Qualitative Methoden in der Forschungspraxis. Perspektiven, Erfahrungen und Anwendungsfelder [1. ed.] 9783847426639, 9783847418252

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Qualitative Methoden in der Forschungspraxis. Perspektiven, Erfahrungen und Anwendungsfelder [1. ed.]
 9783847426639, 9783847418252

Table of contents :
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Qualitative Methoden in der Forschungspraxis. Perspektiven, Erfahrungen und Anwendungsfelder
Inhaltsverzeichnis
Jasmin Donlic: Qualitatives Forschen lehren und lernen – ein partizipativer Ansatz
I. Methodologie und Forschungshaltung
Paul Eisewicht und Ronald Hitzler: Qualitative Forschungsdesigns in einer methodenpluralen Forschungslandschaft
Jasamin Kashanipour: Homo ludens forscht im Felde: Stolpersteine als inspirierende Kraft ethnografischer Arbeit
Heidi Siller: Reflexion und Reflexivität als Teil qualitativer Forschung: Seelenstriptease, geheimes Werken oder ganz was anderes?
Christina Ricarda Vedder: „How to pass it on“: Über die Bedeutung von Peer-to-Peer-Angeboten als Einstieg in die qualitative Forschung
II. Methodenwahl und Besonderheiten des Forschungsgegenstands
Anna Weinberger und Alban Knecht: „Eine ganz andere Welt …“. Untersuchung mit dem Verstehenden Interview zur Bedeutung von Armut und Ausgrenzung für Biografie und Identität
Barbara Dieris: Aushandlungen des ‚Sich Kümmerns‘ um alte Eltern. Ein Beispiel für die kreative Forschungsarbeit mit der Reflexiven Grounded Theory
Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker: Soziale Integration von Migrant*innen: Die Arbeit mit analytischen Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse
Yvonne Berger: Sprachliche und kulturelle Übersetzungsprozesse in der Forschungspraxis – Herausforderungen im Kontext qualitativer Forschung
Frauke Gerstenberg: Zwischen Erzählen, Wissen und Erleben – Gruppendiskussionen mit Kindern
Verena Kumpusch: Geschlechterpädagogische Wissensbestände (in) der Schule – Wissenssoziologische Diskursanalyse trifft Grounded Theory
III. Audiovisuelle Medien in der Forschungspraxis
Peter Holzwarth: Audiovisuelle Lebenswelten – audiovisuelle Methoden
Elisabeth Mayer: Gezeigt – erlebt – erzählt: Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien. Triangulation in der visuellen Biografieforschung
Ute Holfelder: „Selfies im Görtschitztal“ – Die Methode der Fotoelizitation in Gruppendiskussionen
Ajit Singh und Leopold Meinert: Doing Videography – Mit der Kamera im Feld während der Corona-Pandemie
Backmatter
Zu den Autor*innen

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Qualitative Methoden in der Forschungspraxis

Jasmin Donlic (Hrsg.)

Qualitative Methoden in der Forschungspraxis Perspektiven, Erfahrungen und Anwendungsfelder

Verlag Barbara Budrich Opladen • Berlin • Toronto 2023

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Alle Rechte vorbehalten © 2023 Verlag Barbara Budrich GmbH, Opladen, Berlin & Toronto www.budrich.de ISBN eISBN DOI

978-3-8474-2663-9 (Paperback) 978-3-8474-1825-2 (PDF) 10.3224/84742663

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Bettina Lehfeldt, Kleinmachnow – www.lehfeldtgraphic.de Titelbildnachweis: © Bettina Lehfeldt Lektorat: Christian Herzog Satz: Linda Kutzki, Berlin – www.textsalz.de Druck: paper & tinta, Warschau Printed in Europe

Inhalt Jasmin Donlic Qualitatives Forschen lehren und lernen – ein partizipativer Ansatz   I.

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Methodologie und Forschungshaltung

Paul Eisewicht und Ronald Hitzler Qualitative Forschungsdesigns in einer methodenpluralen Forschungslandschaft 

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Jasamin Kashanipour Homo ludens forscht im Felde: Stolpersteine als inspirierende Kraft ethnografischer Arbeit 

 32

Heidi Siller Reflexion und Reflexivität als Teil qualitativer Forschung: Seelenstriptease, geheimes Werken oder ganz was anderes? 

 49

Christina Ricarda Vedder „How to pass it on“: Über die Bedeutung von Peer-to-Peer-Angeboten als Einstieg in die qualitative Forschung 

 63

II. Methodenwahl und Besonderheiten des Forschungsgegenstands Anna Weinberger und Alban Knecht „Eine ganz andere Welt …“. Untersuchung mit dem Verstehenden Interview zur Bedeutung von Armut und Ausgrenzung für Biografie und Identität  

 81

Barbara Dieris Aushandlungen des ‚Sich Kümmerns‘ um alte Eltern. Ein Beispiel für die kreative Forschungsarbeit mit der Reflexiven Grounded Theory 

 98

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Inhalt

Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker Soziale Integration von Migrant*innen: Die Arbeit mit analytischen Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse 

 118

Yvonne Berger Sprachliche und kulturelle Übersetzungsprozesse in der Forschungspraxis – Herausforderungen im Kontext qualitativer Forschung 

 138

Frauke Gerstenberg Zwischen Erzählen, Wissen und Erleben – Gruppendiskussionen mit Kindern 

 163

Verena Kumpusch Geschlechterpädagogische Wissensbestände (in) der Schule – Wissenssoziologische Diskursanalyse trifft Grounded Theory 

 183

III. Audiovisuelle Medien in der Forschungspraxis Peter Holzwarth Audiovisuelle Lebenswelten – audiovisuelle Methoden 

 205

Elisabeth Mayer Gezeigt – erlebt – erzählt: Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien. Triangulation in der visuellen Biografieforschung 

 219

Ute Holfelder „Selfies im Görtschitztal“ – Die Methode der Fotoelizitation in Gruppendiskussionen 

 240

Ajit Singh und Leopold Meinert Doing Videography – Mit der Kamera im Feld während der Corona-Pandemie  

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Zu den Autor*innen 

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Qualitatives Forschen lehren und lernen – ein partizipativer Ansatz Jasmin Donlic

Qualitative Sozialforschung ist längst ein Methoden-Klassiker in den Erziehungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften. In der Praxis sind Studierende im qualitativen Forschungsprozess auf unterschiedlichen Ebenen mit Herausforderungen und Grenzen konfrontiert (Kondratjuk et al. 2022; Bohnsack & Sparschuh 2022), die in allgemeinen Einführungen zur Methodenlehre meist nicht oder nur abstrakt zur Sprache kommen. Deshalb bietet dieses Lehrbuch Einblicke in methodologische Überlegungen anhand konkreter Forschung, thematisiert dabei auch Hindernisse, Stolpersteine sowie inhaltliche Debatten und Kontroversen rund um die qualitative Sozialforschung. Es soll als Anregung zur Methodenreflexion und praktischer Ratgeber für die verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften dienen und Studierenden wie Lehrenden die Vielfalt qualitativer Methoden vermitteln. Die Herausgeberschaft dieses Lehrbuchs ist in engem inhaltlichem Zusammenhang mit meiner Lehre an der Universität Klagenfurt zu sehen. In dem von mir angebotenen Seminar „Gegenstand und Methoden qualitativer Sozialforschung“ (zuletzt im Wintersemester 2022/23) versuchte ich, Studierenden, die an ihrer Masterarbeit im Fach Erziehungswissenschaft schreiben, die Herausforderungen der qualitativen Forschung zu vermitteln. Die Teilnehmenden wurden zu Beginn des Semesters unmittelbar in die Lehrveranstaltung (Unger 2014) eingebunden, um ihnen eine aktive Rolle zu ermöglichen und eine Gelegenheit zu geben, ihre Erfahrungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse einzubringen. So galt es eingangs abzuklären, was die Teilnehmenden von der Veranstaltung erwarten und welche Themen vorrangig behandelt werden sollten. Mithilfe von Moderationskarten wurde eruiert, was für die Anwesenden qualitative Forschung bedeutet, wie sie bislang mit Herausforderungen im Forschungsprozess umgingen, welche Strategien sie dabei entwickelt hatten und nicht zuletzt, welche Art von Unterstützung die Studierenden konkret für ihre jeweilige Arbeit benötigten. Im Zuge dessen wurde deutlich, wo ich als Lehrender ansetzen und welche Materialien ich zur Verfügung stellen kann. Zentrales Element des partizipativen Lehrsettings war, dass die Studierenden sich aktiv einbringen, kommunizieren, mitgestalten und gemeinsam an Problemstellungen und Projekten arbeiten.

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Jasmin Donlic

Nachdem jede*r die eigenen inhaltlichen Präferenzen notiert hatte, wurden die Themen in der Gruppe diskutiert und gewichtet. Folgende Punkte waren für Studierenden besonders relevant:

Zugang zum Forschungsfeld: Wie stelle ich diesen her und wie kann ich Vertrauen aufbauen? Fokus: Ideeneingrenzung und Formulierung der zentralen konkreten Forschungsfrage, prinzipiell oder speziell angesichts der Fülle an Material, das beim qualitativen Forschen generiert wird. Forschungsethik in der qualitativen Sozialforschung: Wie gestaltet sich der Umgang mit Werten und Normen im Spannungsfeld der Interessen des beforschten Feldes und der Forschung bzw. der/des Forschenden? Rolle als Forscher*in: Wie kann ich als „introvertierte“ Person ein Interview führen? Auswertungsstrategien: Angesichts der Vielzahl von Auswertungsstrategien und des konkreten Umgangs mit Daten sprachen die Studierenden oft von einem „Verlorensein“. Einsatz von digitalen Tools: Wie lassen sich Interviews optimal mithilfe digitaler Werkzeuge auswerten? Auch die Interpretation von Ergebnissen und die Heranziehung/Entwicklung von Theorien wurde mehrfach genannt. Wie werden qualitative Daten interpretiert und welche Strategien werden dabei angewandt? Reflexivität: Welche Rolle spielt die Selbstreflexion für mich als Forscher*in? Auch Zeitressourcen sind eine Herausforderung, die bei Interviewführung, Transkription der Daten und der Auswertung im zirkulären Prozess bewältigt werden muss.

Um den genannten Prioritäten gerecht zu werden und den damit verbundenen Herausforderungen zu begegnen, wurden zahlreiche Übungen angeboten – etwa ein Interview zu führen und zu transkribieren, Auswertungsmethoden vorzustellen und anzuwenden. Einführende Literatur wurde empfohlen, besprochen und reflektiert. Zudem erhielt die Gruppe eine Einführung in die Benützung von MAXQDA, einer Software zur computergestützten qualitativen Daten- und Textanalyse. Als wichtig erwies sich auch die Peer-to-Peer-Beratung im Rahmen von sogenannten „Qualitativen Stammtischen“, bei denen die Studierenden ihre Erfahrungen austauschten und einander gegenseitig unterstützten. Partizipation in der Lehre im Kontext qualitativer Sozialforschung kann Lernprozesse, Interessen und Motivation von Studierenden fördern und ein konstruktives, kritisches wie auch kreatives Hinterfragen des eigenen Forschungshandelns fördern. Erste Schritte für eine nachhaltige Methodenausbildung können darin bestehen, Studierende in unterschiedlichen Phasen ihres Studiums in ihrer Auseinandersetzung mit qualitativen Methoden anzu-

Qualitatives Forschen lehren und lernen – ein partizipativer Ansatz

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leiten und ihnen mit kleinen Gruppenarbeiten, Peer-to-Peer-Erfahrungsaustausch sowie Einzelsprechstunden unterschiedliche Lernsettings und auf ihre jeweiligen Bedürfnisse abgestimmte Unterstützung für den weiteren Verlauf der Forschungsarbeit anzubieten. Eine partizipativ gestaltete Lehre soll Lernprozesse anregen, die Interessen und Motivation von Studierenden stärken und zu kritischem Hinterfragen ermutigen. Auf Basis der von den Studierenden genannten Bedürfnisse und Themen wurde auch dieses Lehr- und Methodenbuch konzipiert. Es erweitert die vorangegangene Publikation „Gegenstand und Methoden qualitativer Sozialforschung. Einblicke in die Forschungspraxis“ (Donlic/Strasser 2020). Die Beiträge dieses ersten Bandes wurden für die genannte Lehrveranstaltung herangezogen und mit den Studierenden diskutiert und kritisch reflektiert, ausgehend von Fragen wie: Wie kann ich das für meine Masterarbeit nutzen? Was hätte ich als Forscher*in anders gemacht? Dabei richtete sich die Aufmerksamkeit der Studierenden vor allem auf jene Aspekte, die sie konkret in ihren jeweils anstehenden Forschungsschritten umsetzen konnten oder die sie für nächsten notwendigen Schritte sensibilisierten. Gefragt war also nicht nur ein orientierender Überblick über den Forschungsprozess im Ganzen, sondern insbesondere auch der detailliertere Einblick in die einzelnen Etappen konkreter qualitativer Forschung. So werden im Rahmen dieser zweiten Publikation eine Reihe weiterer Forschungsprojekte mit ihren Fragestellungen und Auswertungsstrategien vorgestellt und weitere Anwendungsfelder qualitativer Sozialforschung in den Blick genommen. Ausgehend von den bereits realisierten oder noch laufenden Projekten erfolgt eine praxisnahe Diskussion methodischer und methodologischer Fragen, Debatten und Diskurse. Der Band gliedert sich in drei Teile: Methodologie und Forschungshaltung; Methodenwahl und Besonderheiten des Forschungsfeldes; sowie einen Abschnitt zu audiovisuellen Medien in der Forschungspraxis. Im Fokus der Beiträge stehen dabei besonders das Erkenntnisinteresse und der Forschungsgegenstand, denn dieser bestimmt wesentlich die Wahl des (methodologischen) Zugangs und begründet die Komplexität qualitativer Forschungsvorhaben, die in der Praxis als herausfordernd, manchmal auch als überfordernd wahrgenommen wird. Die hier publizierten Texte sind der Bereitschaft der Autor*innen zu verdanken, ihre Forschungsprojekte, Praxisfelder und Herangehensweisen zu reflektieren und diese im Sinne einer Haltung der Reflexivität für künftige Forschung produktiv zu machen.1

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Danke an alle Autor*innen für die Zusammenarbeit und danke an Christian Herzog für die kritische Reflexion sowie das Lektorat der Beiträge.

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Jasmin Donlic

Der Beitrag Qualitative Forschungsdesigns in einer methodenpluralen Forschungslandschaft von Paul Eisewicht und Ronald Hitzler ist der Relevanz und Nützlichkeit von Forschungsdesigns für die qualitative Forschung gewidmet. Forschungsdesign bezeichnet hier die Gesamtheit aller Entscheidungen und Regeln, die das Vorgehen bei einer Untersuchung betreffen. Forschungsdesigns bestimmen in ihrer Gesamtheit die Gegenstandsangemessenheit der Forschungsschritte im Verhältnis zu den eigenen Forschungsinteressen. Sie sind damit selbst ein wesentlicher Teil der „guten“ Forschung und nicht nur ein Mittel zum Zweck. Besonders die zunehmende Diversifizierung der Methodenlandschaft erfordert eine sorgfältige Planung des Forschungsdesigns, um eine konkrete Studie optimal vorbereiten zu können. Eisewicht und Hitzler erläutern Herausforderungen, die mit qualitativen bzw. explorativ-interpretativen Forschungsmethoden einhergehen, und geben einen Überblick hinsichtlich der Vor- und Nachteile dieser Methodenzugänge. Die abschließende Verhandlung der zentralen Elemente von Forschungsdesigns verdeutlichen die Bewertungskriterien für die Angemessenheit eigener Forschungsvorhaben. Der Beitrag von Jasamin Kashanipour Homo ludens forscht im Felde: Stolpersteine als inspirierende Kraft ethnografischer Arbeit beruht auf Erkenntnissen aus ethnografischem Forschungshandeln. In jeder Feldforschung gibt es Stolpersteine – Herausforderungen, Abweichungen, Zwickmühlen und Dilemmata, die von qualitativ Forschenden als Verlangsamung wahrgenommen werden – diese sind jedoch zugleich besonders lebensnahe Momente und mögliche Wendepunkte des Forschens. Ethnografische Feldforschung gleicht in ihrer Unvorhersehbarkeit, aber auch in ihrer Spannung dem Spiel. Homo ludens, der spielende Mensch, wie ihn der Kulturhistoriker Johan Huizinga beschreibt, erlebt im Spiel Ungewissheit und Spannung, die zugleich Chance bedeuten. Stolpersteine in der Feldforschung sind dementsprechend notwendige Hindernisse und Inspirationen, die dem Denken und Handeln wichtige Impulse liefern. Kashanipour verdeutlicht dies anhand von eigenen Praxiserfahrungen und Bezügen zu ethnografischen Theorien. Heidi Siller macht unter dem Titel Reflexion und Reflexivität als Teil quali­ tativer Forschung: Seelenstriptease, geheimes Werken oder ganz was anderes? die Diskussion über die (ereignisbezogene) Reflexion von eigenen Vorstellungen, Haltungen und Annahmen in der qualitativen Forschung nachvollziehbar. Im Zentrum stehen dabei die begriffliche Unterscheidung von Reflexion und Reflexivität und deren Bedeutung für die Forschungspraxis. Es stellt sich auch die Frage, wie Forschende sich in Bezug auf ihren Forschungsprozess und das dabei in den Mittelpunkt gestellte Problem/Phänomen verorten und dies stets auch sichtbar machen können. Reflexion und Reflexivität sind ein Mittel zur Qualitätssicherung; zugleich sollen diese reflektierten und reflexiven

Qualitatives Forschen lehren und lernen – ein partizipativer Ansatz

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Erarbeitungen in der qualitativen Forschung dargestellt werden. Schließlich wird darüber reflektiert, ob und inwiefern eine Verortung der/des Forschenden einem öffentlichen „Seelenstriptease“ gleichkommt, wie mitunter kritisiert wird. Im Beitrag How to pass it on – über die Bedeutung von Peer-to-PeerAngeboten als Einstieg in die qualitative Forschung zeigt Christina Ricarda Vedder, wie Studierende jenseits von Pflichtlehrveranstaltungen für qualitative Forschung begeistert werden können. Am Beispiel eigener Berührungspunkte mit qualitativ ausgerichteten Veranstaltungen, darunter ein empirisches Praktikum mit Bezug zur kritischen Psychologie und die Teilnahme an einem einschlägigen Kurs in Berlin, zeichnet sie zunächst ihren Weg nach und stellt dann die von ihr geleitete „Quali-Runde“ vor. Dort sind Studierende des Faches Psychologie eingeladen, in entspannter Atmosphäre Fragen zum Vorgehen in ihren qualitativen Abschlussarbeiten zu klären und einander dabei gegenseitig zu inspirieren. Abschließend geht Vedder ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung und Rolle als Forscherin auf die Besonderheiten und Anforderungen qualitativer Methoden ein. Anna Weinberger und Alban Knecht befassen sich in Eine ganz andere Welt .... Untersuchung mit dem Verstehenden Interview zur Bedeutung von Armut und Ausgrenzung für Biografie und Identität mit den methodischen Aspekten und Ergebnissen einer Studie mithilfe der Methode des Verstehenden Interviews nach Jean-Claude Kaufmann. Die Autor*innen beschreiben, dass für die Betroffenen Elemente von Ausgrenzung im Vordergrund ihres Verständnisses von Armut stehen, während finanzielle Elemente eine untergeordnete Rolle spielen. Ausgrenzung erfuhren die Interviewten im Konnex biografischer Brüche, verengter Handlungsspielräume, fehlender Handlungsfähigkeit, struktureller Gewalt sowie von Beschämung und Achtungsverlust. Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen den Armuts- und Ausgrenzungserfahrungen und der jeweiligen Biografie sowie den Identitätskonstruktionen. Das Verstehende Interview, gekennzeichnet durch das systematische, wiederholte Anhören der Interviews und die Herausarbeitung tragfähiger Hypothesen, erwies sich aus Sicht der Autor*innen gerade für die Analyse von biografischem Material zur Identitätskonstruktion als besonders geeignet. Barbara Dieris bietet in Aushandlungen des ‚Sich Kümmerns‘ um alte Eltern – Ein Beispiel für die kreative Forschungsarbeit mit der Reflexiven Grounded Theory einen Einblick in den Forschungsprozess ihrer Dissertation. Auf Grundlage individueller Rahmenbedingungen, wie z. B. der Forschungsthemen, des Forschungsstils und persönlicher Interessen bzw. Prägungen, einerseits sowie dem Ausloten und Nutzen von Entscheidungsspielräumen im Forschungsund Projektprozess andererseits, stellt sie das Zustandekommen ihrer psychologischen Forschungsarbeit dar. Eine Besonderheit ihrer Studie liegt darin,

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dass Dieris neben in der qualitativen Forschung gängigen Datenquellen (hier narrative Interviews) explizit auch in ihrer Disziplin ungewöhnliche Materialien (literarische Texte) ausgewertet und analysiert hat. In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Daten entwickelte sie einen theoretischen Entwurf des „Sprechens und Schweigens“, der das Implizite, Indirekte, Widersprüchliche und Komplexe der innerfamiliären Aushandlungen hinsichtlich des Sorgetragens für die alten Eltern konzeptuell-begrifflich verhandelt. Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker geben in Die Arbeit mit analytischen Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA­gestützten qualitativen Inhaltsanalyse einen detaillierten Einblick in jene Schritte im Auswertungsprozess, die an die Codierung transkribierter Interviews anschließen und softwareunterstützt die Bearbeitung umfangreicher Daten ermöglichen. Dies erfolgt am Beispiel einer Untersuchung zur sozialen Integration von Migrant*innen in Russland (durchgeführt von Maksutova). Konkret wird nachvollziehbar gemacht, wie mithilfe der erwähnten Analysesoftware die codierten Daten aus 60 Interviews schrittweise verdichtet, abstrahiert und kontrastiert wurden. Die Auswertung erfolgt mittels der genannten Software in vier Schritten: 1. einzelfallbezogene Zusammenfassung, 2. gruppierte Darstellung als Tabelle, 3. Meta-Summary der Zusammenfassungen, 4. abstrahierende Beschreibung durch Typen. Yvonne Berger thematisiert in ihrem Beitrag Sprachliche und kulturelle Übersetzungsprozesse in der Forschungspraxis – Herausforderungen im Kon­ text qualitativer Forschung den interpretativen Zugang zur sozialen Welt als ein wesentliches Merkmal qualitativer Sozialforschung. Beim Forschen in Kontexten, in denen unterschiedliche Sprachen verwendet werden, treten nicht nur Probleme im Hinblick auf sprachliche Übersetzung auf. Im Rahmen transnationaler qualitativer Forschungen stellen sich vielfältige Herausforderungen der kulturellen Übersetzung: Nachdem qualitative Forschung Sprache als Hauptbezugspunkt der Erhebung und Auswertung von Daten heranzieht, ist das interpretative Verständnis von Bedeutung(en) und deren Herstellung eine grundlegende Übersetzungsherausforderung in sämtlichen Phasen des Forschungsprozesses. Exemplarisch verdeutlicht und diskutiert Berger dies anhand einer empirischen Untersuchung zu Bildungsbiografien in der Volksrepublik China. Der Beitrag Zwischen Erzählen, Wissen und Erleben – Gruppendiskussionen mit Kindern von Frauke Gerstenberg informiert über die Prinzipien der Durchführung eines qualitativen Forschungsvorhabens mit Kindern und bereitet auf Fallstricke vor, die mit der Initiierung und Balancierung von selbstläufigen Diskursen verbunden sind. Das methodische Prinzip der Selbstläufigkeit wird von der/dem Forschenden systematisch angewendet, um in der Gruppendiskussion anregende Räume dafür zu schaffen, dass sich die Mitwirkenden auf ihre Weise ausdrücken können. Es wird deutlich, dass die Qualität der Gruppendiskussion

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nicht von der „Erzählfähigkeit“ der Kinder, sondern auch von der Beweglichkeit der Durchführung abhängt. Abgesehen von methodischen Fragen zeigt Gerstenberg, wie Kinder gemeinschaftlich Vorstellungsbilder über die Welt entwerfen, in der sie leben. Das aktuelle Dissertationsprojekt Geschlechterpädagogische Wissensbestände der Schule – Wissenssoziologische Diskursanalyse trifft Grounded Theory von Verena Kumpusch befasst sich aus der Perspektive einer intersektional verstandenen Geschlechterforschung mit der Frage, welche Wissensordnungen hinsichtlich gesellschaftlich notwendiger Geschlechterfragen durch diskursive Aushandlungsprozesse in Handreichungen für die Unterrichtspraxis im österreichischen Bildungssystem (re-)produziert werden. Die dabei angesprochenen Themen umfassen Geschlechter- und Bildungstheorien, bildungspolitische Hintergründe und das empirische Forschungsprogramm von Kumpuschs Qualifikationsarbeit. Sie folgt den methodischen Ansätzen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und kombiniert diese in der Auswertung mit Zugängen der Grounded Theory. In Audiovisuelle Lebenswelten – audiovisuelle Methoden arbeitet Peter Holzwarth heraus, warum visuelle und audiovisuelle Medien, wenn sie ergänzend zu den lang etablierten verbalen Methoden der Datenerhebung in der sozialwissenschaftlichen Forschung in Erhebungen einbezogen werden, für alle Beteiligen gewinnbringend sein können. Für den Autor ist die Gegenstandsadäquatheit von besonderer Bedeutung, da Identität und Selbstausdruck nicht nur verbal, sondern eben auch visuell und audiovisuell vollzogen werden. Holzwarth setzt weiters unterschiedliche Ansätze visueller Forschung und ihre Vorteile auseinander. Als Ausgangspunkt dafür nutzt er die Social-MediaPhänomene Selfie und vertikales Video (Instagram, TikTok). In Gezeigt – erlebt – erzählt: Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien. Triangulation in der visuellen Biografieforschung geht Elisabeth Mayer der Frage nach, wie visuelle Selbstdarstellungen in sozialen Medien biografisch verortet sind. Forscher*innen stehen hier insbesondere vor der methodischen Herausforderung, mit sehr unterschiedlichem Datenmaterial und oft mit einer großen Menge an Bildern zu arbeiten. Mayer stellt dazu jene in der interpretativ-rekonstruktiven Sozialforschung angesiedelte Triangulation vor, mit der sie für ihre Dissertation das Zusammenspiel medial unterschiedlich geformter biografischer Konstruktionen untersucht hat. Mithilfe von textund bildbasierten Daten beforscht und interpretiert die Autorin Biografien auf Facebook und Instagram aus einer soziologischen Perspektive. Ute Holfelder wiederum stellt in Selfies im Görtschitztal – Die Methode der Fotoelizitation in Gruppendiskussionen eine Methodenkombination vor und reflektiert sie vor dem Hintergrund eines Projekts, das von einer konfliktreichen Feldsituation geprägt war. Die beiden in der qualitativen Grundlagenforschung

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wenig eingesetzten Methoden wurden kombiniert und mit einem kleinen Sample von Interviewpartner*innen erprobt. Die Vorgangsweise erwies sich für den angestrebten mikroanalytischen Zugang sehr produktiv: Die Gruppendiskussionen boten sowohl Raum für Kontroversen als auch für die Selbstvergewisserung der Teilnehmenden. Die auf Grundlage von Selfies durchgeführte Fotoelizitation lieferte dabei nicht nur einen positiven Gesprächsimpuls, sondern stieß auch eine differenzierte Selbstreflexion der Befragten an und ermöglichte es, dem Forschungsvorhaben und den Teilnehmenden in Form einer Ausstellung Sichtbarkeit zu verleihen. In Doing Videography – Mit der Kamera im Feld während der CoronaPandemie führen Ajit Singh und Leopold Meinert in die interpretative Methode der Videografie ein und illustrieren sie anhand ihrer praktischen Anwendung in einem Kopiergeschäft im Sommer 2020. Die Videografie kombiniert ethnografisches Forschungshandeln mit der videobasierten Aufzeichnung sozialer Interaktionen, die dann im Fokus der ethnomethodologischen Analyse stehen. Die coronabedingten Abstands- und Maskenregeln führten zu erheblichen Veränderungen in unseren täglichen Sozial- und Interaktionsformen. Nachdem Ethnograf*innen sich zumeist in ihren Untersuchungsfeldern aufhalten, mit Forschungspartner*innen unmittelbar interagieren und Nähe suchen, mussten hier auch grundlegende Prämissen qualitativen Forschens neu ausgehandelt werden. Unter Berücksichtigung digitaler-mediatisierter Formen gemeinsamer Datenanalysen führen Singh und Meinert durch die typischen Phasen des Forschungsprozesses und reflektieren schließlich die Spezifika und Möglichkeiten videografischer Forschung.

Literaturverzeichnis Bohnsack, Ralf/Sparschuh, Vera (2022): Die Theorie der Praxis und die Praxis der Forschung. Ralf Bohnsack im Gespräch mit Vera Sparschuh. Opladen/ Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich. Donlic, Jasmin/Strasser, Irene (2020): Gegenstand und Methoden qualitativer Sozialforschung. Einblicke in die Forschungspraxis. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich. Kondratjuk, Maria/Dörner, Olaf/Tiefel, Sandra/Ohlbrecht, Heike (2022): Qualitative Forschung auf dem Prüfstand. Beiträge zur Professionalisierung qualitativ-empirischer Forschung in den Sozial- und Bildungswissenschaften. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich. Unger, Hella von (2014): Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Springer VS.

I. METHODOLOGIE UND FORSCHUNGSHALTUNG

Qualitative Forschungsdesigns in einer methodenpluralen Forschungslandschaft Paul Eisewicht und Ronald Hitzler

Keywords: Forschungsdesign, explorativ-interpretative Forschung, Pluralisierung, Forschungskompetenz Gerade jenen, die das wissenschaftliche Arbeiten einüben oder vor der Aufgabe stehen, eine Abschlussarbeit zu verfassen, vermittelt ein Blick in die Methodenliteratur mitunter den Eindruck, dass schon vieles vorentschieden ist. Dies gilt umso mehr, als auch Dozent*innen, Betreuer*innen und Autor*innen, die als Vorbild dienen, explizit oder implizit Präferenzen, Sympathien und Antipathien zum Ausdruck bringen und dadurch einen Einfluss auf die eigene Forschungsarbeit ausüben können. Dass man ‚qualitativ‘ forscht und wie man dies tut, meist im Verfolgen eines spezifischen, elaborierten und etablierten Zugangs, gilt unter den Praktiker*innen und in den entsprechenden Methodenbüchern selten als begründungsbedürftig. Oftmals werden dadurch Fragen des Forschungsdesigns ausgeblendet bzw. verkürzt, weil sie mehr oder weniger vorgegeben oder routinemäßig entschieden sind. Dabei sind Forschungsdesigns nicht nur für die Argumentation und Transparenz von Forschungsentscheidungen und damit zur Sicherung der Forschungsgüte (vgl. Eisewicht/ Grenz 2018) praktisch, sie sind gleichsam auch ‚Geländer‘ „to keep us erect, while we navigate a terrain that moves and shifts even as we attempt to traverse it“ (Burawoy 1998: 4). Mit dem Beitrag wollen wir zunächst die gesteigerte Relevanz von Forschungsdesigns in der aktuellen methodenpluralen Landschaft erörtern, die Eignung qualitativer bzw. explorativ-interpretativer Forschung diskutieren und dann einführend klären, was gute Forschungsdesigns ausmacht. Auch wenn wir damit vieles nur anreißen können, so lassen sich aus den Ausführungen Entscheidungskriterien ableiten, die mit Blick auf die im Band verhandelten Forschungsprogramme und Methoden dabei helfen sollen, für die eigene Forschung adäquate und angemessene Forschungsentscheidungen zu treffen.

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Paul Eisewicht und Ronald Hitzler

1 Begriffsklärungen und Positionierungen in der pluralisierten Methodenlandschaft Die sog. Qualitative Forschung war in den letzten Jahrzehnten einer Vielzahl an zentrifugalen Kräften ausgesetzt. Die Folge dessen war eine Fragmentierung und Pluralisierung, die zur Entwicklung teils synonymer, teils ergänzender oder gar unvereinbarer Ansätze geführt hat (vgl. Hitzler/Eisewicht 2020; Eisewicht 2022 zur Ethnografie). Sechs Zentrifugalkräfte lassen sich dabei u. E. nach rekonstruieren: • Erstens, die Pluralisierung von Datensorten: Mit jeder medientechnischen Neuerung erschließen sich neue Formen der Datenerhebung, welche die Entwicklung von qualitativen Methoden angetrieben haben, zum Beispiel die Erfindung und Verbreitung von Fotoapparaten, Diktiergeräten, Videokameras etc. aber auch größerer, transportabler und günstigerer Speichermedien. Besonders verstärkt hat sich dies durch die neuere digitale Medienrevolution, die nicht nur verschiedenste Medienformate bündelt, sondern auch zu einer deutlichen Zunahme erhebbarer und leicht speicherbarer Daten führt. Dadurch wird es möglich, verschiedenste, immer feiner granulierte (z. B. hochauflösende Zeitlupenaufnahmen, sekundengenaue Chatprotokolle) und umfassendere (z. B. 360-Grad-Videos) Daten zu erheben. D. h. in Fragen der eigenen Forschung gilt es nicht nur, verschiedenste Datensorten auf ihrer Eignung und Effizienz für die eigenen Forschungsinteressen hin zu reflektieren, sondern auch zu prüfen, wie die forschungspragmatische Balance von Mengen in der Datenerhebung (z. B. in der leichten Zugänglichkeit zu unzähligen Stunden Videomaterial auf Online-Plattformen) mit zeitlichen Notwendigkeiten und Erfordernissen der Datenanalyse zu bewerkstelligen ist. • Zweitens, die Pluralisierung datenspezifischer Verfahren: Mit der zunehmenden Vielfalt an Datensorten haben sich immer mehr datensortenspezifische Methoden entwickelt, z. B. bild- und videoanalytische Verfahren. Diese werden weniger im Bezug zu Qualitativen Methoden im Ganzen legitimiert, als dass sie sich zunehmend untereinander abgrenzen und aneinander weiterentwickeln (z. B. Videoanalyse, Videografie etc. für Videodaten). • Drittens, die Pluralisierung von Verfahren im Zuge von Perspektivverschiebungen: Teils sind die Entwicklungen datenspezifischer Verfahren begleitet von der Proklamation sog. ‚Cultural Turns‘ (Eisewicht et al. 2021), z. B. dem linguistic, pictoral, visual, digital turn. Darüber hinaus gibt es aber auch turns, die weniger an der Entwicklung neuer Medientechnologien orientiert sind, sondern an der Verschiebung im Fokus der

Qualitative Forschungsdesigns in einer methodenpluralen Forschungslandschaft







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Wirklichkeitsausschnitte, die in Erhebung und Analyse relevant werden. Dies betrifft z. B. die Hinwendung zu Fragen der Räumlichkeit (im spatial turn) oder Fragen der Bedeutung verschiedener Sinne im Zusammenwirken (im sensorial turn). Daran orientiert werden dann entsprechende Verfahren entwickelt (z. B. sound oder smell walking). Viertens, die Pluralisierung durch die Hybridisierung qualitativer und quantitativer Ansätze: Im Zuge der Zunahme der Datenmengen, mit denen qualitativ Forschende zu tun haben, verwischt zusehends auch die Grenze zwischen quantitativen und qualitativen Verfahren. Besonders prominent in der Entwicklung von sog. methodenpluralen und ‚mixed-methods-Ansätzen‘, aber auch in Anbetracht der möglichen Automatisierung und Quantifizierung von Analyseschritten durch entsprechende Software (QDA-Software). Fünftens, die Pluralisierung durch neue theoretische Ansätze: Aber nicht nur methodische Entwicklungen führen zur Ausdifferenzierung neuer Verfahren, auch im Zuge neuer theoretischer Entwicklungen greifen z. B. alte und neue post-strukturalistische und normative Theorieansätze in neuer Weise auf qualitative Verfahren zurück (zum Teil als ‚post-qualitative research‘). Sechstens, die Pluralisierung durch interdisziplinäre und internationale Methodenanwendungen und -entwicklungen: Neben methodischen und theoretischen Impulsen finden qualitative Methoden auch in immer mehr Disziplinen und in zunehmend internationaleren Forschungskontexten Anwendung. Dabei werden Methoden nicht nur adaptiert, national bzw. wissenskulturell übersetzt und disziplinpassend angeeignet, sondern auch weiterentwickelt.

Angesichts der dergestalt fortschreitenden arbeitsteiligen Ausdifferenzierung immer passgenauer zugeschnittener Verfahren wird die Klammer, die der Überbegriff qualitative Forschung bietet, durchaus strapaziert (vgl. Reichertz 2007). Dies macht es u.E. erforderlich, sich selber stärker zu positionieren, seine Perspektive angesichts der Werkzeugvielfalt des methodischen Werkzeugkastens zu reflektieren und explizieren. Der Begriff ‚Qualitative Forschung‘ markiert unseres Erachtens nach eine zwar anhaltend populäre, aber zunehmend veraltende, weil weniger aussagekräftige Abgrenzung zu quantifizierenden Verfahren und strukturtheoretischen Perspektiven und weniger ein verbindendes Erkenntnis-Programm (Eisewicht 2021; vgl. Eberle 2004: 41; Keller 2012; Knoblauch 2007; Soeffner 2004). Mit Blick auf die beschriebenen Zentrifugalkräfte scheint uns entweder – mit Hans-Georg Soeffner (2004) – die Bezeichnung „nicht standardisierte Forschung“ oder – mit Blick auf den Schwerpunkt in der Datenerhebung und -Auswertung – die Bezeichnung „explorativ­interpretative Forschung“ (Hitzler 2016) eher das zu

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Paul Eisewicht und Ronald Hitzler

bezeichnen, worum es zumindest uns und anderen Forschenden geht – nämlich die Rekonstruktion von Sinn (Hitzler 2002). Mit explorativ-interpretativer Forschung meinen wir folglich eine ‚qualitative‘ Forschung, welche erkundend und deutend vorgeht und in der diese beiden Prämissen das Erkenntnisinteresse (Was wollen wir wissen?), die Methodologien (Welches planmäßige Vorgehen eignet sich mit welcher Begründung dafür, das, was wir wissen wollen, in Erfahrung zu bringen?) und die Methoden (Welche planmäßigen und kontrollierbaren bzw. überprüfbaren Arten und Weisen nutzen wir, um das, was wir wissen wollen, in Erfahrung zu bringen?) anleiten. Methodologien klären auf über die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Methodiken sind Kunstlehren für die geregelte und nachvollziehbare Erhebung, Aufbereitung und Analyse von ‚Daten’. Zum analysierbaren ‚Datum’ wird etwas dann, wenn es, als ‚Dokument’ einer Handlung oder Lebensäußerung (diskursiv) vorliegt und soweit fixiert ist, dass es immer wieder und in gleicher Gestalt von jedem beliebigen Interpreten gedeutet werden kann.

2 Zur Eignung explorativ-interpretativer Sozialforschung und der Nützlichkeit von Forschungsdesigns Explorativ-interpretative Sozialforschung meint folglich nicht jede qualitative Forschung, wir verstehen sie jedoch als eine prototypische Form derselben. Dementsprechend – und dies gilt u.E. nach für viele, aber nicht alle Ansätze qualitativer Forschung – verstehen wir sie als a) nicht-standardisierte Forschung (vgl. Soeffner/Hitzler 1994), die b) in Interesse an der Binnenperspektive der untersuchten Felder und der Selbstdarstellung der Untersuchten arbeitet. D. h. c) solche Forschung versucht das ‚So-und-nicht-andersgeworden-sein von Welt‘ sinnhaft deutend zu verstehen (Weber 2019). Um diesem Ansinnen nachzugehen, geht es weniger darum, Methoden exakt wie unter ‚Laborbedingungen‘ durchzuführen, als diese immer wieder an die Gegebenheiten der Untersuchungsfelder neu auszurichten und dabei auf ‚quasi-natürliche‘ Standards und Routinen der Kommunikation zurückzugreifen. Dergestalt verfährt eine solche Forschung d) zirkulär-adaptiv, besser gesagt spiralförmig auf ein veranschlagtes Forschungsende hin, was es ermöglicht zwischen Forschungsfragen, Datenerhebung, -auswertung und Ergebnisdarstellung zu wechseln, dabei Verfahren zu verändern, auszutauschen etc., um sich so einem Forschungsdurchbruch vorantastend anzunähern. Eine solche Forschung ist also in zweierlei Sinn explorativ, insofern als sie e) soziale Phänomene, kulturelle Felder und Gruppen erkundet und dabei f) versucht theoretische Erkenntnisse eher induktiv aus dem Datenmaterial zu erarbeiten

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(wenn auch deduktive und abduktive Prozesse eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen). Dieser Erkenntnisgewinn gelingt g) über die Rekonstruktion der Konstruktionsbedingungen sozialer Wirklichkeiten durch h) interpretative Erschließung der Daten in hermeneutischer Sinnauslegung (die auch Basisoperation kodierender Verfahren ist). Weniger als die Repräsentativität der Ergebnisse steht dabei i) die Typizität und typologische Variation der Sinnzusammenhänge im Fokus der Auswertungsarbeit. Eine solche Forschung grenzt sich ab von standardisierten, linearen Verfahren, die eher deduktiv hypothesentestend operieren und dabei positivistisch messend, statistisch berechnend und an Repräsentativität orientiert an der Beschreibung und Erklärung von Wirkungszusammenhängen interessiert sind. Eine dergestalt verstandene qualitative Forschung eignet sich vorrangig für un(ter)erforschte Felder und Fragen, v.a. für schwer zugängliche Felder und Populationen (z. B. Rockerclubs vgl. Schmid 2015), die sich schwerlich mit einem standardisierten Fragebogen beforschen lassen. Sie eignet sich aber auch für die Vertiefung von Forschungsfragen und -erkenntnissen, gerade dort, wo Innenansichten von Interesse sind (z. B. zur Autopornografie Boll 2018), aber auch, wo es um Prozesse (zum Trampolinspringen vgl. Singh 2019; allgemein vgl. Grenz 2017) und kulturelle Kontexte geht (zum Sportklettern vgl. Kirchner 2018) und wo typologische Fragen (vgl. zur Schönheitschirurgie Wustmann 2021) und Theoriebildung das Ziel sind. Denn für solche Anliegen sprechen die Vorteile, die eine solche qualitative Forschung mit sich bringt: die Offenheit und Flexibilität in der Forschung, die Nähe zum Untersuchungsgegenstand und der daraus ermöglichte Detailgrad der erhebbaren Daten, die Möglichkeitsräume im Rahmen des zirkulären Forschungsprozesses, kreative Lösungen und methodische wie theoretische Innovationen hervorzubringen, sowie der Rückgriff auf ein vielfältiges Arsenal an methodisch-theoretischen Werkzeugen. Wobei eben auch die forschende Person und ihr Erleben nicht zwingend ausgeschlossen, sondern auch produktiv in die Datenerhebung und Auswertung eingewoben sind (z. B. in der Autoethnografie, der lebensweltanalytischen Ethnografie usw.). Diese Vorteile bringen jedoch auch Nachteile mit sich, derer man sich gewahr werden sollte. Die ‚Schattenseite‘ der Offenheit der Forschung sind Schließungsprobleme, v.a. mit Blick auf unerschöpflich erscheinende Datenquellen und endlos mögliche Interpretationsschleifen. Qualitative Forschung ist darin unübersichtlich und man kann leicht vom Weg abkommen und das Ziel aus den Augen verlieren, nicht nur, wenn man nicht mehr aus dem Feld zurückfindet (wie es beim ‚going native‘ droht). Interpretation sind eben keine ‚Rechenoperationen‘, die Ergebnisse ‚ausspucken‘, wenn man den Schritten folgt. Vielmehr handelt es sich um ein Kunsthandwerk (vgl. Eisewicht 2021), welches

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aus mehr als rein handwerklichen Arbeitsschritten besteht und darin ein Stück weit unkontrollierbar ist. Auch aufgrund vergleichsweise weniger Fälle stellen sich Fragen nach der Generalisierbarkeit der Ergebnisse und Präsentations- und ggf. Legitimationsprobleme in der Darstellung. Das heißt, das, was erkenntnisversprechend ist, was auf persönlicher Ebene auch den Reiz und die Freude von Qualitativer Forschung ausmacht (vgl. Strauss 2004), birgt auch Gefahren des Scheiterns, der Frustration und Sackgassen, die selten in Methodenbüchern Erwähnung finden. Anhand der hier dargelegten Vor- und Nachteile heißt ein Forschungsdesign zu entwickeln auch, zunächst zu prüfen und zu argumentieren, ob und welche qualitative Forschung überhaupt geeignet ist, um welche Forschungsinteressen zu verfolgen. Und: Bei dieser Eignung spielen nicht nur vermeintlich objektive Faktoren eine Rolle, sondern auch die ganz eigene Passung zum Forschungsdesign (und mitunter die ganz persönliche Eignung und Kunstfertigkeit im Umgang mit bestimmten Forschungsstilen; als „extra-methodologische“ Anforderungen an qualitative Forschung am Beispiel der Ethnografie vgl. Schmid 2015; Schmid/Eisewicht 2022). Es kann aufgrund der Alltagsnähe methodischer Grundoperationen – z. B. der Interpretation; vgl. Eisewicht 2021 – und der Themen vermeintlich vielleicht „jeder Idiot“ (Evans-Pritchard 1976: 243) qualitativ Forschen, es ist aber nicht jeder Forscher und jede Forscherin für jede Forschung geeignet bzw. es kann nicht jeder Forscher und jede Forscherin jede Forschung gleich gut durchführen. Gute Forschungsdesigns helfen, diese Eignung systematisch zu reflektieren und die eigenen Forschungsentscheidungen zu argumentieren und ggf. verteidigen zu können – und sie sind auch hilfreich, um mit Fehlschlägen, Problemen und Sackgassen in der eigenen Forschungsarbeit umzugehen. Gerade bei der eingangs beschriebenen nicht seltenen Vor-Entschiedenheit der Forschung hinsichtlich der Methoden erscheinen Forschungsdesigns eher lästig, da in ihnen eben das Vorentschiedene lediglich wiederholt wird (entschieden wird und wurde es sozusagen woanders; z. B. wenn Forschungsseminare schon eine bestimmte Methode/Datensorte vorgeben und man dann ‚nur‘ noch ein passendes Thema sucht). In einer dazu entgegengesetzten Forschungshaltung, welche die Pluralität der Zugänge in Erhebung und Auswertung ernst nimmt, welche vom Gegenstand aus nach passenden Methoden fragt und nicht umgedreht, sind Forschungsdesigns gleichsam selber Werkzeug und ‚Problemlöser‘ (vgl. Bethmann 2020). Problemlöser in zweierlei Hinsicht (zum Verständnis von Handlungsproblemen vgl. Eisewicht 2015: 30ff.): Erstens, indem aus ihnen Kriterien ableitbar sind, welche helfen, adäquate Methodenlösungen für dringliche Forschungsprobleme zu finden, die angemessen für das eigene Forschungsinteresse sind. Zweitens, um im Falle verschiedener Handlungsmöglichkeiten unter diesen kompetent auswählen zu können.

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3 Was sind (gute) Forschungsdesigns? Ein Forschungsdesign soll heißen die Gesamtheit aller Entscheidungen und Entscheidungsregeln, die das Vorgehen bei einer Untersuchung bzw. einer Studie betreffen. Jeder wissenschaftlichen Arbeit liegt ein solches Design implizit oder explizit zugrunde. Es stellt Verbindungen zwischen dem/den Erkenntnisinteresse/n, dem/den Datenmaterial/ien und deren Erhebung sowie der/n Auswertungsmethode/n her. Dabei werden die Verbindungen hinsichtlich ihrer Grundannahmen reflektiert und die eigene beabsichtigte Forschungsarbeit an andere Forschungsarbeiten angeschlossen. Zu einem Forschungsdesign gehört die Klärung einer Reihe an Fragen, die anfangs durchaus einfach gehalten sein können: Was will ich wissen? Wie kann ich das, was ich wissen will, herausfinden? Wie gehe ich vor? Was soll bei dem, was ich tue, idealerweise herauskommen? Wie lange dauert es, das herauszufinden, was ich herausfinden will? Wie viel kostet das, was ich tun will? Und welchen Nutzen (für wen) verspricht das, was ich erforschen will? Solche Fragen können sich in den Antwortversuchen immer weiter verästeln, wie sich auch die Antworten darauf im Laufe zirkulärer Forschung stetig verändern können, bis sie forschungspragmatisch (aufgrund von Ressourcen- oder Zeitknappheit) festgelegt werden müssen. Forschung beginnt dabei mit einer guten Ausgangsfrage – und qualitative Forschung kommt im idealtypischen Wechsel aus Erhebung und Auswertung immer wieder auf diese zurück, womit auch immer wieder Anpassungen, Neuund Umformulierungen möglich oder notwendig sind. 3.1 Die Formulierung eines Forschungsinteresses bzw. konkreter Forschungsfragen Jedes Forschungsdesign beginnt mit einem Abstecken der Forschungsinteressen. Dies können detaillierte, explizite und auch hypothesentestende konkrete Fragestellungen sein. Es kann sich besonders zu Beginn der Forschungsarbeit aber auch um eher grob umrissene Themenfelder handeln (vgl. Breuer et al. 2019: 151ff.; Strauss/Corbin 1996: 19ff.). Je nach Methode und Forschungsstil finden sich hier verschiedene Präferenzen – letztlich gilt es aber zu balancieren zwischen eher offenen oder geschlossenen Fragen, breiteren oder engeren Forschungsinteressen und damit zwischen größerer Sicherheit durch Eingrenzung oder stärkere Flexibilität durch Offenheit. Forschungsfragen können, wie erwähnt, a) vorgegeben sein – dann gilt es, so möglich, v.a. eine zur Frage passende methodische Vorgehensweise zu finden. Sie können aber auch b) aus theoretischen Vorarbeiten stammen

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(hier besteht die Gefahr, die Daten und Ergebnisse dann in einen bestimmten theoretischen Rahmen zu ‚pressen‘ und weniger Erkenntnisse aus dem Feld und der eigenen Forschung zu gewinnen). Forschungsfragen können c) aus dem thematischen Forschungsstand abgeleitet werden, wo andere Forscher und Forscherinnen Lücken benannt oder fortführende Fragestellungen entwickelt haben. Felder und Interessen können d) schlicht Gelegenheiten entspringen, wobei hier die Gefahr besteht, lediglich zugängliche Felder und Daten zu erheben – Forschungsinteressen und Fragen müssen hier stärker als bei jenen aus der Theorie oder dem Forschungsstand erst in den ersten Schritten entwickelt und wissenschaftlich analytisch gehoben werden. Dies gilt auch e) für jene Forschungsinteressen, die sich aus persönlicher Neugier entwickeln. Hierbei ist die größte Gefahr, dass eigene Vorannahmen, Wertsetzungen und Affiziertheiten die Analyse verzerren. Hier ist besonders gefordert, die eigene Position zum Feld und der Fragestellung zu reflektieren und ggf. Gegenmaßnahmen zu ergreifen, diese einklammern zu können. Sich dieser (Problem) Quellen von Forschungsfragen gewahr zu werden, kann v. a. dabei helfen, Probleme und Sackgassen in der Forschungsarbeit zu bewältigen (z. B. im Wechsel oder der Ergänzung von Forschungsfragen aus der Literaturrecherche oder dem Suchen von Gelegenheiten usw.). Eine weitere Heuristik zur Generierung, Adaptierung und Entwicklung von Forschungsfragen im Forschungsprozess ist es, eigene Forschungsfragen ins Verhältnis zu setzen. Geht es beispielsweise a) um die Replikation einer Studie oder Theorie (nur in einem anderen Feld, zu einer anderen Zeit usw.) oder um die Elaboration eines Widerspruchs zu diesen? Oder geht es b) um ein gesellschaftlich relevantes soziales Problem und dazu auffindbare Lösungsversuche oder soll die eigene Forschung Lösungsvorschläge zum Ziel haben? Eine dritte Spannung besteht im Fokus auf Normen und Normalitäten und deren Stabilisierung im Feld, den Praktiken und Strukturen oder um Abweichungen, Devianzen und Pathologien. Eine vierte Möglichkeit der Einbettung der eigenen Forschungsfrage liegt zwischen den narrativen Polen der Stabilität und Ordnung sozialer Phänomene und der Beschreibung und Analyse sozialen Wandels oder der Konsequenzen soziotechnischer Innovationen. Beides – Quellen von Forschungsfragen und Relationierungen von Forschungsinteressen – sind Werkzeuge zur Entwicklung und Reflektion der eigenen Forschung, um aus einer Vielzahl an möglichen Pfaden der eigenen Arbeit besser auswählen zu können oder um bei Mangel an Ideen neue Pfade entdecken zu können. Eine ‚gute‘ Forschungsfrage ist hinreichend klar formulierbar, sie ist darin erforschbar (siehe die folgenden Unterkapitel), d. h. in einen Zusammenhang zu stellen mit verfügbaren Methoden (der Erhebung und Auswertung), angewandten theoretischen Perspektiven und Forschungs-

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ständen. Sie macht dabei einen potentiellen Erkenntnisgewinn bzw. ein Erkenntnisversprechen der Forschung deutlich, d. h. sie ist hinreichend originell und (gesellschaftlich, wissenschaftlich, wirtschaftlich, politisch usw.) relevant. Handelt es sich um mehrere Forschungsfragen (in verschiedenen Frageclustern), dann stehen gute Forschungsfragen in einem sinnvollen (konsistenten und kohärenten) Zusammenhang. 3.2 Von der Forschungsfrage zum Forschungsdesign Gute Forschungsfragen spiegeln sich in einem Forschungsdesign und ein solches steht in jedem Entscheidungsschritt in Bezug zur Forschungsfrage bzw. zum Forschungsinteresse. Differenzierter verstehen wir darunter folgende acht Aufgaben: • Die Klärung der Frage, ob und wie sich das gewählte Thema konkret operationalisieren (d. h. empirisch „messbar“ machen) lässt: Nicht nur quantifizierende Forschung muss sich die Frage stellen, wie sie die soziokulturelle Wirklichkeit (ver-)misst. Auch qualitative Forschung muss Forschungsfragen zerlegen und für die Forschungsarbeit handhabbar machen; z. B. durch vorläufige Definitionen des Phänomenbereichs und seiner Elemente, die dann in der Forschung wiederum überworfen und verfeinert werden. Daraus lassen sich Handlungsanleitungen entwerfen, wie das, was man meint, erhebbar, d. h. in Daten transformiert und verarbeitbar gemacht werden kann. Ohne eine vorläufige aus Theorie/Forschungsstand/Empirie gewonnene und zugleich konkretere Vorstellung davon, was das Feld und das Interesse meint, fällt es schwer, z. B. Fragen für einen Interviewleitfaden, ein Beobachtungsprotokoll usw. zu erstellen und es fällt schwerer, in der Analyse aus unzähligen Daten und dazu möglichen interpretativen Ansätzen einen klaren Fokus zu setzen. • Rekonstruktion des internationalen Forschungsstandes: Ziel der Rekonstruktion eines Forschungsstandes soll sein, aufzuführen, was zur in Frage stehenden Thematik bekannt ist, und zu rekonstruieren, wie es (von wem) bekannt gemacht worden ist. Das zentrale Problem bei dieser Arbeit ist, im Forschungsstand die für unser eigenes Forschungsinteresse relevante Lücke bzw. eben das Desiderat herauszuarbeiten. Hier stellen sich mitunter Fragen und Probleme der sprachlichen, historischen, wissenschaftlichen, disziplinären, subdisziplinären und intertextuellen Grenzziehung. Zumindest angerissen, gibt es auch hierfür verschiedene Strategien zur Forschungsstandrekonstruktion. Maßgeblich ist hier die Ausschöpfung und Kenntnis von Quellen (Bibliothekskatalogen, digitalen Datenbanken

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aber auch befreundeten Expertinnen und Experten usw.). Häufiger als der Einfall aus dem Nichts ist es die gründliche und umfassende Recherchearbeit, das Kennen von weniger bekannten Quellen und Schlagwörtern, das mitunter unerkannte Pfade und neue Wege eröffnet. Zentrale Verfahren sind hierbei: a) die Erstellung von Schlagwortkatalogen (erforderlich ist hier ein bestimmtes Vorwissen, aber auch eine Kreativität im Finden und Kombinieren von Begriffen und eine Ausdauer im Verfolgen mehrerer Schlagworte), b) das Schneeballprinzip, d. h. die Suche nach neuen und weiteren Quellen über Literaturverzeichnisse von einem einschlägigen, umfassenden Starttext aus (z. B. ein Handbuchartikel, Einführungsbuch) oder aber über die Suche danach, welche Texte besonders häufig und wo zitiert werden, c) sozusagen als Antidot gegen die Gefahr der Filter Bubble des Schneeballprinzips die Suche nach Büchern oder Texten, welche diese Textblase zum Platzen bringen, weil sie vielleicht kaum rezipiert wurden, aus anderen Disziplinen stammen usw., d) in Rückgriff auf das soziale Kapital die Befragung von einschlägigen, ‚sachkundig‘ geltenden Freunden und Kollegen. Wichtig ist, dass Forschungsstände weder als bloße Ansammlungen von Textverweisen Sinn machen (in teils endlosen Aneinanderreihungen von Autoren und Autorinnen und Jahreszahlen), noch in interessenlosen Inhaltswiedergaben. Vielmehr erfordert ein Forschungsstand eine Handhabung und Einordnung in das eigene Projekt. Man sollte also mit den Texten weder unkritisch noch unpräzise umgehen. Hilfreich sind hierbei folgende Fragen: a) Was können wir im Hinblick auf meine Forschungsfrage(n) aus der Lektüre lernen? b) Welche noch nicht oder nur wenig bedachten, aber wertvollen Hinweise finden sich für meine Forschungsfrage(n)? c) Welche Forschungslücken lassen sich anhand der Lektüre erkennen bzw. entdecken? Auswahl eines Forschungsmodus: Oft werden Forschungsdesigns auf Methoden der Erhebung und Auswertung reduziert. Vorgelagert sind jedoch Fragen und Möglichkeiten von grundlegenden Forschungsmodi. Vier Forschungsmodi lassen sich hier differenzieren: Erstens, experimentelle Settings. Untertypen sind dabei u. a. Feld- und Laborexperimente (wenig genutzt aber gleichsam prominent sind z. B. die sog. Krisenexperimente in der Ethnomethodologie). Zweitens, Fallanalysen. Hier kann danach unterteilt werden, wonach der Fall ausgewählt wird. Handelt es sich um einen extremen oder besonders seltenen Fall, um einen im Vergleich dazu besonders durchschnittlichen oder prototypischen Fall, um einen kritischen und gesellschaftlich relevanten Fall oder um einen neuralgischen Fall, der als eine Art Offenbarung, Scheideweg oder Zeitenwende gilt. Davon zu

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unterscheiden sind drittens komparative Studien im Querschnitt. Hier werden zum Zeitpunkt der Forschung Fälle miteinander verglichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt und mitunter in einer Typologie geordnet (vgl. Eisewicht 2018). Diese Vergleiche können zwischen allen Fällen oder zwischen Gruppen von Fällen (z. B. kulturvergleichend) angestellt werden. Viertens und seltener als Fall- und Querschnittsstudien gibt es auch qualitative Längsschnittstudien, in denen Zeitvergleiche innerhalb oder zwischen Fällen angestellt werden. Entsprechend des zirkulären Forschungsprozesses können die Modi gewechselt werden, eine Arbeit kann z. B. als Fallanalyse beginnen und im weiteren Verlauf zu einer komparativen Querschnittsstudie umgearbeitet werden. Zu reflektieren ist dabei, welche Vor- und Nachteile damit einhergehen. Eine Fallanalyse erlaubt es, sich zeitlich intensiver und extensiver mit reichhaltigem Datenmaterial auseinanderzusetzen (was aber entsprechend umfangreich und detailliert erhebbar sein sollte). Fallübergreifende Forschung erlaubt dagegen die Analyse vielfältigeren und diverseren Materials, was aber weniger Zeit für das einzelne Datum lässt. Erläuterung der gewählten Datensorten und Verfahren der Datenerhebung (unter Nachweis der einschlägig relevanten Literatur): Auch hinsichtlich der erhebbaren Datensorten stehen eine Reihe an Möglichkeiten und Entscheidungen an. Unterscheiden lässt sich hier auf drei Ebenen. Die erste Unterscheidung ist die in ‚natürliche‘ und ‚künstliche‘ Daten. Natürliche Daten sind nicht von Forschenden provoziert, darin weniger durch den Forschungsprozess kontrolliert, aber auch hinsichtlich ihrer Entstehung teils unklarer Herkunft (darunter fallen z. B. Posts und Kommentare in den Sozialen Medien, Zeitungs- und Filmbeiträge etc.). Künstliche Daten sind von Forschenden provoziert (z. B. durch Fragen in einem eigens angesetzten Interview), darin stärker kontrollierbar (z. B. in der konkreten Fragestellung), aber auch verzerrungsanfällig (z. B. durch den oder die anwesenden Forschenden). Auf der zweiten Ebene lässt sich unterscheiden zwischen der „registrierenden“ und „rekonstruktiven Konservierung“ (Bergmann 1985). Registrierende Konservierung meint die technisch unterstützte Fixierung des Geschehens (durch Videokamera, Aufnahmegerät, Screencapture u.Ä.), während in der rekonstruktiven Konservierung die Fixierung durch die forschende Person stattfindet und damit bereits interpretative Elemente enthält (z. B. in einem Beobachtungsprotokoll, Forschungstagebuch oder Erfahrungsbericht). Entscheidend ist hierbei, welcher Detailgrad erwünscht ist, was in der Situation von Anwesenden geduldet und erlaubt ist und was wie für die Analyse und Beantwortung der Forschungsfragen notwendig ist (eine Videoaufnahme ist also nicht

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immer geeignet oder besser, nur weil sie mehr erfasst als eine Tonaufnahme oder ein retrospektiver Erfahrungsbericht). Auf der dritten Ebene stellt sich die Frage nach den erhobenen Datensorten. Hierunter lassen sich differenzieren: Text/Sprachdaten, Audio-, Bild- oder Videodaten, digitale Daten oder Artefakte. Die erhobenen Datensorten sollten dabei zueinander in Verbindung stehen, wie auch in den Samplingtechniken und Analyseverfahren hinsichtlich datenspezifischer Eigenheiten Berücksichtigung finden. Erläuterung der Sampletechnik und Begründung des Samples (unter Nachweis der einschlägig relevanten Literatur): Qualitative Forschung ist weniger an Repräsentativität orientiert, weshalb aus den quantitativen Ansätzen stammende Vorgehensweise bei der Fallauswahl (Zufallsauswahl oder Quotenstichprobe beispielsweise) weniger hilfreich sind. Prominent ist der minimale und maximale Kontrast (vgl. Strauss/Corbin 1996), also die Suche nach möglichst ähnlichen oder divergierenden Fällen. Die Kriterien nach denen gesampelt wird, können von außen an die Daten angelegt werden (z. B. nach sozialstrukturellen Kriterien wie Alter, Geschlecht, Milieu etc.) oder sie werden aus der Analysearbeit selber gewonnen. D. h. das Sampling kann a priori festgelegt werden oder der nächste Fall, das nächste Datum wird jeweils erst nach der vorhergehenden Erhebung und Analyse bestimmt. Erläuterung der Technik(en) der Erhebung und Aufbereitung der Daten: In der Vielfalt der verschiedensten Erhebungsformate lassen sich vier Grundformen – Befragung, Beobachtung, Selbstbeobachtung und Teilnahme, sowie Dokumente und Artefakte – ausmachen. Wobei sich dann jeweils immer neue Formen ausdifferenzieren (z. B. bei Befragungen, Leitfadeninterviews, narrative, fokussierte Interviews etc., aber auch Paar- und Gruppeninterviews, Gruppendiskussionen usw.). Entscheidend ist auch hier die Passung zur eigenen Forschungsfrage (Eignen sich Interviews um das herauszufinden? Sind Videobeobachtungen in der Situation angemessen?). Darüber hinaus sind in einem Design aber auch Fragen danach zu beachten, wie die Daten aufbereitet werden: Welche Transkriptionssysteme (vgl. am Beispiel der Videotranskription Moritz 2014) kommen in welchem Detailgrad zum Einsatz? (Faustregel: So viel wie nötig, so wenig wie möglich; auch um Datenmengen verarbeitbar zu halten.) Welche Software (Hepp et al. 2021) unterstützt das Datenmanagement wie weit? Hier gibt es Verfahren, die stärker softwareunterstützte Analysen erlauben und möglich machen (z. B. in der Inhaltsanalyse) bzw. für die entsprechende Programme zur Verfügung stehen. Jedoch gilt dies nicht für jede Datensorte und jede Analysemethode. Darüber hinaus gilt es auch zu überlegen und darzulegen, wie die Daten (datenschutzkonform) archiviert, (forschungsethisch)

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anonymisiert und für die Weiternutzung (durch Dritte über entsprechende Datenrepositorien) aufbereitet werden können. Erläuterung der bzw. des vorgesehenen Verfahren(s) der Datenauswertung (unter Nachweis der einschlägig relevanten Literatur): Ebenso wie in der Datenerhebung haben sich eine Reihe an elaborierten Auswertungsverfahren etabliert, die teils auf bestimmte Datensorten und Verfahren spezialisiert sind. So gibt es bestimmte Theorie-Erhebungs-Auswertungssets, die aber durchaus begründet aufgebrochen und neu kombiniert werden können. Eine der zentralen Balancen in der Auswertungsmethode ist die Balancierung zwischen strenger Methodenanwendung (Rigor) und feldsensibler Anpassung und Methodeninnovation. Erläuterung der ‚Logik‘ der Theoriebildung bzw. Plausibilisierung des gewählten Theorieansatzes: Letztlich läuft qualitative Forschung auf mehr hinaus als eine Beschreibung der Sachverhalte. Die Beschreibung von Binnenperspektiven – vom ‚Fremden im Eigenen‘ und ‚Vertrauten im Fremden‘ kleiner und großer sozialer Welten – ist Grundlage aller darauf aufbauend Analysearbeit. Forschungsarbeiten können hier ‚bescheidenere‘ aber nicht weniger anspruchsvolle Ziele haben, Theorien ‚mittlerer‘ Reichweite zu erarbeiten (z. B. über eine bestimmte kulturelle Gruppe, Praktik usw.). Arbeiten können aber auch auf höhere Abstraktionsebenen abzielen (bis hin zu sozialtheoretischen oder gesellschaftsdiagnostischen Aspekten, die sich in den eigenen Daten zeigen). Hierunter fallen auch Überlegungen zur Ergebnispräsentation und -darstellung (in Aufsatz-, Buch- oder Filmform usw.), in denen das antizipierte Publikum und der gewünschte Effekt auf bestimmte Zielgruppen der Forschung Berücksichtigung finden (z. B. Gutachterinnen/Mentorinnen und Gutachter/Mentoren, Entscheidungsträger für gesellschaftliche Teilbereiche, die wissenschaftliche Community etc.)

Im Vergleich zu standardisierten quantifizierenden Verfahren sind Forschungsdesigns in der qualitativen Forschung bis zu einem gewissen Grad im Fluss. Entscheidungen werden stets entsprechend neuer Daten, neuer Analysen und neuer Ergebnisse hinterfragt, verworfen oder bestätigt. Dabei wird aber selten das gesamte Forschungsdesign umgeworfen. Vielmehr wird es verfeinert, werden Elemente ausgetauscht, die sich als hinderlich und nicht sachdienlich erwiesen haben. Hierfür hilft es eben, dieses stets entsprechend der hier dargelegten Aufgaben festzuhalten und auf die Zusammenhänge zwischen den Elementen zu achten. Forschungsdesigns erfüllen dann die Funktion, die eigene Forschungsarbeit und -entscheidungen zu dokumentieren, Entscheidungskorridore vorab abzustecken und darin Möglichkeiten ein- und auszuschließen, aber auch die eigene Forschung gegenüber anderen strukturiert präsentieren, Entscheidungen

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legitimieren und verteidigen zu können. Dabei gilt es aber, das Forschungsdesign – über die Phasen des Forschungsprozesses von der Fragestellung, über das Sampling, die Erhebung, Aufbereitung, Auswertung und Ergebnisdarstellung – im Kontext forschungspraktischer, -ethischer und gütesichernder Anforderungen zu betrachten.

4 Kontexte des Forschungsdesigns: Forschungspraktik, Forschungsethik und Forschungsgüte Forschungsdesigns sind keine Glasperlenspiele um ihrer selbst willen. Sie lassen sich zwar am Reißbrett vermeintlich perfekt planen, müssen sich aber in der konkreten Forschungsarbeit als tauglich erweisen. Gerade zu Beginn bleiben dabei oftmals forschungspraktische Limitationen ausgeblendet. Dazu gehören eventuelle Vorgaben durch Betreuerinnen und Betreuer, Förderlinien etc., vor allem aber auch Fragen der Ressourcenausstattung, der zur Verfügung stehenden Zeit, (Geld-)Mittel und technischen Ausstattung in Passung zu den für die jeweiligen Schritte erforderlichen Ressourcen. Hilfreich ist hierfür ein Zeitplan, der auch entsprechende Unwägbarkeiten berücksichtigt (Rückschläge, aber auch Zeitaufwand, um Zugänge zu erarbeiten usw.). Oftmals erscheinen forschungspragmatische Überlegungen wie unerwünschte Beschneidungen perfekt erscheinender und vorgestellter Forschungsprojekte. In der Sicherung der Machbarkeit der Forschung ermöglichen sie jedoch auch effektive und effiziente Forschungsarbeit. Und nicht zuletzt liegt auch eine zu erwerbende Forschungskompetenz darin, forschungspraktische Rahmenbedingungen adäquat und angemessen in Forschungsdesigns zu berücksichtigen. Konkret meint dies die Modularisierung von Arbeitsschritten, um Forschungsarbeiten entsprechend skalieren (wichtige Module abzuarbeiten, optionale ggf. zu streichen, zu erweitern usw.) und damit Forschungsdesigns adaptieren zu können. Ebenso erfolgssichernd sind notwendige forschungsethische Überlegungen bzw. moralische Herausforderungen. Dies meint in erster Linie, zu reflektieren, wo Beforschten, aber auch Forschenden Risiko und Schaden durch die eigene Forschung droht und wie dies abgewandt werden kann. Hierbei gilt es v.a. Maßnahmen zu prüfen, welche a) Beforschten ihre Beteiligung transparent und verständlich macht (üblicherweise in der Gestaltung und dem Einholen von Einverständniserklärungen) und b) Sicherungsmaßnahmen z. B. der Anonymisierung (vgl. Murphy/Dingwall 2007) zu gestalten. Dabei gestalten sich moralische Herausforderungen in der Forschungsarbeit oft kompliziert, da Forschende Anforderungen an verschiedene Rollen managen müssen und

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diese nicht immer reibungslos zueinander passen (als Forscherin und Forscher, Bürgerin und Bürger, aber auch als Privatperson und Bekannter bzw. Bekannte in Kontakt mit Beforschten; vgl. Eisewicht/Hitzler 2019). Das Erstellen und Managen von Forschungsdesigns ist in der systematischen Sichtbarmachung von begründeten Forschungsentscheidungen und der Reflektion der Vor- und Nachteile der gewählten Methoden ein Element zur Sicherung der Güte der Forschungsarbeit (zu Gütekriterien vgl. Steinke 1999). Forschungsdesigns begründen in ihrer Gesamtheit die Gegenstandsangemessenheit der Forschungsschritte im Verhältnis zu den eigenen Forschungsinteressen. Sie sind nicht der eigentlichen Forschung vorgelagert, sondern selbst ein wesentlicher Teil und darin Mittel zum Zweck ‚guter‘ Forschung.

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Homo ludens forscht im Felde: Stolpersteine als inspirierende Kraft ethnografischer Arbeit Jasamin Kashanipour

Keywords: Feldforschung, Ethnografie, Stolpersteine, Homo ludens, Transkulturalität

1 Die Begegnung mit Stolpersteinen Laut Lois Weis und Michelle Fine (2000: 111) gibt es Forschungsdilemmata, die typischerweise privat bleiben, nicht einmal in einer Fußnote artikuliert werden. Die beiden Autorinnen schreiben, „We enter with distinct subjectivities, bump into varied obstacles to the study, and seek to co-construct very different kinds of empirical materials. But we all hit speed bumps“ (Weis/Fine 2000: 67). Diejenigen von uns, die Auto fahren, kennen speed bumps als Geschwindigkeitsschwellen, unangenehme Ausbuchtungen, die mit Bedacht auf der Straße platziert wurden, um uns zu veranlassen, langsamer zu fahren, entweder weil wir uns vorsichtig durch den Bereich bewegen müssen, oder um uns zu warnen, wenn wir dazu neigen, von der Straße abzuweichen. In der qualitativen Forschung bezeichnen Weis und Fine speed bumps als retardierende Momente der Reflexion über die methodischen und ethischen Bedenken, die die Forschenden dazu bringen, langsamer und bedächtiger zu werden, um sowohl den Forschungsgegenstand als auch das Ziel besser zu erkennen. Speed bumps erlebte ich das erste Mal, als ich vor vielen Jahren in Teheran Mathematik studierte. Es dauerte nicht allzu lange, bis ich verstand, dass das Wesen des Mathematikstudiums aus der Begegnung mit Stolpersteinen1 bestand. Tagelang an einer einzigen Seite eines dreihundertseitigen Lehrbuchs zu sitzen und über dessen Inhalt zu grübeln, gehörte zu den Selbstverständlichkeiten unseres studentischen Alltags. Wichtiger als das Erreichen eines bestimmten Ergebnisses waren die Gedankengänge und das Bemühen, die 1

Ich verwende die Begriffe speed bumps und Stolpersteine in diesem Artikel synonym, obwohl ihre Begriffsinhalte nicht ganz deckungsgleich sind. Der Bedeutungshof des Begriffes Stolpersteine ist weiter und weniger scharf begrenzt als jener von speed bumps.

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Abfolge von Gedanken auf dem Papier zu formulieren. Stolpersteine und ihren Wert zu erkennen und sie zu einem Teil der Realität, der Lernkultur und letztlich der studentischen Forscheridentität zu machen, waren unausgesprochene Vorrausetzungen, um ein Mathematikstudium zu absolvieren. Dass es jedoch auch in den Sozialwissenschaften Stolpersteine geben sollte, war mir völlig unbekannt. Den Begriff speed bumps, wie ihn Weis und Fine in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften geprägt haben, lernte ich im Herbst 2006 in einer Lehrveranstaltung mit Lois Weis in Buffalo, USA, kennen. Damals wusste ich noch nicht, dass ich sehr bald im Rahmen eines ethnografischen Forschungsprojektes selbst von speed bumps, also Stolpersteinen, betroffen sein würde. Meine Gesprächspartner*innen waren Latinos und Latinas der zweiten Generation. In meinem Forschungsprojekt ging es darum, wie diese Erwachsenen unterschiedlicher sozialer und wirtschaftlicher Herkunft und beruflicher Position ihre vergangenen Erfahrungen mit Schule, Familie und Gemeinschaft reflektierten und inwieweit und auf welche Weise sie diese Erfahrungen mit ihrem aktuellen Leben und der Bewältigung aktueller Umstände verbunden wahrnahmen (Kashanipour 2007). Mehrmals kam es vor, dass ich Latinos und Latinas um ein Gespräch bat und ihnen meinen Forschungsgegenstand beschrieb und sie mir im Gegenzug Fragen stellten wie „Glauben Sie, dass ich zu der Gruppe der von Ihnen Beforschten dazu gehöre? Denn mein Background ist argentinisch.“ oder „Ja, sicher, ich würde sehr gerne reden, wenn Ihnen das weiterhilft. Aber ich komme aus Puerto Rico.“ Als ausländische Studentin der Erziehungswissenschaft in den USA hatte ich, wie auch meine Studienkolleg*innen, Begriffe wie Hispanic und Latino/a aus Lehrbüchern übernommen, in denen das Amt für Volkszählung demografische Informationen und Analysen über die Bevölkerung der Vereinigten Staaten bereitstellt. Dabei dachte ich, dass ich Begriffe aus einem akademischen Diskurs benutzte, aber dann erkannte ich bei den Anfängen meines Projektes die Komplexität dieser Begriffe. Bei der Suche nach Forschungsteilnehmer*innen änderte ich mehrmals die Begriffsverwendung von Latino/a zu Hispanic, dann zu Latin American, dann zu geografischen Begriffen wie Central and South American und so weiter, in der Hoffnung, nicht beleidigend oder ignorant zu sein und die passende Bezeichnung zu finden. Das half aber wenig und beantwortete nicht die Frage: Wie soll ich die Population, mit der ich forsche, bezeichnen? Ich war schon ziemlich nervös, weil ich das Gefühl hatte, ich fände für mein Projekt keine Teilnehmer*innen, die der Gruppe „Latinos/as“ angehören, deren Untersuchung ich mir in der Projektsitzung ausgesucht hatte. Mein Forschungsprojekt war nämlich Teil einer größeren kollektiven Forschungsstudie, in der jedes Teilprojekt eine bestimmte Population unter dem Dach einer

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gemeinsamen forschungsleitenden Frage untersuchte. Ich haderte also mit dem Problem der Selbst- und Fremdidentifikation meiner Gesprächspartner*innen, bis ich auf den Gedanken kam, genau diese Problematik und unsere Dialoge zu einem meiner eigentlichen Themen zu machen und die Bedeutung ihrer Geschichten aus der Perspektive meiner Gesprächspartner*innen genauestens zu schildern. Hier erlebte ich, wie ein speed bump, der mich lange beschäftigt und den reibungslosen Ablauf verzögert hatte, sich in einen Anstoß zu einem fruchtbaren ethnografischen Forschungskonzept wandelte.

2 Ethnografie in transkulturellen Gesellschaften Aus meinen Stolpersteinen lernte ich, wie ein Forschungsfeld als anthropologischer Ort verstanden werden kann. Edmund Leach (1967: 80), ein britischer Sozialanthropologe, der Kritik an der demografischen Konstruktion von Bevölkerungsgruppen übt, weist darauf hin, dass ein soziales Feld nicht aus Bevölkerungsgruppen besteht, sondern aus Menschen in Beziehung zueinander. Daher ist es in der ethnografischen Forschung von Bedeutung, bewusst ein Feld zu wählen, weil in dem alle beobachtbaren Phänomene eng miteinander verknüpft und voneinander abhängig sind. Geht man jedoch wie die Demografie von bestimmten Bevölkerungseinheiten aus, bedeutet dies, fälschlicherweise der Annahme nachzugehen, dass Menschen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in einer Gesellschaft in keiner Beziehung zueinander stünden (Leach 1967: 87). Die Schubladisierung von Menschen habe Folgen in der sozialwissenschaftlichen Forschung selbst: „the knowledge produced tends to present itself as authoritative and to leave relatively invisible the situatedness and partialness of the results“ (Malkki 2007: 170). Hierbei bestehe die Tendenz, Stereotype zu reproduzieren und den Weg eines TopDown-Ansatzes zu beschreiten. In einem Großteil der klassischen Anthropologie war die Analyseeinheit „eine Kultur“ oder „eine Gesellschaft“ als ganzes Universum, und der Wille zum Wissen wurde von holistischen, totalisierenden Forschungszielen angetrieben, das heißt, dem Wunsch und der Aufforderung, „alles“ zu wissen (ebd.: 171). Ein solcher anthropologischer Holismus war immer ein unerreichbares und falsches Ideal (vgl. Gupta/Ferguson 1997; Geertz 1973: 40ff.). Leach (1967: 78) schreibt, dass die Wahrheiten, die Anthropologen*innen entdecken, partikulare Wahrheiten sind, und wenn sie weise sind, werden sie äußerst vorsichtig sein mit Versuchen, ausgehend von diesen Besonderheiten und Partikularitäten zu verallgemeinern. Die Reaktionen meiner Gesprächspartner*innen, ob sie nun in mein Forschungsprojekt passten oder nicht, spricht

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dafür, dass nicht alle Mitglieder der Gruppe, auf die sich andere in den USA als Hispanics/Latinos beziehen, einen einzigen Namen verwenden, um sich selbst zu bezeichnen, oder irgendein Bewusstsein haben, eine einheitliche Gruppe zu sein. Für viele ist dies ein Thema, mit dem sie sich ein Leben lang auseinandersetzen müssen. Eine meiner Gesprächspartner*innen, 36 Jahre alt, kam im Alter von fünf Jahren aus Chile in die Vereinigten Staaten. Sie erzählte, dass sie sich immer noch gegen einige Bezeichnungen wehren und ihre Herkunft erklären musste. Sie sagte: „… sie können dir nicht sagen, wo Korea ist. Sie haben keine Ahnung, wo Chile ist. Sie denken, Südamerika ist Puerto Rico und Mexiko und das war’s. Alles andere spielt keine Rolle. Sie sagen: Oh, du bist Mexikanerin? Nein, ich bin aus Chile. Du bist also Mexikanerin? Nein, ich komme aus Chile.“ „Herauszufinden, dass man als das angesehen wird, was man nicht zu sein glaubt, ist erschütternd“, schreibt der in Kuba geborene amerikanische Philosoph Jorge Gracia (2000: 26). „Die Hispanic/Latino-Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten hat keine Gemeinsamkeiten. Aber das sollte nicht überraschen, da die Hispanic/Latino-Gemeinschaft außerhalb der Vereinigten Staaten auch nichts gemeinsam hat“ (ebd.: 22). Nach Gracia erzeugen die Begriffe Hispanic und Latino/a aus empirischen, moralischen und pragmatischen Gründen ein verwirrendes Bild. Gracia schreibt: The objection is substantiated by pointing out that “Hispanic” may be understood in a variety of ways – among others, territorially, politically, linguistically, culturally, racially, genetically, and pertaining to a class – yet none of these ways of understanding the meaning of “Hispanic” is effective in carving out an essence, that is, a property, or set of properties, which can be easily identified as essential to Hispanics. (Gracia 2000: 7) Da viele der Menschen, die als Hispanic bezeichnet werden, verschiedenen „Rassen“ (sic!) angehören, stellt Gracia in Frage, welche „Rasse“ überhaupt als Hispanic bezeichnet werden kann.2 Die Argumente gegen die Verwendung von

2

Gracia betrachtet vier lateinamerikanische Länder und vergleicht deren Bevölkerung: „In Argentina, the population is primarily Caucasian and of European descent; in Ecuador the population is predominantly Amerindian, composed of descendants of various tribes which were under Inca domination before the encounter; in Brazil, most of the population is of African origin or it is a mixture of African and Portuguese; and in Mexico the population is primarily of Amerindian origin and includes such different Amerindian peoples as the Maya and the Aztecs.“ (Gracia 2000: 22)

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Latino sind ähnlich wie die Argumente gegen die Verwendung von Hispanic; allerdings wird in einigen Fällen der Begriff Latino dem Begriff Hispanic vorgezogen, weil Mitglieder dieser Gruppe den Begriff Hispanic meist mit Spanien assoziieren, was einen ehemaligen Unterdrücker bezeichnet. Trotz dieser Bevorzugung lässt sich jedoch argumentieren, dass der Begriff Latino/a zu Unklarheiten führt. Latino/a bedeutet, lateinischer Herkunft zu sein, und die Lateiner waren die Menschen einer Gruppe um Rom, oder es bezieht sich auch auf bestimmte Teile Europas im Mittelalter, in denen die lateinische Sprache verwendet wurde, während die Bevölkerung Lateinamerikas nicht nur aus Menschen alter römischer Abstammung besteht (ebd.). Namen und Begriffe spielen eine wichtige Rolle. Wie bei allen Individuen beginnt die Identifikation mit einer Komponente wie der Selbstbenennung. Für den US-amerikanischen Mainstream spielt es jedoch keine Rolle, die Beziehung zwischen institutionell definierten Kategorien und der Selbstbezeichnung zu betrachten und auch zu überlegen, was es bedeutet, eine Bezeichnung zu tragen, die alle Menschen aus einem Kontinent in eine Gruppe, die unterschiedliche Merkmale ignoriert, „hineinzwängt“ (ebd.). Namen und Begriffe identifizieren Menschen. Namen und Bezeichnungen haben wichtige Implikationen für die eigene ethnische Identitätsbildung. Wie man benannt wird, zeigt, wie man wahrgenommen wird. Und „wie man wahrgenommen wird, bestimmt, wie man behandelt wird“ (ebd.: 46). Soviel zu meiner Projekterfahrung. Sie war ein Aha-Erlebnis: Je mehr ich mich an Lehrbuchwissen über Methoden, das heißt, an Methoden des gemeinsamen größeren Forschungsprojekts, das soziologisch und demografisch ausgelegt war, klammerte, desto mehr ging ich in die Irre. Die von demografischen Behörden zu statistischen Zwecken erfundenen Bevölkerungsgruppen haben mit dem sozialen Leben der Wirklichkeit nur wenig zu tun. Die Durchführung ethnografischer Feldforschungen erfordert von Forschenden den „Mut“, Methoden am Forschungsgegenstand und an das Forschungsfeld anzupassen oder sogar neu zu erfinden. „Much of the time the learning is autodidactic and actually occurs most directly during fieldwork“ (Malkki 2007: 182–183). Methoden sind demnach nicht etwas Fixes und Beständiges. Daniel Miller (2020: 6:44), ein britischer Sozialanthropologe, erklärt in einem im Internet abrufbaren Video zur Forschung in Krisenzeiten wie etwa zu Zeiten von COVID-19: „Your method is something that you learn [during fieldwork], not something that you start with“. Ich durfte also im Feld nicht wie ein Tennisprofi im Entscheidungsspiel meinen Strategieplan einfach umsetzen, meine eingelernten Schläge bedingungslos ausführen, um loszuschmettern und meine Auskunftspersonen mit einem Hagel an Fragen einzudecken. Es ist vielmehr von entscheidender

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Bedeutung, dass ich lernte, eine spielerische Haltung einzunehmen. So wie man sich bei einer „Jazzimprovisation“ (vgl. Malkki 2007: 182–186) unbedingt auf sein Gegenüber einstellen muss, wenn es ein gelungenes Spiel sein soll, nicht ein Wettkampf, muss man sich auch in der Feldforschung mit seinen Forschungspartner*innen auf ein Improvisationsspiel einlassen, in dem man an ihrem Alltag teilnimmt, mit ihnen Gespräche führt, ihren Erzählungen zuhört und ihre Perspektive in seiner Arbeit mimetisch-spielerisch nachzuahmen versucht. Laut Liisa Malkki, einer finnischen Anthropologin, gibt es viele improvisatorische Dimensionen der Wissensproduktion und des Schreibens im Allgemeinen, aber für die ethnografische Forschung ist Improvisation unverzichtbar: In anthropology, as long as it has been a recognizable discipline, there has been a tradition of improvisation. It is not the case that there is an old, stable tradition with a fixed battery of methods, one ‚correct‘ way of doing fieldwork, and then a later movement toward postmodern fragmentation and ‚anything goes‘ improvisation. Rather, improvisation is the tradition. (Malkki 2007: 180)

3 Homo ludens und das Spiel des Improvisierens: Gelebte Feldforschung Ethnografie ist mehr als eine Methode sozialwissenschaftlicher Forschung. Sie ist eine flexible Forschungsstrategie3, die das Leben, die Handlungen und Überzeugungen von Menschen in ihrem Alltagskontext untersucht. Ethnograf*innen versuchen, das Leben zu verstehen, wie es gelebt wird. Die Erkenntnisse beruhen vor allem auf der „Feldforschung“, bei der sie sich über einen längeren Zeitraum als Beobachter*in und als Teilnehmer*in in die Welt der zu untersuchenden Menschen begeben. Indem sie an den täglichen Lebenserfahrungen der Menschen teilhaben, werden sie auf die weniger sichtbaren Bedingungen und Situationen, die dieses Leben prägen, eingestimmt.

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Christian Lüders (2004: 393) stellt fest: „Kennzeichnend für ethnographische Forschung ist deshalb der flexible Einsatz unterschiedlicher methodischer Zugänge entsprechend der jeweiligen Situation und des jeweiligen Gegenstands – wobei nicht nur der Einsatz der Verfahren der Situation angepasst wird, sondern unter Umständen auch die Verfahren selbst“.

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Ethnografie hat ihre Ursprünge in der englischsprachigen Anthropologie des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. In einer klassischen ethnografischen anthropologischen Studie begibt sich der Forschende typischerweise zu den Angehörigen einer anderen Gesellschaft, die in der Regel geografisch und kulturell weit von der eigenen entfernt ist. Er oder sie lernt die Sprache der Menschen und nimmt, soweit möglich, an ihren täglichen Lebensaktivitäten teil, um ihre Überzeugungen, Weltanschauungen und Systeme der Bedeutungsgebung zu verstehen. Allerdings schließt der*die Anthropologe*in die Kluft zwischen sich selbst und „dem Anderen“ nie ganz. „Generationen von Anthropologen sind vor den Gefahren gewarnt worden, die kritische Distanz zu verlieren oder sich selbst als Mitglieder einer anderen Gesellschaft zu sehen“ (Duneier et al. 2014: 2). Dennoch geht man davon aus, dass Anthropolog*innen, je mehr sie in einen sozialen Kontext eintauchen, diesen umso besser verstehen. Aber was bedeutet es für uns heute, eine solche Methode auf die eigene Gesellschaft anzuwenden, eine Gesellschaft, die alles eher als kulturell homogen ist, da ja Menschen aus aller Welt auf einem gemeinsamen Territorium zusammenleben? Im Zeitalter der Globalisierung, in dem sich transkulturelle Gesellschaften entwickeln, sind sie von Fremden und „Anderen“ mitgeprägt, Menschen, deren Weltanschauung sich möglicherweise grundlegend von der eigenen unterscheidet. Ethnografie heißt heute daher, das Alltägliche mit neuen Augen zu sehen; zu versuchen, die Welt nicht nur des Fremden, sondern auch des Vertrauten, das meist nur ein Scheinvertrautes ist, zu verstehen, und den Alltag empirisch und theoretisch sowohl mit der Disziplin von Sozialwissenschaftler*innen als auch mit dem Abenteuergeist von interessierten und neugierigen Entdeckern zu erforschen. Der „ethnografische Blick“ ist demnach heute nicht mehr eine grundlegende Perspektive aus der Distanz und der Ferne, sondern richtet sich auf „die Unbekanntheit gerade auch jener Welten, die wir selbst bewohnen“ (Amann/Hirschauer 1997: 9). Die Sicht der Transkulturalität erweitert den Blick auf globale kulturelle „Landschaften“ (Appadurai 1996: 33), Orte, die stets von unterschiedlichen Lebenswelten durchdrungen sind, die aber auch je nach „Imaginationen von Personen und Gruppen“ (ebd.: 33) konstituiert werden, einander verändern und prägen. Menschen können daher gleichzeitig vielen sich überschneidenden sozialen Gruppen angehören, aber auch solchen, die keines von deren Merkmalen aufweisen, sondern lediglich Konstrukte der Imagination sind. Der Kern des ethnografischen Unternehmens liegt in der Annahme, dass die teilnehmende Beobachtung von Menschen in ihren alltäglichen Kontexten, in verschiedenen unstrukturierten Situationen über einen längeren Zeitraum, Anhaltspunkte dafür liefern kann, wie sie ihre Welt konstruieren und einen Sinn darin sehen.

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Als Forschende Teil dieses Alltags zu werden, ist eine der zentralen Herausforderungen der Feldforschung. Malkki (2007: 178) schreibt, „The broad point is that anthropological fieldwork is not usually a straightforward matter of working. It is also a matter of living. Ethnographic research practice is a way of being in the world. All this engages the senses and emotions, and it takes time“. In dieser Zeit können uns mehr oder weniger Stolpersteine begleiten. Schwierigkeiten, Abweichungen, Zwickmühlen und Dilemmata, die von qualitativen Forschenden als Verlangsamung wahrgenommen werden, sind jedoch besonders lebensnahe Momente in Feldforschungen.

Infobox 1: Ethnografie und die Kunst der Entschleunigung Es gibt viele verschiedene Zugänge zur Ethnografie, die sich auf experimentelle und ethnografische Methoden konzentriert, die kreative Künste, digitale Medien und sensorische Ethnografie integrieren und verschmelzen. Man lässt sich von kreativ-didaktischen und künstlerischen Methoden inspirieren, die Videoexperimente, „Forumtheater“ (Boal 1980), das „soziale Drama“ der performativen und reflexiven Anthropologie (Turner 1982) und ethnografisches Zeichnen im Modus eines „graduellen Blicks“ (Kashanipour 2021) mit kritischer Wissenschaft verbinden. Sie alle zeichnen sich durch eine mimetische und reflexive Herangehensweise sowohl für die Praxis als auch das Theoretisieren aus. Diese Kreativität wirkt sich auch auf die Art und Weise aus, wie ethnografische Forschung durchgeführt wird. In vielen Fällen bewirkt dies auch eine Entschleunigung des Forschungsprozesses, die „Aufmerksamkeiten“ im Sinne von „sich berühren lassen“ (Rumpf 2015) stärkt. Siehe auch www.imaginativeethnography.org

In ähnlicher Weise wie Malkki zieht Tim Ingold keine Grenze zwischen dem Leben und der Feldforschung. In einem Interview erklärt er: Life is fieldwork and fieldwork is life. I don’t think that, as we study, we should be partitioning off the field, as the place where we collect the materials, from university, or wherever, where we analyse and present it. It doesn’t matter where we are! And you don’t have to go anywhere to do anthropology because, wherever you are, the world is around you. So the point about fieldwork is simply that it enables us to bring more people into the conversation, to draw on a wider range of wisdom and knowledge, than if we only talked amongst ourselves. (Ingold 2013: 289)

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Genauso wie das Leben kann auch die Feldforschung ein ernsthaftes Spiel sein.4 Das Spiel „ist eine sinnvolle Funktion. Im Spiel ‚spielt‘ etwas mit, was über den unmittelbaren Drang nach Lebensbehauptung hinausgeht und in die Lebensbetätigung einen Sinn hineinlegt“ (Huizinga 1940: 2). Der niederländische Historiker Johan Huizinga (1940: 9) schreibt in seiner Studie über den Homo ludens: „Sobald wir anstelle von ‚Spiel ist Nichternst‘ sagen ‚Spiel ist nicht ernsthaft‘, lässt uns der Gegensatz schon im Stich; denn Spiel kann sehr wohl ernsthaft sein“. Feldforschung ähnelt dem Spiel in ihrer Ernsthaftigkeit, aber auch in ihrer Spannung. Das „Spannungselement spielt sogar eine ganz besonders wichtige Rolle in ihm (im Spiel, J.K.). Spannung besagt: Ungewissheit, Chance. Es ist ein Streben nach Entspannung. Mit einer gewissen Anspannung muss etwas ‚glücken‘“ (Huizinga 1940: 17). Was könnte das für die Forschung bedeuten? Ein zentraler Aspekt der Ethnografie ist, dass sie nicht stark von einem strengen Forschungsdesign oder einer anfänglichen Forschungsfrage abhängt (Duneier et al. 2014: 3). Die Formulierung einer passenden und ausgereiften Fragestellung erfolgt oft erst im Feld, da die Merkmale und Geschehnisse in einem Feld für Forschende nicht vorhersehbar sind. Auch dies ähnelt einem Spiel. Folgt man dem französischen Soziologen und Philosophen Roger Caillois (1958: 163), der Huizingas Ansatz weiterentwickelt hat, ist der Ausgang eines Spiels stets unvorhersehbar und auch dessen Ablauf unbestimmt: Ein Spiel birgt Überraschungen. In gleicher Weise sind Überraschungen das Wesen der Ethnografie, in der die Forschung manchmal der Zufälligkeit und der Entdeckung wertvoller Dinge geschuldet ist, nach denen man ursprünglich nicht gesucht hatte. Teilnehmende Beobachtung bedeutet im Grunde, dass ein enger und offener Kontakt mit den beteiligten Akteur*innen in ihrer natürlichen Umgebung stattfindet. Da man selbst Teil des untersuchten Feldes wird, gehört es zum Spielcharakter der Feldforschung, die Balance zwischen „Nähe“ und „Distanz“ zu halten. Laut Brigitta Hauser-Schäublin (2003: 42) bedeutet Teilnahme Nähe und Beobachten Distanz: „Teilnehmende Beobachtung setzt sich deshalb aus widersprüchlichem Verhalten zusammen, nämlich so zu sein, wie einer, der dazu gehört und gleichzeitig mit einer Wahrnehmung wie einer, der außerhalb steht“. Ist man zu nahe, wird dies mit dem Begriff „going native“ beschrieben. Daher ist Distanz, die den fremden Blick auf vertraute Dinge und Umstände 4

Im Unterschied zu Caillois (1958) sehe ich Spiele nicht als vom Leben abgegrenzte alternative Welten, sondern als eigentliche Wesenszüge des Lebens, allein deshalb, weil sie in der Triebstruktur des Menschen begründet sind und dem Lustprinzip genauso wie dem Realitätsprinzip entsprechen. Wie Ingold feststellt, ist Feldforschung Leben und Leben Feldforschung, daher gilt der Spielcharakter auch für die Feldforschung.

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herstellt, von Bedeutung – genauso wie die Nähe von Bedeutung ist. „Die Analogie zur Situation des Spielers, wie Huizinga sie konzipiert, ist unübersehbar: Auch er befindet sich immer zugleich ‚drinnen‘ und ‚draußen‘, in der Spielwelt, sofern er der Illusion unterliegt, und jenseits ihrer, sofern, er sie als Spiel durchschaut“ (Moser 2016: 204). In dieser Wechselwirkung zwischen der persönlichen Erfahrung des Subjekts und der des Forschenden liegt die Ethnografie (Duneier et al. 2014: 2–3). Es ist nie einfach, die richtige Balance zwischen subjektiver Einsicht, Empathie und wissenschaftlicher Sorgfalt zu finden.

4 Reflektierte Subjektivität und Positionalität – das Spiel des forschenden Selbst Nach Malkki (2007: 164) ist Ethnografie mittels situierter, langfristiger und empirischer Feldforschung nicht nur als eine Gattung des Schreibens und eine Praxis der Repräsentation zu verstehen, sondern zugleich als eine kritische theoretische Praxis. Hierbei spielt die Offenlegung der Perspektive der Akteur*innen und die der eigenen Subjektivität eine Rolle. Die Ethnografie betont den Wert der persönlichen Erfahrungen und ist an den Interpretationen interessiert, die Menschen in diese Erfahrungen einbringen. Das Miterleben im Feld und das Verfassen gewonnener Erkenntnisse aus der Sichtweise der Angehörigen gelten daher als eines der Gütekriterien ethnografischer Arbeit. Es geht nicht nur darum, das Alltägliche, das Gesehene und das Gehörte zu beschreiben, sondern es auch ein Stück weit zu kontextualisieren. Habe ich die Stimmen und Geschichten von Individuen mit den historischen, sozialstrukturellen und ökonomischen Verhältnissen, in denen sie entstanden sind, in Verbindung gebracht?

Infobox 2: Bourdieus „Theorie der Praxis“ (1976) [1972] als Grundlage der Ethnografie Die „Theorie der Praxis“ bezieht sich nicht nur auf die verbal geäußerten Ansichten, Weltdeutungen und Normen, die von Akteur*innen dargelegt werden, sondern schließt auch deren Handeln mit ein. Über das Miterleben des Handelns erfassen Ethnograf*innen die Bedeutung unterschiedlicher Lebenswelten. Während Umfrageforscher*innen eine gute Vorstellung von der Art der Themen haben müssen, über die sie durch Fragebögen etwas erfahren wollen, lassen sich Ethnograf*innen, die sich in eine „natürliche“ Umgebung begeben, eher von dem überraschen, was sie entdecken.

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Demnach basiert die Ethnografie nicht ausschließlich auf Interviews, auch wenn Interviews oft Teil der Forschung sind. In der Tat ist eine der großen Stärken der Ethnografie, dass sie nicht auf im Voraus zusammengestellte Fragen beschränkt ist. Interviews können ungewollte Richtungen einschlagen. Die ethnografische Untersuchung von Lebenswelten kann nur dann gelingen, wenn Forscher*innen und Akteur*innen gemeinsam die Themen und Schwerpunkte festlegen.

Nicht zu vergessen ist, dass wir erzählende Wesen sind, die mit den Geschichten anderer verwoben sind. Diese Art und Weise, reflexiv zu sein, die Präsenz des forschenden Selbst in der Ethnografie innovativ zu erzählen, schafft wiederum sehr bedeutende Konsequenzen in Bezug auf unsere und die Geschichten der anderen. Als meine Gesprächspartner*innen über „in-groups“, „out-groups“ und Rassismus sprachen, empfand ich meinen Status als „international student“ in den USA an dieser Stelle als Vorteil. Für meine Forschungsteilnehmer*innen war ich eine Person, die einen „doppelten Außenstehenden“-Status hatte. Zum einen gehörte ich nicht zur Gruppe der Latino/as, was mich zu einer Außenstehenden – einem Mitglied der out-group – machte. Dann gehörte ich aber auch keiner anderen US-amerikanischen Gruppe an, was mich wiederum zur Außenstehenden machte, also einer „doppelten Außenstehenden“. Diesbezüglich hatten meine Gesprächspartner*innen das Gefühl, einen „sicheren Raum“ betreten zu haben. Ich stelle mir vor, dass sich die Art und Weise, wie sie ihre Geschichten erzählten, gewandelt hätte, wenn ich keine doppelte Außenstehende gewesen wäre. Ethnografie ist eine zutiefst persönliche Erfahrung. Die Forschungsfragen, die sich im Laufe des Prozesses entwickeln, sind manchmal teilweise in der wissenschaftlichen Literatur verankert, ergeben sich aber im Feld und letztlich aus persönlichen Interessen. Mit anderen Worten: Forschende wenden sich Themen zu, die ihre Neugierde wecken oder mit ihren Erfahrungen, Biografien und Interessen in Einklang stehen. Hierin liegt eine grundlegende Spannung: Das Erforschen dessen, was uns interessiert oder uns nahe steht, wirft eine Reihe persönlicher und ethischer Fragen darüber auf, wer wir sind, wie wir uns im Feld präsentieren, wie wir unsere Beziehungen zu den Teilnehmer*innen gestalten, wie wir unsere Ergebnisse darstellen, wie und wann wir in Bezug auf das, was wir im Feld sehen und erleben, intervenieren und wie und unter welchen Umständen wir uns von langfristigen Feldforschungsorten trennen oder nicht trennen. Im Wesentlichen geht es darum, wie wir unsere Identität(en) als Forschende im Feld wahrnehmen und inwieweit diese Identitäten mit unseren anderen, vielfältigen Nicht-Forscher-Identitäten verschmelzen und/oder mit ihnen in Konflikt geraten.

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Daher ist eines der wichtigsten Merkmale und Eigenschaften ethnografischer Arbeit die Reflexion der eigenen Subjektivität (vgl. Amit 2000; Geertz 1973; Gershon 2006; Pels 2000; Ruby 1982). Ethnografie bringt eine Art von Subjektivität mit sich, die z. B. bei statistischen Forschungsarten fehlt, was bedeutet, dass der*die Ethnograf*in sehr intensiv daran arbeiten muss, eine wissenschaftliche Disposition zu bewahren. Während es in einer ethnografischen Arbeit wichtig ist, sich der deutenden Forscherrolle bewusst zu sein und der Leserschaft die Forscherpositionalität (vgl. Bourdieu 2003; Salzman 2002) vor Augen zu führen, ist gleichzeitig das Bestreben wichtig, die Sichtweise der Gesprächspartner*innen in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen. Die Aufgabe der Ethnografie ist es, die Akteur*innen aus ihrer eigenen Sicht heraus zu verstehen5 und die Vielstimmigkeit in einer „Dichten Beschreibung“ (Geertz 1973) für die Leserschaft nachvollziehbar zu machen.

Infobox 3: Clifford Geertz‘ „Interpretative Anthropologie“ (1973): Die Suche nach Bedeutungen Laut Clifford Geertz (1973) entstehen Ethnografien nicht durch bloße teilnehmende Beobachtung, sondern sie bestehen aus vielen Momenten der Interpretation. Ethnograf*innen wenden sich deutend unterschiedlichen Lebenswelten, kulturellen Phänomenen und „selbstgesponnenen Bedeutungsgeweben“ zu. Ethnografie ist demnach auch eine vielschichtige Schreibpraxis. Geertz (1987: 9) entwickelte die „Dichte Beschreibung“ auf der Basis eines semiotischen Kulturbegriffs: „Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen.“ (Geertz 1987: 9)

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Verstehen im wissenschaftlichen Kontext hat nichts mit der eigenen Überzeugung oder den eigenen Wertvorstellungen zu tun. Es heißt nicht unbedingt Recht geben oder es persönlich genauso sehen oder gar sich mit etwas oder jemandem identifizieren. Verstehen heißt etwas zu begreifen, etwas Greifbares haben, das wir für andere und für uns selbst sichtbar, hörbar und wahrnehmbar machen.

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5 Kultur der Unsicherheit als inspirierende Kraft In meinen Lehrveranstaltungen erkläre ich sehr oft: Es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass man während eines Feldforschungsprojektes auf unerwartete Hindernisse stößt oder gelegentlich ein „Hoppala“ erlebt. Fühlen Sie sich frei, die Lehrveranstaltung als Forum dazu zu nutzen, um sich gegenseitig von diesen Pannen zu erzählen. Wir können alle davon lernen. Oft stellt sich heraus, dass der Stolperstein selbst zum interessanten oder vielleicht sogar zum wichtigsten Thema wird. Ich erzähle im Laufe des Semesters oft von meinen eigenen Stolpersteinen in meiner Feldforschungsarbeit und bin neugierig, ob meine Studierenden von sich aus, ohne meine Aufforderung durch eine Aufgabe, etwas von ihren Stolpersteinen erzählen. Mir fällt auf, wie schwierig das für sie ist. Lieber kommunizieren sie darüber mit mir per E-Mail oder in der Sprechstunde. Das fruchtbare Potential von Umwegen, Irrwegen und Sackgassen des Lernens und Forschens findet in der herrschenden Vorstellung von Didaktik bzw. Hochschuldidaktik und Forschungsmethodik keinen Platz. Einer, der sich kritisch mit diesem zweckrationalen Konzept auseinandersetzt, ist Horst Rumpf: Eine Vorstellung von Lernen ist damit gemeint, die das Gewinnen von Einsichten und von Fähigkeiten nicht durch Glättungen entqualifiziert; ein Lernen vielmehr, das den Gegenstrom realisiert – den Gegenstrom von Bildern, Zweifeln, persönlich-inoffiziellen Gegengedanken, Gefühlen, im Körper wurzelnden Handlungs- und Ausdrucksentwürfen, die quer stehen zur zügigen Stoffdurchnahme und Problemerledigung. (Rumpf 1986: 9) Was ich bei Studierenden in meinen Lehrveranstaltungen häufig zu beobachten glaube, ist die bereits in der schulischen Sozialisation verinnerlichte Angst vor Stolpersteinen und Fehlern sowie die unbewusste Angst davor, eigene Fehler und Lernprobleme zu thematisieren. Stolpersteine haben für die meisten eine negative Konnotation. „Die Künstlichkeit der Schule“, schreibt Rumpf (1986: 19), „das ist die Einübung in einen zivilisierten, d. h. aber gezügelten und zurückhaltenden Umgang mit der Welt und der eigenen Sinnlichkeit.“ Bildung im emphatischen Sinn und wissenschaftliche Erkenntnis erfordern jedoch die Befreiung von diesem Ballast der zweckrationalen Lernmaschinerie, um zu ermöglichen, was Rumpf (ebd.: 19) als „neugierige Welt und Selbstberührung“

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bezeichnet. Solange jedoch im Bildungssystem die Modellvorstellung davon, wie Unterricht abzulaufen habe, nach welchen Kriterien Bildung zu entwickeln sei, von einem Notensystem beeinflusst ist, werden Lernende versuchen, sich dagegen zu sträuben, eine offene Begegnung mit der Welt und sich selbst zu riskieren. „Was den Kursdurchlauf angeht, so geht in die Beurteilung der Lernleistung auch die Lerngeschwindigkeit ein: […] kurz gesagt: je schneller, desto besser und je fehlerloser, desto besser – beides im Hinblick auf das zu erreichende Endverhalten“, merkt Rumpf (1972: 104–105) kritisch an. Interessanterweise gilt dies nicht nur für das Lernen von Schüler*innen und Studierenden, sondern ist bedauerlicherweise auch ein wichtiges Kriterium zu Beurteilung von Lehrerleistung. Je mehr Kompetenz in je kürzerer Zeit vermittelt werden kann, desto besser fällt die Evaluation aus. Rumpf (1986: 9) kritisiert die Vorstellung von Lehrenden als „Lerndefektbeseitigern“ und „Kontrolleuren“. Ihm geht es um eine Dekonstruktion des zweckrational durchstrukturierten Bildungssystems: Und zwar mit der Absicht, ein künstlich angeleitetes Lehren und Lernen zu kultivieren, das den Lernweg nicht nach den Leitbildern eines Hürdenlaufs oder einer Schnellstraße oder einer Stufenleiter konzipiert; das den Lernenden nicht wie einen unpersönlichen, biographieneutralen, affektneutralen Träger von zu verbessernden allgemeinen Kompetenzen im Auge hat; und den Lehrer nicht wie einen Aufgabensteller, einen Lerndefektbeseitiger, einen Motivator und einen Kontrolleur. (Rumpf 1986: 9) Das von Rumpf kritisierte Bildungssystem ist der Ausdruck eines sozio-ökonomischen Systems, das für den Homo ludens nur Verwendung hat, wenn er auf entfremdete Weise spielt. Wenn, wie Caillois (1958) feststellt, Mimikry in ihrer korrupten Form dominiert, also in bloßer Nachahmung und Kopie, ist sie eine entfremdete Variante des Spiels. Manifest in geradezu grotesker Form wird diese Mimikry etwa in Konzept der ICH-Aktie (vgl. den Bestseller Lanthaler/Zugmann 2000), die dem Menschen ansinnt, sich seiner Karriere zuliebe in eine Marionette des Systems zu verwandeln. Der Homo ludens ethnographicus ist mein Gegenentwurf zur ICH-Aktie. Er ist einer, der die schulisch vermittelte Zweckrationalität, die Rumpf so nachhaltig kritisiert, bewusst verlernt hat („unlearning“ in Kashanipour 2021). Das Verlernen ist schwieriger als das Lernen, weil der Akt des Verlernens nicht fest in der Kultur unserer Pädagogik verankert ist; die Anhäufung von Wissen hingegen schon. Dieser Homo ludens ethnographicus beherrscht die Kunst der Entschleunigung (Kashanipour 2021), denn nur dadurch gelingt es ihm,

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Stolpersteine wahrzunehmen und sie nicht bloß als Hindernisse zu begreifen, sondern sich auf sie grübelnd und mit Deutungsmöglichkeiten spielend einzulassen. Er ist kein Einzelkämpfer wie der Ich-Aktionär, der nur das eigene Fortkommen anstrebt, sondern sucht nach Interaktion und kommunikativem Handeln im Forschungsfeld. Die „Kultur der Unsicherheit“ ist Rumpf (2005: 1) zufolge eine Weltzuwendung, die „empfänglich (ist) für Einmaligkeiten, für dramatisch-konflikthafte Züge, die expressive Wucht von unvorhersehbaren Geschehnissen“. Sie ist die Lebenswelt des Homo ludens ethnographicus, auch wenn sie im herrschenden Alltagsverständnis von Wissenschaft keineswegs positive Assoziationen auslöst. Der Homo ludens ethnographicus braucht Ambiguitätstoleranz im hohen Maße, um jenes Improvisieren zu erlernen, das in dieser Kultur der Unsicherheit lebensnotwendig, für ethnografische Forschung unabdingbar ist.

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Reflexion und Reflexivität als Teil qualitativer Forschung: Seelenstriptease, geheimes Werken oder ganz was anderes? Heidi Siller

Keywords: Reflexion, Reflexivität, Qualität von Forschung, Forschungsparadigmen

1 Einleitung In der qualitativen Forschung sind wir als Forschende ausdrücklich aufgefordert, unsere eigene Position zu reflektieren (Dodgson 2019: 220; Ramani et al. 2018: 1257; Strübing et al. 2018: 88), insbesondere da – wie häufig diskutiert – wir als qualitativ Forschende auch gleichzeitig Forschungsinstrument sind (siehe z. B. Dodgson 2019: 220). Diese Verquickung von Forschenden als Instrumente und die Interaktion sowie Dynamik zwischen Forschenden und dem Forschungsfeld wird teilweise als methodologische Herausforderung beschrieben (Breuer 2020: 38f), der es zu begegnen bedarf und die möglichst eingedämmt werden muss/soll. Dem zugrunde liegt eine Auffassung von objektiv erfassbarem Wissen, welches unabhängig von Forschenden erfasst werden kann. Diesem Standpunkt wiederum steht ein Verständnis gegenüber, dass menschliches Wissen und Erkenntnis, jegliche Perspektiven und Erfahrungen, die wir mit Forschung jeglicher Art erfassen wollen, niemals unabhängig und objektiv sein können. Aus dieser Perspektive sind Forschung und Wissen eingebettet in historischen, kulturellen, und gesellschaftlichen Kontexten, welche Forschung und Wissen mitprägen. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten WEIRD-Studien in beispielsweise der Psychologie. WEIRD steht dabei für Western, Educated, Industrialized, Rich und Democratic Populationen, auf denen eine Vielzahl von Publikationen beruhen (Henrich et al. 2010: 61ff), die wiederum eine Grundlage für Generalisierungen über diese spezifischen Bevölkerungsgruppen hinaus waren und sind. Damit ist unser Wissen auch geprägt von Wissen über WEIRD-Populationen. Infolge dieser Kritik an WEIRD-Studien wird Reflexion und Reflexivität angesprochen und deren Bedeutung in der Forschung nochmals sicht- und greifbarer: Denn

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die Kritik an WEIRD-Studien usw. betrifft nicht nur die Begrenzung auf die erforschten Populationen selbst, sondern auch die Forschenden (Clancy/Davis 2019: 175ff). Dabei kann festgehalten werden, dass Reflexionen über den Forschungsprozess Auskunft darüber geben können, wie geforscht wurde, wer die Forschungsteilnehmenden sind, den Kontext der Forschung und mögliche Machtverhältnisse in dem Forschungskontext. Eine Darlegung dieser Aspekte wird häufig mehr oder weniger ausführlich beispielsweise bei der Beschreibung der Durchführung der empirischen Studie geboten. Bei Reflexivität der Forschenden geht es vor allem auch darum, zentristische Perspektiven der Forschenden sichtbar zu machen sowie Machtverhältnisse in Wissenschaftsdiskursen anzusprechen, die wiederum zu Un-/Sichtbarkeit oder Marginalisierung von Wissen beitragen können und eine (normative) Sichtweise in den Vordergrund stellen. Diese Form der Verankerung ist dabei seltener und abhängig von dem Bereich bzw. auch Disziplin der Forschung, kann jedoch immer häufiger in Publikationen angetroffen werden (siehe z. B. Sullivan et al. 2021). Reflexion und Reflexivität ist also wichtig, um nicht in die Falle einer „Selbstbespiegelung“ zu geraten (Schweder et al. 2013: 206), bei der sich der*die Forschende im Gegenüber spiegelt. Es gilt zu reflektieren, mit welchen Erfahrungen, Wissen und Positionen sie sich bzw. wir uns als Forschende in die Forschung und in den Forschungsprozess einbringen (Schweder et al. 2013: 207f). Vor diesem Hintergrund soll auch eine Verortung von mir als Autorin dieses Beitrags stattfinden. Dieser Beitrag wird aus der Perspektive einer weißen, west-europäischen geprägten Frau geschrieben, die beruflich als Psychologin sozialisiert wurde. Mein Interesse an Reflexion und Reflexivität wurde durch die Auseinandersetzung mit qualitativer Forschung sowie Forschungsbereichen wie gender-basierter Gewalt geprägt. Zentrale Fragen sind dabei beispielsweise ‚Was interessiert mich daran [Forschungsgebiet] und warum interessiert es mich?‘ ebenso wie ‚Welche anderen Sichtweisen könnten sich darin ergeben?‘ oder ‚Woraus speist sich meine Sichtweise?‘. Implikationen dieser Verortung werden im Verlauf des Beitrags dargelegt. 1.1 Zwei Begriffe, ein Thema? Zu den Begriffen Reflexion und Reflexivität Die Begriffe Reflexion und Reflexivität scheinen mitunter synonym verwendet zu werden. Dennoch haben sie divergente Zielsetzungen, wenngleich sie sich auch überlappen und ergänzen können. Beide beziehen sich in unserem Kontext der qualitativen Forschung auf den*die Forschende*n in Bezug auf den Forschungsprozess und werden entweder alleine, angeleitet (z. B. in Super-

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vision zur Forschung) oder in Gruppen angewandt. Reflexion bezeichnet eine Einsicht in das eigene Bewusstsein, um Verständnis über eine Situation oder einen Prozess zu erlangen oder sich zumindest einem Verstehen über bestimmte Sachlagen anzunähern (Chinn 2007: 15). Dabei wird Reflexion oft ereignisbezogen angewandt, beispielsweise wenn es darum geht, eine Interviewsituation zu reflektieren und die eigenen Fähigkeiten als Interviewer*in kritisch zu betrachten. Es beschäftigt sich mit Fragen des Wie, Wann, Wo, Warum und versucht unterschiedliche Perspektiven auf ein Ereignis zu erfassen. Diese Perspektiven zeigen dabei auf, was in der Situation eventuell unberücksichtigt blieb und welche Schritte zu einer Verbesserung oder anderen Veränderung ähnlich gelagerten Ereignisse führen können. Schön (1987: 29ff) unterscheidet dabei zudem noch reflection-in-action und reflection-on-action. Ersteres bezeichnet dabei die Reflexion über Fähigkeiten bzw. Erlerntem während einer Situation, während zweiteres sich auf die retrospektive Reflexion über ein Ereignis bezieht. In diesem Kapitel befassen wir uns mit Reflexion nach dem Ereignis, also reflection-on-action. Reflexivität wiederum bezieht sich auf eine abstraktere Ebene, bei der es darum geht, Strategien zu finden um beispielsweise eigene Vorstellungen, Handlungen, Annahmen zu verstehen. Reflexivität bezieht daher zu einem größeren Teil die eigene Position und Positionierung, Wünsche, Vorstellung sowie Geschichte mit ein (Chinn 2007: 15). Durch Reflexivität hinterfragen wir unsere Annahmen, Werte, Vorurteile, Verhalten und Gewohnheiten. Dabei geht es darum, die Komplexität unserer Rolle(n) im Verhältnis zu anderen zu ergründen. Wir nehmen damit auch Rücksicht darauf, wie wir soziale und professionelle Strukturen mitgestalten, aufrechterhalten oder dekonstruieren (Bolton 2005: 71f). Eine Reflexion über den Forschungsprozess, wie beispielsweise über eine Interviewsituation und Interaktion mit Forschungsteilnehmenden, kann dabei in Reflexivität übergehen, wenn Machtverhältnisse in der Forschung sowie der Einfluss der eigenen Positionierungen (z. B. meine Herkunft als weiße, Mittelschichtsangehörige cis-Frau in weiblichdominierten Forschungsbereichen) inkludiert und sichtbar gemacht werden. Andere beschreiben auch, dass Reflexion zeitlich begrenzt ist, beispielsweise auf ein Forschungsprojekt fokussiert, während Reflexivität ein andauernder und überdauernder Prozess ist und von Reflexion stimuliert wird (Barrett et al. 2020: 10). In diesem Beitrag wird dann von Reflexion gesprochen, wenn wir uns mit spezifischen Situationen oder Ereignissen auseinandersetzen, während unter Reflexivität eine eigene Verortung im Sinne von Positionierungen verstanden wird, die über ein Forschungsprojekt hinausgeht und uns in unserer Identität als Forschende und Person herausfordert und sichtbar macht.

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1.2 Wozu Reflexion oder Reflexivität einsetzen Lilienfeld und Basterfield (2020: 4) beschreiben, dass reflektive Praxis als Prozess verstanden werden sollte, weniger als abgeschlossener Outcome. Damit begleitet uns der Prozess durch unsere Forschung, und es wird damit auch hervorgehoben, dass Reflexion und Reflexivität nicht einfach Kästchen auf einer Checkliste sind. Zudem beschreiben Lilienfeld und Basterfield (2012: 7ff) als Nutzen reflektiver Praxis Introspektion, die uns ermöglicht, eigenem Bias näherzukommen, optimierte Selbsteinschätzung der eigenen Schwächen und Stärken sowie Erwerb von erfahrungsgeleiteter Expertise. In der Forschungspraxis umfasst Reflexion und Reflexivität zusätzlich zu diesem Profit für Forschende, auch Auswirkungen auf Forschung. In der praktischen Umsetzung bedeutet das, dass uns Reflexion über die Studie und Reflexivität in unserer Haltung zur Forschung konstant begleitet. Durch den Forschungsprozess hindurch reflektieren wir beispielsweise die Passung unserer Fragestellung mit Theorie, Methode und Daten (Strübing et al. 2018: 86), reflektieren über die Datenerhebung und Interaktion mit Teilnehmenden (Pezalla et al. 2012: 171ff) und ebenso lassen wir Reflexion und Reflexivität in der Analyse und Interpretation unserer Daten einfließen, beispielsweise indem wir Memos oder Forschungstagebücher verfassen (als Beispiele siehe dafür auch Ramani et al. 2018; Watt 2007). Dennoch, Reflexion bzw. Reflexivität kann nicht gleichgesetzt werden mit einem puren Nachdenken oder Grübeln, sondern beinhaltet, wie Bolton (2005: 17) es beschreibt, eine Suche „to uncover dark corners by asking difficult questions“. Ein konstantes (Hinter-)Fragen von uns selbst als Forschende, aber auch unsere Interaktion mit unseren Forschungsteilnehmenden und den generierten Daten ist wichtig und notwendig, um Studien und ihre Qualität voranzutreiben und zu vertiefen (Dodgson 2019: 220f; McCaslin/Scott 2003: 453–454). Bolton (2005: 11f) beschreibt, dass Narrative auch perspektivisch sind. Damit sind wir vergeschichtlicht, das heißt, wir nehmen das Gelebte bzw. Erlebte nicht abstrakt auf, sondern dieses ist verknüpft mit Assoziationen, Menschen, Erfahrungen, Interpretationen oder/und Emotionen (Bolton 2005: 18ff). Abstrakt formuliert können wir sagen, dass wir nicht ein Detail wahrnehmen, sondern das Detail im und mit Kontext. Auch Dodgson beschreibt, dass qualitative Forschung kontextuell ist, wodurch Reflexion über den Forschungsprozess und Reflexivität über die Implikationen unserer Identität in Bezug auf Forschung auch zur Qualität der Forschung beiträgt (Dodgson 2019: 220).

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2 Reflexion und Reflexivität inkludieren und sichtbar machen Neben den Darlegungen der Implikationen von Reflexion und Reflexivität stellt sich nun die Frage, wo und wie diese sichtbar gemacht werden, oder ob diese Praktiken einen – für andere unsichtbaren – Begleitprozess der Forschung darstellt. In manchen Fällen stellt Reflexion und Reflexivität eine eigene Publikation dar (siehe z. B. Watts 2007), dennoch ist die Anregung, dass sie auch in der Publikation der jeweiligen Studie umrissen werden. Dodgson (2019: 221) empfiehlt dabei, dass nicht nur die Parameter einer Forschung, sondern auch die Positionierung des*r Forschenden dargelegt wird. Dabei bezieht sich Dodgson auf die Position in Relation zu den Forschungsteilnehmenden, wie beispielsweise die ethnische Zugehörigkeit oder Status in Bezug auf Gruppenzugehörigkeit (Status als Insider*in/Outsider*in) und siedelt Reflexion und Reflexivität im Methodenteil der Publikation an (Dodgson 2019: 221). Während Reflexion meist gängige Praxis in der qualitativen Forschung ist und vor allem in Bezug auf die Qualität des Forschungsprojekts beschrieben wird, ist die Darlegung von Reflexivität zumeist noch nicht entsprechend eingebettet. Bei Reflexivität, also der Sichtbarkeit und Positionierung des*r Forschenden selbst, reicht es dabei nicht aus, Positionierung einfach nur zu nennen, denn auch Positionierung muss in Kontext gesetzt (Sweet 2020: 925) und sollte in Relation zur Forschung und den Ergebnissen nochmalig in der Diskussion aufgegriffen werden. Um diese Zugänge und Darstellungen von Reflexion und Reflexivität zu verdeutlichen, wird im Folgenden zuerst auf Reflexion, danach auf Reflexivität eingegangen.

Abbildung 1: Möglichkeiten von Reflexion und Reflexivität in einem Forschungsprojekt

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In der Grafik (Abbildung 1) findet sich eine grobe Skizzierung eines empirisches Forschungsprojekt (mit qualitativer Ausrichtung gedacht) und wie in diesem Prozess Reflexion und Reflexivität in der qualitativen Forschung verankert sein können. Die Grafik ist beispielhaft zu verstehen und spiegelt grobe Meilensteine in einem Forschungsprojekt wider. 2.1 Reflexion berücksichtigen Reflexion kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Wie Senediak es für die reflektive Praxis in Supervision beschreibt, wird bei Reflexion ein Ereignis fokussiert, zum Beispiel die Interaktion mit Forschungsteilnehmenden während der Interviewführung. Bei der Beschreibung dieses Ereignisses werden die Gedanken und Gefühle während dem Ereignis und auch zu der Zeit der Beschreibung, also während der Reflexion, inkludiert. Danach werden die Ereignisse dekonstruiert und analysiert sowie wieder rekonstruiert, um ein Lernen aus dem Ereignis zu ermöglichen (Senediak 2015: 26). Konkret bedeutet das, dass neben den Gedanken und Gefühlen zudem Erwartungen und Annahmen über die Interaktion reflektiert werden, und wie sich das Ereignis von diesen Erwartungen unterschieden hat. Beispielsweise plant der*die Forschende eine Interviewsituation mit der Annahme, dass neue Blickwinkel zu einem Phänomen beleuchtet werden, der*die Interviewpartner*in bereitwillig, freudig und interessiert die eigenen Erfahrungen teilt. Der*die Forschende ist somit positiv und zuversichtlich gestimmt. In der Situation hat die*der Interviewpartner*in jedoch eine Stunde später noch einen weiteren Termin. Die*der Forschende fühlt sich dadurch unter Zeitdruck und lässt Smalltalk zu Beginn des Interviews nicht oder kaum zu. Dies wäre aber hilfreich um eine möglichst angenehme, lockere Atmosphäre zu gestalten. Zudem hatte der*die Forschende davor bereits ein Interview, welches über den antizipierten Zeitrahmen inklusive großzügig kalkulierten Puffer hinausging. Zwischen den Interviews war kaum Zeit zur Erholung. In der Situation fühlt sich die*der Forschende daher nervös, gehetzt und zu bemüht, um Raum zu lassen und Nachfragen einzubauen. Im Laufe des Interviews löst sich die Spannung, allerdings ist das Ende des Interviews abgehackt, da der weitere Termin anstand. Ein guter Ausstieg aus dem Interview fehlte. Die*der Forschende geht mit einem Gefühl des Gehetztseins und einer unvollständigen Auflösung der Situation aus dem Interview heraus. Bei der Dekonstruktion des Ereignisses geht es um die Klärung, wie das Ereignis noch interpretiert werden kann, also welche Perspektiven hinzugenommen werden können, um das Ereignis zu verstehen (Senediak 2014: 343). Bei der

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Inkludierung verschiedener Perspektiven ist ein kollektives Reflektieren, also beispielsweise in einem Forschungsteam, oder angeleitetes Reflektieren, beispielsweise in Supervision, hilfreich. Zudem zeigt diese Form der Reflexion nochmals auf, dass qualitative Forschung keine quasi Einzelforschung im stillen Kämmerlein ist, sondern von Kooperation und Austausch lebt. Zurückkehrend auf unser Beispiel, wird in der Nachbesprechung des Interviews im Forschungsteam ein Blick auf die Detailreiche und Informationen im Interview gelegt, um den Einfluss des gefühlten Zeitdrucks abzuschätzen. Es wird darauf fokussiert, wie die Reaktionen der*des Interviewpartner*in war und welche Möglichkeiten dem*der Forschenden in der Situation offen gestanden hätten. Der letzte Schritt bei der Reflexion bezieht sich auf die Lernerfahrung, die mitgenommen wird (siehe z. B. Senediak 2014: 343). So wird die Reflexion auch dazu genutzt, die erarbeiteten Erkenntnisse in die Forschungspraxis umzusetzen und entsprechende Adaptionen vorzunehmen. Diese Adaptionen können sich auf die Leitfadengestaltung bei Interviews, die Interaktion mit dem Forschungsfeld oder den Umgang mit den Daten und die Interpretation der Analysen beziehen. Zurückkommend auf das Beispiel wurde in weiterer Folge bei Planungen der Interviews die anberaumte Zeit für die Interviews verlängert, sowie die Dauer mit zukünftigen Interviewpartner*innen konkreter thematisiert. Gleichzeitig wurden Exit-Möglichkeiten festgelegt, wie in derartigen Situationen zukünftig verfahren wird. Der Leitfaden wird dabei nochmals parallel zur Analyse der bisherigen Daten evaluiert, um Zeitfresser ohne Relevanz zum Phänomen zu identifizieren und zu adaptieren. Generell gilt als eine Regel, dass Reflexion festgehalten werden sollte, sei es in Form eines Forschungstagebuches, Notizen, grafischen Darstellungen, Videooder Audioaufnahmen. Denn dadurch können sie zugänglich und entsprechend besser inkludiert werden, und nicht nur Reflexionen in der Gedankenwelt sein. So werden Aufzeichnungen über Überlegungen oder Empfindungen während der Datenerhebung, beispielsweise über Methoden, Interaktion mit Forschungsteilnehmenden, Interviewleitfaden, theoretische Überlegungen oder während der Analyse meist in einem Forschungstagebuch oder in Form von Notizen festgehalten (Brüsemeister 2008: 81f). Fragen zur Wahl des Forschungsgegenstandes, die Bedeutung und Bewertung der Literatur, der eigenen Involvierung in der Forschung (z. B. in der Analyse) und der Methodenpassung sind weitere Formen, die in die Reflexion aufgenommen werden (Stynes et al. 2018: 159). Auch verschiedene Interviewstile und deren Auswirkungen auf die Interviewführung können durch Reflexionen sichtbar gemacht werden. So wird beispielsweise bei Pezalla und Kolleg*innen (2012: 171ff) aufgezeigt, dass unterschiedliche Interviewstile, wie empathisch und enthusiastisch oder neutral-zurückhaltend, sich je nach Interviewkontext positiv im Sinne von erzähl-auffordernd aus-

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wirken können. Damit unterstreichen sie auch, dass die Unterschiedlichkeit von Forschenden als Instrumente, beispielsweise mehrere Interviewer*innen in einem Forschungsprojekt, eine Bereicherung darstellen können. 2.2 Reflexivität berücksichtigen Reflexivität beinhaltet auch eine Auseinandersetzung mit Paradigmen in Forschung. Einerseits geht es hier über die Bedeutung von Realität(en) und worüber geforscht werden kann (Ontologie), andererseits darum, wie Wissen re-/ produziert werden kann (Epistemologie). Paradigmen beschreiben akzeptierte Modelle, wie eine Welt oder Realität gesehen werden kann, für Forschung zugänglich ist und wie unsere Erfahrungen als Menschen verstanden werden können (Kuhn 1970: 23ff). Paradigmen können sich je nach Disziplinen unterscheiden, es können also verschiedene Standards und Regeln von Forschung bedeutsam sein (Kuhn 1970: 11). Das bedeutet, dass wir in unserer Reflexivität ebenso kritisch betrachten müssen, wie Wissen kreiert wird und welches Wissen dargestellt wird, ebenso wie, welche Annahmen wir über die Erforschung von Realität(en) besitzen. Mit diesen Überlegungen beleuchten wir unter anderem, wie Stimmen unsichtbar gemacht und gehalten werden und welchen Beitrag wir zur Dekonstruktion dieser Unsichtbarkeit leisten können. Konkret müssen wir uns beispielsweise Fragen stellen, ob wir davon ausgehen, dass eine zugrundeliegende Realität existiert, die wir in unserer Forschung herausschälen können (post-positivistisches Paradigma); oder sehen wir multiple Realitäten, die parallel existieren und in Interaktion sichtbar gemacht werden können (interpretivistische/ konstruktivistische Paradigmen) (Petty/Thomson/Stew 2012: 269; Sławecki 2018: 8ff)? Unterschiedliche Paradigmen können in der qualitativen Forschung vertreten sein, daher sind kritisches Hinterfragen unserer epistemologischen Sozialisierung, Annahmen und Werte, die uns mehr oder weniger bewusst vermittelt wurden, wichtig. Dasselbe gilt auch für unser Verständnis von uns selbst als qualitativ Forschende und den mit diesem Forschungsansatz verknüpften Paradigmen. Das Verständnis von und über Wissen und Realität(en) kann sich im Laufe der Zeit verändern. Reflexivität ist daher ein Prozess. Beispielsweise kann eine Annahme bei einer*m (qualitativ) Forschenden sein, dass Realität(en) in Interaktion zwischen Menschen konstruiert werden und damit ein Phänomen auch in diesem Kontext zu verstehen ist. Dadurch wird in der Erforschung des spezifischen Phänomens verstärkt der Fokus auf die Sinn- und Bedeutungskonstruktion gelegt. Es geht um die Sichtweisen, die Triangulation verschiedenster Sichtweisen mittels Methoden, die eine derartige soziokonstruktivistische Sichtweise zulassen.

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Eine weitere Facette von Reflexivität bezieht sich auf unsere Positionierung als Forschende hinsichtlich unserer sozialen Identität (Roger et al. 2018). So wurde beispielsweise die „social identity map“ als Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung und zur Reflexivitätsunterstützung für Einsteiger*innen in der Forschung entwickelt (Jacobson/Mustafa 2019: 3ff). Die Implikationen der jeweiligen Facetten der sozialen Identität können je nach Kontext verschieden sein, das heißt in einem Kontext zu Marginalisierung und Benachteiligung führen, während sie in anderen Kontexten abgeschwächt oder auch verstärkt werden können (siehe hierfür die Ausführungen von z. B. Siller/O’Brien Green 2021 oder Abdellatif 2021). Es reicht daher nicht, die Facetten sozialer Identität darzulegen, sondern es sollten auch die gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Implikationen reflektiert werden. Die jeweiligen Facetten der sozialen Identität orientieren sich dabei an dem Konzept der Intersektionalität, um ein Verständnis zu bekommen, wie das Zusammenspiel zu Ungleichheit oder Privilegien führen können. Dabei geht es darum, nicht nur unsere Forschungsteilnehmenden hinsichtlich Marginalisierung, Ungleichheit oder Privilegien zu inkludieren, sondern auch uns selbst als Forschende. Wir sollten in diesem Zusammenhang das Zusammenspiel unserer als Forschende erfahrenen Ungleichheit und Privilegien in der Wechselwirkung mit erfahrener Ungleichheit und Privilegien der Forschungsteilnehmenden verstehen und inkludieren. Damit wird nochmals herausgestrichen, dass wir als Forschende Teil der Forschung sind und nicht als losgelöst davon betrachtet werden sollten. Bezogen auf unser Beispiel der*s sozio-konstruktivistisch geprägten Forschenden, liegt dadurch auch nahe, dass die eigene Position in Relation zum Feld reflektiert wird, also, welche Rolle die eigene Positionierung (z. B. Geschlechtsidentität, Beruf, Ausbildung, Alter) für die*den Forschenden spielt (beispielsweise eine feministische Grundhaltung) und dadurch auch Forschungsinteressen und -fragen prägt bzw. prägen kann (z. B. Geschlechterungleichheit und Gewalt gegen Frauen). Die eigene Positionierung kann dabei den Zugang zum Feld erleichtern oder erschweren (z. B. Forschende*r wird wahrgenommen mit Status als Expert*in, Insider*in/Outsider*in) und ist gleichzeitig mit Machtunterschieden verknüpft (z. B. Forschende*r mit Macht über die Daten; Zugang zu Wissen/Positionen; Entscheidung über den Einbezug des Felds in die Forschung; Unterschiede zum Feld durch Herkunft aus ethnischer und sozio-ökonomischer Sicht). Auch beinhaltet Reflexivität, welches Wissen wir zur Verfügung haben (z. B. welche Diskurse zu dem Phänomen stehen im Vordergrund; woher beziehe ich mein Wissen; wie, wo und von wem wurden die Methoden, die ich verwende, entwickelt) sowie die Bedeutung dieser Fragen für uns selbst und unsere Forschung.

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Die wesentlichen Aspekte der sozialen Identität und welche davon in einem bestimmten Forschungskontext relevant sein können, wird unter anderem durch das Forschungsphänomen bestimmt. Eine Auseinandersetzung mit sozialen Identitäten und die Implikationen der jeweiligen Facetten der sozialen Identität tragen dann auch dazu bei, Machtverhältnisse in der Forschung abzubauen und zu thematisieren, das heißt das Forschungsdesign, Datenerhebung und Interaktion mit Forschungsteilnehmenden anzupassen, ebenso wie in der Interpretation der Ergebnisse zu thematisieren (Jacobson/Mustafa 2019: 6). Beispielsweise untersuchten Forscherinnen in einem Forschungsprojekt Gewalt in männlich dominierten Institutionen in einem anderen als ihrem eigenen Herkunftsland (Huggins/Glebbeek 2003: 369). Durch sexuell-anzügliche Bemerkungen und Einschränkungen in der für sie sonst üblichen Bewegungsfreiheit und damit einhergehenden Implikationen erlebten sich die Forschende in einer vulnerablen Position und legten das auch in ihrer Forschung bzw. in ihren Forschungsergebnissen dar. Aus den Ausführungen wird ersichtlich, dass Reflexivität ein anhaltender Prozess ist, welcher nicht auf ein Forschungsgebiet fokussiert, sondern sich über die Forschungskarriere hinweg zieht. Damit verändert sich im Laufe unserer (reflexiv geführten) Forschungstätigkeit das Verständnis von sich selbst als Forschende*r und auch davon, was Forschung ist. Ein Exkurs zur Notwendigkeit von Reflexion: Interaktion mit Forschungsteilnehmenden Als Forschende müssen wir uns der Verantwortung gegenüber unseren Forschungsteilnehmenden bewusst sein. Diese Verantwortung bedeutet, Forschung auch unter ethischen Gesichtspunkten durchzuführen. Ein Beispiel hierfür ist Nancy Scheper-Hughes „Saints, Scholars and Schizophrenics. Mental illness in rural Ireland“ (Scheper-Hughes 2001), eine 1977 erschienene anthropologische Studie über ein Dorf in Irland. Nancy Scheper-Hughes wollte in ihrer Studie die exzessive Zahl an Hospitalisierungen und SchizophrenieDiagnosen in West-Irland Mitte der 1970er erforschen. Dabei fokussierte sie sowohl Risikogruppen als auch die Stellung von Ehe, Intimität und Sexualität sowie Familie und irische Kultur. Die mit diesem Werk verknüpfte Kritik und Auswirkung von Forschung zeigt nochmals deutlich unsere Verantwortung auf. So reflektiert beispielsweise Scheper-Hughes (2000: 128) [a]nonymity makes us unmindful that we owe our anthropological subjects the same degree of courtesy, empathy and friendship in writing as we generally extend to them face to face in the field […]

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In einem Rückblick auf ihre Forschung beschreibt sie die Auswirkungen ihrer Forschung auf das Dorf, auf die Bewohnenden sowie auch auf ihre Beziehung mit den einstigen Forschungsteilnehmenden. Die Bedeutung der Verantwortung hat nicht nur damit zu tun, dass Forschungsergebnisse leichter zugänglich werden und wurden – auch für unsere Forschungsteilnehmenden – sondern, wie das Beispiel von Scheper-Hughes auch deutlich zeigt, dass (in diesem Fall fehlendes) Member-Checking und Partizipation (Caretta 2015: 309ff) wesentliche Rollen in der Forschung spielen. Damit sind beispielsweise Feedback der Forschungsteilnehmenden zu den Ergebnissen, Inkludierung von Forschungsteilnehmenden in den Forschungsprozess (Caretta 2015: 309ff) und der Rapport zum Feld (Strübing et al 2018: 88f), sprich eine Reflexion der Beziehung zwischen Feld und Forschenden, angesprochen. Mit diesen Ansätzen werden die unterschiedlichen Machtverhältnisse thematisiert. Forschungsteilnehmende sollen dadurch nicht dem*r Forschenden quasi ausgeliefert sein, sondern aktiv in den Prozess der Wissensgewinnung einbezogen werden.

3 Seelenstriptease oder Sichtbarmachung: ein Resümee Reflexion und Reflexivität werden seit geraumer Zeit in der qualitativen Forschung diskutiert. Es geht hier nicht ausschließlich um die Reduktion von Bias, die Forschende mitbringen können, sondern vielmehr auch um die Kontextualisierung von Forschungsergebnissen und die Erhöhung der Qualität von Forschung. Daher ist es auch wenig verwunderlich, dass Reflexion und zum Teil auch Reflexivität als explizites Gütekriterium qualitativer Forschung angeführt wird (Mays/Pope 2000: 51) sowie in weiteren Gütekriterien auch impliziert enthalten ist. Diese weiteren Gütekriterien betreffen beispielsweise Gegenstandpassung (Strübing et al. 2018: 86), Rapport zum Feld (Strübing et al. 2018: 88f) oder Member Checking (Mays/Pope 2000: 51). Bedacht werden muss, dass Reflexion und Reflexivität als ineinandergreifende Instrumente zu begreifen sind und nicht nur das jeweilige Forschungsprojekt betreffen (bei Reflexion), sondern sich über die Forschungskarriere ziehen (bei Reflexivität). Es geht dabei um unsere Identität als Forscher*in und Privatperson, unsere Haltung zu Forschung, Wissen und Realität(en) (Paradigmen), unsere Beziehung zum Feld und zu den Forschungsteilnehmenden sowie die konstante daraus resultierende Anpassung des Forschungsprojekts und eine Dekonstruktion von Machtverhältnissen. Wie die Ausführungen in diesem Beitrag auch gezeigt haben, sind dabei auch Überschneidungen zu anderen Bereichen von Forschung, wie beispielsweise Ethik, oder Forschungsansätzen, wie beispielsweise partizipative Forschung, gegeben. Forschung fordert uns heraus und bringt uns dabei immer

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wieder aus unserer Komfortzone. Wissen generieren bedeutet somit auch die Auseinandersetzung mit uns selbst, unseren Annahmen und unseren Blickwinkeln, wir Hinterfragen also die eigene Brille, durch die wir Forschung und Realitäten begreifen. Qualitatives Forschen kann in bestimmter Hinsicht auch als ein (kleines) Preisgeben des Selbst diskutiert werden. Jede Publikation zeigt somit ein Stückchen von uns selbst sowohl als Forschende als auch als Privatperson, geprägt durch Erfahrungen, Charakteristika und Positionen. Diese für manche zunächst ungewohnte Sichtbarmachung kann anfänglich eine Herausforderung darstellen. Ein Seelenstriptease ist es dennoch nicht, denn auch hier gilt, dass Sichtbarkeit auch mit dem eigenen bewussten Einverständnis über das Ausmaß und Tiefe der Positionierung einhergehen sollte. Eine Darlegung von Reflexion, die den Forschungsprozess betrifft, sollte ein selbstverständlicher Bestandteil von Publikationen sein – und ist dies meist ohnehin. Die Darlegung der Reflexivität, also unsere Positionierung, sollte jedoch ebenso dargestellt werden, um die Basis von Forschungsideen und -erkenntnissen sichtbarer und zugänglicher zu machen. Damit ist die Hoffnung verknüpft, dass sich Forschung weiterentwickelt und Zentrismen (siehe z. B. WEIRD-Studien) schneller erkannt und aufgelöst werden.

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„How to pass it on“: Über die Bedeutung von Peer-to-Peer-Angeboten als Einstieg in die qualitative Forschung Christina Ricarda Vedder

Keywords: Peer-to-Peer, Triangulation, Mitforschende, Kritische Psychologie, Handlungsfähigkeit

1 Einleitung In diesem Beitrag wird aus der Sicht einer Tutorin für Qualitative Forschungsmethoden an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt dargelegt, welche Aspekte den Weg zu qualitativer Forschung ebnen und wie in diesem Sinne Peer-to-Peer-Angebote Studierenden eine Plattform für einen ungezwungenen Austausch bieten können. Dabei wird zunächst – als Rezipientin – der eigene Zugang zu qualitativer Forschung ausgehend vom universitären Angebot und dem Besuch von entsprechend ausgerichteten Symposien und Kongressen nachgezeichnet. Im Anschluss werden die späteren Erfahrungen als Tutorin – und damit Vermittlerin qualitativer Forschung – am Beispiel der sogenannten „Quali-Runde“, einem monatlich stattfindenden Peer-to-Peer-Treffen zum Austausch über das methodische Vorgehen in qualitativ ausgerichteten Abschlussarbeiten, beschrieben. Zuletzt werden wahrgenommene Herausforderungen in Bezug auf qualitative Forschung herausgestellt sowie Aspekte für einen möglichen Umgang damit benannt. Die Ausführungen sollen als Anregung dafür dienen, wie Studierende für qualitative Forschung begeistert werden können, ihr kritisches Denken gefördert und ihre Kreativität bei der Entwicklung von qualitativ ausgerichteten Forschungsprojekten angeregt werden kann.

2 Zugang zu qualitativer Forschung Im Folgenden möchte ich exemplarisch meinen eigenen Weg in qualitativer Forschung nachzeichnen, wie er seinen Ursprung in Bachelorvorlesungen nahm und sich durch Vertiefungen in freiwillig besuchten Veranstaltungen und studienbezogenen Abschlussarbeiten festigte. Hierzu beschreibe ich

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zunächst das universitäre Angebot als Grundlage für meine Erfahrungen in qualitativen Methoden, welches begleitet von meinem Interesse am Menschen zur Begeisterung für den Forschungsansatz führte. Einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei die eigene Bachelorarbeit und die damit verbundenen Fallstricke. Die dabei auftretenden Zweifel sind Teil des qualitativen Forschens und zugleich Chance zur Reflexion des eigenen Tuns und zum fruchtbaren Austausch mit anderen. Aus ihnen können wichtige Impulse für das weitere Vorgehen entstehen.

3 Die AAU als Quali-Hotspot Zu Beginn des Bachelorstudiums in Psychologie wurde mir der Zugang zur qualitativen Forschung insbesondere durch die in dieser Hinsicht privilegierte Ausstattung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (AAU) ermöglicht. So gibt es einen eigenen Lehrstuhl für Qualitative Methoden, der viele Jahre von Philipp Mayring, Begründer der Qualitativen Inhaltsanalyse, geführt wurde. Zudem gehört das Studienfach Psychologie an der AAU zu den Kulturwissenschaften, was bereits als Abgrenzung von reiner Experimentalpsychologie und als Öffnung gegenüber partizipativer, Ethnografie-, Aktionsforschung etc. gesehen werden kann. Diese besondere Ausrichtung lässt die Vermittlung entsprechender Forschungszugänge von Beginn an zu, fördert eine Beschäftigung mit qualitativer Forschung und ermöglicht deren Einbindung in eigene Forschungsprojekte. Im Jahr 2017 entstand zudem der Arbeitskreis Qualitative Sozialforschung (Universität Klagenfurt, o. D.), der den Austausch von Forschenden, die mit qualitativen Methoden arbeiten, ermöglichen sollte. Erste theoretische Berührungspunkte mit qualitativer Forschung hatte ich im Rahmen der Lehrveranstaltungen „Einführung in die psychologischen Forschungsmethoden: Grundlagen und Designs“ und „Techniken wissenschaftlichen Arbeitens“. Begeisterung für Forschungszugänge, die sich am Individuum, an persönlichen Bedeutungshorizonten und dem Gewordensein psychologischer Sachverhalte orientieren, entwickelte ich beim Sichten der Literatur für eine Seminararbeit, in der wir die in der Vorlesung kurz angerissenen Interviewmethoden mittels Fachliteratur vertiefen und sie an einem Beispiel veranschaulichen sollten. Besonders haften blieb in diesem Kontext das narrative Interview, welches Interviewten viel Freiraum bietet für das, was sie sagen möchten. Diese Interviewform wich stark von journalistischen, suggestiv gestalteten Umsetzungen ab und ließ durch die Aufforderung zur freien Assoziation die Idee zu, tiefenpsychologische Sinnstrukturen hinter dem Gesagten aufzudecken bzw. Deutungen über diese

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abzugeben. In meinem Fall ging diese Erkenntnis mit meiner wachsenden Begeisterung für das Werk Sigmund Freuds, speziell für die Traumdeutung (Freud 1980) einher. Im Zuge dessen war es für mich spannend, wie zwei für mich bis dahin getrennte Felder, Forschung und Psychoanalyse, zusammengedacht und -gebracht werden können. Das fortschreitende Bachelorstudium bedeutete nun, auf Basis der Lektüre von Artikeln vor allem zu sozialpsychologischen und kognitionspsychologischen Studien aktiv bei Diskussionen in Seminaren zu partizipieren und dabei kritische Stellungnahmen zu trainieren. Oft überkam mich bei der Beschäftigung mit den überwiegend quantitativ aufgebauten Studien ein Unbehagen, etwa wenn mir Einteilungen zu oberflächlich und verallgemeinernd erschienen. Immer wieder kam es mir abstrus vor, wie innerhalb eines Versuches unter Laborbedingungen operationalisiert werden sollte, was unter natürlichen Bedingungen gilt, also eine Übersetzung des Verhaltens von „Versuchspersonen“ zum Verhalten von Menschen im realen Leben gefunden werden sollte. In mir wurden die Zweifel daran größer, dass man auf diese Art und Weise überhaupt dem zu beforschenden Gegenstand – dem Menschen – hinreichend gerecht werden würde. Hier verstärkte sich der Wunsch danach, in eigenen Studien weniger determinierend vorzugehen und eher auf Erhebungsformen in einer natürlicheren Umgebung zurückzugreifen.

4 Empirisches Praktikum: Vermittlung Kritischer Psychologie und partizipativer Forschungszugänge mittels studentischer Lehre Konkreter wurde die Beschäftigung mit qualitativer Forschung für mich 2017 im Rahmen des „Empirischen Praktikums“, unter Studierenden kurz als „EmPra“ bezeichnet. Hier entwickelt man im Team eine Forschungsfrage, findet gemeinsam eine dem Gegenstand angemessene Methode für deren Beantwortung und führt das Projekt dann als Studie durch. Am Ende des Semesters werden die Ergebnisse auf wissenschaftlichen Postern vor dem Plenum präsentiert. Durch den Zusammenschluss einiger engagierter Psychologiestudierender1

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Da ich ohne das Team an Studierenden wohl niemals so tief in die qualitative und insbesondere subjektwissenschaftliche Forschung eingestiegen wäre, möchte ich dieses nicht unerwähnt lassen: Mein Dank gilt hier Bradley Fix, Till Manderbach, Daniel Schnur, Marlene Märker, Theresa Zimmermann, Stephan Trautner, Clara Schneidewendt, Nora Christenhuß und Sona Gazer. Als Initiator und Motivator für meine Wahl des kritisch-psychologischen EmPras ist zudem mein damaliger Kollege

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bekamen meine Kommiliton*innen und ich in dem von uns gewählten EmPra eine subjektwissenschaftlich und kritisch-psychologisch (Markard 2000) orientierte Form studentischer Lehre geboten. Kritisch-psychologisch bedeutet dabei grob gesagt das Hinterfragen der „Mainstream-Psychologie“ in Hinblick auf deren experimentellen Charakter und die dort vernachlässigten gesellschaftlichen Verhältnisse. Einen wichtigen Lehrinhalt bildete das Begriffspaar der restriktiven und der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit (Holzkamp 1983): Als Menschen sind wir stets gesellschaftlichen Bedingungen ausgesetzt, mit denen wir zurechtkommen müssen, auch tragen wir alle unsere individuelle Geschichte, die uns zu denen gemacht hat, die wir sind. In diesem Sinne ist unsere Handlungsfähigkeit begrenzt (restriktive Handlungsfähigkeit). Doch gleichzeitig – und hier liegt der emanzipatorische Aspekt des kritisch-psychologischen Denkens – obliegt es stets uns selbst, wie wir uns zur uns umgebenden Situation verhalten. Wollen wir etwa unser Mitspracherecht an der Uni erweitern? Wie können wir das erreichen? Oder, auf außeruniversitärer Ebene: Wie können wir aktiv das Klima schützen und die Idee einer radfahrer*innenfreundlicheren Stadt umsetzen (verallgemeinerte Handlungsfähigkeit)? Dies gelingt in der Regel durch den Zusammenschluss mit anderen. Der Gedanke, in jeder Situation zumindest zu einem gewissen Grad Handlungsfähigkeit zu besitzen, verhilft Betroffenen zur Selbstverständigung über ihre Anliegen und deren Umsetzung. Um für das individuelle Empra-Projekt eine geeignete Herangehensweise zu finden, wurden uns zunächst einige partizipative Forschungsmethoden vorgestellt. Partizipativ meint hier, dass die „zu beforschenden“ Personen vielmehr als Teilnehmende und Mitforschende betrachtet werden, denen – selbst als Expert*innen ihrer Lebenswelt bzw. im Forschungsfeld geschätzt – auf Augenhöhe begegnet wird. Die lehrenden Studierenden lieferten uns Inputs zu entsprechend ausgerichteten Forschungsprojekten, wobei sie zum Teil ihre eigenen Bachelor- bzw. Masterarbeiten präsentierten. Dadurch wurden die bislang als „trocken“ empfundenen Methodik-Lehrinhalte auf lebhafte Weise vermittelt und man bekam Lust, sich Inspirationen für die anstehende Bachelorarbeit zu holen. Gleichzeitig befeuerte die Peer-to-Peer-Atmosphäre den Mut zum Nachfragen und Äußern von Kritik, sodass sich mitunter spannende und gesellschaftskritische Diskussionen ergaben.

Tom Müller zu nennen, der zu dieser Zeit durch sein wachsendes Interesse an Politik und gesellschaftskritischen Themen von der Beschreibung des benannten Empirischen Praktikums angetan war und auch mich dafür begeistern konnte, sowie auch später zur Teilnahme an der Ferienuni 2018 in Berlin, die weiter unten beschrieben ist.

Über die Bedeutung von Peer-to-Peer-Angeboten

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Nachdem ich mich mit meinem sechsköpfigen Forschungsteam für das Thema „Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen im universitären Kontext“ entschieden hatte, befanden wir das uns in einer vorigen Einheit vorgestellte Photovoice-Verfahren (Wang/Burris 1995) für einen gegenstandsangemessenen Zugang. Wir hatten das Glück, dass zwei der lehrenden Studierenden bereits eine Abschlussarbeit mit diesem Ansatz verwirklicht hatten und uns mit ihrer dabei gewonnenen Expertise unterstützen konnten. Beim Photovoice-Verfahren bekommen die Teilnehmenden Kameras ausgehändigt, mit denen sie Fotos zur betreffenden Thematik bzw. der zugehörigen persönlichen Konnotation aufnehmen. Die Fotos erhalten dann, wie der Name der Methode bereits vermuten lässt, in einer späteren Diskussion eine Stimme: Alle Teilnehmenden präsentieren als Gesprächseinstieg ihre Fotos und die damit verbundenen Assoziationen und Bedeutungen. So bekommen auch zurückhaltende Teilnehmende die Möglichkeit sich einzubringen. Ein*e Moderator*in sorgt zudem während der Diskussion dafür, dass niemand vergessen wird und faire Kommunikation an den Tag gelegt wird. Da wir an uns selbst forschten, gestaltete sich das Projekt als sehr lebhaft. Die meisten Fotos entstanden auf dem Universitätsgelände. So wurde etwa eine Rampe als Bild für Barrierefreiheit gewählt, ein Bild von Bücherregalen in der Bibliothek für mangelnde Ausleihdauer physischer LiteraturRessourcen oder eine Pflanze für die Möglichkeit des ökologischen Wirkens im Unigarten. Für das Fotografieren ließen wir uns zwei Wochen Zeit, dann führten wir die Diskussion durch und nahmen diese als Audiospur auf. Ich fand es dabei erstaunlich, welche Kraft die Bilder hatten und wie sehr sie auszudrücken vermochten, was sich der Versprachlichung zunächst entzieht. Wenige Tage später hörten wir uns die Aufnahme gemeinsam an und gingen mittels kommunikativer Validierung sicher, dass unser Verständnis der aus der Diskussion hervorgehenden Handlungsmöglichkeiten und Handlungseinschränkungen im universitären Raum übereinstimmte. Auch zogen wir daraus Konsequenzen, wie handlungsfähigkeitserweiternde Maßnahmen in die Tat umgesetzt werden können. Durch die erstmalige eigene Umsetzung eines qualitativen und partizipativen Forschungsprojektes gewann ich ein vertieftes Verständnis für sowie ein Interesse an qualitativen Methoden und bekam Lust, mich diesbezüglich durch weitere Angebote für meine Bachelorarbeit inspirieren zu lassen. Dies geschah zunächst parallel zum Empirischen Praktikum durch den Besuch des Klagenfurter Herbstsymposiums mit dem Titel „Das Subjekt im Fokus der Forschung“ (Strasser et al. 2018), welches Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen mit erfahrenen qualitativ und subjektwissenschaftlich Forschenden sowie die Vernetzung mit ihnen bot. Weitere praxisorientierte Impulse bekam ich in der

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von den Verfasser*innen des gleichnamigen Buches organisierten Ringvorlesung „Gegenstand und Methoden qualitativer Sozialforschung“. Besonders prägend wirkte sich der Besuch der Ferienuni in Berlin aus, auf die ich im Folgenden eingehen werde.

5 „Ask them why“ – Ferienuni Kritische Psychologie, Berlin 2018 „Uni in den Ferien? Wie?“, war meine erste eher aversive Reaktion auf die in der Aula gesichteten Plakate mit der Einladung zur Ferienuni Kritische Psychologie in Berlin. Warum sollte ich freiwillig in der vorlesungsfreien Zeit Vorlesungen besuchen? Ein Widerspruch in sich, dachte ich mir, und dass ich mit meinen Ferien Besseres anzufangen wüsste. Das war im Jahr 2016, als ich noch recht neu an der Uni war und zwei lernintensive, statistiklastige Semester hinter mich gebracht hatte. Auch damals wurden schon Seminare zur Kritischen Psychologie an der AAU angeboten, worunter ich mir jedoch als Zweitsemestrige noch wenig vorstellen konnte. 2018 war die Situation eine andere. Nachdem ich wie oben erwähnt mit meinem Kollegen Tom Müller das Empirische Praktikum mit kritisch-psychologischer Ausrichtung absolviert hatte, waren wir bereits mit den Grundgedanken der Kritischen Psychologie2 vertraut und standen auch nach dem Seminar noch in Kontakt mit den Studierenden, die die LV geleitet hatten und nun zum Teil auch im Vorbereitungsteam der Ferienuni saßen. Es handelt sich dabei um einen zweijährig stattfindenden, fünftägigen und kostenlosen Kongress zu Kritischer Psychologie in Berlin, der von Studierenden verschiedener Universitäten organisiert wird und sich an interessierte Studierende, Forschende und Praktizierende aus der Psychologie, der Sozialen Arbeit, der Pädagogik, der Soziologie und allen anderen Fachrichtungen richtet. Veranstaltungsort ist aktuell die Alice Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf. Das Programm ist durch Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen

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Vertreter*innen der Kritischen Psychologie wie Klaus Holzkamp und Morus Markard kritisieren an einer sogenannten Mainstream-Psychologie, „dass diese weder einen Begriff von Gesellschaft noch eine Theorie davon hat, wie Menschen in Gesellschaft leben“ (Ferienuni Kritische Psychologie 2018). So werde häufig „an dem geforscht, was sich mit Hilfe von gängigen Forschungsmethoden gut erforschen lässt und nicht an Frage- und Problemstellungen, vor denen Menschen in ihrem Alltag stehen“ (Ferienuni Kritische Psychologie 2018), sodass der eigentliche Gegenstand psychologischer Forschung, nämlich die Psyche, nicht adäquat gefasst werde.

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von in der Thematik Versierten und Interessierten gestaltet. Jeder Vortrag ist dahingehend gekennzeichnet, ob es sich bei ihm um eine Einführungsveranstaltung in Konzepte der Kritischen Psychologie oder um ein vertiefendes Seminar handelt, damit die Teilnehmenden bei der Wahl der Veranstaltungen möglichst auf ihrem aktuellen Wissensstand abgeholt werden. In den Fluren der Uni liegen während der Veranstaltungstage Flyer und Bücher aus, welche von den Vortragenden verfasst worden sind. Mittags kann man in der Mensa günstig etwas zu essen bekommen und sich dabei in lockerer Atmosphäre mit anderen Teilnehmenden vernetzen und angeregte Diskussionen über aktuelle Fragestellungen führen. Uni in den Ferien eben, in einem besonderen gesellschaftskritischen Rahmen. Mit dem damaligen Motto „Ask them why“ sollte die Mainstream-Psychologie insbesondere mit dem Ziel hinterfragt werden, „Menschen nicht nur als passive Versuchspersonen zu beforschen, sondern die Begründungen für ihre Handlungen in den Mittelpunkt zu stellen und sie als handlungsfähige Mitgestalter*innen ihrer Lebenswelt zu begreifen“ (Ferienuni Kritische Psychologie 2018). Rückblickend sehe ich die Ferienuni als wirklich wertvolle Investition in meine Bildung und als Bewusstwerdung von gesellschaftlich-psychologischen Problemstellungen, jedoch auch als kulturellen Austausch und als Möglichkeit zum Sammeln von Themenideen für meine Bachelorarbeit. Der in einem der Ferienuniseminare vertiefte marxistische Gedanke zur Entfremdung des Menschen in der vermehrt industrialisierten Welt ließ in mir die Idee gedeihen, Subjekte nach ihren Entfremdungserfahrungen zu befragen.

6 Bachelorarbeit: Aussteiger*innen und ihre Entfremdungserfahrungen „Ich will meine Bachelorarbeit auf jeden Fall qualitativ und nicht quantitativ schreiben“ – euphorisiert von den Besuchen der oben genannten Symposien und Vertiefungsseminaren zu qualitativer und subjektwissenschaftlicher Forschung waren dies meine Worte, als ich zum ersten Mal eine Beratungsstunde bei meiner Betreuerin in Anspruch nahm. „Die Methode muss aber schon zum Forschungsgegenstand passen, Sie können nicht im Vorhinein festlegen, wie Sie vorgehen, ohne überhaupt zu wissen, ob auf diese Weise Erkenntnisse über das gewählte Thema hervorgebracht werden können“, lautete dann die heute für mich sehr nachvollziehbare Antwort der Professorin. Schlagartig wurde ich hier mit der Bedeutung der Gegenstandsangemessenheit konfrontiert, wie sie etwa Strübing (2018) als erstes Gütekriterium

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qualitativer Forschung nennt3. Selbst wenn sich durch den explorativen Charakter einer Studie ergibt, dass sie im qualitativen Stil durchgeführt wird, kann man sich hier keiner Tests bedienen, von denen jeweils nur einer zur Beantwortung der Fragestellung bzw. aufgestellten Hypothesen dient. Vielmehr muss man jedes Mal neu eruieren, welche Herangehensweisen zu neuen Erkenntnissen, die im Sinne des Forschungsinteresses stehen, führen. Es öffnet sich einem zudem die Möglichkeit, sich der Tiefenstruktur hinter den Daten, also dem latenten Sinn des Gesagten und Beobachteten anzunähern, anstatt nur auf das Manifeste, direkt Sichtbare zu schauen. Man muss sich selbst viele Fragen dahingehend stellen, was man überhaupt erforschen und wie tief man gehen möchte. Schon bald merkte ich, dass sich für das von mir angestrebte Erkenntnisinteresse nicht anbot, die von mir zunächst intendierte Auswertungsmethode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) genauso zu verfolgen, wie dieser sie postuliert hatte, sondern allenfalls eine Orientierung daran. So wurde ich mit einer Frage konfrontiert, die mir heute in meiner Rolle als Tutorin von vielen Betreuungssuchenden gestellt wird, nämlich ob man strikt einer Methode folgen muss oder ob man sich auch einzelne Aspekte eines Verfahrens heraussuchen kann, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant sind. Es erwies sich in meinem Fall dann als dienlich, mich zwar an Mayrings Kategorienbildung zu orientieren, jedoch nicht beim Subsummieren dieser Kategorien zu bleiben, um auch das Subjektive der jeweiligen Person im Blick zu behalten und nicht ausschließlich große Datenmengen zu bewältigen und strukturieren. So analysierte ich die Daten im Auswertungsprogramm MaxQDA; das entstandene Kategoriensystem sollte dann aber letztendlich nur mir selbst als Überblick dienen und wurde im Ergebnisteil der Bachelorarbeit eher narrativ dargestellt. Inspiriert vom Vorgehen eines Kollegen und auf Empfehlung der damals zuständigen Tutorin fertigte ich im Sinne einer genuinen Wiedergabe des Gesagten Dossiers der Interviews an und ging auf prägnante Zitate ein. Zur Abbildung der Interviewsituation und deren Einfluss auf das Gespräch dokumentierte ich zudem das Setting, die Atmosphäre, meine eigene Verfassung und weitere von mir wahrgenommene Auffälligkeiten, die ich zuvor in meinem Forschungstagebuch festgehalten hatte. In einem zirkulären Prozess triangulierte ich verschiedene Forschungszugänge und Theoriehintergründe mit den von mir gewonnenen Ergebnissen, eigenen Gedanken und den Inputs aus den Beratungsgesprächen und dem 3

Unter der im wissenschaftlichen Kontext diskutierten Annahme, dass man überhaupt allgemein gültige Gütekriterien für qualitative Forschung formulieren kann – darüber besteht bei qualitativ Forschenden allerdings kein Konsens.

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„Qualitativen Methodenfrühstück“, auf das ich weiter unten eingehe. Rückblickend betrachte ich das Forschen und Schreiben im qualitativen Design als kreativen Prozess und nachhaltige Erfahrung.

7 Vermittlung qualitativer Forschungsmethoden im Peer-to-Peer-Setting Oft haben Studierende Hemmungen, mit ihren Unsicherheiten an die betreuenden Lehrpersonen heranzutreten. Ein Grund dafür kann das Hierarchiegefälle sein, ein weiterer, dass man sich dabei an die Person wendet, die die Arbeit am Ende bewertet. Wie ich zudem beobachten kann, trauen sich Studierende häufig nicht in ein Gespräch, wenn sie sich länger nicht bei ihrem Betreuer oder ihrer Betreuerin gemeldet haben – dies könnte den Eindruck erwecken, sie seien faul oder es mangele ihnen an Zeitmanagementkompetenz. Leichter fällt mitunter der Kontaktaufbau mit Tutor*innen, denn auch sie sind Studierende und teilen als solche denselben Erfahrungsraum wie die Ratsuchenden. Auch sie stehen noch am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn, haben Masterarbeiten anzufertigen und kennen die dabei auftauchenden Zweifel. Der Zeitdruck im Peer-to-Peer-Austausch ist in der Regel geringer als im Gespräch mit Professor*innen. Im Einzelsetting ist viel Raum für persönliche Anliegen. Das Gruppensetting hingegen bietet die Chance, sich von einem größeren Publikum diverses Feedback einzuholen. Zudem besteht dabei die Möglichkeit, „sich erst einmal zurückzulehnen“ und Impulse aus dem Vorgehen anderer Teilnehmender zu ziehen. Als Beispiel für ein Austauschangebot zu qualitativen Methoden im Gruppensetting wird hier die an der Universität Klagenfurt monatlich stattfindende „Quali-Runde“ vorgestellt.

8 Die Quali-Runde als Möglichkeit zum Austausch über qualitativ ausgerichtete Abschlussarbeiten im Gruppensetting Was meine Vorgänger*innen Bradley Fix, Sona Gazer und Liina Beckers zuvor als „Qualitatives Methodenfrühstück“ angeboten hatten, führte ich in meiner Funktion als Tutorin für Qualitative Forschungsmethoden unter den gegebenen COVID19-Auflagen online als „Quali-Runde“ weiter. Das Treffen findet einmal im Monat statt und dauert drei Stunden. Im Folgenden beantworte ich einige Fragen, die mir unsere derzeitige Dozentin für Qualitative Methoden, Heidi Siller, als Impulse für diesen Beitrag gestellt hatte.

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Wie bist du dazu gekommen, die Quali-Runde zu machen? Grundlage dafür, dass ich heute die Quali-Runde leite, war der Besuch des damaligen Qualitativen Methodenfrühstücks als Beratungs- und Austauschformat unter Studierenden, als ich mir selbst Unterstützung bei meiner Bachelorarbeit wünschte – und erhielt. Ich hatte also bereits selbst erfahren, wie hilfreich Peer-to-Peer-Treffen zu qualitativer Forschung sein konnten. Dazu, dass ich selbst die Quali-Runde leitete, kam es im Zuge des Antritts als Tutorin für qualitative Methoden. Die Stelle wurde mir angeboten, nachdem ich in meiner Bachelorarbeit sorgfältig umgesetzt hatte, was ich mir in den letzten Jahren aus besuchten Veranstaltungen an Wissen angeeignet hatte. Hier möchte ich anfügen, dass ich, so sehr ich mich damals über dieses Angebot freute und mich geehrt fühlte, gleichzeitig besorgt war, diese Aufgabe nicht bewältigen zu können – vor allem aus Sorge, die Vielfalt an qualitativen Methoden nicht zu überblicken und daher anderen diesbezüglich keine Hilfe leisten zu können. Ein wichtiger Mutmacher war hier einer meiner Vorgänger*innen, der mir als Motivation vor Beginn meiner Tätigkeit folgende Worte mit auf den Weg gab: „Das Wichtigste, was du für die Funktion braucht, ist Empathie. Und die hast du! Oft brauchen die Student*innen einfach eine Ermutigung dazu, ihr Projekt so durchzuführen, wie sie es wollen“. Und ja, wie ich heute bestätigen kann, macht neben der Unterstützung in qualitativen Methoden auch eine Form der psychologischen Unterstützung und Ermutigung einen wichtigen Teil meiner Aufgaben aus. Welche Erfahrungen machst du beim Leiten der Quali-Runde? Immer wieder merke ich in der Quali-Runde, dass es Studierenden hilft, sich mit ihren Schwierigkeiten bei der methodischen Umsetzung ihrer qualitativen Forschungsvorhaben nicht allein zu fühlen. Zudem hilft die Besprechung des Vorgehens bei Bachelor- und Masterprojekten dabei, sich anhand konkreter Beispiele Inspirationen für das eigene Vorgehen zu holen. Damit sich alle Teilnehmenden wohlfühlen und motiviert werden, sich einzubringen, lade ich alle herzlich dazu ein, ihre Kamera einzuschalten4 und bekunde mein Interesse an den mitgebrachten Themen. Am Anfang bitte ich alle Teilnehmenden, mich und die anderen kurz darüber in Kenntnis zu setzen, was sie heute mitbringen. Damit gewinnen wir einen Überblick, was

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Bislang mussten aufgrund der Corona-Pandemie fast alle Termine im Online-Setting stattfinden.

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ansteht. Außerdem habe ich schon erlebt, dass sich dadurch bereits zu Beginn Vernetzungen zwischen den Studierenden ergaben, etwa wenn sie ähnliche Forschungsfragen behandelten und sich z. B. eine Person schon darin eingelesen hatte und eine andere von deren Expertise und Literaturempfehlungen profitieren konnte. Immer wieder kommt es in der Quali-Runde zum Austausch von Kontaktdaten, der im Onlinesetting gut parallel im privaten Chat oder den geteilten Notizen organisiert werden kann. Es kommt auch vor, dass ich selbst den derzeitigen Stand der eigenen Masterarbeit und dabei aufgekommene Fragen teile. Ich zeige damit, dass ich auch als Tutorin selbst wie alle anderen Teilnehmenden Lernende bin und an den Stellungnahmen und Ideen der anderen interessiert bin. Dies soll eine Kommunikation auf Augenhöhe ermöglichen. Auch wenn die Gruppengröße der Quali-Runde insgesamt als klein zu betrachten ist – bislang lag die Teilnehmer*innenzahl zwischen zwei und zwölf Personen – kann ich Unterschiede in der Dynamik und der erforderten Aufmerksamkeit beobachten. Wenn z. B. zehn Personen an der Quali-Runde teilnehmen, können wertvolle Diskussionen mit diversen Inputs entstehen. Gleichzeitig ist es dann meine Aufgabe, als Moderatorin die Inklusion mit einigermaßen ausgeglichenen Redeanteilen aller Teilnehmenden zu gewährleisten, ohne dabei die Tiefe der Bearbeitung einzelner Anliegen zu sehr zu vernachlässigen, was mir mitunter ein hohes Maß an Aufmerksamkeit abverlangt. Zwischendurch spreche ich ruhigere Personen gezielt mit Namen an, um auch ihre Meinung zu erfahren. Sicherlich gilt es aber auch, darauf zu vertrauen, dass die Teilnehmenden – ist erst einmal eine einladende Atmosphäre geschaffen – bei Bedarf das Wort ergreifen werden. Welche Fragen werden dir von anderen Studierenden in der Quali-Runde immer wieder gestellt? Psychologiestudierende sind es aus den Statistik-Vorlesungen gewohnt, klaren Vorgaben zu folgen: Zum Bestätigen oder Widerlegen einer Hypothese bietet sich jeweils nur ein bestimmter Test an. Bei qualitativen Methoden sieht das anders aus: Die Landschaft der möglichen Zugänge ist dicht, wirr, vielseitig und nicht leicht zu überblicken. So ist wohl einer der häufigsten Fallstricke – und darin erkenne ich mich selbst wieder – das Treffen einer Entscheidung, welche Methoden(-kombinationen) man für seine Arbeit wählt. Immer wieder kommt es auch zu grundsätzlichen Zweifeln daran, ob das, was man macht, gut ist und Hand und Fuß hat. Studierende wünschen sich – wie es eine Studentin einmal formuliert hatte – manchmal einfach noch ein zusätzliches „Go“, um mit ihrer Arbeit fortzufahren. Eine immer wieder auftauchende Frage betrifft

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zudem die qualitative Inhaltsanalyse, die aufgrund ihrer Fähigkeit, große Datenmengen zu bewältigen, gerne von Studierenden mit qualitativen Anteilen in ihrer Arbeit herangezogen wird. Diese wissen dann oft nicht, ob sie deduktiv oder induktiv vorgehen sollen. Oft wissen sie nicht von der Möglichkeit der Integration beider Wege der Datenanalyse. Gerne wird auch Hilfe bei der Erstellung und Strukturierung des Interviewleitfadens gesucht. Als Klassiker entwickelte sich zudem die Frage, ob man in qualitativer Forschung Hypothesen aufstellen kann.

9 Herausforderungen, Chancen und Ausblick Was waren die größten Herausforderungen für dich, als du mit qualitativer Forschung begonnen hast? Wie bist du damit umgegangen? Als größte Herausforderung kann ich retrospektiv die Unübersichtlichkeit der qualitativen Forschungslandschaft benennen. Mit dieser sah ich mich konfrontiert, als ich mich mit dem methodischen Vorgehen in meiner Bachelorarbeit befasste. Zwar war mir bewusst, dass ich durch das Prinzip der Offenheit kreativen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung meines Projekts hatte, jedoch hatte ich das Gefühl „wie ein Ochs‘ vorm Berg“ zu stehen und mich durch die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten nicht durchzusehen. Damit einher ging mein Eindruck, dass keine Methode so recht zu meinem Thema zu passen schien. Aufgrund des explorativen Charakters meines Themas, welches u. a. das subjektive Verständnis des Begriffs der Entfremdung aus Sicht von Aussteiger*innen als Subjekten, die davon betroffen sind, behandelte, befand ich zunächst die Grounded Theory als gegenstandsangemessen und beschloss, mich in der Bibliothek darüber zu informieren. Dabei musste ich feststellen, dass es mittlerweile unzählige Ansätze dieser Methodologie gab. Ich war überfordert. Schließlich entschied ich mich dafür, das Buch von Strauss und Corbin (1996) mit nach Hause zu nehmen und durchzuarbeiten, weil hier ziemlich genau anhand eines Forschungsbeispiels das zirkuläre Vorgehen erläutert wird. Die Lektüre gestaltete sich als aufwendig, aber lohnenswert. So ganz passend schien mir die Grounded Theory jedoch letztlich nicht, weil mir der Gedanke einer Theoretischen Sättigung, wie sie dort am Ende erreicht werden soll, weit entfernt schien, wenn ich den Rahmen einer Bachelorarbeit einhalten wollte. Ich bevorzugte es stattdessen, wenige Interviews zu führen und dafür mehr in die Tiefe zu gehen. Zumindest orientierte ich mich bei meinem Vorgehen an einigen Paradigmen, wie sie von Vertreter*innen der Grounded Theory ansatz-

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übergreifend vertreten werden, nämlich an der Theoretischen Sensibilität, dem Theoretischen Sampling und dem Verwenden von In-vivo-Codes, wenn die Worte der Teilnehmenden eine Begebenheit so treffend ausdrückten, dass ich sie nicht mit meinen eigenen abstrahieren und damit verfremden wollte. Allmählich begriff ich, dass ich mein Projekt gar nicht in das Korsett einer einzigen Methode zwängen musste – auch wenn das Befolgen eines klaren Vorgehens natürlich das Gefühl von Sicherheit bezüglich Güte, Wissenschaftlichkeit etc. vermitteln kann, sondern gemäß meines Forschungsinteresses Adaptierungen vornehmen durfte, um in Triangulation mit bestehender Theorie und Forschung das Wissen über Entfremdung zu erweitern und zu verfeinern. So reicherte ich mein methodisches Vorgehen mit den Erfahrungen aus dem Empirischen Praktikum an, indem ich die restriktive und die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit als Analysekategorien dafür verwendete, wie mit Entfremdung umgegangen werden kann bzw. wie diese überwunden werden kann.5 Auf diese Weise versuchte ich, meinen Ergebnissen eine konstruktive und ansatzweise emanzipative Note zu verleihen. Herausfordernd war für mich zudem das erste Interview, das ich im Zuge meiner Bachelorarbeit führte. Zum einen war ich etwas misstrauisch, dass das Aufnahmegerät einwandfrei funktionieren und das Interview am Ende gut zu verstehen sein würde. Zum anderen fühlte ich mich wie ein Eindringling in eine andere Welt: Um den Laborcharakter gering zu halten, den Teilnehmenden eine angenehme Gesprächsatmosphäre in vertrauter Umgebung zu ermöglichen und einen Einblick in deren Lebenswelt zu gewinnen, besuchte ich sie in ihrer jeweiligen Ausstiegsumgebung. So lud mich die erste Teilnehmende ein, sie nach Unterrichtsschluss an der reformpädagogischen Schule anzutreffen, an der sie arbeitete. Wir saßen zu zweit in einem großen Klassenzimmer, in welchem nur das Ticken einer großen Uhr zu hören war. Meine Gesprächspartnerin neigte während des Antwortens immer wieder zu längeren Redepausen, was ich manchmal als unangenehm empfand. So sah ich es als herausfordernd an, die Geduld zu behalten, darauf zu vertrauen, dass mein Gegenüber schon eine Antwort finden würde, oder auch den passenden Augenblick zum Eingreifen und Nachhaken zu erkennen, wenn das Gespräch zu sehr stockte.

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Eine Teilnehmende nannte z. B. als Überwindung der durch den mangelnden Bezug zur Nahrungsmittelherkunft erlebten Entfremdung die Idee, Nahrungsmittelkunde als eine Art Kulturtechnik in der Schule einzuführen, die so selbstverständlich erlernt werden sollte wie Lesen und Schreiben. Selbst Landwirtin, gab sie zusammen mit ihrem Mann entsprechende Workshops über den Entstehungsprozess des Endprodukts, bei dem die Teilnehmenden vom Anfang bis zum Ende dabei sein durften (z. B. „vom Euter zum Feta“ bei der Schafmilchverarbeitung).

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Das Gespräch gestaltete sich als Testlauf meines Interviewleitfadens, der sich in dieser Form bei den folgenden Interviews nicht bewähren sollte – einige Fragen entfernte ich, andere fügte ich hinzu. Es war eine spannende Erfahrung, zu sehen, wie die Forschungssubjekte auf die von mir formulierten Fragen sowie auf mich als Forscherin und Gesprächsteilnehmerin reagierten. Bei vielen auftretenden Unsicherheiten machte ich die Erfahrung, dass für mich der wertvollste Umgang damit war, mit anderen darüber zu sprechen – mit Freund*innen, aber auch mit damaligen Tutor*innen in Einzelberatungen wie auch beim Qualitativen Methodenfrühstück. Was sind jetzt die größten Herausforderungen für dich, wenn du an qualitative Forschung denkst? Eine Herausforderung, die qualitativer Forschung innewohnt und von der ich auch heute noch betroffen bin, ist die Anforderung, sehr viel lesen zu müssen, um die Grundprinzipien, aber auch die Vorgehensweisen gewisser methodischer Ansätze so zu verstehen, wie sie von deren Entwickler*innen intendiert sind. Mittlerweile habe ich zwar einen größeren Überblick über bestehende Erhebungs- und Auswertungsmethoden der qualitativen Forschung und deren Kombinationsmöglichkeiten gewonnen, kann jedoch längst nicht sagen, dass ich die meisten Zugänge kennen würde und davon gehört hätte. Schwierig finde ich noch immer manchmal, inwieweit ich mich als Individuum mit meinen Sichtweisen und Erfahrungen im Kontext eines Forschungsprojektes einbringen kann. Schon in meiner Bachelorarbeit kam es mir manchmal zu privat vor, meine Empfindungen vor, während und nach den Interviews mit den Lesenden zu teilen, nicht weil ich sie nicht preisgeben wollte, sondern weil ich befürchtete, dass dies als „unwissenschaftlich“ kritisiert werden könnte. Unlängst habe ich mich im Zuge der Beschäftigung mit Expert*inneninterviews mit der Frage auseinandergesetzt, ab wann jemand in qualitativer Forschung als Expert*in gilt. Hierzu gibt es divergierende Ansätze (Bogner et al. 2002). Die einen sagen, in qualitativer Forschung seien die Befragten immer als Expert*innen – ihrer Lebenswelt – zu betrachten, die anderen sagen, um als Expert*in zu gelten, brauche es ein Spezialwissen, das in einer Diskussion auf Meta-Ebene artikuliert werden kann, wobei eigene Erfahrungen unwichtig seien. Zusätzlich wird etwa zwischen explorativen, systematisierenden und theoriegenerierenden Expert*inneninterviews unterschieden. Dies ist ein Beispiel dafür, dass es unendlich viele Methoden gibt, die teilweise in sich nochmal in verschiedene Unterformen aufgeschlüsselt werden.

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Ebenfalls keine eindeutige Antwort kann ich auf die Frage nach allgemeinen Gütekriterien qualitativer Forschung geben. Einigermaßen aktuell ist Strübings Ansatz, der in einem Diskussionsanstoß fünf Gütekriterien herausgestellt hat: 1. Gegenstandsangemessenheit, 2. Empirische Sättigung, 3. Theoretische Durchdringung, 4. Textuelle Performanz, 5. Originalität (Strübing 2018). Er reagiert damit auf die herrschende Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit, die durch die auf einzelne methodische Zugänge zugeschnittenen Gütekriterien zustande kommt. Manchmal scheint mir, als herrsche große Uneinigkeit darüber, wie qualitative Forschung zu funktionieren hat. Aber vielleicht ist dies auch einfach ein Nebenprodukt des verfolgten Prinzips der Gegenstandsangemessenheit, die jedes Forschungsprojekt sehr individuell sein lässt. Was findest du wichtig, das andere Studierende von qualitativer Forschung mitnehmen? Wünschenswert ist für mich die Weitergabe der Botschaft, dass qualitative Forschung wirklich bereichernd sein kann und die eigene Kreativität anregt. Für jedes individuelle Forschungsprojekt kann sich ein neu zusammengestellter Kanon an (Teil-)Methoden ergeben, mit welchem man sich dem Gegenstand am besten annähern kann. So möchte ich Studierende dazu ermutigen, kreativ zu sein und methodische Zugänge im Sinne des Forschungsgegenstandes abzuwandeln, anstatt starr und ohne jedes Hinterfragen einer bestimmten Methode zu folgen – natürlich immer unter Dokumentation der Gründe für das individuelle Vorgehen. Gerne lege ich Studierenden auch ans Herz, ein Forschungstagebuch zu führen, in welchem ungefiltert alle flüchtig auftauchenden Ideen, aber auch tiefergehende Gedankengänge sowie begleitende Gefühle festgehalten werden können. Retrospektiv ist es oft spannend und aufschlussreich, sich auf diese Weise den Forschungsprozess noch einmal chronologisch anzuschauen und sich der Gewordenheit der einzelnen Schritte bewusst zu werden – jenseits all der Artikel und Dateien, die man auf dem Rechner losgelöst voneinander abgespeichert und angefertigt hat. Im Zuge der oft auftretenden Sorge vor dem ersten Interview, dass das Gegenüber nichts sagen wird, sehe ich zudem den Gedanken als hilfreich an, dass die Befragten oft selbst von den Gesprächen profitieren. Sie bekommen hier den Raum, sich zu einem sie betreffenden Thema zu äußern. Durch die dabei auftretende Selbstverständigung erlangen sie ein tieferes Bewusstsein über das, was sie beschäftigt.

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10 Conclusio Wie aus den obigen Darstellungen deutlich geworden ist, sehe ich in Peer-toPeer-Angeboten außerhalb von Pflichtlehrveranstaltungen ein hohes Potenzial, Studierende für qualitative Forschung zu begeistern und Vernetzung und gegenseitige Hilfestellung zu ermöglichen. Mit der Nachzeichnung eigener Berührungspunkte mit qualitativer Forschung sollte verdeutlicht werden, dass für die Vertiefung darin das Angebot im unmittelbaren Umfeld eine Rolle spielt, aber auch Eigeninitiative und die Ermutigung durch andere Studierende ausschlaggebend sein können.

Literatur Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfgang (2002): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden: Springer. Ferienuni Kritische Psychologie (2018): Ask them why. https://2018.ferienuni. de/ask-them-why-de/ [Zugriff: 10.03.2022]. Freud, Sigmund/Mitscherlich, Alexander (1980): Studienausgabe in 10 Bänden: 2: Die Traumdeutung (5., korr. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer. Holzkamp, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt am Main: Campus. Mayring, Philipp (2003): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim und Basel: Juventa. Markard, Morus (2000): Kritische Psychologie: Methodik vom Standpunkt des Subjekts. In: Forum Qualitative Sozialforschung, 1(2). http://www. qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1088/2382 [Zugriff: 15.03.2022]. Strasser, Irene et al. (2018): Das Subjekt im Fokus der Forschung: aktuelle Ansätze partizipativer Forschungsmethoden. In: Forum Qualitative Sozialforschung, 19(2), Art. 24. https://www.qualitative-research.net/index. php/fqs/ article/view/3036/4243 [Zugriff: 21.01.2023]. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Strübing, Jörg et al. (2018): Gütekriterien qualitativer Sozialforschung. Ein Diskussionsanstoß. In: Zeitschrift für Soziologie, 47(2), S. 83–100. https:// doi.org/10.1515/zfsoz-2018-1006 [Zugriff: 20.01.2023]. Universität Klagenfurt (o. D.): Arbeitskreis Qualitative Sozialforschung. https://www.aau.at/qualiklu/ [Zugriff: 17.03.2022].

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Wang, Caroline/Burris, Mary Ann (1997): Photovoice: Concept, methodology, and use for participatory needs assessment. Health Education & Behavior, 24(3), S. 369–387. https://doi.org/10.1177%2F109019819702400309 [Zugriff: 20.01.2023].

II. METHODENWAHL UND BESONDERHEITEN DES FORSCHUNGSGEGENSTANDS

„Eine ganz andere Welt …“. Untersuchung mit dem Verstehenden Interview zur Bedeutung von Armut und Ausgrenzung für Biografie und Identität Anna Weinberger und Alban Knecht

Keywords: Verstehendes Interview, Biographieforschung, Armut, Ausgrenzung, Armutskonferenz

1 Das Projekt Wodurch und in welcher Weise erfahren „Armutsbetroffene“ soziale Ausgrenzung und wie prägen diese Erfahrungen ihr Leben? Im Folgenden werden der Entstehungsprozess sowie die Ergebnisse einer Masterarbeit (Weinberger 2019) des Studiengangs Sozialräumliche Soziale Arbeit an der FH Campus Wien vorgestellt, die dieser Fragen mit der Methode des Verstehenden Interviews von Jean-Claude Kaufmann nachgegangen ist. Das Interesse lag dabei auf der „Innensicht“ der Befragten, d. h. auf den subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen von Ausgrenzung. Mittels der Methoden des Verstehenden Interviews sowie biografischen Fallrekonstruktion und stellenweise sequenzanalytischer Auswertung wurden in einem Wechselspiel von empirischer Interpretationsarbeit und theoretischer Reflexion relevante Marker im Ausgrenzungserleben der Befragten herausgearbeitet. Ausgangspunkt der Masterarbeit war ein vom Fond Gesundes Österreich finanziertes Projekt der Armutskonferenz – österreichisches Netzwerk gegen Armut und Ausgrenzung zum Themenkomplex Armut und Beschämung, das den Titel „Gesundheitsförderung zwischen Wertschätzung und Beschämung. Gesundheitliche Belastungen von Armutsbetroffenen durch Abwertung und vorenthaltene Anerkennung vermeiden“ trug und in den Jahren 2018 und 2019 durchgeführt wurde (FGÖ 2021). In die Realisierung war die „Plattform Sichtbar Werden“ – ein österreichweiter Zusammenschluss von Initiativen mit

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Armuts-, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrenen und betroffenen Einzelpersonen (Armutskonferenz 2021) im Sinne partizipativer Forschung eingebunden. Im Mittelpunkt des Projekts standen die gesundheitlichen Folgen von fehlender Anerkennung, Abwertung, Beschämungserfahrungen und Benachteiligung aufgrund von Armut sowie die Entwicklung von Gegenstrategien. Dementsprechend fokussierte die Masterarbeit zu Beginn Beschämungserfahrungen aufgrund von Armut sowie Scham und gesundheitliche Beeinträchtigungen als spezifische, subjektive Folge dieser Belastungen. Forschungsleitende Fragen waren u. a., wie sich das subjektive Erleben von Armut darstellt, inwieweit und auf welche Weise Stereotypisierung und Beschämung aufgrund von Armut das Leben der Befragten prägen, die Bedeutung von Stigmatisierung und Beschämung für Wohlbefinden und Gesundheit sowie ihre Bedeutung für gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme. Unter diesem Blickwinkel erfolgten die methodischen Überlegungen zur Durchführung der Masterarbeit und die Auswahl des Verstehenden Interviews von Jean-Claude Kaufmann (2015) als Erhebungs- und Auswertungsinstrument, das die Subjektivität der Befragten in den Mittelpunkt stellt.

2 Die Methode des Verstehenden Interviews Wie viele andere Interviewmethoden umfasst das Verstehende Interview nach Jean-Claude Kaufmann eine methodische Anleitung für die Interviewführung wie auch für die Auswertung. Die Methode zielt darauf ab, mittels offener Interviews und einer interpretativen Auswertung subjektive Denk- und Argumentationsweisen zu rekonstruieren, um so einerseits gesellschaftliche Konstruktionen, die hinter dem Gesagten stehen, sichtbar zu machen (vgl. Kaufmann 2015: 27) und andererseits die Herstellung der eigenen Identität wie auch die (Re-)Produktion des Gesellschaftlichen durch die Individuen zu betrachten. Die Vorgehensweise ist gekennzeichnet durch das „Herausarbeiten einer möglichst feinen Wechselwirkung zwischen Daten und Hypothesen“ (ebd.: 13) mit dem Ziel, ein gesättigtes Theoriemodell zu generieren. Mit Hypothesen werden bei der Methode des Verstehenden Interviews keine statischen, verifizierbaren oder falsifizierbaren Aussagen bezeichnet, sondern Annahmen, die aus dem Material generiert werden, in den weiteren Schritten immer wieder am Material überprüft und angepasst werden – und sich schließlich zu einem Modell verfestigen. Eine Anfangshypothese, also eine grundlegende Ausgangsfrage, ist zwar forschungsleitend, hat aber immer nur „provisorischen Charakter“ (ebd.: 87), da „die Forschung nur dann vorangehen wird, wenn die

Untersuchung mit dem Verstehenden Interview

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Hypothesen durch die Fakten in Bewegung versetzt werden und neue Ideen daraus hervorgehen“ (ebd.). Die Theoriegenerierung geschieht beim Verstehenden Interview also durch eine Interpretationsarbeit, die als „Detektivarbeit“ (vgl. ebd.: 85) verstanden wird. Das von den Befragten Geäußerte wird durch die Konstruktionsleistung des*der Forschenden, der*die diese Interpretationen in der ständigen Überprüfung zu einem sinnvollen, erklärenden Ganzen formen muss, in ein interpretatives, doch objektivierbares – also im Material begründetes – Ganzes gebracht. In Kaufmanns eigenen Studien rückte in der Analyse, wie Individuen ihrem Handeln und ihrem Sein Sinn geben, das Thema der Identitätsbildung mehr und mehr in den Vordergrund (s.a. Kaufmann 2005, 2010): „In der Konfrontation mit diesem bunt zusammengewürfelten Gesellschaftlichen, das es inkorporiert hat, wird das Individuum nur dadurch es selbst, dass es sich eine Identität zusammenbastelt, das heißt, indem es an dem Faden spinnt, der seinem Leben einen Sinn verleiht.“ (Kaufmann 2015: 68). Die Herstellung der eigenen Identität geschehe einerseits dadurch, dass erlernt wird, seine Biografie schlüssig zu erzählen („biographische Identität“), gleichzeitig werde die Identität in Aussagen (über sich selbst) situativ erzeugt („situative Identität“; Kaufmann 2005: 157f.). Diese Idee der situativen Herstellung von Identität prägt auch Kaufmanns Perspektive auf das Interview. In der Interviewsituation erfindet eine befragte Person, die über sich erzählt, sich selbst. Demnach sei die Idee einer „objektiven“ Befragung, durch die eine a priori bestehende Wirklichkeit im Kopf der befragten Person abgebildet und die Person der Interviewer*in möglichst neutralisiert werden solle, illusorisch (Kaufmann 2015: 18f., s. a. Knecht 2020: 246). Kaufmann plädiert deshalb für eine empathische, sich auf den Austausch einlassende Haltung der Interviewer*innen, die versuchen sollten, ihr jeweiliges Gegenüber möglichst tiefgehend zu verstehen (Kaufmann 2015). Die Datenerhebung erfolgt anhand eines Leitfadens, der nicht strikt abgehandelt wird, sondern ein offenes und veränderbares Instrument darstellt (ebd.: 52f.). Ähnlich wie bei einem narrativen Interview sind die ersten Fragen tonangebend und beeinflussen die Gesprächsdynamik (vgl. ebd.), jedoch folgt der Leitfaden einer bestimmten Fragestellung und bildet daher ein kohärentes Ganzes. Im Laufe des Projekts kann der Leitfaden verändert und an das Forschungsfeld angepasst werden. Kaufmann empfiehlt sogar, früh im Projektverlauf erste Interviews zu führen, sich mit auftauchenden theoretischen Aspekten parallel zu beschäftigen und gegebenenfalls Fragestellung und Interviewleitfaden für weitere Interviews anzupassen (ebd.). Für die Auswertung empfiehlt Kaufmann (ebd.: 88) das wiederholte Anhören der Interviewaufnahmen, die Filterung zentraler Momente darin (vgl. ebd.: 85ff.)

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und das Anlegen von Karteikarten (ebd.), das die Hypothesenbildung unterstützten soll. Anders als bei Transkriptionen können über die Audioaufnahmen Elemente wie Tonfall, Rhythmus und Ähnliches berücksichtigt werden. Das flexible Hin- und Herwechseln zwischen Daten und Interpretation und die enge Verbindung zwischen Erhebung und Auswertung zeichnen die Methode aus (vgl. Paris 2008). Im Unterschied zu den Methoden der Grounded Theory und der qualitativen Inhaltsanalyse arbeitet das Verfahren ohne Kodierungen; die Distanzierung (Breidenstein et al. 2015: 109f.) zu einem Alltagsverständnis geschieht schrittweise durch das Aufstellen von Hypothesen sowie durch deren Prüfung, Verwerfung und Verfeinerung. Von der Ethnografie unterscheidet sich das Verfahren vor allem durch die Fokussierung auf den gesprochenen Text.

3 Methodisches Vorgehen und Durchführung Um eine Vielfalt an Lebenserfahrungen abzudecken, empfiehlt Kaufmann (2015: 46), Personen unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Lebenssituationen zu befragen. Im beschriebenen Projekt waren die Befragten Männer und Frauen zwischen 20 und 66 Jahren in unterschiedlichen Lebenssituationen, darunter arbeitslose Menschen, ehemalige Leiharbeiter und Menschen mit psychischer Erkrankung oder Mehrfachbehinderung. Neben dieser Unterschiedlichkeit lag der Auswahl als gemeinsames Kriterium die Armutsgefährdung gemäß der Definition der EU1 zugrunde. Die Armutsgefährdungsschwelle betrug in Österreich zum Zeitpunkt der Interviews, im Jahre 2018, für eine alleinstehende Person 1.259 €, für einen Zwei-Personen-Haushalt 1.888 € und für ein Elternpaar mit zwei Kindern 2.643 € (vgl. Statistik Austria 2019: 10). Der Zugang zu den Befragten erfolgte zum einen über die Armutskonferenz, zum anderen über Kontakte im sozialarbeiterischen Umfeld der Autorin. Zu Beginn der Untersuchung im Herbst 2017 wurde ein ca. einstündiges exploratives Gruppeninterview mit sechs Personen geführt. Zum einen konnten so die Anfangshypothesen besser formuliert werden, zum anderen wurden Beschämung und Gegenstrategien bereits inhaltlich thematisiert. Von Anfang bis Mitte 2018 wurden fünf Einzelinterviews mit einem offenen Leitfaden nach der Methode des Verstehenden Interviews geführt. Zur Auswertung 1

Gemäß der Europa-2020-Strategie (vgl. Statistik Austria 2019: 25) werden jene Personen als armutsgefährdet definiert, die in Haushalten leben, die höchstens 60% jenes mittleren Haushaltseinkommens zur Verfügung haben, das zwischen der oberen und der unteren Hälfte alle Haushalte in Österreich liegt (Medianeinkommen).

Untersuchung mit dem Verstehenden Interview

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wurden gemäß Kaufmanns Methode Karteikarten angelegt, um spontane Beobachtungen, Überlegungen, Interpretationen und Ideen festzuhalten. Dabei wurden die auf den Karteikarten notierten Gedanken immer mit transkribierten Zitaten verknüpft (s.u.).

4 Erkenntnisse im Forschungsprozess Das Konzept einer an einem Schwellenwert festgemachten Armutsgefährdung unterstellt eine klare Grenze zwischen „Armen“ und „Nicht-Armen“. Diese strikte Unterscheidung wurde zur methodischen Präzisierung für die Bestimmung des Samplings herangezogen. Es müssen dabei aber mehrere Aspekte mitbedacht werden. Durch die Trennung wurden die Befragten mehr oder weniger explizit als „Arme“ angesprochen, was für die Befragten eine Anrufung, eine Vorab-Festlegung bzw. die Betonung einer Identitätsfacette darstellen kann – und vielleicht sogar eine Beschämung. Auch prägen subjektive Erfahrungen die Wahrnehmung und Verarbeitung der Betroffenen von Ereignissen. Es kann jedoch nicht angenommen werden, dass diese an sich anders wären als bei „Nicht-Armen“. Erfahrungen von Armut werden v.a. dann gemacht, wenn eine Selbstzuordnung als „Armutsbetroffene“ in ihren Augen explizit gegeben ist. Benachteiligung innerhalb einer Gruppe von „Armen“ erfolgt zudem oft auch über andere Ungleichheits-/Intersektionalitätskategorien (vgl. Degele/Winker 2009, Crenshaw 1989) wie Geschlecht, Klasse, Alter oder das Vorliegen einer Beeinträchtigung. Die Betroffenen bilden weiters selbst den Ausgangspunkt ihrer Erzählungen und tätigen diese vor dem Hintergrund ihrer je eigenen Deutungen. Sie präsentieren ihr Leben in einem ausgewählten Kontext, der für sie gegenwärtig bestimmend ist. Über die subjektive Bedeutung von Armut kann daher auch die Positionierung der Befragten in Bezug zu ihrer Lebenssituation an sich erfahren werden, da diese den Untergrund für die Erzählungen bildet. Gerade weil es sich um ein Forschungsvorhaben handelt, das die subjektiven Sinnzuschreibungen zum Gegenstand hat, sollten jedoch möglichst weder vorgefassten Annahmen über Armut vorangestellt werden, noch die Befragten – durch den Blick der Autorin – homogenisiert werden. Daher wurde für die geplante Untersuchung zu den mit Armut verbundenen Beschämungserfahrungen zuerst den subjektiven Definitionen von Armut der Befragten nachgegangen. Das gab ihnen Raum für ihre Deutungen, nahm diese ernst und ermöglichte – durch die Distanzierung der Autorin von A-priori-Kategorisierungen – eine viable Beforschung sowie eine bessere Erschließung des Kontextes der Erzählung der Befragten zu Armut, Beschämung wie auch

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zur allgemeinen Einschätzung ihres Lebens. Als Einstiegsfrage wurde daher „Was verstehen Sie unter Armut?“ gewählt und gefragt, ob sich die Befragten selbst als „arm“ oder „armutsbetroffen“ beschreiben würden. Die Sichtweisen der Befragten waren ausschlaggebend für die Modifikation des inhaltlichen Schwerpunkts der Arbeit von „Armut“ hin zu „Ausgrenzung“: Als Methode der interpretativen Forschung lebt das Verstehenden Interviews von Offenheit und Flexibilität in den unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses (vgl. Lamnek/Krell 2016: 186; Reichertz 2016: 88). Forschungsfragen und Hypothesen, aber auch theoretische Annahmen, das Sampling und das Forschungsdesign können „durch das Beobachtete“ (ebd.) modifiziert und angepasst werden. So erfuhr auch der Untersuchungsfokus im Zuge der ersten Auswertungen über intensive Hörphasen und Hypothesenarbeit eine Veränderung. Es zeigte sich bereits bei Analyse der Einstiegsfrage zu den subjektiven Armutsverständnissen, dass Armut in den emischen, also den subjektiven, „von innen“ vollzogenen Sichtweisen viel breiter gefasst wird als im gängigen Verständnis von finanzieller oder materieller Deprivation. Vielmehr werden finanzielle, psychische, physische, soziale und auch moralische Aspekte verschränkt, wie z. B. in folgendem Zitat deutlich wird: Es gibt verschiedene Ausprägungen von Armut. In … meiner Situation ist … Armut am ehesten damit verbunden, dass man in seinem Leben oder in seinen Perspektiven … eingeschränkt ist, also dass man von daher nicht die volle Fülle der Möglichkeit … in Anspruch nehmen kann oder genießen kann oder wie immer man das nennen will. Ja, das ist, das ist meine Definition von Armut … also in seinen Möglichkeiten eingeschränkt zu sein, … psychisch und physisch vielleicht sogar. (Weinberger 2019: 16) Armut wird gemäß den Interviews als Mangel an Geld, Mobilität, Selbstwert oder Freiheit, als Behinderung an Möglichkeiten und Perspektiven oder auch als Gewalt erlebt. Armut wird als Zustand des Mangels erlebt, der bis in das Erleben der eigenen Existenz reicht, und als Behinderung der Selbstverwirklichung, die die Identität berührt (s.a. Weinberger 2019: 19). Diese Perspektive lässt sich besser unter dem Begriff Ausgrenzung fassen. Für die weitere Analyse wurde daher die Forschungsperspektive vom Fokus auf Armut und Beschämung in Richtung Ausgrenzung erweitert und mit neuen forschungsleitenden Fragen und einem veränderten „Blick“ an das Material herangegangen. Die aktualisierten forschungsleitenden Fragen fokussierten nun, wodurch die Befragten Ausgrenzung erleben und inwiefern diese ihr Leben prägt, wie sich die biografischen Konstruktionen im Ausgrenzungs-

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erleben gestalten, welche gesellschaftlichen Mechanismen für das Ausgrenzungserleben eine Rolle spielen und welche Strategien der Anpassung und Gegenentwürfe die Befragten entwickeln. Mit diesen angepassten Fragen konnten auch die bereits vorhandenen Interviews ausgewertet werden, da sie relativ offen geführt worden waren. Die ersten Interviews entsponnen sich ja aus der Einstiegsfrage heraus, womit im vorhandenen Material der Bezug zum Ausgrenzungserleben bereits gelegt war. Wie das Thema Ausgrenzung, so trat auch die zentrale Rolle der Biografie früh im Auswertungsprozess in den Vordergrund, sowohl in den Ausgrenzungserfahrungen als auch in der generellen Deutung des Lebens: Die Befragten vollzogen zeitliche Gegenüberstellungen, wodurch insbesondere die Brüche in ihren Biografien relevant wurden. Daher wurden die Biografien zusätzlich zum Verstehenden Interview mit Bezug auf die Methode der Biografieforschung (vgl. Rosenthal 2019) chronologisch rekonstruiert. Gemäß dieses Forschungszugangs müssen die „lebensgeschichtlichen Erfahrungen“ in ihrem Zeitverlauf miteinbezogen werden (vgl. ebd.: 586). Biografie wird in dem Ansatz der Biografieforschung von Rosenthal nicht als etwas rein Individuelles, sondern als „soziales Konstrukt verstanden, das auf kollektive Regeln, Diskurse […] und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist“ (ebd.: 587) und damit sowohl „ein individuelles und ein kollektives Produkt“ darstellt (ebd.). Über die Biografie und die Art und Weise ihrer Konstruktion können die Wechselwirkungen (ebd.) zwischen Gesellschaft und Individuum erschlossen werden, was Grundlagen und Zielen des Verstehenden Interviews entspricht. In ähnlicher Weise diskutiert Kaufmann Identität als „die Geschichte, die jeder von sich erzählt“ (2005: 157f.). Ein*e Erzähler*in kann Ereignisse, Vorkommnisse und Erfahrungen, mit denen sie konfrontiert wird, in der Reflexion zu einer logischen Erzählung zusammenfügen, in denen das Ich als handelnde Person ein Kontinuum darstellt, also immer die gleiche ist; es entwickelt eine „biographische Identität“: „Über die Erzählung von sich selbst hinaus, die nur bruchstückhaft sind, versucht das Ego langfristig sein Leben zu vereinheitlichen“ (ebd.: 163). Dabei spielen jedoch die realen Vorkommnisse genauso eine Rolle wie kollektive Vorstellungen (ebd.; 158, 211f.).

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5 Ergebnisse2 Biografische Brüche. Ausgrenzung wurde in den Interviews häufig im Rahmen ‚biografischer Brüche‘ thematisiert. In Ihren Erzählungen stellen die Befragten einem Heute ein anderes Früher gegenüber. Dazwischen liegen prägende, belastende biografische „Stationen“, die sich auf Ziele, Wünsche und Vorstellungen beziehen, die einmal möglich schienen, es jetzt aber nicht mehr sind. Die „Brüche“ sind dabei singuläre Ereignisse wie ein Unfall, der zu Mehrfachbehinderung führte, länger dauernde biografische Abschnitte wie eine Suchterkrankung und die aus ihre folgende Abwärtsspirale, Traumata wie familiäre Gewalt oder Machtlosigkeit, die sich später auch im Beruf wiederfindet, Verlassenheitserfahrung in der Kindheit oder auch ein dauerhaft unerfüllter Berufswunsch, der in Leiharbeit resultiert. So werden z. B. der Bruch und die Rolle der Biografie in einer Erzählung von Christian (Christian3 2018, zit. n. Weinberger 2019: 83f.) sichtbar. Auf die Frage nach seinen gesundheitlichen Problemen zählt er keine Beschwerden auf, sondern erklärt seinen Zustand durch einen Prozess: Unterschiedliche biografische Elemente fallen über einen Zeitverlauf zusammen und verdichten sich zu einem gegenwärtigen Zustand. Gesundheit stellt in Verbindung mit der Biografie eine umfassende Situation dar, die sich aus vielfältigen Aspekten und Teilprozessen zusammensetzt. Sie ist Resultat einer Geschichte, es muss ausgeholt werden, weil erzählenswert ist, was man nicht sieht und was nicht nur die Gesundheit als Gegenteil von Krankheit betrifft. Exklusion und Inklusion werden auf diese Weise stark biografisch aufgeladen; die Reflexion der Biografie erzeugt die Identität. Die biografischen Brüche sind dabei auch mit Brüchen in der Identität verbunden, sie erfordern die Umdeutung der eigenen Lebenssituation: Erst wie ich akzeptiert habe, dass ich halt so, wie ich gsagt hab, net oben, net unten, [sondern] irgendwo mittig [bin.] … erst wie ich mich mit dem völlig abgefunden habe, konnte ich überhaupt wieder eine Persönlichkeit sein. (Christian 2018, zit. n. Weinberger 2019: 83)

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Im Folgenden werden die Ergebnisse – anders als in der dem Artikel zugrunde liegenden Masterarbeit – im Rahmen des Identitätskonzepts von Kaufmann (2005) dargestellt, um die Stärke des Verstehenden Interviews bei der Rekonstruktion von Identitätsaspekten aufzuzeigen. Siehe zur originalen Darstellung Weinberger 2019: 33f. Alle Namen, Orte und persönlichen Merkmale wurden anonymisiert, Zitate wurden im Sinne besserer Verständlichkeit in Schriftdeutsch dargestellt.

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Diese Brüche sind nicht nur vergangene Erlebnisse, sondern prägen auch das jetzige Leben in Bezug auf soziale Partizipation, emotionale Bindung, Zukunftsperspektiven, materielle Absicherung und Identität. Zudem ergeben sich aus ihnen bestimmte „Identitätskategorien“, die den Bezugspunkt des Ausgrenzungserlebens der Befragten darstellen. Die Erfahrungen als Leiharbeiter bzw. die Selbstdefinition des „geknechteten Arbeiters“ (Gerhard 2018: Z 242), der Zustand von Mehrfachbehinderung durch psychische Erkrankung, Ausbildung und die Notwendigkeit, sich ein Zubrot zu verdienen im Jugendalter, oder der Lebensweg einer bewältigten Suchterkrankung – das alles sind Bezugskategorien und Perspektiven, mit denen die Befragten sich selbst, ihr Leben als solches und ihre gegenwärtige Situation reflektieren. Diese Identitätskategorien bilden den biografischen Rahmen, in dem auch ihre Armutserfahrungen liegen; sie legen fest, wie sich ihre jetzige Lebenssituation als Armutssituation gestaltet, was einmal möglich war und jetzt nicht mehr möglich ist. Das wird auch in der Erzählung von Bärbl sichtbar, die durch einen Unfall erblindete und zudem auf einen Rollstuhl angewiesen ist: Aber das ist halt auch eine sehr, meine speziell betreffende Situation halt, bedingt durch die Behinderung. Also, ja. Aber natürlich empfinde ich mich dann auch als arm, ja als, wie soll ich sagen, als mobilitätsarm, reisearm, erlebnisarm, freundschaftsarm, beziehungsarm, ja … also … Ich meine, das ist die Frage, was man unter Armut versteht, ob das immer nur was mit Einkommen zu tun hat … oder [mit] Freiheit … „freiheitsarm“ (Bärbl 2018, zit. n. Weinberger 2019: 37). Die Behinderung ist ein Einschnitt in Bärbls bisheriges Leben und wirkt sich auf alle anderen Bereiche aus, auf die finanzielle Situation, die Mobilität, die Sozialkontakte, die Kosten für das Lebensnotwendige, die Selbständigkeit und Abhängigkeit – es wird, wie sie selbst sagt „ … eine ganz andere Welt“ (ebd.). Vergleiche in metaphorischen Räumen. Im Material haben sich implizite oder explizite Vergleiche gezeigt, die analytisch in Vergleiche mit sich selbst, Vergleiche mit anderen und Vergleiche durch andere unterteilt werden können. Die Befragten stellen in diesen Vergleichen ihre gegenwärtige Lebenssituation dar über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von potenziell Möglichem und tatsächlich Möglichem und im Verhältnis ihrer selbst zu anderen. Vergleiche werden über Bewertungen vollzogen und damit hierarchisiert in: gut – schlecht, Anerkennung – Stigmatisierung, berechtigte Forderungen – anmaßende Forderungen. Oft spielen Normalitätsvorstellungen wie Leistung, Lebensstandard oder die Frage, was für die befragte Person „normal zu leben“ bedeuten würde, eine Rolle. Gesellschaftliche Bedingungen wie finanzielle Absicherung,

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Bewertungen, aber auch die eigene Körperlichkeit und der familiäre Background beschränken oder öffnen den Zugang der Befragten zu Sozialkontakten, Erwerbsarbeit, Mobilität, Widerstand, Selbstachtung u.v.m. Der Raum der Befragten ist damit auch „Möglichkeits-“ und „Handlungsraum“, der jedoch stark durch strukturelle Gewalt (Galtung 1975) geprägt ist (siehe hierzu Weinberger 2019: 50f.), in dem also Handeln und Entfaltung durch Strukturen verunmöglicht wird. Über die Vergleiche, über die erlebten Behinderungen, den Mangel an Möglichkeiten und spezifische biografischen Erfahrungen (s. u.) ergibt sich ein Raum der Relationen. Hier sind die Befragten in bestimmter Weise – auch sozial – verortet, was sich auch in Äußerungen wie „oben“, „unten“, „mittig“, „parallel“, „außerhalb“, in unterschiedlichen „Sphären“, „Welten“, „Leben“ ausdrückt. (Fehlende) Handlungsfähigkeit. Handlungsfähigkeit bezeichnet in der „structure-agency-Debatte“ (vgl. Raithelhuber 2008: 27) Strategien und Bedingungen von Selbstermächtigung, um das eigene Leben zu gestalten. Sie wird in den jeweiligen Kontexten, in denen sich die Befragten befinden und über die sie ihre Identität hervorbringen, spezifisch herausgebildet. Es zeigen sich bei den Befragten Strategien, um sich selbst vor dem Zusammenbruch gegenüber bedrohlichen Bedingungen zu bewahren, oder Strategien, um sich neue Räume zu eröffnen (zum Beispiel bei der Überwindung einer Suchterkrankung). Neben angewandten Strategien werden auch Bedingungen diskutiert, die notwendig wären, um überhaupt handlungsfähig zu werden. In den geführten Interviews wurden unterschiedliche Ausmaße von Handlungsfähigkeit und unterschiedliche Strategien beschrieben. Einerseits gibt es Beschreibungen sehr geringer Handlungsfähigkeit, zum Beispiel im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen: Es wird oft fälschlicherweise, wenn Menschen inaktiv sind oder geworden sind – das wird als Faulheit ausgelegt. Unsinn. Wer das sagt, der hat meistens keine Ahnung … über die … wirklichen Gründe. Oft steckt einfach eine psychische Erkrankung oder Depression dahinter. Es gibt einfach viele Menschen, die es gar nimmer schaffen, aus dem Bett rauszukommen … und das muss man leider auch endlich einmal sehen und in die Amtsstuben tragen: Nicht jeder, der vielleicht einmal einen Termin schwänzt, ist ein arbeitsscheues Gesindel. (Jürgen, zit. n. Weinberger 2019: 99) Ein anderer Interviewter thematisiert die Zeitknappheit, die er erlebt hat im Zusammenhang mit einer Situation der Mehrfachbelastung von Ausbildung, psychischer Erkrankung und der Notwendigkeit, zusätzlich zu arbeiten, um genug zum Leben zu haben:

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… das Problem von den Menschen, warum sie wahrscheinlich Burn-out kriegen oder die Depressionszahlen und Selbstmordzahlen hochgehen, ist, weil man die Zeit nicht hat, sich darum zu kümmern. […] und dann geht man einfach weiter … Das geht nicht gut aus, das geht überhaupt nicht gut aus, weil … man muss aktiv, wirklich aktiv nachdenken über die psychischen Probleme. (Elias, zit. n. Weinberger 2019: 91) Das Bestehen von Sozialkontakten wird häufig auch mit einer erweiterten Handlungsfähigkeit verbunden: Ich hab [da] in der Nähe meinen 50er gefeiert und ich konnte das mit Freunden feiern. Das ist schön, weil ich hatte schon Geburtstage, wo es jedem scheißegal war. Das heißt, es ist schön, neue Freundschaften geknüpft zu haben, es gefällt mir, dass [es in dem Bezirk] ein bisserl wie in meinem Dorf ist. (Christian zit. n. Weinberger 2019: 95) Zwei Interviewpartnerinnen waren ehrenamtlich tätig und haben dies als Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit erlebt: Also durch meine Vereinstätigkeit bekomme ich ganz viel Anerkennung, oder geb sie mir auch selber, weil ich seh, ich muss eh ganz viele Sachen, die auch in der Wirtschaft gefragt sind, … machen … Förderansuchen stellen, Veranstaltungen organisieren … – so diese Tätigkeiten … Also, das wird einem irgendwie abgesprochen, wenn man arbeitslos ist, dass man Fähigkeiten hat. (Andrea, zit. n. Weinberger 2019: 88) Ich hab eines Tages diese Organisation entdeckt und mir gedacht: eigentlich … solltest du da deine Expertise einbringen (lacht). Und das tu ich jetzt auch inzwischen seit … guten zehn Jahren, und versuche halt da mithilfe der Anderen politisch aktiv zu sein. Weil allein wirst [Du] der Welt keinen Haxen ausreißen – das geht nur gemeinsam. (Karin, zit. n. Weinberger 2019: 93f.) Gemäß den Ergebnissen verschiedener Forschungsprojekte sind von Armut und Arbeitslosigkeit Betroffene unterdurchschnittlich selten ehrenamtlich tätig, häufig findet ein Rückzug aus der Gesellschaft statt. Auch Erfahrungen aus dem Umfeld der Armutskonferenz zeigen, dass ein Engagement z. B. bei Betroffenen-Selbstorganisationen eine ausgeprägte Identifikation als Betroffene*r voraussetzt. Scham, Beschämung und angegriffener Selbstwert im Sozialen Raum. Die eigene Position im sozialen Raum prägen auch die Erfahrungen von Scham

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und Beschämung der Befragten. Nach Neckel (2000) ergibt sich sozialer Status sowohl aus der Verfügung über materielle Ressourcen wie auch aus sozialer Achtung und Anerkennung. Durch die Gesellschaft erfahrene Abwertung und Ausschluss reproduzieren als „Beschämungstechniken“ (vgl. ebd.: 103) soziale Ungleichheit mit dem Ziel, den Status und die Überlegenheit von mächtigeren Statusgruppen abzusichern. Deshalb erleben Menschen, die marginalisiert sind, oft Situationen der Entwürdigung, Demütigung oder Entrechtung. Als Leiharbeiter bist du sowieso eine Sache, da wirst [Du] als Sachwert buchhalterisch erfasst … und steuerlich abgesetzt … Und dann am Jahresende … bauen sie die Leiharbeiter meistens ab und dann stellen sie sie wieder neu ein. … Da wird man verwertet irgendwo – finanztechnisch. (Gerhard 2018, zit. n. Weinberger 2019: 75) Und dann haben sie einmal, damals wie da diese Streik-Aktion bei [Name Betrieb] [war], …, da ist der Chef durchgegangen … und hat gesagt, wer bei uns da bei den … Betriebsversammlungen mitmacht, der kann gleich heimgehen, der wird gekündigt – [Er hat] also praktisch eine Kündigungsdrohung [ausgesprochen], also praktisch eine Fristlose angedroht. Und das [hat] sogar in der Zeitung gestanden. (Gerhard, zit. n. Weinberger 2019: 76) Der Achtungsverlust, der entsteht, indem man Normen gegenüber abfällt und – real oder vorgestellt – fremdbewertet wird, kann die Identität bzw. das Selbstbild beeinträchtigen und Scham produzieren. Dass der Selbstwert angegriffen wird – natürlich. … Also immer, immer wieder … aufzustehen und zu sagen: Okay, ihr von außen, ihr seht’s mich so, also … die Gesellschaft ist jetzt unfähig … damit umzugehen. – Und gleichzeitig aber: ‚Ah ja, ich bin ja nicht leistungsfähig, stimmt ja, ich bin ein Kostenfaktor, ich muss mit von der Solidargesellschaft mitgetragen werden, ich funktioniere nicht am Arbeitsmarkt, am Beziehungsmarkt – nirgends bin ich attraktiv, … ich bleib über, ich bin eine Belastung für die anderen. Also, klar, diese Gedanken sind ja da … Andererseits gibt’s dann natürlich … Auch ich hab auch ein Recht … ich bin auch da, hab auch Bedürfnisse, nehmt’s mich wahr (lacht kurz). (Bärbl, zit. n. Weinberger 2019: 78) Was bedeutet es nun letztendlich für die Interviewten arm zu sein? Formale Kriterien und Grenzen zwischen arm und nicht-arm spielen hierfür eher eine

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untergeordnete Rolle. Das liegt zum einen daran, dass häufig auch andere Ungleichheitskategorien zutreffen (wie z. B. krank, mit Behinderung, arbeitslos), aber auch daran, dass in der Reflexion des eigenen Erlebens konkrete Erfahrungen, Erlebnisse und Situationen eine wesentlichere Rolle spielen. Die Interviewten beziehen ihre Situation auf biografische Brüche, die sie in eine schwierige Lage gebracht haben, und sehen deren langfristige Auswirkungen – gewissermaßen wird das Arm-Sein als ein Arm-Geworden dargestellt und beinhaltet so auch den Blick auf sich selbst als Nicht-ArmGewesene*r. Die Armut selbst wird v.a. in sozialen Vergleichen erlebt, in denen die eigene Position gegenüber anderen häufig als weniger, schwächer oder ungenügend erlebt wird. Viele Berichte der Interviewten beschäftigen sich mit Einschränkungen ihrer Handlungsfähigkeit. Das kann Schwierigkeit bei der Bewältigung täglich notwendiger Verrichtungen genauso betreffen wie Einschränkungen bei der Mobilität. Durch die geringen Handlungsspielräume können die Betroffenen sich in eine passive bzw. passivierte Lebenssituation gedrängt fühlen. Positive Sozialkontakte erhöhen tendenziell die Handlungsfähigkeit. Dem erlebten geringeren sozialen Status und den Einschränkungen der Handlungsfähigkeit entsprechend, erleben die Betroffenen häufig Situationen geringer Anerkennung und Achtung, wenn nicht sogar Missachtung, Beschämung und Demütigung (s.a. Knecht 2019). Diese Berichte erlauben sozusagen einen Blick auf die gesellschaftliche Anerkennungsordnung „von unten“. Für die Betroffenen können sie aber eine Bedrohung ihrer Identität darstellen, gegen die permanent angekämpft werden muss. Dennoch eignen sich die Befragten auch Handlungsfähigkeit an, sei es durch politisches Engagement, Vorbilder, Glauben, Auseinandersetzung mit der Biografie u.v.m.

6 Reflexion des Auswertungsprozesses Im Auswertungsprozess nahmen die intensiven Hörphasen viel Zeit und Energie in Anspruch, stellten sich jedoch als sehr ergiebig heraus. Akustische Besonderheiten ließen in die Gesprächssituation eintauchen und eröffneten Deutungen, die allein über das geschrieben Wort kaum zugänglich gewesen wären. In Tonfall, Lautstärke, Zurückhaltung, Aktivität, selbst in den Pausen, die in ihrer „Akustik“ variieren können, liegt ein Reichtum an „Signalen“, aus dem Interpretationen schöpfen können. Da im Auswertungsprozess ein Bedarf nach Transkripten und verschriftlichten Zitaten entstand, wurden die Interviews letztendlich doch noch transkribiert. Dabei konnten zusätzliche Details zu den über das Hören generierten Aspekten identifiziert werden.

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Eine gewisse Disziplin erforderte das Anlegen der Karteikarten, wobei spezifische Äußerungen und Auffälligkeiten dazu verleiteten, weitere Karten anzulegen. Das Verfassen der Karten schärfte die Aufmerksamkeit gegenüber dem Material und erhöhte die Neugier. Auch die Karteikarten wurden mit dem Computer abgeschrieben. Durch die Verschriftlichung der Interviews konnten die entsprechenden Stellen an die Karteikarten geheftet werden. So konnte zwischen den Interviews hin- und her gesprungen und wichtige Passagen und Überlegungen miteinander verknüpfen werden. Letztendlich wurde ein eigenes System der Zuordnung von Karteikarten, Transkript und Interpretation entwickelt – was allerdings einen großen Aufwand bedeutete: Zu jedem Transkript wurden wichtig erscheinende Passagen in einzelnen, chronologisch nummerierten Tabellen angelegt. Darin enthalten war die transkribierte Interviewpassage mit Namen/ Kürzel der Befragten und Zeilennummer(n) der Transkription. Des Weiteren wurden besonders wichtig scheinende Gedanken farblich markiert. Aus diesem Text wurde in einem weiteren Feld eine erste Interpretation abgeleitet. Platz war auch für Gedanken, die erinnert werden sollten (eine Art Memo) und bei Bedarf auch für Textteile, die für eine Feinanalyse interessant sein könnten. Ein letztes Feld war angelegt für weitere Zitate, die mit der betreffenden Stelle in Verbindung gebracht wurden, z. B. aufgrund ihrer Ähnlichkeit oder Unterschiedlichkeit. Es empfiehlt sich, im Detail ein an die eigene Denkart und die eigenen Bedürfnisse abgestimmte Vorgehensweise zu entwickeln und die Kaufmann’sche Karteikarten-Methode dahingehend anzupassen. Aus methodischer Sicht steht das systematische Vorgehen, die Nachvollziehbarkeit und die Robustheit der schlussendlich entwickelten Thesen im Vordergrund. Aus forschungspragmatischer Sicht war für die Autorin das Vertrauen auf sich selbst als Forscherin zentral, wie auch das Vertrauen darauf, dass sich der rote Faden durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Material auch innerlich weiterspinnt und so die Verknüpfungen, Ideen und Phänomene aus dem Material an den relevanten Stellen an die Oberfläche treten.

7 Schlussbetrachtung Interpretative Interviews erlauben, subjektive Sicht- und Erfahrungsweisen zu einem Thema zu erschließen und damit auf eine Weise zu rekonstruieren, die nahe an den Sinnzusammenhängen der Gesprächspartner*innen bleibt. Über diese Sinnzusammenhänge können die gesellschaftlichen Prozesse erfasst werden, in welche die individuellen Erfahrungen eingebettet sind. Für die

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„Rekonstruktion der Konstruktion“ des „Sozialen“ – also für das Erschließen der gesellschaftlichen Bedingungen kollektiven Handelns über die Analyse von Alltagshandeln – eignet sich das Verstehende Interview mit seiner soziologischen Grundhaltung sehr gut. Ähnlich der Grounded Theory geht es letztlich darum, eine gesättigte Theorie auszuarbeiten. Im Rahmen des Masterarbeitsprojekts konnte aufgrund des begrenzten Rahmens keine umfassende Theorie des subjektiven Erlebens von Ausgrenzung erarbeitet werden; jedoch haben das methodische Grundverständnis des Verstehenden Interviews und die Vorgehensweise der interpretativen „Detektivarbeit“ (vgl. Kaufmann 2015: 85) geholfen, Erfahrungswelten sichtbar zu machen und relevante Marker und Dimensionen herauszuarbeiten, die für das Ausgrenzungserleben von Armutsbetroffenen von Relevanz sind. Für die Praxis der Armutsbekämpfung zeigt sich, dass es nicht reicht, nur „an einer Schraube zu drehen“, wie es die gegenwärtige Politik mit ihrem Fokus auf Erwerbsarbeit oder die Soziale Arbeit mit ihrem Fokus auf die „Wiedereingliederung“ bestimmter Gruppen bzw. das Ausgleichen von Defiziten immer wieder tun. Vielmehr müssen umfassende Perspektiven und Lösungsansätze entwickelt werden, die sowohl Sozialstruktur, soziale Ungleichheit als auch individuelle und biografische Faktoren der Thematik berücksichtigen. Auch zeigt sich die Notwendigkeit, Fragen struktureller Gewalt einzubeziehen, intersektional zu arbeiten und individuelle Biografien und Perspektiven im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Herrschaftsverhältnissen zu analysieren. Im Handeln sozialer Arbeit ist es notwendig, partizipative Prozesse innerhalb der sozialarbeiterischen Praxis schaffen und eigene Machtdynamiken zu reflektieren. Die methodische Herangehensweise narrativ-biografischer Forschung kann auch eine Brücke zu den Methoden der sozialarbeiterischen Praxis herstellen. In der Praxis müsste ein stärkerer Fokus auf Biografie und Identität gelegt werden, auch hier wäre biografische Fallarbeit sinnvoll. Wresnik (2012, 2010, 2015) bespricht ausführlich die Relevanz solcher Zugänge sowie emischer Perspektiven. Fremdverstehen und eine Praxis des Einfühlens erlauben durch Einblicke in unterschiedliche Lebenswelten einen Erkenntnisgewinn. Phänomene und Lebenswelten können dann „von innen heraus“ verstanden statt nur „professionell beurteilt“ werden (Wresnik 2012: 117). Damit entwickelt sich ein Verständnis zum Beispiel gegenüber handlungsbeschränkenden Prozessen (vgl. ebd.: 130). Betroffene können sich selbst besser als relevante Expert*innen wahrnehmen – und die Sozialarbeiter*innen als Menschen, die an ihnen und ihren Deutungen interessiert sind und nicht allein auf Probleme fokussieren (ebd., s.a. Knecht 2020: 248). Das Verstehende Interview erlaubt mit seinem empathischen Fokus auf Narration, die subjektive Perspektive von

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Biografien sowie die damit verbundenen Identitätsentwicklungen – auch bezüglich Themen der sozialen Ausgrenzung – aufzuzeigen und zu rekonstruieren.

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Raithelhuber, Eberhard (2008): Von Akteuren und agency – eine sozialtheoretische Einordnung der structure/agency-Debatte. In: Homfeldt, Hans Günther et al. (Hg.): Vom Adressaten zum Akteur. Soziale Arbeit und Agency. Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 17–46. Reichertz, Jo (2016): Qualitative und interpretative Sozialforschung. Eine Einladung. Wiesbaden: Springer VS. Rosenthal, Gabriele (2019): Biographieforschung. In: Baur Nina, Blasius Jörg (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 585–597. Statistik Austria (2019): Tabellenband EU-SILC 2018 und Bundesländertabellen mit Dreijahresdurchschnitt EU-SILC 2016 bis 2018. Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. Rev. 3 vom 01.08.2019. Wien: Statistik Austria Weinberger, Anna (2019): … und das wird dann einfach eine ganz andere Welt. Erfahrungen von Exklusion und Armut im Kontext von sozialem Raum und Biographie. Wien, FH Campus Wien, Masterarbeit. Online: https://resolver. obvsg.at/urn:nbn:at:at-fhcw:1-7094 [Zugriff: 04.08.2021] Wresnik, Manuela (2010): „Ich geh’ durch die Stadt und jeder hält sein Maul!“ Eine kultur- und sozialanthropologische Fallstudie zum Phänomen Gewalt im Jugendalter. Univ. Wien. Magisterarbeit. Online: http://othes.univie. ac.at/11622 [Zugriff: 04.08.2021] Wresnik, Manuela (2012): Spaces of Violence. Gewalterfahrungen männlicher Jugendlicher in ihren biographischen und sozialräumlichen Kontexten. Wien, FH Campus Wien, Masterarbeit. Wresnik, Manuela (2015): „Warum erklären die mir dann etwas über mein Leben, wenn sie es nicht leben?“ in: Dörr, Margret et al. (Hg.) (2015): Biografie und Lebenswelt. Perspektiven einer Kritischen Sozialen Arbeit. Wiesbaden: Springer, S. 191–208.

Aushandlungen des ‚Sich Kümmerns‘ um alte Eltern. Ein Beispiel für die kreative Forschungsarbeit mit der Reflexiven Grounded Theory Barbara Dieris

Keywords: Grounded Theory, Selbst-/Reflexivität, Familien-/Kommunikation, Narration/Narrativität, Daten-/Triangulation Gegenstand des vorgestellten Forschungsprojektes ist die kommunikative Aushandlung in Familien, wer sich wie und (ab) wann um die alten Eltern kümmert. Die persönliche Forscherinnenneugier richtete sich darauf, dass früher oder später zwar eine gewisse Klarheit bei den einzelnen Familienmitgliedern darüber herrscht, wie die Aufgabe zu erledigen sei, gleichzeitig jedoch nicht oder nur schwer benennbar ist, woher diese Klarheit genau kommt. Vieles scheint ‚irgendwie’ zu verlaufen, ergibt sich unausgesprochen, implizit. Wie jedoch kann man Implizites in der qualitativen psychologisch-sozialwissenschaftlichen Forschung “dingfest” machen? Wonach kann ich genauer schauen und fragen? Welche Daten sollte ich sinnvollerweise sammeln und analysieren? Der Text stellt vor, wie diese Fragen in einem individuellen Wechselspiel bzw. einer individuellen Synthese 1. der Charakteristika des Forschungsthemas, 2. des Forschungsstils (Reflexive Grounded Theory) und 3. der Interessen und Prägungen der Forscherin beantwortet wurden. Als Resultat dieses Prozesses wurden schließlich narrative Interviews, literarische Texte und wissenschaftliche Literatur als Daten zur Theorieentwicklung genutzt, wobei gerade die explizite Einbeziehung literarischer Texte als Daten in eine psychologischsozialwissenschaftliche Arbeit ‚besonders‘ ist (im Sinne von ungewöhnlich und kreativ aber – vielleicht gerade dadurch – auch rechtfertigungsbedürftig). Entwickelt wurde ein Theorieentwurf des „Sprechens und Schweigens“.1

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Bei dem vorgestellten Forschungsprojekt handelt es sich um eine in der Psychologie eingereichte Dissertation (Dieris 2009). Einzelne Abschnitte sind an die entsprechende Veröffentlichung angelehnt.

Ein Beispiel für die kreative Forschungsarbeit mit der Reflexiven Grounded Theory

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1 Antezedenzen des Forschungsprozesses Ziel des Beitrages ist es, einen Einblick in meinen konkreten Forschungsprozess zu geben, also in eine beispielhafte, forschungspraktische Realität, die einerseits durch Handlungs- und Entscheidungsspielräume, andererseits durch subjektiv und/oder objektiv feststehende Rahmenbedingungen geprägt wurde. Im Rahmen dieses Textes definiere ich drei Aspekte als für mich gegebene Rahmenbedingungen, aus deren Zusammen- und Wechselspiel, Verflechtung und Fusion die Forschungsarbeit entstanden ist bzw. gestaltet wurde. Die gewählte Fokussierung lässt dabei eine Vielzahl ebenfalls bedeutsamer Voraussetzungen außer Acht, insbesondere solche, die allgemeinere und übergreifende Makro-Strukturen des Lehrplans, der universitären Ausbildung, der Fachpolitik, der Betreuung von Forschungsarbeiten etc. betreffen. Stattdessen handelt es sich um eine lupenartige Betrachtung der Mikro-Struktur, in der ich mich als Doktorandin im Fach Psychologie bewegt habe und – zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort – bewegen konnte (s. Abbildung 1). Es handelt sich um so etwas wie „eine kleine Forscher*innenwelt“, innerhalb derer zum einen die Möglichkeit bestand, zum anderen ich mir die Möglichkeit geschaffen habe, (kreativ) zu arbeiten und zu gestalten.

Abbildung 1: Rahmenbedingungen der Forschungsarbeit

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Bei den drei Antezedenzen, auf die im Folgenden kurz eingegangen wird, handelt es sich erstens um das Forschungsthema, zweitens um den Forschungsstil (d. h. das methodologische Paradigma, die methodologische Herangehensweise) und drittens schließlich um mich als Person, als Forscherin.

2 Das Thema Reflexive-Grounded-Theory-Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass die Forschungsthemen einen engen alltagsweltlichen Bezug aufweisen und sich der Forschungsfokus in der Regel nicht vorrangig aus der Forschungsliteratur herleitet2. Stattdessen entstehen Forschungsfragen durch persönliche, alltagsweltliche Beobachtungen und Erlebnisse. Mein Forschungsinteresse innerhalb des Projektes richtete sich auf das Älterwerden von Menschen innerhalb ihrer familiären Bezüge. Eine Herausforderung, mit der Familien in diesem Zusammenhang konfrontiert sind, ist der Umgang mit drohender oder eingetretener Unterstützungs- bzw. ‚Kümmerbedürftigkeit‘ des/der Angehörigen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/BmFSFJ 2005). Dabei habe ich bewusst den Kümmerbegriff in Abgrenzung zum Pflegebegriff gewählt, da er ein breiteres/offeneres Spektrum an Zuwendung, Aufgabenübernahmen und Zuständigkeiten umfasst. Angesichts der demografischen Entwicklungen in westlichen Industriestaaten können Familienangehörige mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, es früher oder später mit einem/ einer kümmerbedürftigen, alten Angehörigen ‚zu tun zu bekommen‘ oder selbst kümmerbedürftig zu werden (Schieron/Zegelin 2021, Schneekloth/Leven 2003). Dieser relativen Gewissheit steht andererseits eine hohe Ungewissheit hinsichtlich des Zeitpunktes, der Bedingungen, der Formen und des Verlaufs der Kümmerbedürftigkeit gegenüber. Schließlich sagen Wahrscheinlichkeiten nichts darüber aus, ob, wie und wann man selber betroffen ist (z. B. von einer konkreten Erkrankung wie Demenz, einem Schlaganfall oder einer Krebserkrankung oder von altersbedingten Degenerationsprozessen). Eine Kümmerbedürftigkeit kann beispielsweise plötzlich auftreten und nur kurz andauern, oder sie kann sich schleichend entwickeln und über längere Zeiträume verlaufen.

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Das bedeutet nicht, Forschungsliteratur generell zu ignorieren. Sie wird jedoch prototypisch erst in einem zweiten/weiteren Schritt systematisch mit in den Blick genommen (s.a. Breuer et al. 2019: 142ff.).

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Was bedeutet diese ‚ungewisse Gewissheit‘3 für eine Familie? Familien sind von der Kümmerbedürftigkeit eines/einer Angehörigen insofern betroffen, als von ihnen ein Sich-Kümmern erwartet zu werden scheint und sie sich in der Regel auf die eine oder andere Weise verantwortlich fühlen (vgl. Blieszner/ Hamon 1992). Gründe und Motive, sich kümmern zu wollen, können ganz unterschiedlich sein (Schiron/Zegelin 2021). Familiäre Beziehungen lassen sich über – durchaus ambivalente – Verquickungen von emotionalen Bindungen, Austauschverhältnissen und Solidaritäten beschreiben (z. B. White/Klein 2002, Lüscher/Liegle 2003, Fingerman et al. 2006). In einem gewissen Rahmen scheinen implizite4 und explizite5 Normen zu existieren, dass (bestimmte) Familienmitglieder sich umeinander kümmern sollten. Je nach Enge des Verwandtschaftsverhältnisses, je nach Geschlechterrolle usw. kann diese Norm bezogen auf die einzelnen Personen eines familiären Systems als mehr oder weniger bindend und verpflichtend wahrgenommen werden (Silverstein et al. 1995). Traditionellen Normen und Erwartungen widersprechen unter Umständen aktuellen, emanzipierten, modernen Lebens- und individuellen Rollenausgestaltungen. Davon unabhängig sind diese Normen auch aus demografischen Gründen teilweise nicht (mehr) anwendbar (BmFSFJ 2005). Auch hier herrscht also offenbar eine ‚ungewisse Gewissheit‘ hinsichtlich eigener und fremder Erwartungen und Möglichkeiten. In irgendeiner Form ‚sollte‘ und/oder ‚will’ sich ‚die Familie‘ um ein kümmerbedürftiges altes Familienmitglied kümmern. Wie eine einzelne Familie dieser Norm individuell nachkommt, bleibt jedoch unbestimmt und flexibel. Es ergeben sich Handlungs- und Lösungsspielräume oder anders beschrieben: Es ergibt sich die Notwendigkeit, zu einer individuellen, persönlichen Lösung zu kommen. Während Pflegebedürftigkeit nach den Maßgaben der Pflegeversicherung (Bundesministerium für Gesundheit/BmG 2021) oder Belastungen pflegender Angehöriger (Schieron/Zegelin 2021) zumindest auf den ersten Blick eher offensichtliche Themen sind, scheinen die Aushandlungen im zeitlichen Vorfeld noch stärker verdeckt und versteckt abzulaufen (Pecchioni 2001).

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Ein ähnliches Phänomen im Zusammenhang mit sterbenden Patient*innen beschreiben Glaser und Strauss (1974: 76ff.) als „Doppeldeutigkeit des Wissens“: Das Ankommen in einem ‚Wissens- bzw. Bewusstheitszustand‘ (in diesem Fall über den bevorstehenden Tod) führt zu neuen Unsicherheiten und Unwissen. Etwa die traditionelle Rollenerwartung an eine ‚gute‘ Ehefrau und/oder Tochter, generell Verantwortung für familiäre Sorge-, Pflege- und Kümmerarbeit in jeglicher Altersphase zu übernehmen (BmFSFJ 2004: 96) Eine recht explizite Regel wäre beispielsweise die u.U. juristisch festgelegte Regelung des sog. ‚Altenteils‘ bei einem traditionellen landwirtschaftlichen Betrieb.

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Das Forschungsprojekt fokussierte genau diese familiären Aushandlungsprozesse, wer sich (ab) wann, wie kümmert, welche Kümmerlösung in einer Familie wie angestrebt wird. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen dabei intergenerationale Kümmerarrangements, also das Sich-Kümmern erwachsener (Schwieger-) Kinder um ein oder mehrere Elternteile. Ziel war es, die kommunikativen Handlungen, die diese familiäre Kümmeraushandlung prägen, ein Stück weit aus dem sowohl familiär-alltäglichen als auch wissenschaftlichen ‚Dunkel‘ herauszuholen und zu beleuchten. Also konkreter: Wie konnte kommunikativ Klarheit hergestellt werden, dass in Familie A sich vornehmlich die mittlere von drei Töchtern um die kümmerbedürftige Mutter kümmert? Wie hat Familie B ausgehandelt, dass einer von mehreren Söhnen und seine Frau, nicht aber die Tochter, sich kümmert?

3 Der Forschungsstil Infobox 1: Reflexive Grounded Theory Bei der Grounded Theory handelt es sich um einen ursprünglich von Barney Glaser und Anselm Strauss begründeten Forschungsstil (Glaser/Strauss 1967, Glaser 1978, Strauss 1987; 1991), um gegenstands- bzw. datenbegründet eine theoretische Modellierung des interessierenden Forschungsgegenstandes zu entwickeln. Inzwischen haben sich – auf teils unterschiedlichen Pfaden – verschiedene Ausdifferenzierungen entwickelt. Die Reflexive Grounded Theory (Breuer et al. 2019) berücksichtigt die Forscher*innenperson in ihrem Kontext als Erkenntnissubjekt explizit mit. Sukzessive werden mittels eines flexibel nutzbaren Instrumentariums bzw. „Werkzeugkoffers“ (Breuer et  al. 2019: 129 ff.) über ein hermeneutisches Vorgehen Konzepte und Zusammenhänge zu einem Theorieentwurf verdichtet.

Entschieden war für mich, dass es sich um eine Forschungsarbeit im Sinne der Reflexiven Grounded Theory handeln würde (Breuer et al. 2019). Mit diesem methodologischen Ansatz hatte ich mich in der zweiten Hälfte meines Psychologie-Studiums so angefreundet, dass etwas anderes für mich und meine Dissertation nicht in Frage kam. Ausgebildet war ich jenseits dessen auch intensiv und gründlich in der Beherrschung „quantitativer Methoden“ (d. h. experimenteller Ansätze, der statistisch-mathematischen Überprüfung von Hypothesen, der Konstruktion von Fragebögen, der Standardisierung und Objektivierung etc.). Durch ein Forschungsseminar und meine Diplomarbeit

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– beide ebenfalls im Themenfeld „Alter“ verortet – fühlte ich mich sowohl forschungstheoretisch als auch forschungspraktisch gerüstet, die Reflexive Grounded Theory in diesem Bereich flexibel und individuell für einen von mir gewählten Themenfokus zu nutzen bzw. anzuwenden und freute mich besonders auf und über die (reflexive, gegenstandsangepasste, kreative) Freiheit und Flexibilität, die ich im Rahmen dieser Herangehensweise kennengelernt hatte. Meine praktischen Erfahrungen mit der Reflexiven Grounded Theory bezogen sich auf das Thema „Alter(n)“. In dem einführenden Forschungsseminar hatten wir uns mit dem Thema „Wohnen im Alter“ (s.a. Iken 2007) beschäftigt, in meiner Diplomarbeit hatte ich mich mit den Beziehungsveränderungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren alten Eltern (s.a. Dieris 2006) auseinandergesetzt. Insofern waren die beiden „Stränge“ Forschungsstil und Forschungsthema in meiner Forscherinnenlaufbahn bereits miteinander verflochten und bildeten eine sich sicher und tragfähig anfühlende Grundlage für nächste Schritte.

Infobox 2: Kurzerläuterung zentraler methodologischer Stichworte der Reflexiven Grounded Theory (für eine ausführliche Einführung s. Breuer et al. 2019) Präkonzepte: Als Forscherin nähere ich mich einem alltagsweltlichen Forschungsgegenstand, meinem Forschungsthema immer mit bestimmten subjektiven, kontextgebundenem Vorwissen und Vorannahmen. Diese persönlichen Präkonzepte werden im Rahmen der Reflexiven Grounded Theory soweit möglich expliziert, differenziert und reflektiert (z. B. über das Schreiben von Memos, das Führen eines Forschungstagebuchs, s.u.). Theoretische Sensibilität: Die Grundidee besteht darin, offen für Strukturen der Daten zu sein, um (neue!) theoretische Kategorien und Konzepte zu entdecken. Hierbei helfen u. a. der bewusste Umgang mit Präkonzepten, das Schreiben von Memos, das Schreiben im Forschungstagebuch (s.u.) sowie die verschiedenen Kodierformen und -regeln. Erzählorientierte Interviews: Im Gegensatz zu einem strukturierten Interview mit einem festen Fragenkatalog handelt es sich eher um eine Gesprächssituation, in der mit einer offenen Erzählaufforderung, der/die Gesprächspartner*in eingeladen wird, selbststrukturiert seine/ihre Geschichte zu erzählen, mit allem, was aus seiner/ihrer Sicht dazu gehört und wichtig ist. Als Forscherin warte ich zunächst – aktiv zuhörend – eher die von den Interviewpartner*innen gewählte Erzählung ab und frage dann im

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späteren Verlauf ggf. nochmal nach, komme über einzelne Aspekte weiter ins Gespräch. Zur Illustration ein Beispiel für eine Erzählaufforderung aus einem Interview mit einer sich um ihre alten Eltern kümmernden Tochter im Rahmen meiner Forschungsarbeit: „In Ihrer Generation/der Generation meiner Eltern sind viele damit konfrontiert – manchmal eher plötzlich, manchmal bahnt es sich so langsam an – dass die Eltern alt werden und die selbstständige Lebensführung nicht mehr so aufrechterhalten werden kann. In den meisten Fällen sind dann die Kinder in irgendeiner Form mit betroffen, z. B. wenn es um die Frage geht, wie es weitergehen kann. Erzählen Sie doch mal, wie das bei Ihnen war, als Ihre Eltern alt wurden?“ Memos und Forschungstagebuch: Hierbei handelt es sich um informelle Schreibformen, die den gesamten Prozess einer Reflexiven Grounded Theory Arbeit begleiten. Von Anfang an findet schreibend eine Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten des Themas statt. Im Verlauf kann auf diese somit auch fixierten Gedanken und Ansätze immer wieder zurückgegriffen werden, sie lassen sich weiterführen, neu sortieren etc. Dieses Schreiben bildet die Voraussetzung zur Theorie-/Konzeptentwicklung. Kodieren: Das Ziel des Kodierens im Rahmen der Reflexiven Grounded Theory ist das kreative Finden und Entwickeln von Begriffen, Kategorien und Strukturen, um schließlich zu einer theoretischen Modellierung zu gelangen. Beim Offenen Kodieren geht es darum, kleine Texteinheiten (z. B. einzelne Sätze oder Worte aus einem Interviewtranskript) sehr genau und intensiv unter die Lupe zu nehmen und möglichst viele, unterschiedliche, ggf. zunächst auch abwegige Lesarten, Verständnis- oder Deutungsweisen zu generieren. Dies erfolgt idealerweise in einer Gruppe und ähnelt gerade zu Beginn einer Art Brainstorming in dessen Verlauf dann Begriffe, Konzepte, Kategorien, Dimensionen ‚gefunden‘ werden. Beim Axialen Kodieren steht demgegenüber ein theoretisches Konzept, das beim Offenen Kodieren hervorgetreten ist, im Fokus. Hier geht es darum, zu einer Ausdifferenzierung zu kommen, (mögliche) Unterkategorien zu explizieren, nach weiteren zugehörigen Aspekten oder Variationen zu suchen. Schließlich geht es beim Selektiven Kodieren darum, zu einem ganzheitlichen Modellentwurf zu gelangen, also Entscheidungen zu treffen, was etwa im Kern modelliert wird, worauf der Fokus liegen soll und welche Modelllogik sinnvoll erscheint (z. B. eher einen Prozess abzubilden oder verschiedene Typen) sowie die Darstellung in einem Diagramm.

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4 Die Forscherinnenperson Bereits im vorangegangenen Abschnitt zeigt sich, dass die Entscheidungen in diesem Forschungs- und Projektprozess auch einiges mit mir als Person und meinen Lernerfahrungen, Vorlieben und Prägungen zu tun hatten. Dies ist ein Aspekt, der gerade in der Reflexiven Grounded Theory explizit mitfokussiert und genutzt wird. Ich habe es als großen Luxus erlebt, ein solches Ausmaß an Freiheiten und Entscheidungsspielräume zu haben. Für mich standen v.a. der methodologische Rahmen und der Betreuer der Qualifikationsarbeit fest. Für beide habe ich mich aus Gründen der Passung bewusst und aktiv entschieden (s.a. Dieris 2007, Breuer et al. 2019: 425ff.). Was kennzeichnet mich als Forscherin, die sich für bestimmte Herangehensweisen entschieden hat, für die bestimmte Herangehensweisen besser passten als andere? Für mein Psychologiestudium hatte ich mich nicht mit einem klaren Berufsziel oder mit Blick auf eine bestimmte Karriereplanung entschieden. Das Fach in seiner Bandbreite fand ich nicht uninteressant, aber es begeisterte mich auch nicht über die Maßen. Was mich lockte war, mich eben nicht bereits mit Beginn des Studiums für einen relativ spezifischen Beruf entscheiden zu müssen, sondern mir zunächst vieles noch offen lassen zu dürfen. Verschiedene der antizipierten Berufsmöglichkeiten als Diplom-Psychologin erschienen mir durchaus attraktiv. Wäre es nur darum gegangen, worauf ich – bezogen auf das Studium – am meisten Lust hatte, hätte ich Literaturwissenschaften bzw. Germanistik studiert. Dort fehlte jedoch für mich eine berufliche Perspektive – oder anders formuliert: auf die Perspektiven, die ich sah, wollte ich mich zu Studienbeginn nicht festgelegt wissen. Die für mich beste Lösung war es schließlich, Literaturwissenschaften als Nebenfach zum Psychologiestudium zu wählen. Dass ich beim Forschungsthema „Alter(n)“ gelandet bin, war zunächst Zufall. Das Forschungsseminar hatte ich gewählt wegen der methodologischen Ausrichtung (Reflexive Grounded Theory), in die ich „reinschnuppern“ wollte, nicht wegen des Themas. Jedoch erlebte ich die Themen und Fragen, die sich bei näherer Beschäftigung an das Thema „Alter(n)“ knüpften, als hochinteressant. Bis dahin hatte ich mich als Mitte-Zwanzig-Jährige noch nicht so richtig mit Fragen des Alter(n)s beschäftigt oder beschäftigen müssen. Eventuell lag darin auch ein besonderer Reiz einerseits und eine niedrigere Schwelle andererseits: Die Reflexive Grounded Theory „auszuprobieren“ mit einem Thema, das mir einerseits nicht zu nah war, mich aber andererseits natürlich – wie jeden Menschen – betraf. Schließlich hat mich das Thema dann so gepackt, dass ich freiwillig, ohne Druck oder besondere Erwartungen von außen, einen Aspekt dieses Themas im Rahmen einer Doktorarbeit in den Blick nehmen wollte.

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In meiner eigenen Familie nahm ich aus der Enkelinnenperspektive wahr, wie meine Eltern sich Gedanken darüber machten, was mit meinen Großeltern passieren würde, wenn sie irgendwann einmal stärker Hilfe benötigen sollten. Das An- und Aussprechen entsprechender Überlegungen, die mitschwingende „Atmosphäre“ unterschied sich dabei deutlich zwischen dem mütterlichen und väterlichen Familienkontext. In einem Fall schien die zumindest von meinen Eltern anvisierte „Kümmerlösung“ eindeutiger als im anderen. In beiden Zusammenhängen schien es gewisse Klarheiten zu geben, die dennoch nicht unbedingt offen kommuniziert wurden. Gleichzeitig schien vieles ungeklärt und auch nicht direkt klärbar.

5 Verflechtungen der drei Stränge: Schmelztiegel Nun also zur „Lupenaufnahme“ meiner kleinen Forscherinnenwelt: Wie habe ich mich als Forscherinnenperson mit Hilfe und vor dem Hintergrund des Forschungsstils der Reflexiven Grounded Theory meinem thematischen Fokus, meiner Fragestellung genähert? Die Herausforderung des Themenfokus bestand – wie oben bereits umrissen – darin, dass ich mich gerade für die impliziten, versteckten Kommunikations- und Aushandlungsprozesse interessierte. In der Arbeit mit der Reflexiven Grounded Theory, wie ich sie bis dahin kennen gelernt hatte, war das Vorgehen so, dass die Hauptdatenquelle in erzählorientierten Interviews bestand. Theoretische Sensibilität wurde darüber hinaus über prinzipiell alle denkbaren Wege erlangt: Hier war der leitende Gedanke, aufmerksam und offen durch die Welt und den Alltag zu gehen und Nachrichten, Medienbeiträge, Texte, Lieder, Filme, Gespräche etc. auf Relevantes und Anregendes zu scannen. Mit dieser Offenheit – und mit den Präkonzepten, die ich u. a. durch die Forschungsarbeit in den vorherigen Projekten zum Thema Alter(n) entwickelt hatte – ging ich auch an das neue Vorhaben heran. Als Gern- und Vielleserin kam ich so wiederholt mit literarischen Texten in Berührung, in denen es um das Thema Sich Kümmern um alte Eltern und Familien(kommunikation) ging. Und das „geschah“ nicht einfach, sondern natürlich suchte ich explizit und motiviert danach, genauso wie Freunde, Bekannte, meine Buchhändlerin etc. mich mit entsprechender Lektüre versorgten. Ich setzte mich zudem über das Reflektieren im Forschungstagebuch und das Schreiben von Memos (s. Breuer et al. 2019) mit Möglichkeiten und Grenzen der „herkömmlichen“ Datensammlung – das Führen und Auswerten narrativer Interviews – auseinander. Inwieweit war davon auszugehen, dass „Betroffene“, z. B. Angehörige, die sich um alte, Familienangehörige

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kümmern, überhaupt in der Lage sind, über die erfolgten Aushandlungsprozesse zu berichten, wenn vieles implizit und indirekt abläuft? Diesbezüglich hatte ich den Eindruck (nicht zuletzt ja auch schon durch eigene themenbezogenen Interviewerfahrung), dass über das retrospektive Reflektieren und das Schaffen einer Narration im Kontext eines Interviewgesprächs durchaus manches sichtbar, erkennbar und benennbar wird. So ergab sich keine Notwendigkeit, vom Führen narrativen Interviews als – in meiner Forscherinnensozialisation – Standardprozedere abzusehen. Gleichzeitig war ich vor dem Hintergrund meiner literaturwissenschaftlichen Affinitäten immer wieder berührt und bewegt, wie – anders, besonders, genau – literarische Texte verschiedener Gattungen die Welt in Worte fassen, der Welt Bedeutung verleihen und welche Zugriffe und Verständnisweisen dies unter Umständen und bestenfalls ermöglichen kann. Ich versprach mir also weiterhin durchaus einen Erkenntnisgewinn für die Theoriebildung durch die erzählorientierten Interviews, und es schien mir zunehmend sinn- und reizvoll, zusätzlich explizit auch literarische Texte zum Thema auszuwerten, um möglicherweise besondere, treffende sprachliche Repräsentationen zu finden. Diesen Datenzugriff auf das Forschungsthema habe ich dann theoretischargumentativ abgesichert und untermauert (für einen kurzen Überblick hierzu s. Infobox 3). Als Ergebnis dieses Prozesses bin ich schließlich dazu gekommen, als Datenmaterial unterschiedliche sprachliche bzw. textliche Repräsentationsformen zu berücksichtigen bzw. zu triangulieren, die sich alle mit dem thematischen Fokus beschäftigen: nämlich a) subjektive Erfahrungsberichte (Interviewtranskripte und Selbstreflexions-Memos), b) literarische Texte (Romane, Erzählungen und Bühnenstücke) c) wissenschaftliche Texte („Forschungsliteratur“: empirische und theoretische Arbeiten). Aus der Analyse (den verschiedenen Schritten des Kodierens im Sinne des Werkzeugkoffers der Reflexiven Grounded Theory) gerade dieser verschiedenen narrativen Texte hoffte ich zu einer passenden theoretischen Modellierung des Gegenstandes zu gelangen.

Infobox 3: Theoretisch-argumentative Hintergrundüberlegungen zu literarischen Texten als Daten in der qualitativen Sozialforschung (für eine ausführlichere Darstellung s. Dieris 2009: 25ff.) Textualität und Narrativität: Sowohl bei transkribierten Interviews bzw. Berichten von „Betroffenen“ als auch bei literarischen Texten und wissenschaftlicher Literatur liegen mir ausschließlich Texte vor, d. h. textliche Repräsentationen, die sich auf mein Forschungsthema beziehen. Bei allen handelt es sich zudem um Narrationen,

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um bestimmte mehr oder weniger kodifizierte, (nicht-) alltägliche Erzählformen. Erzählungen sorgen für eine bestimmte Strukturierung, eine Sortierung von Einzelheiten zu einem Ganzen: „Every narration is someone’s model of how to behave: of the kinds of things to say to ourselves and to each other, of what comes first, what comes last, what doesn’t matter and what shouldn’t be said or thought at all, at least not in public.“ (Nash 1990: 212). Ich bin bei meinen Überlegungen davon ausgegangen, dass sich die unterschiedlichen Erzählformen (Interview, Roman, Forschungstext) nicht unbedingt bezüglich ihres erzählten Grundmodells von familiären Kümmeraushandlungen unterscheiden, wohl aber bezogen auf bestimmte Fokussierungen und Ausgestaltungsarten, und dass diese Unterschiedlichkeit gewinnbringend sein könnte, weil sie bestimmte Aspekte, Variationen oder Ausprägungen überhaupt erst sichtbar werden lässt. Den eindeutigsten Unterschied der unterschiedlichen Erzählformen (literarisch vs. nicht-literarisch) sehe ich hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen: Die Erzählung im Rahmen eines narrativen Interviews kommt anders zustande als ein Roman oder eine wissenschaftliche Veröffentlichung. Unter anderem ist in literarischen Texten von einem bewussteren, reflektierten, genaueren Einsatz von Worten und Sprache auszugehen. Schließlich wird auch das Ergebnis der Forschungsarbeit wieder in Form einer Narration präsentiert. Fiktionalität: Der kurze Abschnitt zu Textualität und Narrativität sollte bereits gezeigt haben, dass es keine ‚wahren‘ Texte in dem Sinne gibt, dass sie einen Sachverhalt außerhalb ihrer Selbst 1:1 abbilden. Es handelt sich immer um eine vermittelte Darstellung, eine bestimmte Repräsentation und Konstruktion. Die Grenze zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen lässt sich nicht eindeutig zwischen literarischen und nichtliterarischen Erzählungen ziehen. Auch sogenannte fiktionale Texte können unter Umständen sehr prägnant ‚wahre’, d. h. beispielsweise stimmige Bedeutungszusammenhänge aufzeigen: „Weil Texte in der literarischen Kommunikationssituation von der Pflicht zur Wirklichkeitsreferenz entlastet sind, konstruieren ihre Autoren Kontraste und Ähnlichkeiten, die weit prägnanter sind als in der Alltagswelt gewonnene Erfahrungen.“ (Gumbrecht 1980: 414). Wenn Fiktionalität nicht ‚falsch‘ oder ‚unwahr‘ bedeutet, sondern eher eine Überspitzung, Selektion, Fokussierung und Neu-Zusammenfügung bestimmter Realitätsaspekte (Iser 1991), erscheinen beispielsweise auch Autobiografien (oder erzählorientierte Interviews!) hoch fiktional.

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6 Das entwickelte Modell des Sprechens und Schweigens Tatsächlich stieß ich in einem Roman („Abschied“ von Sabine Peters 2005) auf einen Begriff, der die Bildung und Ausdifferenzierung der Kernkategorie meines Modells zur familiären Kümmeraushandlung maßgeblich anregte, den des ‚beschweigenden Redens‘: „Staunen. Erschrecken. Weglaufen. Hingehen. Dort sein. (…) Es gibt nichts zu sagen. Jeder, der hier ist, kann wissen, was los ist. So übers Jahr. Vielleicht schämen Vater, Mutter und Tochter sich für ihr Wissen und voreinander. Sie sind ihr übliches, ihr beschweigendes Reden.“ (Peters 2005: 128) und „Man wendet den Blick ab. Als wäre ein Blick ein Zunahetreten. Man umfängt die Mutter mit Blicken, verstohlen, verschwiegen. (…) In dieser Familie sind sie fast alle mehr oder weniger ein beschweigendes Reden.“ (ebd.: 130). Dieser Begriff führte brennglasartig vieles von dem zusammen, was ich aus den übrigen Daten kannte: Die Gleichzeitigkeit von eigentlich nicht Vereinbarem, von Widersprüchlichkeiten wurde hier fass- und benennbarer. Nach und nach entwickelte sich so die Kernkategorie des Sprechens und Schweigens, wobei sowohl Sprechen als auch Schweigen jeweils in einem umfassenden Verständnis jenseits ausschließlich verbaler Äußerungen bzw. Nicht-Äußerungen verwendet werden. Kümmeraushandlungen in den unterschiedlichen, durchaus auch parallel auftretenden Formen des Sprechens und Schweigens vollziehen sich prozesshaft in Abhängigkeit von bestimmten kümmerrelevanten Ereignissen oder Phasen sowie von Aushandlungsprotagonist*innen und ihren Kümmerkonzepten und führen zu (vorläufigen) Kümmerrealitäten (s. Abbildung 2). Innerhalb des Modells werden vier Formen des Sprechens und Schweigens unterschieden, die im Rahmen des vorliegenden Textes nur ansatzweise umrissen und vorgestellt werden können: • Klartext­Reden: Kümmerrelevante Aspekte können über direkte, verbale Äußerungen, über explizites Reden und Ansprechen ausgehandelt werden. Dies kann zum einen einfach so, immer mal wieder, im Alltag geschehen: Es werden sachbezogene und sachdienliche Aussagen und Absprachen getroffen. In den Daten fand sich darüber hinaus jedoch eine weitere

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Form des Klartext-Redens, die nicht ‚einfach so‘ passiert, sondern die den Beteiligten schwerfällt, die zu vermeiden versucht wird, die vorsichtig vorbereitet wird oder aufgrund heftiger Affekte unkontrolliert hervorbricht. Sonst als bindend erlebte Kommunikationsregeln werden dabei zeitweilig außer Kraft gesetzt, das Gegenüber wird weniger geschont. Diese Art des Klartext-Redens kann sowohl für die/den Redende*n als auch für das Gegenüber als Bedrohung erlebt werden. Hier ein Beispiel aus einem Interviewtranskript: „Und dann hab ich ihm gesacht: ‚Ja, weißte was Vatter, das is in Ordnung wenn du, wenn du willst, ne? Und irgendwann auf die Fresse fällst. (…) Aber überleg dir auch deine Frau ist auch noch da, was macht die jetzt? Die sitzt in ihrem Rollstuhl, kommt nich von der Stelle, hat keine Möglichkeit, sich da- bemerkbar zu machen und hat die Heidenpanik, weil du da vorne abnippelst! Zwei Schritt wech von ihr!‘ - Ja, manchmal muss man Klartext reden!“ (Interview mit Herrn K.: 38)

Abbildung 2: Modell des ‚Sprechens und Schweigens‘

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Beschweigendes Reden: Etwas, das nicht direkt und explizit an- oder ausgesprochen wird, fällt im Modell in die Kategorie des beschweigenden Redens. Das ‚Eigentliche‘ (das, was von den Protagonist*innen als solches verstanden und konstruiert wird) wird dabei nicht angesprochen, sondern ver- oder beschwiegen. Es lassen sich drei verschiedene Strategien des beschweigenden Redens unterscheiden: Rederituale, Drumherum-Reden und Hintenherum-Reden. Hier fließt auch ein markanter, anschaulicher Begriff aus der wissenschaftlich-theoretischen Literatur ein, die ja ebenfalls als Datenquelle für die Modellierung genutzt wurde: Rederituale können bedeutsam sein als „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ (Luhmann 1997: 235). Bei Rederitualen kann es darum gehen, irgendetwas zu reden (z. B. über Alltagsthemen wie Wetter, Nachbarn, Garten, Haushalt) und damit unangenehmes Schweigen zu vermeiden. Oder eine Person versucht tatsächlich ein bestimmtes, wichtiges Thema anzusprechen, redet aber damit ‚gegen eine Wand‘, weil das Gegenüber – ritualisiert – mit bestimmten Standardsätzen reagiert, z. B. antwortet Meiers Mutter in der Erzählung „Auf Leben und Tod“ von Hermann Kinder (1997) auf alle Fragen des Sohnes am Telefon mit „Es geht.“ (S. 31). Etwas Ähnliches berichtete Frau B., eine meiner Interviewpartnerinnen: „Ja, da ham wir [Frau B. und ihre Schwestern, BD] gesagt: „Mama, wenn du mal nicht mehr kannst“, und dann hat sie gesagt: „Ja, ich kann ja noch. Ich kann ja noch.“ Und da ist die nie drauf eingegangen, dass das – und wir können reden soviel wir wollen.“ (S. 6). Im Bühnenstück „Für alle das Beste“ von Lutz Hübner (2006) wiederholt der Sohn Klaus gegenüber der sich hauptsächlich um die Mutter kümmernden polnischen Putzhilfe Alexa penetrant und zunehmend inhaltsleer das Wort „Danke“: „Alexa: Ich habe ein paar Sachen eingekauft, wir haben es ja nicht mehr geschafft nach dem Krankenhaus. Klaus: Danke. Alexa: Ich wäre geblieben, aber ich musste zu meinem Freund, ich habe nicht so viel Zeit gehabt, aber ich war da, bis Herr Nowak gekommen ist. Klaus: Danke. Alexa: Wenn ich zu viel da bin, müssen Sie es sagen. Klaus: Danke. Alexa: Ich bringe nur schnell die Sachen in die Küche, sie wollen bestimmt Ihre Ruhe.

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Klaus: Danke. (Stille) Klaus: Danke, danke, danke, danke.“ (S. 18) Ein Beispiel zur Veranschaulichung für das Drumherum Reden als weitere Strategie des beschweigenden Redens fand sich im Roman „Gestern war kein Tag“ von Christiane Blasius (2001): „Sie liefen miteinander im Kreis, und die einzige Hoffnung, die Franziska hegte, war, daß sie nach jeder vollendeten Umrundung des eigentlichen Themas gemeinsam den Kreis etwas enger ziehen würden.“ (S. 220f.) Beim Hintenherum Reden wird ‚das Eigentliche‘ nur gegenüber einzelnen Protagonist*innen verschwiegen, während andere es durchaus explizit besprechen. Zum Drumherum wie zum Hintenherum Reden liefert die Studie, die zur Entdeckung und Entwicklung der Grounded Theory führte (Glaser/ Strauss 1974, Original 1965 „Awareness of Dying“) eine passende Perspektive sowie konzeptuelle Begrifflichkeiten, wenn es um unterschiedliche Bewusstheitskontexte im Zusammenhang mit einem schwierigen, tabuisierten Thema geht: Nicht alle wissen immer alles, und unter Umständen wird viel Aufwand betrieben, um das NichtWissen Einzelner aufrecht zu erhalten bzw. argwöhnische Vermutungen zu entkräften oder zumindest im Vagen, Impliziten zu belassen. Es können „Kontexte wechselseitiger Täuschungen“ entstehen (ebd.: 63ff.). Protagonist*innen arrangieren mit- und umeinander „Verschwiegenheitsspiele“ (ebd.: 36). •

Beredtes Schweigen: Aushandlungsprozesse können auch ohne Worte, stillschweigend stattfinden. Schweigen kann je nach (verbalem) Kontext ganz Unterschiedliches bedeuten: z. B. Vorwurf, Bestrafung, Verunsicherung, Angst, Gehemmtheit, Scham, Tabu, Nicht-Reden-Dürfen, Zufriedenheit, Genügsamkeit, Einigkeit, Offensichtlichkeit, Eindeutigkeit, Zustimmung. Für die Aushandlungs-Protagonist*innen ist eine entsprechende Sensibilität für die Wahrnehmung und Deutung der Kontexthinweise bedeutsam, eine Rolle spielt dabei auch ihre Bereitschaft ‚Hinzuschauen‘ oder ‚Wegzugucken‘.

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„Meine Mutter hat absolut nicht mit mir gesprochen. Ich hab sie dann den ersten Tag hingebracht [in eine Tagespflegeeinrichtung, BD], sie kam schweigend zurück. Und so ging das die ganze Woche. Meine Mutter hat eine Woche nicht mit mir gesprochen. Ich konnte fragen und sagen und machen und tun, meine Mutter hat geschwiegen.“ (Interview mit Frau T.: 12) In dem Interviewbeispiel zu Frau T.s Mutter, teilt diese sich schließlich mit und klärt die Bedeutung des Schweigens ein Stück weit auf: „Da sitzen wir hier, mein Mann war oben, ich trank nachmittags Kaffee, auf einmal fing sie an zu sprechen. Sagt sie: ‚Jetzt glaub ich dir.‘ Ich sag: ‚Was glaubst du mir?‘ ‚Ja, dass ich immer wieder zu euch nach Hause komme. Dass ich nur tagsüber dortbleibe.‘“ (Interview mit Frau T.: 15). •

Sprechendes Handeln: Eine weitere nicht verbale Aushandlungsstrategie stellt das schweigende Tun bzw. Handeln dar. Hierbei fanden sich in der Auseinandersetzung mit den Daten zwei Teilstrategien. Beteiligte sprechen zum einen über ihre bloßen An- und Abwesenheiten: über ihr Dasein und Dableiben, über ihr Hingehen oder Weggehen. Zum anderen sprechen sie – bei Anwesenheit – über ihr Tun, Zupacken, Machen. Das direkte Handeln erübrigt unter Umständen die Notwendigkeit bestimmte Aspekte ansprechen zu müssen, weil so bereits Kümmertatsachen geschaffen werden. Andererseits kann das Zupacken und Handeln auch eine ähnliche Funktion wie die Rederituale beim beschweigenden Reden einnehmen, nämlich dem direkten An- und Besprechen auszuweichen und dem möglicherweise unangenehmen Schweigen und Nichtstun eher mit Aktivität oder Aktionismus zu begegnen. Es kann Ausdruck von Hilflosigkeit und Resignation sein oder vom Wunsch getrieben, Eindeutigkeit und Klarheit herzustellen. „Als es soweit war, dass wir Mutter in das Heim bringen konnten, sagte mein Bruder, er wolle kommen. Ich sagte, dass sei nicht nötig, worauf er lachend bemerkte, wir sollten uns die Schuld lieber teilen. Und so machten wir es denn. Wir teilten uns die Schuld: Ich trug Mutters Koffer, und mein Bruder nahm sie bei der Hand und trug eins ihrer Bilder von der Farm, das wir gegenüber ihrem Bett aufhängen durften.“ (Ignatieff 2002, Roman, „Auf der Brücke eines sinkenden Schiffes“: 129)

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„Ida hatte nicht den Mut, einfach wegzufahren, deshalb putzte sie zuerst einen ganzen Tag und saß dann einfach auf der Bank vor dem Haus. Abends, wenn es kalt wurde, ging sie in die Küche und rauchte. Und ihre Mutter legte sich aufs Bett und blieb liegen, sagte kein Wort. Da fuhr Ida weg.“ (Tokarczuk 2006, Roman, „Letzte Geschichten“: 88)

7 Fazit In dem hier vorgestellten Forschungsprojekt habe ich zwei (miteinander verwobene) wissenschaftliche Kernambitionen verfolgt: zum einen eine methodologische zum anderen eine thematisch-inhaltliche. Methodologisch ging es mir darum, die Nutzung literarischer Texte als eine Datenquelle für ein qualitatives psychologisches Forschungsprojekt fundiert zu begründen und in einem konkreten Anwendungsfall zu erproben und zu nutzen. Dies ging nicht zuletzt auch mit disziplinären Grenzüberschreitungen einher: Während sich in der universitären Psychologie aktuell eher der interdisziplinäre Übertritt in Richtung Neuro-, Technik- und Naturwissenschaften mit Blick auf Zustimmung, Anerkennung, Förderung etc. ‚lohnt‘, liegen interdisziplinäre Übertritte in Richtung Geistes- und Literaturwissenschaften (genauso wie qualitative Forschungsmethoden) jenseits des Mainstreams. Das hat aus meiner Perspektive jedoch mehr mit geltenden Machtstrukturen und Spielregeln des Universitäts- und Wissenschaftssystems zu tun als mit einer fundierten methodologischen und gegenstandsangemessenen Reflexion und Begründung. Für mein Forschungsprojekt hat es sich auch inhaltlich gelohnt, vielfältige Textsorten als Datenquellen zu nutzen und zu triangulieren. Schnell traten die verschiedenen Datensorten im Rahmen des Auswertens/Kodierens in einen regen Austausch: Ein an einer Stelle gefundenes Konzept fand sich an anderer (Datensorten-) Stelle wieder, ließ sich dort ergänzen und ausdifferenzieren. So entstand aus den verschiedenen Datensorten konzeptuell ein Gesamtbild, d. h. das Modell des ‚Sprechens und Schweigens‘. Selbstverständlich gilt auch für dieses entwickelte Modell sowie die methodologische Herangehensweise, dass sie an bestimmte Perspektiven gebunden bleiben. Das Modell des ‚Sprechens und Schweigens‘ ermöglicht das Implizite, Indirekte, Widersprüchliche, Komplexe der familiären Kümmeraushandlungen im Alter konzeptuell-begrifflich zu fassen. Zwar kommt es, unter bestimmten Voraussetzungen, auch zum Klartext-Reden, jedoch ist dies nur eine, häufig nicht unbedingt präferierte und zu präferierende Aushandlungs-/Kommunikationsvariante. Für Protagonist*innen kann es durchaus ratsam und sinnvoll sein,

Ein Beispiel für die kreative Forschungsarbeit mit der Reflexiven Grounded Theory

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auch über beschweigendes Reden, beredtes Schweigen und sprechendes Handeln zu kommunizieren. Unter Umständen lässt sich das Modell auch auf andere familiäre Kommunikations- und Aushandlungsbereiche anwenden, die sich ebenfalls durch Implizitheit, Empfindlichkeiten und Tabus auszeichnen und in denen von den Protagonist*innen verlangt wird, zu einer Regelung zu kommen, Klarheit herzustellen, etwa bei Sterbeprozessen (Glaser/Strauss 1974), beim Ver-/Erben (Dieris/Breuer 2008) oder bei der Nachfolgeaushandlung in Familienunternehmen (Breuer/Dieris 2018).

Danksagung Ganz herzlich bedanke ich mich bei Franz Breuer und Jan Dieris-Hirche für die hilfreichen Rückmeldungen beim Schreiben dieses Textes.

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Barbara Dieris

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Ein Beispiel für die kreative Forschungsarbeit mit der Reflexiven Grounded Theory

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Soziale Integration von Migrant*innen: Die Arbeit mit analytischen Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse1 Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

Keywords: Qualitative Datenanalyse, Qualitative Inhaltsanalyse, analytische Zusammenfassungen, MAXQDA, Typenbildung

1 Einführung: Die Arbeit mit Zusammenfassungen bei der Analyse qualitativer Daten In diesem Beitrag stellen wir vor, wie in einer qualitativen Interviewstudie die thematisch codierten Aussagen der Befragten Schritt für Schritt auf einer höheren analytischen Ebene zusammengefasst und verdichtet wurden. Wir greifen damit ein Problem auf, dem viele Forschende gegenüberstehen, welche die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse und andere kategorienbasierte Analyseverfahren einsetzen, und das sich plakativ mit der Frage „Was mache ich eigentlich nach dem Codieren?“ auf den Punkt bringen lässt. Nach unserer Erfahrung geht vielen Forschungsanfänger*innen die Kategorienbildung und Kategorienanwendung noch einigermaßen leicht von der Hand, zumal Analysesoftware wie MAXQDA für diese Prozesse viele leicht zu erlernende Tools und effiziente Abläufe bereitstellt. Die Auswertung von codierten Textstellen beschränkt sich hingegen aber allzu häufig auf das einfache Wiedergeben zentraler Inhalte, das Einstreuen von Zitaten und das Berichten von Häufigkeiten. Gerade durch die Nutzung von Software bei der Analyse qualitativer Daten bestehen jedoch zahlreiche Möglichkeiten, tiefergehende Analysen der codierten Daten durchzuführen (Kuckartz/Rädiker 2020, Kapitel 5 „Analysemöglichkeiten nach dem Codieren“). Einen wichtigen Stellenwert hat hierbei die Arbeit mit thematischen Zusammenfassungen für einzelne Fälle, die in sogenannten Fallübersichten präsentiert werden (Hopf/Schmidt 1993;

1

Dieser Text basiert zu großen Teilen auf einem englischsprachigen Sammelbandbeitrag von Aikokul Maksutova (2021).

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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Kuckartz et al. 2008). Diese Fallübersichten entstehen häufig aus einer Themenmatrix, wie sie in Tab. 1 schematisch dargestellt ist (Kuckartz/Rädiker 2022). Thema A

Thema B

Thema C

Fall 1

codierte Textstellen zu Thema A

codierte Textstellen zu Thema B

codierte Textstellen zu Thema C

Fall 2

codierte Textstellen zu Thema A

codierte Textstellen zu Thema B

codierte Textstellen zu Thema C

Fall 3

codierte Textstellen zu Thema A

codierte Textstellen zu Thema B

codierte Textstellen zu Thema C

Tabelle 1: Schematische Darstellung einer Themenmatrix

Die einzelnen Zellen enthalten die codierten Textstellen, die für die Fallübersichten zusammengefasst und häufig um standardisierte Informationen, wie etwa soziodemografische Merkmale bei Interviewpersonen, ergänzt werden. In der Methodenliteratur wird die Erstellung von Fallübersichten unter anderem im Kontext der sogenannten „Framework Analysis“ diskutiert, wo derartige Tabellen auch als „Thematic Charts“ bekannt sind (Ritchie/Spencer 1994; Ritchie/Spencer/O’Connor 2003). Miles und Hubermann beschreiben in ihrem Lehrbuch Qualitative Data Analysis: An Expanded Sourcebook (Erstauflage: 1994; aktuelle Auflage: 2020) zahlreiche „Meta-matrices“, in denen wichtige Ergebnisse in kondensierter Form tabellarisch für die Analyse aufbereitet werden, um diese dann anschließend tiefergehend zu analysieren und in weiteren Schritten tiefergehend und abstrahierend zu analysieren: From there, you usually move to partition the data further (divide it in new ways), and cluster data that fall together so that contrasts between sets of cases on variables of interest can become clearer. These partitioned and clustered meta-matrices are progressively more refined, usually requiring further transformations of case-level data into short quotes, summarizing phrases, ratings, and/or symbols […]. (Miles et al. 2020: 131) Auch in Mixed-Methods-Studien kommen Fallübersichten zum Einsatz, etwa unter dem Label „Case Comparison Tables“, in denen qualitative und quantitative Daten für jeden Fall übersichtlich und in kondensierter Form präsentiert und verglichen werden (Schoonenboom/Johnson 2021). Zusammenfassungen können bei der Analyse qualitativer Daten zu verschiedenen Zeitpunkten eingesetzt werden. Bei der Datenexploration helfen

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Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

Fallzusammenfassungen dabei, ein umfassendes Bild der einzelnen Fälle zu erhalten und bei der Erschließung und Codierung des Datenmaterials unterstützen fokussierte Zusammenfassungen bei der Entwicklung von Kategorien am Material (Kuckartz/Rädiker 2022). Unsere Ausführungen in diesem Beitrag beziehen sich auf die Phase nach dem Codieren. Das von uns vorgestellte Vorgehen ist nicht zu verwechseln mit der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2015). Bei dieser Technik qualitativer Inhaltsanalyse wird direkt mit dem „Rohmaterial“ gearbeitet, um dieses mithilfe von vorgegebenen Regeln zusammenzufassen und zu paraphrasieren oder um induktive Kategorienbildung zu betreiben. Unser Vorgehen setzt später im Analyseverlauf an, wenn die Daten bereits thematisch codiert sind. Im Folgenden stellen wir zunächst das Forschungsbeispiel vor, auf das wir uns in diesem Beitrag beziehen, und geben eine Übersicht über die durchlaufenen Schritte bei der Arbeit mit Zusammenfassungen, um diese Schritte dann im Detail zu erläutern. Den Abschluss des Beitrags bildet die Vorstellung der entwickelten Typologie und eine Reflexion der Arbeit mit Zusammenfassungen.

2 Das Forschungsbeispiel Thematischer Fokus unseres Forschungsbeispiels ist das Integrationspotenzial von Arbeitsmigrant*innen aus drei zentralasiatischen Entsendeländern – Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan – in Russland. Aikokul Maksutova (2019) hat die Integrationsverläufe verschiedener Migrantengruppen und die Rolle der transnationalen Einbindung bei diesen Verläufen untersucht. Als theoretischer Rahmen der durchgeführten Studie diente das vierdimensionale Modell der sozialen Integration von Hartmut Esser (2001), und Theorien der transnationalen Migration wurden genutzt, um Prozesse auf der Mikroebene zu untersuchen, die in und über verschiedene Dimensionen hinweg stattfinden. Erkenntnistheoretisch basiert die Studie auf einem qualitativen, hypothesengenerierenden Ansatz. In der russischen Hauptstadt Moskau wurden 60 qualitative Interviews durchgeführt, 48 Tiefeninterviews mit Migrant*innen und 12 Interviews mit Expert*innen, die selbst nach Russland migriert sind und einer beruflichen Tätigkeit im Kontext von Migration nachgehen. Aufgrund der vergleichsweise großen Studienpopulation wurde in der Studie bewusst auf quantitative Methoden verzichtet, da es in dem zur Verfügung stehenden Zeitrahmen nicht möglich gewesen wäre, eine ausreichende Stichprobengröße für eine Gesamtrepräsentativität zu gewährleisten. Stattdessen war es durch den Einsatz qualitativer Methoden möglich, tiefe Ein-

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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blicke in die Wahrnehmungen, Verhaltenslogiken und zugrundeliegenden Motivationen der Akteure zu gewinnen, was letztlich dazu beitrug, die Bedeutung etablierter sozialer Regelmäßigkeiten zu verstehen und bisher unbekannte Beziehungen zwischen verschiedenen Faktoren aufzudecken. Dies wurde durch die Anwendung einer Kombination verschiedener qualitativer Forschungsmethoden erreicht, darunter problemzentrierte Interviews mit Migranten und Migrantinnen, Experteninterviews mit Vertretern und Vertreterinnen ethnischer Gemeinschaften und nichtteilnehmende Beobachtung, deren Ergebnisse in einem Feldjournal systematisch festgehalten wurden. Die Interviews wurden mit Hilfe von zwei verschiedenen Interviewleitfäden durchgeführt, einer für die Interviews mit Migrant*innen und ein zweiter für die Interviews mit Expert*innen. Bei der Gewinnung von Forschungsteilnehmer*innen wurden je nach Geschlecht, rechtlichem Status, Beschäftigungssektor, religiösem Hintergrund und Alter der Befragten unterschiedliche Stichprobenverfahren angewendet. So waren beispielsweise religiöse männliche Migranten mit illegalem Aufenthaltsstatus am schwersten zu erreichen und konnten meist nur über Empfehlungen anderer Befragter erreicht werden. Interviews mit Migrant*innen aus Kirgisistan wurden auf Kirgisisch und Russisch geführt, Interviews mit Migrant*innen aus Usbekistan und Tadschikistan auf Usbekisch oder Russisch. Die Daten wurden mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse, insbesondere der inhaltlich-strukturierenden Variante (Kuckartz/Rädiker 2022) ausgewertet, wobei größtenteils die Analysesoftware MAXQDA (Rädiker/ Kuckartz 2019) zum Einsatz kam. Der Ablauf der Datenanalyse gestaltete sich wie folgt: 1. Transkription von aufgezeichneten Interviews mit der Transkriptionsfunktion von MAXQDA 2. Organisation von Interviewtranskripten in Dokumentgruppen nach nationalen Gruppen und Dokumentuntergruppen nach Interviewtyp 3. Entwicklung eines deduktiven (englischsprachigen) Kategoriensystems auf der Grundlage des Interviewleitfadens 4. Codierung der Transkripte mit verschiedenen Techniken, einschließlich Bildung induktiver Kategorien am Material 5. Optimierung des Kategoriensystems durch Clustering induktiver und deduktiver Kategorien nach Ähnlichkeit, Regelmäßigkeit und Redundanz 6. Zusammenfassen der codierten Interviewdaten mit Hilfe der Zusammenfassungsfunktionen von MAXQDA 7. Erstellung von kategorienbasierten analytischen Memos 8. Entwicklung einer Typologie

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Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

Im Folgenden geben wir zunächst einen kurzen Überblick über die Codierung in Phase 4 und 5, um anschließend im Detail das Vorgehen nach dem Codieren der Daten zu erläutern.

3 Vorbereitung und Codierung der Daten mit MAXQDA Die Audioaufnahmen aller 60 Interviews wurden zunächst in MAXQDA importiert, mit Hilfe der Transkriptionsfunktion verschriftlicht und von Usbekisch, Kirgisisch und Russisch ins Englische übersetzt. Die OriginalAudioaufnahmen und ihre Transkripte wurden nach der Nationalität der Interviewpartner*innen in drei Dokumentgruppen geordnet. Je nach Typ des Interviews (Tiefeninterview oder Expert*inneninterview) wurden sie weiter in zwei verschiedene Untergruppen aufgeteilt. Auf der Ebene der Untergruppen wurden den Interviewtranskripten unterschiedliche Farben zugewiesen, um die Transkripte auf einen Blick nach Geschlecht der befragten Personen unterscheiden zu können. Alle Transkripte der Interviews mit Expert*innen wurden separat in einem Dokumentset zusammengefasst, um den Zugriff auf diese Interviews zu erleichtern. Besonders hervorzuheben ist die Benennung der Interviewdokumente, da diese zur effizienten Organisation und Strukturierung der Daten genutzt wurde. Um die wichtigsten Identifikatoren hervorzuheben, enthielten die Dokumentennamen den Aliasnamen, die Nationalität und das Geschlecht der Befragten (z. B. „Zubaida_Kyrgyz_female“, Abb. 1). Zusätzliche Informationen über die befragte Person und den Interviewprozess, wie z. B. der Zugang zum Feld, Störungen während des Interviews und andere forschungsrelevante Beobachtungen, wurden in Dokument-Memos festgehalten. Memos, die relevante Auszüge aus dem Feldtagebuch enthielten, wurden mit einem „M“Symbol gekennzeichnet, um sicherzustellen, dass auch wichtige Beobachtungsdaten in die Analyse einbezogen wurden. Es wurde ein erstes deduktives Kategoriensystem entwickelt, das die Hauptthemen des Interviewleitfadens und den zugrunde gelegten theoretischen Rahmen widerspiegelt. Mit diesem Kategoriensystem wurde die inhaltlichstrukturelle Codierung begonnen. Mithilfe von Techniken wie „open“ und „initial coding“, „in-vivo-coding“, „emotion coding“ und „value coding“ (Saldaña, 2016) wurde das ursprüngliche Kategoriensystem um induktive, am Material gebildete Kategorien ergänzt. Im Laufe des Codierprozesses wurde das Kategoriensystem schrittweise angepasst, indem thematische Unterkategorien in weitere Kategorien ausdifferenziert, ähnliche Kategorien zusammengefasst und redundante Kategorien mit Hilfe der MAXQDA-Funktionen

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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„Creative Coding“ und anderen Funktionen entfernt wurden. Die Beschreibung und Codierungslogik hinter den neu entwickelten Kategorien wurden so in Code-Memos dokumentiert, dass die Entwicklungsgeschichte des Kategoriensystems nachvollzogen werden konnte. Zusätzlich wurden im Codierprozess Kommentare zu codierten Segmenten verfasst, um erste Gedanken, weiterführende Fragen und zu klärende Themen zu den einzelnen codierten Textstellen zu dokumentieren und um in späteren Analyseverfahren darauf zurückgreifen zu können. Als Ergebnis lag ein konsistentes Kategoriensystem vor, das auf der obersten Ebene drei Nationen-Kategorien enthält (Abb. 1). Jeder NationenKategorie sind vier Dimensionen als Unterkategorien zugeordnet: Struktur, Kultur, Soziales und Identifikation, die jeweils in weitere Unterkategorien ausdifferenziert sind.

Abbildung 1: Organisation der Dokumente in der Analysesoftware MAXQDA (links); Kategoriensystem nach Abschluss des Codierens (rechts)

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Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

4 Übersicht über die Summary-Schritte Nachdem die Daten codiert und das Kategoriensystem verfeinert wurden, konnte die Zusammenfassung der codierten Daten beginnen. Wie Abb. 2 zeigt, wurde in vier Analyseschritten vorgegangen, wobei in jedem Schritt die Daten und (Zwischen-)Ergebnisse auf die nächste Abstraktions- und Analyseebene gebracht wurden.

Abbildung 2: Übersicht über die vier Schritte der Zusammenfassung, einschließlich verwendeter Software

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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Schritt 1. Pro Fall codierte Textstellen themenweise zusammenfassen. Die Hauptaufgabe des ersten Verdichtungsschrittes bestand darin, die codierten Dokumente hinsichtlich zentraler Aspekte zusammenzufassen. Das heißt, für alle 60 Transkripte aus den drei Dokumentgruppen wurden thematische Summarys geschrieben. Schritt 2. Tabellarische Übersicht mit Summarys erstellen. In einem zweiten Schritt wurden alle Summarys in Übersichtstabellen zusammengestellt, die auch standardisierte Hintergrundinformationen zu jeder Person enthielten. Für jedes Herkunftsland wurde eine Tabelle erstellt. Schritt 3. Meta-Summarys schreiben. Im dritten Schritt wurden die zusammengestellten Summarys zu Meta-Summarys aggregiert, die zur weiteren Analyse in eine Textdatei exportiert wurden. Schritt 4. Meta-Summarys konsolidieren. Im letzten Schritt wurden alle Meta-Summarys über die Herkunftsländer hinweg in analytischen Memos zusammengeführt, um auftretende Regelmäßigkeiten und Besonderheiten herauszuarbeiten, die länderspezifischen Ergebnisse zu vergleichen und länderübergreifende soziale Typen zu erstellen.

5 Schritt 1: Pro Fall codierte Textstellen themenweise zusammenfassen Das Schreiben von Summarys im ersten Schritt erfolgte mithilfe des MAXQDA-Tools „Summary-Grid“. Im Summary-Grid lassen sich für jeden Fall die codierten Textstellen themenweise anzeigen und zusammenfassen. In Abb. 3 ist dieser Schritt beispielhaft für die Interviews mit den Migrant*innen aus Kirgisistan zu sehen. Dort lässt sich gut erkennen, dass die Kategorie „Structural Dimension“ zahlreiche Unterkategorien besitzt, welche zur Erfassung der Beteiligung von Migrant*innen an wichtigen sozioökonomischen Institutionen im Aufnahmeland verwendet wurden, unter anderem Beschäftigung, Wohnsituation, Gesundheitsversorgung und Legalisierung. Diese Aspekte sind teilweise in weitere Unterkategorien ausdifferenziert. Aus praktischen Gründen erfolgte die Zusammenfassung aber nicht auf allen Ebenen des Kategoriensystems, sondern nur auf der direkten Unterebene der vier Hauptdimensionen, das heißt für jedes Interview wurden die codierten Textstellen der direkten Unterkategorien in einem Summary zusammengefasst. Abb. 3 illustriert dieses Vorgehen im Summary-Grid von MAXQDA: Im linken

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Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

Fensterbereich sind die direkten Unterkategorien von „Structural Dimension“ zu sehen, die teilweise weitere Unterkategorien haben, die jedoch alle eingeklappt sind. Im mittleren Fensterbereich werden die codierten Textstellen für eine befragte Person zum Themenbereich „Employment“ aufgelistet, einschließlich der Herkunftsangaben, aus welchem Interview diese stammen (faktisch ist nur eine Textstelle zu sehen, für die anderen muss man weiter herunterscrollen). Im rechten Fensterbereich wurden die vier Segmente zum Themenbereich „Employment“ in einem Summary aggregiert, das aus vier kurzen Sätzen und einem Originalzitat besteht.

Abbildung 3: Summary Grid in MAXQDA – für 4 Segmente der Kategorie „EMPLOYMENT“ (mittlerer Bereich, nur das oberste Segment ist sichtbar) wird eine Zusammenfassung geschrieben (rechter Bereich)

Für jedes Interview mit Befragten aus Kirgisistan wurden 4 bis 10 thematische Summarys geschrieben, die wichtige Verhaltensmuster, Erfahrungen oder Einstellungen in Bezug auf eine bestimmte Unterkategorie beschreiben. Auf diese Weise entstanden bei der „Structural Dimension“ für 20 Interviews insgesamt 103 Summarys aus ursprünglich 446 codierten Segmenten. Durch die Nutzung des Summary-Grids war es möglich, die Aussagen der einzelnen Interviewpartner*innen im Detail zu analysieren und ihre einzigartigen Erfahrungen, Einstellungen und Wahrnehmungen zu einem bestimmten Thema in abstrakter, komprimierter Form zu dokumentieren. Im Summary-Grid wurden unterhalb der codierten Segmente die jeweils zugehörigen Kommentare und Memos eingeblendet, um die ersten Gedanken und Einsichten, die bereits während des Codierens auftauchten, zu ver-

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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tiefen und in die Summarys einzubeziehen. So wurde sichergestellt, dass keine Erkenntnisse aus der Codierphase verloren gingen. Bei der Codierung der Transkripte wurde zudem die Gewichtungsfunktion von MAXQDA verwendet, um Textstellen zu kennzeichnen, die als Zitate bei der Präsentation der Ergebnisse geeignet sein können. Sofern Originalzitate der Befragten in das Summary übernommen wurden (so wie in Abb. 3), wurden diese ausdrücklich als solche gekennzeichnet.

6 Schritt 2: Tabellarische Übersicht mit Summarys erstellen Nachdem für alle 60 Interviews thematische Summarys vorlagen, war es an der Zeit, zum nächsten Analyseschritt überzugehen, dessen primäres Ziel darin bestand, die Summarys übersichtlich in Tabellen zusammenzustellen. Mithilfe der MAXQDA-Funktion „Summary-Tabellen“ wurden für jedes Herkunftsland vier tabellarische Übersichten erstellt, jeweils eine für die Dimensionen Struktur, Kultur, Soziales und Identifikation. Tab. 2 illustriert den Aufbau dieser Summary-Tabellen exemplarisch für die Dimension „Struktur“. Fall

Employment

Working conditions

Living conditions



Venera_kyrgyz_female Migration duration: 8 Marital status: divorced Education: high Children: yes Accompanied: no

Summary von Fall 1

Summary von Fall 1

Summary von Fall 1



Azamat_kyrgyz_male Migration duration: 5 Marital status: married Education: secondary Children: no Accompanied: yes

Summary von Fall 2

Summary von Fall 2

Summary von Fall 2













Dokument für MetaSummary in Schritt 3







Tabelle 2: Schematischer Aufbau der Summary-Tabellen

Die erste Spalte enthält den Dokumentnamen sowie als ergänzende Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Fällen die Dokumentvariablen „Migration Duration“, „Marital Status“, „Education“, „Children“ und „Accompanied“.

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Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

Es war notwendig, die Werte dieser Variablen bereits jetzt in Schritt 2 in die Tabelle aufzunehmen, um bei der Aggregation der Summarys zu MetaSummarys im nachfolgenden Schritt 3 mögliche Unterschiede in den Verhaltensentscheidungen und Wahrnehmungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen berücksichtigen zu können. Pro Zeile enthält die Summary-Tabelle die Summarys des jeweiligen Falls, hier aufgegliedert nach den direkten Unterkategorien der vier Hauptdimensionen. Vor dem Erstellen der Summary-Tabelle wurde in MAXQDA ein leeres „Dummy-Dokument“ angelegt, sodass in der untersten Zeile jeder SummaryTabelle eine Leerzeile eingefügt werden konnte. Diese Zeile wurde im nächsten Schritt 3 in allen Summary-Tabellen mit einem Meta-Summary gefüllt.

7 Schritt 3: Meta-Summarys schreiben Die Erstellung von Meta-Summarys beginnt mit dem sorgfältigen Lesen sämtlicher Zusammenfassungen, die für eine bestimmte Unterkategorie verfasst wurden, das heißt den Summarys einer Spalte der zuvor erstellten Summary-Tabellen. Während es beim Schreiben von Summarys vor allem darum geht, die Ideen der Befragten aufzugreifen und sie in knapper und verdichteter Form ohne Interpretation darzustellen, kommt es beim Schreiben von Meta-Summarys vor allem darauf an, Regelmäßigkeiten, Ähnlichkeiten oder Widersprüche zwischen den zusammengefassten Aussagen der Befragten zu erkunden und sie in einen kohärenten Text mit logischen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Erkenntnissen zu bringen. In diesem Prozess wurden die verschiedenen Erkenntnisse aus einzelnen fallbezogenen Summarys wie Puzzlestücke nebeneinandergestellt und in Beziehung zueinander, um durch Kontrastierung und Vergleich mögliche Zusammenhänge oder Widersprüche zu entdecken und zu verstehen. Es war nicht immer möglich, alle Erkenntnisse in dieser Phase zu deuten. Daher war es manchmal notwendig, die ursprünglichen Forschungsdaten, einschließlich der Protokolle aus den Feldnotizen hinzuzuziehen, um bestimmte Befunde einordnen zu können, oder sie bis zu einem späteren Zeitpunkt offen zu lassen, wenn weitere Erkenntnisse zutage treten. Abb. 4 illustriert, wie die für die Unterkategorien „Employment“, „Working Conditions“ und „Living Conditions“ erstellten Summarys in einem MetaSummary in der letzten Zeile der Summary-Tabelle zusammengeführt wurden. Beispielsweise wurde das Meta-Summary für die Unterkategorie „Employment“ auf der Grundlage von 20 fallbasierten Summarys geschrieben, die wiederum aus 56 codierten Segmenten mit 5.931 Wörtern erstellt wurden. Das entstandene Meta-Summary umfasste schließlich 111 Wörter. Der Zeitaufwand

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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für die Erstellung eines Meta-Summarys hing weitgehend von der Anzahl und Länge der dokumentenbasierten Summarys und der analytischen Komplexität der Ergebnisse ab. Im Durchschnitt wurden zwei bis drei Stunden für die Erstellung eines Meta-Summarys benötigt.

Abbildung 4: Meta-Summarys werden für die 3 Unterkategorien „Employment“, „Working conditions“ und „Living conditions“ in der letzten Zeile der Summary-Tabelle im DummyDokument „Meta-Summaries Kyrgyzstan“ geschrieben

8 Schritt 4: Meta-Summarys konsolidieren Nach der Analyse der innerhalb einer nationalen Gruppe gesammelten Daten bestand die nächste Aufgabe darin, die vorläufigen Ergebnisse aus allen drei nationalen Gruppen zu integrieren und durch Vergleiche und tiefergehende Analysen transnationale soziale Typen herauszukristallisieren. Zu diesem Zweck wurde in MAXQDA für jede der vier zentralen Dimensionen Struktur, Kultur, Soziales und Identifikation eine neue Summary-Tabelle erstellt, welche jeweils die Meta-Summarys für alle drei Herkunftsländer enthielt. Diese drei

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Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

Summary-Tabellen wurden dann zu Microsoft Word exportiert. Die MetaSummarys wurden intensiv analysiert und am Ende jeder Tabelle wurde eine neue Zeile eingefügt, um dort die Erkenntnisse in einem analytischen Memo zu integrieren (Tab. 3).

Kyrgyzstan

EMPLOYMENT

LIVING CONDITIONS

FINANCES

[Meta-Summary]

[Meta-Summary]

[Meta-Summary]

Tajikistan

[Meta-Summary]

[Meta-Summary]

[Meta-Summary]

Uzbekistan

[Meta-Summary]

[Meta-Summary]

[Meta-Summary]

Analytisches Memo

The everyday life of Kyrgyzstani, Uzbekistani and Tajikistani migrants in Moscow is navigated through feelings of insecurity, fear of employment fraud and exploitation, and threat of police harassment, abuse and deportation. Few possibilities for legal protection and a lack of trust in the Russian law enforcement agencies and other officials have compelled Central Asian labour migrants to adopt different coping strategies. Such strategies differ from one national group to another, depending on the level of access to primary structures of the host country. Whereas all three national groups invested in their informal ethnic networks in order to address the risks and uncertainties related to their migration, some groups are already institutionalizing their ethnic structures. For example, Kyrgyzstani migrants have established a large number of migrant organisations in Moscow delivering a wide range of migration-relevant services and products to cater not only to Kyrgyzstanis but also to other Central Asian nationals. Thereby they have capitalised mainly on their citizenship, diversified social networks and good command of the Russian language. At the same time, Tajikistani migrant structures are primarily consolidated around delivering ethnic consultancy services which address Tajikistani labour migrants’ pressing concerns about residence and employment legalisation, communication with law enforcement and other state agencies, employment fraud and others. Uzbekistanis prove to be the least organised and consolidated among Central Asian migrant communities in Moscow despite being the greatest in number. A comparatively low level of institutionalisation of Uzbekistani migrant structures seems to be a consequence of the Uzbek Government’s hostile attitudes towards unregulated labour migration to Russia and its scepticism about the potential political role of self-organisation among Uzbekistanis abroad.

Tab. 3: Schematischer Aufbau der Tabellen für die Erstellung von konsolidierenden, kategorienübergreifenden, analytischen Memos in der letzten Zeile

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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Das Schreiben analytischer Memos ähnelte der Erstellung von MetaSummarys. Die Meta-Summarys aller drei nationalen Gruppen wurden ausführlich analysiert, um sowohl wesentliche Ähnlichkeiten zwischen ihnen als auch abweichende Tendenzen aufzudecken, die für eine bestimmte nationale Gruppe im Hinblick auf strukturelle, soziale, kulturelle und identifikatorische Integrationstendenzen von Migrant*innen in Moskau relevant sind. Diese Meta-Ergebnisse wurden im Hinblick auf verschiedene Theorien der Migration und des Transnationalismus diskutiert und mit den Ergebnissen anderer empirischer Studien zur Integration und Anpassung von Migranten in Russland vergleichend dargestellt. In dieser Phase der Forschung lag der analytische Schwerpunkt also auf Verallgemeinerung, Diskussion und Kreuzvalidierung. Es wurden vier analytische Memos von jeweils etwa 400 bis 600 Wörtern verfasst, eines für jede Dimension der sozialen Integration. Das Verfassen der analytischen Memos nahm mehr Zeit in Anspruch als die Erstellung der Meta-Summarys, da der Prozess nicht nur eine Datenreduktion und Verallgemeinerung, sondern auch systematische Querverweise auf die restlichen Daten und bereits existierende empirische Befunde sowie eine theoretische Kontextualisierung beinhaltete. Im Durchschnitt dauerte die Erstellung jedes analytischen Memos mehrere Wochen. Um ein praktisches Beispiel zu geben: Im analytischen Memo zur strukturellen Dimension der sozialen Integration heißt es, dass der Alltag kirgisischer, usbekischer und tadschikischer Migrant*innen in Moskau von einem Gefühl der Unsicherheit, der Angst vor Arbeitsbetrug und Ausbeutung sowie der Bedrohung durch polizeiliche Schikanen, Missbrauch und Abschiebung geprägt ist. Wenige Möglichkeiten des Rechtsschutzes und mangelndes Vertrauen in die russischen Strafverfolgungsbehörden und andere Beamte haben dazu geführt, dass die befragten zentralasiatischen Arbeitsmigrant*innen verschiedene „coping strategies“ anwenden. Diese Strategien unterscheiden sich zwischen den nationalen Gruppen, je nachdem, inwieweit sie Zugang zu den Primärstrukturen des Aufnahmelandes haben. Während alle drei nationalen Gruppen in ihre informellen ethnischen Netzwerke investierten, um die mit ihrer Migration verbundenen Risiken und Ungewissheiten zu bewältigen, haben einige Gruppen ihre ethnischen Strukturen bereits institutionalisiert. So haben kirgisische Migranten in Moskau eine große Anzahl von Organisationen gegründet, die ein breites Spektrum an migrationsrelevanten Dienstleistungen und Produkten anbieten, um nicht nur Kirgis*innen, sondern auch andere zentralasiatische Staatsangehörige anzusprechen. Dabei haben sie vor allem von ihrer Staatsbürgerschaft, ihren vielfältigen sozialen Netzwerken und ihren guten Russischkenntnissen profitiert. Gleichzeitig sind die Strukturen der tadschikischen Migrant*innen in erster

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Linie darauf ausgerichtet, ethnische Beratungsdienste anzubieten, die sich mit den dringenden Anliegen der tadschikischen Arbeitsmigrant*innen in Bezug auf die Legalisierung von Aufenthalt und Beschäftigung, die Kommunikation mit den Strafverfolgungsbehörden und anderen staatlichen Stellen, Arbeitsbetrug und anderen Themen befassen. Usbekische Migrant*innen erweisen sich als am wenigsten organisiert und konsolidiert unter den zentralasiatischen Migrantengemeinschaften in Moskau, obwohl sie zahlenmäßig die größte Gruppe darstellen. Der vergleichsweise geringe Grad an Institutionalisierung usbekischer Migrantenstrukturen scheint eine Folge der ablehnenden Haltung der usbekischen Regierung gegenüber unregulierter Arbeitsmigration nach Russland und ihrer Skepsis gegenüber der potenziellen politischen Rolle der Selbstorganisation von Usbeken im Ausland zu sein.

9 Das Resultat: Eine Typologie Nach der Erstellung der analytischen Memos wurden diese aus einer länderübergreifenden Perspektive ausgewertet, woraufhin mehrdimensionale Typen von sozialen Integrationsverläufen entwickelt wurden, die sich auf die zentralasiatische Migrantenbevölkerung beziehen. Dabei handelt es sich um empirische Typen, die aus den analytischen Memos abgeleitet wurden, und nicht um Idealtypen im Sinne von Max Weber (1904), die eine künstliche Konstruktion bestimmter Aspekte der Realität darstellen (Kuckartz, 1991, S. 45). Empirische Typen stehen für Gruppen von Migrant*innen, die jeweils eine ähnliche Haltung zur sozialen Integration in die Aufnahmegesellschaft teilen. In der Stichprobe wurden die folgenden fünf allgemeinen Typen sozialer Integration identifiziert: I. „The excluded, disillusioned, and angry“ (n = 15) II. „The low-profilers“ (n = 12) III. „The adaptionists” (n = 12) IV. „The migrant-entrepreneurs“ (n = 11) V. „The settlers” (n = 10) Jeder dieser Typen repräsentiert eine bestimmte Gruppe von Arbeitsmigrant*innen, die ähnliche Muster der sozialen Integration über die strukturelle, soziale, kulturelle und identifikatorische Dimension aufweisen. Die Migrant*innen, die dem jeweiligen Typus zugeordnet wurden, sind in ihren Handlungen, Verhaltenstendenzen und Denkmustern nicht völlig homogen, jedoch teilen sie die für ihren Typ dominanten Merkmale, die sie von anderen Gruppen unterscheidet. Um ein kurzes Beispiel zu geben, sind die

Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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charakteristischen Merkmale von Typ 1 für die verschiedenen Dimensionen der sozialen Integration in Tab. 4 dargestellt. Dieser Typus war am häufigsten in der Stichprobe vertreten. TYPE I: The excluded, disillusioned, and angry STRUCTURAL

No access to primary labor market; Employment in 3-D (dirty, dangerous and difficult) and lowpaid jobs; Severe hurdles with legalization; Unwillingness to invest in one’s legalization; Accommodation in closed ethnic compounds or ethnic migrant flats;

SOCIAL

Intensive exposure to the ethnic migrant community; Strong ethnic solidarity and protectionism; Capitalization on private ethnic networks; Avoidance of contact with mainstream agencies; Scarce and superficial private contacts with the local population;

CULTURAL

Poor level of Russian language skills; Lack of interest and financial resources to invest in host language skills; Poor access to the Russian speaking social environment and pro-active avoidance thereof;

IDENTIFICATION

Salient ethnic identity with strong emotional and cognitive binding to one’s home society and the ethnic migrant community; Glorification of one’s ethnic origin and historical heritage; Self-categorization of one’s social standing in Russian society as ‘third or fourth class people’;

Tabelle 4: Charakterisierende Merkmale des Typs 1 „The excluded, disillusioned and angry“ in vier Dimensionen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zugehörigkeit von Migrant*innen zu einem bestimmten Typus nicht statisch oder unumkehrbar ist, sondern sich im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss bestimmter Faktoren verändern kann. In den meisten Fällen entwickeln sich Migranten von Typ I zu Typ V, obwohl dieser Prozess nicht immer linear und zukunftsorientiert ist. So können Migrant*innen, die dem Typ I zugeordnet sind, zum Typ III übergehen, die Arbeitsmigration beenden und in das Heimatland zurückkehren. Auch ein umgekehrter Verlauf ist möglich, wobei die zugewanderten Unternehmer*innen des Typs IV ihr Dasein als „ethnic entrepeneurs“ aufgeben und die Migrationsstrategien der Adaptionisten übernehmen. Dies lässt sich hin-

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Aikokul Maksutova und Stefan Rädiker

reichend damit erklären, dass Migrant*innen mit unterschiedlichem sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital (Bourdieu, 1986) in die Migration gehen, das zur Feinabstimmung ihrer Leistungseffizienz in den Gelegenheitsstrukturen beiträgt. Methodisch gestalte sich die Bildung von empirischen Typen nicht so schwierig, wie es zunächst schien. Die Forschungsdaten wurden einer dreistufigen analytischen Verallgemeinerung durch Summarys, Meta-Summarys und analytische Memos unterzogen, so dass sich im Laufe des Prozesses nach und nach soziale Typen herauskristallisierten. Es verblieb die Aufgabe, sie zu identifizieren, zu kategorisieren und in den theoretischen Rahmen der Forschung einzuordnen. Am Ende der Analyse wurde eine Reihe empirisch validierter Hypothesen durch die Erörterung der sozialen Typen im Hinblick auf die Hauptforschungsfrage dargestellt.

10 Fazit Unserer Erfahrung nach sind sich viele Forschende unsicher, wie es im Rahmen von qualitativen Inhaltsanalysen nach dem Codieren der Daten weitergehen kann. In diesem Beitrag haben wir anhand eines Fallbeispiels gezeigt, wie sich die Phase nach dem Codieren gestalten lässt und wie auf transparente und nachvollziehbare Weise analytisch wertvolle Ergebnisse generiert und präsentiert werden können: durch die mehrstufige Erstellung analytischer Zusammenfassungen mit der QDA-Software MAXQDA. Die drei Stufen der Zusammenfassung sind im Folgenden zur Erläuterung noch einmal kurz zusammengefasst. In der ersten Stufe der Zusammenfassung (Schritt 1) wurden die einzelnen Fälle genau unter die Lupe genommen und die codierten Segmente zu thematischen Fallzusammenfassungen aggregiert. Dabei wurden die einzelnen Texte inhaltlich verdichtet, ohne auf erste Erkenntnisse aus den anderen bereits bearbeiteten Fällen Bezug zu nehmen. Die Summary-Texte bleiben dicht an den Formulierungen der Teilnehmenden, es werden keine weiterführenden Interpretationen durch die Forschenden vorgenommen, sondern der Vorgang ist reduzierend-deskriptiv. Anschließend wurden in der zweiten Stufe der Zusammenfassung (Schritte 2 und 3) die thematisch gebündelten Fallzusammenfassungen in tabellarischen Übersichten dargestellt, wobei erste Erkenntnisse aus den Fallzusammenfassungen in Meta-Summarys gegenübergestellt und verglichen wurden. Hier wird fallübergreifend und gruppenbezogen gearbeitet, wobei auch standardisierte Hintergrundinformationen zu den einzelnen Fällen berück-

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sichtigt werden können. Der analytische Vorgang ist selektiv-aggregierend und arbeitet mit Kontrastierungen. In der dritten Stufe der Zusammenfassung (Schritt 4) wurden fallübergreifende Meta-Summarys entlang der Kategorien konzeptualisierend in analytische Memos weiterverdichtet. Der analytische Schwerpunkt lag auf der Identifikation von (verallgemeinerbaren) Regelmäßigkeiten und deren Diskussion und Kreuzvalidierung im Hinblick auf die Forschungsfrage und die relevanten Theorien. Hier wurde erneut fallübergreifend und gruppenbezogen gearbeitet. Die Datenanalyse endete jedoch nicht mit den analytischen Memos; sie bildeten die Grundlage für die Konstruktion der empirischen Typen, die sich aus der Kontrastierung und dem Vergleich der Erkenntnisse aus den analytischen Memos herauskristallisierten. Die einzelnen Fälle wurden entsprechend der Ähnlichkeit ihrer Handlungen, Verhaltenstendenzen und Denkmuster gruppiert. Als Ergebnis wurden empirisch abgesicherte Hypothesen generiert, indem die Typen in Bezug auf die Forschungsfragen erörtert und zur weiteren Diskussion in der Scientific Community gestellt wurden. Analytisch-technisch findet zu Beginn eine thematische Verdichtung durch Konzentration auf die zentralen Aussagen der Befragten statt, der weitere Verlauf ist dann stärker durch Interpretation, Kontrastierung und Vergleich, Suche nach Mustern und Regelmäßigkeiten geprägt. Dementsprechend steigen auch der Zeitbedarf und die benötigten analytischen Kompetenzen bei jeder Verdichtungsstufe an, zugleich bleibt die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse erhalten. Betrachtet man diesen mehrstufigen Analyseprozess, so lässt sich zum einen erkennen, dass man bei der Abstraktion und Verdichtung mit dem Einzelfall beginnt, mit gruppenbezogenen Verdichtungen über Fälle hinweg fortfährt und schließlich wieder komplett fallübergreifend arbeitet. Bei der Typenbildung geht der Blick dann sowohl auf das Ganze als auch auf den Einzelfall. Zum anderen lässt sich auf allen Stufen der Zusammenfassung die Verwendung von Tabellen als zentrales Hilfsmittel erkennen. Diese Tabellen beinhalten einzelne Fälle in den Zeilen und Themen in Spalten (oder umgekehrt) und werden nach und nach zeilen- und/oder spaltenweise aggregiert. In diesem Zusammenhang ist auch die besondere Rolle der QDA-Software MAXQDA zu betonen. Ihre Nutzung diente nicht nur aus rein praktischen Gründen der Zeitersparnis, sondern ermöglichte auch stets den Rückgriff auf die einzelnen Aussagen in den Primärdaten trotz Entfernung vom Einzelfall im Verlaufe der Analyse. Die QDA-Software MAXQDA ermöglichte die Erstellung der Summarys und analytischen Memos in Tabellenform und erlaubte es, auch große Datenmengen „im Griff zu behalten“. Die Umsetzung eines Analyseprozesses, wie wir ihn hier beschrieben haben, erscheint uns ohne Software kaum denkbar.

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Analytische Zusammenfassungen im Rahmen einer MAXQDA-gestützten qualitativen Inhaltsanalyse

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Ritchie, J./Spencer, L. (1994): Qualitative data analysis for applied policy research. In: A. Bryman/R. G. Burgess (Hg.), Analyzing qualitative data. Abingdon, UK: Taylor & Francis, S. 173–194. doi: 10.4324/9780203413081_ chapter_9 Ritchie, J./Spencer, L./O’Connor, W. (2003): Carrying out qualitative analysis. In: Qualitative research practice: A guide for social science students and researchers. Thousand Oaks, CA: SAGE, S. 219–261. Saldaña, J. (2016): The coding manual for qualitative researchers (3. Aufl.). Thousand Oaks, CA: SAGE. Schoonenboom, J./Johnson, R. B. (2021): The case comparison table: A joint display for constructing and sorting simple tables as mixed analysis. In: The Routledge reviewer’s guide to mixed methods analysis. New York, NY: Routledge, S. 277–290. Weber, M. (1904). Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 19(1), S. 22–87.

Sprachliche und kulturelle Übersetzungsprozesse in der Forschungspraxis – Herausforderungen im Kontext qualitativer Forschung Yvonne Berger

Keywords: Biografieforschung, Übersetzung, Sprache, Kultur, Interpretation

1 Einleitung Im Rahmen qualitativer Forschung begegnen wir zunehmend den Herausforderungen sprachlicher und kultureller Übersetzungsprozesse. Nicht zuletzt aufgrund ihrer vielfältigen disziplinären Verortungen in transnationalen Forschungszusammenhängen, aber auch etwa im Rahmen von Migrationsforschungen, stellen sich Fragen der Anwendung und Übersetzung von Sprache(n) sowie des forschungspraktischen Umgangs mit fremdsprachlichem Datenmaterial im Rahmen interpretativer Deutungsarbeit. Wie können fremdsprachliche empirische Daten erhoben und aufbereitet werden? Welche Möglichkeiten haben Forschende und welchen Herausforderungen begegnen sie bei der Interpretation fremdsprachlichen Datenmaterials? Wie können kulturelle Übersetzungsprozesse interpretativ nachvollziehbar gestaltet werden, um einer angemessenen selbstreflexiven Forschungspraxis Rechnung zu tragen? Diese Fragen werden im Folgenden anhand von Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt zu bildungsbiografischen Orientierungen in der Volksrepublik China diskutiert (Berger 2020). Dabei werden die Chancen und Herausforderungen des Einbezugs der Ebenen sprachlicher wie kultureller Übersetzung als Erkenntnisfenster qualitativer Sozialforschung erörtert und Fragen zur Reflexion qualitativer Forschungsprozesse aufgezeigt.

Sprachliche und kulturelle Übersetzungsprozesse in der Forschungspraxis

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2 Das Forschungsprojekt: Biografische Forschung im Kontext Chinas Die nachfolgenden Überlegungen zu den Herausforderungen sprachlicher und kultureller Übersetzung basieren auf den forschungspraktischen Erfahrungen aus einem Projekt zu Bildungsverläufen junger Chines*innen in Ballungsgebieten Chinas (Berger 2015, 2020, 2022). Die Volksrepublik China befindet sich schon seit einigen Dekaden in einem vielzitierten Umbruch, nicht zuletzt infolge der Öffnungspolitik der Kommunistischen Partei (KP) seit den 1980er Jahren. Zunehmende Marktöffnung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes führten zu weitreichenden Veränderungen und gesellschaftlichen Umbrüchen im Kontext von Bildung, privater Lebensführung und Familie u. a. (Bian 1994, 2002). Im Zentrum des o.g. Forschungsprojektes standen insbesondere Prozesse der biografischen Ausgestaltung und die Frage danach, wie die Befragten die gesellschaftlichen Umbrüche aushandeln und sich im Spannungsfeld staatlich-politischer Regulierungen sowie marktwirtschaftlicher Öffnung zurechtfinden. Denn als wesentliche Deutungsmuster bezeichnen Biografien kollektiv „(re-)produzierte Antwort[en] auf objektive Handlungsprobleme aufgebende gesellschaftliche Bedingungen“ (Meuser/Sackmann 1992: 15). So wurden im Bildungskontext etwa zentrale Reformen in China insbesondere seit den 1990er Jahren durch eine breite Expansion von Bildungsangeboten angestoßen. Diese führten zu einer zunehmenden Ungleichverteilung von Bildungschancen (Du 2016; Mok/Wu 2015; Yeung 2012). Der tiefgreifende soziale Wandel der Gesellschaft Chinas seit der Öffnungsund Reformphase stellt für die Post-Mao-Generation, die Generation der in den 1980er Jahren und 1990er Jahren Geborenen (八零后 baling hou bzw. 九零后 jiuling hou), eine biografische Herausforderung dar. Zugleich ist die Generation mit den familialen Erfahrungen der Eltern konfrontiert, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse und die politische Unterdrückung zu Zeiten Mao Zedongs erfuhr. Wenngleich die chinesische Führung eine Gleichverteilung von Bildungsmöglichkeiten anvisierte, fanden im Zusammenhang von Bildungsbeteiligung und besonders Bildungserfolg neoliberale Ideologien und Leistungsverständnisse Eingang in die alltägliche Lebenswelt (Kipnis 2013; Lin/Sun 2010). Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich das Forschungsprojekt, sozusagen als Klammer, mit Fragen der sozialen Ungleichheit im Kontext von Bildungsverläufen. Den Untersuchungsgegenstand stellten dabei die Lebensgeschichten junger Chines*innen in universitärer Ausbildung dar. Alle Befragten teilen die generationalen Erfahrungen der Reformprozesse Chinas; sie müssen sich im Zuge der Reform- und Transformationsprozesse zurechtfinden und ihre Lebensentwürfe entsprechend biografisch ausgestalten.

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Nachfolgend stehen die Feldforschungserfahrungen und die daran anknüpfenden Erkenntnisse aus der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung der biografischen Interviews im Zentrum. Für Ansätze der Biografieforschung ist die „Selbstdeutung als Entscheidungszentrum“ (Nollmann/Strasser 2004: 90) für einen empirischen Zugang zur individuellen und kollektiven Ausgestaltung im Umgang mit diesen Deutungsanforderungen von besonderem Interesse. Wie deuten junge Chines*innen sozialen Aufstieg im Bildungsverlauf und welche bildungsbiografischen Orientierungen lassen sich hierin ausmachen? Die Datengrundlage bildeten mehrsprachige narrativ-biografische Interviews, welche im Rahmen von Forschungsaufenthalten im städtischen China erhoben wurden und z.T. von Dolmetschenden und Co-Interpret*innen begleitet wurden. Methodologisch verortet sich das Projekt innerhalb der rekonstruktiven Methoden qualitativer Sozialforschung (Bohnsack 2021). Die empirischen Daten wurden anhand der dokumentarischen Methode der Interpretation ausgewertet und zentrale Orientierungsrahmen sowie konjunktive Erfahrungsräume im Bildungsverlauf rekonstruiert (Nohl 2017; Weller/Pfaff 2013).

3 Reflexion des qualitativen Forschungsdesigns: Zur Relevanz des Übersetzungsbegriffs im Forschungszusammenhang Im Kontext von Globalisierung- und Transnationalisierungsprozessen erscheinen Identitäten und Zugehörigkeiten multipel, fluid und in ihren räumlichen Verortungen freigesetzt (Bhabha 1994). Phänomene wie z. B. Flucht, Bildungsund Arbeitsmigration, transnationale Lebensführungen, globale Finanzmärkte usw. verdeutlichen die Folgen einer globalisierten Welt und machen Transnationalisierung als generelle Bedingung und grundlegenden Gesellschaftsmodus sichtbar (u. a. Beck et al. 2006; Pries 2008, 2010). In diesem Zusammenhang wurde der „methodologischen Nationalismus“ (Beck/Grande 2010) sozialwissenschaftlicher Forschungen in Frage gestellt. Dies geht einher mit der Kritik an der Dominanz einer „westlichen“ Repräsentationslogik (Said 1978, 1994; Spivak 1988), die postkoloniale Theorien als wichtigen Aspekt für das Selbstverständnis einer kritischen Sozialwissenschaft etabliert haben. Die sozialen Verortungen der Individuen sind, wenn sie das historisch gesehen überhaupt jemals waren, längst nicht mehr an nationalstaatliche Räume gebunden. Vor diesem Hintergrund kann zu Recht behauptet werden, dass die Sozialwelt schon immer einer permanenten Passung, Rekonfiguration und Übersetzung von Wissensformen unterliegt. Sozialwissenschaftliche Übersetzungsleistungen sind Übersetzungen von Wissensformen und werden im Rahmen qualitativ-empirischer Sozial-

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forschung forschungspraktisch relevant. Der Begriff der Übersetzung findet insbesondere im Feld der Kulturtheorien und Übersetzungswissenschaft Anwendung und befindet sich im Schnittfeld theoretischer Debatten der postcolonial studies (Bhabha 1994; Spivak 1992), Translationswissenschaften (Escher/Spikerman 2018), interkultureller Hermeneutik (Schröer 2009, 2013) sowie interpretativer Kulturtheorie (Cappai 2008, 2010; Renn 1998, 2005, 2006; Shimada 2007; Straub 2010). Die disziplinär je unterschiedlichen Übersetzungsbegriffe nehmen verschiedene Standpunkte zu der Frage ein, wie das Verhältnis zwischen kulturell ‚Fremden‘ und dem ‚Eigenen‘ im Übersetzungsprozess gedeutet werden soll (Klein 2014; Reichertz 2020; PalengaMöllenbeck 2018). Damit sind grundlegende Fragen des Verhältnisses und des Stellenwertes von ‚Original‘ und Repräsentation angesprochen (Klein 2014: 83ff.; Bachmann-Medick 1997), welche seit den 1990er Jahren im Rahmen des „translational turn“ (Bachmann-Medick 2006) gestellt wurden.

Infobox 1: Zum Übersetzungsbegriff Der Übersetzungsbegriff bewegt sich nach Boris Buden zwischen einem essentialistischem und konstruktivistischem Verständnis von ‚Kultur‘ – der Fokus liegt dabei entweder auf der Beziehung zwischen Kulturen oder auf der Kritik impliziter Annahmen einer (vermeintlich) authentischen kulturellen Identität (Buden 2008b: 14). Buden misst dabei dem ‚Original‘ eine bedeutende Rolle zu: Die spezifische Beziehung zum Original bestimmt maßgeblich die Übersetzung (Buden 2008b: 16f.). Prominent wurde das Konzept der kulturellen Übersetzung u. a. durch Homi Bhabha (Bhabha 1994). Er kritisierte Ideen eines Multikulturalismus und suchte nach alternativen Denkfiguren jenseits von essentialisierenden Annahmen einheitlicher Kulturen und Identitäten. Der dritte Raum, der third space – eine Denkfigur zur Entstehung alternativer Möglichkeitsräume – entsteht im Moment der kulturellen Übersetzung, den er als Prozess der Hybridisierung ausweist. Das Dazwischen-sein selbst wird zum Raum politischer Auseinandersetzung, in dem Aushandlung und Übersetzung stattfindet – Übersetzung ist demnach eine interpretative Tätigkeit, in der kulturelle Differenzen ausgehandelt werden.

Dies ist in Hinblick auf Sprache als Medium der Hervorbringung von Bedeutungen zentral. Sprache und Kultur sind ineinander verwoben. Mit Blick auf die interpretative Sozialforschung argumentiert und problematisiert Jo Reichertz (2020) aus einer wissenssoziologischen Perspektive, dass interkulturelles Verstehen, eine sog. „Bedeutungsrekonstruktion“ (Reichertz 2020: 239; Hervorh. i. Orig.),

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nur dann Bestand haben könne, wenn Interpret*innen angemessen in der für die Interpretation notwendigen Kultur verortet sind. Eine derartige Homogenitätsannahme, also der „Einheit der Kultur von Interpretierenden und Interpretierten“ (ebd.; Hervorh. i. Orig.), sei problematisch, insbesondere vor dem Hintergrund der bereits skizzierten Debatten und den schon seit längerem konstatierten Globalisierungsphänomenen, in denen Kultur, Sprache, Bedeutung usw. nicht umstandslos als unveränderliche und unbewegliche Einheit angesehen werden kann. Folgen wir Boris Buden, so ist der Prozess der Übersetzung ein Vorgang, welcher binär operiert und für den das Original und die Übersetzung sowie deren Beziehung zueinander wesentlich sind (Buden 2008b: 16f.). Interkulturelle Forschungssituationen sind Orte der sprachlichen und kulturellen Aushandlung. Diese Einsicht hat eine zunehmende Reflexion über methodische und methodologische Fragen im Hinblick auf interkulturelle qualitative Sozialforschung im Allgemeinen und die Sichtbarmachung von Übersetzungsprozessen im Speziellen angeregt (Enzenhofer/Resch 2013). Nach Katharina Inhetveen ist dem Begriff der Übersetzung im Rahmen der Reflexion von Forschungsprozessen eine diagnostische und heuristische Funktion zuzusprechen (Inhetveen 2012). In einer forschungspraktischen Dimension handelt es sich einerseits um eine forscherische Verantwortungsübernahme, die den Nachvollzug von Übersetzungsentscheidungen kennzeichnet. Andererseits geht es um den Umgang mit Forschungsinstrumenten, wie dem narrativbiografischen Interview sowie den produzierten Texten, die daraus hervorgehen – sei es das Transkript, die Deutungen am empirischen Material oder die Forschungsergebnisse selbst. Eine Sichtbarmachung von Übersetzungsprozessen eignet sich somit dazu, sich den komplexen Entscheidungen und Bedingungen in der interkulturellen Forschungspraxis zu nähern.

4 Herausforderungen auf der Ebene sprachlicher Übersetzungsprozesse Eine heuristische Trennung von sprachlichen und kulturellen Übersetzungsprozessen stellt zunächst eine sinnvolle Herangehensweise dar, um einen reflexiven Zugang zum Forschungsprozess zu erhalten (Inhetveen 2012). Forschungspraktisch lassen sich im Kontext von Sprache und Übersetzung insbesondere die Relevanz der Übersetzung von Erhebungsinstrumenten, der Umgang mit Mehrsprachigkeit und Code-Switching sowie der Einsatz von Dolmetschenden im Forschungsprozess hervorheben (Berger 2020). Des Weiteren können auf der Ebene der konkreten Erhebungssituation in qualitativen Forschungsdesigns wiederum der Umgang mit Übersetzung bei

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der Transkription empirischer Daten als Translat sowie Fragen der Überprüfung und Deutung sprachlicher Äquivalente von Ausgangs- und Zielsprachen ausgemacht werden (ebd.). Forschungssituationen sind Sprachsituationen, in denen kommunikative Praktiken vollzogen werden. Deren Rekonstruktion kommt einerseits ein hoher Stellenwert in qualitativen Forschungsdesigns zu – denn qualitative Interviewforschung ist eine vornehmlich „kommunikative Leistung“ (Hoffmann-Riem 1980: 347). Andererseits wird durch dokumentierte Sprache, etwa in Form von Transkripten, erst ein Zugang zu den Lebenswelten und ihren Deutungen durch die Befragten ermöglicht. Sprache im Rahmen von Biografieforschung ist damit „die Trägerin und das Medium der Biografie, denn durch sie werden die biografischen Ereignisse nicht nur darstellbar und somit von der Person lösbar, vielmehr ist die Sprache schon im Erleben und in der Verarbeitung des Erlebten das strukturierende Element“ (Henkelmann 2012: 113; Bradby 2002). In methodischer Hinsicht wurden Herausforderungen von sprachlichen Übersetzungen im Forschungsprozess innerhalb der qualitativen Sozialforschung bereits reflektiert und diskutiert (etwa Bettmann/Roslon 2013; Kruse et al. 2012; Schröer 2013; Young 2011). Bei der Durchführung qualitativer Interviewforschung lassen sich nachfolgend zentrale Praxiserfahrungen mit Bezug zu Mehrsprachigkeit zusammenfassen. Übersetzung der Erhebungsinstrumente und Mehrsprachigkeit im Erhebungsprozess Erhebungsinstrumente in fremdsprachlichen Kontexten erfordern zunächst die grundlegende Entscheidung darüber, in welcher Erst- oder Zweitsprache etwa Interviewdaten erhoben werden sollen. Dabei muss generell geklärt werden, ob sich etwa das Instrument des narrativ-biografischen Interviews wie im bereits dargelegten Beispiel in China anwenden lässt und welche Grenzen eine solche Anwendung hat. Übersetzungsentscheidungen im Rahmen von mehrsprachigen Forschungssettings müssen bereits bei der Konzeption des Forschungsdesigns getroffen werden. Dies betrifft insbesondere die Planung der (mehrsprachigen) Interviewführung und die Übersetzung des Interviewleitfadens. In welcher Sprache werden die geplanten Interviews geführt? Welche sprachlichen Kompetenzen bringen die Interviewenden bei der Erhebung mit? Ist zunächst grundlegend von einer sprachlich kompetenten Forscher*in auszugehen, kann die Beantwortung der Frage nach der Interviewsprache in die Entscheidungsmacht der Befragten und innerhalb der sprachlichen Grenzen der Interviewenden belassen werden. Bei fehlender sprachlicher Kompetenz

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empfiehlt sich bspw. die Übersetzung, etwa von Leitfäden, mittels kulturvertrauten Übersetzungshilfen. In Hinsicht auf die Wahl der Interviewsprache fordern Enzenhofer und Resch eine methodische Reflexion der zum Einsatz kommenden Sprache im Interviewprozess (Enzenhofer/Resch 2011: [27]). So ist die Wahl der gemeinsamen Sprache im Forschungssetting nie ,unschuldig‘, da mit der Auswahl der Sprache durch die Interviewten auch soziale Positionierungen und Machtverhältnisse einhergehen. Die Wahl der Sprache im Erhebungsprozess ist also keine lediglich technisch-translatorische Angelegenheit. Vielmehr müssen die zur Verfügung stehenden Optionen auch im Hinblick auf ihre ungleichen (Macht-)Verhältnisse und Sprachkompetenzen reflektiert werden. Grundsätzlich kann von drei Möglichkeiten im Umgang mit Mehrsprachigkeit ausgegangen werden: a) die Daten werden in der Erstsprache der Befragten erhoben, b) es kommen mehrere Sprachen zum Einsatz und c) es kommt eine für die Beteiligten Nicht-Erstsprache zum Einsatz. Darüber hinaus stellen der Einsatz und die Vermittlung mittels Dolmetschenden forschungspraktische Optionen dar. Die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Sprachwahl und -anwendung werden insbesondere durch sprachliche Kompetenzen sowie ungleichen Anerkennungsverhältnissen und asymmetrischen Beziehungen im Forschungsprozess strukturiert (Palenga-Möllenbeck 2018: 675): „There is no neutral position from which to translate and the power relationships within research need to be acknowledged“ (Temple/Young 2004: 164). Spezifische Forschungssettings und strukturelle Rahmungen haben bei der Sprachwahl einen enormen, wenngleich auch mancherorts nicht-intendierten Einfluss auf Forschungssituationen. Zweitbzw. Fremdsprachen besitzen, gerade bspw. in englischsprachigen Forschungssettings, die Symbolkraft einer Weltsprache, die nur allzu schnell Erwartungen und Hemmnisse bei der (kompetenten) sprachlichen Ausgestaltung im Interviewsetting hervorbringt. Denn gerade in narrativ-biografischen Forschungen sind wir für die biografische Ausgestaltung von Lebensgeschichten auf die „Diskursivierungsbereitschaft“ (Helfferich 2011: 153) angewiesen, die nicht zuletzt durch Sprache(n) vermittelt ist. Code-Switching, der Einsatz von Dolmetschenden und der Umgang mit Translaten Welche Möglichkeiten des Mehrsprachlichen können wir in Interviewsituationen ausmachen? Ein Aspekt des Mehrsprachlichen sind Phänomene des sog. Code-Switching. Gerade bei Interviewpassagen mit hohem Detaillierungsgrad, wie bspw. im Rahmen biografischer Erzählung, aber auch in Situations-

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beschreibungen, können Momente des Code-Switching bedeutsam werden. Das Code-Switching (u. a. Auer 2009; Winkler 2010) bezeichnet im Allgemeinen den Wechsel von Sprachen in Interaktionssituationen. Der Einsatz von Mehrsprachigkeit vollzieht sich spontan oder bewusst und lässt sich insbesondere in Interaktionszusammenhängen (bspw. Interviewsituationen, aber auch in Alltagssituationen) beobachten, in denen ein sprachlicher Wechsel zur Vereinfachung und Verständlichkeit des Ausdrucks genutzt wird.

Infobox 2: Beispiel Code-Switching 然后 if you 进, 进那种国家企业, 就 government, 那种那种 state-, state company, 就是 mh 属于国家的那个 企业, 他们很重视, 看你的那个背景, 看你的教育背 景, education background. 但是在这种 在这种 在中国的国外公司, 不太看 your ability is what you do. (Interview Guo Simin) Translat: „Und wenn du gehst, zu staatlichen Unternehmen gehst, also government, jene state company, jene im staatlichen Besitz also Unternehmen, sie legen großen Wert auf einen Hintergrund, auf deinen Bildungshintergrund, education background. Aber bei solchen in China niedergelassenen internationalen Firmen, [sie] gucken nicht immer darauf. Sie finden deine your ability is what you do.“

Einen weiteren Weg im Umgang mit sprachlichen Barrieren stellt der Einsatz von Dolmetschenden dar (Enzenhofer/Resch 2013: 203; Lauterbach 2014). Gerade beim Einsatz von nicht-professionellen Dolmetscher*innen sind Interviewschulungen entscheidend, die in die forscherische Perspektive und den Zielsetzungen des Interviews, aber auch die Technik der Interviewführung einführen. Je nach Sprachniveau der Forschenden gilt es dann zu entscheiden, ob bspw. eine gewünschte Selbstläufigkeit im Interview durch das (Nicht-) Unterbrechen einer Verdolmetschung, oder etwa im Wechselspiel eine Verdolmetschung stattfinden soll. Weil der Austausch zwischen Forschenden und Dolmetschenden auch ein gegenseitiger Verstehens- und Deutungsprozess ist, müssen sprachliche Übersetzungsprozesse während der Datenerhebung dahingehend hinterfragt werden, ob etwa Dolmetschende Übersetzungsentscheidungen treffen (z. B. im Hinblick auf die Formulierung einer Fragestellung, Forschungsziele) und damit den Fokus einer Beantwortung der Fragen verändern können. Hierin muss also berücksichtigt werden, dass es bei den

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o. g. Fragen zu einer Gleichzeitigkeit von sprachlicher und kultureller Übersetzung bei der Verdolmetschung kommt, mithin Effekte einer Ko-Präsenz von Dolmetschenden in die Interviewsituation eingehen. Darüber hinaus arbeitet jedes Verdolmetschen generell mit sprachlichen Äquivalenten, die es zu überprüfen gilt. Als qualitativ Forschende sind wir jedoch hierin i.d.R. nicht hinlänglich ausgebildet. Greifen wir daher auf kulturvertraute Dolmetschende zurück – auch trotz entsprechender methodischer Schulung – kann es mancherorts dazu kommen, dass spezifische Begriffe missverständlich interpretiert werden können. Bspw. kann also der Begriff der Lebensgeschichte je nach Kontext unterschiedlich übersetzt werden. Es kommt damit auch zu einer ungenauen oder missverständlichen Erzählaufforderung in biografischen Interviews, wenn etwa von einem Lebenslauf die Rede ist, statt von einer Biografie oder Lebensgeschichte. Insbesondere die forschungspraktische Erfahrung, dass die anvisierte offene Frageform im narrativ-biografischen Interview häufig in eine direktive Frageformulierung münden kann, macht deutlich, dass für das Dolmetschen in Interviewsituationen eine zeitintensive Vorbereitung und Schulung auf die Verdolmetschung im Interview notwendig ist. Zugleich, als gewinnbringendes Argument, können Dolmetschende als wichtige „key informants“ (Temple 1997; Temple/Edwards 2002) fungieren, da sie Teil des Erhebungs- und Erkenntnisprozesses sind (ebd.). Sprachliche Übersetzungsprozesse finden nicht nur auf der Ebene der konkreten Interviewkommunikation statt. Die Überführung verbaler Daten in die schriftliche Form des Transkripts ist durch Konstruktionsprozesse geprägt, die im Rahmen des Forschungsprozesses durchlaufen werden. Es stellt sich also etwa die forschungspraktische Frage, wie die fremdsprachige Transkriptionsarbeit vorgenommen und in welchen sprachlichen Zwischenschritten transkribiert und übersetzt wird. Die Idee der „key informants“ (Temple 1997; Temple/Edwards 2002) lässt sich in diesen Kontext ebenso übertragen und für den sprachlichen Transfer nutzbar machen. Werden Erstsprachler*innen zur Transkription herangezogen? Welche Möglichkeiten haben wir, um uns auch ohne eigene Transkriptionsarbeit in die Fälle ‚einzudenken‘, wenn das empirische Material an Dritte ausgelagert wird? Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Disglossie [2] und Wechselwirkung zwischen Sprachen […], angesichts der Möglichkeit, Sprachregister aus unterschiedlichen Sprachen produktiv und kreativ zu mischen, scheinen Authentizitätsvorstellungen im Zusammenhang mit einer homogen konstruierten „Ursprungskultur“ und „Muttersprache“ nicht nur überholt, sondern auch als überaus bedenklich. (Enzenhofer/ Resch 2013: 218; Hervorh. i. Orig.)

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Mit Blick auf die Einsicht, dass es keine authentische Übersetzung gibt, bieten sich insbesondere Memos, wie wir sie aus Forschungsvorhaben kennen, die auf der Grounded Theory basieren (u. a. Glaser/Strauss 2010; Strauss/Corbin 1996; Strübing 2014), dafür an, Übersetzungstätigkeiten nachvollziehbar, das Translat als Übersetzungsprodukt und die daran anschließende Interpretationsarbeit reflektierbar zu machen. Es empfiehlt sich darüber hinaus im Sinne einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, das Datenmaterial sowohl in der Ausgangssprache als auch in ihrer übersetzten Form vorliegen zu haben. Im Forschungsprojekt wurden daher bspw. die chinesischen Passagen in die deutsche Sprache übersetzt, englischsprachige Passagen hingegen in der Ausgangssprache belassen. Die relevanten chinesisch-sprachigen Interviewpassagen wiederum wurden für eine bessere Nachvollziehbarkeit der sprachlichen Übersetzung im Anhang der Erstpublikation zur Verfügung gestellt. Unabhängig vom Genauigkeitsgrad der erzeugten Transkripte und ihren individuellen Herausforderungen können sich neue Anforderungen stellen, die je nach Sprache variieren. Für den Transkriptionsprozess aus dem Chinesischen sei bspw. auf die erschwerte Zuordnung von Personalpronomen hingewiesen (vgl. zur Problematik im Kontext von Agency-Analysen Alpermann/Selcuk 2012).

Infobox 3: Forschungspraktische Fragen zur Reflexion sprachlicher Übersetzungsprozesse Fragen zur Verankerung sprachlicher Handlungen im Forschungsprozess: In welchen Sprachen findet die Datenerhebung statt und wie kulturvertraut resp. sprachvertraut ist die Interpret*in? Werden Dolmetschende herangezogen und welchen Stellenwert nehmen diese ein, z. B. im Hinblick auf Schulungsnotwendigkeiten oder „key informants“ (Temple 1997; Temple/Edwards 2002)? Fragen zur sprachlichen Aufbereitung der Daten: Welchen Stellenwert nimmt das Translat (z. B. Transkript) ein? In welchen Sprachen soll perspektivisch ausgewertet und veröffentlicht werden? Fragen zur praktischen Umsetzung: Welche Ressourcen stehen generell zur Verfügung, um mögliche sprachliche Defizite auszugleichen? Wie wird ein ggf. mehrsprachiger Einblick in das empirische Datenmaterial bei der Veröffentlichung gewährleistet?

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5 Herausforderungen auf der Ebene kultureller Übersetzungsprozesse: Woju – oder dem „Schneckenhaus“ auf der Spur Im Zentrum von kulturellen Übersetzungsprozessen in qualitativen Forschungsdesigns steht das interpretative Handeln der Forschenden. Dabei sind die gesellschaftliche Bedingtheit biografischer Erzählungen, ihre Erzählkompetenzen und diskursiven Rahmungen sowie die grundlegende Perspektivendifferenz und Standortgebundenheit der Interpretation von Bedeutung (Berger 2020). Werfen wir einen Blick auf die Bedeutung von sprachlicher Übersetzung als „Echo des Originals“ (Buden 2008a: 171f.), liegt der Fokus auf der Ebene des Kulturellen nun auf der konkreten „Übersetzungshandlung, die kulturellen Praktiken, den Übersetzer [sic!] und die Diskurse, durch die ein Text ausgerichtet ist“ (Bittner/Günther 2013: 188). Im Kontext von Mehrsprachigkeit wurden also bislang kulturelle Aspekte der Übersetzung heuristisch ausgeblendet, wenngleich jede interpretative Handlung durch die Produktion von Bedeutungen geprägt ist. Bei der Erhebung und Auswertung qualitativempirischer Daten kommt des Weiteren dem interpretativen Ausloten von Ähnlichkeitsbereichen im Modus des Vergleichs eine besondere Bedeutung zu. Wie gelangt man zu fruchtbaren interpretativen Fährten? Wie kann interkulturell also annäherungsweise verstanden werden? Die Standortgebundenheit der Interpretation, das Forschen mit kulturvertrauten Co-Interpret*innen und die Deutungsarbeit in Interpretationsgruppen werden hierbei besonders bedeutsam. Der folgende exemplarische Interviewauszug stammt aus dem eingangs beschriebenen Forschungsprojekt zu Bildungsverläufen in China (Berger 2020). Die Befragte Zhou Min berichtet im nachfolgenden lebensgeschichtlichen Abschnitt über ihre Zeit während des Studiums in Shanghai: I still remember the last year of my university, one of the TV-series was very popular in China. It’s like it is set in Shanghai talking about two sisters how are graduating from Shanghai universities. Very good universities and they chose to work and live here and the two different ways they choose to be successful. And the older sister works harder and they were living in a very small and very remote residential area. Very hard and they work for their kids for the better life for the big houses but the younger sister, she chose a different way. But not that, I think not that good. She had a how do you say, an affair with a government official and from that the official had family, had wife and kids but the two had an affair and the younger sister got a lot of benefits from the official. And she became richer and richer and but at last I should say, the

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result was not very good for the younger sister. This is about the tv-series because that is kind of more real to our live. We could see that how young graduates just when they get out of the campus when they enter their career, they have to face too many difficulties. […] For the older sister maybe she insisted on for something good but the younger sister maybe she chose the easier way maybe but at that time we all know that the younger sister, what she did was not right, but we felt sorry for her and we understood why she chose this way. Because if you […] have to face a lot of challenges and sometimes its too you cannot stand it anymore. You cannot, you just maybe it’s like a downgrade so when I was studying here I felt pity about that younger sister and I began to understand why she did this. (Interview Zhou Min) Gesellschaftliche Bedingtheit biografischer Erzählungen Zhou Min bezieht sich im vorangegangenen Interviewauszug auf eine TVSendung namens „Narrow Dwellings“ aus dem Jahr 2009 (蜗居 woju), sprachlich übersetzt „Schneckenhaus“. Dies steht im Chinesischen für eine Redensart bzw. Metapher für beengtes, bescheidenes Wohnen (Ho 2015; Cai 2017). Hierin greift die Befragte auf einen gesellschaftlichen Kontext in der fiktiven Stadt Jiangzhou zurück, um im Rahmen der eigenen Lebensgeschichte biografische Entscheidungen zu verdeutlichen. Zugleich stellt die Passage aber auch eine tiefgreifende Einlassung in die gesellschaftlichen Verhältnisse Chinas dar. Begünstigungsverhältnisse, zunehmende Urbanisierung von Wohnverhältnissen und die damit einhergehende Verschärfung sozialer Ungleichheiten in Ballungsgebieten werfen durch diese Kontextualisierung einen Blick auf die Bedingungen von Lebensläufen und -verhältnissen junger Chines*innen. Zhou Min befindet sich zum damaligen Zeitpunkt des Interviews in der Phase beruflicher Etablierung, welche von biografischen Unsicherheiten geprägt ist. „Narrow Dwellings“ steht dabei als Symbol für die Lebenssituation in Shanghai und vielen anderen Ballungsgebieten, in der die Handlungsmöglichkeiten in Hinblick auf einen ausreichenden Lebensstandard limitiert sind. Die Geschichte der zwei Protagonistinnen kann dahingehend interpretieren werden, dass es sich insbesondere um eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Wohlstand handelt. Einerseits lässt sich der Wohlstand – die weniger beengte Wohnsituation, welche in China Symbolkraft besitzt – aufgrund der steigenden Wohnungspreise nicht mehr allein durch Lohnarbeit erlangen. Andererseits zeigt das Beispiel der Schwester eine gesellschaftliche Kritik an der politischen Vetternwirtschaft, mittels derer

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es möglich sei, den eigenen Lebensstandard zu verbessern und den sozialen Aufstieg in Chinas kompetitiver Gesellschaft zu bewältigen. Auf der Ebene kultureller Übersetzungsprozesse werden Mehrsprachigkeit, narrative Kompetenzen sowie Kommunikationsmuster besonders relevant. Auf der konkreten Darstellungsebene lässt sich anhand der o.g. Passage zeigen, dass sich die Form der biografischen Verortung im Rahmen einer ‚stellvertretenden‘ Repräsentation von Wissen vollzieht. Die Bedingtheit biografischer Erfahrung und damit auch biografischer Erzählung zeigt sich jedoch nicht nur in Darstellungsformen, sondern sie wird auch diskursiv (mit)erzeugt (Deppermann 2013: [7]). Der Kontext einer Erzählung ist hiermit zentral. Als spezifische biografische Konstruktionsweise kann dies als Möglichkeit der (stellvertretenden) Entlastung gedeutet werden (Messerschmidt 2011) – durch die „Praxis der Verlagerung eigener Sehnsüchte und Ängste auf eine Gruppe von Anderen, Fremden und/oder territorial Entfernten“ (Messerschmitt 2011: 197f.). Diese sind konstitutiv für eine „eigene[n] Entlastung durch eine eindeutige Identifizierung Anderer“ (ebd.). Ihre Schilderung zur Fernsehserie „Narrow Dwellings“ überträgt die Interviewte erst am Ende der Passage auf ihre eigenen biografischen Erfahrungen – die Lebensbedingungen zweier Schwestern im urbanen China stehen für eine biografische Abwägung, der sie sich in ihrer eigenen Phase der beruflichen Etablierung gegenübersieht. Die Interviewte referiert stellvertretend über eine durch soziale Beziehungen ungleich verteilte Chancenverwirklichung, welche alleinig durch einenBildungserwerb und Fleiß nicht mehr zu erreichen sei – die geschilderten Schwestern stehen wiederum für den Idealtypus eines erfolgreichen Bildungsverlaufs. Im Rahmen des hier skizzierten Beispiels ist für die Erhebungsmethode des narrativ-biografischen Interviews das Prinzip der Offenheit zentral (HoffmannRiem 1980: 343ff.; Schütze 1983, 1987). Durch ihr charakteristisches Merkmal einer geringen Steuerung seitens der Forschenden und eine prinzipielle Offenheit für die Relevanzsetzungen der Interviewten, eröffnen sich einerseits vielfältige Möglichkeiten der Ausgestaltung des Erzählens von Lebensgeschichten. Andererseits erzeugt die narrative Struktur biografischer Interviews mittels geringerer Steuerung und der Entfaltungsmöglichkeit von Relevanzen einen deutlich weiteren interpretativen Rahmen, innerhalb dessen sich die qualitative Analyse entfalten muss. Ist von einer grundlegenden Perspektivendifferenz im Hinblick auf kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen auszugehen, muss der „Zugang […] über eine kulturelle Grenze hinweg [über] eine sukzessive praktische Annäherung entlang von Erfahrungen des Scheiterns von Identitäts- bzw. Normalitätsunterstellungen“ (Renn 2005: 208) interpretativ erarbeitet werden. Normalitätsannahmen über zu erwartende Inhalte biografischer Darstellung(sweisen)

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unterscheiden sich abhängig von gesellschaftlichen Relevanzstrukturen und (diskursiver) Kontexte (Dausien/Mecheril 2006: 156; Günther 2008). Im Fall der Interviewsituation geht auch die Beziehung und Positionalität der Forscherin als Form der Ko-Konstruktion in gegenseitige Normalitätszuschreibungen ein (Berger 2022). Die Relevanzsetzung im Rahmen der narrativen Identitätsarbeit (Lucius-Hoene/Deppermann 2018) kann also auch davon abhängig sein, wem biografische Erfahrungen geschildert werden, so auch, wenn die Lebensgeschichte einer ‚westlichen‘ und als privilegiert angenommenen Forscherin erzählt wird. Nach Mechthild Bereswill nehmen gesellschaftliche Diskurse in Interviewsituationen eine bedeutende Rolle ein. Interviewsituationen sind ein „mehrfach kontextualisierte[r], mit Bedeutungsüberschüssen aufgeladene[r] Interaktionsund Beziehungsraum“ (Bereswill 2003: 519). Bettina Dausien und Paul Mecheril sprechen in diesem Zusammenhang von einem „unhintergehbaren Anteil“ bei der Konstruktion biografischer Daten (Dausien/Mecheril 2006: 159) und verweisen wiederum auf die Notwendigkeit, kulturelle Kontexte im Forschungsprozess zu reflektieren. Narrativ-biografische Interviews in China: Erzählkompetenzen und -muster Die deutschsprachige Biografieforschung weist zahlreiche Zugänge und eine große Bandbreite von Anwendungsfeldern auf. Das narrativ-biografische Interview stellt hierbei eine zentrale Methode zur Erhebung biografischer Daten dar (Schütze 1987; Rosenthal 1995, 2005), da es Biografien erschließt als „narrative Konstruktionen, die in der Regel nur dann explizit werden, wenn Individuen sich selbst oder Anderen über das eigene Co-Geworden-Sein bzw. den zukünftigen Lebensweg Rechenschaft geben“ (Walther/Stauber 2013: 27). Biografiearbeit bzw. narrative Identitätsarbeit (Lucius-Hoene/Deppermann 2018) kann als eine soziale Praktik verstanden werden, die die „Alltagskompetenz Erzählen“ (Rosenthal/Loch 2002: 2; Hervorh. im. Orig.) nutzt und produktiv macht. Die Annahme der Alltagskompetenzen des Erzählens (ebd.) wirft im Zusammenhang interkultureller Forschungsvorhaben aber auch Fragen der Leistungsfähigkeit sowie Übertragbarkeit in andere kulturelle Kontexte auf (Kruse et al. 2012). Kulturrelativistisch informiert stellen sich Fragen nach den kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Anwendung narrativ-biografischer Interviews. So verwies bspw. Joachim Matthes bereits 1985 auf Grundlage seiner Forschungserfahrungen in Südostasien auf die „kulturellen Basisregeln des Gesichtwahrens“ (Matthes 1985: 320) hin. Erste

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Erfahrungen biografischer Forschung in China machen deutlich, dass auch Biografiearbeit zu einer generell ‚modernen‘ Angelegenheit der Individuen bzw. Anrufung an diese geworden ist (Berger 2020, 2022). Hier muss zwar milieuspezifisch und geografisch unterschieden werden, nichtsdestotrotz kann von einer narrativen Kompetenz ausgegangen werden, wenn spezifische Forschungskontexte mitberücksichtigt werden (Alpermann 2012; Heimer/ Thøgersen 2006). Perspektivendifferenz und Standortgebundenheit der Interpretation Der Vorgang des Fremdverstehens ist ein grundlegender modus operandi qualitativer Sozialforschung (Kruse 2009; Schütz 1974). In qualitativen Forschungsdesigns werden unterschiedliche interpretative Verfahren in Anschlag gebracht, die es je spezifisch ermöglichen, „Kontextualisierungen von Äußerungen“ (Bohnsack 1998: 110) vorzunehmen. Es kann hier nicht im Detail auf verschiedene Verfahren eingegangen werden, aus dieser Erfordernis ist jedoch abzuleiten, dass der interpretative Verstehensprozess und dessen Standortgebundenheit zu reflektieren ist (Mannheim 1964; Reichertz 2020). Die Seins- und Standortverbundenheit, der Begriff geht auf Karl Mannheims Annahmen zur dokumentarischen Interpretation zurück (Jung 2015; Mannheim 1964), bezeichnet die je perspektivendifferente Perspektive sozialer Akteure. Forscherisches Verstehen und Deuten arbeitet über die „Einklammerung des Geltungscharakters“ (Bohnsack 2021: 194) sozialer Tatsachen. Als Beobachtungsperspektive ist sie damit immer partial (Haraway 1988). Deuten und Verstehen im Rahmen kultureller Übersetzungen stehen damit vor der Herausforderung, allzu schnellen Vereinnahmungen und Nostrifizierungen entgegenzuwirken (Matthes 2005; vgl. im Kontext der dokumentarischen Methode Hametner 2013). Welche Optionen bieten sich für einen forschungspraktischen Umgang an, um den für die Interpretation notwendigen Kontext und der kontextspezifischen Verfasstheit sprachlicher Praktiken Rechnung zu tragen? Norbert Schröer (2013) schlägt in diesem Zusammenhang vor, kulturvertraute CoInterpret*innen in den Analyseprozess einzubeziehen. Denn die Bedeutung von Begriffen und Deutungsmustern können nur in ihrer jeweils kulturellen und gesellschaftlichen Situierung erfasst werden. Im Hinblick auf den kulturellen Kontext der sprachlichen Ausgestaltungen bietet es sich begleitend ebenso an, die transkribierten Interviews mit Kulturvertrauten zu diskutieren. Die Aufgabe der Co-Interpret*innen kann darin bestehen, Hilfestellung bei der Ausbildung von Deutungen zu geben und Brüche in den biografischen Dar-

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stellungen zu eruieren. Eine solche intersubjektive Auseinandersetzung, wie sie auch in vielen Interpretationsgruppen praktiziert wird, schärft durch das Hinterfragen vorschneller Deutungen und die Ausbildung differierender Lesarten am empirischen Material den Blick für die Interpretationsoffenheit und reflektiert Prozesse der allzu schnellen interpretativen Schließung. Der bereits skizzierten gesellschaftlichen Bedingtheit biografischer Erzählungen lässt sich in diesem Kontext ebenso begegnen, indem das Herstellen einer Kulturvertrautheit als „Sozialisation ins Feld“ (Kruse et al. 2012: 18) durch gezielte Feldaufenthalte erzeugt wird.

Infobox 4: Forschungspraktische Fragen zur Reflexion kultureller Übersetzungsprozesse Fragen zur kulturellen Praktik des Übersetzens und dem interpretativen Handeln der Forschenden: Wie gehen Interpret*innen mit der Offenheit von Deutungen und möglichen interpretativen Schließungen produktiv um? Wie werden Normalitätsmuster und -annahmen reflektiert? Fragen zur methodischen Standortgebundenheit und Positionalität: Wie werden die zur Anwendung kommenden methodologischen Grundlagen bei der Auswertung interkultureller Daten reflektiert? Wie gehen Forschende mit der Subjektivität im Forschungsprozess um? Fragen zur diskursiven Rahmung: Welche Möglichkeiten zur Kontextualisierung des Datenmaterials werden u. a. herangezogen? Wie werden darin kulturelle und institutionelle Kontexte berücksichtigt?

Übersetzung ist damit nicht nur ein Moment der Repräsentation, sondern auch ein Vorgang der kulturellen Vermittlung. Grundlegend für jede kulturelle Übersetzungshandlung ist der Prozess des Vergleichens, der seit den 1980er Jahren auch in sozialwissenschaftlichen Analyseperspektiven im Rahmen des Kulturvergleichs diskutiert wurde (Matthes 2005). Dies weist auf eine Problematik der interpretativen Arbeit hin, da zumeist ein Fallvergleich am Ausgangspunkt eines großen Teils interpretativer Analysen steht, der zunächst von der eigenen milieuspezifischen Praxis der Forschenden ausgeht. Die Aufgabe jeder komparativen Analyse ist es, (empirische) Gegenhorizonte einzubeziehen, um die eigenen Normalitätsunterstellungen reflektieren zu können, und zunehmend empirische Horizonte (z. B. Interviewsequenzen, Fälle) heranzu-

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ziehen, um zentrale Annahmen am Datenmaterial zu ‚validieren‘. Eine solche Relativierung der eigenen Standortgebundenheit der Forschenden verläuft über die Herausarbeitung der tertia comparationis, des den jeweiligen Vergleichen zugrundeliegenden Dritten, als Form der methodischen „Befremdung“ (vgl. etwa Amann/Hirschauer 1997) durch empirische Vergleichshorizonte. Schließlich ist das interpretative Handeln der Forschenden nie ‚unschuldig‘. So verdeutlicht Katharina Hametner (2013) in ihrer Auseinandersetzung zum Umgang mit Subjektpositionen in der dokumentarischen Methode, dass die forscherische Praxis in gouvernementale Strategien verwickelt ist (Hametner 2013: 139ff.). Es müssen daher die Strukturen reflektiert werden, „die der Erzeugung eines sozialen und objektiven Sinnverstehens zugrunde liegen“ (Bittner/Günther 2013: 187).

6 Fazit Als qualitative Forscher*innen stehen wir vor der Herausforderung, dass wir immer in einer spezifischen Relation zu unserem Forschungsgegenstand stehen: […] when we look, get involved, demur, analyze, interpret, probe, speak, remain silent, walk away, organize for outrage, or sanitize our stories, and when we construct our texts in or on their words, we decide how to nuance our relations with/for/despite those who have been deemed Others. (Fine 1994: 74) Im Rahmen von Übersetzungsprozessen sind wir unauflösbar an der Hervorbringung des Anderen beteiligt. Wir entscheiden, wie wir übersetzen, darstellen, deuten und unsere Ergebnisse präsentieren. Damit sind wir an der Hervorbringung des Anderen im Forschungsprozess beteiligt. Der reflexive Umgang mit (Un-)Eindeutigkeiten im qualitativen Forschungsprozess wird insbesondere im Rahmen von sprachlichen und kulturellen Herausforderungen der Übersetzung virulent: So wurde deutlich, dass „Übersetzungsverfahren Methoden der differenzbewussten Grenzüberschreitung [sind], die als solche für die Analyse kulturenübergreifender Beziehungen und Problemfelder fruchtbar werden können“ (Bachmann-Medick 2008: 29). Die sozio-kulturelle und historische Situierung des Forschungsgegenstands ermöglicht es, die eigenen Normalitätsmuster zu reflektieren. Der forschungspraktische Umgang mit biografischen Daten ist, wie am konkreten Beispiel der eigenen Forschung in China aufgezeigt wurde, durch Übersetzungsprozesse gekennzeichnet, die nicht nur die Erhebungssituation selbst, sondern auch die

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eigene Deutungsarbeit maßgeblich bestimmen. Im Sinne einer Beobachtung dieser Übersetzungsprozesse als reflexive Praxis im Umgang mit Perspektivendifferenz werden die Sichtbarmachung von (Un-)Eindeutigkeiten und die Vielschichtigkeit von Übersetzungsleistungen im Forschungsprozess zur eigentlichen Herausforderung qualitativer Forschung in interkulturellen Kontexten.

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Zwischen Erzählen, Wissen und Erleben – Gruppendiskussionen mit Kindern Frauke Gerstenberg

Keywords: Gruppendiskussion mit Kindern; Kindheitsforschung; Qualitative Forschung; Diskurs-/Interaktionsethik; Frühpädagogik

1 Perspektiven der qualitativen Kindheitsforschung Die qualitative Kindheitsforschung ist bis heute ambitioniert, Kinderperspektiven – im Sinne ihrer (peer-)kulturellen Praktiken, Erfahrungen und Orientierungen – in den Blick zu nehmen (z. B. Honig et al. 1999; Deckert-Peaceman et al. 2010; Nentwig-Gesemann et al. 2020). Dieser Anspruch korrespondiert mit einem Bild vom Kind, das in der Frühpädagogik aktuell häufig über pädagogische Konzepte (Sauerbrey 2020), Beobachtungsverfahren (Cloos/Schulz 2011) und Bildungstheorien (Schäfer 2011; Schäfer/Staege 2010) transportiert wird. Ein Bild, in welchem Kinder als individuelle und soziale Akteure gezeichnet werden, die an ihren Selbst- und Weltkonstruktionsprozessen aktiv beteiligt sind (Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2014). Diese Entwicklung entspricht in der gegenwärtigen frühpädagogischen Kindheitsforschung einer sich zunehmend durchsetzenden Anerkennung von Kindern als Forschungssubjekten (Eßer/Sitter 2018). Damit gemeint ist, dass Kinder sowohl in ihren eigenständigen Rechten und Fähigkeiten anerkannt (Liebl 2010; Maywald 2016), aber auch als aktive Mit-Gestalter von Forschungssituationen einbezogen werden (Sitter 2019). Hierzu bedarf es folglich nicht nur einer bestimmten theoretischen Perspektivierung auf Kinder, sondern auch entsprechender methodischer Zugänge, die geeignet sind, die Eigenlogiken der Ausdrucksweisen von Kindern empirisch zu erfassen und damit ganz forschungspraktisch nachvollziehbar zu machen (Heinzel 2000a). Der Beitrag widmet sich dem Anliegen, indem es die qualitative Methode der Gruppendiskussion zur Durchführung mit Kindern eingehender beleuchtet.

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Frauke Gerstenberg

2 Das Gruppendiskussionsverfahren als qualitative Erhebungsmethode Das Gruppendiskussionsverfahren wurde seit den 1980er-Jahren auf Basis der Dokumentarischen Methode von Ralf Bohnsack (Bohnsack 1989) als sozialwissenschaftliche Methode entwickelt und ist in der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Forschung mittlerweile breit etabliert (Schäffer 2011: 76). Es ermöglicht den gesuchten forschungspraktischen Zugang zu Perspektiven von Kindern, wenn im Rahmen der Durchführung der Gruppendiskussion die Position der Kinder berücksichtigt und auf die Problematik eines in der Kindheitsforschung häufig noch vorherrschenden Erwachsenenzentrismus reagiert wird (Viertel 2015: 99ff.). Die Gruppendiskussion als Erhebungsmethode ebnet zunächst einen Zugang zu kollektiven Orientierungen und überwiegend impliziten Erfahrungen von Menschen (Mannheim 1980). Ein empirischer Zugang zu diesen Wissensund Erfahrungsdimensionen ist dann möglich, wenn die Erforschten ihr Relevanzsystem in der für sie typischen Eigenstrukturiertheit und Sprache ausdrücken können (Nentwig-Gesemann/Wagner-Willi 2007: 217). Nicht umsonst beschreiben Loos und Schäffer die Gruppendiskussion als einen fremdinitiierten Kommunikationsprozess, der sich der Natürlichkeit eines ,normalen‘ Gesprächs anzunähern habe (Loos/Schäffer 2001: 13). Dies wird durch eine methodisch kontrolliert hergestellte Offenheit – über das Prinzip von Selbstläufigkeit – gewährleistet (Nentwig-Gesemann 2006: 25ff.). Bei der Herstellung von Selbstläufigkeit geht es um spezifische methodische Vorgehensweisen, die der/die Forscher*in systematisch anwendet, um Anregungsräume dafür zu schaffen, dass der Fall – hier die Gruppe – sich in seiner Eigenstrukturiertheit prozesshaft entfalten kann (Bohnsack 1997: 499). Es wird beim Gruppendiskussionsverfahren also methodologisch davon ausgegangen, dass die Beforschten sich überhaupt erst auf gemeinsame Erlebniszusammenhänge und Relevanzsysteme einpendeln, d. h. ihre eigenen Themen in ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Form des Diskurses aushandeln und gegenüber Forschungspersonen offenbaren, wenn sie in einem selbstläufigen Modus miteinander kommunizieren (Nentwig-Gesemann 2002: 46). Obgleich das Potenzial des Verfahrens für einen Zugang zur Perspektive von Kindern in der Vergangenheit bereits vielfach betont wurde (z. B. Heinzel 2000b; Billmann-Mahecha 2001; Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2014; Brenneke/Tervooren 2019), ist die Zahl der Studien, in denen die Gruppendiskussion in Bezug auf methodische Herausforderungen der Selbstläufigkeit reflektiert wurde, überraschenderweise noch recht übersichtlich (hierzu Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 119f.; Viertel 2015). Vor diesem Hintergrund

Zwischen Erzählen, Wissen und Erleben – Gruppendiskussionen mit Kindern

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sensibilisiert der folgende Beitrag für grundlegende Prinzipien der Durchführung des Gruppendiskussionsverfahrens mit Kindern und thematisiert im Anschluss Fallstricke, die darauf vorbereiten, unter welchen Prämissen und mit welchen Strategien eine Initiierung und Balancierung von selbstläufigen Diskursen mit Kindern gelingt.

3 Zur Durchführung von Gruppendiskussionen mit Kindern 3.1 Grundlegende Prinzipien der Gesprächsführung Zunächst wurden von Ralf Bohnsack (Bohnsack 2010: 380ff.) Prinzipien der Gesprächsführung für Gruppendiskussionen mit Erwachsenen- oder Jugendlichen-Gruppen entwickelt (dazu auch Bohnsack/Schäffer 2001; Loos/ Schäffer 2001; Liebig/Nentwig-Gesemann 2002). Über folgende grundlegende Prinzipien kann ein selbstläufiger Gesprächsdiskurs methodisch gesteuert werden: Vom Forschenden wird keine Einzelperson, sondern stets die Gruppe adressiert. Hierbei wird der Gruppe verdeutlicht, dass sie miteinander sprechen soll und dass Redebeiträge von der Forschungsperson nicht wie bei einem Gruppeninterview verteilt werden. Die Gesprächsmoderation orientiert sich am Prinzip der demonstrativen Vagheit, d. h. sie stellt bewusst offene, ungenaue Fragen, die in anerkennender Art und Weise eine Fremdheit und Unkenntnis der Forscher*innen in Bezug auf das Milieu signalisiert (Bohnsack 2010: 381). Unterstützt wird dieses Signal, indem kein Eingriff in die Verteilung der Redebeiträge erfolgt, Nachfragen erzählgenerierend gestellt und exmanente Fragen erst geäußert werden, nachdem die Gruppe sich an den für sie relevanten Themen abgearbeitet hat. Der/die Interviewende hat hierbei vor allem anzuzeigen, dass es den Teilnehmenden im Rahmen einer Gruppendiskussion freisteht, über welche Themen sie in welcher Reihenfolge und in welchem Modus miteinander sprechen (Bohnsack 2010: 380ff.). Verfolgen Forscher*innen das Anliegen der Etablierung von solchen selbstläufigen Gruppendiskussionen, stehen sie somit einerseits vor der paradoxen Herausforderung, den Diskurs zwischen den Beforschten anzuregen, ohne diesen andererseits selbst direktiv (vor) zu strukturieren (Bohnsack 2008: 207ff.). Vor diesem Hintergrund stellt die Durchführung von Gruppendiskussionen mit Kindern noch einmal eine besondere methodische Herausforderung dar. Will man die Gruppendiskussion im Rahmen der frühpädagogischen Kindheitsforschung als Ort der „intergenerationalen Verständigung“ (NentwigGesemann/Gerstenberg 2014: 273) betrachten, so muss bei der Initiierung und

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Frauke Gerstenberg

Balancierung auch der generationalen Ordnung eine spezifische Aufmerksamkeit zuteilwerden: Zum einen geht es dann um die Frage, wie die Gesprächsführungsprinzipien des erwachsenen Gesprächspartners auf die Forschungssituation mit den Kindern angepasst werden kann und wie die Kinder in diese einbezogen werden können, sodass einer potenziellen Fremdheit zwischen Forschenden und Kindern in der Gruppendiskussion entgegengewirkt wird. Zum anderen ist hierbei zu reflektieren, wie selbstläufige verbale und nonverbale Äußerungen der Kinder überhaupt methodisch evoziert werden können. In den folgenden Kapiteln werden Fallstricke thematisiert, welche bei der Durchführung zu berücksichtigen sind, damit die Gruppendiskussion in dem zuvor dargelegten Verständnis anschlussfähig an die frühpädagogische Kindheitsforschung ist. Für die Forschungsperson geht es abseits davon um die Entwicklung eines Bewusstseins dafür, dass das Wie der Gruppendiskussionsdurchführung mit den Kindern letztlich immer auch über die Qualität der erhobenen Daten entscheidet (Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2014: 276). 3.2 Fallstrick I – Initiieren von Selbstläufigkeit in Gruppendiskussionen mit Kindern Um selbstläufige Diskurse von Kindern in Gruppendiskussionen methodisch evozieren zu können, hat der/die Forscher*in sich zunächst als Milieufremde/r zu positionieren. Damit er/sie als Milieufremde/r die Milieuangehörigen – hier die Kinder – verstehen kann, ist es notwendig, sie nicht auf Basis der eigenen Standortgebundenheit zu interpretieren, sondern sich aus dieser Forschungshaltung heraus darum zu bemühen, zumindest imaginär in ihren konjunktiven Erfahrungsraum einzutauchen und die Genese ihrer handlungsleitenden Orientierungen aus diesem Kontext heraus zu rekonstruieren (Bohnsack 2008: 142). Möglich ist dies über eine empathische Grundhaltung der Moderation, die sich für die von einer Gruppe dargestellten Erlebnisprozesse oder aber – und dies gilt in besonderer Weise für die qualitative Kindheitsforschung – die situative Gestaltung der Gruppendiskussion über alltägliche, kollektive Handlungs- und Spielpraxen interessiert (Nentwig-Gesemann 2002: 53). Wie eine solche Gesprächshaltung bei der Gestaltung von Gruppendiskussionen zu vermitteln ist, um dem selbstläufigen Ausdruck von Kindern zu entsprechen, soll im Folgenden am Beispiel einer empirischen Studie illustriert werden, die dahingehend erste zentrale methodische Modifikationen am Gruppendiskussionsverfahren vorgenommen hat.

Zwischen Erzählen, Wissen und Erleben – Gruppendiskussionen mit Kindern

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Empirisches Beispiel: Pokemon-Studie Iris Nentwig-Gesemann forschte 2002 im Rahmen von Gruppendiskussionen mit vier- bis neunjährigen Kindern, mit dem Erkenntnisinteresse, deren kollektive Diskurs- und Spielpraktiken beim Pokemon-Spiel zu rekonstruieren (NentwigGesemann 2010: 25). Eine wesentliche Innovation dieser Untersuchung war, das Gruppendiskussionsverfahren um die Ebene des Performativen im Sinne leiblich-habitualisierten Wissens zu erweitern. Mit diesem methodischen Vorschlag wurde einer non-verbalen Interaktion von Kindern als spezifisch-kindlicher Kommunikationsform in der Erhebung und Auswertung Rechnung getragen (Nentwig-Gesemann 2002, 2010; dazu auch Wagner-Willi 2005, 2010). Zum einen wurde die Gruppendiskussion um eine videogestützte Beobachtung und Protokolle ergänzt, um auch den körperlichen Ausdruck der Kinder im bewegten Bild einzufangen und das von den Kindern performativ Aufgeführte für die spätere Analyse schriftlich festzuhalten (Nentwig-Gesemann 2002: 47). Zum anderen ist eine Gruppendiskussion von verschiedenen Fragetypen geprägt. Besonderes Augenmerk wurde im Sinne der Offenheit hierbei auf die erzählgenerierende Eingangsfrage und die Haltung der Moderation gelegt. Für die Durchführung bedeutete dies, dass Iris Nentwig-Gesemann die Kinder1 explizit dazu aufforderte, körperliche Spiel-Praxen in der Diskussion vorzuführen, nachdem sie feststellte, dass die Kinder auf den ‚klassischen‘ Erzählimpuls hin2 Schwierigkeiten hatten, über ihr „Machen zu erzählen“. So wurde die Eingangsfrage in eine Aufforderung zur Vorführung abgewandelt (ebd.: 50): I: Mf: I: Am: Bm: Mf: I: 1

2

Passt auf; wir (2) sehen und hören also immer wenn Kinder über Pókemons reden und diese (.) Hefte haben, und diese vielen Karten, und wir Erwachsene verstehn das ja nich so richtig; Ja was ihr da macht. deswegen (2) wolln=wa euch mal zugucken; (2) wenn ihr so eure Sachen dabei habt; ich weiß nich, habt ihr nehmt ihr die jeden Tach mit in die Kita? Ja ähäh. ich nich; ich ich darf nur heute oder morgen. Jo:a. aber; (2) so;

Hier handelt es sich um eine Gruppendiskussion der Gruppe Film vom 13. 7. 2001, an der ein Mädchen und drei Jungen im Alter von sieben bis neun Jahren teilnahmen. D. h. wie er bei Gruppendiskussionen mit Erwachsenen und Jugendlichen angewendet wird.

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Am: I: Mf: Am: I: Mf: I:

Bm: Am: Mf: I: Bm: Mf: Am: Cm: Bm:

ich darf immer. manchmal (1) manchmal. ich nehm immer ich auch deswegen wolln=wir euch jetzt erstmal (1) zugucken wenn ihr das mit den Karten macht was ihr sonst auch macht. ich weiß nicht ob ihr spielt oder tauscht oder, wir kämpft wir kämpfen. kämpfen? dann könnt habt ihr jetzt erst mal Zeit das zu machen und wir gucken euch nur zu. und nachher wenn ihr keine Lust mehr habt dann stell ich euch noch ein paar Fragen dazu; dann könnt ihr mir noch ein bisschen was erzählen; aber erst mal könnt ihr jetzt (mit welcher?) gut. wir alle drei. ((sehr schnell)) (pass auf) Kampf mit Deinen Karten so wie ihr sonst auch macht. ja Kampf ((sehr schnell)) Kampf; kommt wir machen mal, na gut mit meinen. ((Am öffnet sein Album) kann ich mitspielen? ohne ohne abzocken kapiert? ((besorgter Tonfall)) […]

Ein Grund dafür, dass es hier gelingt, Selbstläufigkeit in Form von interaktiv dichten Spielszenen zu erzeugen, ist nach Iris Nentwig-Gesemann der Aspekt, dass in der Eingangsfrage die Haltung der Gesprächsleitung so an die Kinder vermittelt wird, dass sie sich kompetent fühlen können, den Erwartungen der Forscherin gerecht zu werden und die Differenzerfahrung generationaler Ordnung hier nicht negativ bewerten, da sie als Experten ihrer Lebenswelt angesprochen werden (Nentwig-Gesemann 2002: 52). Die Gesprächsführung mit Kindern erfordert also eine pädagogische Grundhaltung, die transportiert, dass Kinder und ihre Meinung geachtet werden, und damit einhergehend besonders feinfühlige Moderationskompetenzen der erwachsenen Interviewer*innen3 (Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2014: 276). Im Bewusstsein um eine grundlegend asymmetrische Beziehungsstruktur zwischen Erwachsenen und Kindern – und zwar unabhängig davon, ob Kinder 3

Im internationalen Kontext wird bereits die Kompetenz des/der erwachsenen Gesprächspartner*in als maßgebende Bedingung für das Gelingen einer Forschungssituation mit dem Kind begriffen (z. B. Eide/Winger 2005).

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eher als erziehungsbedürftige oder als autonome Wesen konstruiert werden – muss in der Interaktionsgestaltung der Gruppendiskussion folglich eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie die erwachsene Forschungsperson angesichts ihres Wissens- und Erfahrungsvorsprungs mit den anwesenden Kindern angemessen kommuniziert (Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2018: 136). Denn die „Rahmungshoheit, die Erwachsenen […] damit gegenüber Kindern per se zukommt, überträgt ihnen zugleich eine ganz besondere – anerkennungstheoretisch fundierte – interaktions- bzw. diskursethische Verantwortung“ (Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2018: 136; auch Gerstenberg 2014: 299; Bohnsack 2017: 136). Der Fallstrick, der sich bei der Eröffnung von Gruppendiskussionen mit Kindern stellt, ist also vor allem in einer interaktionsethisch orientierten Reflexionsbereitschaft der Forschungsperson begründet. Sie hat das Gespräch über diskursethische Prinzipien derart anzuleiten, dass eine symmetrische Perspektive erst bewusst und diskursiv hergestellt wird, beispielsweise indem sie „die eigenständigen Interessen, Ziele, Gefühle, Orientierungen und Praktiken von Kindern“ interaktiv anerkennbar macht (Nentwig-Gesemann/ Gerstenberg 2018: 136). Im Bewusstsein um diese diskursethischen Prinzipien nimmt der/die Forscher*in also die Rolle eines aufmerksam-zurückhaltenden Begleiters narrativer und fragend-entwickelnder Diskurse ein (Nentwig-Gesemann/ Gerstenberg 2014: 276). Ihm/ihr fällt die Aufgabe zu, Ausdrucks- und Erzählräume zu schaffen, in denen die Kinder, trotz der bestehenden Beziehungsasymmetrie, zu der ihnen und dem jeweiligen Thema angemessenen Sprache finden können (Nentwig-Gesemann/Wagner-Willi 2007: 217). In diesem Rahmen ist sowohl von Bedeutung, dass der/die Interviewer*in sich zuhörend und interessiert auf das einlässt, was die Kinder formulieren und tun, als auch, dass den Kindern im Verständnis einer „reflexiven Autonomie“ beispielsweise der Möglichkeitsraum eröffnet wird, sich für „Nicht-Autonomie zu entscheiden“ und sich von dem/der Interviewer*in in der Gruppendiskussion über Fragen anregen oder leiten zu lassen4 (Nentwig-Gesemann/ Gerstenberg 2018: 136).

4

In der Quaki-Studie (Nentwig-Gesemann et al. 2017) hat sich in der verbalen Phase der Gruppendiskussion mit Kita-Kindern bewährt, möglichst immanent und erzählgenerierend nachzufragen, z. B. so: „Ihr habt doch eben erzählt, dass …“ (ebd. 2017: 19). Um dem Erinnerungsvermögen und der Alltagsnähe von Kita-Kindern Rechnung zu tragen, hat es sich ebenfalls ausgezahlt, sich im Nachfrageteil der Gruppendiskussion auf Situationen zu beziehen, die von den Forschenden am Vortag beobachtet wurden, z. B.: „Gestern habt ihr im Garten gespielt, … könnt ihr uns davon nochmal erzählen?“ (ebd.).

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Infobox: Alle Kinder, die an der Gruppendiskussion teilnehmen, sollten mit dem Thema der Eingangsfrage Berührungspunkte haben. Ermutigende Worte, Blickkontakt, Humor sowie ein Hinweis auf die ungewöhnliche Gesprächssituation können das In-Gang-Kommen von Selbstläufigkeit unterstützen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 115).

Wilk betont, dass die spezifischen, psychischen, interaktiven, kognitiven und linguistischen Kompetenzen der Kinder insofern ebenso Berücksichtigung finden müssen wie die eingeschränkten Fähigkeiten von uns erwachsenen Wissenschaftlern, uns in diese hineinzuversetzen (Wilk 1996: 75). Mit Richter ließe sich ergänzen, dass Kinder sowohl aus methodologischen als auch aus forschungsethischen5 Gesichtspunkten hierbei besonders sorgfältiger Behandlung bedürfen (Richter 1997: 95). Ich stimme Richter zu, dass nur durch eine Kommunikationshaltung, die Vertrauen und demonstrative Vagheit vorlebt, das ansonsten schwer wettzumachende Autoritätsverhältnis zwischen Forscher*in und Kindern verringert werden kann (Richter 1997: 77). Dazu trägt aus Sicht von Heinzel bei, dass in der Gruppensituation die Kinder gegenüber Erwachsenen – hier dem/der Moderator*in – zahlenmäßig überwiegen und die Interaktion mit den Gleichaltrigen im Zentrum steht (Heinzel 2000b: 117). 3.3 Fallstrick II – Balancieren von Selbstläufigkeit in Gruppendiskussionen mit Kindern Eine Besonderheit bei Gruppendiskussionen mit Kindern besteht darin, dass diese zum einen sehr dynamisch zwischen verbal-sprachlichen und körperlich-performativen Ausdruckspraktiken wechseln, zum anderen in ihren Erzählungen oft Reales und Imaginiertes miteinander verbinden (NentwigGesemann/Gerstenberg 2014: 275). Überdies können die von den Kindern im Laufe der Gruppendiskussion fokussierten Erzähl- und Spielmotive, da sie sich sehr häufig assoziativ aufeinander beziehen, ganz unvorhergesehene Wendungen nehmen (ebd.).

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Vgl. für die ethnografische, partizipative Forschung mit Kindern die Überlegungen von Eßer/Sitter (2018) zur ethischen Symmetrie als Forschungshaltung bzw. -prinzip.

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Flick gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die Durchführung insofern hohe Ansprüche an die Gruppendiskussionsleitung stellt, weil viele Entscheidungen zur Steuerung von Selbstläufigkeit letztlich aus der Situation heraus getroffen werden müssen (Flick 1995). Nicht umsonst deutet Lamnek in diesem Zusammenhang auf die Gefahr hin, dass bei mangelnder Erfahrung mit der Durchführung die Gruppendynamik bedeutender als das eigentliche Thema werden könne (Lamnek 2005: 85), sodass ein weiterer Fallstrick für die Forschungsperson vor allem im Ausbalancieren des bereits in Gang gebrachten Gruppendiskussionsdiskurses besteht. Für die ,Bewältigung‘ von Selbstläufigkeit ist nun von Bedeutung, dass der/ die Interviewer*in zunächst ein Gefühl für den tentativen Charakter des kindlichen Ausdrucks entwickelt und lernt, die Performativität der Bedeutungsaktualisierung, d. h. die Praktiken der Kinder in der Erhebungssituation der Gruppendiskussion – in situ – wahr- und aufzunehmen, die sich ihm/ihr gegenüber als spontane, situative und intuitive Praktiken offenbaren können bzw. einem auch oftmals aktionistischen Vorgehen der Kinder entsprechen (Heizmann 2018: 101). Im Folgenden soll daher für solcherart Gruppendiskussionspassagen sensibilisiert werden, in denen Kinder sehr dicht erzählen, beschreiben und argumentieren oder besonders fokussiert, d. h. engagiert, emotional beteiligt Spiel aufführen (Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2014: 275). In sogenannten Fokussierungsmetaphern oder -akten dokumentieren sich ihre Erlebniszentren sowie ihre Relevanz- und Orientierungsrahmen besonders deutlich (ebd.).

Infobox: Ob eine Gruppendiskussion selbstläufig ist, lässt sich an Fokussierungsmetaphern erkennen und bei Kindergruppendiskussionen insbesondere an Fokussierungsakten. Formales Merkmal von Fokussierungsmetaphern ist ein großes Engagement der Gruppe, das sich in Beschreibungen und Erzählungen mit hohem Detaillierungsgrad; in metaphorischer Dichte ausdrückt (Bohnsack 2011: 67). Fokussierungsakte beziehen sich auf das szenische Handeln und können auch eine gewisse dramatische Übersteigerung, Verzerrung oder Überpointierung interaktiver Darstellungen umfassen (Nentwig-Gesemann 2002: 54).

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Empirisches Beispiel: Studie Naturwissenschaftliches Lernen im Kontext von Lernwerkstattarbeit Vielfach verknüpfen die Kinder in Fokussierungsmetaphern oder -akten explizites Wissen mit alters- und lebensweltspezifischen Themen, wie nun an einem empirischen Ausschnitt der Studie „Naturwissenschaftliches Lernen im Kontext von Lernwerkstattarbeit – physikalische Experimente in Schule, Kita und Freizeitbereich für den Berliner Kiez“6 dargelegt wird (NentwigGesemann/Gerstenberg 2014: 275ff.). In der folgenden Gruppendiskussionssequenz, in der die Kinder der H-Grundschule7 nach ihren Erfahrungen in der „Lernwerkstatt Zauberhafte Physik“ gefragt wurden und ihr darauf bezogenes Wissen artikulierten, haben sie immer wieder auch selbstläufig andere thematische Bezüge, u. a. zum Thema Medien, hergestellt. An diesem Beispiel soll nun gezeigt werden, auf welche Weise die Kinder mediale Erlebnisse und Kenntnisse in der Gruppendiskussion eingewoben haben. Sie führen die Fernsehserie „Haus Anubis“ auf: K?: nein (.) los singt KM4: fängt an das Lied der Serie zu singen, andere Kinder stimmen leise ein. KJ9: schlägt mit den Armen auf seine Schenkel, dreht sich kurz zu ihnen um. Alle: (gewisser Weise letzter Zeit) (.) Rätsel lösen (.) still und leise (.) wir sind jetzt bereit (2) suche mit uns (.) finde den Schatz (.) Haus Anubis (.) suche mit uns (.) finde den Schatz (.) bei unserem Haus Anubis ( ) (2) dam dam dam dam dam dam

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Das Forschungsprojekt wurde von Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann und Prof. Dr. Hartmut Wedekind geleitet und vom Institut für Angewandte Forschung in Berlin gefördert. Für die Darstellung der gesamten Projektergebnisse (Nentwig-Gesemann et al. 2012; Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2014). In der Studie wurden vier Kindergruppen aus zwei Kindertageseinrichtungen und zwei Grundschulen sowohl in der „Lernwerkstatt Zauberhafte Physik“ als auch in ihren Einrichtungen während je zehn bis zwölf einstündiger Experimentiereinheiten teilnehmend und videogestützt beobachtet (Nentwig-Gesemann et al. 2012). Nach der Hälfte der Einheiten wurden sie zu ihren Erfahrungen und Erlebnissen in der „Lernwerkstatt Zauberhafte Physik“ sowie mit der Natur im Allgemeinen befragt (NentwigGesemann/Gerstenberg 2014: 277). Die Gruppendiskussionen wurden aus den bereits erläuterten Gründen videografiert. Es nahmen zwischen vier und zwölf Kinder im Alter von vier bis sechs (Kindergarten) und zwischen sechs und neun Jahren (Grundschule) an den Gruppendiskussionen teil (ebd.).

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[…] KM4: jetzt kommt Nina (dahin); läuft ein paar Schritte neben KJ9, KJ10 und stellt sich hinter KJ9s Kopf und sagt: oder nein ich bin Charlotte (.) komm komm; die Kinder folgen ihr rechts aus dem Bild; jetzt ist schon früh ich geh jetzt ins Bad K?: ins Bad KM4: und die Lucy wo ist die Lucy? Die Kinder außerhalb des videografierten Bildes rufen durcheinander, KJ9 tritt zu KM4 KJ9: du gehst jetzt im Bad ( ) (.) ich bin Benny KM4 rennt links aus dem Bild in den Raum. Kinder sind verteilt und rufen durcheinander K?: KM4: KJ9: K?: K?:

jetzt komm ( ) ich geh jetzt raus ( ) Victor ne:::in ich bin Victor

Es wird kurz still, KM4 läuft im Stuhlkreis, die anderen Kinder laufen hinterher. Stimmen heben sich wieder und reden durcheinander. KM4 läuft links aus dem Bild, die Kamera folgt. KM4 hüpft dann nach rechts Richtung Matratzenlager, hängt sich dort eine weiße Tasche um K?: wann kommt Victor? KM4: jetzt sind wir in der (Schule); setzt sich auf einen Stuhl. KM3: setzt sich neben KM4 Das Video wird nach Anweisung der Kinder an die Interviewerin unterbrochen, dann beginnt die Wiederaufnahme. Man sieht Kinder aus dem Raum drängeln. KJ10 stellt sich vor die Kamera und singt das Lied vom Anfang der Serie noch einmal. KJ10: Alle: Y: KJ?:

suche den Schatz; anderes Kind stimmt mit ein. bei unser Haus Anu:::bis und laufen raus tschüss Herr Regisseur tschüss

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Wie in dieser Gruppendiskussionssequenz zu sehen ist, stellt es für Kinder, auch sehr junge, keine Schwierigkeit dar, fokussierte Erlebnisse zu aktualisieren und z. B. davon zu berichten oder sie performativ darzustellen8. Um jedoch das narrative Potenzial der Kinder allgemein stärker in den forschungsmethodischen Blick rücken zu können, ist bei der Steuerung der Gruppendiskussion zu berücksichtigen, dass sie diese Erlebnisdarstellungen oft nicht in einem klassischen Erzählschema realisieren. D. h. Kinder führen im Rahmen ihrer Geschichte häufig nicht chronologisch aufeinander folgende narrative Konstituenten zusammen (Boueke/Schülein 1991: 25), sondern greifen auf „implizite, inkorporierte Wissensbestände, auf ihr Erfahrungswissen“, zurück und bilden [dabei] „zugleich – entwicklungsbedingt – fortwährend neue, erweiterte, zunehmend ausdifferenzierte Denk- und Handlungsmuster“ aus (Nentwig-Gesemann/Nicolai 2014: 51). Die Inszenierung der Mystery-Serie „Das Haus Anubis“9 folgt hier beispielsweise einer inneren Struktur der Serie, die die Kinder offenbar untereinander kennen. Im Singen des Liedes, das jede Folge der Serie einleitet und abschließt, dokumentiert sich, dass die Kinder ein diesbezügliches konjunktives Wissen teilen und gemeinsam zur Aufführung bringen. Die Selbstläufigkeit des Diskurses lässt sich auch daran ablesen, dass KM4 mit einzelnen Rollenzuschreibungen in Form einer ,Regieanweisung‘ beginnt und sich im Verlauf der Gruppendiskussion ein Ineinandergreifen und die wie selbstverständliche Übernahme von verschiedenen Rollen zwischen den Kindern ergibt. Nicht die gegenseitigen, expliziten Erklärungen ermöglichen den Kindern hier also ihre eigenlogische Erzähl- und Spielpraxis, sondern ein Verstehen im „Medium des Konjunktiven“, das durch das Prinzip der Selbstläufigkeit angeregt wurde (Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2014: 280). Da es sich um ihr Wissen handelt, das sie dadurch in der Gruppendiskussion in ihrer – oftmals auch flüchtigen – Erzählform zeigen können, stellen sie

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Susanne Vogl generalisiert hinsichtlich der Alterseignung von Kindern in Bezug auf die Durchführung von Gruppendiskussionen: Die Gruppengröße sollte acht Teilnehmende nicht überschreiten. Je jünger die Teilnehmer*innen, desto kleiner sollte die Gruppengröße ausfallen (Vogl 2005: 56). Der Quaki-Studie nach ist das Gruppendiskussionsverfahren durchaus bereits für Kinder ab vier Jahren und eine Gruppengröße von drei bis sechs Kindern geeignet (Nentwig-Gesemann et al. 2017: 20). Wenn mehr Kinder teilnahmen, wurde ein Redestein eingesetzt, um ihre Aufmerksamkeit zu bündeln und die Möglichkeit zu erhalten, dass sie ihre Redebeiträge untereinander organisieren (ebd.). Das Haus Anubis ist ein Internat, in dem acht Jugendliche leben. In der Serie geht es um mysteriöse Dinge, die dort passieren. In der Geschichte gehen die Jugendlichen geheimnisvollen Fragen nach und begeben sich auf Spurensuche.

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hierüber zugleich eine situativ-gemeinschaftliche kindliche (Eigen-)Rahmung innerhalb des Erwachsenen-Kind-Rahmens her (ebd.). Die Kinder übernehmen in diesem Rahmen die ,Diskursregie‘ und die Interviewerin lässt es im Wissen um ihre interaktions- bzw. diskursethische Verantwortung zu. Dies dokumentiert sich wiederum in ihrem sequenziellen Anschluss „tschüss Herr Regisseur“, über den sie die Kinder am Ende der Sequenz nicht nur verbal als ,Wissende‘ validiert, sondern auch Anerkennung darüber markiert, dass die Kinder auf ihre Weise Regie geführt haben. Dass der/die Interviewer*in darauf eingeht, dass die Erzählfiguren und handlungsleitenden Orientierungen von Kindern oftmals fluider10 sind als die von Erwachsenen, gehört demnach ebenfalls zu dieser Verantwortung (Nentwig-Gesemann/Nicolai 2014: 51). Um diesem Aspekt in der Lernwerkstatt-Studie Rechnung zu tragen, wurden in der veranschaulichten Gruppendiskussion methodische Veränderungen vorgenommen: Es wurde davon ausgegangen, dass Selbstläufigkeit von der Forschungsperson nur austariert werden kann, wenn die Kinder die Erhebungssituation jederzeit umarbeiten und zwischen sprachlichem Diskurs und korporierten Praktiken wechseln können (hierzu auch Nentwig-Gesemann 2007: 107). Darüber hinaus hat sich im Sinne der Selbstläufigkeit für solcherart Spielsequenzen, die sich im Verlauf der gesamten Gruppendiskussion mit den Kindern spontan ergeben haben, bewährt, so viel Zeit und Raum zur Verfügung zu stellen, wie die Kinder dafür in Anspruch nehmen wollten11. Für die Diskursbalance war es zuträglich, die Spielphase im Ablauf der Diskussion der verbalen Phase vorzuschalten. Denn nach dieser Phase war es für die Forscher*in schwieriger, wieder ,unsichtbar‘ zu werden, d. h. Selbstläufigkeit erneut anzuregen (auch Nentwig-Gesemann 2002: 48). Aus meiner eigenen 10

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Felix Heizmann, der in seiner Studie Literaturgespräche zu Gedichten mit Grundschüler*innen untersucht hat, die von der Gesprächsstrukturierung her dem Gruppendiskussionsverfahren ähneln, führt aus diesem Grund den Begriff der Orientierungsdynamik für seine Arbeit ein, um auf eine notwendige Differenzierung bei der sich hieran anschließenden Analyse hinzuweisen (Heizmann 2018: 102). In Ergänzung der Terminologie der Dokumentarischen Methode, die sich als Auswertungsverfahren bei Gruppendiskussionen bewährt hat, bezeichnet er mit diesem Begriff „eine Bewegung, in der sich Erweiterungen, Verschiebungen und Entstehungen von Denk- und Handlungsmustern im gemeinsamen Tun und Miteinandersein vollziehen, was Lernprozesse [der Kinder] kennzeichnet, die über die bloße Wissensakkumulation hinausgehen“ (ebd.). Selbst wenn im Forschungsprojekt also durchaus ein explizites Forschungsanliegen und damit einhergehende exmanente Nachfragen zum naturwissenschaftlichen Lernen der Kinder von Interesse waren, wurde diese Zeit bei allen durchgeführten Gruppendiskussionen eingeräumt.

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Arbeitserfahrung in diesem Forschungsprojekt kann ich ergänzen, dass ein Kennenlerntreffen mit den Kindern vor der eigentlichen Durchführung gerade für die Steuerung von selbstläufigen Phasen in der Gruppendiskussion sinnvoll ist. Als Forschungsperson hat man so die Möglichkeit, das Temperament der Kindergruppe vorab besser einzuschätzen.

4 Fazit Wenn sich das Erkenntnisinteresse, wie im Rahmen der eingangs skizzierten qualitativen Kindheitsforschung, auf die spezifischen Verständigungsprozesse und performativen Ausdrucksformen von Kindern richtet, bietet es sich an, das Gruppendiskussionsverfahren einzusetzen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 117). Denn grundsätzlich können Gruppendiskussionen einen geeigneten Weg zur Kinderperspektive ebnen, weil sie offene und kommunikative Verfahren sind, bei denen die Kinder zu Wort kommen (Billmann-Mahecha 1994: 288). Da Kinder in der Gruppendiskussion selbst die Datenproduktion steuern, wird so einerseits die Gefahr geringer, dass sie nur das Sprachrohr der Erwachsenen sind (Richter 1997: 79). Andererseits ist es, wie ich gezeigt habe, keine ganz anspruchslose Methode. Denn für diesen Weg braucht man als Forscher*in, der/die diese Form der Kindheitsforschung betreibt, in meinen Augen nicht nur eine klassische Methodenorientierung und -ausführung, sondern auch etwas Fingerspitzengefühl, pädagogische Erfahrung und Spielfreude bei der Balancierung von selbstläufigen Gruppendiskussionsphasen wie Fokussierungsmetaphern und -akten, da Kinder sich darin einfach ,wirbelsturmartiger‘ ausdrücken als Erwachsene. Andernfalls könnte dieses Phänomen von erwachsenen Forscher*innen vorschnell als praktisches „Aussteigen aus der Diskussion“ oder bei methodisch-theoretischen Überlegungen zu Verfahren und Gegenstand als „defizitär“ interpretiert werden (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2009: 115). Vor diesem Hintergrund hat der vorliegende Beitrag noch einmal grundlegend für Prinzipien der Durchführung des Gruppendiskussionsverfahrens mit Kindern sensibilisiert und auf Fallstricke vorbereitet, die mit der Initiierung und Balancierung von selbstläufigen Diskursen einhergehen können. Zentral gezeigt wurde: Die Qualität der Gruppendiskussion hängt immer auch davon ab, ob man als Forschungsperson über eine methodisch kontrolliert hergestellte Offenheit gewährleisten kann, dass die Forschungsfrage hinter den Selbstausdruck der Kinder zurückgestellt wird, und hierfür bereit ist, die Art der Durchführung beweglich zu halten. Selbstläufigkeit verhilft dann, methodisch betrachtet, auch dazu, den aus Forschersicht fremden kindzentrierten Dis-

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kurs im Verständnis von Mannheim in seiner jeweiligen Milieu- oder Seinsgebundenheit zu begreifen (Mannheim 1970). So kann in Erfahrung gebracht werden, „wie Kinder gemeinschaftlich Vorstellungsbilder über die Welt entwerfen, in der sie leben“ (Billmann-Mahecha 2001: 17), und wie diese Welt eben nicht nur durch das hierarchische Gefälle zwischen Erwachsenen und Kindern strukturiert ist, sondern sich im Potenzial des Kollektiven zwischen Kindern entfaltet (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 115).

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Geschlechterpädagogische Wissensbestände (in) der Schule – Wissenssoziologische Diskursanalyse trifft Grounded Theory Verena Kumpusch

Keywords: Geschlechterwissen, Diskurs; Schule, Wissenssoziologische Diskursanalyse, Grounded Theory

1 Einleitung „The air was heavy with unspoken knowledge.” William Golding Was lernen oder wissen Schüler*innen eigentlich zu gesellschaftlichen Geschlechterfragen? Oder anders formuliert: Welche geschlechterpädagogischen Wissensformen sind in der Schule zu finden bzw. werden von der Schule thematisiert, gelehrt und gelernt? Und: Warum sind diese Fragen wichtig? Und: Wie können sie beforscht werden? Dieser Beitrag stellt ein zum Entstehungszeitpunkt noch laufendes Promotionsprojekt vor. Dargestellt werden theoretische Zugänge und Forschungsdesiderate, die daraus resultierende(n) Forschungsfrage(n) sowie das empirische Forschungsprogramm. Abbildung 1 (folgende Seite) zeigt kompakt, was nachfolgend genauer erläutert wird. Einführend lohnt es sich, wie in Abschnitt 2 ausgeführt, mithilfe eines Beispiels und ausgewählter Blitzlichter geschlechter- und gesellschaftspolitisch um die Ecke zu denken und gesellschaftliche Geschlechterungleichheitslagen sowie die Verantwortung der Schule in Erinnerung zu rufen: Als Sozialisationsinstanz (vgl. Fend 2008) hat Schule, die Aufgabe, genau diese soziale Geschlechterungleichheit u. a. über die Vermittlung von Wissen auszugleichen bzw. dieser präventiv entgegenzuwirken. Für die öffentlichen Schulen in Österreich ist dies rechtlich auch mit dem Ziel der Gleichstellung zu begründen, wie es in der Bundesverfassung formuliert wird (vgl. B-VG Art. 7 und Art. 14 Abs. 5a/BMBWF 2018).

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Abbildung 1: Überblick Forschungsfrage, theoretische und empirische Verortung (eigene Darstellung)

Mit welchen strukturellen und inhaltlichen Maßnahmen das im österreichischen Bildungssystem versucht wird und welches Datenmaterial, das Aufschluss über diese Wissensformen der Schule zu Geschlechterfragen geben kann, dabei entsteht, wird in Abschnitt 3 zusammengefasst. In Abschnitt 4 werden über die schrittweise Darlegung des Forschungsprozesses auch die entsprechenden Forschungsperspektiven sowie das Forschungsprogramm erläutert, die es ermöglichen bzw. das es ermöglicht, die umfassende Sammlung dieses Datenmaterials zu analysieren, welches in einem Datenkorpus gefasst wird. Mithilfe einer Kombination aus Wissenssoziologischer Diskursanalyse (Keller 2011) und Grounded Theory (Glaser/Strauss 2005) kann adäquat und transparent auf Herausforderungen und Probleme, wie fehlende Materialien, Dokumentationen und Forschungsdesiderate, reagiert werden. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick in Abschnitt 6, indem eine vorläufige Einordnung des Vorhabens und der bisherigen Ergebnisse versucht wird.

2 Ausgangspunkt: Gesellschaftliche Geschlechterschieflagen und die Rolle der Schule Am 10. Januar 2015 twitterte die damals 17-jährige Schülerin Naina: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber

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ich kann ’ne Gedichtanalyse schreiben. In 4 Sprachen“ (berichtet dazu hat z. B. derStandard 2015). Ihre Kritik am deutschen Schulsystem schlug hohe Wellen in Medien und Öffentlichkeit und stieß auch in Österreich einen Diskurs über Lehrpläne und Schule an (berichtet dazu hat z. B. diePresse 2015). Nainas Kritik aufgreifend, forderten Schüler*innenorganisationen in beiden Ländern lebensnahen und praxisorientierteren Unterricht zu [1] wirtschaftlichen, [2] rechtlichen und [3] politischen Fragen und damit zu Grundkompetenzen, was aus geschlechterpädagogische Perspektive auch als Geschlechterkompetenz gelesen werden kann. 2.1 Schulische Grundkompetenzen als Geschlechterkompetenzen – drei Blitzlichter Wie steht es also um die im Jahr 2015 von Schüler*innen kritisierten Wissenslücken zu Wirtschaft, Recht und Politik – und was hat das mit Geschlechterfragen zu tun? Dazu einleitend drei Blitzlichter: Blitzlicht [1]: Wirtschaftliche Grundkompetenzen und Geschlecht: Mit der Gender-Statistik veröffentlicht Statistik Austria regelmäßig aktuelle Daten zur sozioökonomischen Situation von in Österreich lebenden, immer noch heteronormativ erfassten, Frauen* und Männern* (vgl. Statistik Austria 2021). Während das Bildungsniveau der jungen Frauen kontinuierlich steigt, ihre Abschlusserfolge an mittleren und höheren Schulen sowie an Hochschulen bereits über denen der Männer liegen (vgl. ebd.) und auch ein deutlicher Anstieg der Erwerbsarbeit von Frauen zu verzeichnen ist (vgl. ebd.), zählt Österreich mit 14,1 % Lohn- bzw. Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern innerhalb der Europäischen Union zu den Mitgliedsstaaten mit dem größten Gender Pay Gap. Laut Global Gender Gap Report 2021 sind beispielsweise nur 32 % der wirtschaftlich lukrativen Managementpositionen mit Frauen besetzt (vgl. WEF 2021: 29) – Stichwort glass ceiling (z. B. Folini 2007). Statistik Austria weist weiter darauf hin, dass Frauen nach wie vor u. a. aufgrund von Vereinbarkeitsüberlegungen von Familie und Beruf verstärkt in Teilzeitanstellungen zu finden sind (vgl. Statistik Austria 2021), die – und auch darauf muss hingewiesen werden – über die Lebensspanne zu niedrigeren Pensionen und einem im Geschlechtervergleich höherem Armutsrisiko führen. Auch Frauen mit hohem Bildungsniveau erleben aufgrund von Elternschaft und Familiengründung eine ökonomische Zäsur und damit auch eine Zäsur für ihre individuell wirtschaftliche Zukunftsabsicherung. Auszug im Geschlechter-

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vergleich: „7% der Männer und rund 74% der Frauen haben Erwerbsunterbrechungen aufgrund von Kinderbetreuungspflichten“ (Statistik Austria 2019: 43). Besonders armutsgefährdet und -betroffen sind nach wie vor alleinerziehende Frauen (vgl. ebd.). Blitzlicht [2]: Rechtliche Grundkompetenzen und Geschlecht Die Non-Profit-Organisation SOS Mitmensch legte 2018 eine „Pilotstudie“ über den „Wissens- und Bewusstseinsstand“ zum Thema Mädchen- und Frauenrechte von 13- bis 15-jährigen Schüler*innen vor. Die Auswertung der Fragebogenerhebung zeigte u. a., dass es „erhebliche Wissenslücken“ betreffend der Rechte von Mädchen und Frauen gibt: Wenngleich die „überwältigende Mehrheit der befragten Schülerinnen und Schüler, nämlich 96 % [angaben], dass sie Mädchen- und Frauenrechte als wichtig erachten“, konnten 41 % der Schüler*innen nicht rekonstruieren, was sie über Mädchen- und Frauenrechte wissen, oder bezweifelten, dass sie darüber im Unterricht etwas gehört hatten (vgl. SOS Mitmensch 2018: 6). Blitzlicht [3]: Politische Grundkompetenzen und Geschlecht Auch wenn Österreich im Global Gender Gap Report u. a. durch mehr Frauen in politischen Positionen auf den Rang 21 vorrückt (vgl. WEF 2021: 10) und damit zu den sogenannten „fast-improving countries“ (ebd. 29) gezählt wird, scheinen die Gleichstellungszahlen für politische Partizipation und Repräsentation nach über 100 Jahren Wahlrecht für Frauen* in Österreich immer noch ernüchternd – Geschlechterdemokratie ist nach wie vor eine „gesellschaftspolitische Herausforderung“ (vgl. Blaustrumpf ahoi! 2019). Mit ca. 40 % Frauen in unterschiedlichen politischen Ämtern auf Ebene des Bundes und der Länder sind Frauen* im Vergleich zum Bevölkerungsanteil zwar besser vertreten als auf Gemeindeebene – nur 9,1 % aller Bürgermeister*innen sind Frauen – dennoch scheinen Frauen* ihr passives Wahlrecht und die Möglichkeiten, politisch mitzugestalten, noch wenig nutzen zu können (vgl. Bundeskanzleramt 2021: 10–20). Diese Blitzlichter fassen nur einen Teil der Daten, die die Ungleichheitslagen der Geschlechter immer wieder aufs Neue ausführlich dokumentieren und sichtbar machen. Wie verwoben etwa die Bereiche Politik, Wirtschaft, Gesundheit und Bildung unter geschlechteranalytischer Betrachtung sind, zeigt der Global Gender Gap Index des World Economic Forum (WEF 2021). In Abbildung 2 wird – die Blitzlichter damit abschließend – auch visuell deutlich,

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wie es um die Gleichstellung(sschieflage) in Österreich, besonders hinsichtlich ökonomischer und politischer Partizipation bestellt ist.

Abbildung 2: Global Gender Gap Index Österreich für die Bereiche Wirtschaft, Politik, Bildung und Gesundheit (WEF-World Economic Forum 2021: 105)

Während sich der Gender Gap in den Bereichen Bildung und Gesundheit langsam schließt, sich also Bildungsniveau und Gesundheitssituation der Österreicher*innen unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit zunehmend angleichen, scheint das in den Bereichen Wirtschaft und Politik immer noch schwierig. Ob und wie Schule hier präventiv gearbeitet hat und/oder arbeitet und/oder arbeiten wird, kann als Teilfrage zur Forschungsfrage, welche geschlechterpädagogischen Wissensformen in der Schule thematisiert werden, verstanden werden, die abduktiv im Diskursfeld rund um Geschlechterwissen für die Schule sichtbar wird. 2.2 Exkurs: Geschlechterinklusive Sprache in Österreich – in der Schule und in diesem Beitrag In äußerster Kürze soll auf die sprachlichen Variationen innerhalb dieses Textes hingewiesen werden, die an keiner Stelle zufällig und vermutlich schon aufgefallen sind: Nach einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) im Jahr 2018, das u. a. auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beruht und den „Schutz“ der „menschliche[n] Persönlichkeit in ihrer Identität, Individualität und Integrität“ sowie deren „unterschiedlichen Ausdrucksformen […] [wie] auch die geschlechtliche Identität und Selbstbestimmung“ hervorhebt (vgl. VfGH 2018), wurden 2020 durch einen Erlass des Innenministeriums neben weiblich (w) und männlich (m), auch divers (d), inter (i), offen (o)

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und kein Eintrag (kE) als Eintrag in der Kategorie Geschlecht im Zentralen Personenstandsregister (ZPR) ermöglicht. Allerdings wurden und werden bisher viele Studien und Statistiken nur heteronormativ, d. h. männlich (m) oder weiblich (w) erhoben, weshalb diesbezüglich tatsächlich häufig über Gender Diversity (w, m, i, o, kE usw.) (noch) keine Aussagen gemacht werden können. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungen und Diskurse der transdisziplinären, postkolonialen, queerfeministischen, intersektionalen, kritischen erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Geschlechterforschung wird nun mit dem hier vorgestellten Promotionsprojekt versucht, diskursiv auf Lehr-, Lern- und Wissensbestände der Schule zu blicken, und so die eingangs gestellten Fragen und die damit verbunden Teilfragen zu fassen. Ausgehend von den genannten Forschungsansätzen wird hier grundsätzlich mit * bzw. mit Asterisk gegendert, der damit dem derzeitigen Stand inklusiver Sprachforschung entspricht und alle Geschlechter mitdenkt. Da statistische Daten über non-binary-Personen jedoch noch keine Auskunft geben und auch innerhalb der Geschlechter- und Schulforschung unterschiedlich gegendert wird (Gender Gap, Doppelpunkt, Binnen-I usw.), ergeben sich innerhalb dieses Beitrags u. a. durch Zitate und Verweise verschiedene Formen. So verweist z. B. Mädchen und Frauen auf heteronormativ erhobene Daten, während Mädchen* und Frauen* LGBTIQ*-Personen mitdenkt. Auch in genderpädagogischen Materialen der Schule, die hier zentraler Untersuchungsgegenstand sind und als Datenkorpus zusammengefasst werden, wurden und werden unterschiedliche Schreibweisen gewählt. Die im Datenkorpus gesammelten Handreichungen und Leitfäden bilden einen Zeitraum von 25 Jahren ab, in dem auch seitens des Bildungsministeriums laufend Bemühungen um geschlechtersensible und/oder geschlechterinklusive Sprache erfolgten (vgl. BMB 2016). Der Sprachentwicklung entsprechend fallen auch die Variationen und Empfehlungen unterschiedlich aus und sind gleichzeitig (geschichtliches) Zeugnis einer Weiterentwicklung von Inklusionsbemühungen durch und mit Sprache. Auch die in diesem Artikel gewählte Form mit * wird entsprechend der Forschungslage früher oder später veraltet sein, und soll nicht als allgemeine Wahrheit oder richtige Form, sondern ausschließlich als Versuch der sprachlichen Inklusion auf aktuellem wissenschaftlichem Stand verstanden werden. Im nächsten Kapitel wird ein kompakter, auch historischer Über- und Rückblick zur der Verankerung der Wissensformen zu Geschlechterfragen im österreichischen Bildungssystem gegeben, um anschließend das sich daraus ergebende und entwickelte Forschungsprogramm vorzustellen – vom Gegenstand zur Methode.

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3 Vom Lernen der Geschlechter(un)gleichheit – bildungspolitische Konzepte und strukturelle Verankerungen im Schulsystem Die wohl umfassendste, historische Darstellung und Zusammenschau der Geschichte der österreichischen Schulpolitik zur Gleichstellung der Geschlechter ist bei Doris Guggenberger (2017) in „Der lange Weg. Von der Mädchenbildung zu Gender und Diversität. Ein halbes Jahrhundert Schulpolitik zur Gleichstellung von Mädchen und Burschen in Österreich“ zu finden. Guggenberger war selbst als langjährige Abteilungsleiterin im österreichischen Bildungsministerium für Gleichstellungsfragen im Bildungswesen zuständig und zeichnet die geschlechterpolitischen Maßnahmen und Entwicklungsschritte seit den 1960er Jahren detailliert nach. Sie unterteilt diese dabei in vier Phasen: [1] Phase der Bewusstwerdung, [2] Phase der thematischen Differenzierung und Institutionalisierung, [3] Phase der weiteren Differenzierung und Internationalisierung und [4] Phase der Neuorientierung (vgl. ebd. 10). Interessant ist, dass Guggenberger hinsichtlich Geschlechterwissens für die Schule resümiert: „Seit seinem Bestehen gab das österreichische Bildungsministerium den Schülerinnen und Schülern sehr unterschiedliches Wissen [Hervorhebung Guggenberger] mit auf den Weg“ (ebd.). Im Jahr 1995 ergeht während der Regierungsperiode Vranitzky V (SPÖ/ ÖVP) durch die damalige Bildungsministerin Elisabeth Gehrer der Grundsatzerlass zum Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“. Im Rundschreiben Nr. 77/1995 wurde die Einführung dieser „vorübergehende[n] Sondermaßnahme“ mit der Selbstverpflichtung Österreichs zur Einhaltung von Richtlinien und Konventionen zur Beseitigung von Diskriminierung und Gleichstellung der Geschlechter im Bildungswesen gegenüber der Vereinten Nationen sowie der Europäischen Union begründet, und ebenso auf Entschließungen des Nationalrates Anfang der 1980er Jahre hingewiesen, die damit – 10 Jahre später – auch umgesetzt seien (BMUKK 1995, Rundschreiben Nr. 77/1995, auch abgedruckt in Guggenberger 2017: 721). Den Grundsatzerlass praktisch umsetzend und Gender Mainstreaming als Konzept und Strategie folgend wurden anschließend, u. a. direkt von Seiten des Bildungsministeriums, aber auch durch die Bildungsdirektionen der jeweiligen Bundesländer sowie der Pädagogischen Hochschulen und Universitäten, verschiedene Maßnahmen ins Leben gerufen, um das Thema Gleichstellung in den Schulen „[i]m Sinne einer Kompetenzorientierung, die auf Wissen, Können und Handlungsbereitschaft abzielt“ (Weiglhofer 2013) voranzubringen. „Schülerinnen und Schüler [sollen durch überfachliche Kompetenzen] befähigt werden, ihre persönliche Entwicklung und Lebensführung, den Umgang mit

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anderen innerhalb und außerhalb der Schule und auch mit Umwelt, Natur und Technik zu erproben und zu gestalten.“ (ebd.) „Genderkompetenz/Gleichstellung“ wird dabei zwar nicht als eigenes Schulfach etabliert, allerdings als selbstständige Kategorie in die „Kompetenzenlandkarte für Unterrichtsprinzipien und Bildungsanliegen“ (BMBWF 2021) in die Gruppe „Gesellschaft“ aufgenommen und definiert. Dem Grundsatzerlass entsprechend gilt es nun für alle Schulen und Schulstufen, respektive für alle Lehrer*innen, gesellschaftliche Geschlechterfragen mitzudenken, mitzudiskutieren bzw. mitzuunterrichten. Neben verschiedenen Initiativen und Projekten – beispielhaft genannt werden sollen hier etwa nur das IMST-Gender_Diversitäten Netzwerk (IMST bedeutet: Innovationen Machen Schulen Top), die Girls und Boys Days sowie die Genderkompetenzschulen (GeKoS-Schulen) – werden von Bund und Ländern auch fortlaufend Handreichungen und Leitfäden für Schulen und Lehrpersonen zu unterschiedlichen Gender-Themenschwerpunkten verfasst und/oder gefördert. Diese Handreichungen und Leitfäden können als Mischtexte bezeichnet werden, zumal sie teils Erklärungen von Anordnungen, teils Empfehlungen und/oder pädagogisch-didaktische Anregungen, Tipps zur Umsetzung in der Schule und/oder im jeweiligen Fachunterricht sowie praktische Übungen enthalten. Im Jahr 2018 kommt es durch die Bundesregierung Kurz I (ÖVP/FPÖ) zu einer Zäsur, der auch die österreichische Medienlandschaft Aufmerksamkeit schenkt. Im Zuge einer „Rechtsbereinigung“ (berichtet haben dazu z. B. derStandard 2018; Kurier 2018) wird der 1995 eingesetzte Grundsatzerlass aufgehoben und schließlich, nach einem durchaus beachtlichen medialen Echo, Ende des Jahres nach einer Überarbeitung unter dem neuen Titel „Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“ (BMBWF 2019, Rundschreiben Nr. 21/2018) wieder eingeführt. Diskursanalytisch gesprochen können sowohl die Einführung im Jahr 1995 als auch die Überarbeitung im Jahr 2018 als diskursive Ereignisse bezeichnet werden, die das Thema Geschlechterwissen und Schule als öffentlicher Diskurs in der Bevölkerung, aber auch als Spezialdiskurs unter Expert*innen (wieder) sichtbar werden ließen. Die Grundannahme des hier vorgestellten Promotionsprojektes ist dabei weiter, dass – abseits der medial-öffentlichen Diskurse und der Spezialdiskurse von Expert*innen etwa auf Tagungen und Konferenzen – auch das Wissen selbst als Diskurs von Expert*innen darüber, was Lehrer*innen und Schüler*innen über gesellschaftliche Geschlechter(un)gleichheit wissen sollten, zu lesen ist. Im nächsten Kapitel wird diese Annahme sowie das dazugehörige Forschungsprogramm näher erläutert und vorgestellt.

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4 Geschlechterpädagogische Materialien als diskursiven Wissensbestand der Schule verstehen, er- und beforschen: Forschungsvorgehen Wie bereits erwähnt wurde, setzen sich die Wissensbestände zu Geschlechterfragen für die Schule aus verschiedenen Materialtypen zusammen. Gearbeitet wird auf verschiedenen Ebenen mit verschiedenen Ansätzen, die jedoch alle – und das sind die Gemeinsamkeiten – 1. Geschlechterwissen (re)produzieren und 2. dabei durch gesprochene und geschriebene Sprache bzw. Aushandlungsprozesse aller beteiligten Personen (Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Gender-Expert*innen, Lehrer*innen, Elternvertreter*innen usw.) auf verschiedenen Ebenen (Schulforschung, Schulpolitik, Lehrer*innenbildung, Schulkultur und unterrichtliches Geschehen – siehe dazu Altrichter 2015) entsprechend diskursiv (wieder)hergestellt werden. Nun kommen folgende Grundannahmen ins Spiel: Gesellschaftliche Geschlechterfragen, mit Judith Butler (1990) in der weiteren Ausdifferenzierung als biologisches Geschlecht (sex), soziales Geschlecht (gender) sowie Sexualität und Begehren (desire) gedacht, unterliegen immer Aushandlungsprozessen, werden entsprechend sozial (re)konstruiert und manifestieren sich in Geschlechterwissen, einem Begriff, den Hannelore Bublitz (1998), Irene Dölling (2005) und Angelika Wetterer (2008) aufeinander bezugnehmend und einander ergänzend erweiter(t)en und präg(t)en. Mit der Herstellung von Wissen verhält es sich, diesen durchaus unterschiedlichen, aber auch verbundenen Denktraditionen folgend, ähnlich wie mit der Herstellung von Geschlecht an sich: Auch Wissen wird durch gesellschaftlichen Konsens konstruiert und in gemeinsamen Diskursen lauter oder leiser, medial mehr oder weniger stark beobachtet und repliziert bzw. (re)produziert. Diese mindestens doppelte oder mehrfache Perspektive auf die (Re-)Produktion von Geschlechterwissen einerseits, und auf gemeinsame, sprachliche Aushandlungsprozesse von Wissen allgemein andererseits, legt eine diskursive Annäherung an das Forschungsfeld nahe. Wird die Herstellung von Wissen zu Geschlechterfragen für die Schule zusammenfassend als Diskurs bzw. Spezialdiskurs begriffen und definiert, dann bietet sich die Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) als leitendes Forschungsprogramm besonders an. Die offene Herangehensweise, die ihr Begründer Rainer Keller propagiert, ermöglicht eine umfassende Betrachtung des sprachlichen Handlungsgeschehens und die damit verbundene politische, pädagogische und didaktische Ausgestaltung dieser. Über die Zusammenstellung und Sichtung der verschiedenen Materialien für die Schule wird auch ein Verständnis für

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die Gesamtsituation bzw. das gesamte diskursive Feld entwickelt. Für die anschließende, sorgfältige Analyse ausgewählter Dokumente bzw. wichtiger Diskursfragmente wird auf das methodische Repertoire der Grounded Theory (GT) zurückgegriffen, die Keller als forschungsverwandtes Programm wiederholt empfiehlt (vgl. Keller 2011) und die in diesem Fall auch gewinnbringend ist. Wie sich dieser Forschungsprozess entlang der WDA mit Hilfe der GT hier genau ausgestaltet, wird nachfolgend beschrieben. 4.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse als Perspektive und Forschungsprogramm Mithilfe der sozialwissenschaftlichen Diskusforschung ist eine grundsätzliche Annäherung möglich, zumal diese „gesellschaftliche Objektivierungsprozesse von Wissen, institutionalisierte Wissensordnungen, gesellschaftliche Wissenspolitiken, deren Aneignung durch soziale Akteure sowie die davon ausgehenden Wirklichkeitseffekte“ (Keller 2004: 65) untersucht. Erläutert werden muss, dass der Wissensbegriff, der häufig auch als Containerbegriff bezeichnet wird oder als Kategorie auftritt, innerhalb der Diskursforschung mit dem Begriff Diskurs verschwimmt, wenngleich diese Begriffe nicht gleichgesetzt werden: Ein Diskurs wird als Wissensfluss – „Fluss von Wissen durch die Zeit“ – beschrieben und definiert, der „nicht als Wahrheit verstanden […] [wird], sondern als Für-wahr- oder Für-richtig-Gehaltenes aller Arten von Gewusstem […]“ und ständigen Transformationen unterliegt (Bünger 2001: 605). Für die Analyse von geschlechterpädagogischen Wissenskonstruktionen der Schule über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg erscheint diese Forschungsperspektive aber nicht nur deshalb passend; Keller schreibt weiter: „Diskurse bilden ‚Welt‘ nicht ab, sondern konstituieren Realität in spezifischer Weise“ (Keller 2004: 63; Herv. im Original). Keller spricht daher auch von „Wissensordnungen“, die sich als Äußerungen, Aussagen und Argumente in „sprachlichen, bildlichen, handlungspraktischen oder materialen Formen“ (ebd. 65) manifestieren und sich so empirisch in den Blick nehmen lassen. Eine spezielle Perspektive innerhalb der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung, die zur Analyse von Wissen, Wissensverhältnissen, Wissensordnung und Wissenspolitiken entwickelt wurde, stellt dafür die bereits erwähnte Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) dar. Deren Begründer Rainer Keller sieht in oder mit der WDA die Beantwortung der Fragen „[…] welches Wissen, welche Gegenstände, Zusammenhänge, Eigenschaften, Subjektpositionen usw. durch Diskurse als ‚wirklich‘

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tet werden, mit welchen Mitteln – etwa Deutungsschemata, story lines, moralische und ästhetische Wertungen – dies geschieht, und welche unterschiedlichen Formationsregeln und -ressourcen diesen Prozessen zugrunde liegen“ (ebd. 68) nicht nur möglich, sondern beschreibt diese Wissensanalysen gleichzeitig als eine zentrale Aufgabe dieses Forschungsprogramms. Neben der perspektivischen Passung der WDA zur Frage nach Geschlechterwissen der Schule und dem damit verbundenem Datenmaterial erscheint noch ein weiterer Aspekt gewinnbringend: Die WDA setzt „multi-methodisch“ an, weshalb „die Auswahl der konkreten Erhebungs- und Analyseverfahren […] in Abstimmung mit den spezifischen diskurstheoretischen Grundannahmen und den Forschungsinteressen erfolgen [muss]“ (Keller 2004: 71) und diese so eine offene Herangehensweise an das Material sowie ein breite Erkenntnismöglichkeit eröffnet. Unter Berücksichtigung der Forschungsfrage wird nun der Forschungsprozess entlang der methodischen Empfehlungen von Keller (vgl. 2004: 81) skizziert. Er teilt sich in die Teilprozesse [A] Datenerhebung, [B] Datenaufbereitung sowie [C] Datenauswertung und erstreckt sich zum besseren Verständnis über dieses und das nächste Unterkapitel, zumal neben der WDA, wie bereits erläutert, auch auf Empfehlungen der GT zurückgegriffen wird – siehe Abbildung 3.

Abbildung 3: Vereinfachte Visualisierung des empirischen Forschungsprozesses (eigene Darstellung)

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[A] Datenerhebung: Textkorpus bestimmen und erstellen Diskursanalytische Forschung erfordert zunächst die Zusammenstellung eines Datenkorpus, aus dem in weiterer Folge Subdiskurse bzw. Wissensordnungen (hier zu Geschlecht) herausgearbeitet werden können. Diese Zusammenstellung ist nach Keller einerseits „Information über das Feld (Wissens- oder Informationsaspekt)“ und andererseits Dokumentation und „Rekonstruktion der Diskurse, ihrer Materialen sowie [der] sprachlichen Mittel und ihrer inhaltlichen Bedeutungen“ (ebd., 2004: 75). Ausgangs- und Eckpunkte für die Zusammenstellung eines Datenkorpus zum Diskurs Geschlechterwissen für die Schule waren drei sogenannte diskursive Ereignisse, in Form von drei öffentlichen Rundschreiben der jeweiligen Bildungsminister*innen an die nachgereihten Dienststellen: 1. Die Einführung des Grundsatzerlasses „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ im Jahr 1995 durch das Rundschreiben der Bundesministerin Elisabeth Gehrer Nr. 77/1995. 2. Die Aufhebung dieses Grundsatzerlasses aus dem Jahr 1995 im Jahr 2018 durch den Grundsatzerlass „Administrative Entlastung – Aufhebung von Rundschreiben und Erlässen“ durch das Rundschreiben des Bundesministers Heinz Faßmann Nr. 9/2018. 3. Die überarbeitete Wiedereinführung des Grundsatzerlasses von 1995 im Jahr 2018 mit der neuen Bezeichnung „Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“ durch Bundesminister Heinz Faßmann, Rundschreiben Nr. 21/2018. Für das Datenkorpus wurden zunächst alle didaktisch-pädagogischen Texte, d. h. Handreichungen und Leitfaden, recherchiert und gesammelt, die seit 1995 und damit seit der Einführung des Grundsatzerlasses entstanden sind. Wesentlich war die inhaltliche Passung, d. h. die Texte – Diskursfragmente – müssen in direktem inhaltlichem Zusammenhang mit dem zu beobachtenden Diskurs Geschlechterwissen für die Schule stehen, und für Schule, Lehrer*innen und Schüler*innen, also diese Zielgruppen bzw. Adressat*innen erstellt werden. Neben Adressat*innen wird in der Diskusforschung auch von Akteur*innen gesprochen, also jenen Personen, die sich aktiv am Diskurs beteiligen. Hier können entsprechend alle Autor*innen der Handreichungen und Leitfäden als Akteur*innen gewertet werden, zumal sie das Wissen in den Diskurs tragen und den Diskurs damit maßgeblich beeinflussen. Nach telefonischen und schriftlichen Rücksprachen mit dem Bildungsministerium sowie dem Publikationsshop des Ministerium wurde klar, dass keine vollständigen Aufzeichnungen über herausgegebene und/oder geförderte

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Publikationen und/oder Projekte, aus denen Publikationen mit finanzieller Unterstützung des Bildungsministeriums entstanden sein könnten, existieren. Dieser Problematik, kein vollständiges Datenkorpus anlegen zu können, wurde mithilfe umfassender Recherchen auf Online-Plattformen für Schulmaterialen (z. B. schule.at; imst.ac.at), der Sichtung verschiedener Literaturverzeichnisse und Bibliografien (Doris Guggenbergers Dokumentation war neben anderen hier wieder wichtige Orientierungshilfe) sowie einer Archivrecherche direkt im Bildungsministerium, um auch nicht digital verfügbare Materialien zu erfassen, so weit wie möglich begegnet. Wichtig waren während der Zusammenstellung des Datenkorpus auch die von Keller als „Hintergrundgespräche“ (Keller 2004) bezeichneten Informationen von Mitarbeiter*innen des Ministeriums und Expert*innen aus dem Bereich der schulpädagogischen Geschlechterforschung, die teilweise auch selbst Genderprojekte für Schulen initiieren und/oder Materialien herstellen. Da diese Gespräche nur zur Orientierung im Diskursfeld dienen, nicht aufgezeichnet wurden und keinesfalls als Interviews zu werten sind, werden die Gesprächspartner*innen weder namentlich genannt noch wird auf Informationen aus diesen Gesprächen direkt verwiesen. Erwähnt werden diese Gespräche jedoch, da sie während des Forschungsprozesses insgesamt zum Verständnis des Diskursgeschehens beitrugen und für die Einordnung der Materialien sehr hilfreich waren. [B] Datenaufbereitung: Textkorpus systematisieren und reduzieren Zunächst wird das Datenkorpus bzw. der dadurch sichtbar werdende Diskurs Geschlechterwissen für die Schule systematisiert. Da es sich um ein Datenkorpus handelt, das aus verschiedenen Publikationen besteht, wurde zuerst eine einfache Bibliografie erstellt. Parallel wurden alle Publikationen, die nicht bereits in digitaler Form verfügbar waren, digitalisiert und chronologisch sortiert in zwei Ordnern abgespeichert. Die Differenzierung in zwei Ordner sollte primär dabei helfen, nachvollziehbar zu halten, welche Publikationen nicht mehr in digitaler Form verfügbar sind, also z. B. letzte Einzelstücke (etwa aus dem Archiv des Bildungsministeriums oder aus Bibliotheken) entnommen wurden. Gegen Ende der Zusammenstellung wurde begonnen, die Aufbereitung noch weiter auszudifferenzieren, indem nach dem Vorbild anderer Korpora (z. B. Brandmayr 2017) eine Tabelle angelegt wurde, in der weitere Details zu den einzelnen Publikationen bzw. Diskusfragmenten festgehalten sind. Ziel ist es, am Ende auch eine einfache Laufnummer zu vergeben. Solange das Korpus jedoch erweitert wird, ist eine Nummerierung noch nicht sinnvoll. Abbildung 4 zeigt einen Tabellenauszug und die chronologisch angelegte Reihung der Texte.

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Abbildung 4: Auszug zur tabellarischen Datenaufbereitung des Datenkorpus Geschlechterwissen für die Schule (eigene Darstellung)

Mit der Zusammenstellung des Datenkorpus enden die Phasen Erhebung und Datenaufbereitung und damit vorläufig auch die Vorgehensweise entlang der WDA. Für das Erkennen, Auslesen und Ordnen der Wissensbestände in den Handreichungen und Leitfaden wird weiter auf methodische Überlegungen zu Kodierverfahren zurückggegriffen, deren Basis in der Grounded Theory zu verorten ist. 4.2 Grounded Theory – Wissensbestände freilegen zwischen Abduktion, Induktion und Deduktion Sara-Friederike Blumenthal und Stefan Sting (2020) besprechen die Grounded Theory in Band 1 der vorliegenden Reihe, weshalb an dieser Stelle auf diesen Beitrag hin- und verwiesen sei. Nachfolgend wird nur auf die „Auswertungspraxis nach der GT“ eingegangen, die Blumenthal und Sting als „Spannungsverhältnis zwischen Induktion und Deduktion“ (ebd. 92) fassen. Diese Auswertungspraxis kann zusammenfassend als zirkuläre Abfolge offener, axialer und selektiver Kodierprozesse beschreiben werden, wie sie beispielsweise Günther Mey und Katja Mruck für die Grounded­Theory­Methodologie (GTM) (Mey & Mruck 2009) diskutieren.

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[C] Datenauswertung Entlang der Grounded Theory (Glaser/Strauss 2005 [1967]) und des (1) offenen Kodierens (vgl. Strübing 2014: 16) werden aus dem Datenkorpus, das den Diskurs Geschlechterwissen für die Schule trägt, zunächst erste Wissensordnungen bzw. Subdiskurse herausgearbeitet (z. B. die Wissensordnung bzw. der Subdiskurs Mädchen und die MINT­Schulfächer), die Strauss und Corbin (1996: 94 zitiert nach Strübing 2014: 18) als „Schlüssel-“ oder „Kernkategorien“ („core categories“) bezeichnen (siehe auch Strauss/Corbin 1996, Übersetzung ins Deutsche). Dies geschieht zunächst über die Analyse von Titelseite, Impressum und Inhaltsverzeichnis der Handreichungen und Leitfäden. Dabei können gleichzeitig auch Akteur*innen (Autor*innen der Leitfäden) der einzelnen Subdiskurse und die sich daraus eventuell ergebenden Diskurskoalitionen (z. B. Vernetzung zwischen Autor*innen durch Netzwerke wie IMST) sichtbar gemacht werden. In weiteren Schritten können durch (2) axiales Codieren „Beziehungen zwischen Konzepten“ (Strübing 2014: 16) bzw. Wiederholungen im Diskurs (vgl. Keller 2004) ausgelotet werden (z. B. mehrere, verwandte oder ähnliche Publikationen zum Thema Mädchen und die MINT­Schulfächer). So kann sich zeigen, welche Wissensordnungen bzw. welche Subdiskurse stärker und schwächer sind – und am Ende auch die Frage gestellt werden, welche im Vergleich zu gesellschaftlichen Gender-Diskursen gänzlich fehlen. Die gesamte Datenauswertung wird mit der Software MAXQDA durchgeführt, da diese nicht nur eine qualitative, sondern auch quantitative und visuelle Text- und Bildanalyse möglich macht, auf Grundannahmen der GT entwickelt wurde und an dieser Stelle eine übersichtliche Auswertung gewährleistet. Eine einfache, quantitative Darstellung der Daten mittels Excel soll zusätzlich helfen, den qualitativen Auswertungsprozess zu unterstützen. Für die Feinanalyse bzw. das (3) selektive Kodieren wird in weitere Folge eine, für die jeweiligen Subdiskurse repräsentative, Textauswahl herangezogen. Ziel dieser abschließenden Feinanalyse ist es, durch das „Kodieren“, verstanden als „Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material“ (Strübing 2014: 16), auf Wissenskonzepte des österreichischen Bildungssystems hinsichtlich Geschlechterwissen schließen zu können. Kodiert wird ein „großer Teil des Materials […], um die Beziehungen der verschiedenen gegenstandsbezogenen Konzepte zu den Kernkategorien zu klären und eine theoretische Schließung herbeizuführen“ (Strübing 2014: 17). Angesichts der Materialfülle im Datenkorpus muss besonders für die Feinanalyse eine sinnvolle Auswahl getroffen werden, die jedoch nicht zufällig ist. Blumenthal und Sting (2020: 91) verweisen hier mit Strübing (2014)

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darauf, dass „Erhebung, Analyse und Auswertung als Prozess offen und nicht abschließbar sind, eine vollständige theoretische Sättigung also auch unter idealen Forschungsbedingungen nicht erreichbar ist.“ Auch Rainer Keller bezieht sich in seiner Ausführung zur WDA auf das Problem der Datenfülle und verweist als Hilfestellung während des Auswertungsprozesses auch auf Zusammenstellungen grundlegender Kodierfragen, die im Rahmen des selektiven Kodierens dabei unterstützen können, schlussendlich „das Hauptproblem“ in den Blick zu nehmen und die „auffallendsten“ Aussagen zu prüfen (vgl. Keller 2004: 100). Diese Hinweise von Keller für die WDA können mit Empfehlungen der GT verglichen werden, Memos anzulegen, um den Forschungsfokus beizubehalten (vgl. Strübing 2014).

5 Erste Einblicke in Auswertung und Erkenntnisse Wesentlich erscheint zunächst die Feststellung, dass eine (Be-)Wertung der Lehr-, Lern- und Wissensinhalte der Schule zu Geschlechterfragen nicht das primäre Ziel dieser Forschung ist. Vielmehr steht eine grundsätzliche Analyse und Einordnung der Wissensbestände zu Geschlechterfragen im österreichischen Bildungssystem im Mittelpunkt. Weiter erscheint die Zusammenschau der sich durch den Forschungsprozess ergebenden strukturellen gender- und schulpolitischen Fragen wichtig. Da die Auswertung noch nicht abgeschlossen ist, sollen hier vorläufig nur beispielhaft einige Phänomene angeführt werden, die sich bereits aus den Materialien herauslesen lassen. Folgendes ist bereits zu beobachten: Diskursverlauf: stärkere und schwächere Phasen Durch die chronologische Ordnung der Diskursfragmente (Materialien im Datenkorpus) wird sichtbar, dass es zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich viele oder wenige Veröffentlichungen gab. Das lässt den Schluss zu, dass Handreichungen und Leitfaden bzw. Diskursfragmente nur unregelmäßig produziert werden. Im Abgleich mit Doris Guggenberger (2017), die jeweils nach Jahrzehnten gebündelte „Aktionsfelder“ ausweist, muss überlegt werden, inwieweit medial-öffentliche, diskursive Ereignisse auch zu mehr oder weniger Aktion(en) bzw. Interesse an der Wissensproduktion bzw. der Wissensvermittlung von Geschlechter(un)gleichheitsfragen in der Schule führen.

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Diskursfragmente und Adressat*innen Festzustellen ist, dass Materialien tatsächlich für alle Ebenen im Schulsystem hergestellt werden. Daraus lassen sich auch die jeweiligen Adressat*innen bzw. Zielgruppen ablesen. Ausgelesen werden konnten: a. Handreichungen für die Hochschulen bzw. für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrer*innen und Erzieher*innen, die sich entsprechend an Studierende und Hochschullehrpersonen richten; b. Leitfäden für gendersensiblen Unterricht entsprechend der Schulstufe (Primarstufe, Sekundarstufe I und II bzw. für die Berufsschulen), deren Adressat*innen primär Lehrer*innen der jeweiligen Schulstufen sind; c. Leitfäden für gendersensiblen Fachunterricht, z. B. gendersensibler MINTUnterreicht, die für Lehrer*innen der jeweiligen Fächer gedacht sind, und als gender-didaktische Ratgeber verstanden werden können; d. Handreichungen für überfachliches Unterrichtsgeschehen, z. B. Gendersensible Leseförderung, die damit zwei überfachliche Unterrichtsprinzipien miteinander verbinden, und Schulleiter*innen, Multiplikator*innen sowie alle Lehrer*innen gleichermaßen ansprechen; e. Weitere. Subdiskurse: stärkere und schwächere Diskursstränge Es kann bereits gesagt werden, dass einige Themen, wie beispielsweise geschlechtergerechte/gendersensible Sprache oder Mädchen und MINTFächer, im Laufe der Jahre wiederholt Eingang in publizierte Handreichungen und Leitfäden gefunden haben, während anderen Themen, wie etwa geschlechterspezifische Gewalt an Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, die auch sichtbar werden, weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diskursanalytisch übersetzt kann entsprechend abgeleitet werden, dass innerhalb des Diskurses Geschlechterwissen für die Schule, Subdiskurse zu verorten sind, die stärker und schwächer ausgeprägt sind. Angemerkt werden kann auch, dass sich derzeit noch keine eigenständigen Publikationen bzw. Handreichungen oder Leitfäden zu LGBTIQ* finden lassen. Dieser Subdiskurs dürfte innerhalb der Schule als Schlussfolgerung entsprechend schwach, leise oder (noch) gar nicht vorhanden sein.

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6 Fazit und Ausblick Welche Erkenntnisse sind nun auf welcher Ebene zu erwarten und wie können diese genutzt werden? Wie Abbildung 5 zeigt, erfolgt durch die Zusammenstellung eines Datenkorpus und die diskursanalytische Auswertung unter Zuhilfenahme der GT während der Auswertung eine Zusammenstellung aller (noch verfügbaren) pädagogisch-didaktischen Materialien, die über das Bildungsministerium zu Geschlechterfragen für die Schulen produziert wurden. Damit werden diese Ressourcen (Income) erstmals gesammelt und über eine Bibliografie auch chronologisch geordnet und sichtbar (Output).

Abbildung 5: Erkenntnissinteresse, Teilfragen und Ziele des Projektes (eigene Darstellung)

Durch diese Sichtbarmachung können gleichzeitig auch die Wissensordnungen ausgelotet werden. Die Aufbereitung dieser Daten kann an das Promotionsprojekt anschließend – und damit ist auch ein Ausblick gewagt – auch für Schulen, Lehrer*innen und Schüler*innen einen praktischen Nutzen haben, indem dieses in der Literatur auch als „ignored“ oder „dark knowledge“ bezeichnete Wissen z. B. über eine sogenannte „knowledge map“ transparent gemacht und etwa auf einer grafisch nutzer*innenfreundlich-aufbereiteten Online-Plattform zur Verfügung gestellt werden kann (Outcome). Schließlich bleibt noch die Frage nach einer gesellschaftlichen Wirkung, die in der Wissenschaft auch als Third Mission bezeichnet wird (Impact) und mit

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der sich der Kreis zur den einführenden Kapiteln dieses Beitrags schließt. Dort wurden gesellschaftliche Problemlagen in Zusammenhang mit Bildung und Geschlechter(un)gleichheit angesprochen, denen – so die These – entsprechend auch durch (gezieltere) Wissensvermittlung entgegnet werden könnte. Das hier vorgestellte Promotionsprojekt will dazu einen Beitrag leisten. Als Verfasserin dieses Beitrags und außerdem Gutachterin von Vorwissenschaftlichen Arbeiten und Diplomarbeiten im Rahmen der Zentralmatura zu Genderthemen (siehe dazu possanner@school-Preis für herausragende Vorwissenschaftliche Arbeiten an AHS und Diplomarbeiten an BHS zu den Themenbereichen Gleichstellung/Geschlechtergerechtigkeit/Geschlechterforschung des BMBWF) kann ich – und damit sei mir ein persönlicher Ausblick erlaubt – beobachten, wie Schüler*innen in diesen Abschlussarbeiten den Wissensmangel hinsichtlich Geschlechterfragen tatsächlich selbst beklagen und diese schulischen Forschungsprojekte auf dem Weg zum Abschluss der Sekundarstufe II zum Teil als Chance nutzen, um sich mit gesellschaftlichen Genderthemen zu beschäftigen. Die Reflexionen und Resümees der Schüler*innen zeugen davon, dass Erziehungs- und Bildungsanliegen zu Geschlechterfragen auch notwendige Zukunftsfragen sind, auf die das Bildungssystem besser vorbereiten könnte.

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III. AUDIOVISUELLE MEDIEN IN DER FORSCHUNGSPRAXIS

Audiovisuelle Lebenswelten – audiovisuelle Methoden1 Peter Holzwarth

Keywords: Visuelle Methoden, Selbstnarrationen, Social Media, Speaking positions, Forschungsethik

1 Potenziale visueller Methoden Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält. Max Frisch – Mein Name sei Gantenbein (1964: 45) Das Leben in unserer Gegenwart wird längst nicht mehr nur erzählt, sondern vor allem auch fotografiert und gefilmt. (Schroer 2010: 283) Die Arbeit mit visuellen Anreizen ist zum Beispiel dort angezeigt, wo die Befragten über unterschiedliche bzw. ungenügende Sprachkompetenzen verfügen, um sich präzise und klar zu äußern. (Moser 2015: 171) Selbstnarrationen vollziehen sich nicht nur auf sprachlicher Ebene (vgl. Keupp 2017), Subjekte konstruieren sich auch auf der visuellen Ebene – in Form von visuellen Selbstnarrationen (Holzwarth 2008, Kramer 2020b). Selfies und Fotografien auf Social Media stellen in diesem Kontext populäre Ausdrucksfelder dar (vgl. Götz 2019). Auch audio-visuelle Formen der Selbstnarration 1

Eine frühere Version des Beitrags erschien unter dem Titel „Visuelle Methoden“ (Holzwarth 2019) im „Handbuch Inklusion und Medienbildung“ (Bosse et al. 2019). Er wurde aktualisiert und erweitert.

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spielen mehr und mehr eine Rolle – sowohl in pädagogischen Kontexten als auch außerhalb von Bildungsinstitutionen. Viele junge Menschen nutzen Social Media und produzieren kurze Videofilme im 16:9-Hochformat (z. B. „TikTok“, „Instagram Reels“ oder „YouTube Shorts“). In der diskursiv orientierten Welt der qualitativen Forschung haben visuelle Methoden an Bedeutung gewonnen (vgl. Prosser 1998; Banks 2001; Rose 2001; Pink 2001; Harper 2000; Niesyto 2001; Ehrenspeck/Schäffer 2003; Horworth 2003; Moser 2005; Marotzki/Niesyto 2006; Holzwarth 2006; Gauntlett 2007; Neuss 2017; Mikos 2017; Niesyto 2017, 2018; Moritz/Corsten 2018; Kramer 2020a, 2020b; Kolb 2021). Das liegt zum einen daran, dass sich die technischen Bedingungen zunehmend vereinfacht haben. Es ist jedoch auch schon seit Längerem von einer Zunahme der Bedeutung des Visuellen auszugehen. Kramer macht dies für den Bereich Identitätskonstruktion im Jugendalter deutlich: Vor dem Hintergrund des mediatisierungs- und visualisierungsbedingten Wandels adoleszenter Alltagskommunikation (vgl. Reißmann 2015) ist davon auszugehen, dass sich diese Selbstthematisierung und -präsentation der eigenen Identität in besonderem Maße über visuelle Kommunikationsmedien vollzieht (Kramer 2020a: 4 u. 5). Für immer mehr Fragestellungen ist es wichtig geworden, nicht-sprachliche Erfahrungsdimensionen der Subjekte zu berücksichtigen. Dies kann auch dann besonders ertragreich sein, wenn es sich um die Exploration von Lebenswelten handelt, die von den Forschenden als „fremd“ empfunden werden (z. B. Menschen aus bildungsbenachteiligenden Milieus; vulnerable Gruppen; Menschen mit Behinderung; Menschen, die eine andere soziokulturelle Sozialisation erfahren haben; Geflüchtete; Menschen, die neue audio-visuelle Ausdrucksformen nutzen). Wenn Menschen in Forschungskontexten nicht nur befragt oder beobachtet werden, sondern (auch) die Möglichkeit bekommen, sich über visuelle oder audiovisuelle Medien auszudrücken, können sich zahlreiche Möglichkeiten für die Forschung, aber auch für die beteiligten Subjekte, ergeben (vgl. Holzwarth 2008): Durch die Produktion von Medien im Forschungskontext kann eine Atmosphäre wechselseitigen Gebens und Nehmens entstehen. Die Forschenden bekommen Einblicke in Lebenswelten und erhalten Daten – die Teilnehmenden entwickeln Medienkompetenzen, gewinnen neue Einsichten über sich selbst und können mediale Produkte mit nach Hause nehmen. Die aktive Produktion von Medien im Forschungsprozess kann auch auf individueller und gesellschaftlicher Ebene Bedeutung gewinnen. Das Arbeiten

Audiovisuelle Lebenswelten – audiovisuelle Methoden

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mit Medien eignet sich besonders gut für die Bewusstmachung und Weiterentwicklung von sozialen Kompetenzen und persönlichen Ressourcen (vgl. Holzwarth 2022; Holzwarth et al. 2019). Im Kontext von Projekten können die eigenen Stärken erkundet und für sich selbst und andere sichtbar und wertschätzbar gemacht werden. Über die Erstellung von Medienprodukten und das Beherrschen von Mediengeräten kann Selbstwirksamkeit erfahren werden, die Teilnehmenden können sich als aktiv partizipierende Gestalter ihrer Lebenswelt erleben. Anhand von Fotografien oder Videos können die neuen Erfahrungen konkret manifestiert und einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Durch Ausstellungen und durch die Publikation von Forschungsergebnissen können unterschiedliche Teilöffentlichkeiten über die Themen der Teilnehmenden informiert werden. Durch das Arbeiten mit visuellen Materialien kann eine hohe Subjektnähe entstehen und Forschende bekommen einen privilegierten Zugang zu Lebenswelten (heuristische Funktion). Über ein Fotoprojekt stoßen sie beispielsweise auf Themen, die sie ansonsten im Rahmen traditioneller qualitativer Interviews nicht berührt hätten. Bei der Produktion von Medien haben die Subjekte die Möglichkeit, im Forschungsprozess mitzubestimmen („negotiation“); der Prozess kann eine Aktivierung der Subjekte und Empowerment bedeuten. Über die medialen Produkte kann auch eine Öffentlichkeit für die Themen und Anliegen der Subjekte geschaffen werden („give them a voice“). Visuelle Methoden sind manchmal eine einfachere Art, schwierige oder problematische Lebensaspekte auszudrücken, weil sie ohne Worte auskommen und verschiedene Dinge auch indirekt zum Ausdruck gebracht werden können. Bei Subjekten mit sprachlichen Einschränkungen kann das Visuelle eine alternative oder ergänzende Form des Ausdrucks darstellen. Für viele Menschen spielen Medien im Alltag eine große und wichtige Rolle, Medien in der Forschung können so eine starke Lebensweltorientierung bedeuten und Subjekte auch für die Teilnahme an einem Forschungsprojekt motivieren. Erfahrungen zeigen auch, dass bei minderjährigen Teilnehmenden die Eltern über den Aspekt der Medienkompetenz-Vermittlung gewonnen werden können.

2 „Speaking positions“ in Forschungsprojekten Jedes Forschungsprojekt, das den Subjekten die Produktion oder die Thematisierung von visuellen bzw. audiovisuellen Materialien ermöglicht, lädt die Teilnehmenden ein, sich auf eine bestimmte Art und Weise auszudrücken – es

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legt eine „speaking position“2 für die Teilnehmenden nahe. Es ist von großer Bedeutung, ob ich in einem Projekt als Migrant*in sprechen soll oder als Mensch mit einer körperlichen Behinderung, als eine, die ihre belastenden Erfahrungen kommunizieren und verarbeiten soll, als Expert*in für Migrationserfahrungen, ob ich als Rapper*in sprechen soll, als Bewohner*in des Berliner Stadtteils Neukölln, als junge Frau, als junge Syrer*in, als Jugendliche*r oder als Expert*in für Kurzfilme aus Social Media. Die jeweiligen „speaking positions“ können sich durch die Art der Ansprache, durch die Setzung von Themen, aber auch durch die Aneignungsweisen der Teilnehmenden ergeben. Im folgenden Zitat reflektieren Liesbeth de Block und David Buckingham, welche „speaking positions“ im Rahmen des internationalen EU-Praxisforschungsprojekts CHICAM (Children in Communication About Migration) angeboten wurden und welche Ambivalenzen damit verbunden waren: In a sense, we could not avoid constructing the children as representatives of the broader category of ‘migrant’ – even though this was only one facet of their identities. The danger here was of ‘othering’ – and, in the process, of exoticising or merely patronising – some essentialised ‘migrant’ experience, albeit in the interests of making it publicly visible. Moreover, the children did not necessarily want to be seen primarily as migrants or to speak from that position and some attempted quite strongly to disavow it. […] ‘Speaking as a migrant’ was therefore the very last thing many of them would have wanted to do. For these reasons, our aim of enabling the children to represent and express perspectives that were specific to the migrant experience was quite problematic (de Block/Buckingham 2007: 174). Um zu vermeiden, dass Menschen aus bildungsbenachteiligten Milieus auf bestimmte Rollen festgelegt bzw. Klischees über sie reproduziert werden, bietet es sich an, in Bezug auf die visuellen und verbalen Ausdrucksmöglichkeiten, eine möglichst große Auswahl an möglichen Identitätsentwürfen zuzulassen.

2

„Speaking position“ sollte in diesem Zusammenhang nicht wörtlich genommen werden, im Sinne einer sprachlichen Äusserung, sondern in einem weiteren Horizont von verbalen und nonverbalen Formen des Selbstausdrucks.

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3 Formen visueller Forschung People think about things differently when making something, using their hands – it leads to a deeper and more reflective engagement (Gauntlett/Holzwarth 2006: 7). Auf einer sehr einfachen Ebene kann unterschieden werden, ob mit stehenden oder bewegten Bildern gearbeitet wird (Fotografie, Video oder beides).3 Auf einer anderen Ebene ist zu differenzieren, ob die Subjekte im Rahmen der Forschung zu Eigenproduktionen mit Medien (vgl. Niesyto 2007; Holzwarth/Niesyto 2007 u. 2008; Niesyto 2014) angeregt werden oder ob es um selbstproduzierte Materialien gehen soll, die außerhalb des Forschungskontextes entstanden sind oder entstehen sollen. Eine weitere Variante besteht in der medienpädagogischen Unterstützung – Medienproduktionen können mit oder ohne medienpädagogischen Support entstehen. Auch Medienproduktionen, die nicht von den Subjekten selbst gemacht worden sind, können Gegenstand der Forschung sein. Produktionen können im Rahmen von pädagogischen Institutionen entstehen oder unabhängig davon. Nach dieser Darstellung (vgl. Tabelle 1) ergeben sich verschiedene Dimensionen (1 bis 18), die im Rahmen eines Projekts auch kombiniert werden können: Ein Forschungsprojekt über Instagram/TikTok-Kurzfilm-Praktiken beispielsweise könnte sich auf die bereits bestehenden Filme der Teilnehmenden beziehen (11). Es könnten den Subjekten jedoch auch Kurzfilme von anderen Menschen aus dem Internet zur Diskussion vorgelegt werden (14) (weitere Forschungsszenarien siehe Abschnitt 5). Eine weitere Unterscheidungsdimension kommt in folgender Frage zum Ausdruck: Haben die visuellen Materialien (Bilder/Videos) eher eine dienende Funktion zur Erleichterung von Interviews („photo-elicitation“, vgl. Hurworth 2003) oder geht es auch um die Erhebung und Auswertung von visuellen und verbalen Daten?

3

Gauntlett hat das Spektrum der visuellen Ausdrucksmöglichkeiten im Rahmen seiner Forschung um Zeichnungen, Lego-Identitätsmodelle (https://youtu.be/LtS24lqluq0) und Identitätsarrangements mit Objekten erweitert (https://youtu.be/amWYt9TxbHE) [Zugriff: 22.7.2021].

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Fotografie

Video

Fotografie und Video

Eigenproduktionen – innerhalb des Forschungskontexts ohne Unterstützung bei der Medienproduktion

1

2

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Eigenproduktionen – innerhalb des Forschungskontexts mit Unterstützung bei der Medienproduktion

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Eigenproduktionen – außerhalb des Forschungskontexts im Rahmen von schulischen oder außerschulischen Bildungsinstitutionen

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Eigenproduktionen – außerhalb des Forschungskontexts, unabhängig von schulischen oder außerschulischen Bildungsinstitutionen

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Produktionen, die nicht von den Subjekten selbst gemacht wurden (z. B. vorgefundene Filme auf Social Media)

13

14

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Professionelle Produktionen (z. B. Werbeanzeigen, Werbefilme, Musikvideos)

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Tabelle 1: Verschiedene Dimensionen der Nutzung visueller Medien in der Forschung

4 Gedanken zur Auswertung Bei der Auswertung von Forschungsdaten ist das Phänomen der Bedeutungsoffenheit des Visuellen zu beachten (vgl. Marotzki/Niesyto 2006). Allzu schnell kann es passieren, dass Forschende zu einer Deutung gelangen, die nicht durch Kontextinformationen abgesichert werden kann. In solchen Fällen kann es sein, dass im Sinne einer Projektion mehr über die forschende Person und ihren sozio-kulturellen Hintergrund selbst zum Ausdruck kommt als über den Forschungsgegenstand: „Was Paul über Peter sagt, sagt mehr über Paul als über Peter“. In einer anderen Variante hat es Anaïs Nin zum Ausdruck gebracht: „We don’t see things as they are, we see them as we are”. Das folgende Beispiel zeigt, wie Deutungen der Forschenden durch die Perspektive der Produzierenden relativiert bzw. korrigiert werden können (vgl. auch Moser 2005): Wie wichtig das Kommentieren von Bildern ist, kann an einem Beispiel deutlich gemacht werden. So hatte ein 13-jähriges Mädchen sein

Audiovisuelle Lebenswelten – audiovisuelle Methoden

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Kinderzimmer fotografiert und vor allem das Fenster mit Vorhängen aufgenommen, die den Blick nach draußen verhüllten. Sehr schnell kamen Vermutungen der Interpreten auf, dass es sich um ein Einzelkind handle, das sich im Zimmer geborgen fühlt und die Notwendigkeit noch ablehnt, das Elternhaus langsam zu verlassen. Mehrere Bilder der Fotoserie schienen diese Interpretation zu stützen. Eine Befragung des Mädchens ergab allerdings eine ganz andere Sicht: Die Dreizehnjährige erzählte nämlich, dass sie vergessen habe, die Fotoserie termingerecht zu erledigen. Deshalb habe sie am Morgen des letzten Tages schnell einige Bilder von ihrem Zimmer geknipst, und da seien die Vorhänge noch zugezogen gewesen. Trotzdem kann man sich fragen, ob mit dieser Erklärung die ursprüngliche Interpretation schon gänzlich widerlegt ist. (Moser 2015: 177) Auch Gauntlett warnt vor spekulativen Deutungen und betont, dass es extrem wichtig ist, die Produzierenden im Deutungsprozess selbst zu Wort kommen zu lassen (Gauntlett/Holzwarth 2006). Meines Erachtens ist es gewinnbringend, drei Elemente im Deutungsprozess zusammenzuführen (vgl. Abbildung 1): das Wissen und die Erfahrungen der forschenden Person(en), das Wissen und die Erfahrungen der Forschungssubjekte (Expert*innen der eigenen Lebenswelt) und das Wissen und die Erfahrungen von externen Expert*innen. Expert*innenstatus der Forschenden – Forschungserfahrung – allgemeines themenbezogenes Wissen und theoretischer Hintergrund – höherer Grad an Reflexivität

Zusammenführung von Wissensformen und Kompetenzen im Forschungsprozess (Synergie)

Expert*innenstatus der Subjekte – Expert*innen der eigenen Lebenswelt – spezifisches lebenspraktisches Wissen – geringerer Grad an Reflexivität

Expert*innenstatus externer Informant*innen (aus dem Milieu der Subjekte) Expert*innen kultur- und milieuspezifischer Lebenswelten Spezifisches, lebenspraktisches Wissen

Abbildung 1: Wissensformen und Kompetenzen im Deutungsprozess

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5 Mögliche Forschungsszenarien und Erkenntnisinteressen am Beispiel von Selfies und Kurzfilmen auf Social Media (Instagram, TikTok, Youtube Shorts) Das Visuelle in seinem permanenten Prozess der Veränderung zu erforschen wird in einer Welt der Bilder, in der Kinder und Jugendliche über das Internet mit immer neuen Fotografien versorgt werden und dort selber solche einspeisen, immer nötiger (Pilarczik/Miezner 2003: 34). Wie bereits erwähnt, werden audio-visuelle Formen der Identitätskonstruktion und Selbstnarration immer populärer. Im Folgenden werden mögliche Erkenntnisinteressen und Themen in Bezug auf hochformatige Kurzfilme (TikTok, Instagram Reels, YouTube Shorts) skizziert: • Welche Möglichkeiten der Erstellung, Veränderung, Distribution (Upload und Teilen) und Kommentierung von Bildern bietet das jeweilige Medium? • Welche Themen findet man vor (z. B. körperbezogene Selbstdarstellungen, Playback-Darstellungen, Erklärfilme, Challenges, Gesellschaftskritik, Kritik an Social Media, Body Positivity, Humor etc.)? • Wie repräsentieren sich Minderheiten (z. B. Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationserfahrung, Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität)? • Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von männlicher und weiblicher Selbstdarstellung? • Welche filmsprachlichen Besonderheiten sind anzutreffen (z. B. Handy auf Autofelge geklebt, Handy an Ventilator befestigt, Match-Cuts)? • Welche Filter und Effekte werden benutzt, welche potenziellen Wirkungen können damit erzielt werden? • Welche Chancen und Risiken der Selbstdarstellung ergeben sich aus der Perspektive der Nutzenden (z. B. Chance für Anerkennung aus der PeerGroup vs. Angst vor Negativkommentaren)? • Welche Funktionen haben die Aktivtäten für die Nutzenden (z. B. Identitätskonstruktion, soziale Aushandlung von Selbstnarrationen, Spiel mit Rollen und Identitätsentwürfen, Experimente mit Inszenierungsmöglichkeiten, Beziehungspflege, Erfahrungen mit Feedback und Anerkennung jenseits von räumlich nahen sozialen Beziehungen, Biografiearbeit, Spaß)? • Sind sexuell aufgeladene Formen der Selbstdarstellung als Selbstermächtigung oder als riskante Selbstsexualisierung zu deuten (vgl. Völcker/Bruns 2018; Götz 2019a)? Welche Perspektive nehmen junge Nutzende ein?

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213

Welche Potenziale haben Freizeitfilmaktivitäten auf Social Media für Film- und Medienbildung in den Bereichen Schule und außerschulische Bildungsarbeit?

Diese und andere Themen lassen sich im Kontext unterschiedlicher Forschungsszenarien erheben (vgl. Tabelle 1 oben): • In einem Interview werden die Subjekte gebeten, ihre Lieblingsselfies (von sich selbst) bzw. Lieblingskurzfilme auf ihrem Handy zu zeigen und zu erläutern (vgl. Hiltebrand 2021, Götz 2019b, Kramer 2020a, 2020b). • In einem Interview bekommen Subjekte Filme oder Screenshots von Influencerinnen und Influencern gezeigt mit der Bitte, ihre Einschätzungen zu geben und diese zu erläutern (vgl. Hiltebrand 2021). • Im Rahmen einer medienethnografischen Forschung bekommen die Subjekte die Möglichkeit, Fotos oder Filme über ihre Lebenswelt zu machen (vgl. Holzwarth 2008). • Subjekte bekommen im Kontext eines Interviews über Schönheitsideale Werbebilder oder Webeclips gezeigt bzw. Selbstdarstellungen von Influencerinnen und Influencern. • Im Rahmen eines Forschungssettings, das an einer Schule angesiedelt ist, bekommen die Subjekte vor der Produktion von Fotos oder Videos auch eine medienpädagogische Einführung (vgl. Niesyto et al. 2007). • Die Forschenden könnten die Subjekte bitten, während eines Interviews eine typische Selfie-Situation zu zeigen und den Foto-/Filmprozess durchzuspielen (Kameraperspektive, Posen, Filter und andere Nachbearbeitungsmöglichkeiten).

6 Ethische Fragen Sowohl bei verbalen als auch bei visuellen und audiovisuellen Daten stellen sich ethische Fragen im Kontext von Forschung auf verschiedenen Ebenen:4 1. Verantwortung der Forschenden für die Einhaltung professioneller Standards; 2. Schutz der Privatsphäre und Anonymität der Forschungssubjekte; 3. Transparenz und Offenheit in Bezug auf Forschungsziele und Veröffentlichung von Informationen;

4

Dieser Abschnitt erschien auch im Beitrag „Hinweise zur Gestaltung mediengestützter Forschungsprojekte von Studierenden“ (Holzwarth/Niesyto 2007).

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Peter Holzwarth

4. verantwortungsvoller Umgang bei der Aufbewahrung und Weitergabe von Daten; 5. Schutz vor seelischer Verletzung im Prozess der Datenerhebung (bei sehr persönlichen Themen wie Tod, Sexualität, Beziehungen, Krankheit etc.); 6. Verantwortung in Bezug auf die Produktion sozialer Wirklichkeit: Wie kann z. B. vermieden werden, Stereotype und Vorurteile auf wissenschaftlicher Ebene zu reproduzieren und zu legitimieren? Wie kann verhindert werden, dass Menschen durch Forschung auf bestimmte Merkmale reduziert und als Sondergruppe konstruiert werden? 7. Verantwortung in Bezug auf die Wirklichkeitskonstruktion durch Sprache (z. B. gender- und differenzsensible Sprache) Bei der Arbeit mit visuellen Materialien im Kontext von Forschung stellt sich das ethische Problem vor allem bei der Anonymisierung. Während bei Textmaterial das Wiedererkennen einer speziellen Person leicht durch die Änderung von Namen und Orten verhindert werden kann, ist der Schutz der Privatsphäre bei Bild und Film weitaus schwieriger. In manchen Kontexten kann es sinnvoll sein, die Gesichter von Personen unkenntlich zu machen (vgl. Kramer 2020a: 22). Oft sind jedoch gerade Gesichtsausdruck, Mimik und Blicke für die Interpretation von Bedeutung. Zu unterscheiden ist einerseits die Ebene der formalen Einwilligung für die Veröffentlichung von Bildmaterial, die Forschungssubjekte oder Erziehungsberechtigte durch Unterschriften geben, und andererseits die Ebene der Forschungsethik. Beide Ebenen sind zu berücksichtigen. Forschende sollten ein Höchstmaß an Transparenz gewährleisten und die Forschungssubjekte über die Ziele der Forschung informieren. Diese Forschungshaltung wird unter dem Schlagwort, „informed consent“ diskutiert. Vor allem bei Praxisforschungsprojekten, die Impulse für verschiedene politische, pädagogische und soziale Kontexte geben wollen, stehen sich zwei konkurrierende Prinzipien gegenüber: Schutz der Privatsphäre und Anonymität einerseits und Forschung, Dokumentation und Öffentlichkeit andererseits. Die am Forschungsprozess Beteiligten sollten so präzise wie möglich abschätzen, ob die Forschung Subjekten in irgendeiner Form schaden könnte und in welchem Fall dem einen oder dem anderen Prinzip Vorrang einzuräumen ist. Für solche Entscheidungen sind Kenntnisse über den sozialen und kulturellen Kontext von großer Bedeutung. Nicht immer können alle Daten für die Auswertung und Publikation genutzt werden. In bestimmten Kontexten ist es notwendig, zu persönliche oder zu private Informationen (sprachliche oder bildliche) auszuklammern. Teilweise kann es Sinn machen, den Forschungssubjekten Einblicke in geplante Veröffentlichungen zu geben (als eine Form kommunikativer Validierung) oder in adäquater Form Ergebnisse

Audiovisuelle Lebenswelten – audiovisuelle Methoden

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zurückzuspiegeln (mündliche Vermittlung bzw. Projektergebnisse in Schriftform zugänglich machen).

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Gezeigt – erlebt – erzählt: Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien Triangulation in der visuellen Biografieforschung Elisabeth Mayer

Keywords: Triangulation von visuellen und narrativen Daten, Visuelle Biografien, Soziale Medien, Biografische Fallrekonstruktion, interpretativrekonstruktive Sozialforschung

1 Einleitung Mit dem vermehrten Posten von Fotos in Sozialen Medien stellen sich die Fragen, inwieweit die zunehmend bildbasierte Kommunikation in biografische Konstruktionsprozesse eingebettet ist und wie diese über Bildinhalte als auch Bildpraktiken sichtbar werden. Ausgehend vom soziologischen Konzept Biografie werden in diesem Artikel visuelle Selbstdarstellungen von Menschen zwischen 30 und 40 Jahren auf Facebook und Instagram in ihrem gesamtlebensgeschichtlichen Zusammenhang mittels einer Triangulation untersucht. Biografien treten immer schon in mediatisierten Formen auf, was sich in sehr unterschiedlichen biografischen Ausdrucksgestalten wie Erzählungen, Fotoalben, Briefen, Tagebüchern zeigt. Soziale Medien sind potenziell eine weitere biografische Arena, denn sie bieten eine, wie etwa die Plattform Facebook wirbt, Bühne für Selbstrepräsentationen, die über Narrationen und Bilder stattfindet (van Dijck 2013). Bislang wurden narrative Biografien in Form von schriftlichen und mündlichen Erzählungen in der Soziologie meist mit Hilfe von biografisch-narrativen Interviews untersucht und der zeitliche Zusammenhang zwischen Erfahrung und Erzählung über die analytische Trennung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte rekonstruiert (Rosenthal 1995). Die spezifische Rolle, die Bilder bei der Konstruktion von Biografien in Sozialen Medien, aber auch in analoger Form, in Relation zu erzählten Lebensgeschichten einnehmen, ist hingegen kaum erforscht (Breckner 2018a, 2018b). Sich mit visuellen Biografien in Sozialen Medien zu beschäftigen, bedeutet für Forscher*innen, mit sehr unterschiedlichem Datenmaterial (Erzählungen, Bilder, Plattformstrukturen) und einer großen Datenmenge konfrontiert zu

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sein. Mit einer Fallstudie aus dem VIS_BIO-Projekt1 und meiner Dissertation möchte ich in diesem Beitrag eine in der interpretativ-rekonstruktiven Sozialforschung verortete Triangulation vorstellen, die visuelle Analysen (Breckner 2010; Müller 2016) und biografische Fallrekonstruktionen (Schütze 1983; Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2004; Rosenthal 2005) kombiniert. Entlang der einzelnen Analyseschritte zeige ich, wie visuelle Performanz auf Facebook und Instagram und deren biografische Bezüge sichtbar und erforscht werden können. Abschließend gehe ich auf Herausforderungen ein, die mit dem Umgang mit einem umfassenden Bildmaterial in der visuellen Biografieforschung verbunden sind.

2 Zur Konstruktion von (visuellen) Biografien Theoretischer Ausgangspunkt ist das soziologische Konzept der Biografie (Schütze 1981; Rosenthal 1995; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997), welches erlaubt, sich selbst in Veränderung und Entwicklungen im Verlauf der Lebenszeit verstehen und darstellen zu können. Biografie ist eine Form der Selbstpräsentation und -beschreibung in modernen Gesellschaften, mit der das Individuum Erfahrungen aus unterschiedlichen Lebensbereichen und -phasen sinnhaft miteinander verbindet. Der biografieorientierte Analysezugang berücksichtigt Prozessualität, indem er mit einem rekonstruktiven Vorgehen am Einzelfall ansetzt, über das es gelingt, Vergangenheits- und Gegenwartsbezüge aufzuzeigen, die wiederum grundlegend für zukünftiges Handeln sind. Bisher wurden Biografien vor allem in Form von schriftlichen und mündlichen Erzählungen erforscht, denn man geht davon aus, dass Erzählungen im Vergleich zu anderen Darstellungsformen den eigenerlebten Erfahrungen und Handlungsorientierungen am nächsten sind und sich die biografische Selbstpräsentation darin am deutlichsten zeigt (Fischer-Rosenthal/Rosen1

Das Forschungsprojekt „Biografien in vernetzten Lebenswelten. Visuelle und sprachliche Konstruktionen von Lebensgeschichten“ (https://visbio.univie.ac.at/) wird vom Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert (2020–2023; P 32957-G). Ziel des Projektes ist es, mögliche Unterschiede und Veränderungen in der Konstruktion von Biografien in Bezug auf Soziale Medien im Vergleich von drei verschiedenen Mediengenerationen zu untersuchen. Diesbezügliches Forschungsmaterial in Bezug auf 30- bis 40-Jährige wurde im Vorprojekt zu „Visuelle Biographien in einer vernetzten Lebenswelt“ (2017– 2019), das vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Österreichische Akademie der Wissenschaften (OEAW) finanziert wurde, gesammelt. Das in diesem Beitrag vorgestellte methodische Vorgehen wurde in diesem Rahmen von Roswitha Breckner entwickelt und in der gemeinsamen Projektarbeit adaptiert.

Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien

221

thal 1997). In Interviews sprechen Biograf*innen über die Themen, die für sie aktuell relevant sind. Das gegenwärtige Erleben wird jedoch auch durch die Erfahrungen der Vergangenheit geprägt und gleichzeitig hat die aktuelle Lebenssituation Einfluss darauf, wie die Vergangenheit erinnert und für die Zukunftsperspektive relevant wird (Rosenthal 1995). Mit dem Aufkommen neuer Medien findet biografische Orientierung und Selbstdarstellung auch verstärkt mit und durch Bilder statt. Primäres Medium für die Konstruktion von visuellen Biografien war und ist die Fotografie, die für die Lebensgeschichte und den Lebenslauf relevant ist, indem sie sich auf soziale Normen, das Selbstbild und die Selbstdarstellung, die Dokumentation von Lebensphasen und intergenerationale Familienbeziehungen bezieht (Bourdieu et al. 1965; Goffman 1981; Chalfen 1987; Hirsch 1997 – vgl. zusammenfassend Breckner 2013, 2017). Während eine erzählte Biografie retrospektiv aus der Gegenwartsperspektive erstellt wird und gemäß einer biografischen Gesamtstrukturierung eine Selbstdarstellung im zeitlichen Rahmen eines Lebens ermöglicht, sind Fotografien in Bezug auf das gelebte Leben selektiv und bilden somit keineswegs eine geschlossene biografische Gestalt (Schütze 1981; Rosenthal 1995). Visuelle Biografien bleiben fragmentarischer, indem sie sich auf selektive Momentaufnahmen und einzelne Lebensphasen und -bereiche beziehen, die in kuratierten Fotokompilationen und Bildkompositionen, wie beispielsweise in traditionellen Fotoalben, sichtbar werden (Breckner 2013, 2017: 238). Die Bilder auf Sozialen Medien werden zudem weniger zum Erinnern, sondern mehr zur direkten Kommunikation genutzt, wobei das Teilen von Erfahrungen über Fotos wichtig wird (van Dijck 2008; Lobinger/ Schreiber 2017, Jurgenson 2019). Dennoch werden auch auf Facebook und Instagram, die eine chronologische, thematische und zeitliche Ordnung von Ereignissen und Erlebnissen unterstützen, wie z. B. selbst kuratierte Fotoalben, eine Timeline und Stories, biografische Konstruktionsleistungen sichtbar (siehe u. a. Breckner 2018a, 2021).

3 Triangulation zur Erforschung bild- und textbasierter Biografien Um methodisch zu erfassen, in welcher Weise biografische Konstruktionsprozesse in Sozialen Medien vor allem auf visueller Ebene stattfinden und was daran im Vergleich zu narrativen biografischen Selbstdarstellungen spezifisch ist, stelle ich ein triangulatives Verfahren vor, welches auf den Prinzipien der Fallrekonstruktion beruht. Diese wurden in der interpretativen Soziologie (Oevermann/Allert/Konau 1979) und fallrekonstruktiven Biografieforschung

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(Schütze 1983; Rosenthal 2005) entwickelt, die vorwiegend im sozialkonstruktivistischen Paradigma verortet ist. Ziel ist es, manifeste und vor allem aber auch latente Deutungs- und Handlungsmuster rekonstruktiv zu erfassen. Die Fallauswahl ist an den Prinzipien des theoretical samplings (Glaser/Strauss 1967) orientiert und erfolgt im Rahmen eines zirkulären Prozesses, in dem sich Datenerhebung und -auswertung abwechseln. Der Fall aus meiner Dissertation, den ich nun sehr ergebnisorientiert entlang der einzelnen Forschungsschritte vorstelle, ist Teil des VIS_BIO-Datenkorpus, das derzeit aus 19 Interviews mit 30–40-Jährigen besteht (Stand: Juli 2021).

4 Die einzelnen Analyseschritte anhand eines Fallbeispiels Schritt 1: Ersteindruck und Interface Analyse In einem ersten Schritt dienen Screenshots der Fotos auf Sozialen Medien dazu, die Bildzusammenstellungen zu dokumentieren und grob zu analysieren, um einen Ersteindruck hinsichtlich der thematischen und stilistischen Struktur der visuellen Performanz zu erhalten. Dies geschieht jeweils unter Berücksichtigung der technologischen Plattformstruktur (Schreiber 2020). Ziel ist es zu zeigen, in welcher Form biografische Kommunikation, unter Berücksichtigung der technischen Dispositive, auf diesen Plattformen möglich ist. Im Fall von Michael (geb. 1982), der sich 2018 über einen Interviewaufruf und mit einer Datenschutzerklärung zur Teilnahme bereit erklärt hat, zeigt sich, dass er Facebook und Instagram verwendet, wo sich insgesamt 1.330 Bilder befinden. Michael nutzt die von Facebook angebotene Funktion der Albenerstellung, welche eine Biografiegestaltung ermöglicht, sehr intensiv. Sein Fokus liegt auf der Lebensphase des jungen Erwachsenalters: Fast alle seine 36 FacebookAlben, die von Konzerten, Kurztrips mit Freunden und Unternehmungen in Bezug auf seinen Arbeitskontext handeln, erstellt er in den ersten Jahren nach seinem Beitritt auf dieser Plattform 2009 im Alter von 26 Jahren. Seine Bildpraktik wirkt divers: Er versucht sich an zentralperspektivischen Aufnahmen, der Schwarz-Weiß-Fotografie, der Portraitfotografie. Einige der Alben sind in Trilogien geordnet und einzelne Bilder durchbrechen die Gesamtkomposition (siehe nachfolgende Bildclusteranalyse). Auf Instagram ermöglicht eine chronologische Bildordnung die prozessuale Gestaltung von Ereignissen und Erfahrungen in Form einer fortlaufenden Galerie. Michael, der dort seit 2012 aktiv ist, scheint nur teilweise einer ‚Mainstream‘-Instagram-Praxis, die darin besteht, schöne und bearbeitete Fotos zu posten, zu folgen. Teilweise sind die Bilder unscharf oder der Kontext bleibt

Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien

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unklar. Auffallend sind sich wiederholende Bildsujets, wie etwa handschriftliche Notizen und Fotos von einer rosa Figur. Schritt 2: Rekonstruktion der Visuellen Biografie auf Sozialen Medien Im Anschluss an und teilweise parallel zu narrativen Interviews beginnt die systematische visuelle Analyse der Bilder auf Sozialen Medien, die Bildclusteranalysen (Müller 2016), ein Fotointerview (Harper 2002) und Segmentanalysen (Breckner 2010) als Unterschritte beinhaltet. Bildclusteranalysen werden in Bezug auf alle Bildzusammenstellungen in Sozialen Medien angewendet, um den Stil der Selbstdarstellung sowohl thematisch als auch ästhetisch zu bestimmen.

Infobox: Bildclusteranalyse (Müller 2016) Dieser Ansatz eignet sich besonders für die Analyse einer größeren Anzahl von Bildern. Bildcluster bezeichnet mehrere zu einer Einheit angeordnete Bilder, wie z. B. in Fotoalben. Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion thematischer, ikonischer und medialer Ähnlichkeiten und Unterschiede, die zwischen den Bildern des Clusters bestehen. Zum Erfassen der symbolischen Zusammenhänge sind folgende Fragen leitend: 1) Welche Themen und Objekte kommen im Cluster vor? 2) Welchen Montageprinzipien innerhalb eines Clusters folgt eine Zusammenstellung?

Beispiel: Bildclusteranalyse DievisuelleBiografieaufFacebookundInstagram – ‚Ein Spiel mit Ordnung/Unordnung und die Suche nach gesellschaftlicher Positionierung‘ In vielen Facebook-Alben von Michael werden Betrachter*innen, ähnlich wie bei einem Museumsbesuch, zu den einzelnen Fotostationen geführt, wobei er zwischen einer ‚traditionellen‘ Führung und einer mit eigenen Anekdoten oszilliert: So zeigt er beispielweise vertraute Fotos von einem Zoobesuch, indem er die Tiere fotografiert, oder auch von einem Urlaub in Niederösterreich, indem er bekannte Sehenswürdigkeiten zeigt. Den Besuch bei Madame Tussauds dokumentiert er hingegen nicht mehr nur über erwartbare Bilder der Wachsfiguren, sondern verändert die Figur, um ein Foto machen zu können, durch das Hinzufügen eines Teddys (Abb. 1).

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Abbildung 1: Facebook-Account Michael (Reproduktion mit Zustimmung)

Eine Orientierung an zentralperspektivischen Aufnahmen von Landschaften in verschiedenen Nah- und Ferneinstellungen und eine Ästhetisierung durch die Fotografie im Vintage-Stil werden u. a. im Album „Delicate“ mit dem Untertitel „Schöne Orte. Schöne Fotos“ sichtbar (Abb. 2). Der Titel korreliert mit den passenden Motiven wie leicht schummrigen Landschaften und Fotos von Blumen. Die Irritation der mit „zart und schön“ betitelten Bildzusammenstellung wird hier durch das Foto eines sein Geschäft verrichtenden Hundes und eines abgeblätterten Schildes mit der Aufschrift „Zu den Toiletten“ hervorgerufen. Es wirkt, als ob Michael die Frage stellt, ob das Bild des Hundes auch der gesellschaftlichen Definition von „zart und schön“ entspricht.

Abbildung 2: Facebook-Account Michael (Reproduktion mit Zustimmung)

Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien

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Die Trilogien von jeweils drei Alben auf Facebook gliedert Michael thematisch, wie etwa die Alben zu einem Amsterdam-Besuch. Es ist nicht die Albenreihenfolge, die sich hier als analytisch relevant erweist, sondern es sind die in den Bildzusammenstellungen enthaltenen verschiedenen Sichtweisen auf die Stadt, die Michael mit der Kamera ausprobiert. Fotografisch lenkt er auch hier die Aufmerksamkeit auf ‚Unordnung‘ oder stellt sie durch seine Kuratierung her. Er tut dies im ersten Album, indem er sich auf Räder als ein konventionelles Bildmotiv bezieht, das mit dieser Stadt assoziiert wird. Neben ordnungsgemäß abgestellten Fahrrädern werden auch unkonventionellere Arten dieses Objekts und des Fahrrad-Abstellens gezeigt: Einige sind verkehrt herum platziert, liegen am Boden, haben keine Räder, das Spektrum reicht bis hin zu einem Foto eines Schlosses ohne Fahrrad (Abb. 3).

Abbildung 3: Facebook-Account Michael (Reproduktion mit Zustimmung)

Im zweiten Album orientiert er sich an der Porträtfotografie von Menschen und durchbricht die Ordnung durch ein Pippi-Langstrumpf-Foto. Das dritte Album enthält ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotos. Mit dieser Art der Fotografie, mit denen im Vergleich zu Farbfotografien ein höherer Abstraktionsgrad einhergeht, erfolgt eine Reduktion auf das Wesentliche und ein Verweis auf die bleibende Vergangenheit, „weil sie von ephemeren Erscheinungsweisen abstrahiert“ (Polte 2011:13; siehe auch Freeman 2017). Hier definiert Michael als Fotograf eine Form der Vergangenheit, in der sowohl scheinbar ‚schöne‘ Situationen (wie etwa jene des Gitarre-Spielens) als auch Abfall (in Form einer leeren Essensbox) Platz haben (Abb. 4).

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Abbildung 4: Facebook-Account Michael (Reproduktion mit Zustimmung)

Werfen wir nun einen Blick auf Michaels Instagram-Account, so zeigt sich, dass seine Fotos als ‚Instagram-Dialekt‘ zu verstehen sind, worauf unterschiedliche Bildtypen schließen lassen, die folgende Aspekte beinhalten (Abb. 5 und 6): 1. Der Kontext bleibt oft unklar, indem nur ein Gegenstand am Foto in Teilausschnitten zu sehen ist – Es wirkt so als würde er ‚Insidern seine Lebensausschnitte zeigen’. 2. Das Ausloten des Instagram-Rahmens zeigt sich durch das Posten von für Instagram untypischen, wiederholt geposteten, teilweise unscharfen Fotos, die Listen von Notizen zeigen (zur Interpretation siehe Mayer 2020). Michael greift hier nicht die medienspezifische Bildästhetik auf, die Instagram in Form von u. a. Grafikfiltern, dem quadratischen Bildformat, Bilderrahmen oder auch der Retro-Ästhetik anbietet, wodurch eine Ästhetisierung des Ausgangsbildes sowie eine ikonische Selbstinszenierung möglich wird (Jurgenson 2011; Gunkel 2018:24). Besonders die handschriftlichen Notizen lassen erkennen, dass Michael auf eine weitere ikonische Bildaufbereitung für etwaige Follower weitgehend verzichtet. 3. Mehrere Urlaubsfotos mit einer rosa Figur zeigen, dass es sich bei seinen Bildern möglicherweise um eine humorvolle und kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konventionen handelt. Mit der Figur distanziert er sich spielerisch von einer konventionellen Urlaubs(paar)fotografie, indem er keine Menschen, bestimmte Orte und Sehenswürdigkeiten fotografiert. 4. Auffällig sind auch mehrere Bilder, die seine Füße auf verschiedenen Böden zeigen. Dies könnte eine mögliche Antwort auf die biografische Frage ‚Wo platziere ich mich (gesellschaftlich)?‘ sein (Abb. 6).

Visuelle und sprachliche Biografiekonstruktion in Sozialen Medien

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Abbildungen 5 und 6: Instagram-Account Michael (Reproduktion mit Zustimmung)

Anhand dieser Bildtypen auf Facebook und Instagram, die aus den Bildclusteranalysen hervorgehen, lässt sich nun zusammenfassend in diesem Fall eine visuelle Biografie auf Sozialen Medien konstatieren, in der sich der Biograf die Welt fotografisch aneignet und mit der/durch die Kamera einen Platz in ihr sucht. Mit der Kamera wird ein Oszillieren zwischen dem Einhalten gesellschaftlicher Konventionen (des Fotografierens) und der Irritation derselben praktiziert. Geordnete Fotokompilationen werden in Unordnung gebracht, ohne die Ordnung völlig zu durchbrechen. Das Montageprinzip der Fotozusammenstellungen könnte so zusammengefasst werden: ‚Wie kann ich gesellschaftliche Ordnung irritieren und mich dennoch darin positionieren?‘ Am Ende des ersten Interviews bat ich Michael, im Vorfeld auf das nächste Treffen für ihn wichtige, digitale und analoge Fotos vorzubereiten. Während des Fotointerviews lud ich ihn ein, seine fotografische Praxis zu reflektieren, indem er durch die Bilder scrollte, sie zeigte und kommentierte (Harper 2002). Zusätzlich zu den Fotos auf Facebook und Instagram scrollte er durch 320 Computer-Ordner, die nach Datum und Ereignis benannt waren, und zeigte mir ca. 700 analoge Fotos. Im Anschluss an alle Interviews, aber insbesondere nach den Fotointerviews, machte ich ethnografische Feldnotizen (Emerson et al. 2011), die sich auf die Praxis des Zeigens beziehen. Ziel ist es, heraus-

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zufinden, welche Sozialen Medien genutzt werden oder nicht, und welche Fotozusammenstellungen auf welche Weise entstehen, sowie welche Art von Bildern gezeigt oder verborgen werden, um implizite und routinierte Bildpraktiken sichtbar zu machen. Die Strukturthese in Bezug auf die visuelle Biografie kann mit den Notizen aus dem Fotointerview – hier nur exemplarisch – angereichert werden: Beispiel: Im Fotointerview mit Michael wird eine ambivalente Haltung gegenüber seinen Fotografien deutlich. Er gibt mehrfach an, dass ihm Fotos nicht wichtig seien, er sich selbst nicht gerne auf Fotos betrachte. Dennoch hat er für das Interview zusätzlich zu den Bildern auf Facebook und Instagram mehr als 700 analoge Fotos vorbereitet, die zum Teil lose in Boxen, aber auch an sehr spezifischen Orten, wie in Fotoalben oder in einer hölzernen „Lebenskiste“ aufbewahrt werden. Seine Zeigepraxis besteht darin, sich die Fotos selber anzusehen. Dabei macht er den Eindruck des ‚Entdeckens’, meint, nicht genau zu wissen, was auf Facebook oder in den Fotoboxen ist und überprüft beim Zeigen das Entstehungsdatum der Bilder. Er reflektiert, dass er wohl bildlich festhält, um nicht zu vergessen. Die Ordnung der gezeigten Fotos kann – ähnlich wie auch aus den Bildclusteranalysen bereits hervorging – als ‚Ordnung in der Unordnung‘ resümiert werden. Die visuelle Biografie zeigt, dass die biografische Funktion, die die Fotografie in diesem Fall einnimmt, allerdings implizit auch über das Erinnern hinausgeht. Um die biografischen Aspekte der visuellen Biografie konkreter zu benennen ebenso wie die mit Fotos verbundene Ambivalenz – die 1. darin besteht, dass der Biograf Fotos als unwichtig definiert und dennoch viele Fotos zeigt und 2. eine visuelle Biografie sichtbar wird, bei der ein Oszillieren zwischen dem Einhalten gesellschaftlicher Konventionen (des Fotografierens) und der Irritation derselben hoch bedeutsam ist – erfolgt ein kontrastierender Vergleich mit der narrativen Biografie: Welche erlebte Lebensgeschichte charakterisiert diesen Fall und wie erzählt Michael darüber? Zuvor werden jedoch noch alle analogen Bilder zunächst unabhängig voneinander ebenfalls Bildclusteranalysen unterzogen2. Die Erkenntnisse werden dann mit den Ergebnissen zu visuellen Biografien in Sozialen Medien verglichen. Im Zuge der weiteren Fallrekonstruktion werden die Bildclusteranalysen durch visuelle Segmentanalysen von Einzelbildern ergänzt3 und 2

3

Eine ebenfalls tiefergehende Ergebnisdarstellung der Bildclusteranalyse in Bezug auf das analoge Bildmaterial, so wie dies bei Bildern auf Facebook und Instagram geschehen ist, würde den Rahmen dieses Beitrags übersteigen. Ein Beispiel für eine Segmentanalyse in Bezug auf das in diesem Beitrag genannten Datenkorpus kann u. a. in Breckner 2021 nachgelesen werden.

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zugehörige Kommentare mit hermeneutischen Methoden der Textanalyse ausgewertet (Oevermann/Allert/Konau 1979).

Infobox: Segmentanalyse (Breckner 2010) Mit der Segmentanalyse gelingt es, die latenten Strukturen der visuellen Selbstdarstellung genauer zu rekonstruieren, indem der Fokus auf das visuelle Verstehen von Mehrdeutigkeiten oder Widersprüchen innerhalb der biografischen visuellen Darstellungen gelegt wird. Die Analyse wird geleitet von den Fragen, was in und durch das Bild sichtbar wird, für wen und in welchem Kontext. Beachtet werden hier sowohl Prozesse und Ersteindrücke der Bildwahrnehmung, die kompositorische Struktur von Bildern, deren mediale Eigenschaften sowie Entstehungs- und Verwendungskontexte.

Schritt 3: Rekonstruktion des narrativen Interviews und biografische Fallrekonstruktion Das anschließende biografisch-narrative Interview fand an zwei Tagen statt und dauerte insgesamt sechs Stunden.

Infobox: biografisch-narratives Interview (Schütze 1984; Loch/Rosenthal 2002) In oft mehrstündigen biografisch-narrativen Interviews werden Interviewpartner*innen über eine möglichst offene Erzählaufforderung gebeten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Nach der evozierten autonom gestaltete Haupterzählung folgen erzählgenerierende immanente Nachfragen, die sich auf die Eingangserzählung beziehen. Ein zusätzlicher externer Frageteil ermöglicht es, noch offene Themen anzusprechen. Ziel des Vorgehens ist es, Biograf*innen die Möglichkeit zu geben, ihr eigenes Relevanzsystem zu entfalten und so Konstruktionen der Lebensgeschichte offenzulegen.

Nach den Prinzipien der biografischen Fallrekonstruktion (Rosenthal/FischerRosenthal 2004; Rosenthal 2005) werden alle narrativen Interviews einer Globalanalyse unterzogen. Dem Prinzip des theoretical samplings folgend gilt es anschließend, einzelne Fälle für eine extensive Fallrekonstruktion auszuwählen.

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Infobox: Globalanalyse (Rosenthal 2005) Etwas global zu analysieren bedeutet hier, die Analyseschritte der biografischen Fallrekonstruktion (Rosenthal 1995, 2005) anzuwenden, dabei aber alle Analyseschritte weniger detailliert durchzuführen. Ziel ist es biografische Handlungsmuster und die thematische Struktur der Darstellung zu identifizieren und dazu eine vorläufige Hypothese zur biografischen Gesamtstruktur zu formulieren. Globalanalysen ermöglichen die Auswahl von Fällen für Fallrekonstruktionen nach dem Prinzip des minimalen und maximalen Vergleichs (Glaser/Strauss 1967).

Infobox: Biografische Fallrekonstruktion (Rosenthal 1995, 2005) Fallrekonstruktionen helfen zu verstehen, warum die Lebensgeschichte wie erzählt wird, aufgrund erlebter Ereigniszusammenhänge und in Bezug auf Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven. Methodisch drückt sich dies in einer analytischen Trennung zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte aus (Rosenthal 1995). Das analytische Vorgehen bei der biografischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal erfolgt in sechs Schritten: Analyse der biografischen Daten (Ereignisdaten), Text- und thematische Feldanalyse (erzähltes Leben), Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben), Feinanalyse einzelner Textstellen, Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte, Typenbildung. Durch die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte ist es möglich, alle gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung standen und welche davon mehr oder weniger bewusst gewählt wurden. Die gegenwärtig wirksamen Relevanzstrukturen bestimmen allerdings, wie und welche vergangenen Erlebnisse erinnert werden. Die Rekonstruktion thematischer und zeitlicher Zusammenhänge, die sich bereits in der Eingangserzählung zeigen, kann auf die Bedeutung und Funktion des gegenwärtigen Interesses der Selbstdarstellung (erzählte Lebensgeschichte) schließen lassen. Weitere Auswertungsmöglichkeiten: Narrationsanalyse nach Schütze (1987)

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Beispiel: Biografische Fallrekonstruktion DienarrativeBiografie– ‚BalancefindunginAnbetrachteinerpotenziell dynamisch werdenden Verlaufskurve‘ Die biografischen Daten lassen darauf schließen, dass Michael Familie mit Diskontinuität und emotionalen Umbrüchen durch den Verlust von Bezugspersonen ab der Kindheit erlebt. Er wächst bis zum Alter von ca. zehn Jahren bei seiner Großmutter und bei seiner an Demenz erkrankten Urgroßmutter mütterlicherseits auf. Als er beginnt, mit seiner Mutter zusammenzuleben, erlebt Michael mehrere Umzüge. Männer sind in dieser Familie kaum vorhanden: Der leibliche Vater ist im Leben des Sohnes nicht präsent. Zu seinem Großvater, den er im Alter von sechs Jahren tot auffindet, und zu seinem Stiefvater, der ins Gefängnis kommt als Michael zwölf Jahre alt ist, hat er eine enge Beziehung. Solche raschen Veränderungen in der Familienkonstellation können zu einer Resilienz gegenüber existenziellen Krisen führen oder – wie seine erlebte Lebensgeschichte zeigt – zu einer sich anbahnenden Verlaufskurve (siehe Schütze 1984), die spätestens nach dem Schulabschluss dynamisch zu werden scheint. Er erlebt Obdachlosigkeit, bricht sein Studium ab, verliert Kontakt zu seinen alten Freunden, seine Lebenssituation bleibt ungeklärt. Doch im Alter von 26 Jahren – etwa zeitgleich zu Beginn seiner Facebook-Aktivität – gewinnt er durch seine Arbeit sowie durch eine örtliche Distanzierung von der Familie wieder an Stabilität.

Infobox: Verlaufskurve Fritz Schütze identifiziert vier verschiedene Prozessstrukturen, die eine Biografie formen, wovon eine als Verlaufskurve strukturell beschrieben werden kann. Zu verstehen ist darunter die Erfahrung überwältigender Ereignisse, sodass auf Kontrollhandlungsschemata zurückgegriffen wird, über die versucht wird, mühsam eine Balance in Bezug auf die Lebensgestaltung herzustellen. „Die Zukunft von (negativen) Verlaufskurven wird als individuelles oder kollektives fortschreitendes Verhängnis gesehen, das den Biographieträger zu lähmen droht und gegen das er sich in Kontrollhandlungsschemata zur Wehr setzt […]“ (Schütze 1984: 93).

Die Eingangserzählung der erzählten Lebensgeschichte (seine Selbstdarstellung), die in drei länger werdende Abschnitte gegliedert ist, zeigt einen dreimaligen Versuch, aus einer stark evaluierenden Gegenwartsperspektive auszuloten, wie tief er in das damalige Geschehen eintauchen soll. Michael

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tastet sich an ein Trudeln in einer „dunklen“ Lebensphase als ca. 20-Jähriger heran. Dabei behält er in seiner Selbstpräsentation über die Darstellung des sich wieder Herausarbeitens eine Balance. Im ersten Teil geht es um die „groben Eckpunkte“ einer chronologisch dargestellten Lebensgeschichte bis zum Schulabschluss, die auf der Erzählebene brüchig wird, bevor sie wieder stabil wird. Im zweiten Abschnitt baut Michael die im ersten Teil nur vage angedeutete „dunkelste (Studien-)Zeit“ über die Darstellung einer Abwärtsspirale thematisch aus. Über Argumentationen dazu, wie er es schafft hat, seine Wohnsituation zu stabilisieren, wird ein positives Ende inszeniert. Im dritten Teil steigt der Biograf noch einmal tiefer in seine Lebensgeschichte ein, tut dies weiterhin aus einer derzeit stabilen Gegenwartsperspektive, ohne in Erzählungen einzutauchen. Interessanter Weise spricht Michael nun, noch bevor das Fotointerview begonnen hat, über das Thema Foto, das er weder narrativ noch visuell auszubaut: Er geht an dieser Stelle im Interview auf keine Bildinhalte ein und zeigt keine Fotos. Auf latenter Ebene wird erkennbar, dass das Fotothema dazu dient, um auf die mit dem Trudeln verknüpften und bisher schwer artikulierbaren inneren Konflikte in der damaligen Zeit einzugehen, wobei sich auch in diesem Abschnitt das Darstellungsprinzip zeigt, bei dem auf Problematisches Positives folgt. Die Konflikte beziehen sich auf Fragen der Kontinuitätsherstellung und Lebensordnung, die Michael über das Thema Fotos entlang der biografischen Frage ‚Wer machte damals welches Bild von mir und brachte über Fotos Ordnung in mein Leben?‘ verhandelt. Auch thematisiert er dabei latent das Fehlen einer allumfassenden, selbst gestalteten (Foto-)/Lebensordnung. Im sequenziellen Verlauf wird dies darüber sichtbar, dass Michael auf latenter Ebene fremdbestimmte Fotoordnungen problematisiert, in welchen er sich nicht wiederfindet. Zum einen handelt sich um ein von seiner Mutter gestaltetes Album, das von der Kindheit bis zum Zeitpunkt der „dunklen Zeit“ reicht, und zum anderen, um eine daran anschließende Fotoordnung der Exfreundin. Als Balancestrategie setzt er diesen zeitlichen und thematischen strukturierten Darstellungsweisen, die er ablehnt, seine einzig selbst gestalteten KonzertfotoAlben aus der „dunklen Zeit“ entgegen. Michael könnte den dritten Abschnitt nun beenden, nennt aber nach langen Pausen weitere Konflikte hinsichtlich der gesellschaftlichen Positionierung und Gruppenzugehörigkeit in der damaligen Zeit. Er tut dies indem er noch einmal bei der von ihm als problematisch definierten Jugend ansetzt und ausufernde „Beisl“-Besuche im Freundeskreis erwähnt, der ihn, als er in der „dunklen Zeit“ zurück in den Herkunftsort gezogen war, nicht mehr ernst genommen habe. Er beendet die Eingangserzählung indem er seine Gruppenzugehörigkeit im selben Freundeskreis positiv zum Abschluss bringt: Michael spricht

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von einem kürzlich stattgefundenen allerletzten Nostalgietrip zurück in das damalige Lokal. Er verortet sich über diesen Bericht des gemeinschaftlichen Abschiednehmens von der damaligen Zeit als nun wieder der Gruppe zugehörig und schließt damit zugleich die problematische Phase ab, indem er zu dem Ort ohne Trudeln zurückkehren kann. Balancefindung in Anbetracht einer potenziell dynamisch werdenden Verlaufskurve ist jenes Muster, das beim Vergleich der erzählten und erlebten Lebensgeschichte im Vordergrund steht. Die Rekonstruktion der Fallgeschichte – wie dies Schritt 3 der biografischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal vorsieht – lässt hingegen darauf schließen, dass die schwierige Zeit weit früher startet als dies der Biograf darstellt und als die Analyse der biografischen Daten andeutet. Die sich aufschichtenden Erfahrungs- und Erlebniszusammenhänge zeigen, dass ab dem Schuleintrittsalter ein ‚Paradies‘ verloren gegangen ist. Der zu diesem Zeitpunkt sterbende Großvater ermöglichte Michael, sich als Individuum in einem Familienkollektiv zu erleben; durch den Schulbeginn verbringt Michael weniger Zeit bei der Großmutter, die ihm viel Aufmerksamkeit schenkte; der Fußballplatz, wo er mit vielen Freunden spielte wird von Baumaschinen abgerissen. Metaphorisch spiegelt sich hier der erlebte Bruch mit der ‚unbeschwerten Kindheit‘ wider. Den folgenden Eintritt in den Fußballverein, wo er Tormann wird, erlebt Michael zu Beginn als stabilisierend, doch wird damit zunehmend ein starker körperlicher Leistungsdruck erfahren, als im Alter von ca. zehn Jahren der Stiefvater sein Fußballtrainer wird. Die folgende Geburt der jüngeren Schwester, Umzüge, die Verhaftung des Stiefvaters und Michaels Ablösung als Tormann bringen ihn ins Trudeln und verstärken das Erleben fehlenden Raumes und sozialen Anschlusses. Ein vorübergehender Rückzug zur Großmutter als Teenager lässt ihn bemerken, dass er an die emotionalen Beziehung von früher nicht anschließen kann. Durch aktives Mitwirken in einem Jugendverein gelingt es ihm, Handlungsmacht wiederzuerlangen, soziale Zugehörigkeit zu erfahren und im Kollektiv gegen gesellschaftliche Strukturen in einem sicheren Rahmen zu rebellieren. Als die Schule zu Ende geht, die Vereinsaktivität mit ca. 19 Jahren wegbricht und der Zeitpunkt des Zivildienstantritt unklar ist, sucht er erneut Anschluss an ein Kollektiv – dieses Mal in einem besetzten Haus in einer anderen Stadt. Dort kann er jedoch biografisch an das positive Erleben einer Gemeinschaft nicht anschließen: Er erlebt nicht nur den Drogentod von Freunden, sondern auch eine Begrenzung seiner Freiheit durch zu wenig Raum und Erwartungshaltungen der Gruppe. Ein Tingeln wird erkennbar: Michael kehrt zurück in seinen Heimatsort, zieht für sein Studium weg, kommt ein Jahr später für den Zivildienst wieder, findet dann – wie er es darstellt – keinen Anschluss zu seinen Freunden. Erst an dieser Stelle beginnt in seiner Darstellung die

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„dunkelste Zeit“, die sich aber, wie die Fallgeschichte zeigt, biografisch aufgeschichtet hat. Vergleichen wir nun die narrative Biografie mit biografischen Mustern aus der visuellen Biografie, so führt uns dies zu Schritt 4 des triangulativen Vorgehens. Schritt 4: Fallbezogener Vergleich von biografischen Mustern in unterschiedlichen Medienkontexten Die Fallstruktur zeigt, dass in der narrativen Biografie Krisen thematisiert werden, bei denen es dem Biografen gelingt, sich zu stabilisieren und eine Balance zu finden: Auf Schwierigkeiten folgen Erfolge, in Erlebnisse steigt der Biograf thematisch nur so tief ein, dass er in der Lage bleibt, aus diesen Situationen erzählend wieder selbständig herauszufinden. In diesem Fall werden das Fotografieren und Veröffentlichen von Fotos auch als Teil einer Balance-Strategie zu einer potenziell dynamisch werdenden Verlaufskurve in der Biografie erkennbar4. Fotos in Sozialen Medien ermöglichen es dem Biografen, die Frage der sozialen Zugehörigkeit zu verhandeln und sich in der Gesellschaft, aber gewissermaßen auch außerhalb der Familie zu verorten. Dabei wird, ähnlich wie in der erzählten Biografie, eine Pendelbewegung sichtbar: In den Fotos findet das Pendeln zwischen dem Einhalten gesellschaftlicher Konventionen (des Fotografierens) und der Irritation dieser statt. Erkenntlich wird eine selbst gestaltete Bild- und Lebensordnung, die in Anbetracht des erlebten Trudelns und der Thematisierung von in dieser Phase fehlenden Fotoordnungen bzw. bestehenden Foto-Fremdordnungen als Erlangen einer Handlungsmacht interpretiert werden kann. Schritt 5: Fallübergreifende Vergleiche, Typen visueller Biografien Der letzte Forschungsschritt beinhaltet die Durchführung eines systematischen Fallvergleichs, bei dem zunächst Fälle innerhalb einer Generation und anschließend verschiedene Mediengenerationen miteinander kontrastiert werden, mit dem Ziel, eine Typologie visueller Biografien in Sozialen Medien zu erstellen. 4

Ordnung und Balance müssen jedoch immer wieder neu hergestellt und durch einen Aspekt – nämlich Wiederholung und Serialität – gesichert werden, auf den ich in diesem Beitrag kaum fokussiere, der aber für diese Biografie zentral ist (siehe hierzu Mayer 2020).

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Erste Ergebnisse aus dem VIS_BIO-Projekt deuten auf vier unterschiedliche Typen hinsichtlich der 30- bis 40-Jährigen hin (siehe auch Breckner 2021): Bei Typ A, separate Biografien, werden Soziale Medien-Accounts oder Alben stillgelegt, da die dort sichtbaren Bilder Spuren aus einer liminalen Lebensphase sind, die nach einem Wendepunkt zu Ende gegangen ist. Bei Typ B, collagierte Biografien, – wie im Fall von Michael – dienen die Bilder auf Sozialen Medien dazu, verschiedene Baustellen der Biografie (Fragen hinsichtlich Lebensentscheidungen, festen Partnerschaften, Studium, Familie) miteinander in Beziehung zu setzen und dabei mit Krisen oder Traumata umzugehen, die vor allem in der Narration sichtbar werden. Bei Typ C, parallele Biografien, werden unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Lebensentwürfe inszeniert, die für die gegenwärtige Gesamtschau gleichermaßen relevant sind, z. B. getrennte Darstellungen von Lebensentwürfen verschiedener Milieus und Familienzusammenhänge. Typ D, Auflösung und Behauptung der Persona, ist von einer exzessiven Zurschaustellung des Privaten und dessen gleichzeitigem Schutz charakterisiert – widersprüchliche Seiten des Selbst werden hier über eine hypermediale visuelle Performanz visuell verhandelt.

5 Schlussreflexion Der biografieanalytische Ansatz ermöglicht es, das Phänomen der visuellen Performanz auf Sozialen Medien sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher Ebene zu beleuchten. Biografische Erfahrungs- und Erlebnisbezüge und Perspektiven der Nutzer*innen werden stets in Relation dazu gesetzt, welche Rolle Bilder und Medien in einer Gesellschaft einnehmen. Die methodische Annäherung an dieses Forschungsthema erfordert aufgrund eines sehr komplexen Datenmaterials eine Triangulation, mit der die Verschränkung zwischen Bildgestaltungen, Bildpraktiken und narrativer Biografie aufgezeigt wird. Ein solches in der interpretativ-rekonstruktiven Sozialforschung verortetes Analyseverfahren wurde in diesem Beitrag anhand eines konkreten Fallbeispiels vorgestellt. Auf eine methodische Herausforderung, die bei der Forschung mit Bildern in Sozialen Medien auftaucht, möchte ich nun zum Abschluss eingehen. Forscher*innen sind in der Regel mit einer großen Bildmenge konfrontiert, wie im Fall Michael deutlich wird. Dabei stellen sich die Fragen, wie mit einer solchen Bildmenge interpretativ umgegangen werden kann und welcher Erkenntniswert daraus entspringt. Um einen Einblick in visuelles Datenmaterial zu bekommen, stehen diverse Softwareprogramme wie etwa MAXQDA zur Verfügung, ebenso wie quantitative Auswertungsprogramme, wie z. B. das

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Projekt Selfiecity (http://selfiecity.net/) zeigt. Sie bieten die Möglichkeit, eine hohe Anzahl von Bildern zu sortieren, zu zählen und thematisch zu ordnen. Oft ist dabei aber eine Reduktion auf die Beschreibung des Feldes konstatierbar, wodurch keine Aussagen über die Funktion und die Genese eines sozialen Phänomens möglich sind. Die in diesem Beitrag vorgestellte Triangulation kann als Antwort auf diese Herausforderung gesehen werden, da sie zeigt, wie das interpretativ-rekonstruktive Vorgehen zu Ergebnissen führt in Form einer Typologie, die auf einer theoretischen Sättigung basiert. Die herausfordernde Situation der großen Bildmenge löst sich dabei keineswegs auf, doch besteht in den systematischen Analyseschritten eine Strategie, die Antworten auf mehrere Herausforderungen in der visuellen Biografieforschung beinhaltet: 1. Durch systematische Ersteindrucksanalysen zum Darstellungsprinzip und durch Globalanalysen kann ein großer Bildpool thematisch unterteilt werden, stets aber unter Berücksichtigung einer über die Lebenszeit entstandenen Ordnung. Etwaige Veränderungen und Kontinuitäten in der Bildpraktik und -gestaltung werden dabei mitberücksichtigt. Gemäß dem Prinzip des theoretical samplings werden dann einzelne Fotozusammenstellungen in detaillierte Bildclusteranalysen einbezogen. Über das Vorgehen des minimalen und maximalen Vergleichs (Glaser/Strauss 1967) können im Anschluss Thesen generiert bzw. gestärkt, neue Aspekte eruiert sowie axiale Verbindungen zwischen den Bildclustern aufgezeigt werden. 2. Visuelle Biografien bleiben fragmentarisch und beziehen sich nicht auf alle Lebensbereiche und -phasen. Das Miteinbeziehen medial unterschiedlicher biografischer Konstruktionsleistungen wie etwa die Narration ermöglicht reichhaltige und komplexe Fallrekonstruktionen, die den strukturellen Zusammenhang zwischen der gezeigten Auswahl von Fotografien in Sozialen Medien und narrativ geformten Lebensgeschichten fassbar machen. 3. Darüber hinaus ermöglicht das interpretativ-rekonstruktive Vorgehen, die Verbindung zwischen analogen und digitalen Bildwelten – auf die in diesem Beitrag nicht eingegangen werden konnte – und ihre biografische Einbettung näher zu beleuchten. Ziel dieses Beitrags ist es, aufzuzeigen, wie Forschung zu visuellen Biografien in Sozialen Medien aus einer soziologischen und interpretativen Perspektive umgesetzt werden kann. Nur durch die Offenlegung tieferliegender Sinn- und Bedeutungszusammenhänge und unter Berücksichtigung aller relevanten gezeigten, erlebten und erzählten Aspekte für biografische Konstruktionsprozesse – insbesondere eben auch der Bilder – wird erkennbar, auf welche Weise Soziale Medien biografisch und damit auch gesellschaftlich wirken.

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„Selfies im Görtschitztal“ – Die Methode der Fotoelizitation in Gruppendiskussionen Ute Holfelder

Keywords: Fotoelizitation, Gruppendiskussion, Selfie-Interview, Methodenmix, mikroanalytischer Zugang In folgenden Beitrag wird ein Projekt vorgestellt, in dem die Methoden der Fotoelizitation und der Gruppendiskussion zur Anwendung kamen. Die in der qualitativen Grundlagenforschung nur selten angewandten Methoden erwiesen sich in einer komplizierten, von Konflikten geprägten Feldsituation als ein geeignetes Instrumentarium, vielfältige Erkenntnisse zu generieren.1

1 Das Projekt Im Jahr 2014 berichteten die österreichischen Medien über ein Umweltgift, das im Bundesland Kärnten in Milch und Tierfutter gefunden worden war (vgl. hierzu und zum Folgenden: Peball 2019). Betroffen war das Görtschitztal, das sich über 27 Kilometer erstreckt und bis 1978 als eine bedeutende Bergbauregion galt. Trotz drei ortsansässiger Industriebetriebe ist die Gegend ländlich geprägt. Das vorgefundene Hexachlorbenzol (HCB) ist ein organischer Schadstoff, der sich in der Nahrungskette anreichert. Es gilt als möglicherweise krebserzeugend, leber- und nieren- sowie fruchtschädigend. Über Folgen einer akuten Vergiftung beim Menschen gibt es kaum gesicherte Angaben.2 1

2

Mein Dank gilt Klaus Schönberger und Roland W. Peball (beide Klagenfurt) für konstruktive Kritik. Außerdem bedanke ich mich sehr herzlich bei unseren Interviewpartner*innen für die produktiven Gespräche. Bei einem Zwischenfall in der Türkei in den 1950er-Jahren kam es zur Vergiftung von 3.000–4.000 Menschen durch HCB-behandeltes Saatgut. Dies führte zu HCB-induzierter Porphyrie, einer schwerwiegenden Stoffwechselerkrankung. Die Mortalität betrug ca. 10 %. Kinder, deren Mütter HCB auf diese Weise aufgenommen hatten, wurden über Placenta und Muttermilch mit HCB vergiftet und starben meist innerhalb von zwei Jahren (vgl. Fiedler et al. 1995). Da es sich bei dem Fall in der Türkei um eine weitaus höhere Belastung handelte (200 mg pro Person und Tag bzw. 0,7–2,9 mg/kg Körpergewicht) als im Görtschitztal (bei den Extremfällen maximal 8 μg/kg Körpergewicht und

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Verantwortlich für die HCB-Causa waren die ortsansässigen Wietersdorfer und Peggauer Zementwerke (heute: WIG Wietersdorfer Holding GmbH), die Blaukalk der benachbarten Firma Donau Chemie nicht sachgerecht entsorgt hatten. Die Molkerei Sonnenalm und die Bauernhöfe mussten daraufhin zeitweilig die Produktion einstellen. Das Görtschitztal und seine Bewohner*innen erlebten eine veritable Krise. Flankiert wurden die daraufhin einsetzenden Debatten, in denen es um die Frage der Verantwortung ging und darum, wie die Gefährlichkeit von HCB einzuschätzen sei, durch eine beträchtliche mediale Aufmerksamkeit. Im Zuge dieser Kontroverse gründeten sich zwei Bürgerinitiativen, es kam zu Protestaktionen und künstlerischen Interventionen3. Im Rahmen eines EU-Projekts4 besuchte ich mit Kolleg*innen das Görtschitztal im September 2015 das erste Mal. Wir waren überrascht über die landschaftliche Schönheit des Tals, aber auch darüber, dass wir keine sichtbaren Zeichen fanden, die auf die Umweltproblematik hinwiesen. Bei einem späteren Aufenthalt entdeckten wir ein Transparent, das sich auf die HCBCausa bezog und zugleich auf ein weiteres durch die Wietersdorfer Zementwerke zu verantwortendes (historisches) Umweltproblem verwies – die Asbestbelastung, die bis heute Todesopfer fordert (vgl. Peball 2018). In ersten Feldgesprächen bestätigte sich unser Eindruck, dass sich – analog zum unsichtbaren Umweltgift – ein „unsichtbarer“ Konflikt quer durch die Bevölkerung und sogar durch die ansässigen Familien zog. Während die einen der Ansicht waren, der Umweltskandal müsse aufgedeckt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, meinten die anderen, man solle so weiter machen wie bisher, um die Arbeitsplätze in den Industriebetrieben nicht zu gefährden und den sozialen Frieden wiederherzustellen. In der medialen Aufbereitung der Causa waren die Stimmen der betroffenen Bewohner*innen des Tals allerdings wenig präsent, und wenn, dann ausschließlich auf den Aspekt der HCB-Causa reduziert.

3

4

Tag) lassen sich die Fälle nicht direkt vergleichen. Zu längerfristigen geringfügigeren HCB-Expositionen gibt es bislang keine gesicherten Erkenntnisse bzw. ambivalente Ergebnisse (vgl. Schuster 2014). Vgl. Arbeiten des Konzeptkünstlers Werner Hofmeister, aber auch Lieder lokaler Bands wie Jesus Bites Reloaded, die eine HCB-Version des Spider Murphy Gang Songs „Skandal um Rosi“ mit dem Titel „Skandal um Blaukalk“ auf YouTube setzten. Inzwischen ist der Song dort auf privat gestellt. Vgl. Kleine Zeitung, 14. und 15.12.2014. Das Projekt ECHOES from Invisible Landscapes (European Cooperation Project – co-funded by the European Commission’s „Creative Europe“-Programme) lief von 2016 bis 2018. Das Teilprojekt „Selfies im Görtschitztal“ wurde am Institut für Kulturanalyse der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt durchgeführt.

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Vor diesem Hintergrund entwickelten wir unser Projektziel, nämlich die komplexe Situation im Tal zu untersuchen. Es ging uns darum, unterschiedliche Perspektiven auf den Umgang der unmittelbar Betroffenen mit dem Umweltgift HCB einerseits und andererseits mit der HCB-Causa, wie wir sie im politisch und medial geprägten öffentlichen Diskurs sehen konnten, zu eruieren und sichtbar zu machen. Wir wollten erfahren, wie die Bewohner*innen „ihr Tal“ sehen und waren gespannt, ob sich in ihren Erzählungen möglicherweise auch ganz andere Narrative manifestieren als die des skandalisierten ‚Gifttals‘. Da wir unsere Ergebnisse an die Beforschten zurückgeben wollten, sollten diese in Form einer Ausstellung präsentiert werden.

2 Methodische Zugänge Die Ausgangslage war kompliziert: Da es uns ein Anliegen war, die tieferliegende Strukturen des Umgangs mit der HCB-Causa in den Blick zu nehmen, um nicht lediglich die medialen Diskurse zu reproduzieren, erschien es uns nicht adäquat, Interviews zu führen, in denen wir direkt nach dem Umweltgift und den damit verbundenen Konflikten unter den Betroffenen fragten. Zudem hatten wir in Vorgesprächen den Eindruck gewonnen, dass die Bewohner*innen es leid waren, mit dem negativen Bild des verseuchten Tals in Verbindung gebracht zu werden. Vor diesem Hintergrund überlegten wir, dass es sinnvoll sein könnte, potenziellen Interviewpartner*innen positive Gesprächsanreize anzubieten. Zudem entschieden wir uns, das Feld einzugrenzen, und junge Menschen zu befragen, die im Görtschitztal leben. Diese Überlegung war der Tatsache geschuldet, dass für die Region ein erheblicher Braindrain (vgl. Aigner-Walder/Klinglmair 2013; Leitner/Sting 2014; Gartner/Hameter 2017) zu konstatieren ist und wir – im Unterschied zu Vorgängerstudien (vgl. AignerWalder/Klinglmair 2013; Gartner/Hameter 2017) – in Erfahrung bringen wollten, was junge Menschen in einem von Abwanderung geprägten Landstrich, der noch dazu von Umweltskandalen heimgesucht wurde und wird, zum Bleiben, respektive zum Wunsch zu bleiben veranlasst.

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2.1 Selfies als Gesprächsimpuls Bereits im Zuge unserer umfassenden Recherche für die Entwicklung des Projekts, einer Analyse der Mediendiskurse und der Pre-Interviews5 entwickelten wir eine spezifische Form des Foto-Interviews: Wir baten junge Talbewohner*innen, ein Selfie an einem Lieblingsplatz im Görtschitztal aufzunehmen und dieses mit zu einem Gruppeninterview zu bringen. Warum ein Selfie? Theoretisch knüpften wir an Überlegungen an, die in der Selfie-Kultur – entgegen einer kulturpessimistischen Haltung, welche die neue Praxis des Sich-selbst-Fotografierens als massenhaft auftretende, narzisstische Selbstbespiegelung verurteilt – eine „neue Form sich selbst zu betrachten und mit anderen zu unterhalten“ (Schönberger 2017; vgl. auch Schönberger 2020) sieht. Das Selfie als Kommunikationsmittel interessiert hier als Möglichkeit sich auszuprobieren. Es fungiert in dieser Lesart auch als eine Form der Weltaneignung, der das Potenzial der Selbstermächtigung inhärent ist (vgl. Holfelder/Schönberger 2018). Dieses Enabling-Potenzial (Schönberger 2007) wollten wir nutzen. Wie es bei Fotointerviews oft der Fall ist, sollten die Selfies als Erzählimpuls für den Einstieg in die Gespräche dienen. Im Gegensatz zu fotoelizitativen Verfahren, die darauf abheben, Erinnerungen zu evozieren (vgl. z. B. Dimbath 2013: 137; Buchner-Fuhs 1997), wollten wir mittels der Selbstporträts Informationen über die gegenwärtige Selbst-Verortung der Interviewpartner*innen – im geografischen ebenso wie im sozialen Raum (vgl. Wuggenig 1990/1991) – gewinnen. Der bewusst suggestiv ausgerichtete methodische Zugang sollte es den Interviewpartner*innen ermöglichen, sich positiv auf ihren Wohnort und ihr Umfeld zu beziehen. Unser Ziel bestand nicht darin, die Selfies als eigenständige Daten zu analysieren, sondern sie als subjektive Quelle der Bildproduzent*innen heranzuziehen, mittels derer sie ihre Weltsicht visuell festhalten und im Gespräch darlegen. Die Möglichkeit, mit Selfies zu arbeiten, war deshalb gegeben, weil wir junge Erwachsene befragten, die mit Smartphones vertraut sind und für die das digitale Fotografieren zu ihren Alltagspraktiken zählt (vgl. Holfelder/Ritter 2015). Ein weiteres Argument, Selfies als Ausgangspunkt unserer Forschung zu verwenden, war die Idee, die Selbstporträts kombiniert mit Kurztexten in die anvisierte Ausstellung zu übernehmen und auf diese Weise ein partizipatives Moment zu realisieren. 5

In einer Lehrveranstaltung unter der Leitung von Klaus Schönberger und mir führten Studierende Pretests durch. Das im Folgenden beschriebene Forschungsprojekt wurde von Klaus Schönberger und mir konzipiert und durchgeführt.

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2.2 Gruppendiskussionen mit jungen Erwachsenen Nachdem in Einzelinterviews der Zugang über die Selfies getestet und für ertragreich befunden worden war, stellten wir mit Hilfe einer Gatekeeperin, die eine Brückenfunktion zwischen Moderator*innen und Befragten einnahm, vier Fokusgruppen mit jeweils drei bis vier jungen Erwachsenen6 zusammen. Diese sollten von einem Moderator und einer Moderatorin in Räumlichkeiten der Gemeinde Brückl befragt werden. Die Interviewpartner*innen kannten sich untereinander, weil sie in der „Landjugend Kärnten“7, einem Verband, in dem lokale Einzelvereine zusammengefasst sind, aktiv sind. Dieser stellt einen gemeinsamen Bezugspunkt dar. Der Vorteil, den wir uns vom Zugang über die Gruppeninterviews erhofften, war, dass die Befragten miteinander und mit dem Moderator*innenteam ins Gespräch kommen und wir auf diesem Weg weiterreichende Erkenntnisse generieren könnten als in Einzelinterviews. Die Interviews orientierten sich an einem themenzentrierten Leitfaden, der aus drei thematischen Blöcken bestand, offen gehalten war und auch Fragen enthielt, die zum Assoziieren anregen sollten. Konkret handelte es sich um die Themen „Orte und Ereignisse“, „Selbstbilder und Fremdbilder“ und „Zukunftsvisionen“. Zum Gesprächseinstieg sollten die Befragten ihre Selfies zeigen und erzählen, weshalb sie den Aufnahmeort gewählt hatten. Die Schlussfrage lautete „Wenn Sie – wie im Märchen – drei Wünsche für das Görtschitztal frei hätten, wie würden die drei Wünsche lauten?“ Nach dem Umweltskandal fragten wir explizit nicht.

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Die Befragten waren zwischen 17 und 26 Jahre alt. Die meisten waren in der Ausbildung (Schule, Berufsausbildung, Studium), zwei waren bereits berufstätig. Die Interviews wurden im Sommer 2017 durchgeführt. Die Kärntner Landjugend wurde 1949 gegründet und ist auf Bundesebene der Österreichischen Landjugend angegliedert. Ursprünglich als „Ländliches Fortbildungswerk“ konzipiert, ist der Verband heute eine Interessenvertretung junger Landwirt*innen. Sie vermag aber auch andere junge Menschen zu binden. Auf lokaler Vereinsebene spielt die derzeit größte österreichische Jugendorganisation im ländlichen Raum eine große Rolle im Freizeitbereich. Im Zentrum der gut untereinander vernetzten Einzelvereine steht das Praktizieren von Brauchtum und sogenannter Volkskultur. Vgl. https://landjugend.at/ueber-uns/geschichte-der-landjugend. Zum Begriff Volkskultur vgl. SchmidtLauber/Wietschorke (2016).

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3 ‚Mein Görtschitztal‘ – Umsetzung der Methoden 3.1 Selfies – Mittel der Selbstreflexion und der Selbstverortung Der Wahl des Ortes, an dem die Befragten ihr Selfie aufnahmen, ging ein Reflexionsprozess voraus, über den in den Gesprächsrunden berichtetet wurde. Dies hatte den Vorteil, dass sich die Befragten im Vorfeld bereits intensiv mit der Frage, was ihr Lieblingsort sei, auseinandergesetzt hatten und entsprechend auf das Interview vorbereitet waren. Wie erhofft, war die Einstiegsfrage ein positiver Gesprächsimpuls und die Befragten hatten offensichtlich Freude daran, ihre Lieblingsorte vorzustellen. Die Fotoaufnahmen waren starke Statements, in denen sich die Befassung der Befragten mit ‚ihrem Görtschitztal‘ verdichtete. Als Muster stellte sich heraus, dass sie Orte gewählt hatten, die sie mit gemeinsamen Aktivitäten mit Freunden oder der Familie in der Kindheit oder der Gegenwart verbinden. Eine Interviewte brachte dies auf den Punkt, indem sie meinte, die Erinnerungen gäben den Orten Bedeutung. Neben biografischen und sozialen Aspekten spielte der gewählte Lieblingsort eine wichtige Rolle als persönlicher Erholungsort. Die „Natur“, in der man Energie tanken, eine schöne Aussicht genießen, ausspannen und Abstand zum Alltag gewinnen könne, stand im Zentrum der meisten Aussagen. Die über die Fotografie visualisierte Verknüpfung von Ort und Person fand in der Darstellung der Beweggründe, weshalb der jeweilige Ort ausgesucht worden war, eine Entsprechung: Die Interviewpartner*innen beschrieben ihre emotionale Verbundenheit, weshalb sich behaupten lässt, dass sie sowohl über das fotografierte Selfie als auch über die Erzählung ihres Lieblingsortes eine lokale und soziale Verortung in ‚ihrem‘ Görtschitztal vornahmen. Dies zeigte sich auch in der Reflexion der Befragten, denen der Zugang über die Selbstportraits gut gefiel. Sie meinten, dass ein Selfie „persönlich“ sei, viel über die abgebildeten Personen aussagen und Nähe zu potenziellen Rezipient*innen herstellen könne. Zudem betonten sie, dass die Methode des Selfie-Interviews ein „kreativer“ und „moderner“ Zugang sei. 3.2 Gruppendiskussion – kontroversielles Forum oder Ort der Selbstverständigung? Der Verlauf der Interviews, in denen das Moderator*innenteam thematische Impulse setzte, lässt sich als Gesprächssituation beschreiben, in der sich die Beteiligten direkt aufeinander bezogen, sich gegenseitig ergänzten und gemeinsam das Besprochene reflektierten. Dabei fiel auf, dass unterschied-

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liche Positionen, insbesondere bezüglich des Umweltskandals, nicht in Form von direkten, konflikthaften Dialogen zwischen den einzelnen Gesprächsteilnehmer*innen zum Ausdruck kamen. Stattdessen berief man sich in den Erzählungen auf nicht anwesende Personen oder pauschalisierend auf ‚die Politik‘, ‚die Firmen‘, ‚die Bauern‘ sowie ‚die Medienberichterstattung‘. Eine mögliche Erklärung für diese Zurückhaltung lieferten die Gesprächspartner*innen, indem sie beschrieben, in welcher Weise Konflikte in der ländlichen Region, in der man sich untereinander kennt, ausgetragen werden. Es war die Rede davon, dass man sich arrangieren und Kompromisse eingehen müsse, weil man sich ja ständig treffe und man sich im Fall von unüberwindbaren Gräben entweder zurückziehen oder den Kontakt gänzlich abbrechen müsse. Aufgrund der sozialen Kontrolle von Seiten Dritter, seit es ratsam, Konflikte möglichst unauffällig zu führen. Diese Beschreibung, die auf die Spezifik des Miteinanders in kleinen, personalisierten sozialen Einheiten abhebt, lässt sich auf das Interviewsetting übertragen: Hier saßen Personen zusammen, die sich kennen und die durch ihre Vereinsaktivitäten, ihre Familien und Nachbarschaften miteinander verbunden sind. Verstärkt wurde ein Zusammengehörigkeitsgefühl möglicherweise durch das Setting, in dem die Befragten vom Moderator*innenteam als ‚Görtschitztaler*innen‘ adressiert wurden. Dies beförderte die Konstruktion einer Einheit. Auch wenn der Gesprächsverlauf dazu tendierte, unterschiedliche Haltungen und Konflikte nur indirekt anzusprechen, ließen sich auf diesem Umweg doch weitergehende Einblicke in Gegebenheiten und Narrative gewinnen, die das Alltagsleben im Tal mitbestimmen und mitkonstituieren. Zentrale Themen waren das Leben auf dem Land, die angenommenen Zuschreibungen der Abwandernden an jene, die bleiben, und die daraus resultierenden Selbsteinschätzungen der im Tal Verbleibenden. Die Befragten thematisierten aus eigenem Antrieb den hypostasierten Vorwurf der Provinzialität, dem sie ausgesetzt seien, und rechtfertigten ihr Bleiben im Tal damit, dass sie sich mit ihrem Herkunftsort verbunden fühlten, die Ruhe und Natur auf dem Land schätzten und die Großstadt unübersichtlich fänden. Zudem betonten die meisten, dass sie in die umliegenden Städte mittlerer Größe (St. Veit an der Glan, Klagenfurt, aber auch Graz) pendeln und man damit nicht nur abgeschieden auf dem Land lebe, sondern auch die Vorteile der Stadt nutzen würde. In diesem Zusammenhang erörterten die Gesprächsteilnehmer*innen, was sie unter dem Begriff ‚Heimat‘ verstehen, und fächerten die Bedeutungen auf in lokale, soziale, ökonomische und biografische Bezüge. Obwohl die Befragten ‚ihr‘ Görtschitztal vorwiegend positiv beschrieben, sparten sie auch nicht mit Kritik, die sich insbesondere auf die mangelnde Infrastruktur bezog. Bemängelt wurde vor allem

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die schwache Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz, die den Individualverkehr unerlässlich mache. Die jungen Frauen thematisierten zudem, dass sie zwar gerne auch künftig im Görtschitztal leben würden, aber aufgrund der schlechten Berufsaussichten und der nur rudimentär ausgebauten Kinderbetreuungsangebote damit rechneten, ihren Lebensmittelpunkt künftig verlagern zu müssen.8 Diese hier nur angedeuteten Themen und weitere, die aufkamen, wie das Vereinsleben und Freizeitangebote, das Leben mit der Familie und Generationenkonflikte, lieferten eine dichte Beschreibung des Lebens im Görtschitztal und bieten Anknüpfungsmöglichkeiten für detaillierte Analysen in verschiedenen Forschungsfeldern, etwa in den Bereichen der Familienforschung, der Genderforschung, der Jugendkulturforschung und der Regionalforschung. Wie erhofft konnten wir über unseren Zugang, der die Frage nach dem Umgang mit dem Umweltgift HCB explizit ausschloss, Informationen zu genau dieser Thematik gewinnen. Nicht nur in kurzen Einwürfen, sondern in ausführlichen Erzählungen bezogen die Befragten Stellung – nicht selten über das erwähnte Muster, sich hinter die Aussagen anderer zu stellen und kollektive Akteur*innen für sich sprechen zu lassen oder pauschale Statements zu formulieren. Deutlich wurde, dass sehr unterschiedliche und ambivalente Haltungen zur Situation im Tal bestanden: Wir wurden konfrontiert mit Schuldzuschreibungen an die Verantwortlichen und die Politik, die keine transparente Aufklärung betrieben haben sollen, mit dem Vorwurf an die Medien, die skandalisiert und dem Tal damit ein negatives Image verpasst hätten, dem Statement, dass die Belastung der Landwirtschaft geschadet habe, aber eine eingereichte Sammelklage nur darauf aus sei, finanziellen Profit aus Entschädigungszahlungen zu ziehen, mit der Unsicherheit, wie gefährlich das Umweltgift nun tatsächlich sei, und der Behauptung, dass man sich um die eigene Gesundheit nicht sorgen müsse und das Gemüse aus dem eigenen Garten durchaus essen könne. In all diesen Aussagen fanden wir die Narrative wieder, die wir bereits im Rahmen einer systematischen Analyse der öffentlichen Diskurse vorgefunden hatten (Peball 2019), und die sich mit weiteren Feldbeobachtungen und Interviews (insbesondere mit den Initiator*innen der Bürgerinitiativen) zu einem dichten Gesamtbild zusammenfügten.

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Vgl. hierzu auch die im Kontext des Projekts entstandene Bachelorarbeit im Studiengang Angewandte Kulturwissenschaft: Katharina Fruhmann: Perspektiven und Hoffnungen von jungen Menschen im Görtschitztal. Institut für Kulturanalyse der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt 2017.

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Vor diesem Hintergrund kann das Gruppengespräch als eine ertragreiche Methode betrachtet werden, mittels derer sich – trotz des kleinen Samples – eine maximale Bandbreite an Erzählungen generieren ließ. Waren die Gesprächsrunden zum einen ein Diskussionsforum, in dem unterschiedliche und konträre Positionen zur Debatte standen, waren sie zum anderen auch ein Ort der Selbstverständigung der Beteiligten, in dem die unterschiedlichen Positionen verhandelt wurden und versucht wurde, einen Konsens darüber herzustellen, was ‚das Görtschitztal‘ ausmache. Die angenehme Gesprächsatmosphäre, in der die Gesprächspartner*innen weite Strecken miteinander kommunizierten, ohne vom Moderator*innenteam unterbrochen zu werden, ermöglichte einen Austausch, den die Beteiligten im Nachgang als bereichernd beschrieben. Man habe Vieles voneinander erfahren, was man vorher nicht wusste, obwohl man sich kenne, sagten einige im Anschluss an die Gespräche. Zudem sei man überrascht, was das Görtschitztal alles an Sehenswertem, Freizeitangeboten und Lebensqualität zu bieten habe. Die Gruppendiskussion fungierte also durchaus als ein Werkzeug des Empowerments. Auf die positive Gestimmtheit der Befragten ist vermutlich auch der Effekt zurückzuführen, dass wir die Selfies und Kurztexte, die wir als Portraits verfasst und den Befragten zum Gegenlesen gegeben hatten, alle öffentlich ausstellen konnten.9

4 Fazit und Reflexion Die Anwendung der in der qualitativen Sozialforschung im Bereich der Grundlagenforschung wenig angewandten Methoden der Fotoelizitation und der Gruppendiskussion erwies sich im Rahmen des vorgestellten Forschungsprojekts als sehr produktiv. Unsere anfänglichen Befürchtungen, in dem konfliktbeladenen Feld wenig über die interessierende HCB-Causa zu erfahren, erwies sich als unbegründet. Im Gegenteil: Über den mikroanalytischen Zugang konnten wir in dem kleinen Sample reichhaltige und weitreichende Erkenntnisse generieren. Wir waren erstaunt, mit welcher Offenheit uns die Gesprächspartner*innen begegneten, wie bereitwillig sie uns ihre Fotografien zur Verfügung stellten 9

Die multimediale Ausstellung „Eine ethnografisch­künstlerische Erkundung des Kärntner Görtschitztals“ war vom 13. 4. 2018 bis zum 13. 5. 2018 an der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt zu sehen. Danach wanderte sie ins Gemeindeamt Brückl, wo man sie vom 23. 5. 2019 bis 8. 2. 2020 besichtigen konnte. https://www.aau.at/kulturanalyse/studium/lehrforschungs-projekte-im-studium-akuwi/selfies-im-goertschitztal/

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und auch ihre Personenporträts öffentlich ausstellen ließen. Dies war möglicherweise auch ein Resultat der Auswahl des Samples, in dem Personen aufeinandertrafen, die sich bereits kannten. Das Sample wurde zu einem großen Teil von der erwähnten uns zuvor bekannten Gatekeeperin zusammengestellt, und es ist davon auszugehen, dass diese versuchte, den antizipierten Erwartungen der Forscher*innen entgegenzukommen. Die Kontaktperson war für die Bereitstellung des Raums zuständig, sie war bei allen Gesprächen anwesend (äußerte sich aber nur in einer der Gruppendiskussionen), und vermittelte auf der organisatorischen Ebene zwischen den Gesprächsteilnehmer*innen und dem Moderator*innenteam. Die durchweg positive Gesprächsatmosphäre, ist sowohl auf die Wahl der Methoden (vgl. Infoboxen) zurückzuführen als auch auf die Tatsache, dass sich die Befragten untereinander kannten und die Gatekeeperin die erwähnte Brückenfunktion einnahm. Zudem könnte die Möglichkeit, sich über die Situation im Tal in einer positiven Weise (entgegen des Gifttal-Images) zu äußern hierzu beigetragen haben. Die Tatsache, dass das Moderator*innenteam von außen kam, und nicht in die Komplexität des sozialen Miteinanders im Tal verstrickt war, war sicherlich von Vorteil. Hierzu ist zu konstatieren, dass mehrere Fremdheitseffekte zusammenspielten: Dem Statusunterschied zwischen den Befragten und den von der Universität aus der nahegelegenen Stadt kommenden Wissenschaftler*innen wurde offensichtlich Bedeutung beigemessen. Dies wurde deutlich in der mehrfach gestellten Nachfrage, weshalb wir uns für das Leben im Görtschitztal interessierten, aus der wir einen gewissen Stolz herauszuhören meinten. Die hierarchische Konstellation, die sich auch im großen Altersunterschied zwischen den Befragten und den Moderator*innen ausdrückte, wurde jedoch im Laufe der Gespräche aufgeweicht, da das Moderator*innenteam die Befragten in mehrfacher Weise als Expert*innen adressieren konnte – nicht nur über die Methoden der Fotoelizitation und der Gruppendiskussion: Da wir beide nicht aus Österreich bzw. aus Kärnten stammen, ergaben sich viele spontane Nachfragen, die deutlich machten, dass wir einen großen Informationsbedarf hatten. Auch nahmen wir aus Sicht der Befragten vermutlich eine neutrale Position ein, die es erleichterte, sich zu äußern. Die lockere Atmosphäre, die einem Alltagsgespräch nahekam, ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass wir die Moderatorenrolle zu zweit übernahmen. Die Befürchtung, in dieser Form zu dominant aufzutreten, erwies sich als unbegründet – es ließ sich im Gegenteil beobachten, dass einige Fragen und Antworten gezielt an den weiblichen und andere an den männlichen Part des Moderator*innenteams gerichtet wurden. Insbesondere Aussagen, die sich auf die Situation der Frauen im Tal bezogen, waren an die

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Moderatorin gerichtet. Die Möglichkeit, sich im Moderator*innenteam gegenseitig die Bälle zuzuspielen, trug auch von Seiten der Interviewer*innen zu einer entspannten Gesprächsatmosphäre bei.

Die Fotoelizitation Fotos (und andere visuelle Medien wie Bilder und Filme) werden in der qualitativen Forschung in Kombination mit Interviews eingesetzt, um Gesprächsanreize zu geben, Erinnerungen hervorzurufen oder Assoziationen zu evozieren. Darauf fokussiert der englische Begriff „elicitation“, der wörtlich das „Entlocken“, „Erkunden“, „Herausholen“ meint. Weitere Bezeichnungen sind fotobasierte Befragung, Fotobefragung und Fotointerview. Unterschieden wird zwischen Interviews, bei denen den Gesprächspartner*innen Fotos vorgelegt werden, die ihnen nicht bekannt sind, und Gesprächen anhand von Fotos, die die Befragten früher aufgenommen haben. In einer dritten Variante werden den zu Interviewenden Fotoaufträge erteilt, das heißt, sie werden gebeten, Aufnahmen zu einer bestimmten Thematik zu machen, die sie zum Interview mitbringen. Im Interview bittet der/die Interviewer*in darum, die Fotos zu erklären und zu kommentieren. Ziel ist es, dadurch Informationen zur Innenperspektive und zu subjektiven Interpretationen der Befragten zu generieren. Die Methode des fotobasierten Interviews stellt in der qualitativen Grundlagenforschung – im Gegensatz zur angewandten Forschung etwa der Marktforschung, der Organisationsforschung (vgl. z. B. Brake 2009; Manger 2016), Mental Health Research (vgl. z. B. Glaw et al. 2017) oder in pädagogischen Settings (vgl. z. B. Kulcke 2009) – zwar noch immer eine Randerscheinung dar, findet aber zunehmend Verwendung (vgl. z. B. Buchner-Fuhs 1987; Wuggenig 1990/91; Boehnke 1995). Als erster, der die Methode theoretisch reflektierte, gilt der US-amerikanische Anthropologe John Collier (1913–1992). Alle Formen von Fotointerviews zeichnen sich dadurch aus, dass der Gesprächsverlauf offen gehalten wird – wobei der Grad je nach Erkenntnisinteresse und Fragestellung unterschiedlich ausgeprägt ist. Inhalte, die sich sprachlich nur schwer vermitteln lassen, können erfasst, Erinnerungsarbeit unterstützt, Emotionen evoziert und unerwartete Informationen gewonnen werden. Zudem haben Fotointerviews häufig den Effekt, dass die Hierarchie der Interviewsituation aufgebrochen wird, weil die Gesprächspartner*innen zu Expert*innen der Bildinterpretation werden. Literatur: Collier (1957); Buchner-Fuhs (1987); Wuggenig (1990); Harper (2002); Brake (2009); Saini/Schärer (2014).

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Die Gruppendiskussion Die Gruppendiskussion ist ein Gespräch, das von einem oder mehreren Moderator*innen angeleitet wird. In der Regel setzen die Moderator*innen Gesprächsimpulse und führen anhand eines strukturierten, aber nicht-standardisierten Leitfadens durch die Diskussion und lassen dabei möglichst viel Raum für die Interaktion der Gesprächsteilnehmer*innen. Weitere Bezeichnungen für diese Erhebungsmethode sind Gruppenbefragung, Fokusgruppeninterview und Fokusgruppendiskussion. Sie verweisen auf die Schwierigkeit, das Format präzise zu bestimmen, denn Gruppendiskussionen sind zumeist Befragungssituation und Gesprächsforum zugleich. Die Methode der Gruppendiskussion wird für zwei grundlegend verschiedene Zwecke eingesetzt: Einerseits, um Gruppenprozesse zu beobachten und andererseits, um Informationen von Mitgliedern einer Gruppe zu ermitteln. Bei der letztgenannten Ausrichtung lässt sich unterscheiden, ob die Methode auf die individuellen Meinungen der Gruppenteilnehmer*innen oder eine in der Diskussion konstruierte gemeinsame Haltung der Gruppe abzielt. Die beiden Formen der Gruppendiskussion haben unterschiedliche Ursprünge: Erstmals führte der Sozialpsychologe Kurt Lewin (1890–1947) in den USA in den 1930erJahren Gruppenbefragungen durch, um Gruppendynamiken zu analysieren. Im deutschsprachigen Raum adaptierte der Soziologe und Mitbegründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Friedrich Pollock (1894–1970) Anfang der 1950er-Jahre die Methode, um die politischen Einstellungen der deutschen Bevölkerung der Nachkriegszeit zu untersuchen. Die Zusammenstellung der Gruppen erfolgt nach mehreren Kriterien: Unterschieden wird zwischen „natürlichen“ Gruppen, in denen sich die Teilnehmer*innen bereits kennen, und „künstlichen“ Gruppen, in denen das nicht der Fall ist. Des Weiteren wird unterschieden zwischen „heterogenen“ und „homogenen“ Gruppen, die sich nach diversen Kriterien bilden lassen. Bei homogenen Gruppen wird insbesondere der Kategorie Alter Signifikanz zugeschrieben. Last not least spielt die Größe der Gruppe eine nicht zu unterschätzende Rolle, die sich auf die Redezeiten der einzelnen Teilnehmer*innen auswirkt, aber auch auf Gruppendynamiken. Der Methode der Gruppendiskussion liegt die Idee zugrunde, eine „Labor“-Situation zu schaffen, die alltags- und realitätsnah ist. Sie eignet sich, um implizites und von der Gruppe geteiltes Wissen im Gespräch zu aktualisieren, aber auch um tabuisierte Themen anzusprechen. Die Erhebung eines kleinen Samples, das stellvertretend für soziale Gruppen oder Bevölkerungsteile steht, ermöglicht weitgehende Rückschlüsse auf das diskutierte Themenfeld. In der Regel zeichnen sich Gruppendiskussionen durch eine entspannte Gesprächssituation aus, in der die Hierarchien zwischen den fragenden und steuernden

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tor*innen und den Gesprächsteilnehmer*innen wenig präsent sind. Effekte der sozialen Erwünschtheit sind meist vernachlässigbar, steht doch die Interaktion der Diskutant*innen im Fokus der Erhebung und der Analyse. Gruppendiskussionen werden vor allem in der angewandten Forschung eingesetzt (vgl. Schulz et al. 2012), insbesondere in der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung (vgl. Kühn/Koschel 2011), der Organisationsforschung, in Bürgerbeteiligungsverfahren (Dürrenberger/Behringer 1999), aber auch in der psychosozialen Beratung. In der Grundlagenforschung setzt sich die Methode in der Politikberatung und -wissenschaft durch (Prinzen 2020; Dürrenberger/Behringer 1999). Literatur: Lewin (1936); Pollock (1950/51); Dürrenberger/Behringer (1999); Lamnek (1998); Bortz/Döring (2016), S. 379–381; Prinzen (2020).

Literatur Aigner-Walder, Birgit/Klinglmair, Robert (2015): „Brain Drain.“ Hintergründe zur Abwanderung aus Kärnten. Klagenfurt: Hermagoras Verlag/Mohorjeva založba. Boehnke, Klaus (1995): Fotodokumentation und Fotointerview als Techniken der Beschreibung von sozialem Wandel in den Neuen Bundesländern. In: Sahner, Heinz/Schwendtner, Stefan (Hg): 27. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Soziologie – Gesellschaften im Umbruch: Sektionen und Arbeitsgruppen. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 273–279. Online: https:// www.ssoar.info/ssoar/handle/document/16797 [Zugriff: 8. 8. 2021]. Bortz, Jürgen/Döring, Nicola (2016): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaften. 5. überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage. Unter Mitarbeit von Sandra Pöschl. Berlin/Heidelberg: Springer. Brake, Anna (2009): Photobasierte Befragung. In: Kühl, Stefan/Strodtholz Petra/Taffertshofer, Andreas (Hg.): Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlag GmbH, S. 369–388. Buchanan, David. A. (2010): The role of photography in organizational research. A re-engineering case illustration. In: Journal of Management Inquiry, 10 (2), S. 151–164. Buchner-Fuhs, Jutta (1997): Die Fotobefragung – eine kulturwissenschaftliche Interviewmethode? In: Zeitschrift für Volkskunde 93, S. 189–216.

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Collier, John (Jr.) (1957): Photography in Anthropology. A Report on Two Experiments. In: American Anthropologist 59, S. 843–159. Dimbath, Oliver (2013): Visuelle Stimuli in der qualitativen Forschung: Potenziale und Grenzen des Foto gestützten Interviews. In: Soziale Welt 64 (1/2), S. 137–152. Dürrenberger, Gregor/Behringer, Jeannette (1999): Die Fokusgruppe in Theorie und Anwendung. Stuttgart: Akademie für Technikfolgenabschätzung. Fiedler, Heidelore/Hub, Michael/Willner, Susanne/Hutzinger, Otto (1995): Stoffbericht Hexachlorbenzol (HCB). Handbuch Altlasten und Grundwasserschadensfälle, herausgegeben von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden-Württemberg, 1. Aufl. (Karlsruhe). https://tsp.ktn.gv.at/DE/ repos/files/Themenschwerpunkte/hcb/Dateien/Emmissionsmessungen/ A2_Altlasten-Stoffbericht-HCB.pdf?exp=798165&fps=754f721a337b4f b4dd8fbafc370354d5ee4e8e78 https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/16797 [Zugriff: 8. 8. 2021]. Flick, Uwe (2011): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 4. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 248–266. Gartner, Gerald/Markus Hametner (2017): Welche Gemeinden wachsen, welche schrumpfen. In: Der Standard 14. 5. 2017. https://derstandard. at/2000055821519/Welche-Gemeinden-wachsen-welche-schrumpfen [Zugriff: 17. 7. 2021]. Glaw, Xanthe/Inder, Kerry/Kable, Ashley/Hazelton, Michael (2017): Visual Methodologies in Qualtitative Research. Autography and Photo Elicitation Applied to Mental Health Research. In: International Journal of Qualitative Methods. Vol. 16, S. 1–8. DOI https://doi.org/10.1177/1609406917748215 Harper, Douglas (2002): Talking About Pictures: A Case für Photo Elicitation. In: Visual Studies 17, S. 13–26. Holfelder, Ute (2019): „Wenn du wüsstest, wie schön es hier ist“. Vom Wunsch zu bleiben. In: Winkler, Justin/ Kolbe, Susanna/ Eggmann, Sabine (Hg.): Wohin geht die Reise? Geburtstagsgabe für Johanna Rolshoven. Basel: Akroama, S. 319–327. https://www.geruchderzeit.org https://www.ssoar. info/ssoar/handle/document/16797 [Zugriff: 8.8.2021]. Holfelder, Ute/Schönberger, Klaus (2018): „Jetzt schau doch nicht so schlecht gelaunt.“ Das Urlaubsselfie. In: Koroschitz, Werner (Hg.): Zimmer frei. Die Entwicklung der „Fremdenpflege“ in Kärnten. Klagenfurt: Heyn, S. 209–214. Holfelder, Ute/Maier, Barbara/Schönberger, Klaus (2018): Selfies im Görtschitztal. In: Echoes Collective: Echoes from invisible landscapes. Klagenfurt: Wieser, S. 84–93.

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Ute Holfelder

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Doing Videography – Mit der Kamera im Feld während der Corona-Pandemie Ajit Singh und Leopold Meinert

Keywords: Videographie, Videointeraktionsanalyse, Feldforschung, Soziale Situationen, Corona-Pandemie

1 Einleitung Das empirische Interesse an audio-visuellen Daten (Fotos, Bilder, Videos etc.) hat in den vergangenen Jahren rasant zugenommen (u. a. Schnettler/Baer 2013, Ayaß 2016). Oftmals richtet sich der Fokus auf mediale Formen, die ursprünglich nicht für Forschungszwecke erzeugt wurden (bspw. Hochzeitsvideos, Imagefilme, Dokumentarfilme etc.). Mit der Videographie (Tuma et al. 2013) stellen wir eine qualitative Forschungsmethode vor, mit deren Anwendung Forschende selber soziale Situationen audio-visuell aufzeichnen. Die daraus gewonnenen Daten bilden die Grundlage für die videogestützte Analyse von Face-to-face Interaktionen. Der besondere gesellschaftliche Kontext, an dem wir die gegenstandsangemessene Umsetzung der Videographie illustrieren wollen, ist die Corona-Pandemie. Am Beispiel der Untersuchung des Betretens, Wartens und sich Aufhaltens in einem Kopierladen illustrieren wir, wie wir unter den Bedingungen der Corona-Pandemie videographisch geforscht haben. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitungswege des Virus, allen voran die körperliche und räumliche Herstellung des so genannten „Social Distancing“, zeigte, dass sich die räumlichen Formen sozialer Interaktionen überall dort verändert haben, wo wir uns zuvor ganz selbstverständlich im Alltag begegnet sind (Knoblauch/Löw 2020). Die Corona-Pandemie stellte aufgrund ihrer Neuartigkeit, ihrer globalen, epidemischen Ausbreitung und der sich ständig verändernden Wissenslagen in Bezug auf COVID-19 und die Verbreitungswege des die Erkrankung auslösenden Virus SARS-CoV-2 auch für Sozialforschende eine besondere Herausforderung dar. So liegen nur geringe Erkenntnisse darüber vor, wie unter solchen Bedingungen qualitativ geforscht werden kann (vgl. zu den Folgen Reichertz 2021). Sozialwissenschaftler*innen wurden dabei vor zwei Fragen gestellt: Wie lässt sich erstens unter diesen Bedingungen qualitativ Forschung

Doing Videography – Mit der Kamera im Feld während der Corona-Pandemie

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betreiben und welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein? Und wie gehen wir zweitens insbesondere als videographisch Forschende mit dieser Situation um und inwieweit müssen wir die Forschungsdaten vor dem Hintergrund ihres spezifischen Entstehungskontextes reflektieren. In Abschnitt 2 werden zunächst einige Grundannahmen der Videographie erläutert. Im Anschluss rücken wir den Forschungsprozess in den Vordergrund und zeichnen in Abschnitt 3 den forschungspraktischen Verlauf und wichtige Entscheidungen im Forschungsprozess – vom Feldzugang, zur Datenerhebung bis zur Auswertung mit der Videointeraktionsanalyse – nach. In Abschnitt 4 blicken wir schließlich auf Möglichkeiten und Grenzen der Videographie, wobei auch digitale Formen qualitativer Sozialforschung berücksichtigt werden, die über die Krisenerfahrung der Pandemie hinaus gemeinsames Forschen ermöglichen.

2 Zur Klärung einiger Grundannahmen der Videographie Eine der Grundprämissen der soziologischen Erforschung sozialer Phänomene liegt in der Annahme, dass unser Alltag und damit unser alltägliches Handeln und Interagieren an der Herstellung, Konstruktion – gemeinhin auch an der Reproduktion – einer wie auch immer gearteten sozialen Ordnung orientiert ist. Je nachdem, auf welcher gesellschaftsanalytischen Ordnungsebene (heuristisch gemeinhin in Mikro-, Meso-, Makroebene differenziert) angesetzt wird, erhält man einen anderen Zugriff auf das Problem sozialer Ordnung. Angerissen wird das Problem der Herstellung sozialer Ordnung deshalb, weil mit der Videographie (Tuma et al. 2013) programmatisch an einer methodologischen Verbindung dieser Ordnungsebenen (u. a. Schnettler/Knoblauch 2007) gearbeitet wird. Dieser Anspruch zeigt sich darin, dass mit der Videographie eine Methode aus dem Kanon interpretativer Verfahren (vgl. Knoblauch et al. 2018) vorgestellt wird, die die Erhebung audio-visueller Daten1 mit ethnographischem Forschungshandeln kombiniert. So lässt sich die

1

Zwar lassen sich auch Sekundärdaten videointeraktionsanalytisch untersuchen. Wenn die Auswertungsmethode in ein videographisches Forschungsdesign integriert ist, werden jedoch typischerweise selbsterhobene Primärdaten analysiert. Sekundärdaten stellen Forschende vor die Herausforderung, dass sie u. a. das Kontextwissen, das für die Interpretation der situationsbezogenen Interaktionen von erheblicher Bedeutung ist, oftmals nur unter erhöhtem Aufwand nachträglich rekonstruieren können. Diese methodologischen Fragen erlangen aktuell auch in den Debatten um die Nachnutzung qualitativer Daten eine erhöhte Aufmerksamkeit (vgl. Bambey et al. 2018)

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Ajit Singh und Leopold Meinert

Videographie fruchtbar mit der Analyse Kommunikativer Gattungen (Luckmann 1986, Günthner/Knoblauch 1994) kombinieren, indem die Binnenstrukturen und situative Realisierung sozialer Interaktion mit gesellschaftlichen Außenstrukturen (Rahmungen, Veranstaltungsformaten etc.) analytisch in Relation gebracht werden. Das spezifische Erkenntnisinteresse der Videographie gründet in den theoretischen Annahmen der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) und der daraus entstandenen Konversationsanalyse (Sacks 1984, 1992, Heritage/ Atkinson 1984), den interaktionistischen Studien von Erving Goffman (u. a. 1982), aber auch und vor allem im Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann 1966) und dem Kommunikativen Konstruktivismus (Knoblauch 2017). Ausgehend von der Untersuchung der Mikroebene wird soziale Ordnung nicht als etwas Statisches oder vorab Gesetztes begriffen. Vielmehr untersuchen wir den Prozess der Ordnungsbildung als performative Vollzugspraxis von Akteur*innen, die sich wechselseitig und füreinander nachvollziehbar anzeigen, wie ihre Handlungen (bspw. Warten vor einem Geschäft) in situ zu verstehen sind. Im analytischen Fokus ist das Wie kommunikativer Handlungen, wobei angenommen wird, dass nichts zufällig passiert, sondern jede Handlung für die Akteur*innen in der Interaktion potenziell sinnhaft ist. Handelnde greifen dabei zwar immer auf ein gesellschaftliches Wissen über soziale Strukturen (u. a. Situationsrahmungen, Normen etc.) zurück; dennoch sind Kontexte nicht primär als etwas der Situation Äußeres und die Handlungen Strukturierendes anzusehen, sondern als etwas, das von Handelnden Zug um Zug in Interaktionen hervorgebracht wird (Goodwin/ Duranti 1992). An diesem Punkt setzt die videographische Untersuchung sozialer Situationen an. Die Auswertung dieser zumeist selbst erhobenen Videodaten natürlicher Interaktionen geschieht mit der ethnomethodologisch informierten Videointeraktionsanalyse (Knoblauch 2004), die an die sequenziell vorgehende und ursprünglich an Sprache orientierten Konversationsanalyse (Sacks et al. 1974, Have 1999) und die Workplace Studies (u. a. Knoblauch/Heath 1999) anschließt. Die analytische Betrachtung sozialer Interaktionen bildet folglich den wesentlichen Untersuchungsgegenstand der Methode. Mit der Videointeraktionsanalyse lässt sich die situative Aufschichtung und Hervorbringung sozialer Wirklichkeit räumlich und zeitlich (vgl. Meinert/Tuma 2021, Singh 2018) rekonstruieren. Durch die Möglichkeit, das Video langsamer abzuspielen oder anzuhalten, erhalten die Forscher*innen einen detaillierten, mikroskopischen Zugriff auf die Nanoeinheiten sozialer Interaktionen, wie zum Beispiel auf die etwas längere Pause im Gespräch oder die Organisation von Blickkontakten. Kleine körperliche Zeichen, Gesten oder auch mimische Ausdruckshandlungen lassen sich so der Analyse zugänglich machen. Mit dem

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Visuellen kommt zudem eine weitere Dimension in den Fokus, die zur sprachlichen Koordination von Handlungszügen simultan und synchron in Referenz gesetzt werden muss. Spätestens bei der Transkription (siehe Infobox 1) zeigt sich, dass Körperliches und Sprachliches im kommunikativen Prozess der Sinnproduktion miteinander verschränkt sind und sich reflexiv aufeinander beziehen.

Infobox 1: Transkription Transkripte sind Verschriftungen von sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungszügen. Neben dem akustischen oder audio-visuellen Datenmaterial stellen sie einen wesentlichen Bezugspunkt der Datenanalyse dar. Insbesondere Vertreter*innen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse haben sich intensiv mit der Frage befasst, wie gesprochene Sprache verschriftet werden kann und im Laufe der letzten Jahrzehnte wichtige Konventionen und Transkriptionssysteme entwickelt (u. a. Sacks et al. 1974; Have 1999; Jefferson 2004; Selting et al. 2009). Durch Videodaten ergeben sich neue Herausforderungen der sprachlichen und nunmehr visuellen Transkription, Darstellung und Repräsentation kommunikativer Handlungen (u. a. Heath et  al. 2010; Reichertz und Englert 2011; Tuma et al. 2013; Moritz 2014). Bewegte und vertonte Bilder in Videos durchlaufen von der Analyse bis zur Ergebnisdarstellung verschiedene Transformationsprozesse, die u. a. in der Repräsentation multimodaler Transkripte, Partituren, selektierter Standbilder oder Zeichnungen (bisweilen integriert in einem Transkript) und schließlich als geschriebener Text eine neue Darstellungsform bilden (vgl. Ayaß 2015, Luff/Heath 2015). Das Transkript ersetzt nicht das Videodatum, es wirkt aber in der Videointeraktionsanalyse als orientierungsstiftendes Analyseinstrument (vgl. Tuma et  al. 2013, S. 95). Obwohl die Transkription audiovisueller Daten in den letzten Jahren breit diskutiert wurde, lässt sich nicht von einer Standardisierung sprechen. Dies erscheint mithin auch nicht uneingeschränkt sinnvoll, wenn eine gegenstandsangemessene Darstellung audiovisueller Phänomene begründet und intersubjektiv nachvollziehbar an die Kontexte ihrer Erforschung zurückgebunden wird (vgl. Singh 2018).

Die Verortung sozialer Geschehnisse in der Interaktionsordnung schließt zunächst jene Dinge aus, die außerhalb des Handlungsbereichs liegen. Erweitert wird dieser Fokus erst durch das im Zuge der ethnographischen Feldarbeit gewonnene Wissen, das im Verlauf der Videointeraktionsanalyse als „Kontextwissen“ (Knoblauch/Tuma 2018) methodisch kontrolliert eingebracht wird. Mit der Videographie und deren Nähe zur „Fokussierten Ethnographie“

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(Knoblauch 2001, Schnettler/Rebstein 2018) wird auch ein besonderes Verfahren im weiten Feld der ethnographischen Forschung eingeführt, das seit einigen Jahren prosperiert und sich insbesondere in jüngerer Zeit durch eine Vielzahl wissenssoziologisch inspirierter Interaktions- und Kommunikationsstudien auszeichnet (u. a. Tuma 2017, Rebstein 2019, Singh 2019, Haus 2021, Vollmer i.V., Wetzels 2021, Wilke 2022).

3 Der Forschungsprozess: „Social Distancing und neue Raumformen der Interaktion“ Unsere Ausführungen resultieren aus dem Forschungskontext des deutschlandweit durchgeführten Datenerhebungsprojektes „Social Distancing und neue Raumformen der Interaktion“.2 Seit Juli 2020 führten Forscher*innen in öffentlich wie auch in nicht-öffentlich zugänglichen Räumen Erhebungen durch, um die sichtbaren Veränderungen sozialer Erscheinungsformen in der Corona-Pandemie an möglichst vielen Orten (in Kaufhäusern, urbanen Räumen, Parks, beim Einkaufen, Spazierengehen, beim Schlangestehen etc.) zu untersuchen. Das Erkenntnisinteresse des Projektes gründet auf der Beobachtung, dass die Herstellung des „Social Distancing“ in vielen sozialen Situationen in Konflikt zu routinisierten und institutionalisierten Handlungen steht und die Menschen somit vor Probleme stellt, wie Abstände kommuniziert und wie die Einhaltung von Abstandsregeln situativ hergestellt werden. Um diese sozialen und räumlichen Interaktionsformen zu erfassen und feinkörnig zu rekonstruieren, wurde ein videographischer Zugang gewählt. Dabei waren folgende Fragestellungen für die Forschung leitend: • Welche neuen Körperformationen entstehen in Folge der Maßnahmen des „Social Distancing“ im öffentlichen Raum? • Welche Interaktionsformen bilden sich für die Bewegung in problematischen Engräumen aus? • Welche neuen Formen der materiellen und symbolischen Herstellung von Distanz etablieren sich?

2

Finanziert wurde das Datenerhebungsprojekt durch die Berlin University Alliance (BUA). Ziel der Studie ist es, auf Basis videographisch erhobener Daten das Verständnis komplexer, kulturell und situativ organisierter Dynamiken von öffentlichen Begegnungen im Zusammenhang mit dem Infektionsgeschehen und Hygienemaßnahmen genauer zu verstehen (vgl. Tuma et al. iV.). Geleitet wird das Projekt von Hubert Knoblauch, Uwe Flick und René Tuma. (Zur Projektvorstellung siehe auch: https://www.youtube.com/watch?v=EDElsiCKSEU, zuletzt abgerufen am 26.10.2021)

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Um theoretisch und empirisch zu bestimmen, welche Forschungsfelder, Situationen und Interaktionsphänomene besonders relevant erscheinen, wurde im Projekt eine Samplingstrategie entwickelt. Dafür wurden Kriterien festgelegt, um die verschiedenen Forschungsfelder wie politische Demonstrationen, Indoor-Sport wie Klettern/Bouldern, Fitnesstraining, Erziehungseinrichtungen (Kindergarten), Verkaufsinteraktionen auf einem Markt u. a. untereinander vergleichbar zu machen. Daten wurden in Regionen mit hohen und niedrigen Infektionsraten gesammelt. Außerdem wurde zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben, um Situationen aus unterschiedlichen Phasen der Pandemie (mit strikteren und gelockerten Maßnahmen) miteinander vergleichen zu können. Im Vorfeld war dennoch keinesfalls klar, welche Interaktionenformen wir in den jeweiligen Feldern vorfinden und wie sie zur Beantwortung unserer Fragen beitragen. Die Videographie bewegt sich hier in einem interessanten Spannungsfeld: Einerseits agieren wir als (Forschende und) kompetent handelnde Mitglieder in einer uns mehr oder weniger vertrauten Gesellschaft, in die wir in einem stetig andauernden Prozess in unterschiedliche soziale Kontexte hineinsozialisiert werden. Andererseits relativiert sich die Gewissheit generalisierbarer, kulturspezifischer Alltagserfahrungen aufgrund einer sich in verschiedene institutionelle Sonderbereiche (Milieus, Szenen und kleine Lebenswelten) ausdifferenzierenden Gesellschaft. In dieser Hinsicht bleibt der Forschungsstil trotz Vorwissens und Vorannahmen über die Beschaffenheit eines Feldes induktiv. Erkenntnis wird wesentlich aus der unmittelbaren Forschungsarbeit im Feld, den Relevanzen und Sinnsetzungsprozessen der Akteur*innen und aus den im Feld erhobenen Videodaten rekonstruiert. In unserem Projekt waren wir u. a. auf der Suche nach Transiträumen, in denen Menschen sich begegnen und unter beengten Bedingungen Räume, körperliche Distanzformen und Bewegungsrichtungen aushandeln. Demzufolge interessierten uns auch die materialen und architektonischen Veränderungen, die Instruktion von Regeln durch Zeichen und Symbole. All das fanden wir sehr verdichtet in Copyshops, weshalb wir uns entschlossen, die Betreiberin eines Copyshops in einer deutschen Großstadt zu kontaktieren. 3.1 Feldzugang: Kontaktanbahnungen und ihre Fallstricke Für videographisch Forschende ist der Weg ins Feld selten einfach. Daran hat auch die Corona-Pandemie als global-gesellschaftlicher Kontext nichts wesentlich geändert. Der angekündigte Einsatz einer Videokamera verschließt bei der Kontaktanbahnung manchmal die Felder eher, als dass bereitwillig die Tür für eine Form ethnographischer Feldforschung geöffnet wird, die nicht nur

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beobachtet, sondern auf die audio-visuelle „Registrierung“ (Bergmann 1985) sozialer Wirklichkeitsausschnitte zurückgreift. Im Falle einer Ablehnung sollte jedoch nicht gleich die Flinte ins Korn geworfen werden. Der Feldzugang ist nicht nur relevanter Bestandteil jeder Feldforschung, sondern „eine reichhaltige Erkenntnisquelle über das Feld, eine Gelegenheit, über es zu lernen“ (Breidenstein et al. 2013: 59). In dieser Phase sind Forschende nicht nur gezwungen, sich zum Feld zu positionieren. Vice versa werden auch die Grenzen des Feldes kommunikativ gezogen und damit rekonstruierbar. Copyshops erschienen uns deshalb als geeignete Orte zur Datenerhebung, weil die materiellen Neuerungen und räumlichen Veränderungen dort besonders deutlich hervortraten. Die typische Raumarchitektur von Copyshops zeichnet sich dadurch aus, dass mehrere Kopierer auf engstem Raum nebeneinander angeordnet sind. Folglich ist auch die körperliche und räumliche Nähe zwischen den Kund*innen ausgeprägter und Abstände um die 1,50 m sind nicht ohne Weiteres einzuhalten. Eine Lösung dieses Problems bestand darin, dass Kopierer mit Trennwänden aus Fiberglas parzelliert wurden. Markierungen auf dem Boden wiesen die Kund*innen auf ihre Position vor dem Gerät und den Abstand zu anderen Kund*innen hin. Außerdem wurde bereits beim Betreten des Geschäftes darauf hingewiesen, dass die Anzahl an Kund*innen begrenzt ist. Hinweisschilder und andere visuelle Instruktionsformen trugen folglich dazu bei, dass die spezifische Wirklichkeit der Pandemie dauerhaft aktualisiert bleibt. Der Umgang mit diesen Veränderungen des Geschäftsraumes bedeutete für die Kund*innen wie für das Personal eine Herausforderung, der durch eine ausgeprägtere kommunikative Aushandlung (Erklärungen, Belehrungen, Zurechtweisungen, etc.) begegnet wurde. Die Kontaktaufnahme erfolgte in Form einer E-Mail, in der wir unsere Anfrage und unser wissenschaftliches Erkenntnisinteresse darlegten. Eine angemessene Ansprache und die Vermittlung relevanter Informationen sind in der Kommunikation mit dem Feld entscheidend. Wir achteten hier besonders darauf, unser Forschungsvorhaben transparent und verständlich darzustellen. Nach der Zusage durch die Geschäftsführung des Copyshops wurden die Feldtermine zur Datenerhebung festgelegt und der Ablauf der Datenerhebung erläutert. Am Tag der Erhebung sind wir zusätzlich noch einmal persönlich mit der Ansprechperson vor Ort den Ablauf durchgegangen. Dabei mussten wir auf die geltenden Corona-Regelungen zum Infektionsschutz achten, also das Tragen einer Maske und auch die Wahrung von Abstandsregeln. Gleichzeitig war uns bewusst, dass die mehrere Stunden andauernde Datenerhebung im Innenraum des Copyshops mit größter Umsicht gegenüber dem Personal und den Kund*innen ablaufen sollte und wir auch selbst möglichen Gefahren aus dem Weg gehen mussten.

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Rückblickend erscheint es bemerkenswert, dass die Kontaktaufnahme und die Datenerhebung vor Ort in Anbetracht der pandemischen Gesamtlage weitgehend reibungslos funktioniert haben. Dies entspricht nicht unbedingt dem Regelfall. Zumeist braucht es Zeit, bis das Vertrauen im Feld für den Einsatz von Videotechnik aufgebaut ist. Dies sollte stets eingeplant werden. Wir haben außerdem damit gerechnet, dass uns die Verantwortlichen im Feld mit Verunsicherung oder Distanz begegnen könnten oder, dass wir als eine Art Kontrollinstanz zur Einhaltung der Corona-Regeln wahrgenommen werden. Letzteres deutete sich an der „Reaktanz“ (zur Kamerarolle vgl. Goerigk et al. 2021) der Mitarbeiter*innen an, die in der Kommunikation untereinander humoristisch auf unsere Kamera Bezug nahmen. Durch unsere angezeigte Kommunikationsbereitschaft mit den Feldakteur*innen ließen sich jedoch Fragen klären und Bedenken unserem Forschungsinteresse gegenüber ausräumen. 3.2 Videographische Datenerhebung in einem Copyshop Obwohl die audio-visuelle Aufzeichnung sozialer Situationen gewissermaßen das Kerngeschäft der Videographie ist, ist diese eingebunden in ethnographisches Forschungshandeln. Das heißt einerseits, dass die Untersuchung zumeist durch die Erhebung und Analyse weiterer Datensorten (qualitative Interviews, Beobachtungsprotokolle, Felddokumente) begleitet wird, die den engeren Kontext der Situation, aber auch den weiteren Kontext des Feldes erfassen können. Die primäre Folge ethnographischen Forschungshandelns ist aber andererseits, dass wir in den meisten Fällen an den videographierten Situationen aktiv oder passiv teilnehmen. Wir sind für andere körperlich präsent, sichtbar und potenziell ansprechbar. Das ist nicht immer unproblematisch, weil wir darauf bedacht sind, die „Natürlichkeit“ der Situationen nicht zu beeinflussen. Idealerweise dokumentieren wir also Situationen, die sich auch ohne unser Beisein typischerweise so ereignen.3 Damit gelangen wir schon zu einem wichtigen Aspekt der videobasierten Feldforschung. Zwei wichtige Fragen, die im Feld zu beantworten sind, lauten:

3

Das Problem der „Reaktanz“ wurde bereits angedeutet. Es lässt sich nicht immer vermeiden, dass die Feldakteur*innen auf die Kamera reagieren. Allerdings sollte überprüft werden, ob und inwieweit der Einsatz der Kamera das Geschehen im Feld dergestalt beeinflusst, dass das Natürlichkeitspostulat unterlaufen wird. Allerdings muss auch konstatiert werden, dass viele Felder den Umgang mit Kameras oder die Aufzeichnung sozialer Situationen institutionalisiert haben, sei es als Teil einer vernacularen Praxis (vgl. Tuma 2017) oder eben zum Zwecke der Überwachung.

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„Wo soll die Kamera positioniert werden?“ und „Welcher Bildausschnitt soll aufgenommen werden?“ Nähern wir uns zunächst der ersten Frage. Um die Position der Kamera zu bestimmen, mussten wir uns mit den räumlichen Gegebenheiten des Copyshops vertraut machen und die Abläufe für einige Zeit beobachten. Damit einher ging die Entscheidung, ob wir eine oder mehrerer Kameras aufstellen4 und ob wir die Kamera(s) mobil nutzen, sie abwechselnd an verschiedenen Orten positionieren oder während der ganzen Aufzeichnung fest an einer Position belassen. Während wir mit der mobilen Kamera dynamisch den Akteur*innen folgen und diesen „über die Schulter schauen“, fokussiert die fixierte Kamera konstant einen spezifischen Wirklichkeitsausschnitt, den Forschende für relevant erachten. Es bietet sich an, verschiedene Positionen im Forschungsprozess auszuprobieren, um die Qualität der Aufzeichnung sicherzustellen. Spätestens hier wird deutlich, wie stark auch Videograph*innen an der Konstruktion des Datenmaterials beteiligt sind. Wir entschieden uns für die fixierte Kamera, weil a) das Geschäft nicht allzu geräumig war, b) wir bestimmte Ausschnitte als relevante Passagen und Phänomene für unsere Untersuchungen identifiziert hatten und c) wir die pandemiebedingten Einschränkungen und Hygienevorschriften nicht empfindlich unterlaufen wollten, was auch Fragen der Forschungsethik tangiert.

Infobox 2: Forschungsethik Als Forschende sind wir dazu verpflichtet, forschungsethische Richtlinien einzuhalten. Orientierungsmaßstäbe sind u. a. die Standards der jeweiligen Fachgesellschaften (in unserem Fall der Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie insbesondere §2 https://soziologie.de/dgs/ethik/ethik-kodex) sowie die Bestimmungen der Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) und des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG).

4

Im Sinne der „Gegenstandsangemessenheit“ der Anwendung von Untersuchungsmethoden sollte reflektiert werden, dass mehr Kameras auch einen komplexeren Datensatz produzieren. Dabei ist zu betonen, dass es sich um einen zirkulären Erkenntnisprozess handelt, der jederzeit angepasst werden kann: Brauchen wir noch eine weitere Kamera, ist eine andere Position doch fruchtbarer? Wann ist es nützlich, mehr als eine Perspektive einzuplanen, etwa wenn es die materiellen Settings besonders in Innenräumen oder bei größeren Menschenansammlungen (bspw. Demonstrationen im öffentlichen Raum) nicht ermöglichen, nur mit einer Kamera Phänomene angemessen zu erfassen. Überprüft werden sollte daher immer, ob dies analytisch erforderlich ist und den Erkenntnisgewinn in der Forschung substanziell voranbringt. Mehr Daten garantieren nicht zwangsläufig eine höhere Qualität der Untersuchung.

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– Bei der Beteiligung an Forschung gilt immer das Gebot der freiwilligen Einwilligung (informed consent). Hierfür müssen die Teilnehmer*innen ausführlich und zielgruppengerecht (bspw. Kinder) über den Zweck und das Ziel der Studie aufgeklärt werden. Auszuschließen ist dabei jegliche Form von persönlichem Schaden, der aus der Teilnahme resultieren könnte (vgl. Hopf 2003). Direkte Personenbezüge werden kategorisch anonymisiert. Insbesondere Videodaten werden nur zum Zwecke der Forschung (Vorträge, Datensitzungen und Publikationen) verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Für alle Mitarbeitenden an der Studie gilt es, die Standards zu wahren. – Die gefilmten Akteur*innen sollten durch einen Flyer oder einen Aushang darüber informiert werden, dass gefilmt wird. Dieser Aushang ist wichtig, da die Aufzeichnung in semiöffentlichen Räumen mit eigenem Hausrecht (bspw. in Museen) der Zustimmung bedarf. Aber auch in öffentlichen Räumen wie Märkten ist es forschungsethisch erforderlich, über die Videoaufzeichnung zu informieren. – Die Videoforschung bringt auch besondere ethische Eigenarten mit, die zu reflektieren sind, und bewegt sich dabei in einer „Grauzone“ zwischen Wahrung von Persönlichkeitsrechten und „Freiheit der Forschung“ (Tuma et al. 2013, 67f.). Diese Grauzone zeigt sich gerade darin, wenn Forschende verdeckt aufzeichnen. Das kann ethisch und rechtlich u.U. bedenklich sein. Ein vor allem methodischer Einwand wäre, dass das offene Filmen uns mit den Feldakteur*innen konfrontiert und einen Austausch evoziert, der uns im Forschungsprozess hilft, das Feld besser zu verstehen und Kontextwissen zu generieren. Wer videographisch Daten erhebt, sollte sich daher nicht davor scheuen, auch aktiv mit dem Feld in Kontakt zu treten.

Ganz im Sinne Erving Goffmans, der die Beobachtung dort hinlenkte, „wo es Action gibt“ (Goffman 1976), konzentrierten wir uns bei der Auswahl der Kameraposition auf folgende wiederkehrende Situationen: Betreten und Verlassen des Geschäfts, Service-Interaktionen an der Kasse und am Kopiergerät sowie die Nutzung des Kopiergerätes durch die Kund*innen. Im Copyshop stellten wir zwei Kameras auf, da wir den Eingang sowie den Ausgang im Bild haben wollten. Diese Entscheidung erwies sich als sinnvoll, weil hier durch die Besucher*innen des Copyshops ein Ort permanenter Begegnung hergestellt wurde, an dem die Aushandlung sozialer Ordnung gut beobachtbar ist. Hieran lässt sich aufzeigen, woran die Festlegung relevanter Interaktionssequenzen und die Konstitution der untersuchten Phänomene orientiert sind. Wir

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folgen den situativen Relevanzsetzungen (im Sinne beschreib- und beobachtbarer Bedeutungsmarkierungen im Kommunikationsprozess) der Akteur*innen im Feld und wie sie ihr Handeln an anderen Menschen und Dingen sichtbar ausrichten. Unser Alltagswissen hilft uns oft intuitiv, diese Momente zu identifizieren. In dem vorliegenden Untersuchungsfall zogen die Ethnomethoden (alltägliche Praktiken) der Schlangenbildung am Eingang und die beobachtbare Irritation der Kund*innen beim Betreten und Warten im Kopierladen unsere Aufmerksamkeit auf sich, genauso wie der durch spezielle Markierungen gekennzeichnete Weg zur Kasse, der oftmals bei den Kund*innen für Verwirrung sorgte, woran die Auswirkungen der Corona-Regeln auf die Interaktion eindrücklich beobachtet werden konnten. Wir fokussieren – auch später bei der Analyse – auf die lokalen Handlungsformen, die für die Handelnden bedeutsam sind.

Abbildung 1: Kameraausschnitt Innenperspektive Eingang

Die Abbildungen 1 und 2 illustrieren den Eingangsbereich des Copyshops aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Hier bekommt man einen Überblick über die räumlich-materielle Anordnung von Dingen (Ständern, Prospekten, Wegmarkierungen) sowie eine Sicht auf die Glasfront des Schaufensters, wo Kund*innen vor Betreten des Geschäfts öfter reinschauen. Hervorheben möchten wir an dieser Stelle auch insbesondere die beiden in der Signalfarbe Rot gehaltenen Bodenmarkierungen (vgl. Abb. 1 markiert durch gestrichelte weiße Kreise), die dazu auffordern, physische Distanz einzuhalten. Zu betonen ist hier, dass es nicht wie sonst üblich um den Schutz der Privatsphäre während

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der Serviceinteraktion geht, sondern um die unmittelbare Umsetzung von Hygieneregeln. Des Weiteren werden die Kund*innen schon am Eingang durch entsprechende Schilder und Symbole dazu angehalten, eine Atemschutzmaske zu tragen (vgl. Abb. 1 gestrichelter schwarzer Kreis, Abb. 2). Dies alles sind Informationen, die uns bei der Analyse und Einordnung der Interaktionssituation äußerst hilfreich sein können.

Abbildung 2: Foto Außenperspektive Eingang

3.3 Ordnende Blicke: die Auswertung audio-visueller Daten mit der VIA Die Videointeraktionsanalyse (kurz: VIA) (Knoblauch 2004) ist die zentrale interpretative Auswertungsmethode der Videographie (Tuma et al. 2013: 85 ff.). Hierbei werden ethnographisch erworbene Wissensbestände über den Kontext und ethnomethodologisch informierte sequenzielle Feinanalysen von sozialen Interaktionen methodologisch aufeinander bezogen. Die sequenzielle Vorgehensweise stützt sich dabei auf drei ethnomethodologischen Prinzipien: Methodizität, Geordnetheit und Reflexivität. Methodizität richtet den Fokus auf das Wie von Handlungen. Geordnetheit folgt dem bereits einführten Gedanken, dass Ordnung durch die Handelnden hervorgebracht wird und nicht primär von außen auferlegt ist. Reflexivität meint, dass Handelnde in der Weise, wie sie handeln, auch anzeigen, wie ihre Handlungen zu verstehen sind (Knoblauch 2004: 132). Die Auswahl geeigneter Sequenzen aus dem erhobenen Datenmaterial orientiert sich einerseits an dem Prinzip der Relevanz, demzufolge sich das

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soziologisch rekonstruierte Phänomen auch für die Handelnden im Feld als relevant erweisen muss. Der Begründungszusammenhang ergibt sich aus der genauen Beobachtung und Analyse des Materials, weil die Akteur*innen für gewöhnlich eingedenk der ihnen verfügbaren Möglichkeiten der Sinnproduktion und Zeichenauslegung selbst reflexiv anzeigen, was sie als relevant erachten. Ein weiteres Indiz sind rekursive Muster der Kommunikation, D. h. wiederkehrende Formen (bspw. Begrüßungen oder längere Formen wie Powerpoint-Präsentationen), die mithin ein bestimmtes kommunikatives Problem lösen (Luckmann 1986). Bei der Sichtung des Materials fiel uns auf, dass ein erhebliches Problem für die Akteur*innen darin besteht, sich mit der neuen räumlichen Ordnung beim Betreten von Geschäften zu arrangieren. Offenkundig nicht habitualisierte Formen wie das Aufziehen der Maske oder auch die Wahrung von Abstandsregeln mussten nicht nur erlernt, sondern immer wieder neu ausgehandelt werden. Dabei produziert auch die Maske kommunikative Probleme, da sie die Verständlichkeit gesprochener Sprache, aber auch die Mimik und damit wechselseitiges Verstehen empfindlich beeinträchtigt. Die von uns ausgesuchte Sequenz dauert zwanzig Sekunden. Die Kamera war auf den Eingang des Copyshops gerichtet (s. Abb. 1), sodass registriert wurde, wie die Kund*innen den Kopierladen betreten. Dabei ist auffällig, dass die Kund*innen typischerweise bereits vor dem Betreten des Geschäftes beobachten, was sich im Inneren abspielt.

Fragment 1: editiertes visuelles Transkript mit Pfeilen

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In der vorliegenden Szene sieht man, wie eine junge Frau und ein älterer Mann nacheinander vor dem Eingang des Copyshops ankommen. Beide ziehen sich vor dem Geschäft die Maske auf und betreten nacheinander den Kopierladen (Bild 1 und Bild 2). Die Frau als erste, der Mann danach. Im Geschäft selbst befindet sich bereits ein Kunde, der kurz zuvor erschienen ist und nun im Kundengespräch ist. Für die Nachzügler bedeutet dies, dass sie sich an der bestehenden Situation orientieren und anstellen müssen. Die Frau begibt sich in das Geschäft und bleibt vor der Markierung auf dem Boden stehen (Bild 3). Über die Markierungen werden zwar Abstandsregeln angezeigt. Ihre soziale Relevanz erhalten diese Regeln aber erst dadurch, dass sie von den Kund*innen als Handlungsressourcen für die Herstellung der räumlichen und körperlichen Ordnung verwendet werden. Die Markierung wird also bedeutsam, weil sie als Markierung für eine*n selbst wie auch für andere beobachtbar durch kommunikatives Handeln hervorgebracht wird. Während nun beide Kund*innen hintereinander im Eingangsbereich des Geschäftes stehen, wendet die Frau nach etwa zwei Sekunden ihren Kopf nach hinten. Sie schaut jedoch nicht dem Mann hinter ihr ins Gesicht und nimmt Blickkontakt auf, sondern blickt zu Boden (Bild 4). Es ist ein sehr kurzer Moment und er müsste vielleicht nicht relevant sein. Allerdings folgen wir bei der Videointeraktionsanalyse stets der Annahme, wie sie auch in der Konversationsanalyse formuliert wird („order at all points“ vgl. Sacks 1984), dass jede beobachtbare sprachliche wie nichtsprachliche Handlung nicht grundlos oder zufällig geschieht, sondern methodisch5 hergestellt ist. Die Objektivierung der Bedeutung dieser kleinen Handlungsform des Blickens erfolgt einen kurzen Moment später im nächsten „Zug“, nachdem der ältere Mann offensichtlich ihren Blick nach hinten registriert hat. Er schaut die Frau (die sich schon wieder abgewendet hat) kurz an, dann auf den Boden und bewegt sich anschließend einen Schritt nach hinten in Richtung Ausgang (Bild 5). Unmittelbar danach schaut die Frau erneut nach hinten und wendet sich ebenso schnell wieder ab. Ihr Blick wird von dem Mann hinter ihr erneut wahrgenommen, was an seiner Blickausrichtung erkennbar ist (Bild 6). Er bleibt jedoch stehen, so dass der Eindruck erweckt wird, die Situation sei für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst (Bild 7).6 Aufgrund der gänzlich nonverbalen Kommunikation lässt

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Auf das Prinzip der Methodizität von Handlungen wurde bereits eingegangen. Es gründet auf dem Erkenntnisinteresse der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) und meint, dass die Besonderheit der Methodizität von (Alltags-)Aktivitäten in ihrer unhinterfragten Selbstläufigkeit liegt. Handlungen wie eine Begrüßung erklären sich im Vollzug ihrer Ausführung quasi selbst. Hier soll noch einmal zu bedenken gegeben werden, dass die Etablierung, Aufrecht-

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sich nicht ganz rekonstruieren, inwieweit hier seitens des Herren eine Reaktion erfolgt, die auf die kommunikativen Handlungen der Frau zurückzuführen sind. Diese scheint ihrerseits – wenn man so will im zweiten Zug – auf etwas7 oder auf jemanden zu reagieren. Aus unserer Sicht lassen sich unterschiedliche Deutungen vornehmen. Erstens: Die Frau zeigt durch ihren Blick an, dass die räumliche Nähe des Mannes „dispräferiert“ wird. Folgen wir dieser Interpretation, lässt sich das Zurückweichen des Mannes so nachvollziehen, dass er Ihren Blick als Problemmarkierung deutet, die einer Reparatur (Schegloff et al. 1977) bedarf. Ihr Blick wird also als Account8 verstanden, der die Positionierung des Mannes vor dem Hintergrund der Abstandregelungen problematisiert. Bemerkenswert ist, dass der Mann zwar einen Schritt zurückweicht. Er orientiert sich aber nicht an der Abstandsmarkierung, die direkt am Eingang zum Geschäft angebracht ist und die regelkonforme Distanz zur nächsten Markierung, wo sich die Frau befindet, festlegt. Versuchen wir dies nun analytisch zu erschließen, lassen sich zunächst Bezüge zur „Proxemik“ (Hall 1962) herstellen, wonach Menschen durch ihr körperliches Raumverhalten ihre soziale Nähe zu ihren Mitmenschen anzeigen. Hiermit werden jedoch vor allem kulturspezifische Praktiken zu allgemeinen Mustern erklärt, die mit dem eigentlichen Kontext der Pandemie nur sehr wenig gemein haben. Fruchtbarer erscheint uns das Konzept der „Territorien des Selbst“ (Goffman 1982/1971: S. 54 ff.). Goffman verwendet die Idee des Territoriums, um zu beschreiben, wie Akteur*innen im öffentlichen Raum ihre persönliche Sphäre durch spezifische Praktiken körper-

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erhaltung und Umsetzung dieser Regeln offensichtlich nicht frei von Konflikten ist und unterschiedliche Eskalationsstufen durchlaufen kann. Die Besonderheit dieser Situation besteht darin, dass sich am Eingang des Geschäftes eine Lichtschranke befindet, die das Eintreten jedes Kunden akustisch markiert. Steht man also dauerhaft in der Lichtschranke, ertönt auch genauso konstant das Klingelgeräusch, was durch die Kund*innen durchaus genervt kommentiert wurde. In dem vorhandenen Material war die Situation gegeben, dass der Mann in der Lichtschranke zu stehen schien. Aber auch seine Positionsänderung hat an dem Umstand des Klingelns nichts geändert. In Frage zu stellen war also, ob die Abstandsherstellung coronabedingt ist oder dem Umstand geschuldet ist, dass der Kunde aus der Lichtschranke heraustreten sollte. Aus dem sequenziellen Verlauf der Szene lässt sich aber herausarbeiten, dass das Klingelgeräusch für die Frau im Anschluss kein größeres Problem darstellte. Accounts sind indexikale Handlungen, die vornehmlich aus ihrem Kontext heraus verstehbar sind. Handlungen tragen gewissermaßen Sinnentwürfe in sich, das heißt, sie „erklären“ sich selbst und machen sich versteh- und erkennbar, wie etwa das körperliche Anzeigen einer Ausweichbewegung auf einem Bürgersteig oder ein Blick auf den Boden. Die Bedeutung des Blickes erklärt sich nur in dem situativen Setting und nicht auf einer generalisierbaren abstrakten Ebene.

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lich und räumlich abgrenzen. Vor dem Hintergrund der Pandemie spiel(t)en diese Abgrenzungen nochmal eine gesteigerte Rolle, weil sie auch der Vermeidung von Ansteckungen dienten. Die Herstellung physischer Abstandsformen ist dann nicht nur das Produkt einer aufoktroyierten sozialen Regel, sondern ein Problem der intersubjektiven Aushandlung des Schutzes der eigenen persönlichen, leib-körperlichen Integrität und Unversehrtheit. Das kritische Moment besteht nun darin, dass die Situation für beide Interaktionsteilnehmer*innen problematisch ist. Denn auch für den männlichen Kunden besteht das Risiko darin, sozial sanktioniert und als jemand auffällig zu werden, der die „alltägliche Anwendung und Umsetzung“ dieser neuen Abstandsregeln nicht wie ein „kompetentes Mitglied” der Gesellschaft umzusetzen vermag.9 In diesem Sinne wird jene natürliche Einstellung auf die Probe gestellt und hinterfragt, die es uns für gewöhnlich ermöglicht, auf weitestgehend inkorporierte und habitualisierte Wissensbestände zurückzugreifen. Wie das prototypische Beispiel zeigt, tritt sprachliche Kommunikation (auch, aber nicht nur wegen der Atemschutzmaske) dabei oft in den Hintergrund. Mittels kleiner Zeichen wie einem kurzen Blick oder einer subtilen Geste sind Akteur*innen in der Lage, soziale, räumliche und moralische Ordnungen wie eine Abstandsmarkierung kommunikativ herzustellen. Dies erfordert gleichermaßen ein hohes Maß an sozialer Sensibilität aller Interaktionsteilnehmer*innen, um die äußerst verdichteten leibgebundenen Kundgaben sinnhaft zu deuten und zu verstehen. Dieser besondere Aufmerksamkeitsfokus ist aber nicht nur auf andere Interaktionsteilnehmer*innen gerichtet, sondern auch auf die materielle Ausformung der Sozialwelt, mit ihren vielfältigen coronaspezifischen Instruktionen, die mitunter von Geschäft zu Geschäft variieren und dadurch Kund*innen vor die immer wieder neuen Herausforderungen stell(t)en herauszufinden, was „hier“ eigentlich vor sich geht (vgl. Goffman 1980: 17).

4 Schluss und Ausblick Wenngleich sich die videographische und die videobasierte Interaktionsforschung – mit ihren historischen Verbindungen zum ethnographischen Film (Schnettler 2013) – mittlerweile in verschiedenen Disziplinen etablieren, handelt es sich hierbei dennoch um ein recht junges Verfahren. Der Einsatz unterschiedlicher Technologien und Geräte (eine oder mehrere Kameras, externe Mikrofone) sowie die Auswahl des relevanten Ortes und Zeitpunkts

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Die Aufzeichnung stammt wohlgemerkt noch aus der ersten Corona-Welle im Juni 2020.

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der Aufzeichnung stellen Forschende immer wieder vor neue Herausforderungen und führen bisweilen auch zu Konflikten hinsichtlich der eigenen Teilnehmer*innenrolle oder der Zeitlichkeit der Feldereignisse. Hier müssen Forschende von Situation zu Situation entscheiden. Eine tiefe Kenntnis des Feldes ist jedoch stets eine grundlegende Voraussetzung der Videographie. Denn die methodische Entscheidung einer Fokussierung auf kommunikative Aktivitäten, seien es rekursiv auftretende und damit verfestigte Muster der Kommunikation oder flüchtige Begegnungen im Straßenverkehr, ist eingebettet in einen ethnographischen Forschungsprozess, der offene und teilnehmende Beobachtungen, Feldgespräche, Interviews oder auch Dokumentenanalysen miteinbeziehen muss. Ganz augenscheinlich zeigte sich in den ersten Wellen der Corona-Pandemie, dass die Etablierung neuer sozialer Ordnungen nicht nur regelgeleitet ablief, sondern durch Friktionen und Neuaushandlungen gekennzeichnet war. Wie sich beobachten ließ, wurden diese Regeln nicht immer in derselben Weise befolgt oder in der vorgeschlagenen Weise hervorgebracht. Vielmehr zeigte sich an unseren Videoaufzeichnungen in einem Copyshop, dass Kund*innen ganz unterschiedlich mit der Situation umgehen, wie sie einen Laden betreten. Während die einen bereits mehrere Meter vor dem Copyshop ihre Maske aufziehen, warten andere damit bis kurz vor der Tür, während wiederum andere dies erst im Geschäft tun. Die besonderen Arrangements aus Räumen, Körpern und Dingen geben uns in der Videointeraktionsanalyse Aufschluss darüber, wie sich die Pandemie allmählich auch in der Herausbildung neuer Ethnomethoden und Sozialformen verfestigt. Unabhängig davon, wie soziale Regeln konventionalisiert oder wie planvoll sie vermeintlich instruiert sind, so werden sie doch durch die Handelnden situativ höchst eigentümlich realisiert. Durch die Auswirkungen der in der Pandemie in den Alltag getragenen neuen Regelwerke lässt sich anhand unserer Felderfahrungen und der vorläufigen Ergebnisse unserer videographischen Forschung veranschaulichen, dass wir gesellschaftliche Strukturen gerade durch das Aufeinandertreffen konfligierender Wissensbestände reflexiv beobachten und analysieren können. Im Copyshop zeigte sich deutlich, dass Kund*innen Pandemieregeln auch deshalb überschreiten oder unterlaufen, weil unterschiedliche Wissensformen und Wahrnehmungen von angemessenem Verhalten und der Wahrung von Körpergrenzen permanenter Aushandlung bedürfen. Auch als Forschende bleiben wir davon nicht verschont und müssen uns im Feld reflexiv damit auseinandersetzen. Im Hinblick auf die spezifische Situation der Pandemie stellen sich nicht alle methodischen Fragen gänzlich neu. Die Anpassung an die Feldgegebenheiten hat auch hier Bestand, die Orientierung an „qualitativen Gütekriterien“ (vgl.

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Steinke 2003)10 verliert nicht an Relevanz, wird aber um ethische, virologische und rechtliche Aspekte erweitert. Allerdings sind auch wir als Forschende, die wir ja Teil jener Gesellschaft sind, die wir untersuchen, den Prämissen der pandemischen Umstände in gewisser Weise unterworfen (Konferenzen wurden abgesagt, Uni-Gebäude durften zeitweise nicht mehr betreten werden) und müssen teilweise kreative Möglichkeiten und Wege der Datenerhebung suchen, die uns mithin in Grenzbereiche oder – etwa im Falle der Forschung auf Demonstrationen oder in Innenräumen – in gefährliche Situationen manövrieren können. Für die Auswertung mit der Videointeraktionsanalyse, die ebenfalls nicht nur im „stillen Kämmerchen“, sondern auch in Datensitzungen abgehalten wird (vgl. Meier zu Verl/Tuma 2020), stellt sich explizit die Frage, wie Erkenntnisgewinn weiter vorangetrieben werden kann. In Datensitzungen kommen Forschende zusammen, um gemeinsam ausgewählte Videosequenzen zu analysieren und neue Blickwinkel und Interpretationen auf das erhobene Material zu entwickeln. Die Möglichkeiten, während der Pandemie auf digitale Tools wie Zoom, Clickmeeting o. Ä. umzuschwenken, hat durchaus zu einer gravierenden Veränderung der kommunikativen Formen geführt11. Allerdings ist der Mehrwert dahingehend nicht zu unterschätzen, dass die Herstellung einer gemeinsamen digitalen Data Session mit raumzeitlich verteilten Kolleg*innen deutlich vereinfacht wurden. Die digitale Zusammenarbeit an audio-visuellen Daten verlangt per se die Einnahme einer spezifischen Haltung zu „den Dingen“ und ihren unterstellten Selbstverständlichkeiten. Dies gilt gleichermaßen auch reflexiv gewendet für die sich verändernden Formen mediatisierter Kollaboration in der Wissenschaft. Die digitale Datensitzung scheint sich aber auch deshalb zu einem geeigneten Format zu entwickeln, weil der Umgang mit visuellen Oberflächen in das Format der Datenanalyse eingeschrieben ist. Alle Beteiligten sitzen bereits in einer Face-to-Screen-Situation. Diese Form wird zwar gängige Analysen in der Face-to-Face-Begegnung nicht obsolet machten. Aber sie könnte niedrigschwellig Anlässe herstellen, in denen auch junge Forschende sich mit anderen Kolleg*innen (international) vernetzen, um sich über Distanz regelmäßig am Material austauschen zu können.

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Zur neuerlichen Debatte um die Bedeutung von Gütekriterien in der qualitativen Sozialforschung vgl. Hirschauer et al. 2017 sowie Eisewicht/Grenz 2018. Die Forschung hierzu steht noch aus. Allerdings dürfte in jedem Fall deutlich werden, dass sich die Organisation von Redezügen und Gesprächsverläufen in gewisser Weise stärker formalisiert. Der Raum für Nebengespräche und die schiere Tatsache, dass man sich nicht am selben Ort befindet und Blickkontakt miteinander aufnehmen kann, verändert damit auch die Möglichkeiten sublimer Formen der Abstimmung und Handlungskoordination.

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Zu den Autor*innen

Yvonne Berger, Prof. in Dr. in, Professorin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Rosenheim; Forschungsschwerpunkte u. a.: Qualitative Methoden, Sozialwissenschaftliche Chinaforschung, Bildung und (globale) soziale Ungleichheit Barbara Dieris, Dr.in, arbeitet als Psychologin und systemische Therapeutin an einer Kinderklinik; hat ihre Qualifikationsarbeiten mit dem Ansatz der Reflexiven Grounded Theory von Franz Breuer durchgeführt; neben Franz Breuer und Petra Muckel Mitautorin des Lehrbuches „Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis“ Jasmin Donlic, Dr., Assistenzprofessor am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt, Arbeitsbereich Allgemeine Erziehungswissenschaft und diversitätsbewusste Bildung; Forschungsschwerpunkte: Inter-/transkulturelle Bildung im Kontext von Migration und Inklusion, Postmigrantische Lebenswelten und jugendliche Identitätsbildung in regionalen transnationalen Räumen. Paul Eisewicht, Post-Doc an der Fakultät 17 Sozialwissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Weitere Informationen unter: www.researchgate. net/profile/Paul-Eisewicht Frauke Gerstenberg, Dr.in, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Emden/Leer, Arbeitsbereich Ästhetische und Kulturelle Bildung am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit; Forschungsschwerpunkte: Kommunikation und Interaktion in Arbeitsfeldern der Pädagogik der frühen Kindheit, qualitative Forschungsmethoden und Methodendidaktik, Interdisziplinarität, Kunst als Technik in der Wissenschaftskommunikation. Roland Hitzler war bis 2017 Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Dortmund. Weitere Informationen unter: www.hitzlersoziologie.de/

Zu den Autor*innen

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Ute Holfelder, Dr.in ist Empirische Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als Senior Scientist am Institut für Kulturanalyse der Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Ethnografische Forschung, Historische Anthropologie, Kulturelles Erbe, Kulturwissenschaftliche Technik- und Medienforschung, Künstlerische Forschung. Peter Holzwarth, Dr., Dozent im Bereich Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich, Arbeitsschwerpunkte: Medienbildung, Aktive Medienarbeit, Filmanalyse/Filmbildung, Internationale Bildungsprojekte, Life Skills und Medien, Medienkritik/Medienethik, Migration und Mediennutzung, Migration im Film, Visuelle Forschungsmethoden Jasamin Kashanipour, Dr.in, M.Ed., B.Sc., ist Sozial- und Kulturanthropologin. Sie hat Feldforschung im europäischen und außereuropäischen künstlerischen Feld durchgeführt. Ihre Forschung vereint anthropologische Arbeiten über Körper, Performance, künstlerische Praxis und visuelle Kultur. Sie ist Universitätslektorin für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und für Erziehungswissenschaften an der Universität Klagenfurt. Alban Knecht, Dr. Dipl. Soz.Päd (FH), forscht und lehrt am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt, Arbeitsbereich Sozialpädagogik und Inklusionsforschung; Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Migrationspolitik, Armutsforschung, Beschäftigungsförderung benachteiligter Jugendlicher Verena Kumpusch, BA MA, Prae-Doc-Universitätsassistentin am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt, Arbeitsbereich Schulpädagogik und Historische Bildungsforschung; Forschungsschwerpunkte: Intersektionale Geschlechterforschung im Kontext von Schul- und Bildungsforschung; Diskursforschung; Wissenschaftliche Schreibberatung. Aikokul Maksutova, Dr.in, arbeitet als Team Lead Community Engagement bei der VERBI Software GmbH, der Firma hinter MAXQDA. Als ausgebildete Friedens- und Konfliktanalytikerin hat sie mehrere qualitative Forschungsprojekte mit intensiven Feldaufenthalten in Zentralasien und Russland zu interethnischen Konflikten, konfliktsensibler Entwicklung, Frauenrechten im Islam und internationaler Arbeitsmigration durchgeführt. Sie hat einen Doktortitel in Soziologie der Universität Magdeburg, Deutschland. https://independent. academia.edu/AikokulMaksutova

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Zu den Autor*innen

Elisabeth Mayer, Bakk.a MA, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Wien im VIS_BIO-Projekt „Biografien in vernetzten Lebenswelten. Visuelle und sprachliche Konstruktionen von Lebensgeschichten“. In diesem Rahmen arbeitet sie an ihrem Doktorat zum Thema „Konstruktion von Biografien in einer mediatisierten Lebenswelt“. Forschungsschwerpunkte: Biografieforschung, Visuelle Soziologie, Soziale Medien und interpretative Sozialforschung. Leopold Meinert ist wissenschaftlicher Berater am Marktforschungsinstitut eye square GmbH. Forschungsschwerpunkte: interpretative Sozialforschung insbes. Videographie und Konversationsanalyse, soziologische Kulturtheorie und Phänomenologie sowie Shopping & User Experience Research. Stefan Rädiker, Dr., ist Berater und Trainer für Forschungsmethoden und Evaluation. Im Zentrum seiner Lehr- und Forschungstätigkeit steht die computergestützte Analyse von qualitativen und Mixed-Methods-Daten. Er ist Autor zahlreicher Lehrbücher zu qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden, darunter die fünfte Auflage des Buches „Qualitative Inhaltsanalyse“ (zusammen mit Udo Kuckartz, 2022, Beltz Juventa). https://www.methodenexpertise.de Heidi Siller, Mag.a Dr.in, Postdoc-Assistentin an der Universität Klagenfurt, Institut für Psychologie, im Bereich qualitative Forschung in der Psychologie. Forschungsschwerpunkte: Gewalt gegen Frauen, Diskriminierung, Psychotraumatologie, Resilienz; häufig mit intersektionaler, insbesondere genderspezifischer Perspektive. Ajit Singh, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: alltägliche und institutionelle Interaktionen, Wissens- und Körpersoziologie, Soziologie der Planung (Stadtplanung, alltägliche Planungen), interpretative Methoden insbes. Videographie, Ethnographie, Interaktionsanalysen Christina Ricarda Vedder, BSc., Tutorin für qualitative Forschungsmethoden am Institut für Psychologie in der Abteilung für Methodenlehre an der Universität Klagenfurt. Leiterin von Einzel- und Gruppen-Peer-to-Peer-Angeboten zu qualitativer Forschung. Derzeit verfasst sie eine Masterarbeit zum Thema „Leibliche Gegenübertragung und deren Rolle für die Transformation des impliziten Beziehungswissens in psychodynamischen Psychotherapieverfahren“.

Zu den Autor*innen

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Anna Weinberger, MA, tätig in einem Wohnhaus für Klient_innen im Maßnahmenvollzug sowie im Bereich Barrierefreiheit für blinde und sehschwache Studierende an der Univierstät Wien. Ausbildung in Sozialraumorientierter Sozialer Arbeit an der FH Campus Wien, Soziologie an der Universität Wien sowie Grafikdesign. Ehrenamtliche Tätigkeiten im Bereich Asyl und Integration.