. Der allmächtige Gott kann nicht alles wollen, seine Allmacht darf nicht das Böse positiv hervorbringen, wenn diese seine Allmacht nicht mit Indifferenz gleichzusetzen sein soll. Diese Problematik wird sich jedoch systematisch eingehandelt, wo gerade von einem allmächtigen und all-alleinigen letzten Verursacher gesprochen wird: Ist das Böse wesentlich, dann ist auch das Unrechte letztlich Gottes Schöpfung. Jedoch nur wenn die Gottesinstanz das Böse und Unrechte nicht schafft, macht sie als gerechter Gesetzgeber, Richter und Bestrafer Sinn, weil nur dann die Gesetze sich auf ein konsistentes System von jeweils antinomischen Rechten und Unrechten stützen können.581
Beschreibungen der erwünschten Strafen, zu denen u.a. verhaltene Fehlgeburt und Versklavung zählen, erfolgen in v. 573–598. 581 Julius Ebbinghaus erkennt zurecht, dass die Konsequenzen eines Voluntarismus entspre-
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Melanchthon hat diese Spannung wahrgenommen und sie in einer Zulassungstheorie aufzulösen versucht, die vom zentralen Gedanken der Privation ausgeht. Für deren Erläuterung kann an die gründlichen Analysen Günter Franks angeschlossen werden. Auf die Frage nach der Ursache der Sünde wird schon früh in den Heubtartikeln und Loci tertiae aetatis Antwort gegeben: Ihre Grundlage bildet die Feststellung, dass Gott die Sünde nicht wolle und genauso wenig ihre Ursache sei.582 Melanchthon lehnt in Abgrenzung zur stoischen λόγος-Philosophie einen Determinismus entschieden ab. Im Determinismus sieht Melanchthon nicht nur die Problematik einer menschlichen Handlungsunfreiheit, sondern mehr noch die häretische Leugnung von Gottes Allmacht, die Melanchthons Begriff nach an nichts gebunden gedacht werden kann und darf.583 Es gibt grundsätzlich immer zwei Handlungsalternativen, nämlich zumindest die binäre Wahl von Aufnahme und Unterlassung einer Handlung auch dort, wo eine gänzlich andere Alternative fehlt. Unter Bezugnahme auf die Problematik des von Gott verstockten Pharao hält Melanchthon den Unterschied zwischen Wirken und Wirkenlassen fest.584 Damit führt Melanchthon den Gedanken eines von Gott gewirkten Freiheitsgeschehens ein, das dem Menschen die Alternative lässt, Gutes oder Böses zu tun. Wenn Melanchthon an späterer Stelle die Theodizeefrage auf die Tyrannis zuspitzt, bedeutet das für diesen Fall, dass Gott die Tyrannei nicht wirkt, sondern
chend gar nicht mehr als strafrechtliches Verpflichtung beschreibbar sind, sondern nur noch als das Befolgen inhaltlich beliebiger Anordnungen, deren Rechtscharakter schlicht unerheblich ist: Ebbinghaus: Die Idee des Rechts, S. 155f. 582 CR XXI, Sp. 644: „Estque haec vera et pia sententia, utraque manu et verius toto pectore tenenda, Deum non esse caussam peccati, nec velle peccatum, nec impellere voluntates ad peccandum, nec approbare peccatum. Sed vere et horribiliter irasci peccato, ut toties suo verbo, assiduis poenis et calamitatibus mundi, comminatione aeternae irae declarat.“ 583 CR XXII, Sp. 138f.: „Es folget auch, Das man es nicht dafür halten sol, das alles, was geschihet, müsse also geschehen, wie die Stoici von jrem Fato geredt haben, vnd Gott vnd menschlichen willen angebunden, vnd gesaget, Alles was geschihet, msse also geschehen, Nero müsse solche grausame vntugent vben etc.“ 584 CR XXII, Sp. 139: „Darauff ist diese warhafftige, bestendige, vnd richtige Antwort. Das grosse vnterschied ist, zwischen selbs wircken, vnd andere lassen wircken, vnd nicht verhindern, Was Gott selbs wircket vnd schaffet, das ist gut, Daneben wenn die Teuffel oder Menschen wider Gott thuen, das wircket Gott nicht, ob gleich Gott solches geschehen lesset, vnd verhindert es nicht thetlich, bis zu seiner zeit“. Allerdings löst Melanchthon die spezifische Problematik von Ex 4,21 tatsächlich nicht: Er verhält sich nicht zu der Tatsache, dass Gott hier das Unrecht des Pharaos nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich will: Ex 4,21: „VND der HERR sprach zu Mose / Sihe zu / wenn du wider in Egypten kompst / das du alle die Wunder thust fur Pharao / die ich dir in deine hand gegeben habe / Jch aber wil sein hertz verstocken / das er das Volck nicht lassen wird.“
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im Rahmen des freien Willens des Tyrannen nur zulässt. Die moralisch schlechte Wahl des Tyrannen bestraft Gott schließlich.585 Damit ist Gott zwar nicht mehr hinreichende Ursache des Bösen selbst. Das Böse ist allerdings noch nicht im Rahmen einer Privatio deontologisiert. Hierauf ist Melanchthon ab diesem Punkt jedoch angewiesen. Unter der Prämisse, dass Gott nicht Ursache des Bösen ist, sind grundsätzlich zwei mögliche Folgerungen denkbar: Erstens, es gibt das Böse wesentlich und muss damit eine Ursache haben, die nicht Gott ist, aber Schöpfungsmacht hat wie dieser auch. Das wäre ein Teufel, wie er weder im Herodes noch im Olivetum beschrieben ist – ein Teufel eigener Provenienz, der nicht Teil von Gottes Schöpfung und ihm daher nicht untergeordnet ist. Satan wäre ein zweiter, böser Gott, hinsichtlich dessen Wesen und Herkunft nicht Theologie, sondern Theogonie betrieben werden müsste. Zweitens, es gibt das Böse nicht wesentlich und muss daher keine Ursache haben, die Gott dadurch gleichgestellt wäre, dass sie etwas im starken Sinne schöpferisch herstellte. Die erste Möglichkeit muss Melanchthon ablehnen, denn in ihr sieht er nichts weniger als die manichäische Annahme zweier Götter: „Manichaei ex corrupta Philosophia orti horribiles furores contumeliosos in Deum et perniciosos moribus excitaverunt de duobus diis, bono et malo […]“.586 Das Böse besteht in der Zuwiderhandlung gegen Gottes Gebote. Dies ermöglicht argumentativ gleich zweierlei: Das Böse bestimmt sich nicht selbst nach etwaigen eigenen Begriffen, sondern es ist nur die Privation des Guten und Rechten. Es ist ausschließlich als Unrecht denkbar. Zugleich wird es so als widergöttlich konzipiert und damit Gottes Ablehnung des Bösen automatisch mitgedacht. Das Böse bzw. Unrecht ist so schon seiner Bestimmung nach nicht autonom. Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit dem Freiheitsgeschehen auch die metaphysische Nichtigkeit des Bösen begründet.587 Diese allein erlaubt erst, Gott nicht als Urheber des Bösen denken zu müssen: Gott ist Ursache und Ursprung einer „von der Schöpfung her gut geschaffenen Willensfreiheit“,588 die der Teufel und die Menschen nicht zur Erfüllung des Guten nützen. Das Böse und
585 CR XXII, Sp. 606: „Item, er [i.e. Paulus] zeiget an, das Regiment ein ordnung sein mus, vnd das die ordnung Gottes werck ist, Nicht die zerrüttung, vnzucht, mord, vnrechte vnterdrückung, die der Teuffel vnd die Tyrannen des Teuffels gliedmassen, mit eindringen, welche Gottes ordnung gern zerstören wolten.“ 586 CR XXI, Sp. 644. Indem er zudem den eigentlich subordinierten Charakter des demiurgischen Schöpfergottes gegenüber dem eigentlich gütigen Gott des Heils unter den Tisch fallen lässt, erscheint Melanchthon die gnostisch-manichäische Möglichkeit als entscheidende Gefahr für Monotheismus und Allmachtsprinzip. 587 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 298. 588 Ebd.
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Unrecht hat keinen eigenen ontologischen Status, sondern ist in seiner Abkehr vom allein wesentlichen Guten und Rechten bloß defizitär: „Haec mala esse defectus non obscurum est, nec sunt res conditae a Deo, sed horribilis destructio humanae naturae“.589 Damit integriert Melanchhon seine augustinische Lehre vom Bösen in die christliche Tradition von der Sündhaftigkeit des Menschen.590 Außerdem systematisiert er die Vorstellung vom Teufel als gefallenem Engel,591 wie sie Gryphius in seiner lateinischen Epik adaptiert. Dem Teufel kommt zwar genauso wie Herodes substantielle, positive Wirklichkeit zu, da er von Gott wirklich geschaffen ist. Da aber auch er mit jener „gut geschaffenen Willensfreiheit“ ausgestattet ist, kann er gegen Gottes Gebot verstoßen und damit das Böse als nicht-wesentliche, nur negative Wirklichkeit ‚realisieren‘. Der eigentliche Wirklichkeitsmangel des Bösen sticht ins Auge, wenn Melanchthon das Böse als mendacium charakterisiert: Discernit autem Christus mendacium a substantia, quasi dicat: Substantiam quidem habet Diabolus aliunde acceptam. Nam omnes Angeli a Deo creatae sunt, quorum aliqui postea lapsi sunt. Habet autem proprium quiddam Diabolus, non a Deo acceptum, videlicet mendacium, id est, peccatum, quod libera voluntas Diaboli peperit. Neque haec inter se pugnant, ut postea longius dicemus, substantiam a Deo conditam esse et sustenari, et tamen voluntatem Diaboli et voluntatem hominis caussas esse peccati; quia voluntas abuti libertate sua potuit seque a Deo avertere.592
Das Böse, als Lüge, Vorspiegelung, Erdichtung, in jedem Fall als grundsätzlich fingiert gedacht, ist gerade nicht nur das Andere der Wahrheit, sondern auch der Wirklichkeit und damit nichtig.593 Die Dürftigkeit, mit der Andreas Gryphius seinen Teufel besonders im Herodes darstellt, erfährt also bei Melanchthon ihre systematische Begründung. Sie erlaubt zu zeigen, dass Gryphius’ Figurenzeichnung nicht nur epischen Form-
589 CR XXI, Sp. 645f. 590 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 298. 591 Vgl. Grübel: Die Hierarchie der Teufel, S. 38f. 592 CR XXI, Sp. 645. 593 Ohne sich hier ausführlich damit auseinandersetzen zu können, ist dennoch anzumerken, dass mit Melanchthons Bestimmung des Teufelswerks als mendacium dem Lügenverbot eine systematisch außerordentliche Bedeutung innerhalb des Dekalogs zukommt: Denn Lüge ist bei Melanchthon nicht mehr nur einfach die tatsachenwidrige Rede, sondern das grundsätzliche Verfahren des Teufels, der das Böse nicht schaffen, sondern das Unrechte nur vorspiegeln kann. Das achte Gebot verbietet damit nicht nur eine Sünde neben anderen, sondern betrifft das ‚Prinzip‘ alles Unrechten, nämlich im Mangel eigener Prinzipialität und Substantialität nur das Rechte und Gute leugnen zu können.
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gesetzen gehorcht und nicht ausschließlich in der didaktischen Absicht eines – unstrittig gewollten – Ablehnungsaffekts des Lesers ihren Grund hat: Der Teufel ist selbst von Gott geschaffen und kann über diese substantielle Uneigenständigkeit hinaus sein teuflisches Werk nur darin bestehen lassen, Gottes Schöpfung und Gebote abzulehnen.594 Allgemein kann Konkurrenz als Aufeinanderstoßen zweier Gegner gedacht werden, die ihren Standpunkt grundsätzlich originär, in jedem Fall weitgehend unabhängig von einander gewinnen können: Dieses Konfligieren kann gegenüber der Standpunktbildung allemal kontingent sein. Dementgegen vollzieht sich der Teufel ausschließlich im Widerspruch zu Gott, handelt unmöglich in itiativ, sondern immer nur in Reaktion auf Gottes Gebot. Handlungstheoretisch gesprochen, erfolgt auch das Handeln des Teufels selbst nur im Zuge einer προαίρεσις, und zwar zwischen Alternativen, die der Teufel nicht selbst bestimmt hat, sondern Gott – nämlich rechtmäßig oder unrechtmäßig zu handeln. Eben diese Abkünftigkeit des Teufels wie des Bösen setzt Gryphius mit den Monologen des Höllenherrschers ins Bild. Durch die Figuration des Luzifer systematisiert Gryphius den Gedanken des gefallenen Engels anhand Melanchthons privatio durch. Der Teufel tritt nicht als Wesen originärer Herkunft Gott gegenüber, sondern als eines seiner Geschöpfe, das von ihm abgefallen und von diesem erst in die Hölle verstoßen wurde: Immitis Domitor, flagranti turbine quondam Aethereâ superum nosmet descendere sedê Atque humiles habitare plagas, obscura coëgit Tartara, sic poenas inimicas e gente recepit Heu nimium tragicas! nobis pro luce serena Perpetuas tenebras, & sole carentia regna Reddidit, ac flammis jussit torquere severus Injustas animas hominum.595
Der Teufel widerspricht Gott stets nur darin, dass die göttlichen Gesetze, mithin das Gute nicht herrschen soll. Dieser Widerspruch reicht nicht soweit, Gott in der Bestimmung des Guten überhaupt zu widersprechen und die eigene Haltung zum alternativen Guten zu etablieren: Der Teufel stimmt Gott gerade darin zu, dass sein teuflisches Wirken und seine teuflischen Ziele böse sind. Mehr noch: Luzifer muss Gott insofern darin zustimmen, dass das Böse böse ist, darf also
594 Ein im Grunde immer auch selbstzerstörerisches Vorhaben, bedenkt man seine eigene Gottgeschaffenheit. 595 Herodes I, S. 20, v. 61–68.
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gar nicht die absolute Perversion der Maßstäbe intendieren. Schließlich steht er auch und gerade als Herr der Hölle in Gottes Dienst und übt den jenseitigen göttlichen Strafvollzug an den „ungerechten Seelen der Menschen“ aus: „Domitor […] jussit torquere severus / Injustas animas hominum“. Die teuflischen Martern in der Hölle sind göttlich und bedürfen insofern der Konformität mit Gottes Gesetz. Dies wird auch im Olivetum deutlich, wenn die gottesergiebige Personifikation der Rache als „mit Luzifers Fackeln bewaffnet“ versinnbildlicht wird.596 Genuin teuflisch sind ‚nur‘ jene Befugnisübertretungen Luzifers, in denen er außerhalb des Höllenzirkels agiert und die menschlichen Seelen allererst zum Rechtsbruch anstacheln will. Frank stellt überzeugend fest, dass sich „das Problem des Bösen auf die Frage nach der Sünde des Menschen und damit der Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit konzentriert“.597 Für den hiesigen Zusammenhang ist dennoch zu bemerken, dass Melanchthon – wie Frank im Grunde selbst festhält – das Problem besonders in dessen rechts- wie handlungstheoretischem Moment registriert: Der […] Einwand gegen eine Vorsehung ergibt sich aus der Theodizeeproblematik mit den Erfahrungen menschlichen Übels oder – wie Melanchthon einräumt – der offenkundigen Tatsache, daß viele Straftaten auf der Erde ungesühnt bleiben.598
Geht es im Rahmen einer christlichen Theologie immer um die Allmacht und Güte Gottes, so stellt sich gerade nicht nur die Frage des Fakts des Bösen, mithin seiner faktischen Ursache, sondern auch die seines normativen Grundes. Dem rein epistemologischen Staunen über Existenz und Herkunft des Bösen korrespondierte cum grano salis immer ein Ungerechtigkeitsempfinden. Gerade in Zeiten menschlicher Katastrophen gab dieses den heftigeren Impuls zur wiederholten Fragestellung, als die dem christlichen Omnipotenzkonzept selbst inhärente Problematik dies konnte. Nicht erst die Allmachtstheorie hat also die Frage von der Herkunft des Bösen zu lösen, sondern gerade die Rechtstheologie hat ein politisch wie theologisch virulentes Interesse an dieser Lösung. Sollte Gott selbst Böses und Unrechtes wollen, warum sollte dann der Mensch recht handeln, mehr noch: recht handeln müssen und können, wenn das Unrechte Gottes Willen mutatis mutandis gerade nicht wider-, sondern entspricht? Jenseits des Elfenbeinturms des Theoretikers war es dieses breite Ungerechtigkeitsempfinden, das die Frage
596 Olivetum I, S. 164, v. 29–33: „Icta fragore gravi intremuit vastusque procellis / Sulphuris, & rutilis incanduit ignibus aether, / Dum gladios armata truces, fulmenque facesque / Luciferis delapsa globis Vindicta nocenteis / Terruit […].“ 597 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 294. 598 Ebd., S. 286.
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nach dem Ursprung des Bösen als diejenige nach der Güte Gottes begriff. Damit wurde diese Frage in einer Weise virulent, die das Denken der Gnosis nicht schlichtweg zu ridikülisieren erlaubte, sondern gediegene theoretische Anstrengungen notwendig machte und Hans Blumenberg alles Recht gibt, die profunde ideengeschichtliche These aufzustellen: Der Systemwille der Gnosis hat die sich konsolidierende Großkirche gezwungen, sich zu dogmatisieren […] Die Welt als Schöpfung aus der Negativierung ihres demiurgischen Ursprungs zurückzuholen und ihre antike Kosmos-Dignität in das christliche System hinüberzuretten, war die zentrale Anstrengung, die von Augustin bis in die Hochscholastik reicht. […] Die Welt, die sich beständiger als erwartet erwies, zog wieder die alten Fragen nach ihrer Herkunft und ihrer Verläßlichkeit auf sich, forderte Entscheidung zwischen Vertrauen und Mißtrauen, Einrichtung des Lebens mit ihr statt gegen sie. Man kann leicht sehen, daß die schließlich gegen die Gnosis fallende Entscheidung nicht im inneren Übergewicht des dogmatischen Systems der Kirche lag, sondern in der Unerträglichkeit des Bewußtseins, daß diese Welt der Kerker des Bösen sein sollte und dennoch von der Macht des nach seiner Offenbarung zur Erlösung entschlossenen Gottes nicht zerschlagen wurde.599
Es ist wenig verwunderlich, dass Melanchthon genauso wie Jean Bodin intimer Kenner Augustins war. In der Auseinandersetzung mit dem fraglichen Ursprung des Bösen konnte er Anschluss an einen Denker nehmen, der, selbst des Manichäismus bezichtigt, die gnostische Herausforderung ernst nahm.600 Der dogmatische Horizont Melanchthons verwundert dabei ebenso wenig: Seine Theorie vom Status des Bösen als Privation des Guten beweist die Güte Gottes schließlich weniger, sondern geht von dieser immer schon aus. In der apriorischen Verneinung einer metaphysischen Prinzipialität des Bösen wird das einzig noch denkbare, einem Freiheitsgeschehen des Menschen zugeschriebene Ausbleiben des Guten mehr impliziert als tatsächlich gefolgert. Melanchthon stellt Gottes Güte als fundamentum inconcussum letztlich unbezweifelt an den Anfang seines Argumentationsganges und nicht an dessen Ende.601 Damit plausibilisiert er das Weltgeschehen und eine vordergründige Unrechtserfahrung, beweist jedoch nicht die Güte Gottes, was ihm als Schrifttheologen auch kaum möglich war. Die im Fahrwasser der sola-scriptura-Doktrin als Selbstauskunft Gottes verabsolutierte
599 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 143f. 600 Vgl. zu Augustinus Johannes van Oort: Augustin und der Manichäismus. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46 (1994), S. 126–142; zu Jean Bodin siehe Glinka: Zur Genese autonomer Moral, S. 110f. 601 Vgl. nochmals die präzise wie knappe Darstellung des Beweisganges bei Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 298.
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Bestätigung, dass sein Werk gut gelungen war,602 ließ auch für Melanchthon in seiner theoretischen Bemühung keine Alternative, als sich letzthin in der Weise zu dogmatisieren, wie sie Blumenberg nur für die „Großkirche“ feststellt. Es ist mithin kein Zufall, sondern bezeichnend für Melanchthons kaum verborgen dogmatische Haltung zu seiner ersten Prämisse, dass er für sie nicht nur Wahrheit, sondern auch Gottesfürchtigkeit in Anspruch nimmt. Dies gipfelt schließlich in der durch den Gerundiv unmissverständlich normativen Aufforderung, diese Prämisse wahrhaft im Herzen halten zu müssen: „Estque haec vera et pia sententia, utraque manu et verius toto pectore tenendo“.603
4.4.3.2 imputatio: Wirkliches Verschulden des Handelnden Die Lösung des malum-Problems, der Gedanke eines von Gott gewirkten und dem Menschen überlassenen Freiheitsgeschehens, ist für die Rechtstheologie von imputationstheoretisch entscheidender Bedeutung. Denn diese Lösung beantwortet auch die Frage, ob unrechte Handlungen dem menschlichen Handlungssubjekt überhaupt zurechenbar sind (imputatio). Insofern Gott nicht Ursache des Bösen und Unrechten ist, ist ihm dem Verursacherprinzip nach das Unrechte auch nicht zuzuschreiben. Dennoch stellt sich weiterhin die Frage, ob eine unrechte Handlung dem ‚Versucher‘, nämlich dem Teufel, zuzurechnen ist. Diese Frage stellt sich um so dringender, als Gryphius im Herodes wie auch Olivetum nichts anderes unternimmt als die sowohl bilderreiche als auch sachlich ausdifferenzierte Schilderung der Arten und Weisen, wie der Teufel seinen perfiden Einfluss auf die menschliche Psyche, Herz und Verstand unternimmt: Er lässt Zorn aufwallen, er fördert bei Herodes Verlustängste und bei Judas die unverhältnismäßige Gier nach Geld. Inwiefern besitzt das versuchte menschliche Handlungssubjekt dennoch angemessene Mittel, Recht und Unrecht zu unterscheiden, und angemessene Mittel und Kräfte, der Versuchung zu widerstehen? Ersteres erscheint Melanchthon mit dem Gedanken der praktischen ideae innatae bereits hinreichend gewährleistet (4.2.2.1). Der Mensch handelt, wenn er Unrecht verübt, immer wissentlich unrecht. Der princeps mundi kann den Menschen zwar beeinflussen, indem er diesen rasend werden und die intramental vorhandenen Normen missachten lässt.604 Das forum conscientiae als den Sitz der eingeborenen Normen jedoch kann der Teufel nicht
602 Gen 1,4,10,12,18,21,25,31; vgl. nochmals Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 145. 603 CR XXI, Sp. 644 [Hervorhebung O.B.]. 604 CR XXI, Sp. 1099: „[N]ominatur διάβολος, quia verbum Dei calumniis in hominum mentibus corrumpit.“
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korrumpieren, da dieses bloß Gott zugänglich ist. So bleibt ein widerrechtliches Handeln immer im starken Sinne wissentlich widerrechtliches Handeln und erfolgt gegen das eigene Gewissen.605 Bei Melanchthon kommt die Imputationsfrage besonders mit Blick auf den Zusammenhang von göttlichem Recht und göttlicher Vorsehung zum Tragen und damit auch in der Weise, wie sie Gryphius im Herodes und seinen politischen Trauerspielen diskursiviert. Melanchthon ist es nicht möglich, eine speziell willensmetaphysische, handlungstheoretische oder straftheoretische Diskussion über die Imputation zu führen. Denn diese Bereiche bauen auf Tatsachen der Schöpfung auf, die als vorgängig angenommen werden können. Den ‚Luxus‘
605 Zwar wird erst Samuel Pufendorf die Tradition der Imputationslehre wirkmächtig in das Zentrum der praktischen Philosophie stellen und um systematische Differenzierungen wie der der actiones mixtae auch entscheidend erweitern: Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 4: De jure naturae et gentium. Hg. von Frank Böhling. Berlin 1998, I. V. § 9, S. 54: „Praeterea & hoc observandum, voluntatem quandoque ab imminentibus gravissimis malis, & quae communem animi humani firmitatem judicantur excedere, ita vehementer urgeri, ut in aliquid suscipiendum consentiat, abs quo extra illam necessitatem constituta maxime abhorrebat. Quales actiones solent vocari mixtae ex spontaneis & invitis“. Insofern allerdings für Pufendorf die grundlegende Bestimmung der Handlungszurechnung auch aus der Handlungsmacht abzuleiten ist, nämlich zwischen mindestens zwei Alternativen des Handelns oder Unterlassens willentlich wählen zu können, und Pufendorf damit Wissentlichkeit und Willentlichkeit als Kriterien der Imputabilität allerst angemessen systematisch korreliert, schließt auch er an bereits vorhandene Vorbilder an, als deren eines u.a. wiederum Thomas von Aquin gelten kann. Ebd., I. V. § 5, S. 58: „Caeterum quod actio moralis ad aliquem pertinere, eique imputari possit (in quo formalem ejusdem rationem consistere diximus), ejus causa nulla est alia, quam quod in potestate & facultate alicujus fuit, illam fieri vel non fieri, suscipi vel omitti“; vgl. Joachim Hruschka: Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf. Zur Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 96 (1984), S. 661–702; STh I–II q. 22, a. 2, co: „[D]icitur aliquis actus culpabilis vel laudabilis, quod imputatur agenti, nihil enim est aliud laudari vel culpari, quam imputari alicui malitiam vel bonitatem sui actus. Tunc autem actus imputatur agenti, quando est in potestate ipsius, ita quod habeat dominium sui actus. Hoc autem est in omnibus actibus voluntariis, quia per voluntatem homo dominium sui actus habet“. Auch einer der Hauptkritiker Luthers, Luis de Molina, versucht in der Frage nach der Zurechenbarkeit zwischen Augustinus und Aristoteles zu vermitteln und – in ähnlicher Weise wie Melanchthon – durch die Unterscheidung von Handlungsund Willensfreiheit einen Weg zu finden, dass Handlungsentscheidungen als Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen genuin willentlich getroffen werden, die Vergegenwärtigung dieser echten Alternativen und ihrer jeweiligen Güte aber gerade ein Vernunftakt ist. Vgl. Alexander Aichele: Moral und Seelenheil. Luis de Molinas Lehre von den zwei Freiheiten zwischen Augustin und Aristoteles. In: Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik. Hg. von Matthias Kaufmann, Robert Schnepf. Berlin 2007 (Treffpunkt Philosophie 8), S. 59–84, hier S. 59f. und 70f.
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dieser Spezialdiskussion kann sich nur erlauben, wer den Fokus auf das menschliche Rechtssubjekt beschränkt, das der Schöpfung selbst je schon unterworfen ist. Wird aber der Fokus auf die Gottesinstanz selbst gelegt, so kann die Schöpfung eben unmöglich vorgängig gedacht werden. Die Schöpfungstheologie reicht vielmehr selbst in die Imputationsfrage different hinein, und zwar gleichsam straftheoretisch und geltungstheoretisch. Das göttliche Recht, besonders aber die lex Dei, kennt keine ihm bzw. ihr übergeordnete Instanz mehr.606 Daher muss in Gott die Identität von Schöpfer, Richter und Bestrafer gedacht werden. Insofern lässt die augenscheinliche Existenz des Bösen in der Welt allererst in der Weise nach dem Verhältnis des Normativen zum Nonnormativen fragen, wie sie Gryphius und seine Zeitgenossen unübersehbar quält. Da das widerrechtliche und gewissenswidrige Handeln aus einer teuflischen Raserei resultiert, fragt sich – zumindest systematisch –, ob für den Menschen imputationstheoretisch nicht doch eine Entschuldigung zu folgern wäre. Mithin fragt sich, warum Gryphius die menschlichen Verbrecher seiner Epen unter göttliche Strafe fallen lässt. Schließlich breitete er höchselbst die potenziellen Schuldunfähigkeitsargumente aus, als er ausführlich Luzifers listige Einflussnahmen schilderte. Weil Gryphius aber gerade beides zur Darstellung bringt, liegt die große Nähe zu Melanchthon so nahe. Damit ist die Frage nach angemessenen Mitteln und Kräften im Menschen berührt, der Versuchung durch den Teufel zu widerstehen. Wenn Gryphius nämlich im ersten Buch des Olivetum Judas’ Motivation zum Verrat bei Kaiphas ins Bild setzt, so ist das Wirken teuflischer Mittel nur eine Bedingung seiner Unrechtstat. Die als ein solches Mittel des Teufels stilisierte Erinnye Alekto „entfacht“ zwar „mit höllischer Fackel in dem Besessenen neue Flammen des Wahns, vertrieb aus seinem Herzen alle Scham“: Ecce autem noua lymphato truculenta furorum Suggerit Alecto stygijs incendia taedis Reliquiasque animi, totumque è mente pudorem Emouet; […].607
Dieses Wirken Alektos ist jedoch weder allein notwendige noch allein hinreichende Bedingung von Judas’ Verrat. Schon an der zitierten Stelle wird deutlich, dass nicht erst und allein Alekto alles Rechtsempfinden (pudor) aus Judas vertrieben hat, sondern lediglich deren Reste. Der Anfechtung Judas’ geht eine aktive Handlung seiner selbst voran: das Ausstoßen des „diuinus vigor“. Diesen über-
606 Vgl. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 39f. 607 Olivetum I, S. 182, v. 378–380.
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setzt Ralf Georg Czapla treffend mit „Kraft des göttlichen Glaubens“,608 wobei hier zu zeigen ist, warum: Ergo cadens, & tali saucius ictu, Paulatim tepidâ, diuinum mente vigorem Exuit, […]609
Der Glaube wird nicht nur als dasjenige Mittel herausgestellt, das nach lutheranischer Auffassung allein das Heil erwirken kann. Vielmehr kommt noch die eigentümliche, in der evangelischen Theologie nicht unumstrittene Auffassung hinzu, dass der Glaube von Unrechtstaten abhalte und dass umgekehrt der Glaubensverlust eines einmal Bekehrten dessen Handlungen wider das göttliche Gesetz bedinge (ausführlich 4.4.4.3). Ist also die menschliche Handlung wider göttliches Recht zwar eine eigentlich teuflische, so ist sie letztlich dennoch dem Menschen zuzurechnen. Seine Raserei – um nicht zu sagen ‚Besessenheit‘ – ist nur wieder Resultat einer Handlung, die ihm als Menschen zuzurechnen ist. Sie ist das Resultat des mangelnden Glaubens an Gott und seine Gesetze. Hier wird deutlich, wie weit der Begriff Glaube zeitgenössisch trägt: Nämlich Glaube an Gott ist schon praktische Theologie; und Glaube ist eng mit dem Wissensbegriff verbunden. Jeder Mensch besitzt das angeborene Wissen um die Göttlichkeit der ihm eingeborenen praktischen Prinzipien. Aus diesem Wissen resultiert gemäß Melanchthon schließlich das verpflichtende Vertrauen auf die Richtigkeit des göttlichen Ratschlusses auch in Rechtsfragen. Gerade diese Wissentlichkeit betont Gryphius sowohl im Falle des Herodes als auch in dem des Judas. Herodes expliziert, dass ihn die göttlichen „fatalia“ wider den, der Unrechtes tut, nicht schrecken.610 Er beruft sich zum Schutz seiner Herrschaft sogar ausdrücklich auf Luzifer611 und betont damit höchstselbst die Gotteslästerlichkeit seiner Bestrebungen. Luzifers und Beelzebubs Verführungskünste reichen gerade nicht soweit, Herodes absolut zu verblenden – und damit imputationstheoretisch zu entschuldigen. Wie auch in ihrem eigenen Verhältnis zum göttlichen Recht können Luzifer und Beelzebub Herodes im weitesten Sinne nur emotiv dazu verführen, gegen dieses göttliche Recht handelnd zu verstoßen. Sie können ihn jedoch nicht dazu bringen, in plötzliches Unwissen über dieses Recht zu verfallen. Sie können auch nicht seine Wahrnehmung von Rechtem und Unrechtem umkehren, auf dass er dieses
608 Olivetum I, S. 181. 609 Olivetum I, S. 180, v. 348–350. 610 Herodes I, S. 40, v. 448f.: „In furias, & in arma ferar! fatalia nil me / Terrent, quae solymi jactant response Tonantis.“ 611 Herodes I, S. 46, v. 576f.: „Proh! Lucifer ibit / Sic ait, & sceptris illuserit advena nostris!“
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Handeln auch für legitim halte. Eine Vorspiegelung falscher Tatsachen bezüglich des Rechts überhaupt gelingt dem Teufel nicht. Folglich kann eine solche Vorspiegelung nicht zu Herodes’ Entschuldigung angeführt werden. Er handelt nicht etwa in bestem, aber falschem Wissen und Gewissen, sondern entgegen besseren Wissen und Gewissen. Die eigentliche Sprengkraft dieses Gedankens und sein Niederschlag bei Gryphius sind noch zu erläutern.
4.4.3.3 Fazit: Erste Folgerungen aus dem Privationismus für einen politischen Gott Für eine stringente politische Theologie sind der ontologische Status und die Herkunft des Bösen klugheitstheoretisch relevant. Die göttliche Allmacht und der freie göttliche Wille sind für die Rechtsgeltung ebenso different wie für das politische Handeln. Es ist unbedingt zu vergegenwärtigen, warum der zeitgenössische, theologisch geleitete Diskurs dies beweisen muss: Eine Allmachtstheorie nämlich, die das Böse als wesentlich und gottgewollt dächte, würde aus dem Innersten der Theologie selbst heraus die Indifferenz der Göttlichkeit für politische Entscheidungen konstatieren müssen. Sie würde den Machiavellismus theologisch stützen und begründen helfen. Dahingegen weiß Melanchthons Privationismus-These die Geltung des Guten und Rechten durch einen ebenso allmächtigen wie auch gütigen Gott zu plausibilisieren. Dieser gütige Gott wird bei Gryphius im Ausnahmezustand auch dazu ‚gedrängt‘ seine lutheranische Stereotype als Deus absconditus aufzugeben und unmittelbar, d.h. nicht sub contrario als politisch Strafender in Erscheinung zu treten: SAEpè quidem superum Princeps qui fulgida coeli Sidera, perpetuasque faces, mundumque gubernat Nudibus obscuris crepitantia fulmina condit; Et rabidos hominum tacitus, sinit ire furoris, Observans mentes rigidas; tragicosque tumultus Despectat; ridetque minas; quas corde Tyranni Vesani, incassum, turgenti pectore volvunt. Ast tandem assiduis precibus, tremulisque querelis Commotus, rapit arma manu, tonitruque tremendum Displodit […]612
Nicht nur legt Gryphius offen, dass er – aus rechtssystematisch guten Gründen – mit der Tyrannei diesen Ausnahmezustand gegeben sieht. Er betont in Gottes
612 Herodes II, S. 84, v. 1–10.
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Figurenrede auch, dass dieser den Rechtsbruch des Herodes nicht tatenlos dulden wollen kann. Ein Bruch göttlichen Gesetzes durch einen höchsten irdischen Herrscher ist einer Weise gotteslästerlich, die es nicht erlaubt, den Gedanken der Verborgenheit Gottes (Deus absconditus) zu verabsolutieren. Gott muss sich zeigen: Sat spurca risit mea Numina linguâ! Stipitibus fudit Latiis sat thura per aras. Sanguinis exhaustum satis est! mea vera voluptas Sat tulit exilii latebras: […] […] hinc jura jacent violate sacrati Foederis hinc […] […] venit illa dies, quâ corda superbi Ulciscar tumefacta Ducis: quâ funere lento Abrumpam stolidae, regalia tempora, vitae.613
Die Strafe des Herodes erfolgt erstens durch dessen Gewissensqual („conscia mens“),614 zweitens durch das postmortale Elend im Feuer der – wieder auf ihren Platz verwiesenen – Hölle,615 drittens durch elende Krankheiten, eine unmittelbare irdische Strafung also, deren Schilderung Gryphius den größten Raum gibt.616
4.4.3.4 Exkurs: Daniels Heinsius’ Herodes Infanticida (1632) – Politische Theologie zwischen Tradögienform und stofflich gebotener Episierung Schon mit Blick auf die historische Nähe zu Gryphius’ Herodes-Epen darf Daniel Heinsius als deren aktuellster Ideengeber gelten. Ebenso übernimmt Gryphius die Exzessivität der Gewaltschilderung ohne Zweifel von Heinsius.617 Hier hat es jedoch vielmehr darum zu gehen, dass Gryphius in seiner Bearbeitung des Stoffes die Epenform wohl in der Tat bewusst gewählt hat, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil Heinsius die Dramatisierung des Stoffes versucht hat. Ferdinand Stürner stellt zurecht fest, dass im Herodes Infanticida „kaum miteinander verknüpfte Subplots“ vorliegen.618 Heinsius weicht also von der strengen Drei-
613 Herodes II, S. 88–90, v. 116–127 [Hervorhebungen O.B.]. 614 Herodes II, S. 114, v. 608. 615 Herodes II, S. 116, v. 675–678. 616 Herodes II, S. 123–127. 617 Vgl. z.B. Daniel Heinsius: Herodes Infanticida. Tragœdia. Leiden 1632, V,2, S. 62–64 und Herodes I, S. 58. 618 Ferdinand Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘. In: Daniel Heinsius. Klassischer Philologe und Poet. Hg. von Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer. Tübingen 2008 (NeoLatina 13), S. 415–439, hier S. 424.
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Einheiten-Lehre ab, die seit Lodovico Castelvetros Aristoteles-Kommentation Eingang in die präskriptivistische Tragödienpoetik gefunden hat619 und die Heinsius in seinen poetischen Abhandlungen doch eigentlich selbst vertrat. Diese Abweichung war so prominent, dass Jean-Louis Guez de Balzac sich im selben Jahr der berühmten Querelle du Cid620 zu einer scharfen Polemik in Form eines Discours sur une tragédie de M. Heinsius intitulée Herodes Infanticida (1636)621 veranlasst sah. Auch Gryphius, wenngleich noch jung, nahm diese Spannung wahr. Eben weil er sein noch fragiles Standing nicht durch verfrühte Gewagtheiten gegenüber der noch immer starken Regelpoetik gefährden durfte, war seine Entscheidung zur Epenform ebenso konsequent wie klug. Der arriviertere Poet und Poetiker Heinsius unternimmt demgegenüber eine Episierung der Tragödie. Allerdings konnte er sie wegen seines größeren Rufes nicht nur leichter wagen. Weil er den Herodes-Stoff und die Tragödienform nun einmal gewählt hatte hatte, musste er die Episierung nachgerade mit in Kauf nehmen. Stürner hat zu Recht gezeigt, dass Heinsius’ Dramendichtung „auch im Zusammenhang mit den besonderen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen gesehen werden“ muss.622 Jedoch reduziert Stürner diese auf einen realgeschichtlichen Kontext, insofern „[l]ediglich Stücke mit patriotischem oder christlichem Inhalt […] Aussicht [hatten], auch beim calvinistischen Klerus auf eine gewisse Akzeptanz oder gar Wohlwollen zu stoßen“.623 Man kann darüber hinaus zeigen, dass die Verwendung eines Bibelstoffes selber einer bestimmten argumentativen Strategie geschuldet ist, nämlich einer vermehrt offenbarungstheologischen Beweiskultur in politischen Fragen der Tyrannei: Es geht um eine offenbarungstheologische Geltungstheorie. Schon in der Vorstellung des Argumentum wird Herodes als „Rex immanis“ herausgestellt.624 Die doppelte Bedeutung von immanis wurde vom Altphilologen Heinsius ohne Zweifel mit aller Bedacht gewählt: Mit diesem Attribut wird erstens Herodes’ ungeheuerlicher Herrschaftsanspruch angezeigt, d.h. die Herausnahme bestimmter Befugnisse, die auch seine Stellung als König überschreiten. Zweitens wird auch seine Herrschaftspraxis als schrecklich und grausam vorgestellt. Dass es Heinsius dabei um Legitimitätsfragen geht, zeigt seine Bezeichnung von
619 Vgl. Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1975, S. 201f., S. 232. 620 Vgl. Herta Schmid: [Art.] Dramentheorie. In: RLW I, S. 402–406, hier S. 404. 621 Vgl. Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 434–436. 622 Ebd., S. 418. 623 Ebd. 624 Heinsius: Herodes Infanticida, S. 7: „Herodes Ascalonita, Antipatri filius, Idumæus, templi restitutor, Rex immanis […].“
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Herodes’ Taten als Verbrechen. Sie werden durch den bethlehemitischen Kindermord noch übertroffen: „[I]mpietati suæ delictus, vno scelere superiora excessit“.625 Im Ablativus Absolutus ist zudem der Bedingungscharakter ersichtlich, den Herodes’ Gottlosigkeit („impietas“) gegenüber diesen Verbrechen einnimmt: Sie ermöglicht diese allererst. Der Dramenverlauf weist dementsprechend nichts anderes auf, als dass das Verbrechen eines Herrschers eben eines gegen Gottes Gesetze ist. Diese Gesetze besitzen aufgrund ihrer Universalität auch für den Heiden Herodes Geltung, auch wenn Heinsius auf diese Universalität nicht eigens reflektiert. Wie auch in Gryphiusʼ Fall ist der Zielpunkt der Herodes-Verarbeitung des Heinsius zwar christologisch-heilsgeschichtlich. Nichtsdestoweniger ist die Verhandlungsbasis auch dieser poetischen Gerechtigkeit eine juridische und dies eben in (rechts)theologischem Rahmen. Anders als Gryphius lässt Heinsius Gott und Teufel als Auftretende weg, bringt aber mit dem Engel einen nicht nur instanziell mächtigen Mittelsmann Gottes auf die Bühne, der προλογίζων den gesamten ersten Akt füllt. Dieser bestätigt von Beginn an die juridische Rahmung des Stückes, wenn er erinnert, dass Gott bereits einmal als Gesetzgeber auf die Erde kam: „Huc ipse quondam legifer venit Deus“.626 Von dieser, im Alten Bund manifestierten Autorität wurde sich jedoch, so der Engel weiter, alsbald wieder abgewandt: „[D]umque partitur scelus, / Mens à parente tota deflexit suo“.627 Herodes ist somit gleichzeitig Ausdruck dieser allgemeinen Missachtung göttlichen Rechts und derjenige, der dessen Restituierung als Lex Nova durch Jesus Christus verhindern will. Herodes’ Schuld gegenüber dem göttlichen Recht ist also eine doppelte. Er befolgt zum Einen dessen Inhalt nicht, zum Anderen bekämpft er seine Geltung überhaupt. Besonders deshalb ist Herodes Tyrann: „Natum tyrannus credit, & lethum pàrat“.628 Ebenso konsequent steht gegen Prologschluss die Ankündigung himmlischer Hilfe: Succurret æther. fulmen in partes trahet, Tonitruque vires addet infanti suas Ruptæque nubes. […] […] ipse succurret Pater, Vnumque terræ soluet, aut franget, latus: Fractoque mundo, totius mundi simul Frangentur artes, & tyrannorum minæ.629
625 Ebd. 626 Ebd., I,1, S. 11. 627 Ebd., I,1, S. 12. 628 Ebd., I,1, S. 15. 629 Ebd., I,1, S. 16 [Hervorhebung O.B.].
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Es fällt auf, dass der göttliche Eingriff nicht nur die Tyrannen trifft, sondern auch die weltlichen Künste in ihre Schranken weist. Damit ist vor allem diejenige Ausprägung politischer Klugheitslehre angesprochen ist, die meint, sich rein weltlich konstituieren zu können. Auch Heinsius lässt seinen Engel nichts anderes als die praktische Widerlegung des Machiavellismus ankünden. Die Angst des Herodes vor der Konkurrenz des Jesuskindes wird im dritten Akt breit dargestellt. Auch dieser besteht wiederum aus einem einzigen Monolog, diesmal des Herodes. Dabei ist nicht zu übersehen, dass diese Angst auf einem Missverständnis aufruht. Er fürchtet die Konkurrenz des christlichen Regnums für seine Herrschaft nur, weil er den Unterschied des geistlichen und weltlichen Regiments nicht begreift: „Si regna cœlum parturit, regna eripit“.630 Dies ist nicht nur unter lutheranischer Perspektive eine Missdeutung: Mit Francisco de Vitoria hatte auch ein katholischer Rechtstheologe betont, dass Christi Herrschaft nicht in temporalibus bestand.631 Mit Blick auf Christi Geburt allein hätte Herodes also um seine Herrschaft eigentlich nicht zu fürchten. Wie auch später Gryphius stellt Heinsius Herodes nun als wissentlichen Missetäter dar: Herodes weiß, dass seine Taten gegen göttliches Gesetz verstoßen. Herodes weiß, dass es ebenso gefährlich wie sträflich ist zu regieren, wenn „dem Gestirn erlaubt ist alles wegzunehmen, was Verstand oder Tüchtigkeit einem gibt“: Obnoxium est regnare, si stellæ licet Auferre, quicquid ratio vel virtus dedit; Et syderum sub jure, majestas jacet.632
Herodes ist also alles andere als eine durchweg „irrational agierende Tyrannengestalt“.633 Diese Einschätzung ginge gerade an der Polemik vorbei, die Heinsius an dieser Stelle kunstvoll ausgestaltet. Heinsius konzipiert Herodes nicht nur als Sinnfigur der Tyrannei, sondern auch als Vertreter des machiavellischen Denkens, eines unverbesserlichen Machiavellismus obendrein: Herodes weiß darum, dass die „Majestät dem Recht der Gestirne [i.e. dem himmlischen, göttlichen Recht] unterliegt“. Im Unterschied zu Machiavelli, der dem göttlichen Recht keine diesseitspraktische Wirklichkeit zumisst, weiß Herodes sogar um diese Wirklichkeit, wenn er feststellt, dass „das Gestirn“ Macht nimmt. Und dennoch bleibt Herodes verdrossen darüber, dass menschliche Vernunft und Tüchtigkeit dem unterlegen
630 Ebd., III, 1, S. 30. 631 Vgl. Scattola: Menschheit und Völker in der naturrechtlichen Kriegslehre von Francisco de Vitoria, S. 101–103. 632 Heinsius: Herodes Infanticida, III,1, S. 30. 633 So Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 433.
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sind und sein Zweckrationalismus nicht dauerhaft die Früchte trägt, die er sich erhofft hatte. Herodes’ Prudentismus erweist sich dadurch als unverbesserlich, dass er ratio und virtus dem göttlichen Recht und seiner Kraft gegenüberstellt. In einer umfassend theologisch untermauerten Wissenschaftsphilosophie jedoch ist eine solche Gegenüberstellung falsch. Die Vernunft konkurriert nicht mit dem göttlichen Ratschluss, sondern hat ihn zu berücksichtigen, um allererst so zu zutreffenden Erkenntnissen zu kommen. Entsprechendes gilt für die politische Klugheit: Lässt sie den göttlichen Ratschluss unbeachtet, handelt sie unvernünftig und unklug. Heinsius zeichnet hier nicht einfach eine „irrational agierende Tyrannengestalt“, sondern einen machiavellistischen Herrscher, der gerade darum zum Tyrannen geworden ist, weil er einen falschen Begriff von ratio hat. Dieser Fehler des Herodes speist sich wiederum aus einem falschen Begriff der Gottheit und ihrer Allmacht: Herodes’ Ärger darüber, dass es „dem Gestirn erlaubt ist“ Macht zu nehmen, ist vor dem Hintergrund eines monotheistischen Allmachtsdenkens nicht nur gotteslästerlich, sondern schlicht unsinnig. Heinsius kehrt an der personifizierten Kontrastfolie Herodes deutlich die normative wie politisch wirksame Verbindlichkeit der frei wollenden Gottesinstanz hervor. Eher unbemerkt markiert Heinsius jedoch genauso, dass diese politische Theologie auf das menschliche Wissen um die Alleinigkeit dieses Gottes angewiesen ist: Eigentlich ist Herodes durch sein falsches Verständnis vom göttlichen Recht insofern zu entschuldigen, als er gerade um dessen absolute Verbindlichkeit nicht angemessen weiß. Bemerkenswert ist besonders Szene IV,3, in welcher ein senex Herodes von seinem Vorhaben abzubringen versucht. Dieser argumentiert zunächst gar nicht juridisch-normativ, sondern verbleibt selbst im Rahmen pragmatischer Erwägungen.634 Er empfindet herrschaftliche Grausamkeit als herrschaftsbedrohend, weil die Volksmenge vor allem den Elenden geneigt ist: „Circumstat omne vulgus, ac miseris fauet“.635 Mag der Verhasste auch herrschen, das vergossene Blut wird dennoch auf den Urheber zurückkommen: […] Invitus licet, / Moderare. fusus cruor ad auctorem redit. Obsequia modicus suadet, immodicus fouet Inobsequentes, ac suas vires docet.636
634 Ebd., IV,3, S. 50f. 635 Ebd., IV,3, S. 52. 636 Ebd.
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Der gemäßigte Herrscher überzeugt mithin zum Gehorsam, der maßlose befeuert den Ungehorsam und stärkt darüber hinaus dessen Kräfte. Der Sache nach findet zwischen Herodes und dem Senex also keine Auseinandersetzung zwischen Prudentismus und Moralismus statt, sondern ein innerprudentieller Disput über die zu erwartenden Folgen von Grausamkeit. Im letzten Versuch, Herodes zu überzeugen, argumentiert der Senex zwar mit einer übernatürlichen Kraft, die das Volk schon immer bewegt hat und weiter bewegen wird. Rechtstheologisch bleibt seine Argumentation allerdings weiter unbestimmt. Der senex kann nur damit schließen, dass aus Sicht des Menschen alles genauso zufällig zugrundegehe, wie es zufällig entstehe:637 Der Herrscher kann sich über diese übernatürliche, dem Senex weitgehend unbegreifliche Kraft nicht hinwegsetzen, um seine Macht zu sichern. Dieser eine von bloß zwei Dialogen im Drama legt besonders Herodes’ Beratungsresistenz offen: Sein monokratischer Machtanspruch ist dergestalt übersteigert, dass er nicht einmal pragmatischen Ratschlägen offensteht. Dieser einzige Dialog des Herodes weist daher mitunter die Gründe dafür auf, dass er ansonsten bloß monologisch spricht. Er zeigt mithin auf, warum Heinsius’ Tragödie vermehrt episch gerät. Stürner hält zu Recht fest, dass es Heinsius „in seiner Tragödie nicht so sehr um die Darstellung“ geht, „als vielmehr um die Deutung des biblischen Sujets“638 und – so ist zu ergänzen – seines politischen Substrats, d.h. der Folgerungen für eine bestimmte politische Theologie. Formengeschichtlich hält Stürner zutreffend fest: „An Stelle eines darstellend-dramatischen Grundzugs herrscht dementsprechend allenthalben ein episch-kommentierender Duktus vor“.639 Bei Heinsius lässt sich ebenso der Vorzug epischen Erzählens im Hinblick auf den gewählten Stoff und seine spezifischen Probleme feststellen wie bei Gryphius. Anders aber als dieser wählt Heinsius dennoch die Dramenform und dies natürlich zum Preis einer weitgehenden Episierung der Gattung und das heißt auch: zum Preis einer weitgehenden Entaristotelisierung bzw. Entscaligerisierung der Tragödienpoetik (siehe dazu auch 6.5). Bei Stürner selbst findet sich lediglich das formengeschichtliche Staunen über diesen Vorgang. Dabei ist dieses Staunen durchaus berechtigt, vertritt doch Heinsius selbst in seiner Poetik die Position eines scaligerisierten Aristotelismus, d.h. einer Tragödienpoetik unter den Leitre-
637 Ebd., IV,3, S. 54: „Fama, astra, vates, Rex nouus, dubios agunt / Versantque populous. mota plebs, plebem mouet. / Detur furori tempus, exiguum licet; / Quæ sponte oboritur, sponte tempestas cadet.“ 638 Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 424. 639 Ebd.
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geln der Einheitsnorm und des moraldidaktischen Lehrzwecks. Im Herodes hingegen findet sich ein vermehrt „statisch-oratorienhafter Charakter“ mit „langen Monologen“ und „monologhaften Dialogformen“.640 Für die Formen- und Gattungsgeschichte lässt sich gerade gewinnbringend aufzeigen, dass Heinsius’ Episierungstendenz dem Charakter seines Stoffes, der komplexen Diskurslage von dessen Problematik geschuldet ist. Dass Heinsius die Dialogform meidet, ja meiden muss, hat nicht dramatisches und nicht einmal genuin episches System: Das Problem des Stoffes ist eben durch den monokratischen Herrschaftsanspruch und -duktus des Herodes geprägt. Herodes entzieht sich in diesem Anspruch gerade der Konsultation externer Quellen des Rechts und des guten Rats. Er tritt daher auch nicht in Dialog mit ihnen: Das Gespräch mit dem Senex ist dabei nicht Widerspruch, sondern Ausdruck dieses Verhaltens. Stürner sagt es im Grunde selbst: Herodes ist ein „überheblicher Tyrann“.641 Er geht in keinster Weise auf den Senex ein. Das Gespräch ist ein bloß monologischer Dialog, in dem Handlungsentscheidungen nicht gefunden werden, sondern in dem nur noch autoritär kommuniziert wird, dass diese Entscheidungen bereits gefallen sind. Heinsius kann seinem Herodes mithin gar keine veritablen Dialoge aufzwängen, solange es ihm um ebenjene Problematik geht, die ein in sich einkapselnder, apriorischer Herrschaftsanspruch in sich birgt: Die Immunität gegen besseren Rat, der Rückzug eines solchen politischen Anspruchs auf die bloß eigene Überzeugung und Entscheidungskompetenz lässt keine andere Form als die monologische zu. Kommentierung kann dieser Anspruch mithin nur noch in epenhafter Form erfahren, in Gegenmonologen und Chorgesängen. Die Devianz vom aristotelischen Einheitsdogma ist also nicht kontingent, sondern dem gewählten Stoff geschuldet. Wenn daher die einzigen zwei Stichomythien der Tragödie in IV,2 und IV,3 einmal zwischen Herodes und dem Senex und ein andermal zwischen Anna und Joseph stattfinden, so dient dies eben nicht nur einer „rhetorisch zugespitzten, dramatisch aber folgenlosen, statischen Kontrastierung zweier unterschiedlicher Standpunkte“.642 Heinsius bringt im Mittel dieser Kontrastierung diejenige Problematik zur Darstellung, die eben durchaus dramatische Folgen zeitigt: Per contrarium stellt das Stück damit heraus, dass Herodes’ monokratischer Herrschaftsanspruch hier und der Lebensanspruch der Menschen dort eigentlich einer Vermittlung und eines Dialogs gerade bedürften. Herodes’ Einkapselung, seine Dialogverweigerung macht seinen Fehler und sein Unrecht aus.
640 Ebd. 641 Ebd., S. 432. 642 Ebd., S. 426.
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Das Befolgen eines regelpoetischen Apriorismus, die dramatische Zwangsdialogisierung des Herodesstoffes hätte Heinsius also den Problemkern dieses Stoffes radikal verfehlen lassen: die Handlungsnot der ‚guten Sache‘, die der ebenso absoluten wie willkürlichen Durchsetzungsmacht der bösen gegenübersteht und ausschließlich durch himmlischen Beistand aufgelöst werden kann. Daher wird in Heinsius’ Tragödie die Bestrafung des Herodes genauso wenig in der Form eines agierenden Strafgottes auf die Bühne gebracht wie in Gryphius’ Trauerspielen. Gryphius’ epische Verarbeitung kennt für die Handlungsmotivation des Herodes genauso wie für ihre Bestrafung bestimmte Personen als ihre Träger, nämlich den Teufel, Beelzebub und Gottvater. In Heinsius’ Darstellung liegt mehr eine Psychologisierung dieser Strafe vor. Auf die Nachricht seines Nuntius hin, dass Jesus, Maria und Joseph die Flucht nach Ägypten gelungen sei,643 verfällt Herodes in eine „Raserei“.644 Diese jedoch ist im Rahmen des zeitgenössischen Gewissensverständnisses eigentümlich rationalisiert. Es ist nicht nur darstellerischen, deiktischen Aspekten geschuldet, dass Herodes schon das Einsetzen seiner Gewissensqual benennen kann: „Nunc totus ardet animus, atque exæstuat, / Nunc fluctuatur cor, & exundat, meum“.645 Schon die Ausführungen zur Tradition des Denkens vom Gewissen in 4.1.2.1 dürften gezeigt haben, dass es den eigentümlichen Doppelcharakter des Gewissens bzw. der conscientia ausmacht, dass neben dem Wahnsinn dennoch die Wissentlichkeit um das Unrecht beibehalten wird. Diese Wissentlichkeit ist sogar notwendige Bedingung der Gewissensstrafe: Denn nur sie verhindert, dass sich der Schuldige in Unkenntnis seines Unrechts in einer falschen Überzeugung seines Rechts befindet. Herodes’ Gewissensqual lässt ihn daher allemal präzise erkennen, dass er sich an Unschuldigen verbrochen hat und nun selbst einer Strafe anheimfallen wird: „Satis alienus cruor / Vrbi immerenti fluxit. accedat meus“.646
4.4.4 Ex 20,2, Mal 3,6 und Melanchthons schrifttheologisches Substrat des Deus politicus Gryphius’ – ebenso wie Heinsius’ – Unterfangen, die Heilige Schrift auch als historische Quelle von Beispielen der göttlichen Straftätigkeit stark zu machen, steht auf tönernen Füßen, insofern das Matthäusevangelium die Bestrafung des
643 Heinsius: Herodes Infanticida, V,1, S. 65. 644 Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 423. 645 Heinsius: Herodes Infanticida, V,1, S. 65. 646 Ebd., V,1, S. 66f.
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Herodes eigentlich nicht erläutert: Nahe liegt nur der für einen theologischen Text plausible Schluss auf einen Tod unter Strafe. So ist Mt 2,19–21 zumindest unmissverständlich zu entnehmen, dass Herodes kurz nach dem bethlehemitischen Kindermord gestorben sein muss: Der Engel überbringt Joseph diese Nachricht im ägyptischen Exil und fordert ihn auf, mit Maria und dem „Kindlin“ nach Israel zurückzukehren.647 Weiter lässt sich auf einen Straftod aus der Formulierung in Mt 2,20 schließen, „[s]ie sind gestorben / die dem Kinde nach dem leben stunden“:648 Ein solcher Schluss wäre im Falle eines Beobachtungssatzes als post hoc ergo propter hoc-Schluss zwar falsch. Bei dem Satz einer privilegiert informierten Autorität hingegen, nämlich eines Engels, liegt die legitime Annahme nahe, dass der Kindermord in der Tat Ursache des Todes der Mörder war. Nichtsdestoweniger schweigt sich das Evangelium über die Gestalt des Todes von Herodes und seiner Mitstreiter aus. Dies mag mitunter Grund für Gryphius gewesen sein, mit dem Olivetum und dem Verrat des Judas 1648 einen weiteren Bibelstoff zu bemühen, der auch innerhalb der Heiligen Schrift die göttliche Bestrafung des Judas darbietet: in Form von Verzweiflung und Selbstmord.649 In der Apostelgeschichte reicht die Strafe sogar soweit, dass Judas „mitten entzwey geborsten / vnd alle sein Eingeweide ausgeschüt“.650 Nichtsdestoweniger kann die Bemühung wesentlich historischer Beispiele der Bibel systematische juridische Argumente nicht ersetzen, obwohl sie besonders in der politischen Streitkultur ihre große Bedeutung behalten wird (4.4.6). Es erstaunt daher wenig, dass abermals auf Melanchthon zurückzukommen ist. Melanchthon führt im Unterschied etwa zum späteren Schönborner den Gedanken der göttlichen Strafe ausführlich aus. Er erlaubt es mithin, die bei Gryphius virulente Frage zu beantworten, wie diese göttliche Strafe im Einzelnen vorzustellen ist. Es ist bemerkenswert, dass Melanchthon sich das Problem, dass das Naturrecht eine gleichermaßen universale und damit transhumane Strafinstanz benötigt, selbst einhandelt. Er löst die gehaltliche Bekanntheit der principia practica vom Offenbarungsakt der Gottesinstanz, um die Universalität dieses Gehalts behaupten zu können: Universalität besteht zum einen in Ubiquität. Der Dekalog besitzt deshalb Geltung für alle Menschen, da seine Prinzipien im Unterschied zu
647 Mt 2,20. 648 Ebd. 649 Mt 27,3–5. 650 Apg 1,18.
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den Zeremonialgesetzen natürlich erkennbar sind.651 Universalität besteht zum anderen in Perennität. Die natürlichen Gebote haben schon vor dem Alten Bund Geltung besessen und diese Geltung auch nach ihm behalten. Natürlich hat Melanchthon erstens das universale Wissen um die Existenz Gottes ebenso schon in den ideae innatae untergebracht. Sie erlauben und gebieten die Anerkennung Gottes gleichermaßen intramental. Zweitens verweist Melanchthon auf die ebenso intramentale Bestrafung der Sünde in und durch das Gewissen: „Gott will haben, das alle Menschen die sünde erkennen, vnd will vns mit vnserem eigenen Gewissen richten vnd straffen“.652 Innersystematisch hätte Melanchthon die Geltungsinstanz der principia practica also eigentlich genügend nachgewiesen, deren Verpflichtungskraft mithin ausreichend erwiesen.653 Allerdings scheint Melanchthon selbst eine Strafung weltlicher Sünden durch das forum internum allein nicht mehr zu genügen. Er nimmt den empirischen Einspruch ernst, dass die äußerliche göttliche Strafe augenscheinlich nicht statthabe (4.2.2). Damit begibt sich Melanchthon selbst in neuerlichen begründungstheoretischen Druck hinein. Wird nämlich daran festgehalten, dass die vis obligativa eines Gesetzes erst durch den externen Gesetzesstifter gegeben ist, so muss ein Problem dort auftreten, wo die Strafgewalt dieses externen Gesetzgebers bezweifelt wird.
651 CR XXI, Sp. 687f.: „Ceremoniae Mosaicae et forenses leges nec mandatae sunt caeteris Gentibus nec obligant nos, ut fuerunt ad tempus isti populo Israël traditae […] Sed est alius gradus legum, quae vocantur Morales, quae sunt aeterna Dei sententia et regula nec mutantur temporibus. Semper ab aeterno voluit Deus hanc propositionem: Creatura diligat et timeat Deum, Creatura rationalis sit casta. Sunt autem leges morales, quae praecipiunt de agnitione Dei in mente et de obedientia cordis erga Deum et de virtutibus erga hominess, ut de iustitia, castitate, veritate, temperantia. Praecipuae autem legume moralium simul in una parva tabella miro consilio Dei comprehensae sunt, quae tabella vocatur Decalogus. […] Hae cum sint aeternae regulae mentis divinae, simper sonuerunt in Ecclesia, etiam ante Moysen, et simper mansurae sunt, et ad omnes gentes pertinent.“ 652 CR XXII, Sp. 147. Vgl. CR XXI, Sp. 1083: „CONSCIENTIA est syllogismus practicus in intellectu, in quo maior propositio est Lex Dei, seu quodcunque verbum Dei nobis aliquid praecipiens. Minor vero et conclusio sunt applicatio approbans recte factum vel condemnans delictum, quam approbationem in corde sequitur laetitia, et condemnationem dolor naturali ordine sancito a Deo, qui vult in creatura rationali hanc notitiam sui iudicii esse et executionem accedere, ut sit testimonium de ipso ostendens, esse Deum et praecipere iusta et prohibere iniusta et punire“. 653 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 332–333.
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4.4.4.1 Naturrechtssystematische Redundanz des Offenbarungsaktes? Dass Melanchthon diese Einwände als empirische Entgegnungen ernst nimmt, zeigt sich daran, dass er ihnen nun nicht mehr systematisch, sondern zunächst selbst empirisch zu begegnen sucht: „Non frustra maledictiones in Lege Dei propositae sunt, quas non esse irritas universa mundi historia testatur“.654 Historischen Exempla, in denen das Ausbleiben der göttlichen Strafe wider einen Tyrannen behauptet wird, entgegnet Melanchthon mit einer Erweiterung des innerexemplarischen Fokus: Denn wiewol viel vnfletiger Tyrannen gewesen sind, vnd sein werden, So gibet doch zu zeiten Gott widerumb einen Man, der die zerfallene Regiment widerumb anrichtet, Als gewesen sind, Nabogdonosor, Cyrus, Solon, Themistocles, Fabius, Scipio, Augustus, Constantinus, Theodosius etc.655
Entscheidend ist hier der historisch-empirische Hinweis, dass göttliche Strafen statthatten. Wer behauptet, auf ein irdisches Unrecht (wie etwa das von Mark Anton verübte) sei keine göttliche Strafe (in Form des Augustus) gefolgt, hat nicht lange genug geduldig gewartet. Von den Kritikern des Naturrechts wurde in der historischen Betrachtung ein zu kurzer Zeitraum herausgenommen und damit der göttlichen Strafe letztlich eine zu kurze Frist gesetzt – was nachgerade gotteslästerlich ist. Damit bekommt Melanchthons empirische Entgegnung natürlich wieder ein dogmatisches Fundament. Gott Ungerechtigkeit vorzuwerfen, wäre eine Sünde ausdrücklich ersten Grades gegen das erste Gebot: Der erste Grad der sünden wider das erste Gebot, ist tichten oder sagen, Es sey kein Gott, oder Gott sey nicht ein gerechter Richter, achte der Menschen nicht. […] diese unsinnigkeit ist wider die vernunfft vnd wird in Epicuro vnd dergleichen durch der Teuffel angeblasen gesterckt.656
Rechts- und geltungslogisch mag hier vordergründig eine zirkuläre, jedenfalls unbefriedigende Argumentationsbewegung Melanchthons vorliegen: Die empirische Frage nach den göttlichen Strafhandlungen wird nicht beantwortet, sondern sie wird für unzulässig, ja verboten erklärt. Die vordergründige Begründung ihrer Unzulässigkeit nimmt sich rationalistisch aus: „diese unsinnigkeit ist wider die vernunfft“, verweist aber nur zurück auf die harten theologischen Prämissen
654 CR XXI, Sp. 998. 655 CR XXII, Sp. 603; vgl CR XXI, Sp. 998: „Ruunt postea in poenas Caligula, Claudius, Nero, Domitianus, Commodus et alii innumerabiles.“ 656 CR XXII, Sp. 208.
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des Theologen Melanchthon. Dass die Haltung der Epikureer ebenso wie die der Stoiker und Philosophen für Melanchthon weniger vernunftwidrig sind im heutigen Sinne, sondern vor allem wider das Dogma des ersten Gebotes selbst, weisen schon die einleitenden Worte zum ersten Gebot in den Heubtartikeln aus: Nu wissen alle Heiden aus dem dunckeln natürlichen verstandt, das Himel vnd Erden, Menschen vnd andere Creaturn, nicht selbs also zusamen geflossen sind, sondern das ein weises, allmechtiges Wesen ist, das alle ding erstlich erschaffen hat vnd noch erhelt, Aber die Heiden vnd andere Abgöttischen weichen vff mancherley wege, vom warhafftigen Gott, Darumb ist hie eine Regel gestellet, die vns zum warhafftigen Gott weist, vnd leret, wie man Gott recht erkennen sol, nemlich, Gott hat allezeit ein eusserlich Zeugnis fürgestellet, Dabey wil er erkandt sein, vnd unterschieden von allem, das andere menschen anruffen, vnd ist hie dieses zeugnis, die ausführung aus Aegypto, diesen soltu für Gott halten, der das Volck Israel aus Aegypto geführet hat, vnd die grossen Mirakel gethan.657
Den allererst hinreichenden Beweis der Gültigkeit der zehn Gebote – auch des ersten – erbringen diese selbst nicht: Sie sind selber zwar notwendige Bedingungen der Gesetzes- und Gotteserkenntnis. Jedoch erst die Selbstauskunft Gottes in seinen äußeren Zeugnissen erlaubt hinreichende Gewissheit derselben. Wenn Melanchton allerdings noch an selber Stelle die inhaltliche Redundanz des Dekalogs gegenüber den praktischen ideae innatae ausdrücklich hervorhebt,658 wird diese Selbsteinschätzung bezüglich der letzten Beweiskraft der eingeborenen Ideen fraglich. Die Redundanz des Dekalogs trifft zwar propositional zu, insofern in ihm „die summa der Gebot […] seer ordenlich vnd kurtz gefasset“659 ist. Dies hindert jedoch nicht die schlussendliche geltungstheoretische Externalisierung des gültigen Beweises von Gottes Straftätigkeit und damit des Beweises der Geltung der zehn Gebote als Gesetze. Zugestanden also, dass die Behauptung von Gottes Ungerechtigkeit ‚vernunftwidrig‘ ist, so ist damit bei Melanchthon dennoch allein die Form der Schlussfolgerung, nicht die gehaltliche Begründung der Praemissa Maxima selbst gemeint. Es ist nicht die Widersprüchlichkeit gegenüber einer modernen reinen Vernunft gemeint, sondern nichts anderes als die Widrigkeit gegen diejenigen rationalen Schlüsse, die aus Theologemen, nicht aus Philosophemen zu ziehen sind.
657 CR XXII, Sp. 203f. 658 CR XXII, Sp. 203: „Der Text im andern Buch Moisi, Cap. Xx. sol allen Menschen bekandt sind, darinne die herrliche Historia beschrieben ist, wie die Göttliche stimme vom Berg Sinai, die zehen Gebot selbs gesprochen hat, Nu ist da keine newe Lere gegeben, sondern die summa der Gebot ist seer ordenlich vnd kurtz gefasset“. 659 Ebd.
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Erst drei Jahre später geht Melanchthon in den Loci tertiae aetatis bewusst den letzten Schritt hin zur einer letztlich aninnatistischen Geltungstheorie: Die ausdrückliche Reduktion des Offenbarungsaktes am Berge Sinai auf eine lediglich göttlich-positive Summierungshandlung wie in den Heubtartikeln findet sich im entsprechenden einführenden Absatz Decalogus nicht mehr.660 Stattdessen gesteht Melanchthon hier den Vorteil einer Gesetzesoffenbarung Gottes, die gegenüber den ideae innatae keineswegs mehr redundant ist: Das erste Gebot schreibt das höchste und grundlegende Werk vor, nämlich die wahrhafte Kenntnis Gottes und den vollkommenen Gehorsam gegenüber Gott, in vollkommener Gottesfurcht, Gottvertrauen und Gottgefallen. Es umfasst die zwei größten Dinge, nämlich die Art, Gott zu erkennen, und Gott zu verehren. Was die Art betrifft, so ist Gott durch sein Wort und Zeugnis zu erkennen. Weil nämlich Gott unsichtbar ist, ist es notwendig, dass von ihm ein deutliches Zeugnis hervortritt, durch das er erkannt und wahrgenommen wird. Zwar erkennt der menschliche Geist an der Schöpfung der Welt Gott als ihren Urheber, aber diese Kenntnis reicht noch nicht aus. Denn auch die Heiden und Mohammedaner besitzen sie, und dennoch wird dieses Wissen bei vielen vom Teufel vertrieben. Obwohl Gott also uns allen nahe ist, bleibt trotzdem der Zweifel, ob jener Schöpfergott sich um uns sorgt und erhört, ob er verehrt werden will und wie er verehrt werden will. Hierfür ist das Wort Gottes und sein Zeugnis vonnöten. Daher sei hier das sichere Wort und Zeugnis angeführt: „Ich bin der Herr Dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat“.661
Die Herausführung aus Ägypten wirkt nur vordergründig als empirisch-augenscheinlicher Beweis von Gottes gütiger Handlung am Volke Israel, mithin als Beweis seiner strafenden Handlung wider den Phararo und sein Gefolge: Die letzte Beweiskraft erwirkt auch hier noch nicht der empirische Charakter des Exodus selbst. Ein solches Offenbarungsverständnis, das der Rettungshandlung Gottes als solcher einen Offenbarungscharakter im Sinne eine revelatio peculiaris zuschriebe, kommt für Melanchthon nicht in Frage.662 Auch Melanchthon weicht
660 CR XXI, Sp. 690. 661 CR XXI, Sp. 690f.: „Primum mandatum praecipit de eo opere, quod summum et praecipuum est, videlicet de vera notitia Dei, de vera et perfecta obedientia erga Deum, perfecto timore, fiducia et dilectione Dei. Complectitur autem duas maximas res, scilicet modum cognoscendi Dei et verum cultum. Modus est, ut apprehendatur Deus per suum verbum et testimonium. Quia enim Deus est invisibilis, necesse est de eo aliquod testimonium extare, per quod agnoscatur et apprehendatur. Ut mens humana intuens mundi opificium cogitat de auctore Deo, sed haec notitia nondum sufficit, quam et Ethnici et Mahometistae tenent, quanquam haec quoque multis a Diabolo excutitur. Sed ut maxime adsit, manet tamen dubitatio, An ille conditor Deus nos curet, exaudiat, an sic velit coli, et quomodo velit coli. Hic opus est verbo Dei et testimonio; Ideo hic propositum est certum verbum et testimonium: Ego sum Dominus Deus tuus, qui eduxi te de terra Aegypti“ [Hervorhebung O.B., Übersetzung O.B.]. 662 Diese lehnt Martin Luther im Rahmen des sola fide fundamentaltheologisch ab: Vgl. Ulrich
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nicht von der schrifttheologischen Prämisse Luthers ab, dass der Gedanke einer Werkoffenbarung unhaltbar sei. So ist auch bei Melanchthon der Modus der Gotteserkenntnis ausdrücklich der von Wort und Zeugnis. Die Selbstoffenbarung Gottes erfolgt nicht in der Herausführung aus Ägypten, sondern in seinem geoffenbarten Wort über die Befreiung aus Ägypten: Ex 20,2.663 In Zweifelsfällen, die durch den Innatismus nicht aufgefangen werden, ist das Wort und Zeugnis Gottes notwendig („Hic opus est verbo Dei et testimonio“). Dabei ist dieses „gewiss wahre Wort und Zeugnis hier“ – also in Ex 20,2 – „vorgestellt“ („Ideo hic propositum est certum verbum et testimonium“), d.h. an einem bestimmten Ort. Daher gilt für Melanchthon nichts anderes als: Die geltungstheoretische conditio sine qua non für ein göttliches Gesetz, nämlich den Nachweis der Tatsache des strafenden Gottes, kann Melanchthons propositionaler Innatismus selbst nicht erbringen. Erst die Offenbarung im Wort Gottes erbringt die letzte Wahrheitsgarantie. Erst hier ist kein weiterer Regress mehr notwendig. Erst die Offenbarung kann endlich auch ihre eigene Widerspruchsfreiheit begründen. Zwar kann auch sie diese selbst nur voluntaristisch setzen; dafür tut sie dies ausdrücklich. In den Ausführungen zum Lügenverbot begründet Melanchthon dessen Geltung mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der gemäß der Mensch ebenso wenig lügen darf wie Gott selbst: Und ist erstlich diese Tugent in Gott volkomen vnd fürnemlich, denn er verstehet alles gründlich wie es ist, vnd redet also da von, vnd ist nicht vnbestendig, Darumb spricht Gott, in Zacharia im dritten Cap. Ich bin der HERR vnd ich verendere mich nicht, Darumb sollen wir von seinen reden nicht zweifeln.664
Mithin weißt Melanchthon mit dem Zitat – das tatsächlich dem Buch Maleachi entstammt665 – die Widerspruchsfreiheit der Gottesinstanz selbst auf. Damit wehrt Melanchthon einer anti-voluntaristischen Polemik, mit der Annahme eines absolut freien Willen Gottes wären dessen Beschlüsse faktisch unbefolgbar.666
Dierse, Wenzel Lohff: [Art.] Offenbarung III. Neuzeit bis zum 18. Jh. In: HWPh 6, S. 1114–1121, S. 1114. 663 Ex 20,2: „JCH bin der HERR/ dein Gott/ der ich dich aus Egyptenland […] gefürt habe.“ 664 CR XXII, Sp. 244. 665 Mal 3,6: „Denn ich bin der HERR / der nicht aleuget [a Marg.: „Ders nicht endert. Ders da bey bleiben lesst“] / Vnd es sol mit euch kindern Jacob nicht gar aus sein“. Vgl. CR XXI, Sp. 709f. 666 Im Rahmen des von Duns Scotus angestoßenen Voluntarismus-Streits wurde vor allem davon ausgegangen, dass die lex naturalis nicht aus der göttlichen Ordnung ableitbar sei, da es sich nicht wesentlich aus dieser, sondern aus Gottes Wille ergibt. Merio Scattola weißt allerdings genauso wie Ernst-Wolfgang Böckenförde zurecht daraufhin, dass dieser begründungstheologische Voluntarismus nicht geltungstheoretisch dahingehend überschätzt werden sollte, dass von
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Die prinzipielle Zügellosigkeit eines antiintellektualistischen göttlichen Willens, der nicht einmal an das Widerspruchsverbot gebunden ist, ist in der Tat nicht wenig problematisch. Melanchthon weiß dieses Problem zu entschärfen, indem er den absoluten göttlichen Willen auf sich selbst anwenden lässt: Gott unterwirft sich dem Widerspruchsverbot nicht aus Zwängen seitens der ratio, sondern aus seinem eigenen Willensentschluss. Ein hinsichtlich der Omnipotenz allgemeiner Voluntarismus wird so gerade gegen einen bloß speziellen Voluntarismus verteidigt: Mit dieser geschickten Volte Melanchthons kann der Mensch auf die Beständigkeit des von Gott geoffenbarten Wortes zählen. Dass diese Beständigkeit des Wortes Gottes gilt, entnimmt Melanchthon wiederum dem Wort Gottes – Mal 3,6 – selbst.667 Wenn Melanchthon also die These von der universalen Geltung des Naturrechts zu verteidigen sucht, argumentiert er letztlich offenbarungstheologisch. Begründungs- und geltungstheoretische Fundierung der praktischen ideae innatae ist aus dem Innatismus selbst heraus nicht zu gewinnen. Inwieweit Melanchthon dies selbst reflektiert und als problematisch erkannt hat, ist hier nicht der Ort zu erörtern. Fest steht, dass der Christ durch die Kenntnis der Offenbarung, des unmittelbaren Wortes Gottes auch hinsichtlich des Gesetzes privilegiert ist: Das schöpfungstheologische Moment der ideae innatae tritt hinter das offenbarungstheologische Verbürgungsmoment zurück.668 Zudem ist der schrifttheologische Primat zu berücksichtigen, das Wissen also, dass Gott und sein Wille allein der Schrift zu entnehmen sind. Damit spitzt sich das offenbarungstheologische Fundament konsequent auf das einer Theologie der Schriftoffenbarung zu. Angemessene Furcht vor Gottes Strafe kann daher nur der Lutheraner haben, insofern nur er sowohl die Heilige Schrift kennt als auch ihren Status als allein sicheres Offenbarungszeugnis beherzigt.
namhaften Voluntaristen tatsächlich die Konstanz und Geltung des göttlichen und natürlichen Recht bestritten worden wäre: Scattola: Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 32: „Auch Willhelm von Ockham, der radikalste unter den Voluntaristen und Nominalisten, ging davon aus, daß einige göttliche Gebote jedem Menschen angeboren und ‚der natürlichen Vernunft angemessen‘ sind.“; Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 306. 667 Dass Melanchthon etwa in umgekehrter Weise den Offenbarungsakt selbst schon als redundant den eingeborenen Ideen einverleiben wollte, scheint die unwahrscheinlichste aller Deutungsvarianten. Da er unmöglich so unvermittelt die Offenbarung resystematisieren wollen kann – das wäre hinsichtlich seines Voluntarismus der weitaus fundamentalere Selbstwiderspruch –, bleibt als Folgerung in der Tat nur, dass die letzthinnige Gewissheit der göttlichen Strafhandlung, mithin der ideae innatae und der natürlichen Gesetze doch nur durch Offenbarung erlangt werden kann. 668 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 328.
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4.4.4.2 Melanchthons politischer Gott Gerade wenn sich Melanchthon mit dem freien Willen des Menschen auseinandersetzt, unternimmt er einen nachgerade reziproken Beweis des liberum arbitrium und der Existenz des göttlichen Rechts sowie dessen aktiv-göttlicher Strafbewehrtheit: Wo nun solche [äußerliche] gerechtigkeit ist, da ist auch dieses vermögen das man die eusserlichen Glieder, als zungen, hende, vnd füsse zu gebotenen wercken vnd geberden, regen vnd brauchen kann, Denn sonst köndte auch solche eusserliche gerechtigkeit niemand haben, Diese folge ist klar vnd gewiss […] Vnd nach dem das junge Volck gehöret hat, das die werck nicht vergebunge der sünden verdienen, werden sie wilder, mit teuflicher füllerey vnd vnzucht […] Wider diesen schedlichen vnfleis sol man wissen, Das Gottes ernstlicher wille ist, das alle Menschen durch rechte zucht, im zaum gehalten werden. […] diese Regel bleibet gewisslich war, Eusserliche offentliche sünde, als Todschlag, Ehebruch, Blutschande, vnd andere unzucht, Raub, Betrug, falsche Eide, Epicurische Gotteslesterung, Abgötterey, zeuberey etc. Straffet Gott gewislich auch in diesem jetzigen Leben / mit leiblichen Strafen.669
Das Freiheitsgeschehen ermöglicht eine Handlungsalternative und erst durch diese machen Gebots- und Verbotsgesetze Sinn. Die Negation der Werkgerechtigkeit bedeutet daher nicht die Negation der Willensfreiheit: Der Mensch kann zwar sein Heil nicht tatkräftig wirken. Dennoch wäre es ein unzureichender Schluss vom Besonderen der Heilsfrage auf das Allgemeine der Handlungstheorie, deshalb schon zu meinen, der Wille des Menschen wäre unfrei. Der zweite Fehlschluss, den Melanchthon seinen Gegnern vorwirft, lautet dabei, dass Gott kein Interesse an der irdischen Einhaltung seiner Gesetze hätte, weil diese das Heil nicht berührt. Die Wirkung der guten Werke für das Heil zu negieren, darf gerade nicht dazu führen, die Wirkung der guten Werke auf Gottes irdischen Zuspruch bzw. Zorn zu unterschätzen. Zwar wird nicht nur Luthers, sondern auch Melanchthons politisches Denken zurecht als Motor der Säkularisierung begriffen. Dennoch trifft dies nur insofern zu, als die äußere Ordnung kein heilsgeschichtliches Telos mehr besitzt. Wenn aber diese säkulare umfassende Gerechtigkeit nach wie vor nur theonom gewährleistet und daher nur theologisch konzipiert werden kann, dann hat diese Säkularisierungsleistung bei Melanchthon allemal ihre Grenzen. Gott wird von einer exklusiv heilsgeschichtlichen Zuständigkeit befreit und bleibt dennoch Geltungsund Strafinstanz der äußerlichen weltlichen Ordnung.
669 CR XXII, Sp. 149f. [Hervorhebung O.B.].
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Dass an den irdischen Strafen Gottes nicht zu zweifeln ist, wird in der Folge wiederholt betont. Wenn Melanchthon von den wirklichen Sünden handelt, gibt er abermals den Grund und die Ursache dieser Zweifellosigkeit an: Vnd ist nicht zweiffel, das nach groben, wircklichen sünden folgen leibliche straffen in diesem Leben […] vnd bleibet diese Regel gewislich war, das in diesem Leben nach groben wircklichen sünden, leibliche straffen folgen, Denn Gott will, das diese straffen eine erinnerung sind, wie Er sey, nemlich, Weis, vnd gerecht, der vnterscheid halte zwischen tugend vnd vntugend, vnd tugend liebe, vnd ernstlich zürne vber vntugend, Vnd werde die sünde straffen, ob es gleich nicht also balde geschiehet.670
Melanchthon korreliert hierbei in eigentümlicher Verknüpfung Gottes Wille mit der Fraglosigkeit seiner irdischen Strafhandlung. Gottes Strafhandlung ist unbezweifelbar, weil er sie will. Dass er sie seinem freien Willen gemäß nicht nicht wollen kann, geht aus Gottes Versprechen in Mal 3,6 hervor, sich nicht zu widersprechen. Im letzten Halbsatz räumt Melanchthon ein, dass die irdische Strafe Gottes nicht immer umgehend erfolgt. In jedem Fall ist ihr Eintreten und ihre Gestalt nicht berechenbar. Damit greift er den Vorwurf wieder auf, der ihm schon Anlass zur Behandlung des Ursprungs des Bösen gegeben hatte. Die Tatsache der göttlichen Strafe ist für Melanchthon an dieser Stelle bereits unstrittig. Die Frage nach Gottes Strafhandlung und damit nach der Geltung seiner Gesetze wurde also indirekt eingeschränkt auf die Frage nach ihrer Evidenz: Gottes Strafe kommt. Melanchthon ist sich – das gilt es zu wiederholen – hinsichtlich seines Gesetzesbegriffs unzweideutig im Klaren darüber, dass „Gesetz one straffe […] eine vergebliche Rede“671 ist: „Dabey sind aber auch grosse grausame straffen in diesem Leben von Gott geordnet, vnd ist Gott selbs der straffer“.672 Unklar ist lediglich noch, wann und wie die göttliche Strafe wider eine straffällig gewordene Obrigkeit erfolgt. Auf die Frage des Zeitpunkts gibt Melanchthon keine präzisere Auskunft, als dass Missetäter für ihre Untaten durchaus in diesem Leben bestraft werden. Melanchthon hat allerdings an selber Stelle schon eine genauere Vorstellung davon, worin die göttliche Strafe besteht: „[V]nd stellet vns Gott die grausamen
670 CR XXII, Sp. 187. 671 CR XXII, Sp. 249. 672 CR XXII, Sp. 215. Schon für den Fall, dass ein Untertan straffällig wird, die von Gott schutzwie strafbefohlene Obrigkeit diesen allerdings nicht straft, hält Melanchthon fest, dass Gott diesen dann eigenhändig straft: „Vnd so […] die Oberkeit faul sind, vnd nicht straffen wollen, ist Gott selbs der gerechte Richter, straffer vnd Henger“ (CR XXII, Sp. 223f.).
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straffen für augen, Todt, Kranckheit, Armut, Hunger, Krieg, Galgen, Radt, vnd alle Plagen, das, wir seinen grossen Zorn wider die Sünde betrachten können“.673 Die Bestrafung weltlicher Obrigkeit darf ausdrücklich nicht von den Untertanen vollzogen werden: Ihnen ist gemäß Röm 13,2 der Widerstand verboten. Widerstand griffe Gottes Urteil vor und maßte sich die entsprechenden Befugnisse unzulässig an.674 Melanchnthon interpretiert politischen Widerstand sogar als Verstoß gegen das vierte Gebot, indem er Herrscher und Vater analogisiert.675 Das Regiment stammt von Gott und kann nur von diesem wieder genommen werden.676 Dessen Mittel benennt Melanchthon jedoch ebenso deutlich: Denn wiewol viel vnfletiger Tyrannen gewesen sind, vnd sein werden, So gibet doch zu zeiten Gott widerumb einen Man, der die zerfallene Regiment widerumb anrichtet, Als gewesen sind, Nabogdonosor, Cyrus, Solon, Themistocles, Fabius, Scipio, Augustus, Constantinus, Theodosius etc.677
Es ist ausdrücklich hervorzuheben, dass Melanchthon ausschließlich andere Souveräne als menschliche und befugte Strafinstanzen gegenüber diesen Tyrannen ansieht: „Diesen Bluthunden vnd schandflecken geburt nicht Ehrerbietung oder vergebung, sondern andere Regenten sollen jnen ordentlicher weis, als tollen Hunden wehren“.678 In anderer Weise wird eine menschliche Strafbefugnis über Souveräne bei ihm nicht angedacht. Jean Bodin wird dies in seine Vermittlung von Herrschersouveränität und Tyrannisverdikt integrieren: „Non pas que ie veuille dire qu’il ne soit licite aux autres Princes poursuyure par force & par armes le tyrans“.679 Besonders Francisco Suárez formuliert pointiert den Umkehrschluss: Unter Aufrechterhaltung des Widerstandsverbots bleibt der sündhafte Herrscher legitimer Herrscher, solange er nicht durch eine souveräne Intervention von außen seiner Macht enthoben wird: „Quocirca licet peccator forte mereatur privari regno, tamen quamdiu illo non privatur ab habente potestatem, verus rex perseverat“.680 Gryphius übernimmt diese traditionsreiche, von Saxoferrato über Vitoria, Melanchthon und Suárez herkommende Auffassung von einer subsidiären Strafbefugnis
673 CR XXII, Sp. 187f. 674 CR XXI, Sp. 706; CR XXII, Sp. 285f. 675 CR XXII, Sp. 223f. 676 CR XXII, Sp. 601f. 677 CR XXII, Sp. 603. Vgl CR XXI, Sp. 998: „Ruunt postea in poenas Caligula, Claudius, Nero, Domitianus, Commodus et alii innumerabiles.“ 678 CR XXII, Sp. 623 [Hervorhebung O.B.]. 679 Jean Bodin: Les six Livres de la Republique. Paris 1577, II, 5, S. 260. 680 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 10. 10, Bd. 1, S. 186.
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anderer Souveräne681 und bringt sie im Sonett An einen hchstberhmten Feldherrn / bey Uberreichung des Carl Stuards deutlich zum Ausdruck. Vom Adressat, dem von ihm geschätzten brandenburgischen Kurfürsten (siehe 1), fordert er genauso wie von den übrigen Herrschern Europas die Rache des Königsmordes: „Die Unschuld, die den Geist in solchem Hohn auffgiebt / Erfordert was gerecht / und rechte Waffen liebt / Zu rchen diesen Fall. Heer Schwerdter aus der Scheiden!“ (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XLVII, S. 118, v. 12–14).
4.4.4.3 Rechtes Handeln und Heil Aus Melanchthons Bestimmung von Gut und Böse bzw. von der letztlich schriftoffenbarungstheologischen Grundlage der göttlichen Rechtsgeltung ergeben sich heilsrelevante Konsequenzen für das Verständnis von weltlichem und geistlichem Regiment: Ihre Unterscheidung bleibt zwar bei Gryphius genauso wie bei Melanchthon systematisch unbestritten. Das weltliche Regiment kann und soll wegen der Unmöglichkeit des Glaubenszwangs nicht in das Geschäft des geistlichen hineinreichen. Umgekehrt aber ist diese Trennung zu relativieren: Das weltliche Regiment kann aus dem geistlichen Regiment – gleichsam in einem Akt von Amtshilfe – allererst diejenigen Kenntnisse gewinnen, die eine Zivilgesetzgebung und politische Entscheidungsfindung erlauben, die mit Sicherheit der lex Dei konform sind. Für den Heiden hingegen gilt zwar nach wie vor die propositionale Universalität der natürlichen Gesetze, insofern er diese Gesetze inhaltlich angemessen wissen kann. Dass sie jedoch göttliche, strafbewehrte Gesetze sind, kann ihnen in Ermangelung des schrifttheologischen Offenbarungswissens nicht angemessen bekannt sein. Eine der lex Dei konforme Zivilgesetzgebung und politische Führung ist im heidnischen Staat nur kontingenter Weise vorzufinden. Es ist gerade diese Kontingenz des Verfolgens allgemeiner Normen, die Melanchthon in einer teleologischen Typologie drei Formen des Staates unterscheiden lässt: erstens denjenigen, der um Gott weiß und deshalb dessen Normen einhält; zweitens denjenigen Staat, der um Gott nicht weiß und dennoch dessen Normen einhält; und drittens denjenigen Ketzerstaat, der um Gott weiß und dessen Normen bricht, gerade um ihm zu lästern.682 Es ist weiterhin diese Kontin-
681 Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, S. 73f. 682 CR XXII, Sp. 623: „Vnd ist hie seer not vnterscheid zu mercken, In allen Herrschafften sol man vff das Heubtstücke sehen, wo zu fürnemlich vnd entlich da das Reich gemeint sey, als nemlich, Etliche Reich sind fürnemlich da hin gericht, Gottes ehre, wort vnd erkentnis zu erhalten. Als das Königreich Juda gewesen, das Gott furnemlich dazu gebrauchet, vnd grosse Wunderwerck darin erzeiget hat. Etliche wiewol sie Gottes vergessen, so sind sie doch nicht da zu fürnemlich vffgericht, Gottes Wort zu verfolgen, sondern in Landen gemeinen frieden zu erhalten.
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genz, die schon Melanchthon gegen den machiavellischen Pragmatismus Front machen lässt: Ein säkularer politischer Prudentismus ist gerade unklug, weil er die politische Bedeutung der Naturrechtsnormen und ihrer Bestrafung geringschätzt. Mehr noch: „Valde errant, qui Soloni aut Augusto maiorem tribuunt politicam sapientiam, quam his viris, qui divina luce regebantur et Deum vere invocabant, Ioseph, Danieli, Esdrae et similibus“.683 Die politische Weisheit des Menschen kann gar keine andere sein, als den Befehlen Gottes zu gehorchen.684 Schon der gut regierte Staat wie der Principat des Augustus ist mithin nur zufällig gut regiert, weil er um die Geltungsinstanz der politisch relevanten Naturrechtsnormen als einer Strafinstanz nicht angemessen weiß. Melanchthon zeigt daher ein weiterreichendes Problembewusstsein dafür, dass nicht nur die Frage der Herkunft und der Wesentlichkeit des Bösen (4.4.3) rechtstheologisch different ist, sondern auch die Frage nach Gottes Stellung und irdischer Stellungnahme zum Bösen. Wenn Melanchthon sowohl in den Heubtartikeln als auch in den Loci tertiae aetatis die Frage behandelt, warum gute Werke eigentlich getan werden sollen, knüpft er zwar an die Frage von Gottes Verhältnis zum Bösen an. Er modifziert sie jedoch insofern, als er sie vordringlich säkular stellt und beantwortet. Das Problem stellt sich nämlich im Hinblick auf die von Melanchthon ausdrücklich bejahte lutherische Lehre: Gute Werke erwirken kein Heil, sondern dieses wurde allein durch Christi Schuldaufnahme und Erlösungstat erwirkt. Das Irdische droht eitel zu werden, insofern in ihm die Güte der Werke indifferent für das Heil sind. Damit stellt sich die von Melanchthon ernst genommene Frage, warum hinsichtlich dieser Indifferenz gute Werke noch getan, d.h. Recht noch eingehalten werden soll: Warumb vnd wo zu sol man gute werck thun? Ist diese antwort. Erstlich ist nötig zu wissen, Das vnsere gute werck oder angefangener gehorsam nicht verdienst ist der vergebung der
Als die vier Monarchien haben dazu gedienet, Haben derhalben erbare Gesetze gemacht, vnd die Gericht in Landen ordentlich gehalten […] Das nu solche Reich zu ehren sind, vnd für sie zu bitten, das ist leicht zuuerstehen, Als für Davids Reich, Item, für das Reich Augusti. […] Dagegen ist die dritte Form, so ein Reich fürnemlich zu verfolgung Göttliches worts, vnd zu mord vffgerichtet ist. Als Mahomets reich ist fürnemlich dazu angefangen, den Namen vnsers Heilands Christi zu tilgen, Vnd ist nicht ein weltliche Regierung, wie die Monarchien gewesen sind, zu Frieden vnd Recht gemeint, Sondern fürnemlich zu Gotteslesterung, vnzucht, vnd mord. Denn das Mahometisch Gesetz, darauff das Saracenisch vnd Türckisch Reicht gegründet ist, gebeut nicht frieden zu halten, sondern die Friedlichen anzugreiffen vnd zu morden.“ 683 CR XXI, Sp. 995. 684 CR XXI, Sp. 1085: „Est igitur sapientia generaliter notitia vera illustris aut mediocris, agnoscens res, quas Deus vult aspici et considerari, sicut Deuteron. 4 dicitur: Haec est sapientia vestra, audire praecepta Dei.“
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sünden, ist auch nicht erfüllünge des Gesetzes […] Darnach ist vff diese Frag bericht zu thun, Warumb vnd wozu sol man gute werck thun? Antwort. Von wegen des gehorsams, dazu Gott alle vernünfftige Creaturn erschaffen hat. Dieses ist die Heubtantwort, daraus hernach etlich mehr antwort folgen. Dises ist Gottes ewiger, vnwandelbarer wille, das jm alle vernünfftige Creaturn sollen gehorsam sein.685
Es ist ein Fehlschluss zu meinen, das Einhalten des Gesetzes sei für Gottes Reaktion indifferent, nur weil es für das Heil indifferent ist. Dieser Fehlschluss gründet in einer unzulässigen Gleichsetzung von Gottes Wille und Handlungssphäre mit den Strukturfragen des Heils. Die Theologie ist nicht auf die Soteriologie beschränkt; ebensowenig ist es die politische Theologie. Gottes Haltung zur irdischen Befolgung seiner Gesetze, zur iustitia carnis, ist von den Heilsfragen relativ unabhängig, weil sein Wille sich nicht auf die Heilssphäre beschränkt. Die Frage des strafenden Gottes stellt sich bei Melanchthon in gewisser Weise also gerade nicht zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, sondern zugunsten letzterer, ohne deshalb schon enttheologisiert worden zu sein: Melanchthon möchte die Werkgerechtigkeit ebenso negieren wie die letzthinnige irdische Geltung des göttlichen Gesetzes affirmieren. Da dies notwendig dessen ausreichende Strafbewehrung einschließt, muss Melanchthon einen irdisch strafenden Gott annehmen. Melanchthon unterscheidet die göttlichen Strafen nicht nur nach ihrem Modus, sondern auch nach dem Empfänger der göttlichen Strafe. Tatsächlich spielt die Heilsfrage auch für die Geltendmachung des Gesetzes doch insofern eine differente Rolle, als renati in anderer Weise bestraft werden als die übrigen Menschen. Dies deutet Melanchthon schon früh, in der Behandlung der wirklichen Sünde, an: Dem renatus droht bei Verstoß gegen das Gesetz ‚nur‘ Gottes Strafe auf Erden, während sein jenseitiges, ewiges Heil durch seinen Glauben und Christi Erlösungstat davon unberührt bleibt. Hingegen drohen dem nichtrenatus für sein Unrecht dies- und jenseitige Strafen.686 Es wird deutlich, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nur für den renatus heilsdifferent ist. Melanchthon hält daher in der Behandlung der göttlichen Gesetze gleichfalls fest:
685 CR XXII, Sp. 623. 686 CR XXII, Sp. 188: „Wiewohl nu die leibliche straffen, auch schreckliche wercke sind des Göttlichen zorns, vnd vergeltungen von Göttlicher weissheit vnd gerechtigkeit geordnet zur zerstörung der sündigen natur, so ist doch die fürnemeste vnd gleiche vergeltung, die ewige grausame straffe, die gewisslich vber alle Sünder komet, die nicht zu Gott bekeret werden, durch den Glauben an den Heiland Christum, Wie Johannes spricht, im dritten Kapitel, Wer nicht gleubet an den Son, der wird das Leben nicht sehen, sondern der zorn Gottes bleibet vff jm.“
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Vnd sollen alle menschen wol vnterrichtet werden, das sie warhafftiglich in jrem hertzen schliessen, vnd festiglich gleuben, das Gott auch in diesem jetzigen Leben den eusserlichen vngehorsam mit vielen leiblichen Plagen grausam straffet […] ist erstlich zu wissen, das gleichwol das Evangelium vergebung der sünden vnd gnade allen anbeut. Wer nu zu dem HErrn Christo bekeret wird, der hat vergebung der sünden, vnd wird selig […] Wo aber nicht bekerung ist, da bleibet Gesetz, Gottes zorn, straffe leiblich vnd ewig.687
Es wäre eine eigene Untersuchung wert und nötig, wie Melanchthon an diesen Stellen das Gesetz nachgerade gegen einen falschen Primat des Evangeliums verteidigt. Um dies an dieser Stelle in gebotener Kürze zu skizzieren, ist festzuhalten, dass Melanchthon im Gesetz – nicht im Evangelium – ein mittelbares heilstheologisches Telos des weltlichen Regiments durchaus angelegt sieht: [D]ieweil Gott in diesen zeitlichen straffen anzeiget, das er vnterschied halte zwischen Tugend vnd vntugend, vnd das Er ein gerechter Richter sey, werden wir durch diese Exempel erinnert, das auch nach diesem leben alle Sünder gestraffet werden, die nicht zu Gott bekeret sind.688
Die Säkularität des weltlichen Regiments hält sich also nicht nur hinsichtlich seines theonomen legitimationstheoretischen Fundaments in Grenzen, sondern auch hinsichtlich seines Zwecks. Es hat nicht nur die Funktionsfähigkeit der weltlichen Ordnung zu gewährleisten, damit die Menschen in Frieden leben und der Teufel nicht gar so wüten kann. Das rechte Leben bzw. die Strafen gegen irdische Taten sollen auch ein Abbild für Leben und Strafe nach dem Tod sein. Das göttliche Strafversprechen erstreckt sich im Falle der Nicht-Wiedergeborenen auch auf eine jenseitige Strafe. Damit werden die Sphären von Jenseits und Diesseits in eigentümlicher Weise vermischt, ohne allerdings die Distinktionen von Gesetz und Evangelium einerseits und geistlichem und weltlichem Regiment andererseits systematisch aufzuheben.689 Der heilsgeschichtliche Geltungsver-
687 CR XXII, Sp. 216. 688 CR XXII, Sp. 224. 689 Jenseitige Strafe für diesseitiges Unrecht erfolgt in funktionaler Korrelation, nicht etwa durch Aufhebung einer der zentralsten Unterscheidungen Luthers. Melanchthon verkehrt nicht Luthers Lehre, sondern macht zunächst nur deutlich, dass vielmehr umgekehrt der Unterschied von Gesetz und Evangelium effektiv nur für renati gilt, mithin nur für den renatus der rechte Glaube und Christi Erlösungstat darin resultieren, dass seine Missetaten ‚nur‘ irdisch bestraft werden. Was die Strafung Ungläubiger betrifft, „so ist doch die fürnemeste vnd gleiche vergeltung, die ewige grausame straffe, die gewisslich vber alle Sünder komet, die nicht zu Gott bekeret werden, durch den Glauben an den Heiland Christum“ (CR XXII, Sp. 188). Dies gilt sowohl für die Erbsünde, da sie bei den Nicht-Wiedergeborenen nicht durch Erlösungstat und rechten Glauben abgegolten ist, als auch für jedwedes moralisch falsches Handeln des Einzelnen, insofern
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lust des Gesetzes kann nur durch das Evangelium und seine Annahme gewirkt werden: Er trifft für den nicht-renatus nicht zu. Unter heilsgeschichtlicher Perspektive gesehen und mit juristischer Terminologie ausgedrückt, bedeutet das Evangelium bei Melanchthon nichts weniger als eine jenseitige Generalamnestie vom Gesetz. Dass nur der renatus diese Möglichkeitsbedingungen irdischen Handelns besitzt, ohne negative Folgen für sein Heil befürchten zu müssen, und dies gerade von einer Theologie – nämlich der evangelischen – formuliert ist, rechtfertigt die ideenhistorische These vom Zusammenhang von Luthertum und Säkularisierung.690 Gerade bei Melanchthon nämlich scheint dieser Zusammenhang ein systematischer zu sein: Für das diesseitige und politische Handeln des renatus ist gerade aus heilstheologischer Perspektive der vordergründig paradoxe Begriff einer theonomen Säkularisierung treffend. Dennoch darf nicht übersehen werden: So sehr naheläge, dass ungerechte renati ausschließlich diesseitig bestraft würden, so wenig macht Melanchthon diesen Schluss tatsächlich mit: Zwar wird systematisch der Gedanke aufrechterhalten, dass der renatus für Brüche des Gesetzes jenseitig nicht gestraft wird, weil er durch seinen Glauben und Jesu Erlösungstat eigentlich von aller jenseitigen Strafe befreit ist – dies hatte das eigenhändige politische Eingreifen Gottes im Irdischen mitunter ja erst denknotwendig gemacht. Allerdings ist im Effekt bei Melanchthon wieder die Möglichkeit vorhanden, hinsichtlich schlechter Werke das Heil zu verwirken. Melanchthons Begründung dieser effektiven Möglichkeit ist so komplex wie geschickt, so dass etwa der Terminus negative Werkgerechtigkeit nicht zuträfe. Melanchthon meint nicht, dass das Heil durch unrechte Taten verwirkt würde. Das wäre der Erklärungsversuch einer negativen Werkgerechtigkeit: Melanchthon negierte das Erwirken des Heils durch gute Werke (positive Werkgerechtigkeit), affirmierte allerdings das Verwirken des Heils durch schlechte
dieses seine Höllenqualen, die er durch seinen falschen Glauben sowieso erleiden muss, nur noch verstärkt. In dem, was der unmoralische Ungläubige an jenseitiger Strafe über dasjenige für seinen Unglauben verhängte ‚Strafmaß‘ hinaus erleiden muss, findet sich also eine jenseitige politische Strafhandlung Gottes. Sie existiert für den Nicht-Wiedergeborenen eben schon, weil das Gesetz in seinem Fall gerade nicht im Jenseits seine Geltung verliert. Mehr noch ist Melanchthon im Anschluss an Augustinus das Ausbleiben irdischer Strafe bisweilen gerade der Beweis für die Existenz des ewigen Jenseits: Dieser Beweis funktioniert allerdings nur vermittels des Obersatzes von Gottes Gerechtigkeit und des Untersatzes, dass im Falle einer nicht-diesseitigen Strafung des Ungläubigen dieser göttliche Gerechtigkeit dennoch Geltung verschafft wird. Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. S. 292f., 300. 690 Z.B. Klaus-Michael Kodalle: Sterbliche Götter: Martin Luthers Ansichten zu Staat, Recht und Gewalt als Vorgriff auf Hobbes. In: Hobbes oggi. Atti del Convegno Internazionale di Studi Promosso da Arrigo Pacchi. A cura di Andreas Napoli, Guido Canziani. Mailand 1990 (Pubblicazioni del Centro di Studi del Pensiero Filosofico del Cinquecento e del Seicento I,34), S. 122–142.
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Werke (negative Werkgerechtigkeit).691 Melanchthon meint jedoch nicht, dass der Heilsverlust im schlechten Werk seine Ursache hat. Auch das gute Werk ist schließlich nur Ausdruck des Glaubens, der allein (sola fide) Heil erwirkt. Ebenso ist auch das wissentlich und willentlich schlechte Werk Ausdruck eines mangelnden Glaubens bzw. eines Glaubensverlustes. Dieser stellt die eigentliche Ursache des Heilsverlustes dar: Nam hos, qui ruunt in delicta contra conscientiam, certum est non manere in gratia, nec retinere fidem, iustitiam, Spiritum sanctum, nec potest stare cum malo proposito contra conscientiam fides, id est, fiducia acceptationis divinae.692
Dies ist eben jenes Lossagen von der Kraft des göttlichen Glaubens („exuere diuinum vigorem“), wie sie auch in Gryphiusʼ Olivetum die Möglichkeitsbedingung von Judas’ Unrechtstat darstellt (4.4.3.2). Mit dem wahren Glauben ist eine vorsätzliche Unrechtstat offenbar denkunmöglich. Das Gewissen ist damit nicht nur moralische, sondern auch Vollzugsinstanz des wahren Glaubens. Insofern Gewissen genauso Wissen vom Recht ist wie von seiner göttlichen Bestimmung, ist ein wissentliches Handeln gegen das Gewissen immer auch ein Handeln gegen den Glauben. Dies ist es allerdings nicht in Tateinheit mit dem Delikt, sondern ist diesem offenbar vorgängig: Um wissentlich und willentlich gegen das Gewissen und dabei sorg- und furchtlos handeln zu können, ist eine Leugnung der Gründungs- und Geltungsinstanz dieses Gewissens notwendig, d.h. eine Leugnung Gottes, also Unglauben.693
691 Vgl. Christian Peters: [Art.] Werke, Gute. IV. Kirchengeschichtlich. In: TRE 35, S. 633–641, hier S. 638; vgl. ähnliche Einordnungen bereits hinsichtlich Luthers: Lohse: Luthers Theologie, S. 281–283. 692 CR XXI, Sp. 780; vgl. CR XXII, Sp. 382: „Dieses ist gantz gewiss, wenn der mensch wider sein Gewissen, das ist, wissentlich vnd williglich wider Gottes gebot thuet, wenn er gleich zuvor in Gottes gnade vnd heilig gewesen ist, so betrübet er doch den heiligen Geist, vnd stösset jn aus, vnd ist als denn nicht in Gottes gnade, vnd so er nicht widerumb zu Gott bekeret wird in diesem leben, kompt er in ewige straffe“ [Hervorhebung O.B.]. 693 Z.B. CR XXI, Sp. 781f.: „Quod autem excidant ex gratia, et effundant fidem et Spiritum sanctum, et fiant rei irae Dei et aeternarum poenarum, qui admittunt delicta contra conscientiam, id multae sententiae clare testantur […] Dixi, quae peccata maneant in renatis, scilicet quaedam interiora mala, quibus ipsi repugnant; Sed cum peccata contra conscientiam admittuntur, effunditur et perturbatur Spiritus sanctus, et amittitur gratia, et excutitur fides.“
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4.4.4.4 Fazit: Melanchthon zwischen traditionellem Problem und innovationskompatibler Lösung Philipp Melanchthons Rechtslehre sticht gerade darum als Kontext von Gryphius’ politischen Trauerspielen heraus, weil sie in doppelter Hinsicht symptomatisch ist: Zum Einen trägt sie im versuchten Jusnaturalismus die Tradition weiter, nämlich in der Theorie von der natürlichen Erkennbarkeit der gottgewollten transhumanen Gesetze. Er versucht sie sogar auf seine eigene, nämlich innatistische Weise noch zu stärken. Diesen Versuch werden Gryphius’ Trauerspiele vermehrt mit Skepsis begegnen. Zum Anderen birgt Melanchthons Rechtslehre selbst ebenso schon Lösungsangebote für Gryphius’ Skepsis in sich: Mit der letztlich allein schriftoffenbarungstheologischen Geltungsgrundlage des göttlichen Rechts gibt Melanchthon einen Schlüssel zur Bewältigung des Ausnahmezustands in die Hand, wie er Gryphius interessiert. Einerseits folgt Gryphius Melanchthon also nicht, insofern er den Gedanken einer umfassenden natürlichen Erkenntnis der göttlichen Gesetze nicht mehr teilt. Andererseits aber greift er die schriftoffenbarungstheologische Stoßrichtung Melanchthons auf. Für Gryphius ist die umfassende Kenntnis auch der göttlichen Gesetze – und das meint ihren Inhalt und den Grund ihrer Verpflichtungskraft – umfassend nur durch Offenbarung zu haben. Er konnte sich darin auch durch seinen Straßburger Lehrer Johann Heinrich Boecler bestärkt fühlen, der in ähnlicher Weise den Gedanken vom relativen Naturrecht stärkte: Gerade weil dem Menschen nach dem Sündenfall die absolute Einsicht in das Naturrecht nicht mehr natürlich möglich ist (absolutes Naturrecht), bedarf es einer Erkenntnisstütze des Naturrechts in der Offenbarung, im Dekalog.694 Die Überschätzung des Vernunftpotentials durch Hugo Grotius war für Boecler schließlich der hauptsächliche Makel von dessen De Jure Belli ac Pacis gewesen (4.2.4.2). Andreas Gryphius konnte an Melanchthon anschließen, ohne dessen streng innatistische bzw. naturrechtliche Lehrabsicht mitmachen zu müssen. Das in Ex 20,2 und Mal 3,6 grundgelegte Fundament einer schriftoffenbarten Rechtsgeltung war gerade so eigener Art und von so übergeordnetem Rang, dass es vom Innatismus im Grunde gänzlich zu abstrahieren erlaubte. Melanchthon hat offensichtlich nicht erkannt, dass die von ihm festgehaltene Selbstunterwerfung Gottes unter den Satz vom Widerspruch in Mal 3,6 sowie das von Gott wörtlich in Ex 20,2 abgegebene Strafversprechen nicht nur eine ultima ratio für den besonderen Fall des Ausnahmezustand liefern. Sie liefern vielmehr die prima ratio des gesamten universalen Rechts im Allgemeinen. Diese aninnatistische prima ratio macht den Innatismus zwar nicht überflüssig, wenn es einerseits um die universale proposi-
694 Vgl. Wagner: [Art.] Naturrecht II, S. 159.
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tionale Erkenntnis der practicae notiones geht. Wenn allerdings andererseits das Wissen um den Status dieser practicae notiones als göttliche Gesetze nicht innatistisch, sondern nur durch das Schriftzeugnis hergestellt werden kann, macht die prima ratio diese Spannung praktisch unproblematisch. Der gütige Gott verändert weder das Gesetz noch seine eigene Haltung dazu, sondern er verschafft ihm strafbewehrt Geltung: Solange ein solcher rechtspolitischer Gott angenommen wird, ist das theonome Vernunftrecht Melanchthons um seiner Geltung willen weder notwendig noch hinreichend darauf angewiesen, dass die menschliche Vernunft diese Rechtssätze auch tatsächlich begreift und als Gesetze beherzigt. Melanchthon bietet mit seinem rechtstheologischen wie rechtspolitischen Voluntarismus selbst einen Ausweg aus seinem eigenen Innatismus an, der den skizzierten wissenschaftsphilosophischen Innovationen des siebzehnten Jahrhunderts durchaus zupasskommt. Er emanzipiert die Rechtstheologie schon von Naturteleologismen, wie es danach die vermehrt kausallogischen Physiken und Metaphysiken des siebzehnten Jahrhunderts für ihren Bereich gleichfalls vollziehen. Dass dieses offenbarungstheologische Recht Melanchthons im Effekt weder Natur- noch Vernunft- noch überhaupt Universalrecht war, würde erst Thomasius angemessen erkennen (4.3.5).
4.4.5 Der unmittelbar irdisch strafende Gott bei Georg Schönborner Auch Georg Schönborner kennt das Eingreifen Gottes in die politische Wirklichkeit des Diesseits. Seine in 4.2.3 bereits erläuterte Anthropologie sowie sein Naturbegriff haben nichts mit einem Naturzustand gemein, der in jedem Fall regellos, konfliktträchtig und daher problematisch wäre im Sinne eines echten Ausnahmezustands. Nach den anentelechischen Umwälzungen des Mechanismus und epistemologischen Rationalismus müssten Schönborners Staatsrechtsdenken und dessen Naturteleologie eigentlich ausgedient haben. Für Schönborner treibt diese Teleologie den Menschen zur Gemeinschaftsbildung und scheint damit die Regelungsfrage eines Naturzustandes überflüssig zu machen. Dennoch bleibt Schönborner für Gryphius in erstaunlicher Weise anschlussfähig. Er führt Gott als eine zusätzliche externe Sicherungsinstanz der natürlichen Ordnung ein, die über die Eigenmacht der Natur selbst hinausgeht. Entweder nämlich ist eine solche Sicherungsinstanz überflüssig; oder – und das scheint den Stich zu machen – die göttliche Geltungsinstanz macht umgekehrt die Naturteleologie für die Realisierung der Fundamentalgesetze überflüssig. Die Natur, d.h. auch die des Menschen, ist gar nicht darauf angewiesen, von selbst auf das Gute hinzustreben, solange das Gesollte im Verstoßfall und im äußersten Regelungskonflikt von Gott eingeholt wird.
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4.4.5.1 Tyrannis als Verstoß gegen göttliches und natürliches Recht Schönborner spricht zunächst mehrdeutig als magistratus improbus:695 Die Bedeutung schlechte Verwaltung kann also zunächst auch schwache bzw. unfähige, also keine per intentionem schlechte Regierung anzeigen. Trotzdem macht Schönborner umgehend deutlich, dass er den Tyrannis-Begriff nach dem göttlichen und natürlichen Recht bestimmt: Est autem Tyrannis violentum unius imperium præter mores & leges. Lips. 6 pol. 5. id est, in quo unus homo, divinis ac naturæ legibus solutus, rebus alienis ut suis, & liberis hominibus quasi mancipiis ad libidinem abutitur. Bodin. lib. 2 pol. 4.696
Schönborner nennt nur zwei von eigentlich drei Traditionen beim Namen. Von seinem Lehrer Justus Lipsius übernimmt er die Definition der Tyrannis in juridischer Hinsicht, d.h. die Tyrannis als Verstoß. Dabei unterschlägt Schönborner bemerkenswerter Weise Lipsius’ einengende Erläuterung zum Verständnis des violentum imperium: Wie in 4.1.2.1 gezeigt, sieht Lipsius wie auch schon Machiavelli in einem schon statthabenden Zorn des Volkes die Ursache des Herrschers, zur Tyrannis zu greifen. In diesem Punkt schließt sich Schönborner seinem Lehrer Lipsius gerade nicht an. Damit vollzieht sich eine Distanzierung von einem lipsianisch vermittelten Machiavelli. Mithin gelingt Schönborner eine allgemeinere Definition der Tyrannis, was ihm späterhin erlaubt, ein größeres Feld möglicher Ursachen der Tyrannis in Betracht zu ziehen, vor allem den illegitimen Machterwerb. Lipsius hingegen spricht von der Tyrannei nur im Sinne einer fehlgehenden Herrschaftspraxis, die sich ex post gegenüber göttlichem und natürlichem Recht delegitimiert. Lipsius kommt außerdem auf die Tyrannis als Ursache eines Bürgerkrieges und auschließlich eines solchen zu sprechen: Umgekehrt ist ihm also der Bürgerkrieg das einzige zu erwartende Resultat einer Tyrannenherrschaft. Auch diese Einengung übernimmt Schönborner nicht. Schönborners zweiter expliziter Bezug, nämlich auf Jean Bodin, bietet für seine Begriffsbestimmung neben der juridischen auch eine intersubjektive Dimension an: In der Tyrannis dient der Herrscher nicht dem Volke, sondern er bedient sich, so schon Aristoteles, des Volks:697
695 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 171: „HActenus de Magistratu probo, ejusqui muniis dictum est. Succedit Tractatio de Magistratu improbo, nempe Tyranno“. 696 Ebd., S. 172. 697 Aristoteles: Πολιτικων, 1310 b40 – 1311 a5: „βούλεται δ’ὁ βασιλεὺς εἴναι φύλαξ, ὅπως οἱ μὲν κεκτημένοι οὐσίας μηθὲν ἄδικον πάσχωσιν, ὁ δὲ δῆμος μὴ ὑβρίζηται μηθέν. ἡ δὲ τυραννίς, ὥσπερ εἴρηται πολλάκις, πρὸς οὐδὲν ἀποβλέπει κοινόν, εἰ μὴ τῆς ἰδίας ὠφελείας χάριν. ἔστι δὲ σκοπὸς τυραννικὸς μὲν τὸ ἡδύ, βασιλικὸς δὲ τὸ καλόν“. / „Der König nämlich soll ein Wächter sein darü-
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Die tyrannische Monokratie ist dadurch gekennzeichnet, dass der Alleinherrscher die Gesetze der Natur mit Füßen tritt, die freien Untertanen missbraucht, als wären sie seine Sklaven, und das Eigentum Anderer wie sein eigenes benützt. […] Das vornehmste Unterscheidungsmerkmal des Königs vom Tyrannen besteht darin, dass der König sich den natürlichen Gesetzen unterwirft, während der Tyrann sie mit Füßen tritt, und darin, dass der eine Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Treue hochhält, während der andere sich weder um Gott, noch um Gesetz und Treue schert. Der König lässt nichts unversucht, wenn er meint, es könnte dem gemeinen Wohl und dem Schutz der Untertanen dienen. Der Tyrann tut alles nur um seines eigenen Vorteils, der Rache oder des Vergnügens willen.698
Auf normativer Ebene zielen Bodin und in der Folge Schönborner zwar wieder auf den Gemeinwohlgedanken. Die interpersonale Perspektivierung ist gegenüber der rein auf das göttliche und natürliche Recht abstellenden Definition dennoch ungleich politischer, ohne von juridischen Erwägungen absehen zu müssen. Der Rechtsverstoß des Tyrannen spielt sich im Rahmen der spezifischen ‚Dreiecksbeziehung‘ ab, welche die bodinsche Souveränitätslehre prägt: Der Souverän ist Gott für das Volk verantwortlich. Schönborners dritter und ungleich wichtigerer, dabei aber ungenannter Traditionsbezug folgt unmittelbar nach den Definitionen Lipsius’ und Bodins: Estque tyrannus in duplici differentia: alius est absque titulo, alius exercitio: ille remp. sine ullo legitimo titulo vel electionis vel successionis, sed vi aut malis artibus invasit: hic quidem legitimè constitutus est princeps, sed tamen tyrannice administrat.699
Innerhalb der Gryphius-Interpretation zitierte schon Henri Plard diesen Absatz Schönborners,700 ordnete ihn rechtsideengeschichtlich jedoch nicht korrekt ein. Diese Distinktion von tyrannus absque titulo und tyrannus exercitio kann Schön-
ber, dass die Besitzenden kein Unrecht erleiden und das Volk nicht misshandelt wird. Die Tyrannis hingegen denkt, wie schon oft bemerkt, überhaupt nicht an die Gemeinschaft, außer zu ihrem eigenen Nutzen. Denn das Ziel der Tyrannis ist das Angenehme, das des Königtums die Ehre“. Übers. nach Gigon: ders.: Politik. Übers. u. hg. von Olof Gigon. 4. Aufl. München 1981, S. 188f. 698 Bodin: Les six Livres de la Republique, II, 4, S. 245–247: „LA monarchie tyránique, est celle où le Monarque foullant aux pieds les loix de nature, abuze de la liberté des francs sugets, comme de ses esclaues, & des biens d’autruy, comme des siens. […][L]a plus notable difference du Roy, & du Tyran est, que le Roy se conforme aux loix de nature: & le tyran les foulle aux pieds. l’vn entretient la pieté, la iustice, & la foy: l’autre n’a ny Dieu, ny foy, ny loy: l’vn fait tout ce qu’il pense seruir au bien public, & tuition des sugets: l’autre ne fait rien que pour son profit particulier, vengeance, ou plaisir“. Übers. nach Wimmer: ders.: Sechs Bücher über den Staat. 2. Bde. Übers. und mit Anm. vers. von Bernd Wimmer, eingel. und hg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch. Bd. 1. München 1981–1986, S. 351 und 353. 699 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 172. 700 Plard: La sainteté du pouvoir royal dans le Leo Armenius d’Andreas Gryphius, S. 166f.
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borner erst unter der genannten Bedingung treffen, Justus Lipsius’ Bestimmung des Volkszorns als einziger Ursache der Tyrannis abzulehnen. Nur so öffnet sich sein Begriff von einer Tyrannis, die lediglich schlechte administratio ist, hin zu einem vorausgehenden illegitimen Machterwerb. Damit greift Schönborner die übliche Tradition wieder auf, die – wie Plard zurecht festhielt – unter den Zeitgenossen von Johannes Calvin zwar prominent vertreten war:701 Sie selbst aber geht zurück bis auf die spätantiken Historia Augusta, in denen als frühestem Zeugnis Usurpatoren als tyranni bezeichnet werden.702 Systematisch bestimmt wurde die Unterscheidung eines tyrannus ex parte exercitii und eines tyrannus absque titulo von Thomas von Aquin.703 Mit Bartolus a Saxoferrato wurde diese Bestimmung
701 Ebd., S. 164 und S. 167. 702 Vgl. Giuseppe Zecchini: I Tyranni Triginta. La scelta di un numero e le sue implicazioni. In: Historiae Augustae Colloquium Bonnense. À cura di Giorgio Bonamente. Bari 1997 (Munera 9), S. 265–274, S. 265–274. 703 Im Scriptum super Sententiis hatte schon Thomas festgehalten: „Dictum est autem, quod praelatio potest a Deo non esse dupliciter: vel quantum ad modum acquirendi praelationem, vel quantum ad usum praelationis“ (II Sent., d. 44, q. 2, art. 2, resp.). Es darf ein göttliches Recht der Herrschaft nicht dergestalt unterschieden werden, dass eine zwar illegitim erworbene, aber gut verwaltete Regierungsgewalt denkbar würde. Der naturrechtskonforme Machterwerb ist Thomas in jedem Fall die notwendige Bedingung der Legitimität von Herrschaft. Dabei richtet sich für den Aquinaten weiter die Frage nach der Konformität dieses Erwerbs nur nach dem Modus, nicht nach dem Subjekt der Machtaneigung: „Quantum ad primum contingit dupliciter: aut propter defectum personae, quia indignus est; aut propter defectum in ipso modo acquirendi, quia scilicet per violentiam vel per simoniam, vel aliquo illicito modo acquirit. Ex primo defectu non impeditur quin jus praelationis ei acquiratur; et quoniam praelatio secundum suam formam semper a Deo est (quod debitum obedientiae causat); ideo talibus praelatis, quamvis indignis, obedire tenentur subditi. Sed secundus defectus impedit jus praelationis: qui enim per violentiam dominium surripit non efficitur vere praelatus vel dominus; et ideo cum facultas adest, potest aliquis tale dominium repellere: nisi forte postmodum dominus verus effectus sit vel per consensum subditorum, vel per auctoritatem superioris“ (ebd.). Nicht eine persönlich-charakterliche Defizienz des neuen Herrschers, sondern nur eine als Akt auf defizitäre Art und Weise vonstattengehende Aneignung berechtigt hinreichend zum aktiven Widerstand; dann jedoch ist dieser Widerstand im starken Sinne erlaubt, d.h. ein Widerstand gegen diese Herrschaft als solche („tale dominium repellere“). Widerstand gegen schlechte Verwaltung bzw. Missbrauch von Herrschaft ist, gesetzt den Fall, es handelt sich um eine legitim erworbene Herrschermacht, erstens nur als partikularer Widerstand erlaubt, d.h. gegen eine Anweisung des Regierenden und nicht schon gegen diesen als solchen, und dies zweitens höchstens als passiver Widerstand, d.h. als ledigliche Gehorsamsverweigerung: „Abusus autem praelationis potest esse dupliciter: vel ex eo quod est praeceptum a praelato, contrarium ejus ad quod praelatio ordinata est, ut si praecipiat actum peccati contrarium virtuti ad quam inducendam et conservandam praelatio ordinatur; et tunc aliquis praelato non solum non tenetur obedire, sed etiam tenetur non obedire, sicut et sancti martyres mortem passi sunt, ne impiis jussis tyrannorum obedirent:
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auch in das gelehrte Recht eingeführt704 und blieb – wie hier zu beobachten – bis ins siebzehnte Jahrhundert wirkmächtig. Mit der Anbindung an die scholastisch-thomistische Tradition stärkt Schönborner den absolutistischen Gedanken, insofern der Modus des Machterwerbs, nicht derjenige der Machtausübung eine hinreichende Legitimation der Absetzung des Herrschers liefert. Das bedeutet erstens, dass im Falle eines vorausgehenden illegitimen Machterwerbs von einem Absetzen des Herrschers im eigentlichen Sinne gar nicht die Rede sein kann: Denn de jure war er nie Herrscher im eigentlichen Sinne. Es bedeutet zweitens, dass erfahrenes Unrecht durch den Obrigen allein noch nicht legitimiert, diesen Obrigen zu entmachten.705
4.4.5.2 Tyrannenmord Erstaunlicher Weise liefert Schönborner im Kapitel zur „Abschaffung der Tyrannis“706 weder einen normativen Hinweis noch eine prudentielle Lehre zu dieser Frage: Der Feststellung, dass die Tyrannenherrschaft für gewöhnlich verflucht
vel quia cogunt ad hoc ad quod ordo praelationis non se extendit; ut si dominus exigat tributa quae servus non tenetur dare, vel aliquid hujusmodi; et tunc subditus non tenetur obedire, nec etiam tenetur non obedire“ (ebd.). 704 Bartolus wählt lediglich andere Termini, nämlich den des tyrannus ex defectu tituli und den des tyrannus ex parte exercitii: Bartolus de Saxoferrato: De tyranno. In: Diego Quaglioni: Politica e diritto nel trecento italiano. Il ‚De tyranno‘ di Bartolo da Sassoferrato (1314–1357). Florenz 1983 (Il pensiero politico 11), S. 171–213, hier S. 184f. 705 Damit steht Schönborner noch komplett jener sich bereits im siebzehnten Jahrhundert langsam herausbildenden Frühform einer Idee von Rechtsstaatlichkeit entgegen, wie sie sich prominenter Weise erstmals 1690 in den Two Treatises of Government von John Locke äußert. Dort konstatiert Locke – in dieser Auflage noch mit gutem Grund anonym – das exakte Gegenteil, dass nämlich die tyrannis ex parte exercitii die immer illegitime Herrschaft sei, wohingegen die Usurpation zwar ein Unrecht sei, dies jedoch zunächst bloß mit Blick auf zwei einzelne Rechtspersonen, den Usurpator als Subjekt und den gestürzten Herrscher als Objekt, nicht jedoch schon mit Blick auf alle Bürger: „As Usurpation is the exercise of Power, which another hath a Right to; so Tyranny is the exercise of Power beyond Right, which no Body can have a Right to [...] Where-ever Law ends, Tyranny begins, if the Law be transgressed to another’s harm. And whosoever, in Authority, exceeds the Power given him by the Law, and makes use of the Force, he has under his Command, to compass that upon the Subject which the Law allows not; ceases, in that, to be a Magistrate, and acting without Authority, may be opposed, as any other Man, who by force invades the Right of another“. (John Locke: Two Treatises of Government. London 1690, S. 420, 423 [Hervorhebung O.B.]). Vgl. gerade mit Blick auf den Begriff der Rechtsstaatlichkeit Jürgen Hüllen: [Art.] Tyrannis II. Mittelalter und Neuzeit. In: HWPh 10, S.1611–1618, S. 1615. 706 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 176f.: „De abolitione tyrannidis in genere“.
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und nicht von Dauer sei,707 lässt Schönborner nur historische Beispiele „tragischer Niedergänge“ von Tyrannen folgen,708 angefangen bei Herodes über Kaiser Commodus bis zum ägyptischen Pharao. Erst im folgenden Kapitel über den Tyrannenmord behandelt Schönborner die grundlegenden legitimationstheoretischen Fragen, ob „jene [Tyrannenmörder] etwa zu entschuldigen sind, so dass die Tyrannen als gerechter Maßen getötet gelten können“.709 Wie nur selten in seinen sieben Büchern über die Politik diskutiert Schönborner selbst eingehender eine drängende Frage seiner Gegenwart. Er referiert erst fünf Argumente für, dann fünf Argumente gegen das tyrannicidium. Schon die Reihenfolge legt nahe, dass Schönborner zu den Kontra-Argumenten tendieren wird. Die Pro-Argumente für einen aktiven Widerstand sind der Befreiungsgedanke, die schlichte Gottgewolltheit des Tyrannenmordes, Ehre, die gerechte und damit zu bannende Furcht vor dem Tyrannen und die Vergeltung der tyrannischen Übeltaten.710 Bei den KontraArgumenten fällt auf, dass sie sich ausschließlilch auf Bibelstellen be