Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 1: Ansätze und Anwendungsfelder [2. Aufl.] 9783658182335, 9783658182342

Qualitative Forschung und ihre Methoden sind ein wichtiger Zugang im Rahmen psychologischer Erkenntnissuche. Während qua

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Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 1: Ansätze und Anwendungsfelder [2. Aufl.]
 9783658182335, 9783658182342

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung (Günter Mey, Katja Mruck)....Pages 1-24
Front Matter ....Pages 25-25
Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Methodik in der Psychologie (Franz Breuer)....Pages 27-48
Psychoanalyse (Rolf Haubl, Jan Lohl)....Pages 49-66
Kulturhistorische Psychologie (Carlos Kölbl)....Pages 67-84
Gestaltpsychologie (Herbert Fitzek)....Pages 85-100
Phänomenologische Psychologie (Alexander Nicolai Wendt)....Pages 101-124
Hermeneutik (Ralph Sichler)....Pages 125-143
Symbolischer Interaktionismus (Rainer Winter)....Pages 145-161
Kritische Psychologie (Morus Markard)....Pages 163-183
Forschungsprogramm Subjektive Theorien (Norbert Groeben, Brigitte Scheele)....Pages 185-202
Qualitative Heuristik (Gerhard Kleining)....Pages 203-223
Sozialer Konstruktionismus (Rainer Winter)....Pages 225-240
Erzähltheorie/Narration (Jürgen Straub)....Pages 241-261
Handlungstheorie (Jürgen Straub)....Pages 263-282
Kulturpsychologie (Pradeep Chakkarath, Jürgen Straub)....Pages 283-304
Feministische und queere Psychologien (Anna Sieben)....Pages 305-320
Front Matter ....Pages 321-321
Qualitative Entwicklungspsychologie (Günter Mey)....Pages 323-340
Qualitative Persönlichkeitspsychologie (Karl-Heinz Renner, Philipp Yorck Herzberg)....Pages 341-359
Qualitative Sozialpsychologie (Thomas Kühn, Phil C. Langer)....Pages 361-380
Qualitative Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie (Michael Dick, Hartmut Schulze, Theo Wehner)....Pages 381-401
Qualitative Pädagogische Psychologie (Carlos Kölbl, Andrea Kreuzer)....Pages 403-414
Qualitative Gesundheitspsychologie und Gesundheitsforschung (Heike Ohlbrecht, Thorsten Meyer)....Pages 415-430
Qualitative Psychotherapieforschung (Julia Krüger, Jörg Frommer)....Pages 431-441
Qualitative Rehabilitationspsychologie (Ernst von Kardorff)....Pages 443-459
Qualitative Medienpsychologie (Özen Odağ, Margrit Schreier)....Pages 461-477
Qualitative Mobilitätspsychologie (Heinz Jürgen Kaiser)....Pages 479-494
Qualitative Sportpsychologie (Ina Hunger, Nicola Böhlke)....Pages 495-505
Qualitative Technikpsychologie (Ernst Schraube, Niklas A. Chimirri)....Pages 507-522
Qualitative Religionspsychologie (Ulrike Popp-Baier)....Pages 523-536

Citation preview

Günter Mey Katja Mruck  Hrsg.

Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie Band 1: Ansätze und Anwendungsfelder 2. Auflage

Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie

Günter Mey • Katja Mruck Hrsg.

Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie Band 1: Ansätze und Anwendungsfelder 2., erweiterte und überarbeitete Auflage

mit 5 Abbildungen und 2 Tabellen

Hrsg. Günter Mey Angewandte Humanwissenschaften Hochschule Magdeburg-Stendal Hansestadt Stendal, Deutschland

Katja Mruck Institut für Qualitative Forschung Internationale Akademie Berlin Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-18233-5 ISBN 978-3-658-18234-2 (eBook) ISBN 978-3-658-18388-2 (print and electronic bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2010, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Eva Brechtel-Wahl, Jennifer Ott Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Als wir 2008 vom Springer Verlag eingeladen wurden, ein Handbuch zu qualitativer Forschung in der Psychologie zu gestalten, erschien uns dies Unternehmen sehr sinnvoll und notwendig. Denn angesichts der langen Tradition von Ansätzen aus der Frühzeit der Disziplin und der seit der 1980er-Jahren vermehrten Anstrengung, eine Alternative zu dem ansonsten für die Disziplin charakteristischen standardisierten Vorgehen auszuarbeiten, fehlte bis dahin eine systematische Durchmusterung von theoretischen Bezugspunkten, Verfahren der Planung, Durchführung und Auswertung sowie der subdisziplinären Kartierungen qualitativer Forschung in der Psychologie. Als dann das Buch mit 60 Beiträgen im September 2010 erschien, wurden die Erträge qualitativer Forschung und ihre Relevanz für psychologische Fragestellungen manifest. Zehn Jahre später legen wir nun die zweite, erweiterte und aktualisierte Ausgabe des Handbuchs vor. Auch wenn sich qualitative Forschung nach wie vor in der Peripherie der Gesamtdisziplin befindet, hat sie sich ausgeweitet und ausdifferenziert. Diese Entwicklung zeigt sich auch daran, dass die neue Auflage umfänglicher geworden ist, von der Seitenzahl fast verdoppelt und nunmehr in zwei Bänden mit insgesamt 70 Beiträgen organisiert. Während Band I sich den „Ansätzen und Anwendungsfeldern“ widmet, bietet Band II eine Auseinandersetzung mit „Designs und Verfahren“ der Erhebung und Auswertung. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit an diesem für das Fach wichtigen Kompendium und dem Fortschreiben der Geschichte qualitativer Forschung. Dem Verlag danken wir für den erneuten Auftrag und die Betreuung über die letzten Jahre. Mit der Herausgabe verbindet sich unsere Überzeugung, dass qualitative Ansätze eine Bereicherung für die Psychologie darstellen und es sich lohnt, auch zukünftig an diesem „Programm“ weiterzuarbeiten, das die eigene Geschichte ernst nimmt und angesichts der Breite an Themenfeldern und Arbeitsgebieten auf das Potenzial qualitativer Methodik vertraut. Februar 2020

Günter Mey Katja Mruck

V

Übersicht

Nach einer Einleitung der Herausgebenden (Günter Mey und Katja Mruck) zur wechselvollen Geschichte von qualitativer Forschung in der Psychologie und einer Diskussion wissenschaftstheoretischer Grundlagen (Franz Breuer) werden im ersten Band die für die Psychologie relevanten theoretischen und methodologischen Positionen und Traditionen qualitativer Forschung markiert. Mit Psychoanalyse (Rolf Haubl und Jan Lohl), Kulturhistorischer Schule (Carlos Kölbl) und Gestaltpsychologie (Herbert Fitzek) sind drei der zentralen „alten“ Schulen vertreten, die – um „Phänomenologie“ (Alexander Wendt) und „Hermeneutik“ (Ralph Sichler) ergänzt – allesamt einen lebendigen Eindruck der „Wurzeln“ qualitativer Forschung für die Psychologie geben. Mit dem Symbolischen Interaktionismus (Rainer Winter) wird zudem ein für die interpretativen Sozial- und Humanwissenschaften zentraler Ansatz vorgestellt. In den Beiträgen zu Kritischer Psychologie (Morus Markard), dem Forschungsprogramm Subjektive Theorien (Norbert Groeben und Brigitte Scheele), der qualitativen Heuristik (Gerhard Kleining) und dem Sozialen Konstruktionismus (Rainer Winter) werden zentrale Ansätze einer qualitativen Psychologie aus der jüngeren Geschichte behandelt. Darlegungen zur narrativen Psychologie (Jürgen Straub) sowie Perspektiven der Handlungstheorie (Jürgen Straub) und Kulturpsychologie (Pradeep Chakkarath und Jürgen Straub) sowie quer-feministischer Ansätze (Anna Sieben) komplettieren den ersten Teil. Im zweiten Teil des ersten Bandes finden sich die verschiedenen Forschungsbereiche und Anwendungsgebiete. Mit Entwicklungspsychologie (Günter Mey), Persönlichkeitspsychologie (Karl-Heinz Renner und Philipp York Herzberg) und Sozialpsychologie (Thomas Kühn und Phil Langer) werden drei zentrale psychologische Grundlagenfächer hinsichtlich qualitativer Forschungsstrategien durchmustert, gefolgt von den Anwendungsfächern Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie (Michael Dick, Hartmut Schulze und Theo Wehner), Pädagogische Psychologie (Carlos Kölbl und Andrea Kreuzer) sowie die klinischen Fachgebiete Gesundheitspsychologie (Heike Ohlbrecht und Thorsten Meyer), Psychotherapieforschung (Julia Krüger und Jörg Frommer) und Rehabilitation (Ernst von Kardorff). Zudem finden sich Auseinandersetzungen mit einzelnen Teilgebieten wie Medienpsychologie (Özen Odağ und Margrit Schreier), Mobilitätspsychologie (Heinz Jürgen Kaiser), Sportpsychologie (Ina Hunger und Nicola Böhlke), Technikpsychologie (Ernst Schraube und Niklas Chimirri) sowie Religionspsychologie (Ulrike Popp-Baier). VII

Inhaltsverzeichnis

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung . . . . . . . . . Günter Mey und Katja Mruck Teil I Positionen und Traditionen – Theoretische und methodologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Methodik in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Breuer

1

25

27

Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Haubl und Jan Lohl

49

................................

67

.........................................

85

Phänomenologische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Nicolai Wendt

101

Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Sichler

125

...............................

145

Kritische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morus Markard

163

Forschungsprogramm Subjektive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Groeben und Brigitte Scheele

185

.......................................

203

Kulturhistorische Psychologie Carlos Kölbl Gestaltpsychologie Herbert Fitzek

Symbolischer Interaktionismus Rainer Winter

Qualitative Heuristik Gerhard Kleining

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Sozialer Konstruktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Winter

225

Erzähltheorie/Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Straub

241

Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Straub

263

Kulturpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pradeep Chakkarath und Jürgen Straub

283

Feministische und queere Psychologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Sieben

305

Teil II

321

Ausgewählte Anwendungsfelder

.....................

Qualitative Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey

323

Qualitative Persönlichkeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Heinz Renner und Philipp Yorck Herzberg

341

Qualitative Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Kühn und Phil C. Langer

361

Qualitative Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie . . . . . Michael Dick, Hartmut Schulze und Theo Wehner

381

Qualitative Pädagogische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carlos Kölbl und Andrea Kreuzer

403

Qualitative Gesundheitspsychologie und Gesundheitsforschung . . . . . . Heike Ohlbrecht und Thorsten Meyer

415

Qualitative Psychotherapieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Krüger und Jörg Frommer

431

Qualitative Rehabilitationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst von Kardorff

443

Qualitative Medienpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Özen Odağ und Margrit Schreier

461

.............................

479

Qualitative Mobilitätspsychologie Heinz Jürgen Kaiser

Inhaltsverzeichnis

XI

Qualitative Sportpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Hunger und Nicola Böhlke

495

Qualitative Technikpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Schraube und Niklas A. Chimirri

507

..............................

523

Qualitative Religionspsychologie Ulrike Popp-Baier

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Nicola Böhlke Technische Universität Braunschweig, Braunschweig, Deutschland Franz Breuer Institut für Psychologie, Universität Münster, Münster, Deutschland Pradeep Chakkarath Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Niklas A. Chimirri Department of People and Technology, Roskilde University, Roskilde, Dänemark Michael Dick Professur für Betriebspädagogik, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Herbert Fitzek Business School Berlin, Berlin, Deutschland Jörg Frommer Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg, Deutschland Norbert Groeben Psychologisches Institut Uni Köln, Heidelberg, Deutschland Rolf Haubl Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main, Deutschland Philipp Yorck Herzberg Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Hamburg, Deutschland Ina Hunger Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland Heinz Jürgen Kaiser Institut für Psychogerontologie, Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland Gerhard Kleining Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Carlos Kölbl Lehrstuhl für Psychologie, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Andrea Kreuzer Lehrstuhl für Psychologie, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Julia Krüger Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg, Deutschland XIII

XIV

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Thomas Kühn International Psychoanalytic Universität Berlin, Berlin, Deutschland Phil C. Langer International Psychoanalytic Universität Berlin, Berlin, Deutschland Jan Lohl Institut für Fort- und Weiterbildung, Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland Morus Markard Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Günter Mey Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland and Internationale Akademie Berlin, Institut für Qualitative Forschung, Berlin, Deutschland Thorsten Meyer Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Katja Mruck Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland Özen Odağ Touro College Berlin, Berlin, Deutschland Heike Ohlbrecht Institut für Gesellschaftswissenschaften, Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Ulrike Popp-Baier Geschiedenis, Europese studies en Religiewetenschappen, Universiteit van Amsterdam, Amsterdam, Niederlande Karl-Heinz Renner Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland Brigitte Scheele Psychologisches Institut Uni Köln, Heidelberg, Deutschland Ernst Schraube Department of People and Technology, Roskilde University, Roskilde, Dänemark Margrit Schreier Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland Hartmut Schulze Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten, Schweiz Ralph Sichler University of Applied Sciences Wiener Neustadt, Wiener Neustadt, Österreich Anna Sieben Fakultät für Sozialwissenschaft, Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Jürgen Straub Fakultät für Sozialwissenschaft, Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Ernst von Kardorff Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Theo Wehner ETH Zürich, Zürich, Schweiz

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

XV

Alexander Nicolai Wendt Psychologisches Institut, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Rainer Winter Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung Günter Mey und Katja Mruck

Inhalt 1 Vorbemerkung: ein Handbuch unter vielen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 Die Psychologie und ihre Methodenfrage: eine Tour d’Horizon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3 Ausblick: wohin des Weges, (qualitative) Psychologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird die wechselvolle Geschichte von Kontroversen, Krisen und Konjunkturen der qualitativen Forschung in der Psychologie nachgezeichnet. Festzuhalten ist, dass qualitative Forschungsmethodik heute – trotz zwischenzeitlicher Hochphasen – immer noch der Peripherie der Disziplin angehört, und dies selbst dann, wenn die Ausweitung der Nutzung von Mixed Methods mit in Betracht gezogen wird. Aufgezeigt wird aber auch, dass ungeachtet dieser bestehenden Marginalisierung vielfältige methodische Weiterentwicklungen und Bezugnahmen in allen Grund- und Anwendungsfeldern zu finden sind.

G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Mruck Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_1

1

2

G. Mey und K. Mruck

Schlüsselwörter

Qualitative Forschung · Psychologiegeschichte · Krise der Psychologie · Methodendebatte · Methodenlehre

1

Vorbemerkung: ein Handbuch unter vielen?

Die Beziehung von qualitativer Forschung und Psychologie bzw. die Frage nach dem Stellenwert qualitativer Methoden innerhalb der psychologischen Forschung und Lehre hat eine lange Geschichte mit diversen Positionierungsversuchen und Positionsbestimmungen: Zuweilen finden sich unerfreuliche, manchmal unnötige Grabenkämpfe, zum Teil sind die Debatten geprägt von Ignoranz und selbstinitiierten Rückzügen, dann aber auch von überraschenden Annäherungen und wechselseitigen Bezugnahmen (siehe Abschn. 2). Dass angesichts dieser Geschichte und der Debatte um die Psychologie und ihre Methoden erst im Jahr 2010 und damit sehr spät mit dem „Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie“ (Mey und Mruck 2010) in seiner ersten Auflage ein umfassendes und systematisches Überblickswerk vorlegt wurde, mag überrascht haben – vor allem mit Blick auf die Verbreitung qualitativer Forschungsmethoden ab den 1990er-Jahren in diversen Arbeitsfeldern und unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Eine systematisch angelegte handbuchartige Aufbereitung wäre für die deutschsprachige Psychologie auch früher zu erwarten gewesen, weil wichtige qualitativ-methodische Beiträge in den Anfängen der Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts geleistet wurden, die in den 1980erJahren in Teilen eine Renaissance erfahren haben. In deren Folge entstanden sukzessive einige lokale Zentren – so in Berlin, Bremen, Erlangen, Hannover, München, Tübingen –, die bis zur Jahrtausendwende bestanden und für die Entwicklung und Anwendung einer qualitativen Psychologie in Deutschland wichtig waren (Mey und Mruck 2007).1 Bereits vor drei Jahrzehnten wurde mit dem 1991 erschienenen „Handbuch Qualitative Sozialforschung“ (Flick et al. 1991) erstmals eine umfassende Darstellung zu qualitativer Forschung in deutscher Sprache zusammengetragen, an der

1

Allerdings wurde vor zwei Jahrzehnten der erste Versuch einer Bestandsaufnahme für die deutschsprachige Psychologie unternommen. Hierzu war 1999 ein Schreiben an die Leiter/innen der psychologischen Institute aller deutschsprachigen Universitäten und Hochschulen verschickt worden in der Intention, einen „möglichst breit angelegte[n] und nicht apriorisch (durch methodologische, ideologische o. ä. Ausschluss-Prinzipien) eingeengte[n]“ Überblick (Breuer und Mruck 2000, Abs. 3) zu leisten. Entstanden ist eine Sammlung von insgesamt knapp 30 Texten zu (traditionsreichen) Forschungsstilen, einzelnen Methoden(-entwicklungen) und empirischen Einzelprojekten (Breuer et al. 2000), die allerdings keinen Handbuchcharakter hat, der zum damaligen Zeitpunkt/in dem damals gewählten Kontext auch nicht intendiert war.

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung

3

aufseiten der Herausgebenden und der Beitragenden viele Psycholog/innen beteiligt waren, anders als dann in dem komplett neu ausgerichteten Nachfolgeband „Qualitative Forschung: ein Handbuch“ (Flick et al. 2000), der mittlerweile in der 12. Auflage vorliegt. Ein eigenes Handbuch zu qualitativer Forschung in der Psychologie ist aber schon deshalb vonnöten, weil allgemeine Methodendarstellungen nicht reichen, sondern mit Blick auf die je eigenen Erfordernisse der einzelnen Disziplinen – und deren je eigene Geschichte, Theorien, Forschungsgegenstände und Anwendungsfelder – systematisierende Überblicke notwendig sind. Dazu gehört auch, Methoden aus anderen Disziplinen nicht einfach zu importieren, sondern diese mit Blick auf die eigenen Fragestellungen zu explizieren und ggf. anzupassen. Entsprechend hat sich durchgesetzt, solche disziplinären Kompendien zusammenzustellen, die – wie nun auch das „Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie“ – z. T. schon länger in einer Neu- oder Folgeauflage erschienen sind. Bereits 1997 veröffentlichten Barbara Friebertshäuser und Annedore Prengel das „Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft“, das derzeit in der vierten Auflage vorliegt (Friebertshäuser et al. 2013). „Qualitative Medienforschung – Ein Handbuch“ ist ursprünglich 2005 erschienen und wurde ebenfalls vor Kurzem neu aufgelegt (Mikos und Wegener 2017). Die beiden Handbücher „Qualitative Marktforschung“ (Buber und Holzmüller 2009; Naderer und Balzer 2011) sind in der zweiten Auflage verfügbar und zeigen, dass auch in den „Anwendungsfächern“ eine systematische Aufbereitung vollzogen wurde. Bislang lediglich in der ersten Auflage verfügbar ist das „Handbuch qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit“ (Bock und Miethe 2010). Auch zu erwähnen sind Sammelbände und Monografien zu qualitativer Forschung – wie jene von Uwe Flick (2007), Siegfried Lamnek (2010), Philipp Mayring (2016) oder Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr (2014) –, die allesamt in neueren Auflagen vorliegen und Ausdruck einer zunehmenden Ausweitung sowie einer gewachsenen Selbstverständlichkeit in der Begründung, Entwicklung und Anwendung qualitativer Verfahren sind. Diese können jedoch ebenso wie die zuvor genannten Handbücher nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Entwicklungsstand und die Relevanz qualitativer Forschung und deren Berücksichtigung in der universitären Forschung und Lehre disziplinär nach wie vor sehr unterschiedlich sind. So ist für einige Disziplinen eine relative Gleichberechtigung qualitativer und quantitativer Ansätze festzustellen. Das sicherlich entwickelteste Beispiel ist hier die Soziologie, sowohl was empirische Forschung und wissenschaftliche Theoriebildung als auch was die institutionelle und fachpolitische Präsenz qualitativer Methoden bzw. ihrer Vertreter/innen angeht (Hitzler 2007; Reichertz 2009). Anders verhält es sich bis heute mit der Psychologie. Mit Schreier und Breuer (2006, Abs. 5) lässt sich in gewisser Weise konstatieren, dass die qualitative Psychologie „quasi methodologisch betrachtet“ möglicherweise nach wie vor „so etwas wie ein Extremfall, ein ‚worst case‘“ mit Blick auf die „Grundgesamtheit sozialwissenschaftlicher Disziplinen“ ist.

4

G. Mey und K. Mruck

2

Die Psychologie und ihre Methodenfrage: eine Tour d’Horizon

2.1

Unveränderte Ausgangslage in der Psychologie: „qualitativer Offstream“

Trotz der Notwendigkeit der „Gegenstandsangemessenheit“ von Methoden und der Erfahrung, dass „qualitatives Denken“ für psychologische Fragestellungen eminent wichtig ist, sind qualitative Methoden nicht im Zentrum der psychologischen Forschung und Lehre angekommen. Die (wiederkehrende) Hoffnung, dass eine „‚frische Brise‘ einer qualitativ-methodischen Ausrichtung“ (Breuer und Mruck 2000, Abs. 2) die (institutionalisierte) akademische Psychologie erreichen möge, ist auch heute noch kaum eingelöst. Die langanhaltende schwierige Situation einer qualitativen Psychologie und ihren geringen Stellenwert in der Gesamtdisziplin sieht Norbert Groeben (2006) darin begründet, dass sie keinen Ausgang aus ihrer „selbstverschuldeten Irrelevanz“ gefunden habe. Selbstverschuldet sei die Lage, weil ihr Status nicht einfach dem „Hegemonialstreben des quantitativen Paradigmas“ zugerechnet werden könne, sondern die Vertreter/innen des „qualitativen Offstream“ es versäumt hätten, „eine irgendwie geartete gemeinsame Gegenposition zum herrschenden quantitativen Paradigma aufzubauen“ (Groeben 2006, Abs. 8). Es sei in all den Jahren seit dem Wiedererstarken qualitativer Forschung ab Mitte der 1980er-Jahre in der Psychologie nicht gelungen, eine Einigung zu erzielen hinsichtlich der zu untersuchenden Gegenstände und der zu ihrer Erforschung hinzuziehenden/zu entwickelnden Methodik. Das Essential qualitativer Forschung, Methoden dem Gegenstand „anzupassen“ und nicht nur umgekehrt als empirischen Gegenstand zu akzeptieren, was der Untersuchung durch bestimmte (standardisierte/statistische) Methoden zugänglich ist, habe am Ende zu einer hohen „Heterogenität“ innerhalb der sich „alternativ“ verstehenden Psychologien geführt. Und diese Heterogenität sei in „Zersplitterung“ gemündet, da unterschiedlichste qualitative Varianten ihr je eigenes Gegenstandsverständnis kultiviert und sich gegen andere Richtungen abgeschottet hätten. Groeben hält dazu fest: „Die Überzeugung, die bessere Psychologie zu treiben, führt zu destruktiver Konkurrenz innerhalb des qualitativen wie in Relation zum quantitativen Paradigma“ (Groeben 2006, Abs. 8; s. auch Mey 2018a). So treffend diese Diagnose erscheint, sie ist nun nicht so unähnlich der Beschreibung, die Ronald Hitzler (2002, Abs. 9) für die deutschsprachige interpretative Soziologie ungefähr zu gleicher Zeit vorlegte: „Jeder versucht jedem einzureden, worüber schon immer, jetzt aber endlich wirklich einmal – und zwar ernsthaft – geredet werden müsse. Keiner versteht, wie der andere überhaupt tun kann, was er tut, ohne das geklärt zu haben, was längst hätte geklärt werden müssen. Die einen pochen auf die Notwendigkeit einer Grundlagendebatte. Die anderen plädieren für die Verfeinerung des Methodenarsenals. Die dritten wollen zurück zu den empirischen Gegenständen. Und die vierten konstatieren, dass gerade diese endlich theoretisch zu verorten seien. Die fünften kommen kaum noch aus dem Feld heraus. Die sechsten kommen kaum noch ins Feld hinein. Viele erfinden manches neu. Manche

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung

5

monieren, dass vieles Neue altbekannt sei. Niemand begreift, warum niemand ihm folgt auf dem richtigen Weg zu den verlässlichen Daten, zu den gültigen Deutungen, zu den relevanten Erkenntnissen. Fast alle reden über Regeln. Fast keiner hält sich an die, die andere geltend zu machen versuchen.“

Wieso dann aber in der Gegenwart eine deutschsprachige interpretative Soziologie auf Augenhöhe mit ihrem quantitativen Gegenpart auf der einen und eine deutschsprachige qualitative Psychologie, die sich in den „Marginalisierungsstrategien“ des quantitativen Mainstream verfängt und selbst erfolgreich erfolglos bindet, auf der anderen Seite?2 Im Folgenden werden wir versuchen, Genese, Zustand und einige Entwicklungslinien der deutschsprachigen qualitativen Psychologie vorzunehmen. Dabei handelt es sich nicht um eine einfache „nachzuerzählende“ Geschichte (Mey 2007, 2018a). Denn es gibt mindestens (!) zwei mögliche Narrative: Das eine Narrativ (das wir hier deutlicher bedienen werden) kündet von dem „Schattendasein“ und den „Grabenkämpfen“ – oder eben mit Groeben gesprochen, von der „selbstverschuldeten Irrelevanz des qualitativen Offstreams“. Das zweite Narrativ (das wir aber immer wieder auch zumindest andeuten) bedient eher eine Art positiv konnontierte Darstellung der stetigen Zunahme, Ausdifferenzierung und des Bedeutungsgewinns einer qualitativen Psychologie. Diese dokumentiert sich ja auch in der zweiten Auflage des vorliegenden Handbuches – und zwar trotz ihrer Lagerung in der Peripherie – sowohl für die diversen Grundlagen- wie Anwendungsfächer als auch mit Blick auf die Weiterentwicklung von qualitativen Erhebungs- und Auswertungsverfahren in der psychologischen Forschung.

2.2

Eine frühe – grundsätzliche – Verortung

Es sind Methoden und Zugangsweisen, die heute als „qualitativ“ aufgefasst würden, durchaus in den Anfängen der Psychologiegeschichte erkennbar. Diese wurden

2

Die hier angerissene Frage, wie und wie unterschiedlich historische Entwicklungslinien qualitativer Forschung in Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft, Völkerkunde/Ethnologie usw. verlaufen sind und mit welchen Ergebnissen und Desiderata, harrt weiter einer systematisch vergleichenden Perspektive. Die Intention, durch einen ersten Einblick in disziplinäre und nationale Perspektiven qualitativer Forschung überhaupt ein Gespräch über Einzeldisziplinen und über Ländergrenzen hinweg vorbereiten zu wollen, war Ausgangspunkt für die Gründung der Open-Access-Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (FQS), in der seit 2000 neben Themenschwerpunkten z. B. zum Stand qualitativer Forschung in Europa oder Iberoamerika disziplinäre Schwerpunkte u. a. zu Kulturwissenschaft, Kriminologie, Sportwissenschaft, Markt-, Medien- und Meinungsforschung und eben zur qualitativen Psychologie veröffentlicht wurden (siehe http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/ issue/archive für alle bisher in FQS veröffentlichten Schwerpunktausgaben). Eine solche Zusammenschau ist eine wesentliche Voraussetzung für eine systematisch-vergleichende Beschäftigung, ersetzt diese aber keinesfalls.

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G. Mey und K. Mruck

jedoch durch Versuche, die Gegenstände des Faches und seine Aufgaben zu definieren, in der Folgezeit schnell ins Abseits gedrängt. Beispielhaft für frühe, auch methodische Definitionsversuche steht Hermann Ebbinghaus, der Begründer der experimentellen Gedächtnisforschung, der zugleich treffend und auf eine spezifisch verkürzte Weise Anfang des letzten Jahrhunderts angemerkt hatte, die Psychologie habe „eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte“ (Ebbinghaus 1908, S. 1): treffend, weil damit die Herangehensweise der sich in ihren Anfängen abzeichnenden, eigenständigen akademischen Disziplin3 Psychologie als ἐπιστήμη, also Wissen, gegen δóξα, bloßes Meinen, Metaphysik und Religion, in den Blick genommen wurde; verkürzt, weil dies angesichts der Charakteristika des Psychischen – Ebbinghaus nennt 1. „unablässige Wechsel“, „Flüchtigkeit“ und die „ungeheure Verwicklung“ des „Seelenlebens“, 2. die nur scheinbare und oberflächliche Vertrautheit und Geläufigkeit des Seelischen insbesondere auch infolge selbstverständlicher und alltagsweltlicher Begriffsbildungen und 3. die Befangenheit und Interessengebundenheit menschlicher Beobachter/innen – nur um den Preis einer neuen δóξα möglich schien, der Annahme einer „strengen Gesetzmäßigkeit allen seelischen Geschehens und also auch der völligen Determiniertheit unserer Handlungen (Ebbinghaus 1908, S. 1–2). Aus dem Misstrauen gegen Alltagskonzepte bzw. dem Vertrauen in naturwissenschaftliche Experimente, in die „kunstvolle Herstellung“ von Untersuchungssituationen mit dem Ziel möglichst „genauer Messung der Resultate und ihrer Ursachen“ (Ebbinghaus 1908, S. 10)4, folgte eine Verengung auf durch diese experimentelle/statistische Herangehensweise untersuchbare Gegenstände und damit eine Zurichtung des „psychologischen Gegenstands“. Scheinbar messbare (psychische) Funktionen lösten das „Seelenleben“ ab – begleitet von gegen diese Verengung opponierenden Gegenbewegungen. Es ist, so Elfriede Billmann-Mahecha (2001, S. 118), „eine seltsame Dichotomisierung [...], die sich durch die Geschichte der Psychologie des 20. Jahrhunderts zieht. Es ist die Rede von: naturwissenschaftlich vs. geisteswissenschaftlich, objektivierend vs. subjektivierend, nomothetisch vs. idiographisch, erklärend vs. verstehend und in jüngerer Zeit qualitativ vs. quantitativ“.

3

Siehe ausführlich zu philosophischen Vorläufern der akademischen Psychologie Jüttemann (1995 [1988] und Jüttemann et al. (1991). 4 Es sei angemerkt, dass Ebbinghaus selbst hier durchaus differenzierte: Zwar hätten „die glänzenden Erfolge, die das Messen und Rechnen der Naturforschung gebracht hatte, [...] die Überlegung [nahegelegt], ob sich für die Psychologie nicht Ähnliches tun lasse“ (Ebbinghaus 1908, S. 8). Allerdings habe eine zu starke Orientierung an Physik und insbesondere Mechanik zunächst dazu geführt, dass „damit vielfach den Dingen Gewalt angetan und ihre Betrachtung in die Irre geleitet wurde“ (Ebbinghaus 1908, S. 9).

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung

2.3

7

„Krise der Psychologie“ als roter Faden

Die Anstrengungen um die Einheit der Psychologie als Wissenschaft sind in der Folge zwar in Abgrenzung insbesondere gegen die Philosophie erfolgreich gewesen. Das Diktum für das „Erklären“ (gegenüber dem „Verstehen“) und der Versuch, zwischen nomothetischer und ideografischer Wissenschaft zu unterscheiden (anstelle des Gegensatzpaares Natur- vs. Geisteswissenschaft, wie von Windelband 1894 vorgeschlagen), hatten aber zugleich die Zerrissenheit der Psychologie und fortdauernde Kämpfe zur Folge: Die psychologische Geschichtsschreibung ist – (nicht nur) mit Blick auf die Methodenfrage – zumeist eine Geschichtsschreibung der Krise entlang scheinbar unvereinbarer Pole gewesen. So benannte Wilhelm Wundt (1906 [1863]) noch zwei exakte Methoden, die experimentelle für „einfache“ und die (Selbst-)Beobachtung für „höhere“ psychische Vorgänge (inklusive einer Interpretationslehre, die heute wieder mehr Aufmerksamkeit erlangt und durchaus ein Verständnis nahelegt, das sich in qualitative Forschung fügt; Fahrenberg 2008; Jüttemann 2006). Lew Wygotski (1985 [1927]) sprach von einer Krise (in) der Psychologie, in deren Folge er ganzheitliche, weniger zergliedernde Vorgehensweisen forderte. Zeitgleich mit Wygotski (aber unabhängig von ihm) diagnostizierte auch Karl Bühler (2000 [1927]) eine „Krise der Psychologie“, wobei er grundsätzlicher die Frage nach ihrem „Gegenstandsverständnis“ stellte. Er nutzte dazu die Metapher des „Turmbaus zu Babel“ mit Blick auf die Vielfalt nebeneinander existierender „Psychologien“. Für ihn handelte es sich allerdings um eine „Aufbaukrise“, denn es sei der „noch unbewältigte Reichtum neuer Gedanken, neuer Ansätze und Forschungsmöglichkeiten“, der „den krisenhaften Zustand der Psychologie heraufbeschworen“ (Bühler 2000 [1927], S. 1) habe. Bühler suchte diesen Zustand u. a. zu bessern, indem er mit Blick auf Behaviorismus, Psychoanalyse und Experimentalpsychologie drei komplementäre Grundmethoden postulierte, nämlich zur Erforschung des Verhaltens, des inneren Erlebens und der Ergebnisse von Aktivitäten. Von den „Krisen“-Überlegungen ausgehende Vorschläge für eine angemessene Konzeptualisierung der Psychologie finden sich zudem bei Lewin, der zwischen einem aristotelischen und galileischen Denken unterschied (Lewin 1931). Integrierende Positionen teilten allerdings nur wenige insbesondere der deutschsprachigen akademischen Psycholog/innen – darunter William Stern, der bis 1933 das Hamburger Institut leitete (Lamiell 2010) – und in den Folgejahrzehnten wurde die Lage des Faches Psychologie zugleich übersichtlicher und unübersichtlicher: Während des deutschen Faschismus wurden zahlreiche Psycholog/innen ermordet, begangen Suizid oder emigrierten, andere zogen sich zurück, und nicht wenige folgten der nationalsozialistischen Propaganda, gestalteten sie mit und arbeiteten führer- und kriegsdienlich an/in der Rassenlehre, Diagnostik und/oder in Arbeitsdiensten und Wehrpsychologie (Ash und Geuter 1985; Mattes und Solti 2017). Die meisten von ihnen blieben nach Ende des 2. Weltkrieges weiter im Amt, eine Entnazifizierung fand kaum statt. An die „alte“ Psychologie der Weimarer Zeit wurde nur zum Teil angeschlossen, stattdessen fanden Verfahren insbesondere aus Nordamerika erstmals Eingang in die deutsche Fachöffentlichkeit (Métraux 1985).

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Letztere verdrängten dann zunehmend – dem heutigen Verständnis nach – „qualitative“ Verfahren, die bis dahin in Lehre und Forschung durchaus Niederschlag gefunden hatten. Erwähnenswert sind hier z. B. klinische Einzelfallstudien aus dem Umfeld der Psychoanalyse, Beobachtungsstudien zu kindlichen Lebenswelten – im Sinne einer Ethnografie des Kinderzimmers – in der Entwicklungspsychologie, wie diese von den Ehepaaren Stern oder Katz umgesetzt worden waren, oder die Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ von Martha Muchow in Vorwegnahme einer ökologischen Psychologie (Mey 2018b); ebenso biografische Ansätze, projektive Verfahren oder die Traum- und Schriftdeutung (Fahrenberg 2002). Auch die stärker explorativ-heuristisch ausgerichteten Zugänge der sogenannten Würzburger Schule um Karl Bühler oder Oswald Külpe (Diriwächter und Valsiner 2008) und der Gestaltpsychologie mit Max Wertheimer oder Wolfgang Köhler (Diriwächter 2009) weisen u. a. durch die Anwendung introspektiver Verfahren deutliche Bezüge zu qualitativen Vorgehensweisen auf (Kleining 1995; Valsiner 2017). Der Methodenstreit gipfelte dann in den 1950er-Jahren in eine Debatte, die nach den Hauptprotagonisten Albert Wellek und Peter Hofstätter benannt und in der vehement und öffentlich um die Frage der Messbarkeit von Persönlichkeit (Hofstätter 1956; Wellek 1956) bzw. der Wissenschaftlichkeit der Psychologie (Billmann-Mahecha 2001) gestritten wurde (siehe auch die zeitgleiche Auseinandersetzung zwischen Rogers und Skinner 1956). De facto wurde die in diesen Debatten behandelte Frage – teilweise anknüpfend an den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (Adorno et al. 1972 [1969]) – immer wieder im Sinne der „richtigen“ – mathematisch-naturwissenschaftlichen – Methodik beantwortet, die nach 1945 an den deutschen Universitäten zunehmend über (Nicht-)Zugehörigkeit entschied, begleitet von und in Auseinandersetzung mit immer neuen Sub- und Nebenkulturen.5

2.4

Das „kurzfristige“ Aufkeimen einer „neuen“ Psychologie

Für lange Zeit fand mit Blick auf qualitative Forschung zumeist lediglich Hans Thomae, der die psychologische Biografik mitbegründet hat (z. B. Thomae 1952), breitere Erwähnung; dies wohl vor allem wegen seiner Bemühungen um eine Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methodik. Allerdings war Thomae zunehmend an der Einordnung in das nomologische Paradigma interessiert und verlor in 5

Nitzschke (1989) konstatiert in diesem Zusammenhang gegenläufige Bewegungen entlang der Pole Einheit – Vielfalt für Psychoanalyse und akademische Psychologie. Da die Psychoanalyse zu Beginn, hier der akademischen Psychologie vergleichbar, um ihre Identität habe ringen müssen, sei Freuds Theorie der zentrale Bezugspunkt gewesen, Abweichler/innen drohte der Ausschluss aus der psychoanalytischen Vereinigung (Wirth 2015). Erst nach Freuds Tod sei die Psychoanalyse pluraler geworden, ehemals Dissidentes wurde eingemeindet, wenn auch teilweise nun anders bezeichnet. Die Entwicklung der akademischen Psychologie sei hingegen, so Nitzschke, von Vielfalt zu Einheit verlaufen, eine Analyse, die nur trägt, wenn die zahlreichen Sub- und Nebenkulturen (auch in den Universitäten) ausgeblendet werden.

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung

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der Folge den Anschluss an die in der interpretativen Soziologie aufkommende Biografieforschung (Straub 1989). Im Zuge der Renaissance qualitativer Forschung innerhalb der deutschsprachigen Sozialwissenschaften (eingeleitet vor allem durch die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973) entstanden zu Beginn der 1970er-Jahre neue Anschluss- und Einsatzmöglichkeiten: Insbesondere nordamerikanische symbolisch-interaktionistische oder ethnomethodologische Ansätze wurden (re-)importiert und breit rezipiert (Hopf und Weingarten 1979). Und sie erreichten eben auch die Psychologie und eröffneten theoretische und methodische Neuorientierungen, und dies teilweise auch jenseits der eigenen frühen geisteswissenschaftlichen Tradition der Disziplin. Kritisch diskutiert wurden u. a. • die „Methodeninversion“ (Jüttemann 1983), d. h. die sich durchsetzende methodische Zurichtung psychologischer Forschung noch vor jeder inhaltlichen Gegenstandsbestimmung; • das hiermit verbundene „Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis“ (Holzkamp 1970; siehe Markard 2009 zur Entstehung der Kritischen Psychologie); • im Rahmen psychoanalytischer Sozialforschung und rückgreifend u. a. auf Freud, Lorenzer (1974) und Arbeiten aus dem Umfeld der Ethnopsychoanalyse (Nadig 2000) die Standortgebundenheit von Forschung und die Verknüpfung von Psycho- und Sozio-Logik (Leithäuser und Volmerg 1988; aktuell: Salling Olesen 2012); • die „Krise der Repräsentation“ (Berg und Fuchs 1993) und mit ihr die Frage nach der Relativität wissenschaftlicher Aussagen (Breuer 1996; Mruck und Mey 1996); • Fragen des Sinnverstehens und der Sinnkonstruktion, bei denen neben psychoanalytischen und interaktionistischen Ansätzen auch eine phänomenologische Herangehensweise wesentlich war (Graumann et al. 1991) sowie • anknüpfend insbesondere an in der Soziologie geführten Debatten Fragen der Individualisierung und der Erosion der „Normalbiografie“ u. a. im Rahmen einer reflexiven Sozialpsychologie (Keupp 1993). Beginnend mit der Blütezeit Mitte der 1980er-Jahre sind viele – mit Blick auf qualitative Forschung in der Psychologie wichtige – Veröffentlichungen entstanden, exemplarisch erwähnt seien die Sammelbände von Jarg Bergold und Uwe Flick (1987) sowie von Gerd Jüttemann (1985). In letzterem finden sich u. a. die bis heute wegweisenden Beiträge zur „Qualitativen Inhaltsanalyse“ von Philipp Mayring und zum „Problemzentrierten Interview“ von Andreas Witzel; beides Verfahren, die anders als viele andere psychologische Methodenbeiträge heute zum geteilten Fundus der qualitativen Forschung insgesamt gerechnet und in allen Übersichtsbänden erwähnt werden (wenn auch in der Soziologie und Erziehungswissenschaft zuweilen – wie im Falle der qualitativen Inhaltsanalyse – als theorielose „Ad-hoc“-Methode eingeordnet; Reichertz 2007). Die 1995 erstmals von Flick vorgelegte Monografie „Qualitative Forschung“ verstand sich explizit als Einführung in die „Theorie,

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G. Mey und K. Mruck

Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften“ (erst mit der Neuausgabe 2002 wurde der Fokus disziplinunspezifischer; Flick 2007). Mit dem Band „Qualitative Psychologie“ (Breuer 1996) wurde ein dezidiert ausgearbeiteter Forschungsstil vorgestellt, bei dem Überlegungen der Grounded-Theory-Methodologie mit der Ethnopsychoanalyse verbunden wurden. Anstrengungen, biografische Forschung (Jüttemann und Thomae 1987, 1998) und biografische Interpretationslehren (Fahrenberg 2002) voranzutreiben, erreichten die Persönlichkeits-, Entwicklungs-, Sozial- und Klinische Psychologie. Zusätzlich entstanden ganze, weitgehend qualitativ ausgerichtete Fachrichtungen wie die Gemeindepsychologie (Bergold 2000), deren Ansätze – offen für Handlungs-/Aktionsforschung – bis heute im Bereich Public Health und als wichtige Quelle für partizipative Verfahren relevant geblieben sind (Bergold und Thomas 2012; von Unger 2014). Hinzu kamen theoretische Grundlegungen psychologischer Forschung u. a. von Nobert Groeben (1986), Klaus Holzkamp (1983) oder Uwe Laucken (1974). Auch entstanden Zeitschriften, die Möglichkeiten für eine Präsenz qualitativer Forschung schufen und teilweise heute noch existieren: das Journal für Psychologie (seit 1992), Psychologie & Gesellschaftskritik (seit 1977, bis 1979 unter dem Titel Psychologie & Gesellschaft) oder zwischenzeitlich das Bulletin Handlung-Kultur-Interpretation (1992–2005) sowie Psychotherapie & Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Studien (1999–2013, danach fusioniert mit psychosozial und seitdem unter diesem Titel auf dem Markt) und schließlich Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (FQS), 2000 überwiegend aus der Psychologie initiiert und seitdem breit interdisziplinär und international aufgestellt (Mruck et al. 2018). Ausschlaggebend für diese „Hochphase“ war vor allem, dass im Zuge gesamtgesellschaftlicher Demokratisierungsbestrebungen, mit der Gründung neuer Hochschulen, der Einrichtung bzw. dem Ausbau psychologischer Institute und der Neubesetzung von Lehrstühlen sukzessive eine „andere/alternative“ Psychologie auch Eingang in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm gefunden hatte. Die Frage, welche Themen/Personen/Methoden dem Fach zugerechnet wurden (und sich selbst zurechneten), schien nicht mehr so vorentschieden wie in den Jahrzehnten zuvor – u. a. Psychoanalyse, Kritische Psychologie, Feminismus, Aktionsforschung und Handlungsforschung bildeten einen Teil der (damaligen) akademischen deutschen Psychologie. Deren naturwissenschaftlich orientiertem Mainstream standen also sehr verschiedene Positionen gegenüber, die zum Teil an sozialwissenschaftliche Debatten und Methoden(-entwicklungen) anschlossen, zum Teil an geisteswissenschaftliche Ansätze aus der Frühphase der Psychologie, zum Teil an neuere philosophische Strömungen wie z. B. Hans Werbik und andere an den Erlanger Konstruktivismus (z. B. Aschenbach et al. 1983; Villers 2005). Ein selbstbewusstes Nachdenken über die reichen methodischen und theoretischen Bestände, das Erreichen gemeinsamer Lösungen für die vielen auch gesellschaftlichen Aufgaben sind den Vertreter/innen beider Lager („qualitativ“ und „quantitativ“) nicht gelungen (Mruck und Mey 1996; Mey 2018a): Versuche, dem Dilemma zwischen naturwissenschaftlicher Exaktheit einerseits und Sinnver-

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung

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stehen und Relevanz andererseits konstruktiv zu begegnen, blieben hilflos, so wenn u. a. Michaelis (1986) einen (natur-)wissenschaftlichen Studiengang für Lehre und Forschung und einen „lebenspraktisch orientierten“ für Anwendungsfelder vorschlug. Begleitet von heftigen Debatten – etwa zwischen Heiner Legewie (1991) und Theo Herrmann (1991) ausgetragen in „Report Psychologie“, ohne allerdings die Stärke des Hofstätter-Wellek-Konflikts zu erreichen – kam es 1991 zu der Gründung der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) (dazu Volmerg 1992; Seel 2000). Diese ging aus einer 1989 gestarteten „Initiativgruppe Erneuerung der Psychologie“ hervor, die die Unzufriedenheit mit der fachpolitischen und Wissenschaftskonzeption der aus der Gesellschaft für experimentelle Psychologie heraus entstandenen Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) einte. Bei der Gründung der NGfP war zwar der Wunsch ausschlaggebend, den wissenschaftlichen Diskurs unter Hinzuziehung vorhandener pluraler Ansätze, eines – mit Blick auf den Mainstream – neuen Gegenstandsverständnisses und neuer Methoden zu erweitern. Anders als der psychologische Mainstream, der – in der DGPs organisiert – „bei aller Binnenkonkurrenz [. . .] außerordentlich homogen und hegemonial“ agiert(e) (Groeben 2006, Abs. 5), war und ist qualitative Forschung in der Psychologie sehr heterogen und damals wie heute kaum in der Lage (gewesen), den Marginalisierungsstrategien6 vonseiten des Mainstream und der Irrelevanz der nicht diesem Mainstream zugehöriger Gruppen, Theorie- und Forschungsansätze, Methodologien und Methoden auch nur annähernd wirkungsvoll entgegenzuarbeiten. Die zur Zeit der Gründung der NGfP vielfach formulierten Wünsche um Initiativen auch in der Forschungsförderung oder nach der Erschließung neuer Lehr- und Ausbildungsmöglichkeiten sind mit Ende der Tätigkeit der damals wirksamen akademischen Psycholog/innen unerfüllt geblieben. Die meisten Lehrstühle wurden um die Jahrtausendwende nach deren Emeritierung eben nicht wieder mit Vertreter/innen qualitativer Ansätze besetzt (dem damaligen wissenschaftlichen Nachwuchs, jener Generation also, die in qualitative Forschung hineinsozialisiert worden war und diese auch mitzugestalten begonnen hatte), sondern angesichts der neu aufkommenden Orientierung an „Neuroscience“ in entsprechende Lehrstuhlprofile umgewandelt. Psychologie jenseits der methodisch (und teilweise thematisch) wieder hergestellten Monokultur taucht nun an anderen Stellen auf, u. a. an einigen Privatuniversitäten (wie die International Psychoanalytic University Berlin oder der Sigmund Freud Privatuniversität Wien/Berlin, z. T. auch der Medical School Berlin) und vor allem an den sogenannten Hochschulen für angewandte Wissenschaft (früher Fachhochschulen), deren Gesicht sich in den letzten Jahren – auch durch die Einführung von neuen Studiengängen, die qualitative Forschung wie selbstverständlich voraussetzen – verändert hat, und an denen sich vielfach Forschungsbemühungen mit Praxisbezug finden.

Groeben (2006, Abs. 6) spricht in diesem Zusammenhang von einem „pragmatischen Paradox“ bzw. einem „Double bind“: Einerseits werde vielfach verbal Pluralismus und Vielfalt vertreten: „Explizit, mit großem Nachdruck: Ihr gehört dazu, zur Psychologie! Implizit, mit großer Konsequenz: Ihr gehört nicht dazu, zur Wissenschaft!“

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12

2.5

G. Mey und K. Mruck

Qualitative Forschung und Mixed Methods

Auch wenn sich für die Gesamtdisziplin die Dominanz quantitativer Forschung ungebrochen zeigt bzw. sich eine qualitative Orientierung in der institutionalisierten Psychologie nicht hat dauerhaft etablieren können, verweisen dessen ungeachtet zwei Beobachtungen auf eine veränderte Relevanz qualitativer Forschung. Zum einen gibt es nach wie vor Bemühungen, sie sichtbar zu halten bzw. zu machen. So wurden und werden für psychologische Fragestellungen spezielle Verfahren weiter ausgearbeitet, z. B. die Grounded-Theorie-Methodologie (Breuer 1996; Breuer et al. 2019; Mey und Mruck 2009) oder ganze subdisziplinäre Arbeitsfelder systematisch durchmustert, so etwa die Entwicklungspsychologie (Mey 2005, zusammenfassend Mey 2010, 2011) oder die Psychotherapieforschung (Slunecko et al. 2015; schon früh: Faller und Frommer 1994). Und mit der Kulturpsychologie hat sich ein Arbeitsbereich erst durch qualitative Forschung etablieren können und mit Relationen zur „narrativen Psychologie“ Weichenstellungen vorgenommen, für die neben Jerome Bruner (1990) auch Ernst E. Boesch (1991) wichtige Beiträge geleistet hat (Straub 1999). Zum anderen finden qualitative Methoden quasi durch die „Hintertür“ Anerkennung (z. T. begleitet auch von der Einsicht in das Erfordernis tiefergehender Analysen) durch die zunehmende Verbreitung von Mixed-MethodsAnsätzen, mit der Verbindung qualitativer und quantitativer Verfahren auch als sogenanntes „drittes Paradigma“ (Kuckartz 2014) bezeichnet. Diese veränderte Landschaft spiegelt sich auch in psychologischen Standardlehrbüchern, so in „Forschungsmethoden und Evaluation“, ein Lehrbuch, in das Jürgen Bortz und Nicola Döring (1995) erstmals ein umfassendes Kapitel zu qualitativer Forschung aufnahmen. In der nunmehr fünften Auflage (Döring und Bortz 2015) wird – wohl nicht zuletzt durch die Erstauflage des Handbuchs „Qualitative Forschung in der Psychologie“ (Mey und Mruck 2010) angeregt –, der Breite qualitativer Forschung und der Kombination qualitativer und quantitativer Forschung deutlich mehr Rechnung getragen als zuvor. Auch das in der zweiten Auflage vorliegende Lehrbuch von Walter Hussy et al. (2013) leistet eine systematische Übersicht über quantitative und qualitative Forschungsmethoden, nachdem eine umfassende, in drei Bänden vorgenommene Darstellung von „Forschungsmethoden in der Psychologie. Zwischen naturwissenschaftlichen Experiment und sozialwissenschaftlicher Hermeneutik“ (Kempf 2003, 2008; Kempf und Kiefer 2009) eher weniger beachtet worden war. Allerdings ist der Stand der Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Forschung in der Psychologie – anders an in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Burzan 2016; Kuckartz 2014) – kaum ausgereift und z. T. nicht sehr überzeugend (von der Lippe et al. 2011a), und dies vor allem auch, weil qualitative Forschung im Mainstream der Psychologie als weniger wirksam (behandelt) wird. Daher verwundert es auch nicht, wenn von qualitativer Seite wiederkehrend eine quantitative Dominanz beklagt wird. Auf diese Weise läuft die Psychologie Gefahr, stärker holistische und interpretative Varianten qualitativer Sozialforschung auch innerhalb eines Mixed-MethodsRepertoires zu übergehen. An deren Stelle finden sich in Forschungsprojekten im

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung

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Rahmen eines kombinierten Vorgehens sehr häufig Beschränkungen auf die qualitative Inhaltsanalyse und auf sog. „qualitative Leitfadeninterviews“, was am Ende qualitative Methoden dann doch wieder auf deren explorative Hilfsfunktion für die „eigentlichen“, d. h. quantitativen Methoden – reduziert (Schreier 2017); z. T. auch durch „defensive“ Akte einiger qualitativen Psychologinnen und Psychologen zusätzlich festgeschrieben. Dadurch bleiben in der psychologischen Forschungspraxis in der Regel gut ausgearbeitete und fundierte Vorschläge wie die des nun in der Soziologie beheimateten Psychologen Udo Kelle (2007) zur Frage der „Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung“, die weit über vereinfachende und dichotome Vorschläge hinausgehen, ungenutzt (von der Lippe et al. 2011b).

2.6

Lehre zu qualitativer Forschung – eine Leerstelle?

Angesichts der zuvor skizzierten Entwicklungen ist die aktuelle Situation der deutschen qualitativen Psychologie (und damit der Psychologie als Gesamtdisziplin) mit Blick auf die wissenschaftspolitische Lage und institutionelle Verankerung in Universitäten anhaltend problematisch. Zwar findet und fand qualitative Forschung beim wissenschaftlichen Nachwuchs – ein wenig immer auch Seismograf – regen Zuspruch, ganz gemäß der Analyse von Jürgen Rost zu „Zeitgeist und Moden empirischer Analysemethoden“. Dort heißt es: „qualitative Forschung ist angesagt, quantitative Forschung ist out“ (Rost 2003, Abs. 40). Studierende verlangen nach qualitativer Forschung, auch weil sie in ihren Qualifikationsarbeiten (Bachelor, Master, Dissertationen) Fragen aufwerfen, die einen qualitativen Zugang erfordern. Das Problem dabei ist allerdings, dass diesen Fragen meist mit großem Enthusiasmus, aber oft auch mit erschreckend geringer Methodenkenntnis nachgegangen wird. Denn Methodencurricula bilden eben ganz weitgehend die quantitative Monokultur ab; qualitative Methoden-Pflicht-/Leistungskurse finden sich dagegen kaum, insofern fehlt es bis heute weitgehend an der systematischen Behandlung von qualitativer Forschung im Lehrkanon der akademischen Psychologie (Flick et al. 2014). In einem aktuellen „Positionspapier zur Rolle der Psychologischen Methodenlehre in Forschung und Lehre“ (Meiser et al. 2018) wird qualitative Forschung überhaupt nicht erwähnt. Dieser Zustand ist auch auf eine z. T. noch geringe Passung mit den im Zuge der Bologna-Reform neu entstandenen Modulen bei der Einrichtung der B.Sc/M.Sc. (bzw. BA/MA)-Studiengänge zurückzuführen. Generell gilt für die heutige universitäre Psychologie, dass es zumeist an wissenschaftlichem Personal und Expertise fehlt, qualitative Methodik angemessen zu vermitteln, die notwendig wären für dezidiert qualitative Perspektiven in Forschung und Lehre und eben auch für eine in Forschung und Lehre erforderliche breite psychologische Methodenkompetenz (Mey 2008, 2018a). Dass eine qualitative Methodenausbildung spezifische Anforderungen impliziert, zeigt das 2008 aus dem „Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung“ (BMT) hervorgegangene „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den

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Human- und Sozialwissenschaften“,7 das von 19 Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ratifiziert wurde; darunter allerdings keine der großen psychologischen Fachgesellschaften. Darin finden sich wesentliche Eckpunkte und Verbesserungserfordernisse mit Blick auf die universitäre Ausbildung, die weiterzuentwickeln und mit Blick auf je disziplinäre Notwendigkeiten zu entfalten wären. Essenziell wichtig wäre, in diesem Sinne revidierte Ausbildungsprogramme – jenseits bestehender Nischen (die das Bologna-Programm aufgrund kreativ genutzter Module durchaus bereithält) und selbstgeschaffener Enklaven, wie das seit 2005 veranstaltete BMT oder die zunächst in Tübingen, nun in Karlsruhe jährlich ausgerichteten kleineren Tagungen des „Zentrum für qualitative Forschung“ – systematisch und flächendeckend umzusetzen (Mey und Mruck 2014). Andernfalls folgt eine – in der Konsequenz für die gesamte Psychologie – schwerwiegende Selbstbeschneidung, die sich notwendig von der Lehre in die Forschung fortsetzt: Da nur die DGPs in die Wahl der Fachgutachter/ innen bei der DFG involviert ist und aufseiten der dort organisierten Psycholog/innen, die die traditionelle akademische Sozialisation durchlaufen haben, Kompetenzen im Bereich qualitativer Methodik meist eher gering sind, haben genuin qualitative Forschungsvorhaben in der Psychologie denkbar schlechte Erfolgsaussichten. Fehlen allerdings qualitative Forschungsprojekte, dann fehlt es an Orten – und der Ermöglichung praktischer Erfahrung – für die Entwicklung/Verbreiterung von Methodenkompetenz. Der wissenschaftliche Nachwuchs, der sich trotz dieser Ausgangslage nicht von einer wissenschaftlichen Karriere abhalten lässt, versucht sein Glück an Hochschulen für angewandte Wissenschaften und/oder wandert in Nachbardisziplinen, wobei dann eben auch ein anderer fachlicher Fokus mit der Zeit überwiegt und wichtiges Wissen/Erfahrung und Innovationspotenziale für die Psychologie als Ganze verloren gehen, ein Circulus vitiosus, der immer wieder einmal versuchsweise angekratzt wird. So hat eine Gruppe von Promovierenden einen Band vorgelegt, der die Frage „Kritik mit Methode?“ (Freikamp et al. 2008) ins Zentrum stellt. In Frankfurt am Main haben Masterstudierende ein Symposium ausgerichtet, um die im Zuge der paradigmatischen Engführung der Psychologie seit den 1990erJahren fast vollständig im akademischen Betrieb fehlenden Ansätze einer psychoanalytischen, marxistischen, sozialkonstruktionistischen oder queer-feministischen Psychologie mit Blick auf deren methodisch-methodologische Implikationen zu diskutieren (Heseler et al. 2017); eine ähnliche Initiative findet sich an der Universität Klagenfurt (Strasser et al. 2018).

2.7

Ein Blick über den nationalen Tellerrand

Dass qualitative Forschung auch jenseits der Peripherie machbar ist und sich nicht allein auf vereinzelte Initiativen beschränkt, zeigt ein Blick in den angelsächsischen 7

http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/memorandum/, siehe in ähnlicher Intention für die Schweiz das 2010 verabschiedete „Manifest zur Bedeutung, Qualitätsbeurteilung und Lehre der Methoden qualitativer Sozialforschung“ (Bergman et al. 2010).

Qualitative Forschung in der Psychologie: Eine Kartierung

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Raum, für den eine zunächst der deutschen Entwicklung ähnliche Ausgangslage bestand. Erst Mitte der 1990er-Jahre wurden forciertere Anstrengungen in Richtung einer Rückbesinnung auf qualitative Forschungsmethoden erkennbar, programmatisch formuliert als „Rethinking Psychology“ und „Rethinking Methods in Psychology“ (Smith et al. 1995a, b; siehe dazu: Mey und Mruck 1997). Zudem finden sich Bemühungen der Elaboration qualitativer Methodik, z. B. ausgerichtet an der Phänomenologie (Fisher 2006) oder breiter angelegt in dem Sammelband zu „Qualitative Research in Psychology“ (Camic et al. 2003), der – unter dem Dach der American Psychological Association entstanden – eine Zusammenstellung von aus der Perspektive der Herausgeber/innen „eingeführten“ qualitativen Ansätzen und Verfahren bietet.8 Aus dieser Zeit ebenfalls erwähnenswert ist der Band „Qualitative Psychology“ von Smith (2007), der für den angelsächsischen Raum insoweit typisch ist, als auch nicht-psychologische Beiträge Eingang fanden, sowie das 2008 erstmals von Carla Willig und Wendy Stainton-Rogers herausgegebene „Sage Handbook of Qualitative Research in Psychology“, das 2017 in der zweiten Auflage erschienen ist (Willig und Stainton-Rogers 2017). Zudem hat sich mit dem 2004 gegründeten Journal Qualitative Research in Psychology dezidiert ein zentrales Organ für die Veröffentlichung von qualitativ-empirischen Studien und relevanten Diskussionen etabliert. Mit Integrative Psychological & Behavioral Science und Human Arenas. An Interdisciplinary Journal of Psychology, Meaning and Culture sind dann zwei weitere Zeitschriften entstanden, in denen sich oftmals qualitative Beiträge finden und die sich auch zunehmend für neuere Strömungen – wie etwa performativer Sozialwissenschaft – öffnen. Die zunehmende Verfügbarkeit und Relevanz von Veröffentlichungs-, Rezeptions- und Identifikationsorten für qualitative Psycholog/innen geht mit ebenfalls zunehmenden Anstrengungen um wissenschaftspolitische Sichtbarkeit und Wirksamkeit einher. 2008 wurde die „Qualitative Methods in Psychology Section“ der British Psychological Society (BPS) gegründet.9 Ebenfalls 2008 brachten 847 Mitglieder der American Psychological Association (APA) eine „Petition for a Division for Qualitative Inquiry“ ein.10 Dieses Unterfangen wurde insbesondere von der Division 5 („Evaluation, Measurement, and Statistics“) teilweise scharf attackiert. Deren Mitglieder versuchten u. a., aus Webseiten und Veröffentlichungen der Petitionsunterzeichnenden Hinweise auf deren „antiquantitative sentiments“ zusammenzustellen (Lyons 2009). Dies kann auch als ein Selbstverteidigungsversuch gewertet werden, möglicherweise vor dem Hintergrund einer 2006 eigens eingesetzten „Task Force for Increasing the Number of Quantitative Psychologists“.11 Angesichts der Diese Bände erinnern in der Anlage ein wenig an die erste Auflage des „Handbook of Qualitative Research“ von Norman Denzin und Yvonna Lincoln (1994), die als Herausgebende dann aber den Folgeausgaben einen „postmodernen“ Stempel gaben, wie insbesondere in den seit 2005 erschienenen Auflagen (aktuell die 5.: Denzin und Lincoln 2017) ersichtlich wird. 9 http://www.bps.org.uk/qmip/qmip_home.cfm. 10 Siehe hierzu den „2009 Annual Report of the American Psychological Association“ (http://www. apa.org/pubs/info/reports/2009-annual.pdf). 11 http://www.apa.org/research/tools/quantitative/index.aspx. 8

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großen Zahl der Unterzeichner/innen der Petition riet Neal Schmitt, Präsident der Division 5, in deren Newsletter dann aber zu einer Strategie der Schadensbegrenzung auf, nämlich dem Einrichten einer qualitativen Sektion unter dem Dach der Division 5 statt der Einrichtung einer eigenen Divison auf Augenhöhe und – falls dies Scheitern sollte – zur Zusammenarbeit.12 Die Entscheidung ist am Ende für eine Umbenennung der Division V in „Quantitative and Qualitative Methods“ gefallen und für die Bildung einer „Society for Qualitative Inquiry in Psychology“ als Sektion innerhalb der Division V, die seit Februar 2019 auch über eine eigene Zeitschrift Qualitative Psychology verfügt. Aktuell hat sich die „Association of European Qualitative Researchers in Psychology“ (EQuiP)13 gegründet, die Arbeitstreffen ausrichtet und 2021 ihren ersten Kongress veranstaltet.

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Ausblick: wohin des Weges, (qualitative) Psychologie?

Das Fach ist also (wieder einmal) in Bewegung geraten. Es wird sich weiter bewegen müssen, so Kenneth Gergen, der Begründer des Sozialen Konstruktionismus (u. a. 1999), der auch in die aktuellen Anstrengungen für eine Institutionalisierung der Psychologie involviert ist, „weil die intellektuelle Welt außerhalb der Psychologie bereits in Bewegung geraten ist“ – gemeint sind all jene Veränderungen, die „die Disziplin mit der Tatsache der Differenz konfrontieren – der kulturellen, ethnischen, ideologischen usw.“ (Mattes und Schraube 2004, Abs. 37). Die Psychologie hat diesen Veränderungen Rechnung zu tragen, „oder sie wird verschwinden wie die Dinosaurier“, so Gergen an gleicher Stelle. Weil die Orientierung insbesondere an Nordamerika eine zentrale Rolle für die deutschsprachige Mainstream-Psychologie gespielt hat und immer noch spielt, dürften Änderungen in der institutionalisierten fachpolitischen Landschaft dort auch zu Irritationen hier führen. Und auch die qualitative Forschung ist in Bewegung: Ältere Ansätze haben sich verändert, neuere sind hinzugekommen. Insoweit ist qualitative Forschung mehr denn je ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Verfahren inkl. der dahinter stehenden Theorien/Basisannahmen mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Themenfeldern. Unter einer internationalen Perspektive zeigt sich, dass qualitative Forschung viel selbstverständlicher einen Platz in der Forschungslandschaft einnimmt, als es uns aufgrund der hiesigen Situation mitunter scheint (Schjødt Terkildsen und Demuth 2015). Vielfach trägt sie aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit recht selbstverständlich zum Methodenspektrum bei, ohne übergehen zu wollen, dass es umgekehrt beispielsweise osteuropäische Länder gibt, in denen qualitative Herangehensweisen in der akademischen Psychologie noch fast gänzlich fehlen.

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http://www.apa.org/divisions/div5/pdf/april08score.pdfs. https://www.equipsy.org/.

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Der (selbst-)kritische Blick auf die Methodenbehandlung in der deutschsprachigen Psychologie würde möglicherweise etwas abgemildert, wäre gleichzeitig eine ähnliche Analyse für quantitative Forschung und deren „Schwächen“ und „Sackgassen“ eingeflochten gewesen (wie sie gerade in dem „Positionspapier zur Rolle der Psychologischen Methodenlehre in Forschung und Lehre“, Meiser et al. 2018, sichtbar werden) oder auf nicht minder kritische Punkte innerhalb anderer Disziplinen eingegangen worden. Auch sollte nicht übergangen werden, dass in der qualitativen Forschung z. T. weniger Einigkeit besteht als gedacht, aktuell wird nicht nur über die Ausrichtung, sondern auch – einmal wieder – erbittert über das Label „qualitativ“ gestritten, wie in einer Debatte zwischen Flick (2016); Hitzler (2016) und Mey (2016) ersichtlich wird (siehe auch Keller 2014). Eingeflochten in solche Dispute sind auch immer Allein- oder zumindest Mehrheitsvertretungsansprüche für qualitative Sozialforschung bei mitunter erkennbarer Beschränkung auf den eigenen „Bekanntenkreis“ in einigen entwickelten Disziplinen ebenso wie Vergleiche mit wieder anderen Fachgebieten (z. B. Politikwissenschaft) und deren geringem Entwicklungsstand und (Nicht-)Bezug zu qualitativer Forschung, die die Psychologie weniger als Diaspora erscheinen lassen. All dies hätte zu einer umfassenderen Analyse hinzugehört, aber es hätte auch abgelenkt. Denn welche Rahmung für das Narrativ auch immer vorrangig gewählt werden mag: Die besondere method(olog)ische Herausforderung resultiert notwendig aus einer disziplinären Verortung und mit ihr verbundenen inhaltlichen Aufgaben. Das heißt im vorliegenden Falle, qualitative Forschung in ihrer Psycho-Logik auszubuchstabieren, ohne starr disziplinär zu agieren. Mit Blick auf die Binnenordnung der Psychologie fällt hier ein deutlicher Kontrast zur Soziologie auf. Hitzler (2002, Abs. 9) setzte die eingangs erwähnte Zustandsbeschreibung der deutschsprachigen interpretativen Soziologie wie folgt fort: „Alle reden ‚pro domo‘. Und alle reden durcheinander. Kurz: Es geht zu wie bei anderen ‚familiären Tischgesprächen‘.“ Es wäre genau eine solche Kultur des gemeinsamen Tischgesprächs statt hermetischer Grenzziehungen – innerhalb der qualitativen Psychologie und zwischen qualitativ und quantitativ orientierten Psycholog/innen – die das Fach in Zeiten beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, von Globalisierung, veränderten disziplinären Zuständigkeitsbereichen und dem Sichtbarerwerden lokalen Wissens dringend benötigen würde. Denn die Ausgrenzung qualitativer Psychologie aus den Universitäten bedeutet nicht nur massive Verluste für die wissenschaftliche Erkenntnisbildung, sondern auch für die Möglichkeit der Nutzung dieser Erkenntnisse in unterschiedlichsten Praxisfeldern, und dies bei stetig wachsendem Bedarf u. a. in der Markt- und Meinungsforschung, der Evaluationsforschung, der Politikberatung und allgemeiner mit Blick auf die ständig wachsenden Sinnfragen (post-)moderner Gesellschaften und ihrer Institutionen. Was ist zu tun? Kant schrieb, die „Unmündigkeit“ – bei Groeben übersetzt in die „Irrelevanz des qualitativen Offstreams“ – sei „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu

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G. Mey und K. Mruck

bedienen“ (1784, S. 481). Aus unserer Perspektive sind an dieser Stelle die „Entschließung“ und der „Mut“ der gesamten Disziplin erforderlich. Qualitative Methoden und eine genuin qualitative Sichtweise bereichern die Disziplin. Auf sie zu verzichten wäre fahrlässig.

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Teil I Positionen und Traditionen – Theoretische und methodologische Grundlagen

Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Methodik in der Psychologie Franz Breuer

Inhalt 1 Quantitativ-nomothetischer Mainstream und qualitativ-methodische Randständigkeit – Erkenntniskonzeptionen in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Charakteristika sozialwissenschaftlich-qualitativer Methodenkonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sozialwissenschaftlich-qualitative Methoden als Entdeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Sozialwissenschaftlich-qualitative Methoden als Interpretationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Subjektivität, Perspektivität und Interaktivität in der sozialwissenschaftlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Sozialwissenschaftlich-qualitative Methodik und Gegenstandskonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Wandel der Epistemologien und der disziplinären Kultur in der Psychologie . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

„Sozialwissenschaftlich-qualitative Methodik“ umfasst eine Vielfalt von Forschungsstilen und Instrumentarien. Zunächst wird die institutionelle Geschichte dieser Tradition in der Psychologie skizziert. Dann werden einige gemeinsame Dimensionen beleuchtet: „Qualitative“ Methodologie als Weg der kreativen Entwicklung von Theorien; das Prinzip des Interpretierens sinnhaft-bedeutungsvollen Handelns; das Problem der Erkenntnis-Subjektivität und seine produktive Bewältigung durch Selbst-Reflexivität; die Konstruktion eines Menschenbildes durch die verwendeten Methoden. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Situation der wissenschaftlichen Psychologie und qualitativ-methodisch ambitionierter Forschender in dieser Fachumgebung.

F. Breuer (*) Institut für Psychologie, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_2

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F. Breuer

Schlüsselwörter

Hermeneutik · Interpretation · Kritischer Rationalismus · Menschenbild · Quantitative Methoden · Qualitative Methoden · Reflexivität · Subjektivität · Theorieentwicklung

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Quantitativ-nomothetischer Mainstream und qualitativmethodische Randständigkeit – Erkenntniskonzeptionen in der Psychologie

Die wissenschaftliche Psychologie besitzt seit ihren institutionellen Anfängen im späten 19. Jahrhundert eine charakteristische Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit: Sie gilt sowohl als Natur- wie auch als Geisteswissenschaft (oder auch als Sozial- bzw. Kulturwissenschaft, wie es heutzutage häufig heißt). Von hierher haben sich mehrere gegenstandstheoretische und methodologische Stränge entwickelt, die zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten miteinander koexistierten und kooperierten oder sich wechselseitig bekämpften und zu verdrängen suchten. In der deutschen akademischen Psychologie war die Situation bis in die 1960er-Jahre noch von einer starken Fraktion geisteswissenschaftlich bzw. „interpretativ“ ausgerichteter Vertreter/innen gekennzeichnet. Mehr und mehr dominiert/e seither – in Anlehnung an das US-amerikanische Vorbild – eine naturwissenschaftlich-experimentelle Ausrichtung. In der heutigen Landschaft der Psychologie sind interpretative bzw. „qualitative“ Methodologien an den Rand gedrängt. In Deutschland sind sie an Universitäten weitgehend ausgemerzt, behaupten sich dort mitunter in institutionellen Nischen (s. Fahrenberg 2011 [2002]); ansonsten findet man sie eher im Kontext von (Fach-)Hochschulen (neuerdings gern „Universities of Applied Sciences“ genannt) oder Privathochschulen. „Qualitativ“ forschende Psychologinnen und Psychologen sind in der etablierten wissenschaftlichen Fachgesellschaft „Deutsche Gesellschaft für Psychologie“ so gut wie nicht sichtbar, die wenigen Vertreter/innen dieser Richtung sind meist „ausgewandert“ in die (in der Academia randständige) „Neue Gesellschaft für Psychologie“ oder die „Gesellschaft für Kulturpsychologie“. Die Tradition der „alten“ geisteswissenschaftlichen Psychologie ist (nicht zuletzt aufgrund der historischen Diskreditierung durch ihre Affiliation mit dem Faschismus) weitgehend abgerissen. Methodologisch angeknüpft wird heute häufig an (Re-)Importe aus den USA. Im anglo-amerikanischen Raum ist die „Qualitative Psychology“ ebenfalls ziemlich randständig, gewinnt aber im 21. Jahrhundert an Stimme/n (Camic et al. 2003): So gründete sich eine „Society for Qualitative Inquiry in Psychology“ als Sektion der Division 5: „Evaluation, Measurements, and Statistics“ (!) der American Psychological Association, mit einer eigenen Zeitschrift: „Qualitative Psychology“. In Großbritannien gibt es eine Sektion „Qualitative Methods in Psychology“ der „British Psychological Society“. Die Gründungsumstände waren in beiden Fällen kompliziert, ihr Etablierungsstatus ist fragil. Auf europäischer Ebene befindet sich

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eine „Association for European Qualitative Researchers in Psychology (EQuiP)“ in der Phase ihrer Konstituierung. Vertreter/innen einer qualitativ-sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsauffassung haben sich in der Psychologie mit einem Mainstream von auf Gesetzeserkenntnis nach dem naturwissenschaftlichen Modell orientierter Methodologie auseinanderzusetzen und ihr gegenüber zu rechtfertigen (Groeben 2006; Lettau und Breuer 2007). In einigen sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen verhält sich das durchaus anders: Ethnologie, Pädagogik, Kommunikationswissenschaft, Soziologie u. a. sind in dieser Hinsicht toleranter und pluralistischer aufgestellt. Dort ist aktuell eine lebhafte Diskussion und Entwicklung qualitativer Forschungskonzepte und Methoden zu beobachten (Mey und Mruck 2014; Reichertz 2016). Allerdings sind die Abgrenzungen zwischen den Disziplinen mitunter recht ausgeprägt. Für eine interdisziplinäre Kommunikation und Kooperation muss – gerade bezüglich der Vernetzung der Psychologie – noch Entwicklungsarbeit geleistet werden. Das Zustandekommen des lokal-historischen Profils eines „Mischungsverhältnisses“ akzeptierter und praktizierter Methodologien ergibt sich jeweils aus einem vielschichtigen Gefüge erkenntnistheoretisch-philosophischer Traditionen, fachspezifischer Gegenstandsauffassungen, nationaler und lokaler (Vor-)Geschichten und Profilierungen, (gesellschafts-)politischer Bewegungen, (trans-)disziplinärer Rezeptionszirkel und Abgrenzungen. Jede Darstellung des wissenschaftstheoretischen Hintergrunds qualitativer Methodologie und Methoden bewegt sich in einem solchen Kontext und ist davon in ihren Selektionen und Fokussierungen geprägt. So steht die folgende Präsentation vor einer Landschaft der Mainstream-Psychologie an deutschsprachigen Universitäten, die sich durch eine nomothetisch-naturwissenschaftliche Grundausrichtung, eine zunehmende Fokussierung auf die biologischneurowissenschaftliche Seite des Menschen sowie durch Unkenntnis und Abdrängung hermeneutisch-qualitativer Denkweisen und Methoden auszeichnet. Wissenschaftliches Wissen hebt sich – so die verbreitete Ansicht – durch einen besonderen Erkenntnisanspruch aus profaneren Wissenssorten heraus. Für die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts, soweit sie die empirischen Wissenschaften betrifft und in der Diskussion in der Psychologie eine Rolle gespielt hat, war dabei der Gesichtspunkt wesentlich: Wie muss wissenschaftliche Forschung (auf-)gebaut sein, um Erkenntnisgewissheit zu gewährleisten? Dieser Gedankenweg läuft auf eine präskriptive Methodologie hinaus – auf Richtlinien, wie die Systematik von Aussagegefügen aus theoretischen und empirischen Sätzen ohne logische Widersprüche konfiguriert werden kann. Hier spielten und spielen häufig Wissenschaftslehren eine Rolle, die mit Verweis auf ihre philosophischen Vorläufer als (neo-)positivistisch und wegen ihrer Ausrichtung auf Natur- bzw. Gesetzeserkenntnis als nomothetisch gekennzeichnet werden. Es geht es um Möglichkeiten des Wahrheitsnachweises von Allgemeinaussagen (Gesetzen, Theorien) durch (logisch stimmiges) In-Beziehung-Setzen mit spezifischen empirischen Sachverhalten oder Ereignissen. Ging man in der Lehre des Logischen Empirismus noch davon aus, durch oftmaliges Aufweisen bestimmter empirischer Phänomene eine theoretische Verallgemeinerungsaussage (induktiv)

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rechtfertigen zu können, so verwarf der Kritische Rationalismus (Gründer und Hauptvertreter: Karl R. Popper; z. B. Popper 1973 [1934]) diese Zielsetzung aus forschungslogischen Gründen und ging stattdessen nur noch von der Möglichkeit eines Falschheits-Nachweises (der Falsifikation) von Allgemeinaussagen bei Vorliegen widersprechender empirischer Befunde aus. Auf dieser Ideenbasis wurde eine Methodologie kritischer Prüfung von Hypothesen durch deren Konfrontation mit Daten entwickelt. Diese stellt die gedankliche Grundlage auch für das in psychologischer Forschung übliche statistische Hypothesentesten dar (Döring und Bortz 2016, S. 31–63; Breuer 1991, S. 132–140). Seit den 1970er-Jahren ist diese Sichtweise mit vielfältigen Vorbehalten konfrontiert worden. Eine beunruhigende Feststellung war, dass „erfolgreiche“ Wissenschaft offensichtlich nicht so funktioniert, wie es sich die Vertreter/innen der PopperSchule vorstellten. Ihrer normativ ausgerichteten Auffassung von Wissenschaftstheorie wurde eine deskriptiv-analytische Perspektive entgegengesetzt, die sich vor allem auf historische Studien wissenschaftlichen Theorienwandels stützte. Dabei spielte das Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ von Thomas Kuhn (1967 [1962]) eine wesentliche Rolle. Durch die so angestoßene Blickweise wurden u. a. wissenschaftssoziologische Untersuchungen realer Forschungsabläufe populär (Latour, Woolgar, Knorr-Cetina u. a.; s. dazu: Felt et al. 1995). Nun taten sich immer mehr Beispiele und Argumente auf, die die unter empirisch forschenden Wissenschaftler/innen populäre Falsifikationsmethodologie als irreführende Idealisierung erscheinen ließen. Es kam zu einer Reihe von Neuentwürfen des Theorie-Empirie-Verhältnisses, bei denen versucht wurde, realistischer mit der Frage des In-Beziehung-Setzens der beiden Seiten umzugehen (Breuer 1991, S. 175–200). Die erkenntnistheoretische Diskussion zum Ausgang des 20. Jahrhunderts wandte sich verstärkt der Seite des erkennenden Subjekts zu: Welche Rolle spielt der/die Forschende als biologisches, personales, sozial und kulturell geprägtes Wesen? Welche Bedeutung besitzen seine/ihre Sinnesausstattung, Denk- und Konzeptualisierungsweisen, die (sub-)kulturell, disziplinär und instrumentell geprägten Umgehens- und Interaktionsformen mit dem Gegenstand? In konstruktivistisch ausgerichteten Ansätzen unterschiedlicher Spielarten wurden Lösungen für diese Fragen entworfen (philosophische, linguistische, soziologische, psychologische Varianten; Gergen 2002; Hirschauer 2003; Knorr-Cetina 1989). Die Erschaffung des Gegenstands im kognitiven System, in der theoretischen Konzeptualisierung, im sozialen Diskurs, durch den forschungsmethodischen Zugriff wurde nun in den Mittelpunkt gerückt (Breuer 1999, 2005), wodurch das komplexe Verhältnis von Forschungsobjekt, Forschungssubjekt und Forschungsprozess eine neue Austarierung erfuhr (Mruck 1999). Im Mainstream der akademischen Psychologie erstarben – nach einigen Jahren lebhaften Interesses – die wissenschaftstheoretischen Diskussionen in den 1990erJahren, und im Gefolge verloren solche Themen auch ihren Stellenwert in den universitären Fachcurricula. Psycholog/innen, die sich mit überdauerndem Engagement Fragen der Erkenntnistheorie widmeten und einschlägige Diskussionen aus den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften zu importieren versuchten,

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wurden vom harten Kern der Mainstream-Psychologiegemeinde marginalisiert: In den Lehrbüchern fanden sie sich (bestenfalls) in die Abteilung „Geschichte“ umsortiert. Ein bezüglich dieser Themen ambitionierter Nachwuchs hatte (und hat) kaum eine Chance. In jüngster Zeit wurden in der Psychologie allerdings systematische Probleme der Nicht-Replizierbarkeit experimenteller Studien aufgedeckt: Da liegt offensichtlich etwas mit den postulierten Erkenntnisansprüchen und der etablierten Forschungspraxis im Argen. Seither richtet sich die Aufmerksamkeit wieder häufiger auf methodologische Grundfragen (Klauer 2018). Die weiterhin geltenden Voraussetzungen, um in einer Laufbahn der akademischen Psychologie voranzukommen, kennzeichnet der namhafte US-Psychologe Kenneth Gergen in einem Interview (mit Mattes und Schraube 2004, Abs. 16) so: „[...] fast der einzige Weg dahin führt noch immer über die alten engen Pfade: experimentelle Arbeiten veröffentlichen oder untergehen. Wer das Wissenschaftsverständnis des Faches in Frage stellt und andere Denk- und Forschungsweisen entdecken möchte, gefährdet sein berufliches Weiterkommen.“

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Charakteristika sozialwissenschaftlich-qualitativer Methodenkonzeptionen

„Sozialwissenschaftlich-qualitative Methodik“ ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl methodologischer Denkformen, Forschungsstile und Instrumentarien. Solche Konzeptionen wurden in einer Reihe von Disziplinen hervorgebracht – u. a. in der Psychologie (Breuer 1996; Breuer et al. 2000; Camic et al. 2003; Mruck et al. 2000; Schreier 2013; Willig und Stainton-Rogers 2008). Bei der Ausdifferenzierung spielen zudem unterschiedliche theoretische Traditionen sowie nationale Besonderheiten mit hinein (Fahrenberg 2011 [2002]; Hitzler 2007; Hitzler und Honer 1997; Kleining 1995; Reichertz 2016). Wenn im Folgenden von wissenschaftstheoretischen Grundlagen der qualitativen Methoden die Rede ist, handelt es sich also um eine idealisierende Verallgemeinerung. Dennoch werden in Überblicksdarstellungen (Flick et al. 2000; Lamnek 2005; Mruck und Mey 2005; Döring und Bortz 2016; S. 63–72; Hussy et al. 2013, S. 179–272) gewisse paradigmatische Gemeinsamkeiten qualitativer Forschungskonzeptionen unterstellt, allerdings unterschiedlich spezifiziert. Unter wissenschaftstheoretischem Blickwinkel möchte ich hier die folgenden Elemente herausstellen und anschließend einige Aspekte vertiefend behandeln: • Das Forschungsinteresse, das einem qualitativen Forschungsstil zugrunde liegt, richtet sich auf „natürliche“ Phänomene, nicht solche aus dem (psychologischen) Experimentallabor. Vielmehr geht es um alltags- bzw. lebensweltliche Probleme und Prozesse sowie deren Ausdruck in den Sichtweisen, Aus-/Handlungs- und Präsentationsformen der involvierten Akteure. • Die Datenerhebung erfolgt üblicherweise durch (teilnehmende) Feldbeobachtungen, Gespräche bzw. Interviews mit Protagonistinnen und Protagonisten sowie über „autonome“ Produktionen des Feldes (sog. nichtreaktive Datenquellen: Re-/ Präsentationen im Internet, Akten, Umweltgestaltung, Bilder etc.). So gewonnene

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Daten werden auf dem Weg über eine technische (Audio- oder Video-)Aufzeichnung in der Regel textförmig (als Transkripte, Protokolle u. Ä.) dokumentiert. Diese Texte stellen die Basis für die Auswertungsarbeit dar. Die Auswertung der Daten (Kodierung, Interpretation, Modellbildung) setzt auf Seiten der Forschenden bestimmte Kompetenzen voraus, deren Grundlagen in Sozialisation und persönlicher Lebensgeschichte erworben worden sind: interpersonal-kommunikatives Verstehen. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Verwendung sollen diese Fähigkeiten nicht – wie im lebensweltlichen Vollzug üblich – quasi „automatisch“ und zumeist ohne Selbstaufmerksamkeit sondern (möglichst weitgehend) in bewusster Fokussierung, mit methodischem Bedacht sowie mit (selbst-)reflexiver Haltung eingesetzt werden. Sie werden im Rahmen eines methodologischen Regelwerks expliziert, angeeignet und kultiviert. Die verwendeten Prozeduren lassen sich unter dem Begriff der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik bzw. Interpretation zusammenfassen. Ein charakteristisches Merkmal des qualitativen Forschungsstils ist die Intention des Entdeckens von theoretisch Neuem. Ausgehend von empirischen Phänomenen wird in der Regel nach Abstraktionen und Verallgemeinerungen (Konzepten, Typen, Strukturen etc.) gesucht. Qualitative Methoden besitzen ihre besondere Stärke in ihrem Charakter als Heuristik: Es geht um das (Er-)Finden und Ausarbeiten bis dato noch unbekannter oder erst rudimentär strukturierter Ideen und Konzepte. Daher wird diesen Forschungsansätzen zumeist die Eigenschaft theoretischer Offenheit (bzw. das Bemühen darum) zugeschrieben. Die Überzeugung, dass die Person des/der Forschenden sowie die Interaktion zwischen Forschenden und Forschungspartner/innen im gesamten Forschungsprozess eine wichtige Rolle für die Erkenntnisbildung spielen und methodischer Aufmerksamkeit und Berücksichtigung bedürfen, ist ein Kennzeichen vieler Ansätze qualitativer Sozialforschung. Die Fokussierungen des/der Forschenden in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand (Neugier, persönliche Berührung und Verquickung etc.) können in Zusammenhang mit ihren Präkonzepten und individuellen Neigungen stehen. Der/die Forschende besitzt im Kontakt mit den Akteuren im Untersuchungsfeld einen bestimmten Appeal („Reizwert“) als Person mit einem bestimmten Alter, Geschlecht, Habitus etc. und als Rollen-Repräsentant/in (neugierige/r Lernbereite/r, mit in/transparenter Interessenlage etc.), die die Interaktion beeinflussen. Der/die Forschende ist dort präsent und wirkt. Darüber hinaus wirken das Feld, die Forschungspartner/ innen, die Interaktion, das Thema in ihn/sie hinein. Zur Programmatik qualitativer Methodik gehört es häufig, solche Charakteristika zu thematisieren. Sie von einer Störgröße zu einer nutzbaren Erkenntnisgelegenheit umzudeuten ist ein methodologisches Mittel, das mitunter (in Form selbstreflexiver Dezentrierung) genutzt wird. In Ansätzen qualitativ-methodischer Ausrichtung beschäftigt man sich vielfältig mit den (Vor-)Annahmen des/der Forschenden zur Charakteristik des Gegenstands. Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Humanforschung geht es dabei u. a. um das Menschenbild, das einer Forschungskonzeption hinterliegt. Mit der Wahl einer Methodik sind Selektionen und Fokussierungen von Gegenstands-

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merkmalen verknüpft, die nicht empirisch geprüft sondern der Empirie vorangestellt werden: Worauf kommt es (uns) an? Ein Gegenstandsmodell, ein Bild der Anderen wird entworfen – explizit oder implizit.

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Sozialwissenschaftlich-qualitative Methoden als Entdeckungsverfahren

Die Methodenlehre des Kritischen Rationalismus geht von der Idee einer Prüfung vorgegebener Theorien aus. Sie stützt sich dabei wesentlich auf die logische Argumentationsfigur der Deduktion, die Erkenntnisgewissheit verspricht: Ausgehend von Allgemeinaussagen (Theorien, Hypothesen) werden spezifische Vermutungen abgeleitet (deduziert) und mit empirischen Daten (bzw. Basissätzen) verglichen. Wie man sich das Erfinden und Entwickeln von Theorien vorzustellen hat, spielt in dieser Konzeption eine untergeordnete Rolle, wird nicht zu den Bestandteilen des methodologischen Kanons gerechnet. In dieser Hinsicht ist die sozialwissenschaftlich-qualitative Methodologie anders aufgestellt. Der Aspekt der Entdeckung besitzt zumeist Vorrang gegenüber der Idee der Prüfung von Theorien. Die einzelnen Schulen und Verfahren unterscheiden sich allerdings darin, inwieweit sie eine elaborierte Methodologie bereithalten, die sowohl auf das Zustandekommen wie auf die Prüfung und Absicherung von Theorien ausgerichtet ist. Den Ausgangspunkt der Theorieentwicklung stellen in der Regel in alltagsweltlichen Kontexten hervorgebrachte – häufig von den (reflexiven) Feldmitgliedern bzw. Untersuchungspartnerinnen und -partnern vorinterpretierte – Daten dar, die Forschende für interessant erachten. Auf dieser Basis geht es sodann darum, zu theoretischen Konzepten bzw. zu Verallgemeinerungen zu gelangen. Die Denkfigur, die dabei in der Regel zur Anwendung kommt, ist die der Transzendenz des Besonderen bzw. Empirischen hin zum Abstrakten bzw. Theoretischen. Derartige Schlussfolgerungen werden häufig mit dem Begriff Induktion gekennzeichnet: Die Geschehensbeobachtung in einem Einzelfall lässt Wissenschaftler/innen vermuten, es könnte sich in einem nächsten Fall genau so verhalten, in einem übernächsten ebenfalls – und noch einige Zeit so weiter. Im Verlauf scheint die Vermutung zur Gewissheit zu wachsen: In allen Fällen verhält es sich in der festgestellten Weise. Eine Wiederkehr von Konstellationen beobachteter Phänomene (wie häufig auch immer) kann jedoch, wie die wissenschaftstheoretische Debatte ergab, lediglich als psychologischer Anstoß für eine Regelhaftigkeits-Erwartung gedeutet werden; eine logisch-argumentativ untermauerte Begründung bzw. Gewissheit kommt so nicht zustande (Breuer 1991, S. 38–42). Theoretische Erfindungen, die in solchen Kontexten hervorgebracht werden, sind jedoch selten von der Art der skizzierten linearen Fortschreibung von Ereignisketten in die Zukunft. Vielmehr handelt es sich um komplexere gedankliche Vorgänge, die auch kreative Anteile besitzen. Diese Art von Erfindungskunst wird auch als Heuristik bezeichnet. Einige Theoretiker/innen des qualitativ-sozialwissenschaftlichen

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Methodenansatzes stellen gerade deren Rolle und Bedeutung für die Theoriegenese, seine heuristische Komponente, in den Vordergrund (etwa Kleining 1995). Die gedankliche Figur der Entdeckung des Neuen wird auch mit dem auf Peirce (2000 [1906–1913]) zurückgehende Begriff der Abduktion gekennzeichnet, und es wird eine eigenständige logische Abduktions-Figur in Abgrenzung von Induktion und Deduktion entworfen. Das Konzept wird bei der Entfaltung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen qualitativer Methoden zunehmend ins Spiel gebracht (Reichertz 2013a). Kurz und einfach gesagt geht es dabei darum, aus vorhandenen empirischen Daten sowohl eine Kategorie (einen theoretischen Begriff, eine Universalie) wie eine Regel (einen gesetzesartigen Erklärungszusammenhang) für ihr Zustandekommen zu generieren. Bei der gedanklichen Struktur, die dem zugrunde liegt, handelt es sich nicht um eine logische Ableitung mit Gewissheits-Charakter, sondern um einen hinsichtlich des Wahrheitswerts riskanten Entwurf, bei dessen Zustandekommen Kreativität erforderlich ist und auch der Zufall eine Rolle spielt. Der heuristische Aspekt qualitativer Methodik wird von Vertreter/innen einer auf Theorieprüfung ausgerichteten Orientierung zumindest in Grenzen wertgeschätzt, weil hier angeleitete Verfahren für die Gewinnung neuartiger Hypothesen in Aussicht stehen. Qualitative (Entdeckungs-)Methoden stellen unter diesem Blickwinkel allerdings lediglich ein Propädeutikum (eine Vorstufe) „eigentlicher Wissenschaft“ dar – zwar kreativ, aber ohne Prüf- und Gütesiegel für die Resultate. In der Sicht der Vertreter/innen qualitativer Methodologie spricht vom Prinzip her nichts dagegen, ihre Methodik gemeinsam und koordiniert mit quantitativen Verfahren zu verwenden. Dazu sind jedoch Untersuchungsdesigns erforderlich, durch die beide Konzeptionen in ein gegenstandsbezogen und methodologisch gerechtfertigtes Verhältnis zueinander gebracht werden. Die Funktion als Propädeutik ist dabei nur eine unter mehreren Möglichkeiten. In jüngerer Zeit wurden unter dem Stichwort Mixed Methods entsprechende integrative Modellvarianten ausgearbeitet (Kelle 2007; Kuckartz 2014; Teddlie und Tashakkori 2009; speziell für Psychologie: Lippe et al. 2011). Ein anderes Argument gegen die Tragfähigkeit des Induktionsgedankens im Rahmen wissenschaftlicher Begründungszwecke ist auch für die Entdeckungskomponente qualitativer Methodik von Bedeutung: „Reine“ Induktion ohne jegliche Voraussetzung ist nicht möglich. Jede Form menschlichen Erkennens geht unvermeidlich von bestimmten Präformationen unseres Wahrnehmungs- und Repräsentationsinstrumentariums und -hintergrundes (Sinnesausstattung, begriffliche Vorprägungen, Vorerfahrungen, Diskurse etc.) aus. Insofern ist Erkenntnis auf apriorische Strukturen angewiesen. In qualitativ-methodischen Forschungsansätzen wird – in gewissem Gegensatz dazu – mitunter das Postulat der theoretischen Offenheit vertreten: Ohne vorformulierte Hypothesen soll an ein Forschungsgebiet herangegangen werden. In dieser Hinsicht kann sinnvollerweise allerdings nicht von „absoluter“, sondern nur von einer „relativen“ und – im idealen Fall – von einer reflektierten Offenheit gesprochen werden: Es ist nötig – und das stellt eine Paradoxie dar – dass Forschende sich um die Explikation und Aufklärung ihrer Erkenntnisvoraussetzungen („Präkonzepte“) bemühen – um diese im Forschungsprozess anschließend

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zu hinterfragen, zu „befremden“, „einzuklammern“, beweglich und flexibel zu handhaben. Das mag bei entsprechender selbstbezüglicher Reflexion in Grenzen gelingen (Amann und Hirschauer 1997) – es bleibt jedoch stets eine problematische und prekäre Prämisse.

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Sozialwissenschaftlich-qualitative Methoden als Interpretationsverfahren

Die Schnittstelle zwischen der Welt der Ideen und der Welt der beobachtbaren bzw. messbaren Gegenstände – methodologisch ausgedrückt: zwischen Theorien und Daten, Konstrukten und „Messungen“ – ist eine der Grundfragen der Erkenntnistheorie empirischer Wissenschaften. Im neopositivistisch-nomothetischen Diskurs des 20. Jahrhunderts wurde diese Frage als Zwei-Sprachen-Problem behandelt: In wissenschaftlichen Aussagensystemen soll möglichst eindeutig zwischen einer sogenannten Beobachtungssprache (die – außer logischen Verbindungs-Ausdrücken – ausschließlich Beobachtungs-Terme enthält), und einer theoretischen Sprache (wesentlich konstituiert durch sogenannte Konstrukte, deren Referenten einer unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich sind) unterschieden werden (Carnap 1958). Es wurden vielerlei methodologische Anstrengungen unternommen, die Kluft zwischen den beiden Sprachstufen durch Zuordnungs- bzw. Korrespondenzregeln zu überbrücken. Prototypisch geschieht dies durch die empirische Interpretation von Konstrukten durch ihre Verknüpfung mit Beobachtungs- bzw. MessOperationen (Operationalisierungen). Diese Vorstellung beinhaltet mancherlei Komplikationen, durch die die aussagenlogische Eindeutigkeit der Prüfung von Geltungsbehauptungen in Frage gestellt wird (Breuer 1991, S. 114–120). Als Problem stellte sich u. a. der Entwurf einer „reinen Beobachtungssprache“ heraus: Auch derartige Aussagengebilde kommen nicht ohne sprachliche Universalien, ohne Ausdrücke mit Verallgemeinerungs-Implikationen aus. So dass die Unterscheidung der beiden Ebenen nicht absolut zu treffen ist, sondern – gewissermaßen als Hilfslösung – auf den Kontext einer spezifischen Theorie relativiert vorgenommen werden muss (Breuer 1991, S. 36–37; Groeben 1986, S. 86–97). Wir begegnen hier dem epistemologischen Fundamentalproblem, dass beim menschlichen Wahrnehmen alle Perzepte in bereits (durch Sinnesmodalitäten, Wahrnehmungsschemata, begriffliche Konzepte, gedankliche Rahmungen etc.) kodierter Weise vorliegen. Wir erkennen niemals Dinge an sich, sondern wir haben es mit Dingen für uns zu tun. Wenn es um die wissenschaftliche Erkenntnis der sozialen Welt geht, werden die Verhältnisse noch voraussetzungsbeladener. In ihren lebensweltlichen Erscheinungsweisen treffen wir bereits auf Deutungsvorgänge der reflexiven Mitspielenden, die aus ihren (Sub-)Kulturen und soziokulturellen „Sinnprovinzen“ stammen: Die Daten sind wesentlich geprägt durch die Kategorisierung und Bedeutungszuschreibungen der Akteure des Kontextes („Konstruktionen erster Ordnung“; Schütz 1954). Als Forschende können wir uns ohne (i. w. S.) theoretische Voraussetzungen, die (auch) an eigene (sub-)kulturelle Erfahrungen gebunden sind, in solchen Situationen gar nicht zurecht finden – wir wären gewissermaßen „seelen-

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blind“. Erst recht könnten wir ohne (reflektierten) Gebrauch derartiger Präkonzepte kein sozialwissenschaftliches Verständnis („Konstruktionen zweiter Ordnung“; Schütz 1954) zustande bringen. Der qualitativ-methodischen Forschungskonzeption liegt die Erkenntnisfigur der Hermeneutik bzw. des sogenannten hermeneutischen Zirkels (besser: der hermeneutischen Spiralbewegung) zugrunde, bei der die subjektseitigen Voraussetzungen des Erkenntnisprozesses fokussiert und methodisch bearbeitbar gemacht werden (Kurt 2004; Kurt und Herbrik 2014; Soeffner 1989). Es wird davon ausgegangen, dass jeder Wahrnehmungs- und Verstehensakt ein (Vor-)Verständnis voraussetzt, das ein Erkennen erst ermöglicht, dieses aber auch einschränkt und begrenzt. Durch Kontakt mit der „sozialen Wirklichkeit“ kommen wir zu Erfahrungen und Daten, die wir in bestimmter Weise interpretieren, die wir in die Vor-/Verständnis-Basis integrieren, wobei diese verändert wird. Einen nächsten Erkenntnisakt vollziehen wir dann auf der Grundlage eines modifizierten Verständnisses – und spiralhaft so weiter. Mit dieser Sichtweise ist das methodologische Postulat verbunden, die reflexive Aufmerksamkeit nach zwei Seiten hin auszurichten: auf die Welt „dort draußen“, das intentionale Gegenstandsgebiet, die inhaltliche Forschungsfrage – sowie auf die Welt „hier drinnen“, die subjektseitigen, persönlichen Erkenntnisvoraussetzungen, deren Konstitution und Wandel. Hermeneutik wird mitunter als Interpretationskunst bezeichnet. Darin liegt eins ihrer methodologischen Probleme: Die Kunstfertigkeit bzw. eine entsprechende Begabung sind nicht allen Ausübenden in gleicher Weise gegeben, und die Möglichkeiten ihrer Kodifizierung in Regelwerken sind begrenzt. Heilige Schriften, Gedichte, Gesetzestexte und alltagsweltlich-interaktives Handeln zu verstehen und zu deuten, erfordert eine gewisse Sensitivität und Expertise. Zudem ist nicht zu gewährleisten, dass es stets nur ein „richtiges“ Verständnis eines Textes oder einer Handlung gibt, oder dass die Interpretierenden sich auf ein solches einigen können. Allen Ansätzen sozialwissenschaftlicher Hermeneutik ist die Annahme gemeinsam, dass derartige Interpretationen sozial-kulturell einsozialisierte Verstehensfähigkeiten zur Grundlage haben. Die elaborative Transzendenz dieser lebensweltlichen Elementarkompetenz fällt in den hermeneutischen „Schulen“ allerdings unterschiedlich aus – sie reicht von einer intensiven Einübung mit hohen Selbstreflexions-Anteilen unter der Mentorschaft eines „Meisters“ (Prototyp: die „Lehranalyse“ in der Psychoanalyse-Ausbildung; Stratkötter 2004, S. 229–235) über die gemeinsame Reflexion in einer Gruppe von Mitforschenden („Forschungswerkstatt“; Allert et al. 2014; Gramespacher et al. 2009; Reichertz 2013b; Riemann 2011) bis zum allgemein gefassten Selbstreflexions-Appell. Der Vorgang qualitativ-methodischer Auswertung bzw. Interpretation textförmiger Dokumente sozialer Phänomene bzw. Ereignisse (v. a. Gesprächs-Transkripte und Beobachtungsprotokolle) wird üblicherweise als Kodieren bezeichnet. Beim Kodieren werden Textausschnitten (unterschiedlicher Größenordnung) bestimmte (Be-)Deutungen zugeschrieben, die für das Untersuchungsthema und den theoretischen Zugriff (potenziell) relevant sind. Diese Bedeutungsverleihung geschieht durch die Koppelung empirischer Phänomene mit sprachlichen Konzepten. Welche Fokussierungen von Gegenstandscharakteristika und welche Begrifflichkeiten dabei

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zustande kommen, hängt auch von den theoretischen Hintergründen und Vorgaben sowie den Themeninteressen der Kodierenden ab. Bei einigen methodischen Prozeduren ist das Inventar der Kodes bzw. Kategorien bereits vorgängig eingegrenzt (etwa bei bestimmten Formen von Inhaltsanalyse; Mayring 2010; Schreier 2012, 2014), bei anderen entwickeln sich die Kodes/Kategorien im interaktiven Prozess zwischen Forschenden und Daten (Prototyp: Grounded Theory-Methodologie und deren Prinzip der Emergenz – Breuer et al. 2019; Mey und Mruck 2009; Muckel und Breuer 2016). Die Glaubwürdigkeits-Absicherung derartig zustande kommender Kodierungen kann auf unterschiedlichen Wegen geschehen. Verbreitet ist die Praxis, die Deutungsprozeduren durch mehrere Kodierende parallel – sei es je für sich oder im kommunikativen Austausch in Gruppen – vornehmen zu lassen und die Resultate zu vergleichen. Die Co-Kodierenden können geschulte Hilfspersonen oder Mitglieder der Forschungsgruppe sein, es kann sich u. U. auch um Untersuchungspartner/innen aus dem Forschungsfeld handeln. In diesem Zusammenhang können die Konzepte Triangulation, Member Checking (Flick 2008) und kommunikative Validierung (Groeben und Scheele 2000) ihren Stellenwert besitzen. Verschieden sind allerdings die Interpretationsmöglichkeiten von Divergenzen in den Urteilen der Kodierenden: Die Unterschiede lassen sich als Mangel an Objektivität bzw. Reliabilität auffassen, aber auch als Hinweise auf differenzielle Verstehensperspektiven, die themenbezogen weiter exploriert werden und den Anstoß für eine tiefer gehende theoretische Durchdringung darstellen können (Breuer 1999). Eine Absicherung von Interpretationen bzw. Kodierungen ist auch dadurch möglich, dass die begrifflichen Konzepte, die auf die skizzierte Weise hervorgebracht werden, in ein theoretisches Modell eingeordnet werden und in dem so gestifteten Gesamtzusammenhang ihre Passung und Stimmigkeit (Kohärenz) erweisen. Ganz grundsätzlich bleibt bei dieser methodologischen Konzeption eine Ungewissheit: Die finale, abschließende Deutung eines sozialen Sachverhalts oder Ereignisses (bzw. der entsprechenden Daten) gibt es nicht. Stets haben wir es mit Lesarten zu tun, die an Verstehenshorizonte von Beteiligten und Beobachter/innen gebunden sind. Diese können unauflöslich divergent ausfallen, und sie können sich – mit unterschiedlichen Zeitdistanzen, im Lichte eines veränderten Interpretationshintergrunds – wandeln. Das Gewahrsein dieser Wandelbarkeit unserer Theorien und Auffassungen lehrt uns epistemologische Bescheidenheit: Mit Wahrheitsbehauptungen sollen wir zurückhaltend sein!

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Subjektivität, Perspektivität und Interaktivität in der sozialwissenschaftlichen Forschung

Die Einflüsse der Person des/der Forschenden im Erkenntnisprozess sowie in der interaktiven Konstellation und Dynamik der Untersuchungssituation stellen methodologische Herausforderungen dar, die speziell in qualitativen Forschungsprojekten nach Überdenken und Positionierung verlangen. Dem wenden sich die in diesem Stil Forschenden in mehr oder weniger fokussierter Weise zu. Diesbezüglich findet sich

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ein Spektrum defensiver und offensiver Umgehensweisen (Ploder und Stadlbauer 2016; Reichertz 2015). Lässt man sich von der nomothetischen Wissenschaftsprogrammatik leiten, stellt die Idee objektiver Erkenntnis eine wesentliche Zielvorstellung dar: Wissenschaftliche Erkenntnis soll unabhängig von der Person sein, die das Wissen besitzt oder hervorbringt. Erkenntnis-Protagonist/innen treten unter dieser Voraussetzung nicht als Individuen mit Eigenschaften und Besonderheiten auf, sondern sie sollen als Non-Personen (als alters- und geschlechtslose farblose Figuren) agieren oder sich in der Erhebungssituation unsichtbar machen (einen weißen Kittel tragen, eine Tarnkappe aufsetzen . . .). In qualitativen Methodologien wird dieser Auffassung eine Programmatik gegenüber gestellt, bei der der Person des/der Forschenden sowie der Interaktion zwischen Forschenden und Untersuchungspartner/innen konstitutive Bedeutung dafür zugeschrieben wird, wie sich der Erkenntnisprozess vollzieht und was dabei herauskommt. Die Rolle und der Einfluss der Forschenden werden nicht schamhaft zugedeckt oder als (zu kontrollierende) Störgröße behandelt, sondern gewissermaßen schamlos und offensiv auf die Vorderbühne gestellt. Als zentrale erkenntnistheoretische Konzepte kommen die der Subjektivität und der Perspektive ins Spiel: Alle menschliche Erkenntnis (in lebensweltlichen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen) ist Erkenntnis von Personen; und diese ist durch ihre Wahrnehmungsfähigkeiten, Vorprägungen, Standpunkte, Eingebundenheiten, Einwirkungen etc. gekennzeichnet. Sie wird von einer spezifischen Erkenntnisstruktur und in einer sozialen Erkenntniskonstellation hervorgebracht und ist daher unaufhebbar perspektivisch (Bonz et al. 2017; Breuer 1989, 2003; Breuer et al. 2019; Breuer und Muckel 2016). Erkenntnistheoretisch mag man diese Tatsache bedauern, stellt sie doch eine Verletzung unseres Bedürfnisses nach universalen Gewissheiten dar. In Konzeptionen sozialwissenschaftlich-qualitativer Epistemologie hat man sich häufig von der Idee eines privilegierten Zugangs zur wahrheitsgemäßen Abbildung der Realität verabschiedet. Stattdessen wird die Auffassung vertreten, dass es grundsätzlich von Interesse ist, gegenstandsbezogene Beschreibungen von verschiedenen Standpunkten aus einzuholen und die zustande kommenden Varianten zueinander ins Verhältnis zu setzen. Aus ihrem Vergleich, gerade auch aus den zutage tretenden Differenzen und der Vielstimmigkeit der Sichtweisen, lassen sich Erkenntnisse über den fokussierten Gegenstand sowie auch über die besonderen Strukturmerkmale und Standpunkte der Auskunft gebenden Untersuchungspartner/innen gewinnen (Breuer 1989; Flick 2008; Gilligan et al. 2003). In einer Reihe erkenntnistheoretischer und methodologischer Schulen unterschiedlicher (Fach-)Richtungen (Konstruktivismus, Diskurstheorie, Semiotik u. a.; Übersichten bei Gergen 2002; Zielke 2004) wird die Bereitschaft unterstützt, aus heterogenen Darstellungen von Welt und Weltausschnitten einen Wissensgewinn zu ziehen. Alle diese Rahmenkonzeptionen unterstellen die epistemologische Interessantheit eines Spektrums tendenziell heterogener (Re-)Präsentationen und deren subjektseitiger (Be-)Deutungskonstitution und kommunikativer Aushandlung sowie

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die damit einhergehende Aussicht auf theoretischen (Tiefen-)Gewinn – ohne dass ein Vereinheitlichungs- und Stillstellungszwang ausgeübt wird. Zudem spielt hier die Tatsache eine wesentliche Rolle, dass es sich bei sozialwissenschaftlichen Forschungssituationen um Formen leibhaftiger interpersonaler Begegnung bzw. sozialer Interaktion zwischen Forschenden und beforschten Untersuchungspartner/innen handelt. Personen und ihr Handeln üben in der Begegnung differenzielle Wirkungen aus, sie berühren und beeindrucken sich wechselseitig. Georges Devereux (1984 [1967]) ist ein Klassiker eines solchen Forschungsverständnisses, der seine innovative methodologische Konzeptionalisierung auf einem psychoanalytischen Theoriehintergrund entworfen hat. Bezogen auf die interpersonale Konstellation sozialwissenschaftlicher Untersuchungssituationen (zwischen dem „Objekt“ und dem/der „Beobachter/in“) unterscheidet er drei Ebenen, auf denen die zustande gekommenen bzw. erfassten Daten betrachtet werden können: „1. Das Verhalten des Objekts. 2. Die ‚Störungen‘, die durch die Existenz und die Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden. 3. Das Verhalten des Beobachters: seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine ‚Entscheidungen‘ (d. h. die Bedeutung, die er seinen Beobachtungen zuschreibt)“ (Devereux 1984, S. 20).

Das Originelle an der Konzeption ist, dass Devereux die Aspekte (2) und (3) gegenüber der von der wissenschaftlichen Haltung üblicherweise fokussierten Ebene (1) aufwertet und für die Erkenntnisbildung in den Vordergrund stellt. Aspekt 2 bezieht sich auf die häufig auch mit dem technischen Begriff der reaktiven Effekte bezeichneten Phänomene aus der Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten: Die soziale Situation in einem Untersuchungsfeld wird durch das Hinzutreten fremder Beobachter/innen verändert, die (Beobachtungs- und/oder Gesprächs-)Interaktion zwischen den Protagonist/innen wird von den Eigenschaften und Handlungsweisen der Forschenden beeinflusst. Die Untersuchungspartner/ innen „reagieren“ auf den Reizwert des/der Forschenden – auf der Basis einer (Be-)Deutung(-sverleihung) (etwa hinsichtlich Geschlecht, Alter, Status, Rolle, Habitus etc.). Eine (selbst-)reflexive Analyse des so fokussierten interaktiven (Re-) Agierens der Beteiligten in der Forschungssituation vermag gegenstandsbezogene Erkenntnisse zutage zu bringen, die aus dem „Verhalten des Forschungsobjekts“ allein (etwa aus expliziten Auskünften in einem Interview) u. U. nicht zu entnehmen sind. Ebene 3 kommt als Gesichtspunkt – gemessen am methodologischen Standardverständnis – noch ungewöhnlicher daher: Die Resonanzen (i. w. S.) auf Seiten der Forschenden (Appetenzen, Aversionen und andere emotionale Reaktionen, lebensgeschichtliche Beziehungs-Reinszenierungen u. Ä.) sowie damit zusammenhängende methodische Entscheidungen (Neigungen zum Aufsuchen oder Vermeiden von Gegenstandsaspekten etc.) können auch als nützliche Informationsquellen in Bezug auf den Forschungsgegenstand angesehen werden. Wenn Forschende ihre persönlich-idiosynkratischen Reaktionen aus der Arbeit mit dem Thema, mit den Personen

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und Ereignissen im Forschungsfeld etc. angemessen sensibel, selbstaufmerksam und verständnissinnig in den Blick nehmen können, lassen sich diese als Auslösungen des Untersuchungsobjekts am eigenen Körper lesen und für eine Themenaufklärung nutzen. Derartige Resonanzen werden in Analogie zur Idee der Gegenübertragung aus der psychoanalytischen Behandlungslehre fokussiert und ausgeleuchtet. Den so aufkommenden Ideen und Assoziationen kann in der Folge durch weitere bzw. andere explorative Maßnahmen und Verfahren nachgegangen werden. In einer Reihe von Theorien wird versucht, den Grundgedanken der (Selbst-) Reflexivität der Forschenden epistemologisch und methodisch zu nutzen. Der Reflexivitäts-Begriff ist dabei durchaus mehrdeutig und wird hinsichtlich seiner Rolle in der sozialwissenschaftlichen Forschung unterschiedlich eingeordnet (Langenohl 2009). Hier sind einerseits soziologische Ansätze von Bedeutung, die die sozialwissenschaftliche Forschungskonstellation im gesellschaftlichen wie im situativ-interaktiv-prozessualen Zusammenhang fokussieren – etwa unter der Bourdieu’schen Perspektive der „wissenschaftlichen Reflexivität“ („Objektivierung“ der gesellschaftlich-sozialen Position und Erkenntnishaltung des/der Forschenden – abgegrenzt von der sogenannten „narzisstischen Reflexivität“; Bourdieu 1993); oder die auf die sozialkonstruktivistischen Ideen von Schütz (1971) zurückgehende Fokussierung von Forschungsbegegnungen aus interaktionstheoretischer Sicht, bei der intersubjektive Deutungen, Zuschreibungen und Aushandlungen als Konstruktionsweisen sozialer Wirklichkeit in den Mittelpunkt gestellt werden. Auf der anderen Seite stehen (vorwiegend tiefenpsychologischpsychoanalytisch grundierte) Konzeptualisierungen sozialwissenschaftlicher Methodologie (Prototyp: Devereux), die auf intra- und intersubjektive (Irritations-)Effekte der Forschungssituation und des Forschungsprozesses abheben und den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess begleitende selbstbezügliche Aufmerksamkeit postulieren, um dies als Heuristik zur Erkenntnisgenerierung zu nutzen (Bereswill 2003; Bonz et al. 2017; Hegener 2004). Wir haben eine Sortierungsdimension der Varianten reflexiver (Selbst-)Thematisierung der Forschungskonstellation vorgeschlagen (Lettau und Breuer 2007), deren eines Ende durch subjektseitige Bedingungen gekennzeichnet ist, die sich aus der Mitgliedschaft bzw. Verwobenheit in Gesellschaft, (Sub-)Kultur, Sprache, Geschichte und Denkweise ergeben; das andere Ende ist durch das Eigene in Gestalt des Privaten, Intimen, Biografischen, Familiären etc. gekennzeichnet. Im Prozess und Handlungskontext wissenschaftlicher Forschung lässt sich – etwa hinsichtlich der Methodenwahl, der Gestaltung der Interaktion mit den Untersuchungspartner/innen und der „Berührung“ durch das Forschungsthema – (selbst-)reflexive Aufklärung in beide Anordnungsrichtungen anstellen (Leithäuser und Volmerg 1988). Unter der Fragestellung, welche Möglichkeiten Forschende besitzen, um die besprochene Subjekt-Charakteristik der Erkenntnisbildung durch (selbst-)reflexive Praktiken zu thematisieren, werden u. a. Formen des Schreibens eines Forschungstagebuchs, von Memos verschiedener Art, von Unterstützung durch Rückmeldungen in einer Forschungsgruppe, durch Forschungssupervision angeraten (Breuer et al. 2011). Ferner sind Überlegungen zur Fokussierung der Leiblichkeit der

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Forschungssituation, zum Körper des/der Forschenden als explorative Sonde im Forschungsprozess interessant (Abraham 2002; Breuer 2000; Breuer et al. 2019; Gugutzer 2015; Hirschauer 2008). Die konkreten Umsetzungsversuche dieser Konzeptionen sind durch Offenheit, Entwicklung und Kreativität gekennzeichnet – und die Vorgehensweisen werden wohl immer eine stark person- und projektbezogene Note behalten (Breuer 2003). Bei Finlay und Gough (2003) finden sich Erfahrungsberichte aus Projekten unterschiedlicher Disziplinen, die mit der Reflexivitäts-Idee operieren. Einige Lehrbuchtexte psychologischer Provenienz sind einer so ausgerichteten Herangehensweise unter dem Gesichtspunkt der Anleitung und Begleitung reflexiver Forschungsaktivität gewidmet (Breuer 2010; Breuer et al. 2019; Mruck und Mey 2007). Der innovative Forschungsansatz der Autoethnografie (Chang 2008; Ellis 2004; Ploder und Stadlbauer 2013) erhebt die selbstthematisierende Erkenntnisfigur zum konstitutiven methodologischen Prinzip und bewegt sich dabei auf der Grenze zur literarisch-künstlerischen und performativen Produktion: Das eigene persönliche Erleben und Verarbeiten der Forschenden in intimen lebensweltlich-lebensgeschichtlichen Situationen und Kontexten wird in seinen Bezügen zu soziokulturellen Mustern beleuchtet. Hierbei wird allerdings die Idee von Wissenschaft als einer überkommenen und in spezifischer Weise kanonisierten Erkenntnis- und Wissensform in Frage gestellt (Geimer 2011).

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Sozialwissenschaftlich-qualitative Methodik und Gegenstandskonstitution

Forschungsmethodik liefert einen Inszenierungs- und Wahrnehmungsfilter, der darüber entscheidet, welche Komponenten und Charakteristika des Objekts der wissenschaftlichen Neugier in den Blick geraten – was für existent, wichtig, interessant etc. gehalten wird und was nicht. Mithilfe methodischer Instrumente wird der wissenschaftliche Erkenntnisgegenstand erst konstituiert und konstruiert. Der, die, das Andere ist nicht unzweideutig (vor-)gegeben, sondern wird in der und für die wissenschaftliche/n Repräsentation per Methodik erschaffen (Geertz 1990; Berg und Fuchs 1993). Für die Humanwissenschaften bedeutet das: Es wird ein Menschenbild entworfen (Breuer 1999, 2005; Erb 1997; Reichertz 2010), und mit der Methodenwahl werden Festlegungen wie diese a priori getroffen: Besitzt der in der Forschung fokussierte Mensch ein kognitives und emotionales Innenleben? Verfügt er über einen freien Willen, über Kompetenzen der Welt- und Selbstdeutung? Hat er eine Seele? Oder ist er lediglich eine neuronale Agglomeration oder eine „Black Box“, die „reaktives Verhalten“ hervorbringt? Im Rahmen qualitativer Methodologie ist in diesem Zusammenhang die Überlegung charakteristisch, die Wahl der Methode mit einer explizierten und theoretisch reflektierten Menschenbild-Vorstellung abzugleichen. Es wird das Prinzip der Gegenstandsangemessenheit der Methodenwahl herausgestellt. Mitunter wird dabei die Annahme einer Strukturgleichheit der anthropologischen Voraussetzungen auf Seiten der Forschenden und ihres Forschungsobjekts zum Maßstab

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gemacht (Breuer et al. 2019; Groeben und Scheele 1977; Holzkamp 1972; Laucken 2003): Beide sind gleichermaßen menschliche Wesen mit bestimmten Kompetenzen – wie Sinndeutungs-, Selbstauskunfts-, Reflexionsfähigkeit und (potenziell) Rationalität. Dass sie im Forschungskontext ihre Position in der komplementären Konstellation als Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt einnehmen, basiert auf einer Verabredung – die Rollen lassen sich prinzipiell vertauschen. Psychologische Untersuchungen können an diesem Maßstab gemessen werden: Wird die Strukturgleichheitsannahme im Forschungsdesign bzw. durch die Methodenapplikation berücksichtigt? Inwieweit repräsentieren Untersuchungsszenarien den Handlungsraum „natürlich“-lebensweltlicher Situationen, für den eine Geltungsbehauptung aufgestellt wird? „Unterschreitungen“ dieses Prinzips sind im Rahmen psychologischer Forschungsarbeiten u. U. möglich und legitim – doch sind sie hinsichtlich der gegenstandsbezogenen Repräsentanz zu begründen (Groeben 1986, S. 365–372; Janich 2012). Von „Versuchspersonen“ im psychologischen Laborexperiment werden charakteristischerweise bestimmte Reaktionszeiten, elektrophysiologische Messwerte oder reizevozierte Verhaltensäußerungen registriert. „Untersuchungspartner/ innen“ in qualitativ-sozialwissenschaftlichen Forschungsinteraktionen werden demgegenüber programmatisch für (selbst-)reflexiv und kommunikationstüchtig gehalten. Sie können Beschreibungen und Sinndeutungen erlebter sozialer Situationen, Interaktionen, Lebensgeschichten u. Ä. liefern. In qualitativ-methodischen Projekten bieten sich oftmals Möglichkeiten, in den Forschungsarrangements Realisierungs- oder Entwicklungsspielräume für die Deutungs- und Reflexionsfähigkeiten der Untersuchungspartner/innen bereitzustellen. Auf diese Weise lassen sich u. U. deren Kompetenzen und Perspektiven erweitern bzw. verbessern sowie (etwa als „Expert/innenwissen“) auch für die wissenschaftliche Theoriebildung nutzen. Es besteht die Möglichkeit, sie in stärkerem Maße partizipativ bzw. kooperativ in die wissenschaftliche Erkenntnisbildung einzubeziehen (Bergold und Thomas 2012; Unger 2014).

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Ausblick: Wandel der Epistemologien und der disziplinären Kultur in der Psychologie

Methodische Entscheidungen können niemals auf eine einzige verbindliche Weise getroffen werden, und sie bleiben nicht auf lange oder gar ewige Dauer gültig. Hierfür spielen Gründe aus den gehobenen Sphären der Erkenntnistheorie sowie auch solche aus den Niederungen der praktischen Umstände und der institutionellen Kontextualisierung von Forschungsarbeit eine Rolle. Die einschlägig gefundenen Antworten wandeln sich im Laufe der Wissenschafts- und Disziplingeschichte. Mit Zeitgeist-Strömungen und theoretischen Moden, Varianten von Beurteilungs-/Evaluationskriterien, mit unterschiedlichen (wissenschafts-) politischen Rahmungen und Ausrichtungen, aufgrund der Entwicklung bzw. Verfügbarkeit bestimmter technologischer Instrumentarien und Verfahren verändern sich

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die Ansichten darüber, was methodisch angesagt, (un-)möglich, (nicht) förderungswürdig, richtig und falsch ist. Die institutionelle Einbettung der Ausbildung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in spezifischen Fachrichtungen (ihre Lehrstuhlprofile, Curricula, Freiheitsgrade etc.) bahnt oder behindert methodenbezogene Vorlieben. Manche Disziplinen sind in dieser Hinsicht offener und pluralistischer eingestellt – andere Fachkulturen präsentieren sich dagegen hermetisch und dogmatisch. Diese Charakteristik ist an bestimmte Orte (z. B. Hochschultypen, Universitätsstandorte, Länder, Kontinente) und Zeitpunkte gebunden. Die Bedingungen des Zustandekommens sind komplex. Aus der prekären Lage der Psychologie hinsichtlich ihrer Gegenstandskonstitution und -verankerung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Biologie, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaft sowie Humanmedizin ergeben sich in der Disziplingeschichte oftmals Widersprüchlichkeiten und Brüche ihrer Identität und Kontinuität: Auf der Basis neuer Gegenstandszugänge (beispielsweise neuer Apparaturen und technologischer Verfahren) erwächst die Illusion, immer wieder ganz von vorn beginnen und nun den wahren psychologischen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur kommen zu können. Im Windschatten politisch-administrativer Neukalibrierungen des Ausbildungs- und Forschungswesens an Universitäten und Hochschulen erleben wir gegenwärtig in dieser Hinsicht einen kulturrevolutionären Umbruch der Disziplin. Das pluralistische Gegenstands- und Methodenverständnis, das die deutschsprachige Psychologie in der Vergangenheit ausgezeichnet hat, geht dabei verloren. Wir sind mit einer intellektuellen Verarmung der Psychologie konfrontiert, der Ausdünnung ihrer theoretischen und methodologischen Vielfalt, sowie mit dem Verlust ihres (produktiven) internen Spannungsverhältnisses als Wissenschaft, in deren traditionellem Verständnis sowohl die biologisch-physiologischen wie die sozial-kulturellen Seiten des Gegenstands als dazugehörig angesehen wurden. Ein Zerbrechen dieses Selbstverständnisses zeichnet sich ab, ein Auseinanderdriften in zwei Kulturen, die sich in getrennten disziplinären Kontexten und in einer gewandelten Fächersystematik (z. B. als „Lebenswissenschaften“) neu konfigurieren. Wenn man sich der Mainstream-Ausrichtung und Engführung des Fachs nicht anschließen mag, gibt es in der gegenwärtigen Lage genügend gute Gründe, sich von der akademisch-universitären Psychologie abzuwenden, sie ihrem neurowissenschaftlichen und mathematisierenden Aufspreizen sowie ihrem Spagat zwischen nivellierender Modularisierung und profilierungsbesessener Performanz von Exzellenz zu überlassen. Andererseits kann man – und dafür ist dieses Handbuch in zweiter Auflage ein Zeichen – mit mindestens ebenso guten Gründen tatkräftig auf einem Gegenstands- und Methodenverständnis der Psychologie insistieren, das auch ihren sozial- und kulturwissenschaftlichen Traditionen verpflichtet ist und das nahe legt, Entwicklungen benachbart-befreundeter Fachkulturen in der psychologischen Forschung aufzugreifen. Die aufblühenden neuen Ansätze und Elaborationen qualitativer Methodik sind ein wichtiger Teil dieser übergreifenden sozialwissenschaftlichen Entwicklungsdynamik, die in der Mainstream-Psychologie derzeit verschlafen wird.

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Psychoanalyse Rolf Haubl und Jan Lohl

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Psychoanalyse als Subjekttheorie: Das Instanzenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Psychoanalyse als Massenpsychologie und als Theorie der Gruppendynamik . . . . . . . . . . . . . 5 Ethnopsychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ethnoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Psychoanalyse als Weltanschauung und kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag führt in ausgewählte Grundkonzeptionen der Psychoanalyse ein und fragt nach ihrer Bedeutung jenseits des klinischen Settings. In den Blick genommen werden die Psychoanalyse als Subjekttheorie, als Massenpsychologie sowie die Ethnopsychoanalyse. Der Hauptfokus des Beitrages liegt auf der Psychoanalyse als möglicher Referenztheorie für qualitative Forschung. Schlüsselwörter

Psychoanalyse · Unbewusstes · Subjekttheorie · Kulturtheorie · Ethnopsychoanalyse · Psychische Struktur und Persönlichkeit

R. Haubl (*) Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Lohl Institut für Fort- und Weiterbildung, Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_6

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R. Haubl und J. Lohl

Einleitung

Psychoanalyse ist mehr als Psychotherapie. Sie bietet verschiedene Anwendungsmöglichkeiten. „Vielleicht“, so überlegte Freud (1926, S. 283), „wird die Zukunft zeigen, dass sie [die Therapie] nicht die wichtigste ist“. Als „neues Forschungsmittel“ und als „Lehre vom seelisch Unbewussten kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur“ (1926, S. 283) befassen. Die Psychoanalyse versteht sich als eine humanwissenschaftliche Disziplin, die auf Sigmund Freud und seinen Kreis der frühen Psychoanalytiker/innen zurückgeht (Lohmann und Pfeiffer 2006). Nach einer über hundert jährigen Geschichte ist es allerdings problematisch, die Psychoanalyse Freuds mit der Psychoanalyse schlechthin gleichzusetzen. Tatsächlich versammelt sich heute unter diesem Oberbegriff eine ganze Reihe von Ansätzen, die familienähnlich sind, aber – wie es in den besten Familien vorkommt – auch kontrovers und spannungsgeladen zueinander stehen (Conci und Mertens 2016; Eagle 1988; Leuzinger-Bohleber und Weiß 2014; Mertens 2013). Versucht man, das komplexe psychoanalytische Gebäude zu dimensionieren, bietet sich eine Markierung von Teildisziplinen an. So gesehen, ist die Psychoanalyse • eine Theorie des Subjekts; • eine Theorie der Entwicklung der menschlichen Gattung (Phylogenese), die biologische, psychologische und soziologische Wissensbestände integriert; • eine darin eingebettete Theorie der individuellen Entwicklung (Ontogenese); • eine Theorie der Entstehung psychischer Störungen infolge unbewältigter Traumata und Konflikte (Pathogenese); • eine Praxeologie der psychotherapeutischen Behandlung dieser Störungen; • eine Theorie der Kultur und der Zivilisierung, mit Abstrichen auch eine Theorie der Gesellschaft; • eine „Weltanschauung“; • eine „kritische Theorie“ und, was hier im Vordergrund stehen soll: eine Referenztheorie für qualitative Sozialforschung.

2

Psychoanalyse als Subjekttheorie: Das Instanzenmodell

Wenn Sozialwissenschaftler/innen daran interessiert sind, wie Vergesellschaftung entsteht, kommen sie nicht umhin, Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie aus Menschen die Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft werden. Mit seinem Instanzenmodell hat Freud (1923, 1933) ein theoretisches Angebot gemacht, wie das Ineinander von Gesellschaftsstruktur und psychischer Struktur konzeptualisiert werden kann: Er spricht von Es, Ich und Über-Ich/Ich-Ideal, deren spannungsreiches Zusammenspiel diese Leistung erbringt. Als Realabstraktionen gedacht, fassen die

Psychoanalyse

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Instanzen konkrete empirische Sozialisationsprozesse theoretisch zusammen, weshalb sie selbst keinen empirischen Status haben (Meyer 1969). Das Es ist der theoretische Ort der Triebe, die ihrerseits im Biologischen wurzeln. Freud nimmt an, dass es die Triebe sind, die das primäre Motivationssystem des Menschen ausmachen. Folglich fließen Triebimpulse in alles Erleben und Handeln ein, wobei er – in der bekanntesten Fassung seiner Theorie – zwischen Sexualtrieben und aggressiven Trieben unterscheidet. Sie können auch vermischt auftreten. Beide streben nach Lust, die sie hemmungslos zu maximieren suchen. Das Ich ist als die Instanz gedacht, die die psychische Innenwelt eines Menschen mit seiner soziokulturellen Außenwelt vermittelt. Ein Ich, das ausschließlich dem Es dient, führt zu heftigen Konflikten, da es keine Gesellschaft gibt, die eine Maximierung der triebhaften Lust ihrer Mitglieder zulassen kann, ohne ihren Bestand zu gefährden. Folglich bedarf es einer Begrenzung. Diese wird im Modell über die Instanzen des Über-Ich und des Ich-Ideals durchgesetzt. Das Über-Ich lässt sich als Repräsentanz aller gesellschaftlichen Werte und Normen begreifen, mit denen ein Individuum identifiziert ist. Bricht es mit ihnen, erlebt es diesen Bruch als Schuldgefühl. Schuldgefühle sind starke Unlustgefühle, die ein Individuum deshalb zu vermeiden sucht, was dazu beiträgt, mit den repräsentierten Werten und Normen konform zu gehen. Im Hinblick auf die Instanz des Es sorgt das Über-Ich dafür, dass das Ich nur so viel triebhafte Lust erlaubt, wie es von den repräsentierten Werten und Normen nicht verboten wird. Damit entsteht eine Quelle möglicher fortlaufender Konflikte. So kann ein Individuum die Verbote als derart lustfeindlich erleben, dass es gegen sie aufbegehrt, um deren Lockerung durchzusetzen. Während das Über-Ich Verbotsnormen repräsentiert, bringt das Ich-Ideal Gebotsnormen in Stellung, mit denen ein Individuum identifiziert ist. Fordern Verbote, etwas soziokulturell Verpöntes nicht zu tun, aber auch: Verpöntes nicht zu denken oder sogar nicht zu fühlen, so fordern Gebote, zu fühlen, zu denken und zu tun, was als gut, mehr noch: was als ideal gilt. Kommt ein Individuum den Idealvorstellungen nahe, erlebt es dies als Stolz. Bleibt es hinter ihnen zurück, wird es von brennenden Schamgefühlen gepeinigt, die es daran erinnern, dass es in der Realität weit weniger großartig ist, als es für sich in Anspruch genommen hat. Wie Verbote triebhafte Lust hemmen und begrenzen können, gilt dies auch für Gebote. Zwar verpflichtet das Ich-Ideal das Ich, das Es in den Dienst eines Strebens nach Grandiosität zu stellen, hemmt und begrenzt dieses Streben aber genau dann durch eine Entwicklung von Schamgefühlen, wenn sich das Ergebnis zu weit von der Realität entfernt. Mithin zwingt es das Individuum, mit einem realistischeren Selbstbild auszukommen, was Enttäuschungen erspart (zur Unterscheidung von Schuld- und Schamgefühlen: Piers und Singer 1971). Die im Über-Ich/Ich-Ideal repräsentierten Verbote und Gebote sind unbewusst. Sie können jedoch bewusst werden, wobei der stärkste Faktor für eine Bewusstwerdung die Konfrontation mit alternativen Werten und Normen ist, sei sie lebenspraktisch oder auch nur gedanklich. Werte und Normen, die zu Bewusstsein gekommene sind, lassen sich auf ihre Geltungsberechtigung hin prüfen und zur Disposition stellen, also aus überzeugenden Gründen verwerfen, aber auch beibehalten.

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Die methodologische Relevanz des psychoanalytischen Instanzenmodells besteht in der Annahme, dass jede menschliche Lebensäußerung eine Kompromissbildung ist, die dem entsprechend auch als solche rekonstruiert werden muss. Nehmen wir als allgemeines Beispiel für eine psychoanalytisch inspirierte sozialwissenschaftliche Hermeneutik einen (transkribierten) Text, der im Rahmen eines Forschungsprojektes generiert worden ist. Dann wird methodologisch angenommen, dass alle Textpassagen aus einem Zusammenspiel zwischen den Instanzen Es, Ich und Über-Ich/Ich-Ideal entstehen, wobei die einzelnen Instanzen (der Textproduzenten) mit unterschiedlichem Gewicht beitragen. So können Text-Passagen vorkommen, die stark triebhaft sind, aber auch solche, in denen Wahrnehmungen und Vorstellungen oder die Geltung von Werten und Normen im Vordergrund stehen. Wer psychoanalytisch verfährt, der muss seine Interpretationen multiperspektivisch anlegen, muss fragen, welche der Instanzen in einer bestimmten Text-Passage den größten Einfluss hat. Vereinfacht formuliert, bietet das Instanzenmodell eine Reihe von – theoretisch begründeten – Kategorien an, nach denen sich Transkript-Passagen sortieren und kombinieren lassen. Psychoanalytisch darf eine Interpretation erst dann heißen, wenn sie letztlich das Zusammenspiel der Instanzen bzw. der sie verkörpernden Akteure fokussiert, mithin dynamisch ist. Die Hermeneutik des Instanzenmodells gilt jedoch nicht nur für die interpretierten Transkripte, sondern zugleich auch für deren Interpretationen. Denn die Interpretationen eines Textes ergeben einen neuen Text, der ebenfalls nach dem Instanzenmodell aufgeschlüsselt werden kann – unendlich. Finden Interpretationen in Interpretationsgruppen statt, dann ist immer wieder zu beobachten, dass die Interpret/innen verschiedene Rollen einnehmen, die den Instanzen entsprechen (zur Bedeutung von Interpretationsgruppen im Forschungsprozess: Allert et al. 2014; Bonz et al. 2017a; Hoffmann und Pokladek 2010; Liebsch et al. 2014; Morgenroth 2010b; Mruck und Mey 1998; Oth 2012; Reichertz 2013). So kommt es vor, dass einige Mitglieder der Interpretationsgruppe einen Es-Standpunkt einnehmen, während andere von einem Über-Ich/Ich-Ideal-Standpunkt aus argumentieren, und wiederum andere darum bemüht sind, diese Standpunkte in einem handlungsleitenden Ich-Standpunkt zu integrieren. Die Rollenkonfigurationen, die dabei zustande kommen, sind nicht fix, sondern entstehen und vergehen im Prozess der Generierung und Prüfung von Interpretationen. Längst ist das Instanzenmodell nicht mehr das einzige, mit dem die Psychoanalyse arbeitet (z. B. Lichtenberg 1989). Wie dem auch sei. Ohne Subjekttheorie kommt qualitative Sozialforschung nicht aus. Denn sie hat es immer mit Akteuren zu tun, die inter- und intrapsychisch generieren, was Gegenstand einer Interpretation ist.

3

Das Unbewusste

Das Konzept, mit dem sich die Psychoanalyse am trennschärfsten von anderen humanwissenschaftlichen Ansätzen unterscheidet, ist das des Unbewussten, für das es inzwischen verschiedene Fassungen gibt (Kettner und Mertens 2010;

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Leuzinger-Bohleber und Weiß 2014). Freud differenziert zwischen einem deskriptiv Unbewussten oder Vorbewussten und einem dynamischen Unbewussten. Deskriptiv unbewusst sind alle Gefühle, Gedanken und Handlungsbereitschaften, die dem Bewusstsein solange nicht zugänglich sind, wie ein Individuum seine Aufmerksamkeit nicht auf sie richtet. Das heißt dann auch: Durch eine entsprechende Lenkung der Aufmerksamkeit können sie jederzeit bewusst gemacht werden. Anders das dynamische Unbewusste: Es kann einem Individuum durch keine noch so große Anstrengung bewusst werden. Allerdings hinterlässt es Spuren im Bewusstsein, die es ermöglichen, es im Rahmen besonderer Vorkehrungen – wie der psychoanalytischen Situation (Lorenzer 1973) – zu rekonstruieren. Da das dynamische Unbewusste solche Wirkungen zeigt, ohne dass sich das Individuum bewusst wäre, wie sie zustande kommen, enttäuscht seine Existenz die rationalistische Vorstellung, der Mensch sei Herr seiner selbst. Ist er es nicht, kränkt ihn dies zutiefst, bleibt er doch unausweichlich heteronom. Da das dynamische Unbewusste in allen Versuchen, es aufzuklären, selbst wirksam wird, gibt es letztlich kein Entrinnen aus immer neuen Selbsttäuschungen. Autonomie im buchstäblichen Sinne (auto-nomos) ist eine Illusion. So verfügt auch kein/e qualitative Forscher/in über den Mastermind. Stets ist er/sie mit seinem/ihren eigenen Bewusstsein und unbewussten Sein in die bewussten und unbewussten Verständigungsangebote eingebunden, die von den Beforschten ausgehen. Unter den Funktionen des dynamischen Unbewussten ist für Sozialwissenschaftler/ innen am interessantesten, dass es dafür sorgt, sanktionsbewehrte Abweichungen von geltenden gesellschaftlichen Werten und Normen dem Bewusstsein zu entziehen, um drohenden Sanktionen zu entgehen. Streng genommen erzeugt diese gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit (Erdheim 1982) einen raffinierten Kompromiss: Wenn auch bis zur Unkenntlichkeit entstellt, bleiben die Abweichungen doch erhalten. Das Individuum maskiert seine Unangepasstheit, weil es sich nicht zutraut, für seine Abweichungen offen einzutreten, so als wolle es warten, bis die Umstände günstig sind oder es stark und mutig genug ist, eine Konfrontation zu wagen. Welche Gefühle, Gedanken und Handlungsbereitschaften unbewusst gemacht werden, ist kontingent: Es gibt universelle Erlebnisinhalte, die der Produktion von Unbewusstheit anheimfallen, aber auch gruppenspezifische und individuelle. Ein Erlebnisinhalt, der für ein Individuum unbewusst ist, muss es für ein anderes nicht sein. So besteht eine Gemeinschaft nicht nur als Resultat bewusster Entscheidungen, sie entsteht auch dadurch, dass Individuen gehalten sind, die gleichen Erlebnisinhalte dem Bewusstsein zu entziehen. Diese Produktion von Unbewusstheit hat die Psychoanalyse auf den Begriff der Verdrängung gebracht. Gebraucht wird er in zwei Bedeutungsfacetten. Zum einen meint er den allgemeinen Prozess, zum anderen einen spezifischen Abwehrmechanismus unter anderen: Jedes Individuum verfügt über ein mehr oder weniger umfangreiches Register von Handlungen, mit denen es – je nach individuellem Entwicklungsniveau und sozialer Situation – zu verhindern sucht, dass zu Bewusstsein kommt, was unbewusst bleiben soll (Ehlers 2014). Die Funktion dieser Handlungen nennt die Psychoanalyse „Abwehr“. Und sie spricht von „Mechanismen“ (und nicht von Handlungen), um deren automatisches Funktionieren herauszustellen.

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Der Begriff des „Widerstandes“ (Ermann 2014) komplettiert das Modell: Von den unbewusst gemachten devianten Erlebnisinhalten wird angenommen, dass sie mehr oder weniger nachdrücklich darauf drängen, zu Bewusstsein zu gelangen, was der Einsatz von Abwehrmechanismen zu unterbinden sucht, indem er diesem Drängen widersteht, wobei der Widerstand in dem Maße wächst, wie die Gefahr zunimmt, dass deviante Gefühle, Gedanken und Handlungsbereitschaften offensichtlich werden und das Individuum sich zu ihnen bekennen und für sie Verantwortung übernehmen müsste. Inzwischen sind in der Psychoanalyse zahlreiche Abwehrmechanismen bestimmt und deren Funktionsbedingungen untersucht worden. Mechanismen wie die Projektion haben Eingang in das Alltagswissen gefunden, auch wenn sie dort meist unzureichend verstanden werden. So kann von einer Projektion definitionsgemäß nur dann die Rede sein, wenn sich nachweisen lässt, dass ein Individuum die Erlebnisinhalte, die es sich selbst aus Schuldgefühlen oder Schamgefühlen verbietet, als Erlebnisinhalte eines anderen Individuums wahrgenommen wird. Obgleich nahe liegend, steht – von Ansätzen abgesehen (Schafer 1999) – eine Verbindung von sozialwissenschaftlicher Handlungstheorie und psychoanalytischer Abwehrtheorie bis heute aus. So fehlt es an genauen trennscharfen Beschreibungen der Vielzahl von heute bekannten Mechanismen, die es aber braucht, um sie nicht nur zu behaupten, sondern (im interpretierten Text oder Bild) nachzuweisen (Morgenroth 1990, S. 59–72).

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Psychoanalyse als Massenpsychologie und als Theorie der Gruppendynamik

Es gibt die Auffassung, dass Freuds Massenpsychologie und psychoanalytische Gruppentheorien mit einer psychoanalytischen Sozialpsychologie identisch seien. Diese Auffassung vertreten wir nicht. Autor/innen wie Erich Fromm, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse, aber auch Alexander Mitscherlich, Helmut Dahmer, Klaus Horn oder Peter Brückner, um nur einige zu nennen, haben gezeigt, dass erst die Verbindung psychoanalytischer Perspektiven mit gesellschaftswissenschaftlichen Zugängen es rechtfertigen, von einer psychoanalytischen Sozialpsychologie zu sprechen. Es mag daher verwundern, in einem psychoanalytischen Beitrag zur qualitativen Forschung über Gruppenpsychologie und mehr noch: Massenpsychologie informiert zu werden. Nun gibt es aber bemerkenswerte Anschlussstellen für qualitative Forschung, die im Folgenden skizziert werden sollen. Die psychoanalytische Massen- bzw. Großgruppenpsychologie beschreibt eine Dynamik, die zwar auch in Kleingruppen zu beobachten ist, aber mit zunehmender Gruppengröße verstärkt auftritt. In einer Masse, so Freud (1921), geraten einzelne Mitglieder in den regressiven Sog einer Führungsfigur oder die von ihr repräsentierte Idee oder Ideologie, die meist verspricht, alle bisher geltenden gesellschaftlichen Tabus könnten straffrei übertreten werden, was Unlust in Lust verwandelt (Chasseguet-Smirgel 1981, S. 80–95).

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Freud betont, dass es sich bei Führungsfiguren in der Regel um idealisierte Personen handelt. Idealisierung ist ein psychischer Vorgang, bei dem das individuelle Über-Ich/Ich-Ideal eines Gruppenmitgliedes als innere Instanz durch eine äußere Instanz ersetzt wird. Aufgrund dieser Ersetzung orientieren sich die Einzelnen in ihrem Fühlen, Denken und Handeln exklusiv an dem Führer und seinen Vorstellungen und nicht mehr an ihrem eigenen Ethos. So entsteht eine imaginierte Gemeinschaft, in der die Gruppenmitglieder untereinander geschwisterlich vereint sind, zumindest so lange, wie sie untereinander erkennen und anerkennen, dass alle demselben Idol huldigen. Wer dies nicht tut, wird verfolgt und letztlich ausgeschlossen. Anderssein ist nicht erlaubt. In einer Masse – einer Gruppe, die als Masse operiert – wird eine Harmonie zur Schau gestellt, die darüber hinwegtäuscht, dass die Aggression jederzeit ihre Richtung ändern kann. Intragruppen-Aggression wird durch agierte Intergruppen-Aggression besänftigt, ohne je ganz zu verschwinden. Dass dieses Phänomen für die qualitative Forschung relevant ist, hat bereits ein Klassiker der empirischen Sozialforschung gezeigt: Gemeint ist das unter der Federführung von Adorno und Horkheimer Anfang der 1950er-Jahre am Frankfurter Institut für Sozialforschung durchgeführte Gruppenexperiment, in dem Gruppendiskussionen erhoben wurden, um die Kontinuität und den Wandel politischer Mentalitäten im nachnationalsozialistischen Deutschland zu erforschen (Pollock 1955, S. 43; s. auch Lohl 2016). Falsch verstanden wäre es allerdings, wollte man annehmen, dass die Führungsfigur ihr Gefolge zwingen würde, ihr zu folgen. Im Gegenteil: Führungsfiguren werden Personen, denen es gelingt, den Eindruck zu erwecken, sie würden denen, die ihnen folgen, ihre geheimsten Wünsche erfüllen, insbesondere Wünsche nach eigener Großartigkeit, die alle erlittenen narzisstischen Kränkungen vergessen machen. Können Mitläufer/innen alleine nicht großartig sein, so doch als Mitglied einer großen Gruppe, die großartig ist – eine großartige Führungsfigur hat. Freud (1921, S. 159) spricht in diesem Zusammenhang von „Schiefheilungen“ – „Schiefheilungen binden Ängste, kanalisieren Aggressionen und versprechen eine illusionäre Teilhabe an Macht“ (Brunner et al. 2012, S. 35; Busch et al. 2016). Die psychoanalytische Massenpsychologie ist aufgrund des Fokus, den sie auf das Verhältnis von kollektiver Integration und Ausgrenzung, auf die Figur des Massenführers und auf die Gleichschaltung von Menschen richtet, in theoretischen und empirischen Arbeiten immer wieder herangezogen worden, um die psychosoziale Struktur der nationalsozialistischen Gesellschaft und die Wirkung faschistischer Propaganda und Agitation zu verstehen (Adorno 1951, 1973 [1950]; Löwenthal 1982 [1942]; Lohl 2017a, b; Mitscherlich und Mitscherlich1967; Pohl 2012). Eine Strukturierungshilfe für das Verstehen von gruppendynamischen Prozessen, die über Freud hinausgeht, hat der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion (1971 [1961]) vorgelegt. Bion spricht von Arbeitsgruppen, die in der Lage sind, ihre Primäraufgabe zu erfüllen. Hierzu müssen Gruppen und ihre Mitglieder Emotionen regulieren und Frustrationen tolerieren, die dieser Aufgabe widerstreben. Von diesen Arbeitsgruppen unterscheidet Bion solche Gruppen, in denen dies deshalb nicht gelingt, weil der Gruppenprozess (und damit die Arbeitsfähigkeit) von unbewussten

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Grundeinstellungen dominiert wird, die einer Konzentration auf die Primäraufgabe entgegen wirken (Bion 1971 [1961]; Kinzel 2002, S. 295–303). Bion nennt drei Grundannahmen: Bei der Grundeinstellung „Abhängigkeit“ ist der Gruppenprozess durch die unbewusste Annahme bestimmt, vom Gruppenleiter bzw. von der Gruppenleiterin (oder einem Substitut) abhängig zu sein. Funktioniert eine Gruppe nach dieser Grundannahme, dann verhalten sich die Gruppenteilnehmer/innen passiv, während der Leiter bzw. die Leiterin zu einer mächtigen Figur aufgebaut und idealisiert wird, der/die die Gruppe (z. B. mit Lesarten eines Textes) „versorgen“ soll. In der Grundeinstellung „Kampf/Flucht“ schließt sich die Gruppe gegen eine reale oder imaginierte Gefahr zusammen, die bekämpft oder vor der geflohen wird – diese Gefahr kann durchaus ein Gruppenmitglied oder eine Führungsfigur sein. Wird die Gruppendynamik schließlich durch die Grundannahme der „Paarbildung“ geleitet, dann finden sich zwei Gruppenmitglieder als aktives Paar zusammen, während der Rest der Gruppe sich zurückzieht. Gespeist ist diese Grundannahme aus der unbewussten Hoffnung, dass das Paar die Gruppe „rettet“ oder sogar „erlöst“. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Bions für die Gruppenanalyse grundlegendes Werk weitere Grundannahmen hinzugefügt wurden: die Grundannahme der totalen Gruppeneinheit (Turquet 1977) und die der Selbstbezogenheit (Lawrence et al. 1996). Christine Morgenroth (1990) hat in empirischen Analysen von Gruppendiskussionen gezeigt, dass Diskussionsgruppen (und wohl auch Interpretationsgruppen) nach diesen unbewussten Grundeinstellungen funktionieren. Ein an Bions Modell orientierte Reflexion von Gruppenprozessen stellt ein (grobes) Hilfsmittel für das psychoanalytische Verstehen von Gruppendiskussionsprotokollen dar. Während man die mit Freud und Bion skizzierte Gruppendynamik in Religion und Politik erwartet, wird Wissenschaft gerne als Hort der Rationalität stilisiert, was so tut, als sei sie von Irrationalitäten frei. Aber da ist eine Verleugnung am Werk, was sich auch an der Geschichte der Gefechte, die über Jahrzehnte zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung ausgetragen worden sind, zeigen lässt. Es ist eine Geschichte, die von Ein- und Ausschlüssen, von „Etablierten und Außenseitern“ (Elias und Scotson 1983) erzählt. Erfahrungsgemäß hat auch jede Interpretationsgruppe mit diesem Interaktionsmuster zu tun. Obgleich Interpretationsgruppen den Anspruch eines Rederechts für alle erheben, kommt es immer wieder zu einer Hierarchisierung, die bestimmte Interpret/innen (informell) begünstigt, allen voran die jeweilige Führungsfigur, die Deutungshoheit beansprucht und zuerkannt erhält, je nach Charisma. Im Laufe der Zeit, in der Interpretationsgruppen zusammen arbeiten, formieren sie sich zu einer Interpretationskultur, die sich mehr oder weniger von der Kultur anderer Gruppen unterscheidet. Der Wissenschaftstheoretiker Ludwig Fleck (1980 [1935]; s. Liebsch et al. 2014) spricht zu Recht von dem „Denkstil“ eines „Denkkollektivs“, das mit ihrem Stil Grenzen zieht, die so geschlossen sein können, dass man sich wechselseitig nicht mehr versteht. Wem keine Anpassung gelingt und mehr noch, wer sie verweigert, dem droht der Ausschluss.

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Ethnopsychoanalyse

Auch wenn es viele geteilte Annahmen gibt, so sind Ethnoanalyse und Ethnopsychoanalyse doch verschieden. Die mit den Namen Paul Parin, Goldy Parin-Matthey, Fritz Morgenthaler, Maya Nadig, Mario Erdheim aber auch George Devereux verbundene Ethnopsychoanalyse (Übersicht: Reichmayr 2003) setzt an der Behauptung von Freud an, dass die Konstitution der psychischen Struktur von der Bewältigung universaler Konstellationen abhänge. So ist bis heute die Universalität des Ödipuskomplexes ein strittiges Thema. Was an ihm darf als universal gelten, was gehört einer bestimmten Kultur an? Ist er das psychische Zentrum der bürgerlichen Kleinfamilie, falls ja, wäre es fatal, ihn zu einer Entwicklungsnorm zu erheben. Fände man ihn in fremden Kulturen nicht, würden diese als defizitär erscheinen! So gesehen, übernimmt die Ethnopsychoanalyse die Aufgabe, die Psychoanalyse auf ihre historisch-kulturell-gesellschaftlichen Voraussetzungen hin zu befragen. Empirisch unternimmt sie dies durch Feldforschungen in traditionellen Gesellschaften (exemplarisch: Nadig 1986; Parin et al. 1984). Zu den für qualitative Sozialforschung einflussreichsten Büchern gehört „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ von George Devereux (1984 [1967]; s. auch Bonz et al. 2017b; Mruck und Mey 1996). Der Titel ist Programm: Devereux beschreibt und kritisiert die szientistische Sozialforschung als eine Methodologie, deren vorrangiges Ziel es ist, die beobachteten Phänomene unter Kontrolle zu bringen. Als Ethnologe hat Devereux dabei Situationen im Blick, in denen Forschende auf Repräsentant/innen einer fremden Kultur treffen, die sie verunsichert, ja ihnen Angst macht, weil sie nicht verstehen, was geschieht. Um diese Angst im Zaum zu halten, bietet die szientistische Sozialforschung eine Vielzahl von Vorschriften auf, die es penibel einzuhalten gilt. Die Kontrolle, die dadurch gewonnen wird, hat aber ihren Preis. Sie hindert, so Devereux, die Forschenden daran, neue Erfahrungen zu machen. Was als (szientistische) Wissenschaftstheorie imponiert, ist der latenten Funktion nach Angstabwehr. Devereux zieht daraus den Schluss, dass die Ängste, die Forschende im Forschungsprozess erleben, eine eigene Datenquelle sind, deren Nutzung eine wechselseitige Aufklärung verspricht: Die Kultur der Forschenden bricht sich an der Kultur der Beforschten und umgekehrt. Wenn das zutrifft, gewinnt man Erkenntnisse nur, indem man Ängste nicht abwehrt, sondern diese reflexiv in den Forschungsprozess einbezieht. Da diese Konfrontation mit dem Risiko behaftet ist, von Angst überflutet zu werden, bedarf es einer Methodologie, die Kontrollen lockert, ohne sie ganz aufzugeben. Das Vorbild einer solchen Methodologie findet Devereux in der psychoanalytischen Situation, in der die Psychoanalytiker/innen die Entstehung von Übertragungen und Gegenübertragungen begünstigen, um sie dann für ein vertieftes Verstehen zu nutzen. Löst man das methodologische Paradigma wechselseitiger Übertragungsprozesse aus seinem klinischen Setting, so trifft man in sozialwissenschaftlichem Gebrauch auf das allgemeine Problem des Selbst- und Fremdverstehens. Alle Interpreten, seien es Interviewer/innen, Interviewte oder Auswertende bzw. Interpret/

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innen, gehen zwangsläufig aufgrund ihrer lebensweltlichen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen an einen Interpretationsgegenstand heran. Sie bringen diese Erfahrungen als (stereotype) Vorannahmen ein, will heißen, sie legen ihre Interpretationen so an, dass diese ihre Vorannahmen ungeprüft bestätigen. Und das vor allem dann, wenn eine davon abweichende Sicht der Welt alte Traumata und Konflikt reaktivieren würde. Die Kosten eines solchen Wiederholungszwanges sind hoch; sie verhindern neue Erfahrungen, weshalb auch andere Interpret/innen und ihre Interpretationen nur soweit wahrgenommen werden (können), wie sie ihre Selbstwahrnehmung nicht in Frage stellen. Realitätsprüfung setzt indessen die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, mit Hilfe multiperspektivischer intersubjektiver Differenzen die Immunisierung eigener Vorannahmen zu korrigieren. Für Devereux ist die Analyse der Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik das methodologische Kernstück eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses (zur Forschungspraxis: Arantes 2017; Ghaffarizad 2017; Müller 2017; Sieferle 2017). Dabei geht es ihm insbesondere um die zahlreichen Varianten, wie Menschen einander verkennen, sei es, weil Angst regiert, sei es, weil Idealisierungen bewahrt werden müssen. Wenn Devereux seine Methodologie als Ethnopsychoanalyse bezeichnet, dann ist damit als Ziel die wechselseitige Aufklärung dessen gemein, was Devereux (1982) das „ethnischen Unbewussten“ nennt. Dieses bringen Forscher/innen und Beforschte einerseits mit, es entsteht jedoch auch und vor allem im interkulturellen Kontakt (Erdheim 1982). Devereux erkennt an, dass die Forschungssituation nicht eins zu eins als psychoanalytische Situation gestaltet werden kann, weshalb es auch heute noch weiterer Überlegungen zur forschungspraktischen Bedeutung und ihrer Umsetzung bedarf. Bemühungen, eine an Devereux orientierte ethnologische Forschung unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu betreiben, gibt es seit Ende der 1970er-Jahre (Becker et al. 2017; Jeggle 1983; Lindner 1981; Matter 1978; Sauermann 1982). Systematisiert und aktualisiert wurde Devereuxs Ansatz durch das von Bonz et al. (2017b, S. 5) entwickelte Konzept der Feldforschungssupervision. Zudem liegen einige jüngere Arbeiten aus der qualitativen Forschung vor, die sich als reflexive Grounded Theory methodologisch dezidiert auf Devereux berufen (Breuer et al. 2011, 2017; Mruck und Mey 2007, 2018). Unter den Bezeichnungen Ethnoanalyse und Ethnohermeneutik sind inzwischen Forschungstraditionen entstanden, die zwar eigene Wege gehen, ohne aber den common ground zu verlassen.

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Ethnoanalyse

Die Methodenlabels Ethnohermeneutik und Ethnoanalyse schließen an die Ethnopsychoanalyse an und gehen beide auf Hans Bosse (1994) zurück. Er hat sie zum Teil in Auseinandersetzung mit der Tiefenhermeneutik von Alfred Lorenzer (1973, 1986) und der objektiven Hermeneutik sensu Ullrich Oevermann (Oevermann et al. 1979) entwickelt. Bosse zufolge treffen in der Forschungsbeziehung Menschen aufeinander, die einander mehr oder weniger fremd sind, wobei sich verschiedene Fremdheitsdimen-

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sionen unterscheiden lassen. Ethnische Herkunft ist nur eine davon, die aber andere – Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale Schicht, Religion etc. – grundiert. Operiert Verstehen gemäß der klassischen hermeneutischen Annahme, dass sich Menschen hinreichend ähnlich sein müssen, um einander zu verstehen, so interessiert sich die Ethnoanalyse für den paradigmatischen Fall, dass diese Ähnlichkeit nicht vorausgesetzt werden kann. Bosse (1994) hat seine Methodologie anhand einer jahrelangen Begleitung der Bildungswege von Jugendlichen in Papua-Neuguinea entwickelt, ohne dass es dabei um „Dritte Welt“-Forschung ginge: Mögen fremde Kulturen auch der Inbegriff des Fremden sein, Fremdheit ist eine basale Kategorie aller sozialen Beziehungen. Während sie zumeist stört, erhebt Bosse das irritierende wechselseitige Miss- und Nicht-Verstehen aufgrund mangelnder Ähnlichkeit zum Ausgangspunkt seiner Rekonstruktionen. Dabei gilt es anzuerkennen, dass wissenschaftliche Forschung über Alltagsbegegnungen hinausgeht. Gerade am Beispiel von Bosses Forschung in PapuaNeuguinea wird deutlich, dass Wissenschaft als ein institutionalisiertes westliches Unternehmen manifest und mehr noch latent imperialistische Züge trägt: Forschungsbeziehungen sind immer auch Beziehungen, in denen die Beteiligten um Deutungshoheit ringen und Machtpositionen zu besetzen suchen. Wie sie dies tun, ist neben Ängsten und Idealisierungen eine Datenquelle, der die Ethnoanalyse große Relevanz beimisst. Vor allem Widerstände sind von Interesse – von der Weigerung, sich auf ein konkretes Forschungssetting einzulassen, bis hin zu Verständigungsschwierigkeiten, die nicht aus Sprachproblemen resultieren, sondern aus einem Schutz vor befürchteter Unterwerfung. Bevorzugte Forschungssituationen sind Zusammenkünfte „natürlicher“ Gruppen, an denen die Forschenden als beobachtende Teilnehmende bzw. teilnehmende Beobachtende auf Zeit teilnehmen. Damit repräsentieren sie das Fremde, mit dem sich die Gruppenteilnehmer/innen in einem Spannungsfeld von Exklusion und Inklusion auseinandersetzen müssen. Gegebenenfalls können es auch Gruppen sein, die aus Forschungszwecken mehr oder weniger homogen zusammengestellt werden. Stets verhalten sich die Forschenden nach dem Vorbild von Gruppenanalytiker/innen: Sie nehmen eine non-direktive Haltung ein, die weitgehend auf interpretierende Interventionen verzichtet und sich stattdessen als Projektionsfigur zur Verfügung stellt. Wenn überhaupt, dann benennen sie ihre Verständnisschwierigkeiten und fokussieren dadurch auf wechselseitiges Befremden. Für ethnologische Forschung sensu Bosse kommt hinzu, dass die beforschten Gruppen aus solchen Kulturen stammen, die kollektivistisch organisiert sind, während die Forschenden als exponierte Individuen in Erscheinung treten. Wie die beforschte Gruppe mit ihnen umgeht, lässt sich deshalb für eine Statusbestimmung von (westlicher) Individualisierung nutzen. Die Gruppengespräche werden transkribiert und durch Affektprotokolle sowie Einträge in ein Forschungstagebuch angereichert. Affektprotokolle sind Selbstund Fremdwahrnehmungen der Forschenden, die nicht verbalisiert, aber leibhaftig spürbar sind.

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Die Auswertung einer derart dokumentierten Gruppendynamik erfolgt bevorzugt selbst wiederum in einer Interpretationsgruppe, sodass die Möglichkeit besteht, dass sich Prozesse, die in der untersuchten Gruppe latent geblieben sind, in Prozessen der untersuchenden Gruppe spiegeln und dadurch, wenn auch nicht zwangsläufig, bewusster werden. Bosse (1994, S. 80–85) unterscheidet vier Zugänge, die erst getrennt und dann kombiniert verfolgt werden sollen: Im ethnografischen Verstehen tragen die Forschenden alles zusammen, was sie über die fremde Kultur in Erfahrung bringen können. Soziologisches Verstehen fokussiert auf den institutionellen Rahmen, in dem das Forschungsprojekt stattfindet, sowie auf die Rollenverteilung, die daraus resultiert, einschließlich einer selbstkritischen Reflexion des Erkenntnisinteresses, das das Projekt verfolgt. Im psychoanalytischen Verstehen geht es vor allem um die Rekonstruktion von bewusstseinsfernen (emotionalen) Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen, wobei es auf die (normativen) Kulturstandards ankommt, die im Projekt mehr oder weniger konflikthaft aufeinandertreffen. Beim gruppenanalytischen Verstehen fokussieren die Forschenden schließlich auf die gruppendynamischen Prozesse, die durch die Forschung bei den Beforschten wie den Forschenden in Gang gesetzt werden und der Abwehr und dem Widerstand, aber auch der Öffnung eines progressiven Möglichkeitsraumes dienen. In der Ethnoanalyse verstehen sich die Forschenden selbst als Träger/innen kultureller Selbstverständlichkeiten und damit einhergehender Stereotype und Vorurteile, die ihnen nicht bewusst sind. Insofern dient Forschung immer auch der Selbstaufklärung der Forschenden, die ihre Interessen problematisieren. So gesehen liegt es auf der Hand, wenn die Ethnoanalyse für eine partizipative Forschung eintritt, die ihre Forschungsergebnisse für die Gestaltung einer Politik gegen Ethnozentrismus und Rassismus nutzt. Das Anregungspotenzial der methodologischen Konzeption von Bosse ist nicht ausgeschöpft. Es gibt eine Reihe von Wissenschaftler/innen, die sie weiter entwickeln (z. B. Bonz et al. 2017a; Bosse und King 1998; Kerschgens 2007; Schwarz 2008, 2014).

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Psychoanalyse als Weltanschauung und kritische Theorie

Von „Weltanschauung“ (Freud 1933, S. 170) zu sprechen, ist strittig und zwar dann, wenn das Label verwendet wird, um der Psychoanalyse ihre Wissenschaftlichkeit abzusprechen. In der Vergangenheit geschah dies des Öfteren. Inzwischen haben die wissenschaftstheoretischen Gefechte allerdings an Schärfe verloren, weil sich auch in anderen Disziplinen eine pragmatische und damit realitätsnähere Betrachtung der Wissensproduktion gegenüber Wahrheitsansprüchen, die nicht zu erfüllen sind, durchgesetzt hat. Sieht man von der skizzierten Gefechtssituation ab, macht es aber durchaus Sinn, von einer „Weltanschauung“ zu sprechen. Denn die Psychoanalyse richtet einen spezifischen Blick auf die Welt, der sich von anderen Blicken unterscheidet. Solche Unterschiede sind nur bedingt empirisch zu klären, eher haben sie einen axiomati-

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schen Status. So ist die Psychoanalyse, zumindest die von Freud, wiederholt als Manifestation eines „tragischen Menschenbildes“ beschrieben worden: Als solche bekennt sie sich zu bestimmten Werten und Normen, zu deren gesellschaftliche Durchsetzung sie sich verpflichtet. Szientistisch betrachtet, erscheint dies als unzulässig, da nicht wertneutral. Freilich verkennt die Forderung nach Wertneutralität, dass es eine solche gar nicht geben kann. Einzig Wertreflexivität ist möglich und auch geboten, besonders dann, wenn sie den Anspruch erhebt, kritische Theorie zu sein. Kritische Theorie ist die Psychoanalyse, weil sie sich nicht als ein theoriegeleitetes Instrument der Anpassung an den gesellschaftlichen Status quo versteht. Vielmehr bilanziert sie das Leid, das dieser den Menschen abverlangt. Damit ist keine Theorie und Praxis gemeint, die politisch Partei ergreift, sondern eine, die sich für die schonungslose Anerkennung des Realitätsprinzips einsetzt, was verlangt, keine Kritik ohne Selbstkritik zu betreiben. Psychoanalytisch inspirierte qualitative Sozialforschung stellt sich in den Dienst einer Verminderung von gesellschaftlich produzierter Unbewusstheit durch eine Erweiterung von Spielräumen des Fühlens, Denkens und Handelns – einzeln und gemeinsam mit anderen. Dabei weigert sie sich, aus individuellen Traumata und Konflikten eine Privatsache zu machen. Als Sozialforschung geht sie über die tradierte klinische Forschung hinaus. Mehr noch: Sie wendet sich gegen eine Medizinalisierung, da diese (ideologisch) suggeriert, psychisch kranken und beeinträchtigten Menschen sei zu helfen, ohne die sozialen Verhältnisse zu bedenken, in denen sie leben. Insofern ist Psychoanalyse immer auch Gesellschaftsanalyse.

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Man wird kaum bestreiten können, dass die Psychoanalyse als methodologische Referenztheorie heute eher marginal ist, was auch für ihren Status innerhalb der Gesellschaftswissenschaften gilt. Zu Unrecht, wie wir meinen (Haubl und Schülein 2016). Der Beitrag der Psychoanalyse für die qualitative Forschung besteht darin, dass die Psychoanalyse in ihrer Pluralität unterschiedliche Theorien und Konzeptionen über innerpsychische und intersubjektive Prozesse und Gruppendynamiken v. a. in ihrer unbewussten, affektiven und konflikthaften Dimension bereithält. Dazu gehören auch Theorien der Sprache, des Sprechens und des Interagierens, die für eine qualitative Forschung bedeutsam sind (Buchholz 1993; Lorenzer 1973, 1986). Zudem sind qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren (Hollway und Volmerg 2010; König 2000: Leithäuser und Volmerg 1979, 1988; Morgenroth 1990; Schorn 2000; Tietel 2000) entwickelt und in vielen unterschiedlichen Feldern angewandt worden: in der Politischen Psychologie ebenso (z. B. König 2008) wie in der Arbeits- und Organisationsforschung (z. B. Morgenroth 1990), in der Generationen- und Gedächtnisforschung (z. B. Rothe 2009) wie in der Psychotherapieforschung (z. B. Morgenroth 2010a) – um nur einige wenige zu nennen. Diese Verfahren tragen dem von Devereux betonten Kern der psychoanalatischen Erkennt-

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nisbewegung Rechnung: Die Psychoanalyse lässt die „Trennung zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt unscharf werden“ und nutzt daher die Subjektivität der Forschenden als Erkenntnisinstrument (Gast 2011, S. 331). Ein gravierendes Rezeptionshindernis besteht weniger in der Komplexität des psychoanalytischen Theoriegebäudes, sondern v. a. in dieser Unschärfe sowie der damit verbundenen langwierigen Einarbeitung in eine Forschungspraxis, die am Subjekt ansetzt, ohne einem verführerischen Subjektivismus zu erliegen. Erfahrungsgemäß dauert es einige Zeit, bis ein kompetenter Theorie- und Methodengebrauch gelingt. Psychoanalytische Kompetenzen können nicht nebenbei erworben werden. Die üblichen sozialwissenschaftlichen Universitätsveranstaltungen in qualitativer Sozialforschung stellen diese Zeit in der Regel auch nicht zur Verfügung. Streng genommen bedarf es eines eigenen Curriculums. Es zu entwickeln und zu institutionalisieren, ist eine Voraussetzung dafür, dass das unter Studierenden bestehende (große) Interesse bedient und neues Interesse geweckt wird. Alle psychoanalytisch inspirierten hermeneutischen Methoden treffen auf das Diktum, eine Kunstlehre zu sein. Kunstlehren setzen ein kunstfertiges Erkenntnissubjekt voraus: Was erkannt wird, hängt nicht zuletzt von seiner psychischen Struktur ab, z. B. davon, wie sensibel es für subtile Anzeichen unbewusster Prozesse ist. Eine solche Sensibilität will geschult sein. Dazu braucht es zwar keine lange psychoanalytische Selbsterfahrung, aber ohne Selbsterkenntnis bleibt alle Erkenntnis an der Oberfläche. Wie psychoanalytische Theorie und Methodik von Sozialwissenschaftler/innen gelehrt und gelernt werden kann, bleibt eine offene Frage. Innovationen tun Not! (Gerspach et al. 2016).

Literatur Adorno, T. W. (1951). Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda. In T. W. Adorno (1971), Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft (S. 34–66). Frankfurt: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1973). Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [Orig. 1950]. Allert, T., Dausien, B., Mey, G., Reichertz, J., & Riemann, G. (2014). Forschungswerkstätten – Programme, Potenziale, Probleme, Perspektiven. Eine Diskussion. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Qualitative Forschung: Analysen und Diskussionen (S. 291–316). Wiesbaden: Springer VS. Arantes, L. M. (2017). Von der Verstrickung der Forscherin zur Verstrickung der Be/Deutung. In J. Bonz, K. Eisch-Angus, M. Hamm & A. Sülzle (Hrsg.), Ethnografie und Deutung. Gruppensupervision als Methode reflexiven Forschens (S. 241–258). Wiesbaden: Springer VS. Becker, B., Eisch-Angus, K., Hamm, M., Karl, U., Kestler, J., Kestler-Joosten, S., Richter, U. A., Schneider, S., Sülzle, A., & Wittel-Fischer, B. (2017). Die reflexive Couch. Feldforschungssupervision in der Ethnografie. In J. Bonz, K. Eisch-Angus, M. Hamm & A. Sülzle (Hrsg.), Ethnografie und Deutung. Gruppensupervision als Methode reflexiven Forschens (S. 59–84). Wiesbaden: Springer VS. Bion, W. R. (1971 [1961]). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett. Bonz, J., Eisch-Angus, K., Hamm, M., & Sülzle, A. (Hrsg.). (2017a). Ethnografie und Deutung. Gruppensupervision als Methode reflexiven Forschens. Wiesbaden: Springer VS. Bonz, J., Eisch-Angus, K., Hamm, M., & Sülzle, A. (2017b). Ethnografische Gruppensupervision als Methode reflexiven Forschens. Eine Einleitung. In J. Bonz, K. Eisch-Angus, M. Hamm &

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Kulturhistorische Psychologie Carlos Kölbl

Inhalt 1 Gesellschafts- und wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Psychologie des gesellschaftlichen Menschen: Theoretisch-programmatische und methodologisch-methodische Konstituenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Empirische Realisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Aktueller Stellenwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die kulturhistorische Psychologie weist eine große thematische, aber auch methodologisch-methodische Bandbreite auf. Im vorliegenden Beitrag findet eine Beschränkung auf nur wenige ausgewählte grundlegende theoretische und empirisch fundierte Einsichten der kulturhistorischen Psychologie statt. Besonderes Augenmerk erfahren solche grundlagentheoretischen bzw. methodologischen Überlegungen, die eine besondere Nähe zur qualitativen Sozialforschung aufweisen. Insbesondere sind dies Ausführungen zur analytischen Methode sowie zu Grundzügen einer psychologischen Hermeneutik. Empirische Konkretisierungen werden am Beispiel der kulturhistorischen Expeditionen Lurijas sowie seiner Fallgeschichten im Rahmen einer romantischen Wissenschaft vorgestellt. Das Anliegen des Beitrags richtet sich im Wesentlichen auf zweierlei: Zum einen sollen (in hochselektiver und exemplarischer Weise) Konstituenten der klassischen kulturhistorischen Psychologie expliziert werden, wie sie in unterschiedlichem Ausmaß von Lev S. Vygotskij, Aleksandr R. Lurija und Aleksej N. Leont’ev erarbeitet wurde. Zum anderen sollen aktuelle Bezüge in anderen C. Kölbl (*) Lehrstuhl für Psychologie, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_11

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psychologischen Strömungen sowie in unterschiedlichen psychologischen Teildisziplinen deutlich gemacht werden. In beiden Fällen findet aber stets eine Engführung auf Belange der qualitativen Sozialforschung statt, so dass der vorliegende Beitrag keine Einführung in die kulturhistorische Psychologie „an sich“ darstellt. Schlüsselwörter

Kulturhistorische Psychologie · Kulturpsychologie · Kulturvergleichende Psychologie · Materialistische Psychologie · Psychologie des gesellschaftlichen Menschen · Romantische Wissenschaft · Vygotskij, Lurija, Leont’ev

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Gesellschafts- und wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe

Die kulturhistorische Psychologie gehört zu einer der wichtigen Strömungen der modernen Psychologie, besondere Aufmerksamkeit hat hierbei das Werk Lev Vygotskijs erfahren (zusammenfassend Kölbl 2015a; Einführungen in monografischer Form bieten etwa Keiler 2002; Kölbl 2006; Papadopoulos 2010; Van der Veer 2014; Yasnitzky 2018; für einschlägige Handbücher s. Daniels et al. 2007; Yasnitzky et al. 2014). Ihre Arbeiten umfassen bedeutende Beiträge zu einer ganzen Reihe psychologischer Schlüsselfragen. Im Zentrum steht das Bemühen um eine breit angelegte Psychologie des gesellschaftlichen Menschen. Die kulturhistorische Psychologie ist auf das Engste mit drei Wissenschaftlern verknüpft, die bald als Troika bekannt wurden: Lev S. Vygotskij (1896–1934), Aleksandr R. Lurija (1902–1977) und Aleksej N. Leont’ev (1903–1979).1 Der Beginn ihrer Kooperation erfolgte in einer Zeit dramatischer gesellschaftlicher Umbrüche in der noch jungen Sowjetunion unmittelbar nach der Oktoberrevolution von 1917. Für die Psychologie hatte dies zumindest an der Moskauer Universität zur Folge, dass der damalige Direktor des Instituts für Psychologie, Georgij I. Čelpanov, aufgrund ideologischer Auseinandersetzungen im Jahre 1923 seines Amtes enthoben und von Konstantin N. Kornilov beerbt wurde. Kornilov war an dem Aufbau einer marxistisch fundierten Psychologie interessiert, und er machte sich an eine Umstrukturierung des Instituts, die auch die Einstellung einer Reihe jüngerer Wissenschaftler/innen beinhaltete, nicht zuletzt die der oben genannten Troika. Zu jener Zeit beanspruchten Versuche der Verknüpfung von Psychoanalyse und Marxismus einiges Interesse, wenngleich kritische Stimmen forderten, für die Psy-

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Die Schreibweise dieser Namen trägt mitunter zur Verwirrung bei, was unterschiedlichen Übertragungssystemen aus dem kyrillischen Alphabet geschuldet ist. So findet sich auch folgende Schreibweise: Wygotski, Luria, Leontjew; in englischsprachigen Veröffentlichungen ist zumeist von Vygotsky, Luria, Leontiev die Rede. Ich selbst halte mich an die neuerdings gebräuchlichere Variante (also Vygotskij, Lurija, Leont’ev), übernehme aber bei Zitaten und bibliografischen Angaben selbstverständlich die dort jeweils verwendete Schreibweise.

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chologie ein eigenes „Kapital“ zu erarbeiten (Wygotski 1985 [1927]). Auch wenn alle Zeichen auf die Schaffung einer marxistisch fundierten Psychologie standen, konnten sich zunächst noch eine Reihe anderer psychologischer Strömungen behaupten. Die Reflexologie Bechterevs, die Theorie der höheren Nerventätigkeit Pavlovs, die Reaktologie Kornilovs und die kulturhistorische Psychologie von Vygotskij und Mitstreiter/innen galten als die psychologischen Hauptrichtungen der jungen Sowjetunion, die mehr oder minder friedlich koexistierten. Diese Koexistenz wurde in den Jahren 1929 und 1931 durch eine fundamentale Kritik zunächst an der Reflexologie als bloß vulgärmarxistisch und dann an der Reaktologie als mechanizistisch empfindlich getroffen. Kornilov, der die letztgenannte Strömung vertrat, wurde entlassen, und psychologische Ansätze, die dem Bewusstsein – freilich auf materialistischer Grundlage – einen prominenten Platz in ihrer Theoriebildung einräumten, erfuhren eine zumindest partielle offizielle Anerkennung. Dies traf, wenn auch eher für kurze Zeit, für die kulturhistorische Psychologie zu, deutlich und länger anhaltend jedoch war es der Fall für die Arbeit Sergej L. Rubinštejns (1971 [1935]), die um die Einheit von Bewusstsein und Tätigkeit kreiste. Im Wesentlichen mehrten sich in dieser Zeit Repressionen gegen eine immer weniger plural verfasste Psychologie als Wissenschaft, die sich etwa in der Einstellung wichtiger Fachjournale äußerten. Den traurigen Höhepunkt bildete der 1936 erschienene Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion „Über die pädologischen Entstellungen im System des Volksbildungswesens“. Dieses Dekret sah ein Verbot der „Pädologie“ vor, einer integrativen Wissenschaft vom Kind, der ein unkritisches Verhältnis zu Testmethoden und zu „bürgerlichen“ Autor/innen vorgeworfen wurde. Da an der Pädologie viele Psycholog/innen beteiligt waren, lief das Dekret zugleich auf eine langjährige Stillstellung so gut wie der gesamten damaligen Psychologie in der Sowjetunion hinaus (Métraux 1996, S. 40). Erst im Zuge der „Tauwetterperiode“ nach dem Tod Stalins war ein neuerlicher Aufschwung der Psychologie zu beobachten. So wurde Vygotskijs berühmtes Buch „Denken und Sprechen“ wieder aufgelegt, überhaupt erschien in dichter Folge eine beträchtliche Zahl an wegweisenden Arbeiten: von Pjotr J. Gal’perin (1967) etwa eine programmatische Arbeit über die Herausbildung geistiger Handlungen, von Leont’ev (1971 [1959]) das opus magnum „Probleme der Entwicklung des Psychischen“ oder von Lurija (z. B. 1970 [1962]) einige Monografien zur Neuropsychologie. Ein zentrales Ereignis in der (Wieder-)Öffnung der sowjetischen Psychologie bedeutete der internationale Kongress der Psychologie 1966 in Moskau unter dem Präsidium von Leont’ev. In den Jahren 1982 bis 1984 konnten auch endlich die gesammelten Werke Vygotskijs erscheinen. Die weitere Arbeit an der kulturhistorischen Psychologie gestaltete sich international betrachtet unterschiedlich. In der Sowjetunion forschte eine Reihe an Wissenschaftler/innen zu einschlägigen Fragestellungen weiter, so etwa der Sohn und der Enkel Aleksej N. Leont’evs – Aleksej A. Leont’ev und Dimitrij A. Leont’ev – zu sprachpsychologischen Problemen (z. B. A. A. Leont’ev 1971 [1969]) oder Vladimir V. Davydov zu Lehr-Lern-Experimenten (Davydov 1988). Die letztge-

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nannte Tradition wurde in der DDR von Joachim Lompscher (Dawydow et al. 1982) aufgegriffen. In den USA gehen u. a. auf Michael Cole (Cole und Distributed Literacy Consortium 2006), in Dänemark etwa auf Marianne Hedegaard (Hedegaard und Fleer 2013) und in Finnland auf Yrjö Engeström (2011) Weiterentwicklungen zurück. In der angloamerikanischen Diskussion sind bspw. noch James V. Wertsch oder Barbara Rogoff zu nennen, die an einer Psychologie des kollektiven Gedächtnisses (Wertsch 2002) bzw. einer von Vygotskij inspirierten Lehr-Lerntheorie arbeiten (Rogoff 1991). In der deutschsprachigen Psychologie sind etwa Rolf Oerters (1999) Psychologie des Spiels, Tilmann Habermas (1999) Psychologie der Objekte oder Anke Weranis (2011) theoretische und empirische Analysen zum inneren Sprechen anzuführen. In den letzten Jahren sind schließlich auch vermehrt akribische philologisch und historisch verfahrende Studien zu verzeichnen, die Mythenbildungen den Boden entziehen und die Textgrundlagen der „klassischen“ kulturhistorischen Psychologie sowie die persönlichen Netzwerke zentraler Wissenschaftler/innen, die an diesem Ansatz beteiligt waren, rekonstruieren möchten. Hierbei werden nicht zuletzt die Rolle und das Werk Aleksej Leont’evs einer kritischen Betrachtung unterzogen (Jovanović 2015; Keiler 1999, 2002; Yasnitzky 2011; Yasnitzky und van der Veer 2015; siehe auch die – teilweise schon älteren – kritisch-editorischen Arbeiten von Métraux, etwa 1992, sowie Rückriem, Lompscher und Kolleg/innen, etwa Lompscher und Rückriem 2002). Ein Teil dieser (hochinteressanten) Arbeiten wird von ihren Autor/innen selbst unter das nicht gerade bescheidene Stichwort einer „revisionistischen Revolution“ innerhalb der „Vygotsky Studies“ subsumiert (Yasnitzky und van der Veer 2015).

2

Psychologie des gesellschaftlichen Menschen: Theoretisch-programmatische und methodologischmethodische Konstituenten

Das einigende Band der vielfältigen Beiträge der kulturhistorischen Psychologie ist die Arbeit an einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen. Als zentrale theoretisch-programmatische und methodologisch-methodische Konstituenten dieses Unternehmens dürfen die Rekonstruktion dreier Entwicklungslinien des Psychischen (Natur-, Gesellschafts- bzw. Kultur- und Individualgeschichte), die analytische Methode im Rahmen einer materialistischen Psychologie sowie Grundzüge einer psychologischen Hermeneutik gelten. Während die analytische Methode für alle drei Entwicklungslinien eine Rolle spielt, sind die Grundzüge einer psychologischen Hermeneutik insbesondere für die Rekonstruktion der Individualgeschichte des Psychischen, also die Ontogenese, von besonderer Bedeutung.

2.1

Drei Entwicklungslinien des Psychischen

Die kulturhistorische Psychologie ist einer historischen Herangehensweise in einem umfassenden Sinne des Wortes verpflichtet und an der Rekonstruktion der Natur-,

Kulturhistorische Psychologie

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der Gesellschafts- bzw. Kultur- und der Individualgeschichte des Psychischen interessiert. Dabei kommt der Differenzierung zwischen „niederen“ und „höheren“ Formen des Psychischen der Status einer grundbegrifflichen Unterscheidung zu. Naturgeschichte des Psychischen: Insbesondere Leont’ev hat zur naturgeschichtlichen Entwicklung des Psychischen theoretische Modellierungen unter Rekurs auf eigene experimentelle Studien sowie die Reanalyse von Resultaten anderer Autor/ innen vorgelegt (Leontjew 1971 [1959]; s. a. Vygotsky und Luria 1992 [1930]). Die Hauptschritte dieser Naturgeschichte sensu Leont’ev lassen sich folgendermaßen wiedergeben: 1. Zur Reizbarkeit eines Organismus müssten dessen Empfindungsfähigkeit und Sensibilität hinzutreten, um ihm eine „Psyche“ zuschreiben zu können. 2. Empfindungsfähigen Organismen sei eine „sensorische Psyche“ eigen. 3. Die Ausbildung einer „perzeptiven Psyche“ erfolge im Zuge des Übergangs vom Wasser zum Land. 4. Das „Stadium des Intellekts“ erreichten manche Organismen im Verlauf des Werkzeuggebrauchs. Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Psychischen: In der Lesart der kulturhistorischen Psychologie stellen der Werkzeuggebrauch und die Zusammenarbeit der Menschen einen wesentlichen „Umschlagpunkt“ für die Entwicklung des Bewusstseins dar. Dabei ist an Werkzeuge im engeren Sinne des Wortes, also als Arbeitsmittel zu denken, sodann aber auch an „psychische Werkzeuge“ wie die Sprache, überhaupt an alle möglichen Formen komplexer Zeichensysteme. Die Nutzung von Werkzeugen im Sinne von Zeichensystemen ist für die kulturhistorische Psychologie entscheidend im Übergang von bloß „niederen“ Formen zu „höheren“ Formen des Psychischen. Dies lässt sich anhand der Ausführungen von Leont’ev zur gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung des Gedächtnisses verdeutlichen (Leont’ev 2001 [1932]). Mnestische Leistungen sind – folgt man Leont’ev – wesentlich von den sozialen Formen des menschlichen Lebens abhängig. So verfügten „Primitive“ über kaum mehr als ein natürliches, elementares Gedächtnis und lebten deswegen noch so gut wie ausschließlich in der Gegenwart. Dabei sei das Gedächtnis der „Primitiven“ den Zufälligkeiten der eintreffenden Stimuli ausgesetzt, was einmal diesen, einmal jenen Gedächtnisinhalt hervorrufe. Erst im späteren historischen Verlauf träten Völker auf den Plan, die ihre Erinnerungsleistungen mithilfe von „Zwischen-Stimuli“ wie Kerben und Knoten verbesserten. Diese „Zwischen-Stimuli“ stellen einen Spezialfall der erwähnten psychischen Werkzeuge dar. In der weiteren historischen Entwicklung würden die „Zwischen-Stimuli“ immer spezifischer. Am Ende der Gedächtnisentwicklung stehe die Transformation des „äußerlich“ vermittelten Einprägens mithilfe von „Zwischen-Stimuli“ in ein „innerlich“ vermitteltes Einprägen ohne alle äußeren Hilfen. Individualgeschichte des Psychischen: In der Individualgeschichte des Psychischen gehen die Vertreter/innen der kulturhistorischen Psychologie ebenfalls von einer Transformation der „niederen“, „natürlichen“ oder „biologischen“ in die

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„höheren“, „künstlichen“ oder „kulturellen“ Formen des Psychischen aus. Als das wichtigste Zeichensystem im Kontext dieser Entwicklung gilt Vygotskij und seinen Mitstreiter/innen die Sprache. Ihr Erwerb beeinflusse nämlich die Entwicklung aller psychischen Funktionen entscheidend, wobei in der kulturhistorischen Psychologie ohnehin der generell systemhafte, interfunktionelle Charakter der Entwicklung des Psychischen betont und untersucht wird (s. z. B. Vygotskij 1996 [1932], 2002 [1934]). Die von den Individuen genutzten Zeichensysteme entstammten der jeweiligen Kultur. Der Prozess der Entwicklung sei zugleich ein Prozess der Enkulturation, an dessen Ende die Verinnerlichung psychischer Funktionen stehe. Gemäß eines der berühmt gewordenen „kulturhistorischen Gesetze“ vollzieht sich das so, dass „jede psychische Funktion zweimal in der Entwicklung auftritt, zuerst als kollektive, soziale Handlung, also als interpsychische Funktion, und dann zum zweiten Mal als individuelle Handlung, als dem Denken des Kindes inhärentes Phänomen, also als intrapsychische Funktion“ (Wygotski 1987a [1931], S. 629). Eine wichtige Bedeutung kommt in der Individualgeschichte des Psychischen der Rolle kompetenter sozialer Anderer zu, die das Subjekt in seiner Entwicklung unterstützen. Besondere Prominenz hat hier das Konzept der Zone der proximalen oder nächsthöheren Entwicklung erlangt (Wygotski 1987b [1934], S. 298–306). Zur Bestimmung dieser Zone wird geprüft, zu welchen Leistungen ein Kind unter der Anleitung und Unterstützung kompetenter Peers oder Erwachsener in der Lage ist. Zur Bestimmung der Zone der aktuellen Entwicklung untersucht man dagegen nur, zu welchen Leistungen ein Kind selbstständig in der Lage ist. Der Zone der proximalen Entwicklung komme insofern besondere Bedeutung zu, als sie deutlich mache, wie das Kind in absehbarer Zukunft selbstständig Aufgaben werde lösen können.

2.2

Die analytische Methode im Rahmen einer materialistischen Psychologie

In Wygotski Essay „Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung“ (1985 [1927]) finden sich das Programm der kulturhistorischen Psychologie konturierende methodologisch-methodische Ausführungen. Dort plädierte er für eine der idealistischen Psychologie entgegengesetzte, materialistische Psychologie, die sich der analytischen Methode bedienen müsse. Dieses Plädoyer wurde vor dem Hintergrund einer scharfen Kritik an zentralen Spielarten, insbesondere auch methodologisch-methodischen Zugängen bzw. Idealen der damaligen wissenschaftlichen Psychologie formuliert. Zwei Beispiele: „Die weitaus meisten heutigen psychologischen Untersuchungen geben möglichst ‚bis zur letzten Dezimalstelle genaue‘ Antworten auf im Grunde falsch gestellte Fragen“ (Wygotski 1985 [1927], S. 108). Oder: „Die naturwissenschaftliche Decke [. . .] über rückständigste Metaphysik gebreitet, konnte weder Herbart noch Wundt retten; weder mathematische Formeln noch die exakte Apparatur haben vor dem Mißerfolg bewahren können, weil das Problem ungenau formuliert war“ (Wygotski 1985 [1927], S. 131). Demgegenüber müsse eine materialistische Psychologie, die an der wissen-

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schaftlichen Aufhellung „realer“ Gegenstände und Prozesse orientiert sei (Wygotski 1985 [1927], S. 248), die analytische Methode nutzen. „Realer“ Gegenstand bzw. Prozess kann hier als „Kampfbegriff“ gegen „idealistische“ Spielarten der Psychologie aufgefasst werden, die in Vygotskijs Lesart „Metaphysik“ in einem pejorativen Sinne betrieben und keine Wissenschaft. Was aber ist die analytische Methode? Sie „besteht in der Naturwissenschaft und in der kausalen Psychologie darin, eine Erscheinung, den typischen Vertreter einer ganzen Reihe, zu untersuchen und daraus Thesen über die ganze Reihe abzuleiten“ (Wygotski 1985 [1927], S. 225). Die Begriffe „Naturwissenschaft“ und „kausale Psychologie“ mögen zu Missverständnissen einladen; sie stehen hier für eine methodisch kontrollierte, erfahrungswissenschaftliche Psychologie. Konkrete methodische Hinweise sucht man freilich bei Vygotskij vergebens.

2.3

Grundzüge einer psychologischen Hermeneutik

Vygotskijs Buch „Denken und Sprechen“ enthält Grundzüge einer psychologischen Hermeneutik (Kölbl 2004, S. 142–165; Vygotskij 2002 [1934], S. 172–250 und 387–467).2 Wie im Falle der analytischen Methode finden sich auch für die psychologische Hermeneutik keine direkten Hinweise zu deren konkreter methodischer Umsetzung, gleichwohl sich einige Konstituenten dieser Hermeneutik bestimmen lassen. Vygotskij unterscheidet vor dem Hintergrund experimenteller Untersuchungen, die allerdings im Hinblick auf ihre Transparenz zu wünschen übrig lassen, drei Stufen der elementaren Begriffsbildung: 1. Die Stufe des Synkretismus, 2. die Komplexbildung und 3. die genuine Begriffsbildung. Das wichtigste Resultat der Studien zur Begriffsbildung im Hinblick auf eine psychologische Hermeneutik ist darin zu sehen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene durchaus Unterschiedliches meinen können, auch wenn sie dieselben Wörter verwenden. Man könnte auch sagen, sie lebten in unterschiedlichen semantischen Universen (van der Veer und Valsiner 1991, S. 267). Im Verlauf der Entwicklung – so die Lesart der kulturhistorischen Psychologie – verknüpfen sich die Denk- und die Sprachentwicklung dergestalt, dass es eine Einheit von Denken und Sprechen gibt. Diese Einheit liege in der Wortbedeutung, die als nicht weiter zerlegbare Einheit sprachlicher und kognitiver Prozesse angesehen wird. Es könne also nicht mehr gesagt werden, die Wortbedeutung sei allein ein Phänomen der Sprache oder des Denkens. Sie sei beides zugleich. Wörter ohne Bedeutung seien keine Wörter. Insofern sei die Wortbedeutung ein Phänomen der Sprache. Wortbedeutungen stellten aber auch Verallgemeinerungen oder Begriffe

Wichtige Anknüpfungspunkte finden sich auch in Leont’evs Persönlichkeitspsychologie (2012 [1975] sowie 2016 [2000], S. 649–803), auf die hier aus Platzgründen aber nicht näher eingegangen wird (s. zusammenfassend z. B. Kölbl 2015b). 2

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dar, und Begriffsbildungen seien unbestreitbar Akte des Denkens. Insofern sei die Wortbedeutung auch ein Phänomen des Denkens (Vygotskij 2002 [1934], S. 389). Während die Bedeutung eines Wortes vergleichsweise kontextinvariant sei, sei der Sinn eines Wortes kontextsensitiv, wie Vygotskij mit dem französischen Psychologen Paulhan (1929) unterscheidet. Die Wortbedeutung hat also stark denotativen, der Wortsinn stark konnotativen Charakter. Da der Sinn eines Wortes „die Gesamtheit aller psychischen Fakten dar[stellt], die unserem Bewusstsein durch ein Wort entstehen“ (Vygotskij 2002 [1934], S. 448), könne ein Wort intellektuellen und affektiven Sinn aufnehmen. Darüber hinaus sei der Sinn eines Wortes veränderlich und zwar in Abhängigkeit des jeweiligen Bewusstseins, der gerade „Träger“ des Wortsinnes ist und auch in Abhängigkeit der jeweiligen Umstände, innerhalb derer sich die „Träger“ des Bewusstseins befinden. Der Wortsinn sei damit also nicht ein für alle Mal fixierbar. Vielmehr finde ein Wort seinen Sinn nur in einer Phrase, die Phrase ihrerseits aber ihren Sinn nur im Kontext eines Absatzes, der Absatz im Kontext eines Buches und das Buch im Text des gesamten Schaffens eines Autors/einer Autorin. „Der wirkliche Sinn jedes Wortes wird letzten Endes durch den ganzen Reichtum der im Bewusstsein existierenden Momente bestimmt, die sich auf das beziehen, was dieses Wort ausdrückt“ (Vygotskij 2002 [1934], S. 450). Gerade der eben zitierte Satz macht deutlich, dass die – wenn man so möchte – sinngenerierende Basis psychologisch bestimmt wird. Allerdings offenbart sich der Sinn eines Wortes nicht ohne Weiteres, ist – bildlich gesprochen – für das bloße Auge nicht erkennbar: „In unserer Rede gibt es immer einen Hintergedanken, einen verborgenen Subtext“ (Vygotskij 2002 [1934], S. 460). Analysen, die sich lediglich auf den manifesten Gehalt textueller Objektivationen beziehen, greifen in dieser Perspektive also zu kurz. Die Bedeutungs- und Sinnanalysen, die Vygotskij vorschweben, dürfen nun nicht allein Konstituenten kognitiver Art zutage fördern, sondern müssten auch auf emotionale und motivationale Aspekte stoßen. Der Gedanke sei nämlich nicht die letzte Instanz in diesem Prozess. Vielmehr resultiere der Gedanke selbst der Motivationssphäre des Bewusstseins. Diese Motivationssphäre umfasse Triebe und Bedürfnisse, Interessen und Strebungen, Affekte und Emotionen (Vygotskij 2002 [1934], S. 461). Darlegungen zur Beziehung zwischen kulturhistorischer Psychologie und Semiotik finden sich bei Ivanov (2014); zur Rolle „semischer“ Analysen speziell in Vygotskijs Spätwerk und in seinen hinterlassenen Notizen siehe Zavershneva (2010) sowie Zavershneva und van der Veer (2018).

3

Empirische Realisationen

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen wäre eine Fülle qualitativmethodisch ausgerichteter empirischer Untersuchungen zu erwarten. Dies ist nicht so, und es finden sich auch keine konkreten methodischen Hinweise. Allerdings

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können qualitativ-methodisch ausgerichtete Studien, die Lurija im Rahmen kulturvergleichender Forschungen in Kirgisien und Usbekistan (s. Abschn. 3.1) sowie seiner „romantischen Wissenschaft“ (s. Abschn. 3.2) durchgeführt hat, als methodische Konkretisierungen gelten.

3.1

Kulturhistorische Expeditionen nach Zentralasien

Eine der zentralen Thesen der kulturhistorischen Psychologie besteht in der Annahme der gesellschaftlich-historischen Entstehung der Psyche. Um diese Annahme empirisch zu fundieren, führte Lurija Anfang der 1930er-Jahre kulturvergleichende Untersuchungen zu unterschiedlichen psychischen Funktionsbereichen wie dem Denken und der Wahrnehmung durch (Lurija 1986). Usbekistan und Kirgisien wurden für diese Untersuchungen ausgewählt, da es hier Gesellschaften gab, die sich in einem starken Umbruch befanden: Zum Zeitpunkt der Untersuchung existierten zugleich „traditionelle“ und „moderne“ alias „sozialistische“ Zustände in diesen Gesellschaften. Um die Abhängigkeit von Denkprozessen von sozio-kulturellen Faktoren zu untersuchen, entwickelten Lurija und Mitarbeiter/innen spezielle Testaufgaben, da sie befürchteten, dass standardisierte Testbatterien von den zu Untersuchenden nicht akzeptiert würden. Außerdem führten sie klinische Interviews durch, die sich bisweilen fast in Gruppendiskussionen verwandelten. Das lag daran, dass bei den Einzelbefragungen oftmals Dorfbewohner/innen anwesend waren, die sich auch gelegentlich in die Untersuchung einmischten. Der Feldzugang gestaltete sich nicht immer ganz einfach. So konnten aufgrund des Vorherrschens traditionalistischer Geschlechterverhältnisse Frauen etwa nur von Frauen befragt werden. Insgesamt bemühten sich Lurija und Kolleg/innen um den Aufbau informeller Kontakte zu den Einheimischen. Die Untersuchung von Denkprozessen sah etwa die Vorlage logischer Syllogismen vor, deren Bearbeitung protokolliert und psychologisch kommentiert wurde. Bei der Analyse solcher Bearbeitungen zeigte sich, dass erst diejenigen mittels abstrakten Denkens die Syllogismen lösen konnten, die auch in ihrem alltäglichen Leben mit strukturell ähnlichen Problemen zu tun hatten – etwa Aktivist/innen mit leitender Stellung im Kolchos. Dagegen waren bäuerliche Dorfbewohner/innen, die weder Lesen noch Schreiben konnten, nicht in der Lage, die Syllogismen abstrakt zu lösen, sondern verblieben mit ihren Antworten im Unmittelbaren. Auch im Hinblick auf andere psychische Funktionsbereiche als den des Denkens sah Lurija die Verbindung zwischen praktischer Tätigkeit und psychischen Strukturen durch seine Analysen als bestätigt an. Zur heutigen Einordnung der Studie in der kulturvergleichenden Psychologie siehe Berry et al. (2002, S. 143–145); zu einer Kritik aus der Perspektive einer (noch zu schaffenden) „kulturhistorischen Gestaltpsychologie“ siehe Lamdan und Yasnitzky (2015).

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3.2

Beiträge zu einer romantischen Wissenschaft

Unter „romantischer Wissenschaft“ verstand Lurija (1993 [1982], S. 177) eine Wissenschaft, die nicht reduktionistisch verfährt, sondern in holistischer Absicht „den Reichtum der Lebenswelt zu bewahren“ sucht. Hierzu legte er insbesondere zwei längere Fallgeschichten vor, die als kasuistische Längsschnittstudien bezeichnet werden können, da sie sich auf einen mehrere Jahrzehnte umfassenden Zeitraum beziehen. In diesen Fallgeschichten wurden die Entwicklungsverläufe eines Gedächtniskünstlers und eines Mannes, der im Krieg eine schwere Gehirnverletzung erlitten hatte, mittels der Zusammenführung unterschiedlicher Daten und gerade auch von Selbstauskünften der Betroffenen rekonstruiert (Lurija 1991 [1968/1971]). Zumindest eine der beiden Fallgeschichten sei kurz dargestellt, um Lurijas Arbeitsweise im Rahmen seiner romantischen Wissenschaft zu verdeutlichen. Sie ist unter dem Titel „Der Mann, dessen Welt in Scherben ging“ (Lurija 1991 [1968/ 1971], S. 25–145) bekannt geworden und handelt von einem Mann namens Zaseckij. Lurija lernte ihn während des Zweiten Weltkriegs kennen, als er in einem Rehabilitationsspital im Ural arbeitete, wobei sich die Bekanntschaft zwischen dem Psychologen und seinem Patienten weit über die Kriegsjahre hinaus fortsetzte. Zaseckij wurde nach einer Schussverletzung im Bereich des Scheitelbeins links am Hinterkopf eingeliefert, und Lurija stellte u. a. Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und verschiedene Anfälle fest. Die schwersten Beeinträchtigungen bestanden in Gedächtnisverlusten und Einbußen in zentralen Bereichen wie dem Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprechen, Sprachverstehen und der Orientierung im Raum. Lesende der Fallgeschichte nehmen an diesen neuropsychologisch bedingten Beeinträchtigungen sowie den beharrlichen Versuchen zu ihrer Überwindung in zweierlei Weise teil. Einerseits erfahren sie von ihnen aus der Perspektive der ersten Person, wenn Lurija aus dem umfangreichen Tagebuch von Zaseckij zitiert; andererseits, wenn Lurija diese Auszüge behutsam kommentiert und durch neuropsychologisches Fachwissen ergänzt. Hierzu zwei Tagebuchauszüge: Der Körper: „Und wenn ich die Augen schließe, weiß ich nicht einmal, wo sich mein rechtes Bein befindet, und es ist mir aus irgendeinem Grund sogar immer so vorgekommen (und von mir auch so empfunden worden), als ob es sich irgendwo oberhalb der Schultern und sogar oberhalb des Kopfes befindet.“ (Lurija 1991 [1968/1971], S. 59) Das Lesen: „Die Ärztin nahm einen Zeigestock und deutete auf einen Buchstaben, zuerst auf einen mittelgroßen. Ich sah zwar einen Buchstaben, wußte aber nicht, was für einer es war, und schwieg. Auch beim nächsten Buchstaben schwieg ich, weil ich ihn auch nicht kannte. Die Ärztin wurde nervös: ‚Warum schweigen Sie?‘ Schließlich sagte ich: ‚Ich weiß nicht!‘ Die Ärztin war verärgert, aber auch verwundert, wie mir schien: ‚Können Sie in Ihrem Alter wirklich noch nicht lesen und schreiben?‘“ (Lurija 1991 [1968/1971], S. 74)

In einem mühevollen Prozess lernte Zaseckij mit Lurijas Hilfe wieder zu schreiben und füllte im Laufe von 25 Jahren Tausende von Seiten mit seiner Lebensgeschichte. Das Schreiben erfüllte gewissermaßen therapeutische Funktionen, indem es das Gedächtnis Zaseckijs schulte und seinen Wortschatz zu verbessern half.

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Vielleicht wichtiger noch war aber dessen Funktion im Hinblick auf die Wiedergewinnung der personalen Identität Zaseckijs, der sich durch das Schreiben seine Vergangenheit wieder aneignete.

4

Aktueller Stellenwert

Bezugnahmen auf die kulturhistorische Psychologie gibt es entsprechend der Breite ihres Forschungsprogramms in einer ganzen Reihe psychologischer Forschungszusammenhänge. Diese bleiben allerdings in den neueren psychologischen Theorieströmungen und in einzelnen, teildisziplinär arbeitenden Gebieten der Psychologie bisweilen vergleichsweise allgemein und fungieren streckenweise lediglich als Stichwortgeber für grundlagentheoretische Legitimationen.

4.1

Bezugnahmen in übergreifenden psychologischen Theorieströmungen

Zahlreiche Bezugnahmen auf die kulturhistorische Psychologie gibt es in einer dezidiert Kultur inkludierenden Psychologie (siehe Straub und Chakkarath 2010). Als besonders prominente Spielarten gelten hier die Kulturpsychologie, die kulturvergleichende Psychologie und indigene Psychologien. Insbesondere in der Kulturpsychologie und den indigenen Psychologien erfreuen sich qualitative Methoden besonderer Wertschätzung, mittlerweile haben sie aber auch in der stärker nomothetischen Idealen verpflichteten kulturvergleichenden Psychologie einen deutlichen Aufschwung erfahren (Berry et al. 2002, Kap. 11) – das hat nicht nur, aber auch mit der kulturhistorischen Psychologie zu tun. Lurijas (1986) Untersuchungen in Zentralasien (s. Abschn. 3.1) etwa sind nach wie vor eine wichtige Referenz in der kulturvergleichenden Psychologie (Berry et al. 2002, S. 47–48, 143–145). Ansonsten wird in allen Spielarten einer Kultur inkludierenden Psychologie immer wieder die Zeichenvermitteltheit des Psychischen als wichtige kulturhistorische Einsicht festgehalten und zur Grundlage für weiterführende Analysen gemacht. Das sei an einem religionspsychologischen Beispiel von Pablo del Río und Amelia Álvarez (2007) verdeutlicht, die ihre Analysen auf verbale Protokolle stützten: Die methodologische Einbettung dieser Protokolle unterscheidet sich von „traditionellen“ kognitiv-psychologischen Begründungen. Im Einklang mit Vygotskijs oben skizzierter psychologischer Hermeneutik widmen del Río und Álvarez nicht allein experimentalpsychologisch gewonnenen Protokollen lauten Denkens Aufmerksamkeit, sondern gerade auch alltäglich stattfindendem lauten Denken. Darüber hinaus gilt ihr spezielles Interesse typisierten Formen sozialer Sprechhandlungen, wie sie sich etwa in verbreiteten Gebeten niederschlagen. Der Hintergrund für dieses Interesse ist die kulturhistorische Annahme des Primats externalen Sprechens bei der Genese inneren Sprechens und Denkens. Für die Kritische Psychologie (s. Markard 2010) war nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit zentralen Arbeiten der kulturhistorischen Psychologie fast von

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Anbeginn an wesentlich. Dabei stand die Rezeption Aleksej N. Leont’evs im Zentrum. Dessen Arbeit „Probleme der Entwicklung des Psychischen“ (1971 [1959]) kann u. a. als wichtiger Ausgangspunkt für Holzkamps „Grundlegung der Psychologie“ (1983) gelten, in der es um die Zurückweisung des „kontrollwissenschaftlichen“ Ansatzes des psychologischen Variablen-Modells zugunsten eines „subjektwissenschaftlichen“ Ansatzes geht. Letzterer ist gerade auch das Resultat „funktional-historischer Kategorialanalysen“, wie sie z. T. im Anschluss an entsprechende Bemühungen Leont’evs von Holzkamp durchgeführt bzw. nachgezeichnet wurden. Die „Aktualempirie“ im Rahmen des subjektwissenschaftlichen Ansatzes erachtet die Partizipation der „Betroffenen“ am Forschungsprozess in einem „metasubjektiven wissenschaftlichen Verständigungsrahmen“ als unabdingbar (Holzkamp 1983, Kap. 9). Formen der Handlungsforschung spielen insofern in der Kritischen Psychologie eine wichtige Rolle, wobei im Einzelnen etwa Gruppendiskussions-, Interview-, Beobachtungsverfahren oder Dokumentenanalysen zum Zuge kommen und eine starke Nähe zum Konzept der „analytischen Induktion“ (Bühler-Niederberger 1985) besteht. Einsichten der kulturhistorischen Psychologie finden sich auch in Einklang mit Überlegungen des sozialen Konstruktionismus (Zielke 2007). Dieser wird hierzulande hauptsächlich mit Kenneth Gergen assoziiert (z. B. Gergen 2002), ist aber ein weitverzweigtes Projekt, das einige Varianten kennt. Dazu gehören etwa die „Diskursive Psychologie“ und die critical discourse analysis. Im sozialen Konstruktionismus gilt wie in der kulturhistorischen Psychologie Sprache als soziale Praxis, und soziale Praxen überhaupt werden als hochbedeutsam für jedwede psychologische Analyse erachtet. Auch wenn im Konstruktionismus das Erbe der kulturhistorischen Psychologie teilweise anerkannt wird, wird eine umstandslose Übernahme zurückgewiesen, weil sich die kulturhistorische Psychologie nicht radikal genug von einer individuumzentrierten Psychologie verabschiedet habe (Zielke 2007).

4.2

Bezugnahmen in psychologischen Teildisziplinen

Prozesse des Erinnerns und Vergessens sind seit jeher in der Allgemeinen Psychologie, in jüngerer Zeit verstärkt auch in der Sozialpsychologie von Interesse. Die Zeichenvermitteltheit des Gedächtnisses und dessen Abhängigkeit von sozialen Praktiken sind zentrale Annahmen der kulturhistorischen Psychologie bei der Beschreibung und Erklärung „höherer“ Gedächtnisprozesse. Ein prominentes Beispiel für eine an der kulturhistorischen Psychologie orientierten Analyse von Gedächtnisphänomenen ist die Studie „Voices of Collective Remembering“ von Wertsch (2002). In dieser Arbeit analysiert Wertsch offizielle historische Narrative in der ehemaligen Sowjetunion, wie sie sich etwa in Schulbüchern und als generationale Differenzen im kollektiven Gedächtnis der Bürger/innen niederschlagen. Dabei steht das Individuum, das sich des offiziellen Narrativs bedienen soll, aber auch alternative Stimmen im Geschichtsdiskurs wahrnimmt, im Fokus der Aufmerksamkeit. Wertsch fasst die Geschichtsdiskurse in kulturhistorischer Manier als Werkzeuge bzw. Zeichen auf, derer sich das Individuum bedienen muss, wobei die

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konkurrierenden Stimmen zu Spannungen im „Werkzeuggebrauch“ der Akteure führen (s. weiterführend Wertsch 2012). Der Ansatz des „dialogischen Selbst“ kann der Differentiellen und Persönlichkeitspsychologie zugeordnet werden. Er ist insbesondere von Hubert Hermans und Harry Kempen (1993; s. auch Hermans und Gieser 2012) auf den Weg gebracht worden und nutzt die kulturhistorische Psychologie (neben einer Vielzahl anderer Traditionen). In diesem Ansatz wird die Person als ein vielschichtiges, Wandlungen unterworfenes, kontextabhängiges und leibliches Selbst betrachtet. Dieses Selbst wird durch eine Vielzahl relativ autonomer „I“-Positionen konstituiert und ist damit „polyphon“. Dabei ist das Selbst das Produkt dialogischen und damit sozialen Austauschs, was an das „kulturhistorische Gesetz“ der Entstehung des Intra- aus dem Interpsychischen erinnert. Methodische Zugänge zum dialogischen Selbst beinhalten die „Selbst-Konfrontationsmethode“ (Hermans und Hermans-Jansen 1995) sowie „dialogische Sequenzanalysen“ (Leiman 2004, 2012). Aufgrund des hohen Stellenwerts des Konzepts der Entwicklung (im Hinblick auf Phylo- und Ontogenese sowie Kultur- und Gesellschaftsgeschichte) erfährt die kulturhistorische Psychologie gerade in der Entwicklungspsychologie einige Aufmerksamkeit. Dies trifft für die Entwicklung von so gut wie allen Funktionsbereichen zu. Im Falle der Sprachentwicklungspsychologie dürfte Jerome Bruners (1987) interaktionistisches Modell eines der prominentesten zum Spracherwerb sein, das an die kulturhistorische Psychologie anknüpft, insbesondere an Vygotskijs Analysen des Denkens und Sprechens. Eine der Konstituenten des Bruner’schen Modells ist die Annahme, dass der Spracherwerb aus sozialen, speziell dialogischen Interaktionen entstehe, wobei vorsprachlichen Austauschprozessen des Zeigens und der gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung eine besondere Rolle zukomme. Als empirisches Material fungieren bei Bruner Einzelfallanalysen, die aus detaillierten Beobachtungen alltäglicher Mutter-Kind-Interaktionen und deren (sprachentwicklungs-)psychologischer Interpretation bestehen. Die kulturhistorische Psychologie wird aber auch für die Analyse von Entwicklungsprozessen genutzt, die nicht auf einen speziellen Funktionsbereich beschränkt werden können. So greift Oerter (1999) in seiner (Entwicklungs-)Psychologie des Spiels u. a. auf das Tätigkeitskonzept Leont’evs (2012 [1975]) zurück, um Spielaktivitäten auf ihre motivationalen Grundlagen hin befragen zu können. Als Empirie dienen ihm nicht zuletzt Fallvignetten, die aus teilnehmenden Beobachtungen erwachsen sind. In der Pädagogischen Psychologie wird insbesondere im Zusammenhang konstruktivistischer Lehr-Lernansätze auf die kulturhistorische Psychologie zurückgegriffen. Einschlägige Ansätze sind etwa das Konzept der guided participation von Barbara Rogoff (1991) oder der Community-of-Practice-Ansatz von Jean Lave und Etienne Wenger (1991). Beiden ist die Betonung der Kontextgebundenheit, Situiertheit und sozialen Vermitteltheit des Lernens gemeinsam. Hierin deutet sich bereits ihre Verbundenheit mit der kulturhistorischen Psychologie an. Rogoff geht davon aus, dass Lernen dann besonders erfolgreich sei, wenn Lernende von kompetenten Partner/innen angeleitet und unterstützt würden, um immer stärker selbst aktiv und eigenverantwortlich zunehmend komplexere Aufgaben zu bewältigen. Es ist offenkundig, dass im Falle Rogoffs etwa das Konzept der Zone der

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proximalen Entwicklung Pate stand. Dieses ist auch für Lave und Wenger zentral, die Lernprozesse in Meister-Lehrlings-Kontexten rekonstruierten. Methodisch bedienten sich Rogoff, Lave und Wenger in ihren empirischen Studien gerade auch ethnografischer Verfahren. Aufgrund der engen Beziehung zwischen Entwicklung, Erziehung, Unterricht und Bildung in der kulturhistorischen Psychologie lassen sich entsprechende Arbeiten kaum einer der beiden eben angesprochenen Teildisziplinen eindeutig zuordnen – häufig gibt es hier nicht ein entweder Entwicklungs- oder Pädagogische Psychologie. Dies gilt vielleicht in besonderem Maße für die Bemühungen von Marianne Hedegaard, die ihr Augenmerk auf die alltäglichen Aktivitäten von Kindern in unterschiedlichen Settings (z. B. Schule, Familie, Freizeit) und den Wechselwirkungen dieser Aktivitäten richtet, wobei sie in methodologischmethodischer Hinsicht Anregungen aus der kulturhistorischen Psychologie einerseits und der Phänomenologie von Alfred Schütz andererseits miteinander zu verbinden sucht (s. z. B. Hedegaard 2001; Hedegaard und Fleer 2013; Hedegaard und Lompscher 1999). Für das Untersuchungsfeld einer „developmental education“ im Sinne der kulturhistorischen Psychologie allgemein siehe Zuckerman (2014). Die Handlungsregulationstheorie wie sie insbesondere von Winfried Hacker und Walter Volpert entwickelt wurde (s. z. B. Hacker 1997), ist im Rahmen der Arbeits- und Organisationspsychologie eine der bekanntesten Theorien, die auf Grundlagen der kulturhistorischen Psychologie, speziell der Leont’ev’schen Tätigkeitstheorie, aufbaut. Beachtung erfahren darüber hinaus Arbeiten aus der Arbeitsgruppe um Yrjö Engeström, der sich ebenfalls der kulturhistorischen Psychologie verpflichtet fühlt und (auch) organisationspsychologische Diskurs- und Interaktionsanalysen auf Mikroebene vorgelegt hat (s. Engeström und Middleton 1996). Dabei gilt Transformationsprozessen in Organisationen besonderes Interesse; Organisationen werden als Tätigkeitssysteme analysiert (z. B. Engeström 2011; für eine Analyse der Lern- und Arbeitstätigkeit in Industrieunternehmen unter Rekurs auf Engeström s. Geithner 2012). Auch in der Klinischen Psychologie werden Arbeiten der kulturhistorischen Psychologie rezipiert, insbesondere trifft dies für Lurijas neuropsychologische Arbeiten zu. So ist für Hilarion Petzolds (2004) Bemühungen um eine „Integrative Therapie“ Lurija ein wesentlicher Referenzautor. Sofern gerade auch Lurijas Fallanalysen im Rahmen der romantischen Wissenschaft als Vorbild und Ausgangspunkt für eigene Bemühungen genommen werden, bewegen sich entsprechende Arbeiten zumindest in der Nähe qualitativ-methodischer Analysen. Dies trifft etwa für Luciano Mecaccis (1990) neuropsychologische Fallanalysen zu, die auf „ganzheitliche“ psychologische Porträts aus sind und nicht allein auf Analysen isolierter, neuropsychologisch bedingter Ausfälle. Von Lurijas romantischer Wissenschaft stark inspiriert sind auch die neurologischen Fallgeschichten von Oliver Sacks, die über den akademischen Bereich im engeren Sinne hinaus große Bekanntheit erlangt haben (z. B. Sacks 2011; zu Sacks Wertschätzung von Lurijas romantischer Wissenschaft s. Sacks 2014).

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Das insgesamt Faszinierende an der kulturhistorischen Psychologie ist sicher ihr ambitioniertes Ansinnen, Wesentliches zu einer integralen Psychologie des gesellschaftlichen Menschen beizutragen. Gerade auch für eine Psychologie, die an qualitativer Forschung interessiert ist, bieten die Arbeiten von Vygotskij und Mitstreiter/innen wichtige Einsichten und Anker, an die angeknüpft werden kann. Das betrifft insbesondere theoretisch-programmatische und methodologisch-methodische Überlegungen im Kontext einer psychologischen Hermeneutik. Diese Überlegungen sind vergleichsweise sehr elaboriert. Demgegenüber fällt die empirische Ausbuchstabierung mittels qualitativ-methodisch ausgerichteter Untersuchungen vergleichsweise schmal aus. Bei allem Einfallsreichtum, der den wegweisenden Arbeiten zugesprochen werden kann, muss auch festgehalten werden, dass sie nicht in jeder Hinsicht methodisch transparent sind – dies betrifft gerade auch hier nicht besprochene experimentelle Arbeiten Vygotskijs. Darüber hinaus wären im Falle der von Lurija (mit-)favorisierten romantischen Wissenschaft stärkere epistemologische Klärungen wünschenswert, beispielsweise was genau mit „Ganzheitlichkeit“ gemeint ist oder welcher theoriebildende Status genau Einzelfallanalysen zukommen soll. Ferner sollte auch daran erinnert werden, dass nach wie vor nicht alle Texte der Troika für eine kritische Rezeption zugänglich sind. Insofern gilt es in Zukunft auch, weitere philologische Arbeit bei der Sicherung und Sichtung dieses Erbes zu leisten (Keiler 2002; Yasnitzky et al. 2014; Yasnitzky und van der Veer 2015), eines Erbes, dies sei abschließend noch einmal betont, dessen Potenziale in der Psychologie noch keineswegs vollständig ausgeschöpft worden sind.

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Gestaltpsychologie Herbert Fitzek

Inhalt 1 Gestaltpsychologie: Schulen und ihre Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische Grundlagen – methodische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktuelle Diskussionen und Ansätze: Lewin und die Kulturpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendungsbeispiel: das Forschungsprogramm „Organisationskultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In seinen historischen Schulrichtungen (Grazer Schule, Leipziger Ganzheitspsychologie und besonders der Berliner Gestalttheorie) ist das Konzept eines vom seelischen Ganzen ausgehenden und seinem Gestaltcharakter folgenden gegenstandsangemessenen Zugangs zur Wirklichkeit des Erlebens und Verhaltens zunächst in der Wahrnehmungs- und Denkpsychologie prägend gewesen. Heute ist gestaltpsychologische Forschung und Beratung darüber hinaus in den Bereichen von (gestalttheoretischer) Psychotherapie, Kulturpsychologie, Organisationspsychologie und psychologischer Ästhetik verbreitet. Schlüsselwörter

Gestalttheorie  Ganzheitspsychologie  Feldtheorie  Kulturpsychologie  Organisationskultur  Morphologische Psychologie

H. Fitzek (*) Business School Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: herbert.fi[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_5

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Gestaltpsychologie: Schulen und ihre Konzepte

Das Gestaltkonzept formierte sich zu einer Zeit, als die Ablösung der Psychologie als akademische Disziplin aus der Philosophie mit den Mitteln der (Natur-) Wissenschaft noch in vollem Gange war. Ihren Rang hatte sich die Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts erworben, weil sie nachweisen konnte, dass der menschliche Seelenhaushalt mithilfe einer naturgesetzlichen Modellierung der Abläufe des Erlebens und Verhaltens und unter Einsatz exakter Methoden darstellbar ist. Die erste Generation der Gestaltpsychologie rekrutierte sich beinahe selbstverständlich aus Wissenschaftlern, die die klassischen Themen der philosophischen Reflexion auf den Boden empirischer (natur-)wissenschaftlicher Forschung stellten: Die Themen der Erkenntnistheorie firmierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Fragestellungen der Wahrnehmungspsychologie, die Kritik der Vernunft wurde zum Gegenstand der empirischen Denkpsychologie; mit der Genese des Handeln-Könnens beschäftigten sich die Darstellungen und Experimente der Lerntheorie. In der Rückschau auf die ersten Jahrzehnte selbstständiger empirischer Arbeit wird oft übersehen, dass die Modellierung des psychischen Gegenstandes der philosophischen Diskussion eng verhaftet blieb. Das galt für die elementaristischen Konzepte – im Anschluss an die mechanische Seelenlogik von Aufklärung und Materialismus – ebenso wie für die an die naturphilosophische Tradition von Herder, Goethe und Schelling anknüpfende Ganzheits- und Gestaltpsychologie. Bei aller Differenziertheit sind Goethes Wissenschaftsentwurf und Gestaltkonzept zumindest implizit für alle weiteren Konzepte der Ganzheits- und Gestaltpsychologie richtungsweisend geblieben: Um den entwicklungsträchtigen Gegenständen der lebendigen Natur sachgerecht zu folgen, müssen sich die wissenschaftlichen Methoden „selbst so beweglich und bildsam [. . .] erhalten nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht“ (Goethe 1981 [1817], S. 56). Insoweit setzen sich die Begriffe von „Ganzheit“ (Krueger, Sander), „Gestalt“ (Wertheimer, Köhler), „Struktur“ (Dilthey, Wellek), „Feld“ (Lewin) und „Figuration“ (Salber) gemeinschaftlich von einem statischen Modell der Elemente und Assoziationen ab und modellieren seelisches Geschehen als Ausdruck der Eigenlogik eines dynamischen Gestaltungsgeschehens. Da die entsprechenden Begriffe in den historischen gestaltpsychologischen Werken fortlaufend diskutiert und modifiziert wurden, einer Klärung der ideengeschichtlichen Verwandtschaften und Unterschiede aber eher im Wege stehen, verfolge ich hier die Entwicklungsgeschichte des gestaltpsychologischen Denkens im Hinblick auf seine praktische Nutzbarmachung und sehe von terminologischen Positionskämpfen ab – etwa um die aktuelle oder überdauernde, phänomenale oder transphänomenale Wirksamkeit von Strukturtendenzen (Fitzek und Salber 1996, S. 109–111). Jenseits der sich (durch-) kreuzenden Definitionsversuche sind historisch – und auch regional nach ihren Ursprungsorten Graz, Leipzig und Berlin – drei „Schulen“ der Gestaltpsychologie unterscheidbar: 1. Als Initialzündung des Gestaltkonzepts in der Psychologie gilt unumstritten ein Text, der sich noch vollständig in die philosophische Tradition des 19. Jahrhun-

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derts fügt und frei ist vom empirischen Ehrgeiz späterer Forschungsgenerationen. Christian von Ehrenfels machte in einem kleinen Zeitschriftenaufsatz „Über Gestaltqualitäten“ (Ehrenfels 1960 [1890]) darauf aufmerksam, dass die Elementenlogik der seelischen Erscheinungen von übergreifenden Rahmenmotiven überlagert wird, die in der Musik etwa als die alles Einzelne organisierende und damit überhaupt erst Wirkung erzielende Melodie erfahrbar werden. Gestaltqualitäten sind durch den doppelten Charakter der Übersummativität (mehr und anders als die Summe der Teile) und der Transponierbarkeit (übertragbar auf andere Tonreihen) gekennzeichnet und finden sich in allen Bereichen des Erlebens und des Handelns (z. B. im „Gang“, im „Stil“, im „Habitus“ der Menschen; Ehrenfels 1960 [1890], S. 33). Das war ein bescheidener Anfang zu einem Konzept, in dem statt isolierbarer Einzelreize nunmehr konfigurierende Muster den psychischen Gegenstand ausmachen. Ehrenfels ist mit seinem frühen Aufsatz als Gründer der Gestaltpsychologie in Erscheinung getreten; zugleich stand er in enger Korrespondenz mit der um Alexius Meinong zentrierten Grazer Tradition der Gestaltpsychologie, die den Gestaltgedanken zwar aufgriff, aber nicht wie Ehrenfels im Sinne der Ersetzung der Elementenlogik, sondern (lediglich) als Überlagerung der („fundierenden“) Elementenebene durch eine andersartige gestalthafte Organisation („Produktionstheorie“). Möglicherweise aufgrund dieser paradigmatischen Unentschiedenheit entfaltete sie eine eher regionale Wirkung (besonders nach Italien hinüber; Boudewijnse 1999; Zanforlin 2004). 2. Als zweite Schule der Gestaltpsychologie bildete sich zunächst informell in Frankfurt/Main, später institutionell in Berlin um Max Wertheimer eine Gruppe, die Gestaltqualitäten von vornherein als selbstständige Grundlage aller seelischer Prozesse ansah und den Beweis auf ihre Unabhängigkeit mit den Mitteln des klassisch (naturwissenschaftlich-)experimentellen Vorgehens antrat. In Anlehnung an den gleichzeitig aufkommenden Kinematografen orientierten sich Wertheimer und seine Mitarbeiter (Köhler, Koffka) an der psychologischen Eigenständigkeit von Bildfolgen: Wahrnehmung ist von vornherein nicht als Kette von Einzelereignissen angeordnet, sondern als Organisationsprozess mit einer spezifischen gestalthaften Entwicklungsdynamik. Im „Phi-Phänomen“ konnte Max Wertheimer (1912) nachweisen, dass getrennt voneinander dargebotene Lichtreize in der Wahrnehmung zu einem Gesamtgefüge zusammentreten, dessen psychologische Eigenart sich von der physikalischen Reizgrundlage ablöst und völlig selbstständige (Übergangs-)Qualitäten hervorbringt: Raumzeitlich separierte Lichtpunkte erscheinen unter bestimmten Reizbedingungen phänomenal überhaupt nicht als solche; sie werden vielmehr als Bewegung eines einzigen Lichtpunktes wahrgenommen, die von den Beobachtenden je nach raum-zeitlichen Verhältnissen als fließend und glatt beschrieben wird oder aber als „rapides“ Umspringen, als „lässige Drehung“, als „Drehung mit ruckhaftem Anfangs- und Endteil“ (Wertheimer 1912, S. 227). Der experimentelle Nachweis der Eigenlogik von Gestalten machte die Gruppe um Wertheimer, Köhler und Koffka zur hoffnungsvollsten Keimzelle des Gestaltdenkens in der Psychologie der 1920er-Jahre, die sog. Berliner Schule der Gestalttheorie (Ash 1995).

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3. Was Wertheimer in den Experimenten eher am Rande entdeckt und beiläufig angemerkt hatte – der als „zwingendes“ Hinüber zu charakterisierende Charakter der Gesamtgestalt (Wertheimer 1912, S. 251) – wurde einer dritten Richtung des gestaltpsychologischen Denkens zum ausschlaggebenden Kennzeichen für die Kategorisierung der übergreifenden seelischen Sinnzusammenhänge. Die Leipziger Schule der genetischen Ganzheits- und Strukturpsychologie sah in den Färbungen und Tönungen des Erlebens die „Ganzqualität“ eines sich aktuell entfaltenden, realen „Strukturzusammenhangs“, in dem die Herrschaft der Gefühle über das Gesamtbewusstsein den Beleg für den Primat des Ganzheitlichen gegenüber allen einzelnen Erfahrungsmomenten liefert. Gegenüber der Dichte und Intensität ontogenetisch und aktualgenetisch früher Erlebensphasen erscheinen die Gestaltverhältnisse der Wahrnehmung sekundär im zeitlichen wie auch im funktionalen Sinne (Sander und Volkelt 1962, S. 141–144; zum aktuellen Interesse an der Aktualgenese: Abbey und Diriwächter 2008). Sander und seine Schüler legten zur Theorie der sogenannten „Vorgestalten“ experimentelle Untersuchungen vor, in denen die Nachhaltigkeit komplexer, oft stofflich-materialer Grundqualitäten (Krueger: „Komplexqualitäten“; Volkelt: „Umgangsqualitäten“) für kurzzeitige und ausgedehnte Entwicklungsprozesse bis hin zur gefügten („kalten“) Endgestalt nachgewiesen wurde (Sander und Volkelt 1962, S. 101–103). Was das Entwicklungsdenken an Gewinn in die Gestaltpsychologie einbrachte, wurde ihr andererseits durch die ontologische Grundüberzeugung der Leipziger Ganzheitstheoretiker, allen voran ihres Gründers und späteren Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Felix Krueger, genommen: Unter seinem Einfluss verstrickten sie sich nicht nur in unhaltbare metapsychologische Grundannahmen, sondern wurden zudem anfällig für das Einsickern holistischer, auch nationalsozialistischer Ideologie in psychologisches Denken (Harrington 1996). In doppelter – ideengeschichtlicher wie institutionspolitischer – Hinsicht mieden die führenden Köpfe der Gestalttheorie den Kontakt zu den aus der rivalisierenden Wundt-Schule hervorgegangenen (Leipziger) Ganzheitspsychologen und grenzten das auf die gleichen naturphilosophischen Grundlagen (bei Goethe, Dilthey, Ehrenfels) zurückgehende „Ganzheits“- und „Struktur“-Konzept nach Kräften aus dem Kern des gestaltpsychologischen Paradigmas aus. Dabei wies deren Entwicklungsdenken – in dem Gestalt in unmittelbarem Anschluss an Goethe als genetisches Prinzip der Formenbildung aus entwicklungsträchtigen „Vorgestalten“ modelliert wird – in eine Richtung, die von den zunächst eng am Wahrnehmungsgeschehen haftenden Berlinern erst noch erobert werden musste und heute gerade unter methodologischem Gesichtspunkt für die qualitative Psychologie wiederentdeckt wird (Diriwächter and Valsiner 2008; Fitzek und Salber 1996). Dass sowohl die Gestalttheorie wie die Ganzheitspsychologie um die Mitte des 20. Jahrhunderts in die Krise gerieten, ist aber weniger internen Animositäten anzulasten als vielmehr den gewaltigen (und gewalttätigen) politischen Veränderungen in Deutschland, die jüdische Herkunft und (links-)intellektuelles Profil zum Anlass für den Ausschluss vom öffentlichen, auch wissenschaftlichen Leben nahmen und die Wissenschaftskultur letztlich irreparabel schädigten. Max Wertheimer

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in Frankfurt musste ebenso emigrieren wie Kurt Lewin in Berlin; Wolfgang Köhler wollte sich mit dem Willkürstaat nicht arrangieren und folgte auf spektakuläre Weise wenig später in die Vereinigten Staaten. Für die vom Exodus ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen scheinbar unbeeindruckte Grazer und Leipziger Professorenschaft kam der Bruch nach dem Weltkrieg (mit der Zerstörung der Institutionen und persönlichem Berufsverbot) und hinderte somit – hier tragischerweise, dort völlig zu Recht – beide Gruppen an einer unmittelbaren Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit (Ash 1995; Harrington 1996). Beides hat einen kontinuierlichen Ausbau der Gestaltpsychologie nachweislich gestört oder gar verhindert. Im Folgenden will ich zeigen, dass sich die Qualität des Konzeptes auf Nebenwegen dennoch fortgesetzt und bis heute bewährt hat.

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Theoretische Grundlagen – methodische Konsequenzen

In seiner berühmt gewordenen Psychologiegeschichte hat der Amerikaner Edwin G. Boring bereits 1950 ein abschließendes Urteil über die Gestaltpsychologie gesprochen. Die sei in ihren Resultaten so erfolgreich gewesen, dass sie von der übrigen Psychologie absorbiert wurde – womit er den konzeptuellen Rahmen gleichsam stillschweigend als überflüssig deklarierte (Boring 1950, S. 600). Daran wird die Gestaltpsychologie bis heute gemessen, und deshalb gilt sie in den Lehrbüchern der Psychologie als psychologische Schule, die einige inhaltliche Entdeckungen zur Wahrnehmungspsychologie und zum „Produktiven Denken“ erbracht habe und wegen ihrer „vagen“ Begriffe und ihrer unausgereiften Methodik ansonsten überholt sei. Dabei verstanden sich weder die (Berliner) Gestalttheorie noch die (Leipziger) Ganzheitspsychologie als wahrnehmungspsychologische Schulen. Besonders in Berlin wurden die Experimente früh auf die Zusammenhänge des Lernens, Denkens und Problemlösens ausgedehnt und bald auch auf die Handlungs- und Affektpsychologie (Lewin 1926; Koffka 1935; Wertheimer 1985 [1924]; exemplarisch vorgestellt in Fitzek 2014). Demnach regulieren die Gestaltgesetze nicht bestimmte Funktionen im seelischen Apparat, sondern die Organisation der psychischen Wirklichkeit im Ganzen – mit einer gesetzmäßigen Sicherheit, die dem Wirken der Naturgesetze entspricht und die Psychologie damit vom Nimbus einer Naturwissenschaft zweiter Klasse zu befreien versprach. Selbstbewusst besetzte die Gestaltpsychologie eine Position zwischen Natur- und Geisteswissenschaft – mit gelegentlichen Rückfällen in die doppelte Buchführung einer psychologisches und physikalisches Geschehen parallelisierenden Isomorphie (Köhler 1917, S. 193). Es war zunächst Wolfgang Köhler, der kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges unverhofft die Gelegenheit erhalten hatte, Gestaltverhältnisse im Handlungsfeld von verwandten, als weniger komplex strukturiert verstandenen Lebewesen zu beobachten (Köhler 1963 [1921]). Köhlers innovativen Anthropoidenversuchen auf Teneriffa wird mit dem Klischee vom weisen Affen, der statt auf Versuch und Irrtum vom („Aha-“) Erlebnis einer inneren „Einsicht“ geleitet wird, die Spitze genommen. Denn Köhler ging es nicht um die Intellektualisierung von (tierischem) Verhalten,

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sondern um die Übertragbarkeit der Wahrnehmungsgesetze in den Handlungsraum. Über die experimentelle Variation von Problemlöseaufgaben wies er nach, dass Handlungsfelder wie der Wahrnehmungsraum nach den Gestaltgesetzen von Nähe, Geschlossenheit und durchgehender Linie organisiert sind, die Unterstellung (einfacher) Prägnanztendenzen bei komplexen Sinnbildungen aber zu kurz greift: Um „gute Gestalten“ zu erzielen, müssen erprobte und bewährte Muster umzentriert oder aufgebrochen werden. „Lernen“ meint Umstrukturierung der Sinnrichtungen im Handlungsraum im Sinne prägnanter Gestaltbildungen, in denen sich Bildungsund Umbildungstendenzen komplementär ergänzen. Von hier aus führt ein direkter Weg zu den epochalen Untersuchungen Kurt Lewins und zur sogenannten „Willenspsychologie“ im Berliner Laboratorium der 1920er-Jahre. Schon in der Benennung der Zielintention (auf Handlungen und Affekte) deutet sich an, dass Lewin – jenseits der klassischen Aufteilung in Willensund Vornahmehandlungen – die Eigengesetzlichkeit und Dynamik aktueller seelischer Produktionen im Blick hatte (Lewin 1926). Er fand für die aktuellen Bedingungslagen der Lebenswelt den Begriff der Handlungsganzheit (Lewin 1926, S. 14), der die einheitliche Verfasstheit von Arbeits- und Alltagstätigkeiten als dynamisches Spannungsfeld bezeichnet. In seiner „Feldtheorie“ wird der Gestaltgesichtspunkt zum Hinweis auf die Einordnung physikalischer Feldbedingungen („Kräfte und Energien“) in den Bedingungszusammenhang einer psychologischen Gesamtorganisation. Bedürfnisse, Intentionen, räumliche, dingliche und soziale Gegebenheiten werden in diesem Feld zu förderlichen oder feindlichen Valenzen für das Anlaufen und den Fortgang, die Stabilität oder Störbarkeit von Handlungsverläufen. Mit seinem Bekenntnis zum psychologischen Feld überwand Lewin die physikalistische Anbindung der Gestalttheorie – und blieb der Fiktion einer Entsprechung psychologischer Gesetzmäßigkeiten und physikalischer Kausalitäten trotzdem unverbrüchlich verhaftet. So konnte leicht übersehen werden, dass sich sein Feldkonzept schon im Zuge des Berliner Experimentalprogramms mit seinen Schülerinnen und Schülern zunehmend Erkenntnissen der Psychoanalyse geöffnet hatte und die Störbarkeit, Ersetzbarkeit und Verwandelbarkeit von Handlungen unter komplizierenden Rahmenbedingungen – wie Überlastung, „Sättigung“ und „Ärger“ – thematisierte (Dembo 1931; Karsten 1928). Als Immigrant in Amerika überschritt Lewin rasch die experimentelle Bindung an Handlungsfolgen (von „Wille“ und „Affekt“) und verfolgte die feldtheoretische Modellierung von Wirkungsräumen in persönlichkeits- und gruppenpsychologischen Fragestellungen (Lewin 2012 [1963]). Jenseits der sich formierenden Sozialpsychologie faszinierten Lewin „Klima“ und „Atmosphäre“ des Gruppengeschehens (Lewin et al. 1939). Neben seinem Feldmodell der Persönlichkeit und den grundlegenden Arbeiten zur Gruppendynamik interessierte ihn die psychologische Konstitution kultureller und subkultureller Kontexte, die das Bild der amerikanischen Gesellschaft in den dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts dominierten (Marrow 2002). Sein zunehmender Sinn für die Vielschichtigkeit des seelischen Geschehens und sein Talent beim Aufspüren lebens-

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praktischer Fragestellungen („Nichts ist praktischer als eine gute Theorie!“) machten Lewin zu einem der wirksamsten und nachhaltigsten Psychologen der alten wie der neuen Welt (Lück 2001). Im Auftrag verschiedener staatlicher und privater Institutionen beschäftigte sich Lewin mit Themen, die das tradierte Gegenstandskonzept der Psychologie sprengten – mit Führungsstilen in Unternehmen, der Integration von Schwarzen und Weißen in Wohnsiedlungen, mit Change Management, mit Interventionen bei Jugenddelinquenz, der strategischen Beratung von Regierungsstellen – und die auch nicht mehr mit klassischen experimentellen Methoden zu untersuchen sind. Für die qualitativen Methoden vorbildlich wird sein Modell der Aktionsforschung, in der Forschende und Beforschte sich als Partner/innen eines gemeinsam modellierten Wirkungsfeldes verstehen. Auch nach seinem plötzlichen Tod im Jahre 1947 bildete Lewins Sichtweise und die seiner Schülerinnen und Schüler ein reizvolles und wirkungskräftiges Gegengewicht zu der zunächst noch stark behavioristischen, später zunehmend kognitivistischen Mainstream-Psychologie. Von hier weist der Weg zurück zu seinem ersten psychologischen Aufsatz über „Kriegslandschaft“ (Lewin 2009a [1917]) und weiter in seine letzten wissenschaftlichen Arbeiten, deren phänomennahe Beschreibungen die Kulturpsychologie in ihrer Darstellung von „Lebensräumen“, „Handlungsfeldern“ und der „symbolischen Ordnung der Dinge“ gelegentlich fortsetzt, ohne zu bemerken, dass sie sich auf gestalt- bzw. feldtheoretischem Boden bewegt (Boesch 1992).

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Aktuelle Diskussionen und Ansätze: Lewin und die Kulturpsychologie

Dass Borings vernichtendes Urteil über das Ende der Gestaltpsychologie – trotz seiner oberflächlichen Plausibilität – zu keiner Zeit gerechtfertigt war und auch heute nicht zutrifft, kann hier nur beispielhaft an der Aktualität von Lewins gestalt- und feldtheoretischen Konzepten gezeigt werden; es wäre analog auch für Wertheimer und Köhler in der englischsprachigen, für Krueger und Sander in der deutschsprachigen Tradition zu demonstrieren (s. Ash 1995; Harrington 1996). Lewins Perspektive auf Gesamtqualitäten des Gruppengeschehens („Klima“, „Atmosphäre“) ist zu einem entscheidenden Anstoß für die Entwicklung einer Kulturpsychologie geworden, die sich auf die apersonale Ausrichtung von Wirkungsfeldern und ihre (gestaltpsychologische) Eigendynamik bezieht. Ernst Boesch schreibt seine „Einführung in die Kulturpsychologie“ als umfangreiche Auseinandersetzung mit Lewins „Lebensraum“-Konzept und kennzeichnet die eigenen und fremden Kulturen, mit denen sich die Kulturpsychologie beschäftigt, als symbolische Lebenswelten oder „Biotope“ (Boesch 1980, S. 19); ähnlich in Amerika die ökologischen Konzepte des Lewin-Schülers Roger G. Barker (1968) und des entscheidend von Lewin geprägten Urie Bronfenbrenner (1981).

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Innerhalb der aktuellen Kulturpsychologie ist es besonders Wilhelm Salber, dessen „Morphologie des seelischen Geschehens“ (1965) ausdrücklich an Lewins Konzept der Handlungsganzheit anknüpft und ganzheits- und gestaltpsychologisches Denken als Grundlage einer Psychologie der Alltagskulturen ausbaut. Kulturen organisieren die Lebenswelt, weil sie selbst dynamisch strukturierte Gestaltbildungen sind – und die Annahme eigenständig handelnder „Subjekte“ als Agenten des seelischen Geschehens damit erübrigen (Fitzek 2000, S. 1–9; s. schon Wertheimer 1985 [1924], S. 99–105). Aus der Perspektive der morphologischen Psychologie sind es gestalthaft verfasste Kultivierungsprogramme, die den Lebensalltag in seinen konkreten, auch banalen Erscheinungen prägen. Boesch wie Salber verankern psychologisches Wissen in den historischen Kultivierungsmustern, die in den Mythen und Märchen der Völker dargestellt und weitergegeben werden. Die Zeit der großen Systeme ist, soweit sah es Boring richtig, vorbei. Doch sind die Systeme damit nicht schon überholt und erledigt. Unter dem Etikett aktueller Forschungsthemen und innovativer Fragestellungen werden viele der traditionell entwickelten Konzepte fortgesetzt. So sind die kulturpsychologischen Folgerungen aus Lewins feldpsychologischem Ansatz in der amerikanischen Wirtschaftspsychologie der nächsten Generation aufgegriffen worden, ohne dass dies im „Output“-orientierten Fachdiskurs zur Kenntnis genommen wurde. Den Hintergrund für die Renaissance des Gestaltdenkens in der Wirtschaft bildete das bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts als unschlagbar geltende amerikanische Wirtschaftsmodell, das unter dem Druck japanischer Erfolge unversehens in die Krise geraten war. Im persönlichkeits- und gruppenübergreifenden Kulturkontext gewann die Wissenschaft einen Fokus, der das Scheitern des Self-MadeOptimismus erklärte und sich zu einem Forschungsprogramm verdichtete, aus dem die Mängel des individuenzentrierten Ansatzes und die Chancen des Denkens in Kulturen ableitbar wurden. Edgar H. Schein (1969, 1992) formte daraus das Forschungsprogramm der Organisationskultur und erschloss mit der Umorientierung von „Unternehmerpersönlichkeiten“ auf „Unternehmenskulturen“ eine scheinbar neuartige Perspektive. Hier wurden das Gestaltdenken und Lewin quasi wiederentdeckt, um rationale, ökonomische Wirtschaftsmodelle im Hinblick darauf zu ergänzen, was die Entwicklung von Institutionen tatsächlich (gestalt-)psychologisch ausrichtet. Schein (1995) führte Lewins Gedankengänge nicht nur implizit fort, sondern verwies ausdrücklich auf die Herkunft seiner Lehrer (Douglas McGregor und Alex Bavelas) aus der Lewin-Schule. Die Kennzeichnung von Organisationskulturen als steuernde Motive der Unternehmensentwicklung griff Lewins Entdeckung des Gestaltungsraumes („Klimas“) sozialer Gebilde auf, das Gruppen, Verbände und Organisationen im Ganzen wie in allen ihren Funktionsträgern prägt. Für Scheins Konzept sind drei Ebenen charakteristisch, auf denen er Organisationskulturen ansiedelte (Fitzek 2007, S. 49–53): 1. die Ebene ihrer gegenständlichen Manifestationen oder Artefakte – wie etwa die Gestaltung von Werk- und Büroräumen, die vorfindbaren Zeremonien und Ritu-

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ale, die Aufmachung von Rundbriefen und Mitteilungen an die Angestellten oder auch der Umgang mit betrieblichem und privatem Eigentum; 2. die Ebene ihrer als Werte bezeichneten kulturellen Orientierungsmuster – Absichten, Maxime, Ideale und Abneigungen sowie 3. zuletzt und vor allem die Ebene sogenannter basic assumptions, mit denen Schein die konstituierenden Mythen einer Institution anspricht (Beispiele dafür aus der Literatur: „Dionysos“, „Apollo“, „Zeus“, „Athene“; Handy 1995, S. 13). Dabei erinnern die Ebenen der Darstellung von Organisationskultur an die Merkmale des gestaltpsychologischen Denkens, die oben als Gestaltqualitäten, Wirkungsfelder und Kultivierungsmuster charakterisiert wurden. In diesem Sinne verweisen 1. die Artefakte auf den phänomenalen Vorrang des ganzheitlichen Erscheinungsbildes (der „Gestaltqualität“) im Erleben. Ihre Bestimmung kann für Organisationskulturen zum Schlüssel werden, das scheinbar disparate Gegenständliche der Institution von einem symbolischen Blickwinkel aus aufzuarbeiten: Menschen, Strukturen, Gebäude und „Privates“ (Büroausgestaltungen, Witze, Feiern) werden durch Gestaltbildungen zusammengehalten. Der Hinweis auf Werte als Orientierungsmuster lässt sich 2. mit der von Lewin herausgestellten Einbindung in dynamische Spannungssysteme zusammenbringen. Demnach geht es bei den Meinungen, Haltungen und Befindlichkeiten der Belegschaft nicht um mehr oder weniger individuelle Ansichten vom Unternehmen; diese sind vielmehr als Repräsentationen (oder Ausdrucksbildungen) einer Wirkungswelt aufzufassen, in der spezifische Ausgangsrichtungen, Valenzen, Widerstände und Barrieren als „Feld“-Bedingungen virulent werden. Auf dem Hintergrund des Gestalt-Konzepts machen 3. die basic assumptions darauf aufmerksam, dass das Gesamtgeschehen nicht nach Maßgabe rational agierender Personen gesteuert wird, sondern von (unbewussten) Kultivierungsmustern einer überindividuellen Gesamtregie. In den von Schein als letzte und fundamentale Ebene der Organisationskultur identifizierten Grundprämissen laufen alle Wirksamkeiten im Unternehmen zusammen. Doch erschließen sie sich wegen ihrer hintergründigen (und ungeliebten) Wirkungsmacht nicht über offizielle Selbst- oder Leitbilder, sondern über randständige, häufig ungewollte Äußerungen (wie Sprüche oder Anekdoten der Mitarbeiter/innen). Im Folgenden will ich anhand eines konkreten Fallbeispiels darstellen, wie das Forschungsprogramm der Organisationskulturen zum Ausgang eines gestaltpsychologischen Forschungs- und Beratungskonzeptes ausgestaltet werden kann. Im Konzept der „Wirtschaftsmorphologie“ sind die grundlegenden Denkkategorien der Gestaltpsychologie nicht nur in methodische „Versionen“ der Analyse und Beratung von Unternehmen und Institutionen übersetzt (Grundqualitäten, Wirkungsräume, Verwandlungsmuster). Hier können sie am Beispiel eines Prozesses von Aktionsforschung und Prozessberatung von Organisationskulturen in ihrem konkreten Zusammenwirken verfolgt werden (Fitzek 2007, S. 56–62).

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Anwendungsbeispiel: das Forschungsprogramm „Organisationskultur“

Bei der in Auftrag gegebenen Organisationsentwicklung handelt es sich um ein jahrzehntelang als Familienbetrieb geführtes Maschinenbau-Unternehmen, dessen Selbstverständnis durch eine unvermittelt einbrechende Dynamik von Verkäufen und Veränderungen verloren gegangen zu sein schien. Dem Wechsel in einen Maschinenbaukonzern folgte schon kurze Zeit darauf die Übernahme in einen Mischkonzern, dann die Veräußerung an einen ausländischen Investor und schließlich die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft – alles in einem Zeitraum von nicht einmal zwei Jahrzehnten. Die Beschwerden der Belegschaft gruppierten sich geradezu verführerisch plausibel um das Motiv der verlorenen Einheitlichkeit einer „guten“ Gestalt, die durch rücksichtslose Neuerungen und durch räuberische Eingriffe zerstört worden sei. Diesen Eindruck galt es in der mehrdimensionalen Analyse der Organisationskultur mithilfe der von uns durchgeführten Tiefeninterviews im Hinblick auf gestalthafte Wirkungsmomente zu durchdringen.1 1. Die Architektur der Erzählungen – wie der von uns besichtigten Werksniederlassungen – zeigte sich beherrscht von der (Gestalt-)Qualität der Abgeschlossenheit eines Drinnen von einem Draußen, die den Beschäftigten Sicherheit versprach und der Geschäftsführung klare Positionen. Wie in den Gestaltgesetzen der Wahrnehmung hob sich die „gute“ Ordnung von einer als chaotisch erlebten Umgebung ab. Die empfundene Binnenwelt war überschaubar und stellte sicher, dass alle jederzeit wussten, wo sie „hingehörten“ und was sie von anderen zu erwarten hatten. Die Firmenphilosophie – ablesbar in soliden Gebäuden wie in der geschlossenen Werksstruktur vor Ort – wies den Einzelnen einen Platz an, an dem sie sich orientieren und ihre Stellung zum Ganzen bestimmen konnten. Hier zeigt sich jedoch zugleich die Kehrseite der geschützten Binnenwelt: Was intern Zusammenhalt und Rückhalt verhieß, machte es schwer, sich Neuem und Andersartigem zu öffnen. Was in den „einfachen“ Wahrnehmungsgestalten als prägnante Ordnung erschien, offenbarte in der komplexen Lebenswelt spürbare Kehrseiten. Die gelebte Geschlossenheit drohte sich abzuschotten und „dicht zu machen“ – nach dem Motto: „Wir kommen auch ohne Euch zurecht“. Was von vielen als „Insel der Glückseligen“ empfunden wurde, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als „Schmoren im eigenen Saft“. Die wiederholten Klagen über den Zugriff von außen verdichteten sich zu einer Mauer, hinter der sich eine diffuse, aber zerstörerische Gefahr auftürmte: „Draußen herrscht Krieg“. Es machte den Eindruck, als seien mit dem Verlassen der eigenen (Ein-)Stellung unglaubliche Risiken verbunden: „Hebt man den Kopf, wird er gleich abgeschlagen.“ Da blieb nur: „Eingraben und in Deckung gehen – gucken, dass die Lage sich beruhigt.“ Das erlebte „Draußen“ stand dabei

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Die im Folgenden genannten Zitate stammen aus den unveröffentlichten Tiefeninterviews/Untersuchungsprotokollen.

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für eine Welt, die im Grunde unbekannt war („ich verstehe nicht, wer hier genau was tut“), vor der man sich aber fürchtete und in den Schutz der vertrauten Ordnung zurückzog: „Das fordert unterm Strich, dass jeder für sich denkt“. 2. Die Werte der Beschäftigten, ihre Vorlieben und Abneigungen waren widersprüchlich. Stolz und Unbehagen, Skepsis und Zuversicht, Zustimmung und Kritik streuten scheinbar wahllos in der Belegschaft. Die auf Vorstandsinitiative veranlasste Auswertung einer betriebsinternen Befragung hinterließ Ratlosigkeit. Gestaltpsychologisch ordnet sich das scheinbare Meinungschaos – in Ablösung von individuellen Wertungen – sehr deutlich im Spannungsfeld zwischen einem geliebten „Früher“ und einem beklagten „Heute“: „Früher kannte man alle mit Namen. Heute kennt man sich noch vom Sehen“. „Früher waren wir ein eigenes Unternehmen, heute sind es viele Waben“. „Das frühere Zuviel an Emotion wurde heute durch Rationalität ersetzt“. Im Gegensatz zur formal überaus differenzierten Unternehmenshierarchie sahen die Beschäftigten bis weit in Führungspositionen hinein einen untergründigen Gegenlauf von Management und Produktion. Entsprechend wurden je nach Stellung Stärken und Schwächen der Organisation benannt. Auch die am Gesamtunternehmen beteiligten Branchen und Sparten wurden polarisiert: in alt und neu, produktiv und unergiebig, substanziell und peripher. Aufteilungen zogen sich scheinbar wahllos und widersprüchlich durch die Repräsentanten verschiedener Bundesländer, Standorte, Werke und selbst durch einzelne Interviews; einmal ging es um das Oben und Unten, dann um das Alte und das Neue, in wieder anderen Fällen um Produktion und Verwaltung, um Männer und Frauen: „Wie komisch so Frauen sind, worüber die alles reden können, denen fällt noch was ein, wenn sonst keinem mehr was einfällt, Frauen sind einfach so anders, mit denen könnte man nie arbeiten“. Dabei zeigten sich in den Dichotomien durchaus Ansätze einer gestalthaften Umzentrierung: Wie wäre es, die andere Seite zu leben, die Distanz zwischen Oben und Unten zu überwinden, die Grenzziehung zu dem oder der „Anderen“ zu lockern oder aufzugeben? Was sich in den ersten Interviews als eher tastende Suche nach möglichen Grenzüberschreitungen erwies, ließ sich im weiteren Verlauf der Untersuchung allmählich zu einer Entwicklungsperspektive für die Organisationskultur ausbauen. 3. Die Kennzeichnung der Unternehmenskultur als geschlossene Binnenwelt, die durch den Gegenlauf freundlicher und feindlicher Valenzen dynamisiert wurde, konnte in einem dritten Schritt der gestaltpsychologischen Analyse um ein Kultivierungsmuster zentriert werden, das über Wirkungsrichtungen im Feld von „guter“ und „schlechter“ Ordnung hinausgeht. Kultivierung hängt ganz grundsätzlich davon ab, dass Bestände gesichert und Gefährdungen abgewehrt werden. Hier drehte es sich besonders um ein Kultivierungsmuster der Sicherung von „Eigenem“ und der Abschirmung gegen „Fremdes“. Dabei offenbarte die Tendenz zur prägnanten Gestalt ein komplexitätsgefährdendes Moment: Im Dienst des Geschlossen-Haltens wurde Unbeweglichkeit als Hinweis auf die „gute alte Ordnung“ geschätzt, während riskante Entwicklungen von vornherein als feindlicher Übergriff gebrandmarkt und abgewehrt wurden. Alles Förderliche

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wurde in die Logik des geliebten Eigenen gebracht; Anstöße von außen wurden als von außen Auferlegtes etikettiert. Als äußere Zumutung kategorisiert, entzog sich Schädliches demzufolge der kritischen (Selbst-)Reflexion. Lewins Ausweitung des Gestaltparadigmas führte auf dem beschriebenen Weg von den einfachen Gestalten der Wahrnehmung zu komplexen Kultivierungsprogrammen, deren konstruktiver Kern – wie bei Schein (1992) angedeutet – letztlich durch narrative Gestaltmuster geklärt werden kann (Geertz 1987, S. 21; Polkinghorne 1998). In der Wirtschaftsmorphologie sind es die Märchen, deren narrativer Kern das Gefüge spezifischer (Organisations-) Kulturen erschließen. Für die Darstellung der unser Unternehmen kennzeichnenden vereinnahmenden und zugleich abweisenden Binnenlogik wurde das Märchen vom „Wolf und den sieben Geißlein“ herangezogen (Salber 1999, S. 78–81). Die Gestaltlogik eines gefährdeten Geschlossenhaltens von Bewährtem und eines verführerischen Aufschließens für Neues wird in diesem Märchen anhand eines liebendgehassten Mutter-Wolfes durchgespielt. Im Märchen wird eine friedvolle „alte“ Ordnung vermeintlich wehrlos einer gefräßig von außen eindringenden Schreckensgestalt ausgesetzt. Gestaltlogisch ist das „Fremde“ das fremd „Gemachte“ einer hermetischen Ordnung, die ängstlich abwehrt, was nicht ins Schema passt. Der Wolf ist nichts Äußeres, er ist die Mutter in anderer Gestalt – dem Märchen ist die unvollständige Aufspaltung von Mütterlichem und Wölfischem deutlich anzumerken (an der Sprachverwirrung, der Täuschung usw.). Das Konzept wirksamer übergreifender „Klimata“ (Lewin et al. 1939) oder „Kulturen“ (Schein 1995) bleibt nicht bei einfachen Gestaltbildungen stehen. Lewin wie Schein weisen auf die komplexe, überdeterminierte Eigenart der Gestalten im Kultivierungszusammenhang hin. „Der Wolf und die sieben Geißlein“ stellt ein Trennungsproblem von geliebtem Eigenem und gefürchtetem Fremdem heraus; Eigenes macht sich fremd, um sich nicht den Herausforderungen der Verwandlung stellen zu müssen: Lieber träumen von früheren Möglichkeiten als sich dem befremdenden Wandel auszusetzen. Der „Mutter-Wolf“ des Märchens (und seine Emergenz in der exemplarisch dargestellten Unternehmenskultur) ist letztlich gar nicht weit entfernt von den paradoxen Kippfiguren im Wahrnehmungsraum (wie Borings berühmt gewordene Illustration der „Braut und Schwiegermutter“; Boring 1930, S. 444).

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Wegen der historischen Frakturen und Verwerfungen in der Psychologiegeschichte findet die Aktualität der Gestaltpsychologie ihren stärksten Ausdruck in Konzepten, die den frühen Arbeiten von Wertheimer, Köhler und Lewin konzeptuell und methodisch verbunden bleiben – oftmals ohne die Quellen zu kennen oder sie zu benennen. Gerade die Herkunft der qualitativen Psychologie ist ohne den Beitrag dieser ersten grundlegenden Arbeiten nicht rekonstruierbar. Blickt man darüber hinaus auf die explizite Rezeptionsgeschichte der Gestalttheorie, so kann – jenseits

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ihrer unbestreitbaren Ausstrahlung auf die Humanwissenschaften im Allgemeinen – für die Psychologie ein dreifaches Resümee gezogen werden: 1. Gestaltpsychologisches Denken ist nach wie vor – und stärker denn je – weltweit verbreitet im Bereich der klassischen Forschungsgegenstände der frühen Gestaltpsychologie, weit voran in der Wahrnehmungspsychologie. Davon legt nicht nur die große Anzahl an Veröffentlichungen ein beredtes Zeugnis ab, in denen die Theorie und Praxis der visuellen Gestalten fortgesetzt wird, sondern auch die Reihe der von der „Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen“ prämierten Metzger-Preisträger: Sundberg (2007), v. Leeuwen (2007), Pinna (2009), van de Cruys und Wagemans (2011), Steinert (2014). Dass traditionelle Forschungsgebiete der Gestalttheorie gerade in den letzten Jahren wieder in den Blick geraten, zeigt die Neuauflage gestaltpsychologischer Klassiker zur Allgemeinen und Klinischen Psychologie (Goldstein 2012; Koffka 2008; Metzger 2001). 2. Unstrittig ist auch die erfolgreiche Ausweitung des Ansatzes auf Gegenstände, die den experimentell orientierten Begründern des Konzeptes in Graz, Berlin und Leipzig nicht methodisch verfügbar und letztlich auch nicht interessant genug erschienen: wie die erstmals von Lewin erschlossenen Felder der Persönlichkeits-, in Reihe darüber vorziehen Sozial- und Wirtschaftspsychologie (Lewin 2012 [1963], 2009b). Auch entwicklungspsychologische und pädagogische Perspektiven geraten in den letzten Jahren zunehmend in den Blick (Arfelli Galli 2013; Soff 2013). Einen ungefähren Eindruck von der Fülle der Anwendungen vermitteln außer der Zeitschrift „Gestalt Theory“ der kompakte Einblick bei Fitzek (2014) sowie die Übersichtsbände von Fitzek und Sichler (2005) und MetzGöckel (2008, 2011, 2016). Besonders erwähnt werden kann hier auch die in Deutschland und Österreich entwickelte gestalttheoretische Psychotherapie, die sich in Abgrenzung von der Gestalttherapie (von Fritz Pearls) besonders auf Wolfgang Metzger und Hans-Jürgen Walter stützt (Kästl und Stemberger 2005; Stemberger 2002; Walter 1996). 3. Von Anfang an hat die Gestaltpsychologie den Schwerpunkt Wahrnehmung mit Aspekten der (Selbst-)Erfahrung und Behandlung zusammengebracht und die ästhetische Dimension der Gestaltbildung thematisiert. In den Produktionen der Kunst entfaltet das Spannungsfeld von dynamischen, komplexen und ambivalenten Erlebensgestalten seine (ästhetische) Wirkung. Die Prozesse der Produktion und Rezeption von Kunstwerken können deshalb für die Ausdrucksbildung wie für Modellierung von Erlebensprozessen in prototypischer Weise nutzbar gemacht werden. Als erster Gestaltpsychologe hatte schon Rudolf Arnheim auf die bildhafte Logik der Erlebensentwicklung hingewiesen (Arnheim 1967, 1989). Von hier aus verzweigt sich die kunstpsychologische Tradition der Gestalttheorie in die USA (Behrens 2009; Verstegen 2005), nach Deutschland (Salber 1977) und Italien (Bianchi und Savardi 2007; Massironi 1998). Neuerdings findet die ästhetische Dimension der Gestaltpsychologie Eingang ins Feld der Wirtschaftsästhetik (z. B. im Kunstcoaching: Biehl-Missal und Fitzek 2014; Fitzek 2015).

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4. Im Hinblick auf die (qualitative) Methodologie muss erwähnt werden, dass sich die Gestaltpsychologie trotz der zweifelsfreien methodologischen Kompetenz ihrer Gründer (Köhler 1933; Lewin 1981 [1931]) nach einer kurzen Phase der Selbstreflexion (Kebeck 1983; Kebeck und Sader 1984) in Schweigen zurückgezogen hat. War das Konzept ursprünglich erfolgreich gegen philosophischspekulative oder naturwissenschaftlich-empiristische Selbstbeschränkungen der akademischen Psychologie gesetzt worden, so verlagerte es sich mit dem Rückzug der Gründer in praktische Feldarbeit und vernachlässigte seine heute noch aktuelle methodologische Tiefgründigkeit. Mit Manfred Sader (1988) und Norbert Groeben (1997) halte ich es für wichtig, die Chancen des Konzeptes an der Schnittstelle zwischen naturwissenschaftlicher Exaktheit und kulturwissenschaftlicher Sinnorientierung zu nutzen und für den Methodendiskurs der qualitativen Psychologie neu zu erschließen (Fitzek 2008, S. 42).

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Phänomenologische Psychologie Alexander Nicolai Wendt

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehungsgeschichte und historische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretische und methodologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Phänomenologische qualitative Forschung und ihre Aktualität in der Psychologie . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Weil die philosophische Denkströmung der Phänomenologie vielfältige empirische Ansätze inspirieren konnte, ist sie auch für die qualitative Forschung ein fruchtbarer Boden. Dabei entsteht allerdings keine einheitliche Technik oder Methode, sondern eine konsequente und strenge Besinnung auf die Gegebenheitsweisen der ursprünglichen Erfahrung. Deswegen sind Gegenstandsangemessenheit und die Befreiung von theoretischen Präsuppositionen essenzielle Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Perspektiven auf die empirische Psychologie. Nach einer Einführung der Schlüsselbegriffe wird unter Berücksichtigung der Geschichte von der phänomenologischen Orientierung in der Psychologie einerseits die kritische Auseinandersetzung mit dem psychologischen Experiment und andererseits eine hermeneutische Interpretation von Interviews als die typischen Formen der Untersuchung herausgestellt. Auch wenn der Minimalkonsens zwischen diesen Auffassungen forschungspraktisch schwer zu finden ist, erweist sich die phänomenologische Haltung als eine Einstellung, die

A. N. Wendt (*) Psychologisches Institut, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_17

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selbst heterogene Ansätze miteinander in den Dialog zu bringen vermag. Abschließend werden diese Potenziale als Grundlage für qualitative Empirie sowie aktuelle Forschungsprogramme besprochen. Schlüsselwörter

Intentionalität · Deskription · Bewusstsein · Leib · Lebensweltanalyse · Hermeneutik

1

Einleitung

Das Wort „Phänomen“ ist in aller Munde und zweifelsohne gebräuchlicher als sein deutsches Pendant „Erscheinung“, das allenfalls an Geistergeschichten denken lässt. Vielleicht zeigt sich an dieser Bevorzugung des griechischen Ausdrucks, dass seine Bedeutung heutzutage nicht selbstverständlich ist. Der Gebrauch des Wortes deutet jedenfalls darauf hin, dass von etwas die Rede ist, das jemandem auffällt. Eine einheitliche Verwendung gibt es allerdings nicht – und doch lässt sich nicht leugnen, dass es sich beim „Phänomen“ um etwas handelt, das wir erleben, das uns widerfährt oder das sich ereignet. Im Allgemeinen ist nicht nötig, dass dieses „Phänomen“ außergewöhnlich ist, auch wenn es im Alltag so scheinen mag. Zudem muss gar nicht davon ausgegangen werden, dass hinter dem Phänomen – wie noch für Kant (2005 [1787]) – ein eigentliches Ding existiere, das uns nur als eben dieses „Phänomen“ erscheine. Ohne Realitätsprüfung lässt sich schlicht feststellen, dass etwas passiert, das uns auffällt. Die Phänomenologie nimmt von der Strukturanalyse dieses Zusammenhangs ihren Ausgang. Dabei geht es ihr nicht um dasjenige, was im Phänomen erscheint, sondern um die Bestimmung der Struktur, die es zum Phänomen werden lässt: „‚Phänomen‘ ist nicht einfach das Äquivalent im phänomenologischen Jargon zu ‚Sache‘, sondern steckt zugleich die Grenzen ihres Gegebenseins ab: Phänomen heisst Erleben“ (Herzog 1992, S. 220). Historisch betrachtet handelt es sich bei der Phänomenologie um eine der jüngeren philosophischen Bewegungen, die seit Beginn des 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart in vielfältiger Weise Einfluss auf die Wissenschaften ausgeübt hat. Die Haltung der philosophischen Phänomenolog/innen gegenüber der Psychologie war zu Beginn der Wirkungsgeschichte beider Wissenschaften sehr ambitioniert. Ihnen ging es einerseits um eine Korrektur ungerechtfertigter Ansätze, andererseits erwogen sie eine philosophische Grundlegung der psychologischen Wissenschaft. So schreibt Max Scheler von der „Notwendigkeit einer gleichzeitigen phänomenologischen Begründung sowohl der Psychologie als der Ethik“ (Scheler 2007 [1921], S. 201). Das Vorhaben war also ursprünglich die philosophische Fundierung der Psychologie. Zur Psychologie verhalte sich die Phänomenologie wie sich die Geometrie zur Physik verhalte: Edmund Husserl, der gemeinhin als Gründer der Bewegung gilt, spricht von einer „Parallelisierung der reinen Phänomenologie mit der reinen Geometrie“ (Husserl 1987 [1917], S. 114). Das ist nicht verwunderlich, denn zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine institutionalisierte Trennung zwischen Philosophie und Psychologie. Gewissermaßen war die Phänomenologie also sowohl eine Philosophie des Bewusstseins

Phänomenologische Psychologie

103

als auch eine Bewusstseinspsychologie. Spätere Phänomenolog/innen haben von der Idee der Bevormundung der Psychologie durch ein philosophisches Fundament Abstand genommen, bei ihnen handelt es sich um phänomenologische Psycholog/innen im engeren Sinne.

2

Entstehungsgeschichte und historische Relevanz

Die Phänomenologie ist eine heteromorphe, d. h. vielgestaltige Denkrichtung. Es lassen sich mindestens vier selbstständige und bedeutungsvolle Strömungen voneinander unterscheiden, die bereits in den ersten beiden Generationen von Phänomenolog/innen Einfluss gewonnen haben: die transzendentale Phänomenologie (z. B. Fink, Husserl), die Gegenstandsphänomenologie (z. B. Scheler, Pfänder), die hermeneutische Phänomenologie (z. B. Heidegger, Gadamer) und die existenzielle Phänomenologie (z. B. Jaspers, Sartre). Sämtliche dieser philosophischen Strömungen haben sich auf eigenständige Weise in der Psychologie ausgewirkt. Es ist deswegen vor dem „simplifizierenden Reflex: Phänomenologische Psychologie = Husserls Philosophie“ (Herzog 1992, S. 20) zu warnen. Um die Idee einer phänomenologischen Orthodoxie zu vermeiden, bietet sich aber auch an, von „einander ergänzende[n] Arten der Phänomenologie“ (Cusinato 2012, S. 166), also gewissermaßen von Phänomenologien zu sprechen. Gänzlich ohne Simplifizierungen wäre eine Einführung jedoch nicht einführend. Es sei deswegen kursorisch darauf verwiesen, dass die Phänomenologie in Tiefe und Breite beachtliche Entwicklungen durchlaufen hat. Selbst einen Kern ihres Denkens oder ein gemeinsames Programm zu bestimmen, ist nicht ohne Probleme möglich. Dies ist allerdings kein Ausdruck von Inkonsequenz, sondern von einem beständigen Bestreben um das Wesen des Phänomens: Die Phänomenologie ordnet die Methode dem Gegenstand unter, nicht umgekehrt. Moritz Geiger hat zum Ausdruck dieser Authentizität eine gewitzte Variation des berühmten Occam’schen Lehrsatzes gefunden: ,,Entia praeter necessitatem non esse diminuenda“ (Geiger 1933, S. 7) – Phänomene sind nicht unnötig zu simplifizieren. Maximilian Herzog (1992, S. 294) schlussfolgert: „die phänomenologische Methode ist eher mit dem Rasierpinsel als mit dem -messer zu vergleichen“. Nichtsdestoweniger lassen sich einige Aspekte des Phänomens feststellen, die seit den ersten phänomenologischen Forschungen im Brennpunkt der Aufmerksamkeit standen.

2.1

Bedeutung und Intentionalität

Es scheint zunächst eine triviale Feststellung zu sein: „In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urtheile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt“ (Brentano 1874, S. 115). Doch bei genauerer Betrachtung dieser schon Aristoteles vertrauten Struktur der Erfahrung zeigt sich ein revolutionäres Potenzial. Mag es auch selbstverständlich scheinen, dass Erfahrung inhaltlich bestimmt werden kann, so ist es, wie jeder Blick in den

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A. N. Wendt

Alltag beweisen kann, gerade nicht selbstverständlich, was diese Bestimmung der Erfahrung letztlich bedeutet. Wer jemanden hasst, meint natürlicher Weise meist, der oder die Gehasste sei existent, z. B. räumlich. Zugleich herrscht oft die Meinung vor, der eigene Hass sei nicht räumlich, sondern gewissermaßen bloß innerlich wirklich. Deswegen beziehe sich der Hass nicht etwa direkt auf den Gehassten, sondern auf dessen Abbild, sei es auch zutreffend oder täuschend. Wenn Brentano (1874) schreibt, im Hass werde etwas gehasst, so meint er weder den naiven Realismus, dass der eigene Hass ohne Weiteres den wirklichen (i. S. v. äußeren) Gehassten treffe, noch den Idealismus, dass der Gehasste eigentlich nur durch meinen Hass existiere. Vielmehr – und es ist Husserl (2009a [1901]) zu verdanken, diesen Gedanke vollendet zu haben – ist schlicht anzuerkennen, dass vom Standpunkt der bloßen Erfahrung der Gehasste indifferent gegenüber jedem Wirklichkeitsurteil ist. Ob der Gehasste wirklich oder nur halluziniert ist, ändert den Hass nicht. Deswegen ist seine Bestimmung als wirklich für das Verständnis des Hasses als Hass unerheblich. Die Bestimmung des Hasses oder jedes anderen sogenannten Aktcharakters beschränkt sich also auf die Eigenheit, nach der der jeweilige Aktinhalt, etwa der Gehasste, gegeben ist. Im Gegensatz zum Idealismus meint Akt dabei allerdings nicht die Tat oder Handlung, sondern, wie Keller erklärt, den „Eigenvollzug des Erlebens und des Verhaltens“ (Keller 1974, S. 253). Mit dem Bezug des Aktes auf seinen Inhalt bzw. der Bedeutung auf ihre Erfüllung ist die Intentionalität als Anstoßstein der phänomenologischen Bewegung gefunden. Für die phänomenologische Psychologie lässt sich deswegen von einem „axiom of intentionality“ (Graumann 1988a, S. 39) sprechen. Sie opponiert mit diesem Intentionalitätsaxiom allen Ansätzen, bei denen das Bewusstsein wie ein Behältnis zu denken versucht wird – etwa der berühmten Speichermetapher des Gedächtnisses. Außerdem ermöglicht der Gedanke der Intentionalität, die Alternative von objektivistischer – oft als Ideal der Naturwissenschaften – und subjektivistischer Wissenschaft zu überwinden. Die Phänomene sind weder innerlich noch äußerlich, denn die Trennung von Innen und Außen ist der ursprünglicheren Erfahrung nachgeordnet, der sich die Phänomenologie zuwendet. Es geht vielmehr um die Bestimmung der Struktur der Erfahrung, die sogenannte Als-Struktur, die sich daran zeigt, dass „etwas als etwas“ gemeint (intendiert) wird (Waldenfels 2015, S. 242). Demnach wird jene Subjekt-Objekt-Spaltung erst durch diese präreflexive Einheit des intentionalen Aktes möglich.

2.2

Deskription und Reduktion

Mag mit der Intentionalität auch das Axiom der Phänomenologie angeführt sein, so fehlt zur Einsicht noch die Methode. Sie findet ihre Reinform in Husserls „Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei“ (Husserl 2009b [1913], S. 51). Mit dieser Formel ist ausgedrückt, dass alle Erlebnisse im Bewusstseinsstrom, also sämtliche lebendigen Widerfahrnis-

Phänomenologische Psychologie

105

se in ihrer jeweiligen Art und Weise eine Einsicht erlauben. Jedoch handelt es sich dabei keinesfalls um die Einladung zur Anerkennung jedweden subjektiven Eindrucks als allgemein gültiger Erkenntnis, also zum sogenannten Intuitionismus. Vielmehr ist das Anliegen der Phänomenolog/innen, jedem Erlebnis seinen rechten Platz zuzuweisen, jeden Anspruch auf Evidenz zu prüfen und eine Ordnung der Erfahrungsformen zu gewinnen. Hier gewinnt sie ihre größte Nähe zur sogenannten deskriptiven Psychologie im Sinne Wilhelm Diltheys (1894): Um die Erfahrung zu begreifen, bedarf es ihrer präzisen Beschreibung. Trotz dieser methodischen Nähe geht die Phänomenologie in mindestens zwei Aspekten über die deskriptive Psychologie hinaus. Erstens verwirft sie die Spaltung von beschreibender und erklärender Wissenschaft, denn diese Trennung findet sich nicht in der Ursprünglichkeit der Erfahrung. Zur Deskription gesellt sich somit die „eidetische Methode“, also die Wesenserfassung der Erfahrungsstruktur, die nicht auf die bloß aktuelle Beschreibung in der Introspektion einer Einzelperson beschränkt werden kann. Zweitens enthält sich die Phänomenologie von jedwedem Daseinsurteil, sodass mit ihr von empirisch Zufälligem abgesehen werden kann. Dieser entscheidende Schritt wird als Reduktion bezeichnet: Es handelt sich um eine Blickwendung weg von den Dingen, die uns im Alltag als selbstverständlich erscheinen, zur Selbsterfahrung, die allen Wechsel von Tatsachen überdauert. Wie diese Reduktion jedoch im Einzelnen durchzuführen sei, ist Streitpunkt der Phänomenolog/innen – Husserl selbst kennt eine Vielzahl von Reduktionen, darunter prominent die „historische“, die „psychologische“, die „phänomenologische“ und die „transzendentale“ Reduktion. Sie entsprechen jeweils bestimmten Erfahrungsformen und Erkenntnisansprüchen. Bei Eugen Fink (1966 [1933]) findet sich eine Klarstellung: Die Reduktion (in begrifflicher Nähe zur „Epoché“) „ist als Ausschaltung des Weltglaubens keine Außer-Geltung-Setzung eines schon als Glauben erkannten Glaubens, sondern ist in Wahrheit erst die eigentliche Entdeckung des Weltglaubens, die Entdeckung der Welt als eines transzendentalen Dogmas; mit anderen Worten, die Epoché macht erst den Weltglauben in der ursprünglichen Tiefe zugänglich, in welcher er eingeklammert werden muß, um als ‚Phänomen‘ Thema der Phänomenologie zu sein.“ (Fink 1966 [1933], S. 116)

Für die Psychologie zeichnet sich hier bereits ab, dass die „Grundhaltung des ‚offenen Empirismus‘“ (Herzog 1992, S. 28) keine Verpflichtung auf einen methodischen Königsweg zulässt. Das wichtigste Kriterium phänomenologischer Psychologie ist die Adäquatheit der Deskription zur eigentlichen Erfahrung. Grundsätzlich lässt sich also ein Methodenpluralismus festhalten, der jedoch im Prinzip aller Prinzipien gebündelt ist: Ein elaborierter Apparat zur Datenanalyse beispielsweise kann Phänomenolog/innen nur so viel wert sein, wie es der Begriff der „Daten“ für das Verständnis von Erfahrung einträgt. Wichtiger ist die (nicht jedoch nur sinnliche) Anschauung, also das Sehen (griechisch: νoεῖν) der lebendigen Weite und Tiefe der Erfahrung – und problematisch somit deren ungerechtfertigte Simplifizierung (die bei Konzepten wie Daten und Informationen stets droht).

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2.3

A. N. Wendt

Bewusstsein und Subjektivität

Der Begriff des Bewusstseins scheint in der Psychologie der Gegenwart eher gemieden zu werden. Einerseits ist er vornehmlich durch die psychoanalytische Differenzierung von Unbewusstem und Bewusstem besetzt, andererseits sind Konstrukte und Modelle wie Vigilanz und Arbeitsgedächtnis handlicher und unverfänglicher, weil sie keine metaphysischen Altlasten tragen. Die Suche nach dem eigentlichen Wesen der Erfahrung bleibt so jedoch aus, weswegen es sich bei der zeitgenössischen Forschung oftmals eher um sogenannten positivistischen Phänomenalismus (für den Bewusstsein nur Epiphänomen ist) als um phänomenologische Psychologie handelt, und damit Bewusstsein als unzulässiger Gegenstand der Psychologie aufgefasst wird. Alexander Pfänder hat schon früh einen Einwand gegen diese Einstellung vorgetragen: „Daß die phänomenologische Erforschung des Psychischen eine sehr schwierige, ja wohl die schwierigste Aufgabe der Psychologie ist, das ist ja zweifellos. Man darf aber über diese Schwierigkeit nicht dadurch hinwegzukommen suchen, daß man aus einer vielleicht bestehenden subjektiven Unfähigkeit eine objektive Unmöglichkeit macht. Auch durch eine falsche Aufgabenbestimmung der Psychologie sucht man der Schwierigkeit phänomenologischer Untersuchungen auszuweichen, indem man erklärt, die Psychologie habe sich gar nicht um das Wesen und die Beschaffenheit der seelischen Tatsachen selbst zu kümmern, sondern sie habe nur die gesetzmäßigen Beziehungen der Tatsachen möglichst genau festzustellen. Es ist eine bestimmte Theorie über die Aufgabe der Naturwissenschaften, die hier unberechtigterweise auf die Psychologie übertragen wird.“ (Pfänder 1913, S. 328)

Der Begriff des Bewusstseins muss dabei allerdings nicht so schwerfällig anmuten wie die „seelischen Tatsachen“. Gespeist mit der Lebendigkeit von Vordenkern wie Henri Bergson und Wilhelm Dilthey vermochte die Phänomenologie sich von dem transzendentalen Erbe des 19. Jahrhunderts zu befreien. Es blieb ein leichtfüßigerer Begriff vom Bewusstsein, der in der erlebten Dauer des Bewusstseinsstroms (im Sinne von William James 1890) seinen besten Ausdruck findet: „Bewusstsein ist nicht auf Adaptation und Selektion zurückführbar, sondern selbst ein kreativer und gegen die Zukunft hin offener Motor in der evolutiven Entwicklung“ (Herzog 1992, S. 131–132). Gemeint ist also die spontane Kraft der Subjektivität und Selbstheit, die sich aller Naturalisierung entzieht. Die „Jemeinigkeit“ (Heidegger 1927) aller Erlebnisse macht einen wesentlichen Unterschied zur Dritten-Person-Perspektive der Naturwissenschaften aus, die nämlich nicht ohne die Berücksichtigung der Struktur von Erfahrung verstanden werden kann. Hieraus ergibt sich für die Psychologie ein Auftrag, gemäß dem Prinzip aller Prinzipien der Erfahrung treu zu bleiben und psychische Phänomene nicht ohne Blick auf deren Bedeutung zu erklären. In den Worten William Sterns: „Keine Gestalt ohne Gestalter“ (Stern 1950, S. 153).

Phänomenologische Psychologie

2.4

107

Lebenswelt

Auf dem Weg von einer philosophischen Einstellung zum Wesen der Erfahrung hin zu einer qualitativen Methode der empirischen Psychologie nimmt die Phänomenologie in der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Lebens ihre fruchtbarste Form an. Schon die Lebensphilosophie hatte die Thematik des Lebens in den Mittelpunkt gerückt, die auch für den Begriff des Erlebens die Grundlage ist: „Leben bedeutet nicht die isolierte Subjektivität, sondern die Ganzheit des Selbst und Welt gemeinsam umspannenden Bezugs“ (Bollnow 1980 [1936], S. 43). Diese Betrachtungsweise ist die geistesgeschichtliche Herkunft für Husserls Begriff der Lebenswelt. Seinen Ausgang nimmt dieser Begriff in der Reflexion auf den Hintergrund aller Erfahrung, die Verwiesenheit jedes Erlebens auf ein „Mehr“ an Sein und ein „Weiter“ an Zeit. Für diesen Zusammenhang findet Husserl (1968, S. 6) den Ausdruck „Horizont“, dessen Bestimmung oftmals versucht wurde. Im Wesentlichen handelt es sich um den Gedanken einer Kontinuität gegenständlichen Erlebens, welche die Bedeutung jeden Erlebnisses auf dem Hintergrund einer Welt erscheinen lässt. Zur Lebenswelt wird die Welt mit dem Blick auf die Verortung des Subjektes in ihr. Sie ist die „raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen hinaus als erfahrbar wissen. Wir haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfahrung“ (Husserl 1954, S. 141). Es geht also gerade nicht um die naturwissenschaftlich prägnante Idee, die Erscheinungen in physische Elemente aufzulösen, sondern darum, den Platz der Erfahrung zu würdigen, ohne die Phänomene des Lebens zum Schein zu erklären. Es wird so ersichtlich, dass die Phänomenologie einen privilegierten Zugang zu allem sucht, das diesseits der psychologischen Erklärung des Zusammenhangs von erlebter Bedeutung und deren kausaler Verursachung steht. Gewissermaßen steht sie Wache an den Phänomenen, gibt Acht, dass die lebensweltliche Komplexität der Erfahrung nicht auf der Suche nach dem sparsamsten Modell geopfert wird. Doch fern davon, bloß ancilla scientiae, Magd der Wissenschaft zu sein, ist der Begriff der Lebenswelt Ausgangspunkt für ein eigenständiges wissenschaftliches Programm, das sich, z. B. in der Heidelberger Phänomenologie, mit der „Umwelt als Konkretion der Lebenswelt“ (Herzog 1992, S. 321) auseinandersetzt (siehe Abschn. 3.4). Umwelt meint – im Sinne einer lebensweltlichen Umwelt – nicht einen objektiven Bestand, sondern ist im Geiste des Intentionalitätsaxioms auf die Subjektivität verwiesen. Es lässt sich eher davon sprechen, dass die Umwelt bewusst ist, weil sie nicht nur vorhanden ist, sondern auch nahegebracht wurde. Die Relevanz dessen, was uns umgibt, deckt sich nicht mit der räumlichen oder sozialen Gegenwart. Es gilt stattdessen, die Person-Umwelt-Relation zu erforschen, die sich z. B. aus historischen, aber auch leiblichen Aspekten bestimmen lässt.

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2.5

A. N. Wendt

Leib

Mit dem Begriff des Leibes ist ein einzigartiger Beitrag zur Wissenschaft bezeichnet, der mustergültig mit diversen Feststellungen der empirischen Psychologie harmoniert. Er ist die Brücke der Phänomenologie zu fundamentalen Problemkreisen wie Intersubjektivität und Verkörperung. Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dass die Erfahrung in ihrem Wesen an die Verfassung des In-der-Welt-Seins gebunden ist. Die Lebenswelt ist also auf jeweils charakteristische Weise erschlossen, weil sie Ausdruck eines Bewusstseins ist, das nicht auf eine cartesianische res cogitans, also eine ideale Denksubstanz, beschränkt ist. Wichtig ist, dass trotz der anschaulichen Prägnanz von Begriffen wie Lebenswelt und Leib kein Rückschritt in einen unkritischen Realismus erfolgt, wie den Phänomenolog/innen vonseiten der (neukantianischen) Kritizist/innen, wie beispielsweise Rickert (vgl. Fink 1966 [1933]) wiederholt vorgeworfen worden ist. Die Rede ist also keinesfalls von der Gesichtswahrnehmung des biologisch bestimmten empirischen Auges, sondern von der Bedeutung des Visuellen für die Wahrnehmung – das Wesen des Sehens ist, dass es sich auf etwas Gesehenes richtet, ganz unabhängig davon, ob irgendjemand tatsächlich irgendetwas sieht oder die Welt in Dunkelheit versinkt. De facto ist damit letztlich gemeint, dass die empirische Erfahrung nicht zum Kriterium der Geltung erhoben wird. Vielmehr ist ihr Beitrag durch die Anschaulichkeit bestimmt. Breyer spricht in diesem Zusammenhang vom „(quasi-)experimentellen Charakter der Phänomenologie“ (2011, S. 83). In diesem Sinne sagt Scheler (1957): „Noch weit reicher und fruchtbarer aber sind die faktischen Beziehungen der Phänomenologie des Psychischen und Physischen zu den Arbeiten, die heute unter der Rubrik ‚experimentelle Psychologie‘ veröffentlicht zu werden pflegen. Nicht alle diese Arbeiten und noch weniger alle wahren Resultate, die diese Arbeiten enthalten, haben einen induktiven Sinn in der Art, daß das Erlebnis, das durch die experimentelle Technik hervorgerufen wird, als dasselbe wiederholbar wäre, beobachtet würde und aus diesen Beobachtungen induktive Sätze gewonnen würden. Vielfach sind vielmehr diese Experimente nur ‚Veranschaulichungsexperimente‘, durch die eine im Wesen des betreffenden Erlebnisgehaltes liegende Stufe seiner Bildung zu unmittelbarer Anschauung gebracht wird.“ (Scheler 1957, S. 389)

Die Kategorie des Leibes ist intentional auf die Situation verwiesen und gestattet es der Psychologie somit, die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu verorten. Das Beispiel der Intersubjektivität kann dies verdeutlichen: Mit Merleau-Pontys Ausdruck der „Zwischenleiblichkeit“ (Merleau-Ponty 2004 [1964], S. 185) ist der Bezug unserer leiblichen Erfahrung auf Andere bezeichnet. In Eindrücken wie der Doppelempfindung beim Berühren der eigenen Haut, wenn sich die Wechselwirkung von Tasten und Fühlen manifestiert, zeigt sich, dass unsere Erfahrung über die Grenze des eigenen Körpers hinausweist. Wer diese Einsicht gewinnt, kann schnell das große Potenzial in der psychologischen Praxis nachvollziehen (z. B. Fuchs 2003).

Phänomenologische Psychologie

3

109

Theoretische und methodologische Grundlagen

Dass die verfügbaren Ansätze heteromorph sind und deswegen der Begriff der Phänomenologie mitnichten einen einheitlichen Forschungszusammenhang bezeichnet, findet in der Skepsis von Graumann und Métraux (1977) gegenüber dem Titel „phänomenologische Psychologie“ und der respektiven Bevorzugung der Bezeichnung „phänomenologische Orientierung in der Psychologie“ seinen Ausdruck. Es ist mithin schwierig, einen Minimalkonsens der phänomenologisch orientierten Forschung zu formulieren – bereits, weil die Phänomenologie weitgehend antiformalistisch ist. Ein Beispiel ist jedoch in Godinas Arbeit zu finden, die sich der Anwendung der phänomenologischen Untersuchungsformen in den Sozial- und Geisteswissenschaften widmet. Godina skizziert sieben Schritte, die in zahlreichen Variationen bzw. mit teilweisen Beschränkungen in einer Vielzahl von phänomenologischen Ansätzen durchgeführt werden: 1. Bewusstmachung des natürlichen Bewusstseins und der Generalthesis; 2. Bewusstmachung der Intentionalität; 3. Ausweitung der eidetischen Variation; 4. Wahrnehmen der Grenzen des Gegenstandes; 5. eidetische Reduktion; 6. phänomenologisches Bewusstsein; 7. absolutes Bewusstsein (Godina 2012, S. 48–50). In forschungskonzeptueller Hinsicht spricht Herzog zudem von „drei unabdingbare[n] methodologische[n] Voraussetzungen: Gegenstand der Psychologie ist die intentionale Person-Umwelt-Relation (l); die intentionale Relation ist sinnhaft (2); die Sache bestimmt über die Methode (3)“ (Herzog 1992, S. 508). Als phänomenologisch-psychologische Ansätze wurden diese Programmpunkte allerdings verschieden, wenn auch im Kern ähnlich aufgegriffen. Dabei sollte zwischen denjenigen Psycholog/innen, die phänomenologische Psychologie unabsichtlich begünstigt haben und denjenigen, die sich zur phänomenologischen Psychologie bekannt haben, unterschieden werden. Die erstgenannten können mit einem Ausdruck Gadamers als anima naturaliter phaenomenologica (Gadamer 1987, S. 20) bezeichnet werden, also gewissermaßen als phänomenologische Psychologen avant la lettre. Beispiele mit merklichem Einfluss auf die Psychologie sind die Grazer Schule um Alexius Meinong und die Psychologie der vitalen Situationen von Eduardo Nicol. Zu den prominentesten phänomenologischen Psychologien im zweiten Sinne gehört die Utrechter Schule um Frederik Buytendijk und Johannes Linschoten, die Heidelberger phänomenologische Psychologie um Carl Friedrich Graumann, die Kopenhagener Phänomenologie, deren Gründung sich auf Edgar Rubin zurückführen lässt, und die phänomenologische Methode von Amedeo Giorgi. Die Menge dieser Gruppierungen umfasst abgesehen von wenigen vereinzelten Beiträgen, die oftmals auf einzelne Forscher/innen beschränkt bleiben, die wichtigsten Versuche, die Phänomenologie für die Psychologie fruchtbar zu machen.

110

3.1

A. N. Wendt

Die Grazer Schule

In der Gründungsphase der Psychologie wendeten sich viele Psycholog/innen der Erklärung der Wahrnehmung zu, so etwa in der Psychophysik. Im Zuge ihres Forschens wurden die Bedingungen der empiristischen Assoziationspsychologie zusehends infrage gestellt. Eine wichtige Rolle hatte dabei die Entdeckung von organisierten Vielheiten als Gegenstand der Wahrnehmung, die Christian von Ehrenfels (1890) als „Gestaltqualitäten“ bezeichnete. Von Ehrenfels war ein Schüler Alexius Meinongs, des Gründers des psychologischen Instituts in Graz und der als „Grazer Schule“ bekannten Richtung der Wahrnehmungspsychologie. Gestaltqualitäten hat von Ehrenfels an denjenigen Erlebnissen festgestellt, in denen Sinneseindrücke nicht allein nebeneinander, sondern in Relation zueinander erscheinen, so etwa beim Blick in den Himmel und auf die Sterne, die als organisierte Vielheit wahrgenommen würden. Meinong (1907) versuchte, das von seinem Schüler aufgezeigte Phänomen mit seiner sog. Gegenstandstheorie zu erklären. Im Kern stand dabei, dass die bloßen Sinneseindrücke als Inferiora der Wahrnehmung, d. h. als elementare Sinnesreizungen, um Superiora ergänzt würden, also Gegenstände höherer Ordnung, die durch die Inferiora fundiert seien wie Melodien durch einzelne Töne. Aron Gurwitsch, ein Phänomenologe, der sich ausführlich mit Themen der Psychologie beschäftigte, hat den Bezug zwischen der Grazer Schule und der Phänomenologie hervorgehoben. So habe Meinong beispielsweise Husserls Begriff der „kollektiven Verbindung“ (Gurwitsch 1975, S. 55) in seiner Gegenstandstheorie verwendet, und Husserl umgekehrt die „Unterscheidung zwischen vorgestelltem Gegenstand und Vorstellung“ als einen „überaus wertvolle[n] Beitrag der Grazer Schule“ (Gurwitsch 1975, S. 58–59) diskutiert. Gemeinsam sei der Grazer Schule und den phänomenologischen Überlegungen, dass bei dem Verständnis der Gestaltqualitäten, die bei Husserl als „figurale Momente“ bezeichnet werden, die Konstanzannahme, „daß Sinnesdaten durch sinnliche Gegebenheiten höherer Ordnung – die sie fundieren – weder modifiziert noch qualifiziert werden“ (Gurwitsch 1975, S. 78) im Gegensatz zur Gestaltpsychologie nicht aufgegeben wird. Daraus folgt, dass die Grazer Schule und die Phänomenologie bei der Beschreibung von Gestaltqualitäten nicht-sinnliche Gegebenheiten thematisieren. Die Superiora sind hier also nicht selbst in den Sinneseindrücken, sondern in anderen, die Vielheit der Sinneseindrücke organisierenden Akten gegeben – wobei diese Akte bei Husserl gleichfalls anschaulich, aber nicht sinnlich sind. Es mag so wirken, als sei mit dem vornehmlich wahrnehmungspsychologischen Thema der Grazer Schule auch eine Einschränkung ihrer Relevanz für die zeitgenössische Forschung gegeben, die sich kaum noch der Wahrnehmungspsychologie widmet. Tatsächlich ist es aber die Phänomenologie, der es gelingt, die Bedeutung dieser Einsichten anzuzeigen, denn die Gegebenheit von Ganzheiten wird auch außerhalb der Sinneswahrnehmung erlebt, etwa bei der emotionalen Ausdruckswahrnehmung: Im Lächeln die Freude des Mitmenschen wahrzunehmen, ist keine Summierung von einzelnen Sinneseindrücken, sondern die Wahrnehmung eines figuralen Moments bzw. einer Gestaltqualität. Durch Gurwitschs Schüler/innen sind

Phänomenologische Psychologie

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diese Themen in den nordamerikanischen Diskurs eingebracht worden und auch in der gegenwärtigen Debatte relevant (z. B. Embree 2004).

3.2

Psychologie der vitalen Situationen

Während sich die Psychologie zahlreicher Industriestaaten bereits im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, war das Aufkeimen einer eigenständigen psychologischen Strömung in den spanischsprachigen Ländern bis in das 20. Jahrhundert verzögert. Ein Hoffnungsträger für das Prestigeprojekt einer iberischen oder lateinamerikanischen Psychologie war Eduardo Nicol, der als gebürtiger Spanier im mexikanischen Exil mit seiner „Psychologie der vitalen Situationen“ (Nicol 1941) einen phänomenologischen Ansatz vorlegte, der selbst in der englischsprachigen Welt Beachtung gefunden hat. Das Zentrum seiner Überlegungen ist, das Leben des Menschen aus seinen Situationen heraus zu erschließen. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist eine Kritik der psychologischen Methodologie. Ausgehend von der Frage nach der Validität der Introspektion – einer Frage, die in der philosophischen Phänomenologie gemeinhin viel Beachtung gefunden hat (für eine Übersicht siehe Gallagher und Sørensen 2006) –, schließt sich Nicol der Position Henri Bergsons an, der darauf aufmerksam machte, dass das innere Zeitbewusstsein nicht nach räumlichen Prinzipien begriffen werden dürfe. Damit ist beispielsweise gemeint, dass den Bewusstseinsstrom in der psychologischen Analyse zu zerlegen, so als seien Gedanken und Empfindungen separate Teile des Subjekts, einen Widerspruch zum Wesen des Bewusstseins selbst darstellt. Eine nicht-reduktionistische Psychologie müsse demgegenüber die Ganzheit des Bewusstseins zum Ausgangspunkt nehmen. Dies sei aber nicht mit einem Rückzug in die introspektive Denkpsychologie gleichzusetzen. Nicols Überlegungen gründen vielmehr auf der Annahme einer existenziellen Seinsweise, dass Menschen Handelnde sind. Ausgehend von seinem existenziellen Handlungsbegriff gewinnt er den Zugang zur Situation als dem expressiven Korrelat der Totalität des Bewusstseins. In anderen Worten, die Erfahrung wird in den vitalen Situationen lokalisiert und temporalisiert. Die Aufgabe der Psychologie wird somit, die Bedeutung der Situationen zu verstehen und ihre Formen zu unterscheiden. Ein Vorschlag beispielsweise, den Nicol zur Klassifizierung von Situationen vorträgt, ist, permanente und transistorische Situationen voneinander abzugrenzen. Die Frage, die sich in der empirischen Psychologie an Nicols Denken anschließt, richtet sich auf Operationalisierungen und Beobachtungsstrategien. Das Bindeglied, das Nicol vorschlägt, ist der Begriff des Ausdrucks. In seiner späteren – allerdings philosophischen – Schrift „Metaphysik der Ausdrücke“ (Nicol 2003) werden für empirische Projekte dieser Art die Voraussetzungen geschaffen. Seine zentrale Einsicht ist, dass die Psychologie ihrem Auftrag der Fremdbeobachtung nur gerecht wird, wenn klar bleibt, dass alles beobachtete Verhalten im Horizont eines bedeutungsvollen Handelns steht und für das bewusst erlebende Subjekt nur im Zusammenhang von Situationen besteht. Mit seiner sog. „dialektischen Phänomenologie“ (Cortés Sánchez 2014) ist Nicol somit ein psychologus naturaliter phaenomenolo-

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gicus, auch wenn die empirische Umsetzung seines Denkens im Sinne der phänomenologischen Psychologie als qualitativer Methode im ähnlichen Ansatz der Heidelberger phänomenologischen Psychologie (Abschn. 3.4) einfacher gelingen kann. Die Rezeption von Nicols Werk reichte bereits früh über den spanischsprachigen Raum hinaus (z. B. Kubitz 1943). Die Weiterentwicklung des phänomenologischen Ansatzes im Kontext von Nicols Ansatz erfolgte jedoch vorrangig in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko durch José Gaos und Joaquín Xirau (für eine Übersicht siehe Zirión 2000). Auch in der Gegenwart erfolgt die Auseinandersetzung mit der Psychologie der vitalen Situationen trotz ihrer innovativen Potenziale weitgehend in spanischer Sprache (García 2017).

3.3

Utrechter Schule

Die erste psychologische Bewegung, die sich (abgesehen von einzelnen Pionieren wie Hans Kunz) zur phänomenologischen Psychologie bekannt hat, ist die Utrechter Schule. Ihre Gründung wurde 1946 mit der Berufung von Frederik Buytendijk auf den Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Psychologie an der Universität Utrecht ermöglicht. Als Autodidakt und Eklektiker lieferte Buytendijk allerdings nicht nur psychologische wissenschaftliche Beiträge, sondern zudem biologische, anthropologische oder physiologische. Die sog. Utrechter Schule bestand überdies nicht aus einer Schüler/innenschaft Buytendijks, sondern in erster Linie aus einem losen und interdisziplinären Zusammenschluss von Utrechter Wissenschaftler/innen, die ein Interesse für Phänomenologie einte (van Hezewijk und Stam 2008). Ein wichtiger Teil der genuin psychologischen Bedeutung der Utrechter Schule ging von Johannes Linschoten aus, der bei Buytendijk zur Tiefenwahrnehmung promoviert hatte. Seit der Mitte der 1950er-Jahre bis zu seinem frühen Tod 1964 beschäftigte er sich mit der Möglichkeit und empirischen Wirklichkeit einer phänomenologischen Psychologie als wissenschaftstheoretischem Programm. Dabei nutzte er die Auseinandersetzung mit Husserls Gedanken, aber auch mit Maurice Merleau-Pontys Leibphänomenologie, Themen wie Verkörperung, SubjektUmwelt-Beziehung und Kommunikation in die Psychologie einzuführen. Sein vorrangiger Beitrag war kritisch. So gelang ihm beispielsweise, auf der Grundlage phänomenologischer Überlegungen etablierte wahrnehmungspsychologische Erklärungen der Tiefenwahrnehmung etwa von Jean Hering oder Hermann von Helmholtz zu widerlegen. Seine Experimente waren unterdessen nicht durch statistische Überprüfung gerechtfertigt, sondern durch Anschaulichkeit, eine empirische Kategorie, die auch in den Schlüsselexperimenten der Gestaltpsychologie zum Tragen gekommen war (etwa beim Phi-Phänomen, Wertheimer 1912): Sie ließen sich durch jeden in der eigenen Erfahrung nachvollziehen, wie beim Panum Effekt (Abb. 1). Überdies war Linschoten aber auch methodologisch an der Frage nach der Möglichkeit einer rein phänomenologischen Psychologie interessiert. Dabei entwickelte er eine durchaus skeptische Haltung gegenüber vornehmlich hermeneutischen Konzeptionen, die in der Interpretation den wichtigsten Beitrag der Phänomenologie sehen. Dies kann neben der Emeritierung Buytendijks als wesentlicher Grund für

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Abb. 1 Der Panum Effekt: Werden im Stereoskop dem linken Auge eine, dem rechten Auge zwei Linien präsentiert, besteht die Tendenz der Verschmelzung der Linie vor dem linken Auge mit einer der Linien vor dem rechten Auge. Verschmilzt beispielsweise die Linie A mit der Linie B, so erscheint die resultierende Linie den Betrachter/innen näher als die verbleibende Linie C. Abbildung nach Roelofs 1960

den frühen Niedergang der Utrechter Schule in den 1960er-Jahren betrachtet werden. Somit beinhaltete deren verhältnismäßig kurze Hochphase neben der kreativen Initiative auch wissenschaftstheoretische Selbstkritik, die sich in den Titeln zahlreicher Veröffentlichungen widerspiegelt, etwa in der Aufsatzsammlung „Begegnung“ von Langeveld (1957) oder dem ersten und einzigen Band der Zeitschrift „Situation“ (1954).

3.4

Heidelberger phänomenologische Psychologie

Die Bedeutung der Utrechter Schule reicht trotz ihres nur kurzen Bestehens als eigenständige Schule über eine regionale Konzentration phänomenologischer Gedanken in der Psychologie hinaus. Sie war Quelle und Dialogpartnerin weiterer Ansätze wie etwa der Heidelberger phänomenologischen Psychologie, deren Gründer, Carl Friedrich Graumann, in persönlichem Austausch mit Linschoten stand. Graumanns Berufung an die Universität Heidelberg 1963 fiel jedoch bereits in die Spätphase der Utrechter Schule. Zu diesem Zeitpunkt hatte er mit seiner Schrift „Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität“ (Graumann 1960) bereits die Grundzüge seines Programms ausgearbeitet. Mit Blick auf den Begriff der Perspektivität ist eine vordergründige Kontinuität mit der in Graz und Utrecht thematisierten Wahrnehmungspsychologie erkennbar. Die einleitende Auseinandersetzung mit der Zentral- und Körperperspektive in der Kunstgeschichte scheint diese Ausrichtung zu bestätigen, doch tatsächlich ist es Graumanns Vorhaben, auf Grundlage dieses wahrnehmungspsychologischen Ansatzes die „perspektivische Struktur des Weltinnewerdens“ (Graumann 1960, S. 32) zu untersuchen. Er stellt heraus, dass für Husserl, Sartre, Merleau-Ponty, Gurwitsch und Linschoten Perspektivität vorrangig in der Phänomenologie der Wahrnehmung relevant wurden. Demgegenüber suchte Graumann nach der „kognitiven Durch-

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gängigkeit der Perspektivität“ (Graumann 1960, S. 75). Die Wahrnehmung wird somit zum womöglich prominentesten Fall von Perspektivität, doch an ihrer Seite werden andere Aspekte wie etwa sozialpsychologische Perspektivität relevant. Statt die Gegenstandsbereiche der Psychologie, wie in der positivistischen Forschungstradition üblich zu partikularisieren, zielte Graumann darauf ab, verschiedene Phänomenklassen zu integrieren. Ein wichtiger Gewährsmann seines Ansatzes war dabei Kurt Lewin, der mit seinen feldtheoretischen Überlegungen zu sozialen Phänomenen bereits in den Zwischenkriegsjahren insbesondere im Rahmen seiner topologischen und hodologischen Psychologie die weitere Bedeutung von ursprünglich wahrnehmungspsychologischen Konzepten exploriert hatte (Lewin 1936). Die phänomenologische Analyse musste also über Begriffe der Wahrnehmungspsychologie wie Blickpunkt und Raum hinausgehen. Mit dem sog. horizontalen Verweisungs-Gesamt wurde dabei eine Struktur erarbeitet, welche die Perspektivität als Fundament der Erfahrung zugänglich machte: Mit „horizontal“ ist der Horizont als Grenze des Gegebenen, mit „Verweisung“ der Bezug der Erfahrung auf eine implizite Weltlichkeit und mit „Gesamt“ die Teil-Ganze-Relation, die bereits durch die Gestaltqualitäten angezeigt wurde, gemeint. Letztlich gewinnt Graumann auf diesem Wege einen phänomenologischen Begriff der Situation. Bis zum Erlöschen der phänomenologischen Psychologie als Forschungstradition in Heidelberg Anfang der 1990er-Jahre sollte der Begriff der Situation ein Leitmotiv dieser Strömung bleiben, so beispielhaft in den Arbeiten „Räumliche Umwelt“ von Lenelis Kruse (1974) und „Psychologie der Situation“ von Erika Schott (1991). Ein weiteres Thema in Heidelberg war die Fortsetzung des von Linschoten bereits 1961 begonnenen „Wege[s] zu einer phänomenologischen Psychologie“ (Linschoten 1961) als wissenschaftstheoretisches Paradigma. Wichtige Beiträge lieferten die als Buch vorgelegte Habilitation „Phänomenologische Psychologie“ von Maximilian Herzog (1992) und der Aufsatz „Die Phänomenologische Orientierung in der Psychologie“ (Graumann und Métraux 1977). Ihr Programm sieht vier Punkte vor: Kritik des Reduktionismus, den Begriff des Subjekts, den Begriff der Intentionalität und die Situationsanalytik. Die Situationsanalytik, die Graumann und Métraux ausgehend von Ansätzen der Utrechter Schule weiterentwickelten, ist dabei einer der wichtigsten genuin phänomenologischen Beiträge zu qualitativen Methoden in der Psychologie. Als Ansatz für diese Analytik formulieren Graumann und Métraux: „Situation ist [. . .] Bezugssystem in einem doppelten Sinn: Sie ist das je konkrete Beziehungsganze, in dem die Person ‚situiert‘ ist (wahrnimmt, handelt, leidet, kommuniziert usw.), und dessen Sinn in diesen Aktivitäten verwirklicht wird. Damit wird sie aber zweitens diejenige Einheit, auf die wir uns forschend beziehen müssen, und deren Struktur herauszuarbeiten die erste Leistung einer Psychologie wird, die sich das Verstehen menschlichen Handelns zur Aufgabe setzt.“ (Graumann und Métraux 1977, S. 47)

Die Situationsanalyse bezeichnet somit ein Forschungsprogramm, das die „intentionale Person-Umwelt-Relation“ (Graumann 1985, S. 43) untersucht. Dies erfolgt in einer dezidierten Zurückweisung von einem Elementarismus, der Verhalten durch eine Konstellation von isolierten Einflüssen zu erklären versucht: „Es genügt bei der

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Analyse von Verhalten nicht (wie es im behavioristischen Forschungsprogramm versucht wurde), es nur so aufzufassen, als stünde es unter der Kontrolle von physischen Stimulusbedingungen“ (Graumann 1988b, S. 539). In diesem Sinne ist die Situationsanalyse eher ein wissenschaftstheoretischer als ein methodologischer Beitrag. Exemplarisch lässt sich an ihrer Generalität der Mangel der phänomenologischen Psychologie nachvollziehen, praktisch verwendbaren Methoden etabliert zu haben.

3.5

Die Kopenhagener Phänomenologie

Die Kopenhagener Phänomenologie ist eine dänische Tradition des psychologischen Denkens, die von Edgar Rubin (1921) begründet wurde und auf die systematische Beschreibung psychischer Charakteristika zielt. Bei der Entwicklung der Kopenhagener Philosophie kommt neben Rubin insbesondere Edgar Tranekjær Rasmussen und Franz From eine Schlüsselrolle zu. Rubin hatte in Deutschland studiert und Husserls Vorlesungen gehört, wollte die psychologische Phänomenologie jedoch in eine stärker empirisch orientierte, experimentelle Richtung entwickeln. Hauptziel war zum einen, das Erlebte (das phänomenologisch Gegebene) mit größtmöglicher Strenge vom Physischen zu trennen; zum anderen galt es, empirische (und experimentelle) Vorgehensweisen scharf von der theoretischen Reflexion abzugrenzen. Die phänomenologische Psychologie war für die Kopenhagener Psychologie somit vornehmlich eine Inspirationsquelle, wie sich in einem Kommentar Rasmussens über Rubin abzeichnet: „It should be emphasized, however, that the word ‚phenomenology‘ to him meant something more simple and direct, something in closer contact with real life, than the use of the term in several contemporary, philosophical schools seems to imply“ (Rasmussen 1961, S. 9). In diesem Sinne handelt es sich zunächst um einen Beitrag zur deskriptiven Psychologie. Tranekjær Rasmussen ist vor allem für die Entwicklung der intersubjektiven Übereinstimmungsanalyse bekannt, eine Methode, die sicherstellen soll, dass zwei Personen unter einem Gesprächsgegenstand dasselbe verstehen. Franz From (1971) übertrug die Rubin´sche Psychologie auf das Gebiet der Persönlichkeit und der sozialen Interaktionen und betonte, im sozialen Miteinander müsse zwischen der Bedeutung und dem Handeln einer Person und der Absicht, die sie selbst diesen Handlungen zuschreibt, unterschieden werden. Vermischungen dieser Ebenen im alltäglichen Leben führten zu Missverständnissen: „If we encounter situations where we do not know the rules of conduct or where the normally valid rules have been suspended, we feel threatened and lost [. . .]. We cannot predict what the others will do and what will happen at all.“ (From 1971, S. 163) Auch in den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Forschung der Kopenhagener Phänomenologie fortwährend weiter entwickelt. Während Brinkmann (2013) insbesondere qualitative Interviewtechniken durch phänomenologische Einflüsse zu verbessern versucht, gehört zu der Arbeit von Jacobsen (2015) beispielsweise Psychotherapieverfahren, durch existenzphilosophische Konzepte zu erweitern.

116

3.6

A. N. Wendt

Die deskriptive phänomenologische Methode

Das Interesse an der Phänomenologie an der Duquesne Universität in Pittsburgh ist auf den Einfluss der niederländischen Missionsgesellschaft vom Heiligen Geist in Weert zurückzuführen. Die Spiritaner sendeten ihre Adepten in die neue Welt, um ihre Lehren zu verbreiten. Unter diesen Adepten befanden sich auch Adrian van Kaam und Henry Koren. 1954 wurde van Kaam nach dem Abschluss seiner pädagogischen Studien in Nijmegen und Paris vom Präsidenten der Duquesne Universität für das psychologische Institut rekrutiert. Der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit lag auf der anthropologischen und existenzialistischen Untersuchung, doch seine Promotionsarbeit über die „Erfahrung, sich wirklich verstanden zu fühlen“ deutete bereits die phänomenologische Strömung an, die später in Duquesne entstehen würde. In dieser Arbeit untersuchte van Kaam die schriftlichen Antworten von 365 Versuchspersonen auf die Aufgabe „Describe how you feel when you feel that you are really being understood“. Van Kaam titulierte diese Interviewtechnik und die anschließende Interpretation die „Generelle Phänomenanalyse“, insofern als sie auf die „descriptive constituents“ (van Kaam 1959, S. 68) der Erfahrung abzielte. Unter van Kaams Einfluss stand Amedeo Giorgi. Nachdem er 1962 dem psychologischen Institut der Duquesne Universität beigetreten war, wurde er 1968 zu seinem Dekan ernannt. Bei der Entwicklung einer phänomenologisch-psychologischen Methode griff er auf Vorlesungen zurück, die er von europäischen Wissenschaftler/innen gehört hatte, die von van Kaam und Koren nach Pittsburgh eingeladen worden waren, darunter auch Linschoten und die Heidelberger Arbeitsgruppe. Nachdem er seinen Ansatz mehr als 40 Jahre entwickelt hatte, fasste Giorgi seine „deskriptive Phänomenologische Methode“ als „modified Husserlian approach“ (Giorgi 2009) zusammen. Die Hauptkomponente der Methode ist die „free imaginative variation“ (Giorgi 2009, S. 69), die eine modifizierte Fassung der Husserlianischen eidetischen Variation ist. Ihr Ziel ist es, „level of a series of ideas, essences, or invariant meanings“ (Giorgi 2009, S. 75) zu erreichen. Giorgi schreibt: „One has to have an eidetic intuition, with the help of imaginative variation, that enables one to be present to a type of invariant meaning that not only accounts for the many disparate facts but also clarifies them in a deeper way“ (Giorgi 2009, S. 85). Dabei beruft er sich auf „what is ‚given‘ to consciousness“ (Giorgi 2009, S. 68) als Gegenstand der deskriptiven Analyse. Auf dieser Grundlage wird die deskriptive phänomenologische Methode in drei praktischen Schritten entwickelt, die auf Interviewdaten angewendet werden können. Im ersten Schritt ist die „psychological phenomenological reduction“ (Giorgi 2009, S. 98) zu vollziehen: Im Wesentlichen dient sie dazu, Existenzurteile und den historischen Kontext auszuklammern. Giorgi schreibt: „Everything in the raw data is taken to be how the objects were experienced by the describer, and no claim is made that the events described really happened as they were described“ (Giorgi 2009, S. 99). Im zweiten Schritt der Analyse werden sogenannte „Bedeutungseinheiten“ vorgetragen. In Giorgis Worten: „one makes an appropriate mark in the data every time one experiences a significant shift in meaning“ (Giorgi 2009, S. 130).

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Diese Bedeutungseinheiten sind jedoch das Ergebnis der Perspektive der Interpret/innen. Deswegen ist es in einem dritten und entscheidenden Schritt notwendig, die imaginative Variation anzuwenden, um den unveränderlichen Sinn in den Daten zu entdecken. Giorgi sagt: „each meaning unit, originally expressed in the participant’s own words, is transformed by the researcher by means of a careful descriptive process into psychologically pertinent expressions“ (Giorgi 2009, S. 137). Auf diese Weise könne die Psychologie die Grundlage für das Verständnis der allgemeinen Struktur der Erfahrung gewinnen.

4

Phänomenologische qualitative Forschung und ihre Aktualität in der Psychologie

Mit Giorgis Ansatz ist die jüngste und zugleich die prominenteste unter den noch aktiven Strömungen der phänomenologischen Psychologie erreicht. Giorgis Schüler/innen nutzten seine Methode, um Themen der zeitgenössischen Psychologie zu untersuchen. Ein gutes Beispiel ist Christopher Aanstoos Bemühung, die kognitivistische Forschung zum Problemlösen infrage zu stellen. Während die psychologische Forschung zum Problemlösen seit den 1970er-Jahren unter dem Einfluss des Computationalismus gestanden hat, also problemlösendes Verhalten anhand von Computersimulationen zu verstehen versuchte (Newell und Simon 1972), setzt Aanstoos beim Erleben derer an, die Probleme lösen. Er betont, dass Begriffe wie derjenige der „Information“ in der zeitgenössischen Forschung ungeklärt bleiben, statt sie phänomenologisch zu begründen: „This reliance on the formal concept of ‚information‘ provides cognitivists a response to the behaviorist critique that there is no reality to cognition, but such a reification misses the essentially referential, or intentional quality of thinking. This reification of thought as the manipulation of information supports the preconception of think aloud protocols as essentially similar to the statements of the problem solving steps generated by a computer program.“ (Aanstoos 1983, S. 251)

Die phänomenologische Psychologie hilft also, den disziplinären Diskurs der Psychologie zu bereichern, indem sie die vorherrschenden Paradigmen infrage stellt. Auf dieser Grundlage lassen sich konstruktive phänomenologisch geprägte Alternativen einbringen. Ein prominenter Ansatz des beginnenden 21. Jahrhunderts ist die Neurophänomenologie im Anschluss an Varela (1996). Methodologisch handelt es sich um einen Beitrag zur Versöhnung von quantitativer und qualitativer Methodik (Olivares et al. 2015), insbesondere in der Zusammenarbeit von Neurowissenschaften und phänomenologischer Psychologie. Diesem Vorhaben dient die Methode des „Micro-phenomenological Interviews“ (MpI), in dem Personen durch den retrospektiven Zugriff auf ein Erlebnis zu einer präzisen Beschreibung ihrer Erfahrung gelangen. Entscheidend sind dabei drei Schritte: „The first key to the microphenomenological interview consists in triggering a form of ‚phenomenological reduction‘“ (Bitbol und Petitmengin 2017, S. 733). Dabei wird die Aufmerksamkeit

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auf eine spezifische Episode der eigenen Erfahrung gelenkt. Daraufhin werden im zweiten Schritt kontinuierlich detailliertere Aspekte an dieser Episode willentlich hervorgerufen. Der dritte Schritt erfolgt durch den Aufmerksamkeitssprung zwischen diesen verschiedenen Aspekten, der durch den/die Gesprächspartner/in angeregt wird. Auch die Forschung zum phänomenologischen Begriff der „kollektiven Intentionalität“ bietet innovative Potenziale für die Psychologie: Diese Form der Intentionalität tritt im weiteren Sinne dort auf, wo z. B. gemeinsam ferngesehen oder musiziert wird, und im engeren Sinne dort, wo Erlebnisse geteilt werden, einem berühmten Beispiel Schelers folgend etwa in der Trauer über das verstorbene Kind, die von beiden Eltern zugleich und identisch erfahren wird (Scheler 2015 [1923]). Kollektive Intentionalität (im nicht-phänomenologischen Diskurs auch shared intentionality; Tomasello und Carpenter 2007; dazu: Zahavi und Satne 2015) ist folglich dort gegeben, wo Erlebnisse ursprünglich intersubjektiv sind. In Deutschland wendet sich beispielsweise die in der Tradition Karl Jaspers stehende Deutsche Gesellschaft für Phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) diesen Fragen zu. Die qualitativen Methoden, die sich in der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie entwickelt haben, zeichnen sich indessen gemeinhin durch die Nähe zu hermeneutischen Konzepten aus. In der phänomenologischen Psychologie finden sie ihre Entsprechung somit eher in den Ansätzen aus Kopenhagen und Pittsburgh denn in denjenigen aus Utrecht und Heidelberg. Gleichsam haben Giorgis Beiträge in der zeitgenössischen Theoriebildung und Methodologie den Vorrang. In diesem Sinne konnte sich eine Reihe konstruktiver Forschungsprogramme entwickeln, unter denen exemplarisch die „interpretative Phänomenologische Analyse“ und die „Lebensweltanalyse“ hervorzuheben sind.

4.1

Interpretative Phänomenologische Analyse

Seit den 1990er-Jahren widmet sich Jonathan Smith der Fortentwicklung der „interpretative phenomenological analysis“ (IPA), einer Analysetechnik, die in der Verbindung von Giorgis deskriptiver Phänomenologie mit hermeneutisch-interpretativen Ansätzen ihre Grundlage hat. Die Hermeneutik wird dabei aufgegriffen, um eine Beschreibung der Bedeutungszusammenhänge zu gewinnen, die in Interviews zum Ausdruck kommen: „I have described the process of IPA as engaging in a double hermeneutic, whereby the researcher is trying to make sense of the participant trying to make sense of what is happening to them“ (Smith 2011, S. 10). Die phänomenologische Perspektive werde relevant, um die Wahrnehmung von Gegenständen und Ereignissen als Erlebnissen zu thematisieren. Smith beschreibt seinen Ansatz als idiografisch, induktiv und interrogativ: „IPA is strongly idiographic, starting with the detailed examination of one case until some degree of closure or gestalt has been achieved, then moving to a detailed analysis of the second case, and so on through the corpus of cases“ (Smith 2008, S. 41). Er regt grundsätzlich dazu an, ganze Untersuchungen nur einem einzelnen Fall zu widmen,

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sofern es eine komplexe und vielschichtige Interpretation ermögliche: „at the heart of IPA is the idiographic commitment to the case“ (Smith 2008, S. 51). Die IPA sei zudem induktiv, weil der Interpretation der Beschreibungen auf Basis qualitativer Daten der Vorrang vor theoriegestützten Vorannahmen eingeräumt werde. In diesem Sinne sind die halbstrukturierten Interviews als explorative Untersuchungen zu verstehen, deren Ziel es ist, den Umfang der interpretierbaren Phänomene zu erweitern. Interrogativ bedeutet gleichsam, dass die Absicht des Interviews darin besteht, durch geschickte Fragen die Tiefe und Reichweite des Einzelfalls zu vergrößern. Dennoch gestatte es die IPA, Konstrukte zu validieren, die auch in der etablierten Kognitionspsychologie Verwendung finden, sodass ein konstruktiver Dialog möglich sei. Die IPA enthält als dezidiert phänomenologischen Gesichtspunkt die Orientierung an der Bedeutung des Erlebens. Um sich ihren vielfältigen Erscheinungsweisen empirisch anzunähern, integriert die IPA unterschiedliche Zugänge. Ein Beispiel ist die Bedeutung des Schmerzerlebnisses (Smith 2019), für dessen Interpretation Smith sowohl die Auswertung von Interviews als auch Zeichnungen verwendet. Der psychologischen Forschung werden auf diese Weise schwer fassbare Phänomene – „elusive phenomena“ (Smith 2019, S. 15) – empirisch verfügbar.

4.2

Lebensweltanalyse

Auf die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz und dessen Schüler/ innen bezieht sich die „Phänomenologische Lebensweltanalyse“, die als sozialwissenschaftliche Methode beispielsweise in Teilen der Sozialpsychologie bedeutsame Sachverhalte sichtbar machen kann. Neben einer Öffnung zur Hermeneutik ähnlich der IPA ist sie durch die Konvergenz mit einigen Ansätzen aus dem Pragmatismus ausgezeichnet. Als allgemeines Forschungsprogramm der Lebensweltanalyse ist jedoch die „Konstitutionsanalyse“ im Sinne einer Gegenstandsbzw. Mundanphänomenologie zu verstehen, also – wie oben dargestellt – ein Vorzug des philosophischen Realismus gegenüber der Transzendentalphänomenologie. Gegenstand dieser Konstitutionsanalyse sind dabei „kleine soziale Lebenswelten“: „Eine kleine soziale Lebens-Welt oder Sonderwelt ist ein in sich strukturiertes Fragment der Lebenswelt, innerhalb dessen Erfahrungen in Relation zu einem speziellen, verbindlich bereitgestellten intersubjektiven Wissensvorrat statthaben“ (Hitzler und Eberle 2000, S. 116). Gegenstand der Analyse sind die in sozialen Zusammenhängen etablierten Relevanzen des individuellen Verhaltens. Die Lebenswelten werden also als die „subjektiven Entsprechungen sozial mannigfaltig differenzierter, kultureller Objektivationen der Wirklichkeit“ (Hitzler und Eberle 2000, S. 116) verstanden. Es handelt sich um „Subsinnwelten, die von mehreren, aber nicht allen Menschen geteilt werden“ (Ploder 2014, S. 61). Die qualitative Untersuchung wendet sich also auf die Interaktionsmuster des Alltags und versucht, die Sinnhaftigkeit des Zusammenlebens in geteilten Lebenswelten zu erfassen.

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In dieser Hinsicht steht die Lebensweltanalyse einerseits in der Nähe der phänomenologischen Biografieforschung, wie sie im Anschluss an Gabriele Rosenthal entwickelt wurde. Auch die Biografieforschung beabsichtigt die „Rekonstruktion der Komplexität von Handlungsstrukturen am Einzelfall“ (Rosenthal 2005, S. 23), allerdings unter besonderer Berücksichtigung des lebensgeschichtlichen Verlaufs. Zudem ist sie, wie Ploder hervorhebt, in der phänomenologischen Grundlegung stärker am Werk Gurwitschs als an demjenigen der Wissenssoziolog/innen orientiert. Andererseits ähnelt die Lebensweltanalyse der Ethnomethodologie, die von Harold Garfinkel als empirische Fortentwicklung der phänomenologischen Arbeiten von Alfred Schütz konzipiert wurde (siehe auch den Interviewband mit Ethnomethodolog/innen von Gerst et al. 2019): „For Garfinkel, members of the society are continuously engaged, without hope of relief, in creating and maintaining the social and natural world, so that it continues to give the appearance of always being there, independent from themselves“ (Churchill 1971, S. 185). Die Untersuchung von Strukturen des Alltags spezialisiert sich in der Ethnomethodologie also insbesondere auf die impliziten Normen, die in den Abweichungen von Gewohnheiten zum Vorschein kommen. Allerdings ist das Forschungsinteresse der Ethnomethodologie dabei im Gegensatz zur Lebensweltanalyse vornehmlich auf die pragmatische Sphäre der sozialen Interaktion gerichtet: „Ethnomethodology restricts its empirical inquiry to the pragmatic, social pole of the life-world and does not extend it to the subjective pole“ (Eberle 2012, S. 298).

5

Ausblick: Stand und Perspektiven

Der Schwerpunkt der zeitgenössischen qualitativen Methoden, die unter dem Einfluss der phänomenologischen Psychologie stehen, ist in der Regel hermeneutisch. Dadurch unterscheiden sie sich von den stärker experimentellen Ansätzen aus Utrecht und Heidelberg. Diese beiden Strömungen innerhalb der empirischen Fortentwicklungen der phänomenologischen Impulse divergieren aber nur scheinbar. In letzter Instanz bleibt das Prinzip der phänomenologischen Forschung der Vorrang des Forschungsgegenstandes gegenüber der Methode. Deswegen lässt sich vielmehr von einer Tendenz in der jüngeren qualitativen Forschung zugunsten sozialer Interaktionsformen und der Erforschung von der Konstitution alltäglicher Sinnzusammenhänge sprechen. Im Kern der Bemühungen um eine phänomenologische Psychologie steht letztlich die Bestimmung der vielfältigen Phänomenformen, die sich in der „Fülle“ des lebendigen Bewusstseins finden lassen. Mit Landgrebe kann dieser Beitrag der phänomenologischen Forschung als „regionale Ontologien“ (Landgrebe 1963, S. 143) bezeichnet werden. Für die Psychologie sind dabei Verkörperung, SubjektUmwelt-Beziehung und Kommunikation von maßgeblicher Bedeutung. Während die Verkörperungsforschung den Embodiment-Ansatz maßgeblich beeinflusst hat (insbesondere Varela et al. 1991), ist die Umweltpsychologie durch die phänomenologische Betrachtung der Subjekt-Umwelt-Beziehung geprägt (etwa Graumann und Kruse 1998; Faulstich und Faulstich-Wieland 2015). Zur Kommunikationsfor-

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schung in der Psychologie hat wiederum beispielsweise der DFG Sonderforschungsbereich 245 zu „Sprache und Situation“ unter der Leitung Graumanns einen Beitrag geleistet: Mit Themen wie „Explizite und implizite sprachliche Diskriminierungen von Migranten“ (Weimer et al. 1996) vermag diese Forschung auch noch heute zu gesellschaftsrelevanten Fragestellungen eine psychologische Perspektive beizutragen. Insgesamt zeugt das Panoptikum phänomenologischer Beiträge zur Psychologie eine fruchtbare und kontroverse Forschungslandschaft, die sowohl hermeneutisch akzentuierte als auch experimentelle Ansätze umfasst. Es ist der Anspruch, dass die sinnhaft strukturierte Ganzheit der Erfahrung selbst die größte Heterogenität umschließt und es deswegen einer ganzheitlichen Integration aller Erfahrungsformen bedarf. Letztlich lässt sich das Gesamtprojekt der phänomenologischen Forschung in der empirischen Psychologie einerseits (im Geiste der deskriptiven Psychologie) als Suche nach der unerschöpflichen Fülle lebendiger Erfahrung und andererseits als die Untersuchung dieser Erfahrung in ihrer Konstitution – Husserl spricht von „genetischer Psychologie“ – begreifen.

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Hermeneutik Ralph Sichler

Inhalt 1 Grundgedanke, Entstehungsgeschichte und historische Relevanz der Hermeneutik . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Grundannahmen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zur Lage der Hermeneutik in der gegenwärtigen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Hermeneutik stellt bedeutende philosophische und wissenschaftstheoretische Grundlagen für die qualitative Forschung in der Psychologie bereit. Im Beitrag werden auf die Entstehung der Hermeneutik und ihre Auswirkungen auf die interpretative Sozial- und Kulturforschung eingegangen. Dazu werden das Sinnverstehen, der Begriff der Interpretation sowie der hermeneutische Zirkel als zentrale Grundkonzepte eingeführt. Abschließend werden der Stellenwert der Hermeneutik in der gegenwärtigen Psychologie sowie die kritische Auseinandersetzung mit dem hermeneutischen Diskurs näher beleuchtet. Schlüsselwörter

Verstehen · Interpretation · Hermeneutischer Zirkel · Qualitative Forschung · Psychologie

R. Sichler (*) University of Applied Sciences Wiener Neustadt, Wiener Neustadt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_15

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R. Sichler

1

Grundgedanke, Entstehungsgeschichte und historische Relevanz der Hermeneutik

1.1

Der Grundgedanke der Hermeneutik

Die Auseinandersetzung mit den Grundlagen qualitativer Forschung in der Psychologie wird Erkenntnisse insbesondere der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Hermeneutik kaum unberücksichtigt lassen können (Soeffner 2004, 2014). Obwohl die in sich äußerst heterogene Hermeneutik zunächst vornehmlich in Philologie, Theologie, Jurisprudenz und Philosophie beheimatet war, steht in ihrem Kern die Frage nach dem Verstehen verschiedener Manifestationen menschlichen Daseins. Dies ist aber ebenso die Schlüsselfrage, die für die Konstitution qualitativer oder interpretativer Orientierungen in der Psychologie sowohl in theoretischer als auch in methodologischer Hinsicht von hoher Relevanz ist. Das Verstehen und Auslegen von menschlichen Äußerungen und Handlungen weist eine spezifische Charakteristik auf, die von der Hermeneutik im Rahmen einer eingehenden Grundlagenreflexion der interpretativen Rekonstruktion psychosozialer Realität thematisiert wird. Der Gegenstandsbereich der Hermeneutik ist die durch menschliche Sinndeutungen hervorgebrachte und rekonstruierbare Wirklichkeitsdimension (Jung 2001, S. 14). Er kann damit von all jenen Teilen der Realität unterschieden werden, die durch naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle erschlossen werden. Die naturwissenschaftliche Rekonstruktion der Wirklichkeit stellt zwar kein sinnfreies Unterfangen dar, aber der Sinn der jeweiligen Weltaneignung wird dort meist nicht ausdrücklich thematisiert oder gar vertieft, sondern schlicht vorausgesetzt. Demgegenüber fokussiert qualitative Forschung den sprachlich-symbolisch erschlossenen Sinn von Wirklichkeit. Sie versucht, die spezifische Bedeutung menschlicher Äußerungen oder Handlungen einschließlich der damit verbundenen sozialen, kulturellen und individuellen Rahmenbedingungen interpretativ zu erschließen. Verstehen stellt ein universales Phänomen menschlicher Welterschließung und Selbstvergewisserung dar. Menschen sind „verstehende Tiere, auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, sich die Symbole zu entschlüsseln, in denen die Welt für sie da ist“ (Jung 2001, S. 8). Die Hermeneutik macht diese Grundsituation zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses. Sie setzt bei den alltäglichen Verstehensleistungen des Menschen an und entwickelt aus der Basiskompetenz jedes Menschen, Äußerungen und Handlungsvollzüge anderer verstehen zu können, eine Kunstlehre, um auch dort Einsicht zu ermöglichen, wo auf den ersten Blick Unverständnis oder falsches Verstehen herrschen.

1.2

Entstehungsgeschichte und historische Relevanz der Hermeneutik

Historisch gesehen kann die Entwicklung der Hermeneutik in drei unterschiedliche Phasen eingeteilt werden:

Hermeneutik

127

1. Zu Beginn verstand sich die Hermeneutik vor allem als Methodenlehre der sachgerechten Auslegung von Texten (Grondin 2009, S. 9–10; Jung 2001, S. 20–21). Diese „Deutungskunst“ hatte sich vor allem in Wissenschaftsdisziplinen entwickelt, die mit der Interpretation bestimmter Textsorten zu tun hatten und von deren Ergebnis die richtige Auslegung des mehr oder weniger offenkundigen oder verborgenen Sinns abhing (z. B. in der Theologie, der Jurisprudenz und der Philologie). Die Hermeneutik übernahm dabei eine Hilfs- und Orientierungsfunktion bei der Bereitstellung von Regeln und Richtlinien zur Interpretation insbesondere bei mehrdeutigen, schwierig auszulegenden oder anstößigen Textstellen. Diese Tradition erlebte ihren ersten Aufschwung in der Spätantike und eine weitere Blütezeit während der Reformation. 2. Daran anschließend entwickelte sich die philosophische Hermeneutik als methodologische Grundlagenreflexion über den Wahrheitsanspruch und den wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften (Grondin 2009, S. 10–11; Jung 2001, S. 21–22). Dieser Diskurs setzte während der Romantik mit Friedrich Schleiermacher (1977 [1838]) ein und erlebte später – Einsichten des Historismus im 19. Jahrhundert verarbeitend – seinen Höhepunkt in der Philosophie der Geisteswissenschaften von Wilhelm Dilthey (1970 [1927]). Allerdings konnte Dilthey seinen Entwurf der Hermeneutik – wie übrigens schon Schleiermacher – nicht mehr vollenden (Grondin 2001, S. 129). 3. Aus der Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis Diltheys ging die hermeneutische Philosophie als Konzeption einer universellen Interpretationsphilosophie hervor (Grondin 2009, S. 11; Jung 2001, S. 22). Wegbereiter und fortwährender Bezugspunkt für nahezu alle folgenden Entwürfe ist Martin Heidegger (1984 [1927]). Er verlegte das ursprünglich geisteswissenschaftliche Problem der Interpretation in den menschlichen Lebensvollzug selbst. Diese Version einer aus der Existenzweise des Menschen herausdestillierten Pragmatik des Verstehens steht im Hintergrund für viele weitere philosophische Lesarten der hermeneutischen Problemstellung bis heute. Die prominenteste Weiterverarbeitung darf HansGeorg Gadamer (1986 [1960]) zugeschrieben werden. Auch der sozialwissenschaftlich-methodologische Diskurs der Gegenwart setzt vielfach an diesen hermeneutisch-philosophischen Entwürfen an, weil dort nicht isoliert der erkenntnistheoretische Status des geisteswissenschaftlichen Sinnverstehens thematisiert wird, sondern der Bezug zum Verstehen und zur Selbstreflexion der sozialen Akteure in der Alltags- und Forschungssituation hergestellt wird. Obwohl das mehr oder minder regelgeleitete Bestreben, den Sinn von Texten und Handlungen möglichst adäquat zu verstehen, nahezu so alt ist wie die Auseinandersetzung der Menschen mit ihren eigenen symbolischen Erzeugnissen, entstand die Wortschöpfung Hermeneutik erst relativ spät. Johann Conrad Dannhauer war der erste, der 1654 den Terminus hermeneutica im Titel eines seiner Werke zur Auslegung der Heiligen Schrift führte (Grondin 2001, S. 77–80). Eine Betrachtung des semantischen Kerns des Begriffs zeigt allerdings, dass die Hermeneutik ein generelles Grundproblem sprachlich-symbolischer Interaktion thematisiert. Das griechische Verb hermeneuein beinhaltet zwei Bedeutungsmomente (Grondin 2009, S. 13–14):

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1. Zum einen verweist es auf den Ausdrucksprozess, der vom Gedanken zur Mitteilung führt, damit wird die Sprechweise, der Vortrag oder die Rede fokussiert. 2. Zum anderen wird der Prozess des Verstehens oder der Übersetzung bezeichnet, der so in der umgekehrten Reihenfolge vom Ausdruck zurück zum ursprünglichen Gedanken führt. Die Hermeneutik thematisiert vordergründig vorwiegend den zweiten Bedeutungskern. Gleichwohl hat die erste Lesart, wie sie etwa in Aristoteles’ Schrift „Peri hermeneias“ oder in vielen Ansätzen der Rhetorik entwickelt wurde, die Entwicklung der Hermeneutik maßgeblich beeinflusst. Denn das griechische Verständnis des Begriffs zeigt, dass der Vorgang der Deutung an den Vorgang der Produktion einer interpretativ zu entschlüsselnden Äußerung anschließt und diesen zu erhellen sucht. Im Kern hat eine Interpretation „nicht mehr und nicht weniger zu leisten [. . .] als die Umkehrung des Redevorgangs selbst, der von der ‚inneren Rede‘ (logos endiathetos) zur ‚äußeren Rede‘ (logos apophantikos) geht“ (Grondin 2009, S. 14). Das hermeneutische Bemühen um Sinnklärung ist damit mit dem rhetorischen Bemühen um überzeugende Darstellung der eigenen Intentionen verwandt und setzt dieses gewissermaßen voraus. „Man kann einen Ausdruck nicht interpretieren wollen, um den Sinn zu verstehen, ohne vorauszusetzen, dass er etwas ausdrückt und dass er insofern der Ausdruck einer inneren Rede ist“ (Grondin 2009, S. 14). So war es auch kein Zufall, dass die ersten Leitgedanken und kanonischen Richtlinien zur Interpretation von Texten der Rhetorik und ihren Figuren entnommen wurden. Vor diesem Hintergrund entstand eine Unterscheidung, welche die Entwicklung der Hermeneutik bis auf den heutigen Tag entscheidend geprägt hat, nämlich die Differenzierung zwischen wörtlichem Sinn (Literalsinn) und tieferem, eigentlichem Sinn. Ohne diese Unterscheidung ist eine Hermeneutik als Kunstlehre des (tieferen) Verstehens nicht zu legitimieren. Denn nur wenn angenommen wird, dass sich der Sinn sprachlicher und nichtsprachlicher Äußerungen nicht unmittelbar erschließen lässt, entsteht die Notwendigkeit eines Kanons, der es ermöglicht, den verborgenen, tieferen Sinn zu ermitteln. Dieser Grundgedanke stand bereits Pate bei den hermeneutischen Anfängen spätantiker Philologen wie etwa Philo von Alexandria und floss in das Deutungsverfahren der Allegorese ein. Diese sich aus den Begriffen „Allegorie“ und „Exegese“ zusammensetzende Wortschöpfung steht für ein Deutungsverfahren, das „auf die Erschließung eines tieferen, im Wortsinn bildhaft verkleideten Sinns zielt“ (Jung 2001, S. 33). Die Unterscheidung zwischen Literalsinn und tieferem Sinn ist allerdings mit einigen für den hermeneutischen Diskurs kennzeichnenden Problemen verbunden. Worin besteht etwa bei einem Text der literale und worin der tiefere Sinn? Vorausgesetzt diese Frage lässt sich (hermeneutisch) lösen, dann tritt ein weiteres Problem auf den Plan: Wie lässt sich der tiefere Sinn erkennen? Und wie kann eine Deutung gegenüber anderen als angemessener oder zutreffender ausgewiesen werden? Man sieht, dass aus dieser Unterscheidung die Notwendigkeit der Hermeneutik entspringt, aber auch ihre Probleme erwachsen.

Hermeneutik

129

In diesem Kontext ist die sogenannte hermeneutische Differenz als Grundproblem der sprachlichen Kommunikation wie auch der reflektierten Interpretation zu sehen: Was verstanden werden soll, ist zunächst fremd und entzieht sich einer Deutung. Es muss erst im Zuge der Interpretation angeeignet werden. In der gewohnten Alltagskommunikation wird die hermeneutische Differenz nicht oder nur im Falle einer Störung erfahren. Hier bedarf es in der Regel keiner Hermeneutik. Auf der anderen Seite ist dort Hermeneutik unmöglich, wo die Differenz unendlich wird: etwa bei einer Äußerung in einer völlig unbekannten Sprache. Hermeneutik findet daher, einer bekannten Formulierung Gadamers folgend, „zwischen Fremdheit und Vertrautheit“ statt: „In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik“ (Gadamer 1986 [1960], S. 300). Mit der Unterscheidung zwischen Literalsinn und tieferem Sinn entsteht aber auch das Interpretationsproblem selbst. Sie konstituiert gewissermaßen die hermeneutische Einstellung, welche zum vermeintlich tieferen Sinn vordringen will. Die Lösung des Interpretationsproblems wird in der Regel durch eine Hintergrundtheorie herbeigeführt. Dies ist bereits für die Frühzeit der Hermeneutik nachweisbar. So griff Philo von Alexandria auf eine Analogie zwischen dem Literalsinn und dem verborgenen Sinn einerseits und dem Körper und der Seele andererseits zurück. „Der unmittelbare Text verhält sich zur wahren Bedeutung wie der menschliche Körper zur menschlichen Seele“ (Jung 2001, S. 34). Diese logische Grundfigur, nämlich die Konzeption des Interpretationsprozesses als eines theoretisch begründeten Schlusses vom manifesten Ausdruck auf latente Inhalte oder Strukturen, findet sich bis heute in vielen qualitativ-methodischen Zugängen der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften.

2

Theoretische und methodologische Grundannahmen der Hermeneutik

2.1

Der Begriff der Hermeneutik

Eine möglichst kurze und prägnante Definition nennt die Hermeneutik „die Lehre vom Verstehen“ (Jung 2001, S. 7). An anderer prominenter Stelle wird sie – eher die Praxis des Auslegens fokussierend – als „die Kunst, Texte richtig zu deuten“ (Grondin 2009, S. 9) bezeichnet. Beides enthält einige Kernmomente, welche das Verständnis der Hermeneutik von Anbeginn nachhaltig beeinflusst haben und immer noch prägen. Manche dieser Momente weisen einen in sich ambivalenten Grundzug auf, der wiederum für die hermeneutische Reflexion charakteristisch ist. 1. Der Ausdruck Lehre verweist auf eine mehr oder weniger eingehende, explizit und gewissenhaft geführte, theoretisch sowie philosophisch gestützte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Verstehens. 2. Verstehen ist die zentrale kognitive Tätigkeit, mit der sich die Hermeneutik auseinandersetzt. Darum versammeln sich verwandte Begriffe wie Interpretation,

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Deutung, Auslegung und andere, die ebenfalls im Rahmen von theoretischen und praktischen Zugängen der Hermeneutik thematisiert werden. 3. Der Ausdruck Kunst verweist auf eine bestimmte Form von Praxis, welche in einem komplexen Verhältnis zur methodischen Konstitution der Hermeneutik steht. In einigen Konzeptionen wird Hermeneutik als Methode, als Organon oder Kanon von Regeln begriffen, die zu befolgen sind, damit Verstehen überhaupt möglich wird. Andere Zugänge setzen auf die von „methodischen Fesseln“ entledigte, im weitesten Sinn offene und kunstfertige Auseinandersetzung mit den zu verstehenden Phänomenen. 4. Der Hinweis, dass Hermeneutik versucht, (sprachliche) Äußerungen richtig zu deuten, beinhaltet einen zumindest implizit erhobenen Geltungsanspruch auf wahre Deutungen. Demgegenüber erweist sich gerade die Hermeneutik als äußerst sensibel gegenüber allzu rigiden, absolut erhobenen Formen von Wahrheit und uneingeschränkter Geltung. 5. Gegenstand des Verstehens sind in erster Linie Texte, aber auch Handlungen und deren Ergebnisse, die vielfach analog zum Medium der Sprache gedacht werden. Gleichzeitig kommt der Hermeneutik eine Tendenz der Transzendierung des manifesten sprachlichen Sinns zu. Alle genannten Kernmomente sind Teil des hermeneutischen Diskurses. In Abhängigkeit von der jeweils vorliegenden Konzeption hermeneutischen Denkens werden sie unterschiedlich ausgelegt, zudem differiert ihr Stellenwert zwischen den verschiedenen Ansätzen. Die folgende Darstellung orientiert sich an diesen konstitutiven Merkmalen und versucht, die für den hermeneutischen Diskurs kennzeichnenden Grundlinien nachzuzeichnen.

2.2

Sinnverstehen als Ausgangspunkt der Hermeneutik

Das Verstehen als Basisoperation der Hermeneutik richtet sich auf den Sinn menschlicher Äußerungen. Die zugrunde liegende Prämisse lautet: „Was verstanden werden kann, ist immer sinnhaft“ (Jung 2001, S. 12), denn was als sinnhaft gelten kann, bezieht sich auf menschliche Deutungen der Wirklichkeit. Insgesamt lassen sich drei aufeinander bezogene Aspekte des Sinnbegriffs unterscheiden (nach Jung 2001, S. 13): 1. der sprachlich-symbolische Sinn (die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung), 2. der Handlungssinn (der Sinn einer Handlung als Befolgung einer Regel, als Erfüllung einer Intention oder als Teil einer Geschichte, Straub 1999, S. 95–162), 3. der Lebenssinn (die übergreifenden Orientierungen der Lebenspraxis eines Individuums oder einer sozialen Gruppe, thematisiert etwa im Rahmen der Biografieoder Milieuforschung, Bohnsack 1997; Fuchs-Heinritz 2009). Gemeinsam ist diesen Aspekten des Sinnbegriffs der Umstand, dass jede Form von sozialer Realität nicht einfach widergespiegelt, sondern im Rahmen symbolischer Repräsentationsformen erschlossen und gedeutet wird (Jung 2001, S. 13). Es

Hermeneutik

131

geht um „symbolisch vorstrukturierte Wirklichkeit“ (Habermas 1982, S. 547). Als Paradigma für den gesamten Objektbereich der interpretativen Sozialwissenschaften kann das Modell des Textes (Ricoeur 1972) betrachtet werden. Dabei dient der Weg über den Text als Vehikel zu einer verstehend-reflektierenden Betrachtung des jeweiligen Handlungs- und Lebenskontextes. Handlungen als Textanaloga zu begreifen, ist von unmittelbarer Konsequenz für die Hermeneutik als Basismethodologie der Sozialwissenschaften. Insbesondere im Rahmen einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie stellt die Methodologie der Textauslegung das zentrale Paradigma für die zu leistende Interpretationsarbeit dar (Straub 1999). Wer verstehen will, was Menschen tun oder bewegt, aus welchen Gründen und Hintergründen heraus sie handeln oder etwas erleben, ist darauf angewiesen, die damit im Zusammenhang stehenden sprachlichen Äußerungen und damit Texte zur Grundlage von Interpretationen heranzuziehen. Psychologie als interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie ist somit textwissenschaftlich zu konstituieren. Der hermeneutische Diskurs thematisiert die dazu erforderlichen metatheoretischen Grundlagen und methodologischen Basiswerkzeuge.

2.3

Zum Begriff des Verstehens

Als Kunstlehre des Verstehens hat die Hermeneutik mit der Interpretation, Deutung oder Auslegung von Äußerungen in Texten oder menschlichen Handlungen zu tun. Dabei unterscheidet der hermeneutische Diskurs u. a. zwischen Verstehen und Interpretation. Die Begriffe „Auslegung“ und „Deutung“ werden meist synonym zum Begriff der „Interpretation“ gebraucht, allerdings werden sie manchmal auch auf den Prozess des Verstehens bezogen (Jung 2001, S. 19). Als Basisausdruck dient der Begriff des Verstehens. Soeffner (2004, S. 165) nennt Verstehen einen Vorgang, „der einer Erfahrung Sinn verleiht“. Diese Bestimmung entspricht der oben gegebenen Definition von Hermeneutik. Allgemeiner wird Verstehen als kognitive Grundoperation gefasst, die eine elementare Struktur aufweist: nämlich „etwas als etwas“ auffassen (Jung 2001, S. 17–20). Diese Charakterisierung fokussiert vor allem den sprachlich-symbolischen Raum, in dem sich jedes Verstehen vollzieht. Wer versteht, expliziert oder erläutert gegebene Textinhalte oder andere Objektivationen menschlichen Handelns durch Charakterisierungen, die zugrunde liegende Sinngehalte oder Sinnstrukturen der zu deutenden Äußerung offen legen. Das Herstellen von Verständnis ist eine elementare Alltagskompetenz, die für viele soziale Situationen unverzichtbar ist. Dilthey (1970 [1927], S. 255–258, s. auch Lamnek 2005, S. 68–69) hat insbesondere solche Verstehensoperationen elementares Verstehen genannt, die nicht mit einem ausdrücklichen Bemühen um Einsicht verbunden sind, sondern sich in Alltagsinteraktionen von selbst einstellen (etwa beim Erwidern eines Grußes im gleichen Kulturkreis oder beim adäquaten Reagieren auf ein Verkehrszeichen). Mit dieser Bestimmung macht Dilthey darauf aufmerksam, dass das gesamte soziale Zusammenleben auf solche sozusagen „selbstverständliche“ Formen des Austausches zwischen Menschen angewiesen ist. Getragen

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wird das elementare Verstehen durch ein Medium von Gemeinsamkeiten, die eine Gesellschaft oder soziale Gruppe teilen. Auch die sozialwissenschaftliche und psychologische Forschung beruht insbesondere dort, wo sie auf Verstehen als Basismethodologie zurückgreift, auf solchen elementaren Formen des Verstehens: Interpretationsgemeinschaften greifen auf einen in Alltag und Wissenschaft konstituierten impliziten paradigmatischen und methodologischen Konsens als unhintergehbare Grundlage ihrer Deutungsleistungen zurück. Dem elementaren Verstehen stellt Dilthey (1970 [1927], S. 258–263) das höhere Verstehen gegenüber (Lamnek 2005, S. 69–70), das bei den elementaren Formen ansetzt, diese aber transzendiert und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand sowie das Bemühen um Verstehen voraussetzt. Höheres Verstehen wird vor allem dann erforderlich, wenn elementares Verstehen nicht gelingt, Missverständnisse vorliegen und eine aus sich selbst heraus nicht verstehbare oder missverstandene Äußerung in einen größeren Zusammenhang (etwa in den Lebenszusammenhang eines Individuums) eingebettet wird. Dadurch erhöht sich die Aussicht auf Verstehen. Dilthey hat diese Form des Verstehens vor allem im Spätwerk als Sinn-Verstehen ins Zentrum seiner Konzeption der Hermeneutik gestellt. Zugleich hat er durch verschiedene Versionen des Verstehens-Begriffs auch einer psychologistischen Lesart Vorschub geleistet: Zum einen ist Verstehen für ihn ein Vorgang, „in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen“ (Dilthey 1957 [1900], S. 318); dies kann so gelesen werden, dass sich Verstehen durch ein Nachempfinden der inneren Vorgänge der Zeichenproduzent/innen einstellt. Zum anderen hat Dilthey seine Konzeption des Verstehens an das Erleben des Urhebers/ der Urheberin einer Äußerung oder Handlung gebunden und im Rahmen des höheren Verstehens dem Hineinversetzen, Nachbilden und Nacherleben eine entscheidende Rolle zugebilligt (Dilthey 1970 [1927], S. 263–267). Allerdings – und darauf hingewiesen zu haben, ist eine der Leistungen Diltheys – kann die Verbindung von Erleben und Verstehen nur über Äußerungen des Innenlebens hergestellt werden. Gerade im unvollendet gebliebenen Spätwerk hebt Dilthey mehrfach hervor, dass das Erleben, auf das sich das Verstehen richtet, nicht als solches gegeben ist, sondern nur durch die Art und Weise, in der es sich äußert, erschlossen und damit auch verstanden werden kann. Diese in der Literatur zur Hermeneutik oft als Trias von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen charakterisierte Denkfigur (Grondin 2009, S. 27) ist als richtungsweisend für die weiterführende Auseinandersetzung mit dem Problem des Verstehens in der Methodologie der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu sehen. Sie verdeutlicht auch, dass das hermeneutisch ausgerichtete Erkenntnisinteresse immer das jeweils Geäußerte bzw. Gegebene zu transzendieren intendiert.

2.4

Zum Begriff der Interpretation

Eine Unterscheidung zwischen Verstehen und Interpretieren zu treffen, ist nicht leicht, denn beide Begriffe weisen in die gleiche Richtung. So wird etwa die oben

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für den Begriff des Verstehens gegebene strukturelle Charakterisierung, „etwas als etwas“ aufzufassen, von Abel (1993) zur Bestimmung des Terminus „Interpretation“ herangezogen. Er unterstreicht damit den grundlegend interpretativen Zugang zur Welt. Menschliches Erkennen, Handeln und Sprechen sind nur im Zuge einer Praxis der Interpretation von Symbolen möglich, die den Menschen im Rahmen ihrer Lebensvollzüge zur Verfügung stehen. Wie Straub (1999, S. 206) hervorhebt, wird damit der Begriff der Interpretation erweitert und zum erkenntnistheoretischen Basisbegriff, der dem Begriff des Verstehens vorgelagert ist. Auf diese Weise wird allerdings eine neue Dimension des Verstehensproblems in der Hermeneutik erschlossen, und nicht von ungefähr war diese Perspektive auch die Basis des Hermeneutikverständnisses von Heidegger und Gadamer. Heidegger betrachtete den von Dilthey erörterten epistemischen Grundzug des Verstehensproblems als sekundär (Heidegger 1984 [1927], 1988 [1923]). Seine eigene, gewissermaßen pragmatische Lesart des Verstehens entwickelte er am Ausdruck „sich auf etwas verstehen“, den er mehr auf ein Können und als auf ein Wissen bezog (Grondin 2009, S. 38). In ihm kommt, gleichsam als praktische Kompetenz, die Fähigkeit des Menschen zum Ausdruck, eine besondere Art des „Sichauskennens“ in der Welt zu entwickeln (Grondin 2001, S. 135). Schon die menschliche Lebenspraxis selbst weist damit hermeneutische Züge auf, nicht erst die sprachlich-symbolische Rekonstruktion der Lebenswelt. Menschen nehmen die Welt nicht zunächst neutral-kognitiv zur Kenntnis, um sie danach in ihrer Bedeutsamkeit zu verstehen zu versuchen. Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt: „Nur als von Lebensinteressen gedeutete und deshalb bedeutsame sind die Fakten des Lebens überhaupt für uns da. Menschen sind daher von Geburt an Hermeneutiker, und der Grundmodus ihres In-der-Welt-Seins ist das Verstehen“ (Jung 2001, S. 95). Damit transformiert sich die Hermeneutik von der Grundlagenreflexion der Geisteswissenschaften zur hermeneutischen Philosophie. Für das Verhältnis von Verstehen und Interpretation bedeutet dies, dass der in der traditionellen Texthermeneutik entfaltete Modus, durch die kundige, regelgerechte Auslegung zum Verständnis zu gelangen, radikalisiert wird. Die primäre Tätigkeit ist nun das Verstehen als Deutung der Lebens- und Reflexionspraxis des interpretierenden Subjekts selbst. Sie dient letztlich dazu, das je eigene Dasein diesem „selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein“ (Heidegger 1988 [1923], S. 12). Die mit dieser Denkfigur verbundene Problemkonstellation wurde durch Heideggers Schüler Gadamer (1986) unter dem Titel des Horizontcharakters des Verstehens noch eingehender erörtert. Alles, was Menschen verstehend für sich zu erschließen suchen, ist von einem „Hof impliziter Welterschließung umgeben“ (Jung 2001, S. 114), welcher die Art und Weise präformiert, in der die Objekte des Verstehens aufgefasst und verarbeitet werden. Dieses universale Kontextualitätsprinzip muss als

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geschichtlich gewordener Sinnhorizont begriffen werden: Jede Form von expliziertem Verstehen und Wissen wird von einem Vorverständnis getragen, das selbst nicht vollständig offengelegt werden kann. Dies wiederum inkludiert eine starke Aufwertung der historisch-kulturellen Tradition, in der Einzelne stehen. Gadamer setzte mit seiner Konzeption der Hermeneutik deutlicher als Heidegger an der zuletzt von Dilthey geführten Diskussion der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften an, gab aber der damit verbundenen Problemstellung eine neue Wendung: Nach Gadamers Verständnis hat Dilthey seinen Lösungsansatz noch zu sehr am Methodenideal der Naturwissenschaften ausgerichtet. Es gehe aber den Geisteswissenschaften nicht um die Erzeugung und Verknüpfung objektivierbarer Fakten, ihr Ziel sei vielmehr „die Bildung und Erziehung des Menschen durch die Entwicklung seiner Urteilskraft“ (Grondin 2009, S. 53). Gadamer hatte zwar keine generellen Bedenken gegen systematisch gewonnenes Wissen, „er befürchtet aber, dass die ausschließliche Herrschaft dieses Erkenntnismodells uns für andere Wissens- und Wahrheitserfahrungen blind machen kann“ (Grondin 2009, S. 53). In seiner Version hermeneutischer Erfahrungsbildung tritt demgegenüber ein Bildungsideal in den Vordergrund, das beispielsweise die Auseinandersetzung der Menschen mit Werken der Kunst leite und bei dem die Erhebung über die Privatheit und Borniertheit von Interessen und Vorlieben im Zentrum stehe. Dies mache offen für andere Horizonte des Verstehens und lehre, Abstand von sich selbst zu gewinnen (Gadamer 1986 [1960], S. 41). Diese Neuausrichtung der Hermeneutik hatte unmittelbare Konsequenzen für den Begriff der Interpretation. Im Zentrum der diesbezüglichen begrifflichen Bestimmungen aus dem Feld der Sozialwissenschaften und der Psychologie steht vielfach das in absichtsvoller und bewusster Einstellung realisierte, explizierte und methodisch kontrollierte, auf Transparenz und intersubjektive Zustimmungsfähigkeit angelegte Bemühen um das Verstehen von Texten, Handlungen und anderen praktischen Aspekten der menschlichen Existenz (Straub 1999, S. 211). Dieses Verständnis macht deutlich, dass für Interpretationen gute Gründe gegeben werden sollten: sie sollten durch theoretische Perspektiven, methodische Verfahren und praktische Konsequenzen legitimiert sein. Dies würde auch Gadamer nicht in Abrede stellen. Gleichwohl ist darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei der Interpretation (von Texten) nicht um eine vollständig kontrollierbare Praxis handelt, sondern im Fortgang der Auslegung durchlaufen die Interpret/innen einen vielschichtigen Prozess der Auseinandersetzung mit den Gegenständen ihrer Bemühungen um Verstehen sowie der Reflexion auf den Deutungsvorgang selbst. Dies und die damit verbundenen Besonderheiten spiegeln sich im Begriff des hermeneutischen Zirkels.

2.5

Der hermeneutische Zirkel

Die Denkfigur des hermeneutischen Zirkels durchzieht die Geschichte der Hermeneutik und ist vielleicht ihr bedeutsamstes Charakteristikum. Im Sinne einer

Hermeneutik

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einfachen Definition bedeutet „hermeneutischer Zirkel“ zunächst, dass das Einzelne nur aus dem Ganzen und das Ganze nur aus dem Einzelnen verstanden werden kann (Gadamer 1986 [1960], S. 296). Diese Denkfigur wurde bereits im Zeitalter der Reformation von Melanchthon beschrieben: Im Zuge seiner an der Rhetorik entfalteten hermeneutischen Analysen wies er auf die Notwendigkeit hin, den Sinn des gesamten Textes einschließlich seiner relevanten Bezüge zu erfassen, um von dort ausgehend die einzelnen Textelemente prüfen und analysieren zu können (Grondin 2001, S. 64). Diese Vorformulierung des hermeneutischen Zirkels ist noch didaktisch gehalten im Sinne einer Einführung in die Interpretationskunst. Ähnlich wurde noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts (etwa von Friedrich Ast; s. Jung 2001, S. 57–58) herausgestellt, wie sich Teilbedeutung und Gesamtbedeutung wechselseitig bedingen, wobei bei profunder Kenntnis des Gesamtkontextes der Sinn der Teilelemente sich unschwer entziffern lasse. Auch bei Schleiermacher wurde das Verhältnis von Teil und Ganzem im zu deutenden Text als eine im Interpretationsprozess mehrfach zu durchlaufende Struktur ausgewiesen, die den Verstehensfortgang eher befördere als behindere. In diesem Sinne hatte er das Bild der Spirale, das Offenheit, Revisionsbereitschaft und ein Fortschreiten im Verstehen impliziert, dem des geschlossenen Kreises vorgezogen (Jung 2001, S. 66). Eine signifikante Umwandlung erfährt die Figur des Zirkels in der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den früheren Versionen der Kreisbewegung des Verstehens weisen nun nicht nur die Relationen im Gegenstand des Verstehens eine zirkelförmige Struktur auf. Vielmehr ist die Beziehung des Subjekts des Verstehens zu seinem Erkenntnisobjekt in den Kreislauf der Textauslegung einzubeziehen. Diese Lesart des Zirkels ist vor allem von Gadamer im Rahmen seiner Erörterung des Verhältnisses von Verstehen und Vorverständnis ausgeleuchtet worden. Dabei erfuhr der durch die Aufklärung diskreditierte Begriff des Vorurteils eine deutliche Aufwertung. Gadamer zufolge sind Vorurteile sogar „Bedingungen des Verstehens“ (Gadamer 1986 [1960], S. 281): Ein von allen Vorurteilen befreites Verstehen, ein Verstehen ohne das Vorverständnis der Interpret/innen sei nicht möglich. Vor diesem Hintergrund hat Gadamer das Verstehen als Teil der das Subjekt und dessen Reflexionsmöglichkeiten überschreitenden Wirkungsgeschichte begriffen und es auch als „ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“ (Gadamer 1986 [1960], S. 295), bezeichnet. Allerdings ist die Zirkelmetapher irreführend: Sie erweckt den Eindruck eines geschlossenen Prozesses im Sinne eines Zirkelschlusses. Das hermeneutisch orientierte Verstehen von Texten und Handlungen schließt aber die Dimension des Neuen, Überraschenden und Unvorhersehbaren mit ein und führt damit auch zu einer Erweiterung und Veränderung des Vorverständnisses. Um diesem Zuwachs an Verständnis und Wissen im Zuge des Durchlaufens beider Zirkel – jenem von Vorverständnis und Textverständnis und jenem von Teil und Ganzem (Lamnek 2005, S. 62–66) – besser gerecht zu werden, bietet sich als zutreffenderer Begriff der von Schleiermacher schon ins Auge gefasste Terminus hermeneutische Spirale an (Bolten 1985; Lamnek 2005, S. 64).

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Zur Lage der Hermeneutik in der gegenwärtigen Psychologie

Gegenwärtig kann die Hermeneutik nicht als eine der führenden Basismethodologien der Psychologie bezeichnet werden. Häufig wird auf sie in der entsprechenden Literatur eher am Rande verwiesen, als dass ihr Begründungspotenzial grundlegend erörtert und entfaltet wird. In bekannten und breiter angelegten Darstellungen der wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie spielt die Hermeneutik keine oder nur eine untergeordnete Rolle (etwa bei Breuer 1991; Kriz et al. 1990; Schneewind 1977; etwas ausführlicher bei Walach 2005). Dort, wo die Geschichte der Psychologie thematisiert wird, wird auf die hermeneutische Erfahrungsbildung als vor allem der Vergangenheit angehörende Erkenntnisform psychologischer Forschung verwiesen, meist jedoch ohne systematische Bezugnahme auf das Erkenntnis- und Methodenideal der Psychologie der Gegenwart. So hat etwa Pongratz (1984) in einem Kapitel seiner „Problemgeschichte der Psychologie“ die Relation von Erleben und Verstehen erörtert. Schönpflug (2000) erwähnt die Hermeneutik an einigen Stellen, setzt sich aber nicht eingehend mit ihr auseinander. Einige wenige Gesamtdarstellungen der Psychologie behandeln und diskutieren das hermeneutische Denken und Methodologiespektrum meist in Abgrenzung zum vorherrschenden kartesianischen oder nomothetischen Wissenschaftsverständnis (z. B. Legewie und Ehlers 1992 oder Straub et al. 1997). Auch dort, wo im Rahmen einer Erneuerung der Psychologie (Legewie 1991) oder der Weiterentwicklung einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie (Jüttemann 1991) versucht wurde, das Verstehen und die Interpretation zu anerkannten methodischen Zugangsweisen in der psychologischen Forschung zu erheben, nimmt der hermeneutische Diskurs meist keinen zentralen Stellenwert ein. Gelegentlich wird sogar davor gewarnt, die Psychologie einseitig am methodischen Ideal der Interpretation auszurichten; die daraus resultierenden Gefahren seien vergleichbar jenen im Bereich der streng naturwissenschaftlich orientierten psychologischen Forschung (Jüttemann 1992, S. 83–84). Vielfach wird im Zuge der Diskussion um das Selbstverständnis der Psychologie auch nicht ausschließlich auf den hermeneutischen Diskurs zurückgegriffen, sondern im Verbund mit anderen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Ansätzen – etwa im Rahmen der Linguistik und Zeichentheorie bei Legewie und Ehlers (1992) oder im Rückgriff auf die Phänomenologie bei Smith et al. (2009) – versucht, eine spezifische Ausrichtung zu generieren. Eine genuin psychologische Lesart der Hermeneutik oder ein spezifisch psychologisches Verständnis des Begriffs der Interpretation auszuarbeiten, ist mehrfach versucht worden. Die vorliegenden Ergebnisse sind unterschiedlich zu beurteilen. Schon Schleiermacher (1977 [1838], S. 167–237) hatte im Rahmen seiner posthum veröffentlichten Vorlesungen zur Hermeneutik das Konzept der psychologischen Auslegung beschrieben und damit etliche Charakteristika psychologischen Verstehens benannt, die vielfach auch heute noch die Grundidee von psychologischinterpretativer Forschung im Kern bestimmen: Im Unterschied zum „grammatischen Verstehen“, das den allgemeinen und überindividuellen Sinn eines Textes zu ermit-

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teln sucht, ziele die psychologische Interpretation auf den „individuelle[n] Ausdruck einer Seele“ (Grondin 2009, S. 19). Auf literarische Texte bezogen bedeutet dies, dass die Hermeneutik „den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden“ (Schleiermacher 1977 [1838], S. 321) intendiere. Höchste Vollkommenheit in der Auslegung ist nach Schleiermacher dann erreicht, wenn durch die Interpretation der Autor bzw. die Autorin besser verstanden wird, als er/sie von sich selbst Rechenschaft geben könne (Jung 2001, S. 64). Im Gefolge der Dilthey-Interpretation der Schleiermacher’schen Hermeneutik wurde der psychologische Aspekt der Auslegung mehr und mehr von der grammatischen Interpretation im Sinne Schleiermachers isoliert. Es entstand so das Zerrbild einer „Empathie-Hermeneutik“ (Jung 2001, S. 63), welche auf dem methodisch nicht kontrollierbaren Sich-Einfühlen einer Seele in eine andere Seele beruht. Im Zuge der Trennungsgeschichte der geistes- und naturwissenschaftlichen Denkstile der Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts (s. Schmidt 1995) war es dann leicht, vor dem Hintergrund des Methodenideals experimenteller und exakter Forschung das Paradigma des Verstehens und der Interpretation als unwissenschaftlich zu diskreditieren. In gewisser Weise bestimmt dieses Bild vielfach bis heute auch dort die Diskussion, wo eine Aufwertung hermeneutisch orientierter Forschung versucht wird. So spricht Norbert Groeben (1986) im Rahmen eines einheitlichen Forschungsprogramms der Hermeneutik einen bedeutenden Stellenwert im Prozess psychologischer Erfahrungsbildung zu. Gleichzeitig erfährt aber der auf dem Verstehen beruhende Schritt im Forschungsprozess eine deutliche Einschränkung, da die Prüfung und Sicherung der Erkenntnis wiederum nur im Rahmen des deduktiv-nomologischen Paradigmas erfolgen kann. In gewisser Weise wird hier das bereits von Barton und Lazarsfeld (1955) entwickelte Phasenmodell, demzufolge qualitative Studien der Hypothesengenerierung und sich anschließende quantitative Studien der Hypothesenprüfung dienen sollen, fortgeschrieben. Demgegenüber erhält bei Fahrenberg (2002) die Interpretation einen eigenen Platz im Methodenkanon der Psychologie. Psychologisches Verstehen und Interpretieren wird von ihm weniger als Intuition oder Deutungskunst, sondern als lehr- und lernbare Methodik im Sinne eines Handwerks begriffen. An mehreren Beispielen psychologischer Forschung (z. B. Autobiografie, Biografik, Trauminterpretation, Textanalyse, Schriftinterpretation) wird ein „nüchterner Begriff von Interpretation“ (Fahrenberg 2002, S. 374) entfaltet, der auf den Diskurs der Hermeneutik nur am Rande bezogen wird. Insgesamt wird die hermeneutische Tradition als wenig brauchbar für die Entwicklung einer einheitlichen allgemeinen Interpretationslehre eingestuft. Denn die in der hermeneutischen Reflexion verwendeten Begriffe seien „durch ihre Tradition und durch uferlose Kontroversen so belastet, dass sie keinen prägnanten Bezugsrahmen für die Methodologie einer empirischen Disziplin geben können“ (Fahrenberg 2002, S. 374). So bleibt allerdings unklar, auf welche Weise die an mehreren Stellen in Fahrenbergs Buch angeführten Prinzipien, Strategien und Regeln für die psychologische Interpretation – darunter auch hermeneutische Regeln – legitimiert werden können.

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Demgegenüber greift Straub (1999, S. 201–326) ausdrücklich auf den Diskurs der hermeneutischen Philosophie zur methodologischen Grundlegung einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie zurück. Er verweist auf die Notwendigkeit einer Klärung des Interpretationsbegriffs und nutzt die Hermeneutik als Kunst der Problematisierung des Unverständlichen oder allzu Selbstverständlichen. Die Diskussion und Weiterführung des hermeneutischen Denkens erfolgt in drei unterscheidbaren, aber aufeinander beziehbaren Hinsichten. Thematisiert werden Sinn und Bedeutung eines Interpretandums für den Autor/die Autorin (intentio auctoris), für den Text selbst als autonome Struktur (intentio operis) und für die Rezipient/innen (intentio lectoris). Während im Rahmen der ersten Dimension vor allem intentionalistische und objektivistische hermeneutische Ansätze einer deutlichen Kritik unterzogen werden und der dritte Zugang am Beispiel der Tiefenhermeneutik (Lorenzer 1988) konkretisiert wird, führt Straub zur Darlegung der Texthermeneutik einen eindringlichen Dialog mit Gadamer. Dabei werden Prinzipien der interpretativen Sozialforschung (etwa das Prinzip der Offenheit sensu Hoffmann-Riem 1980) auf Grundeinsichten der hermeneutischen Philosophie entlang der ansatzweise auch hier entwickelten Kernelemente der Hermeneutik Gadamers systematisch bezogen. Gleichzeitig wird versucht, den Zugang Gadamers in jenen Punkten weiterzuführen, wo – wie etwa beim Konzept der Horizontverschmelzung – substanzielle und universalistische Annahmen einfließen. Gerade für eine kulturpsychologisch ausgerichtete Hermeneutik sind deshalb die beiden anderen genannten Intentionsdimensionen – die intentio auctoris und die intentio lectoris – stets mit einzubeziehen, wenn es darum geht, die freilich immer perspektivisch zu verstehende Interpretationswahrheit einer menschlichen Äußerung oder Handlung zu ergründen. Methodologisch und methodisch wirksam werden diese Überlegungen zu einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie im Rahmen der sogenannten relationalen Hermeneutik ausformuliert (Straub 1993, 2010; Straub und Shimada 1999). Eine wesentliche Voraussetzung dieses Zugangs liegt in der Einsicht, dass „das Verstehen und Interpretieren sozialer und kultureller Phänomene stets an Unterscheidungsmöglichkeiten des Verstehenden gebunden ist“ (Straub 2010, S. 66). Fremdes erscheint immer in der Perspektive desauslegenden Subjekts. Dessen Weltansicht und daran geknüpfte sprachlichsymbolisch verfasste Deutungsmuster bilden unumgängliche Eckpfeiler jeglicher Interpretation. Das Verstehen und Auslegen von sozialen und kulturellen Objektivationen kann deshalb auch im Rahmen des methodologischen Zugangs der komparativen Analyse rekonstruiert werden (Straub 1990): Vergleichen, Kontrastieren, Analogisieren und Differenzieren bilden wesentliche Elemente hermeneutisch orientierter psychologischer Wissens- und Erfahrungsbildung. Der Verstehens- und Interpretationsprozess im Kontext der relationalen Hermeneutik durchläuft mehrere Ebenen (vgl. Abb. 1). Die damit verbundenen Auslegungsschritte müssen nicht zeitlich strikt nacheinander ausgeführt werden. Kennzeichnend für die hermeneutische Herangehensweise sind vielmehr Schleifen, Wendungen und Neuausrichtungen im Interpretationsprozess. Idealtypisch stellt der erste Schritt die sogenannte

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Formulierende Interpretation

Vergleichende Interpretation (Referenz auf VH)

Alltagswissen des Interpreten als VH

Eigene empirische Erkenntnisse als VH

Wissenschaftliche Erkenntnisse als VH

Imaginative, fiktive oder utopische VH

Konstruktion von Ähnlichkeits- und Differenzrelationen durch bestimmende und reflektierende Interpretationen

Typisierungen und Typenbildung

Abb. 1 Interpretationsprozess der relationalen Hermeneutik und Typen von Vergleichshorizonten (VH) (nach Straub 1993, S. 166 sowie Straub 2010, S. 72)

formulierende Interpretation dar, welche auf ein erstes inhaltliches Grundverständnis des Textes zielt (Straub 1993, S. 162). Dabei wird der zu interpretierende Textkorpus in sinntragende Segmente gegliedert und mit Stichworten versehen. Textinhalte werden durch Paraphrasen reformuliert. Ziel dieses Schrittes ist eine möglichst immanente Rekonstruktion des Welt- und Selbstverständnisses des Subjekts, welches den Text produziert hat. Die sich anschließende extensive vergleichende Interpretation erweitert und vertieft die formulierende Interpretation. Dabei erhalten komparative Perspektiven oder Vergleichshorizonte eine zentrale Bedeutung. Äußerungen im Text werden durch relevante Gegenhorizonte, die in den Interpretationsprozess durch das Interpretationssubjekt eingespeist werden, neu ausgeleuchtet. Dies ermöglicht eine wesentliche Erweiterung und Vertiefung des vorhandenen Wissens. Solche Gegen- oder Vergleichshorizonte können aus verschiedenen Quellen stammen. Unterschiedliche komparative Perspektiven ergeben sich im Kern durch die Bezugnahme auf vier Typen von Vergleichshorizonten (Straub 2010, S. 72–78): a) das Alltagswissen des verstehenden und interpretierenden Subjekts einschließlich der daran geknüpften Lebenserfahrungen, emotionalen Einstellungen und normativen Bezugssysteme, b) aus eigener Forschung gewonnenes empirisches Wissen, c) aus dem Fundus entsprechender Publikationen extrahierte wissenschaftliche Erkenntnisse aus Theorie, Forschung und (reflektierter) Praxis sowie d) imaginatives, spekulatives Wissen, welches auch fiktionalen (z. B. aus Literatur, darstellender Kunst) oder utopischen Charakter (z. B. aus alternativen Lebensoder Gesellschaftsentwürfen, s. Sichler 2009) aufweisen kann.

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Durch die Nutzung dieser Vergleichshorizonte ergeben sich vielfältige Beziehungen zwischen zu interpretierenden Teilen im Textkorpus und Wissensbeständen, die durch das Interpretationssubjekt an den Text herangetragen werden. Dabei kann die durch den Akt des Vergleichens konstituierte Interpretation auf zwei Formen der Urteilskraft zurückgreifen: die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft. Darauf aufbauend werden zwei gleichlautende Formen der Interpretation unterschieden (Straub 1993, S. 165–170, 2010, S. 78–80). Im Zuge der bestimmenden Interpretation stützt man sich beim Vergleichen auf bereits vorhandene, etablierte Begriffsbildungen, denen die in Frage stehenden sozialen Phänomene zugeordnet werden. Die reflektierende Interpretation richtet ihre Bemühungen um Verstehen auf solche Phänomene, die sich der Subsumption unter bekannte Typisierungen oder Kategorien entziehen. Sie arbeitet sich gewissermaßen am Nicht-Identischen ab (Straub 2010, S. 79). Dabei stehen die Identifizierung, Darstellung und Begründung von prinzipieller, (zunächst) nicht überwindbarer Differenz im Fokus der Interpretation. Weitere sich anschließende Schritte können eine detaillierte Ausarbeitung der betreffenden Differenzrelationen oder eine Erweiterung des Vokabulars auf Seiten des Forschungssubjekts (und damit auch die begriffliche Erweiterung in Frage stehender Theorien) sein. Typisierungen oder Typenbildungen schließen den Interpretationsprozess der relationalen Hermeneutik ab. Mit der Bildung von Typen gehen in der Regel bestimmte Idealisierungen einher, da vom konkreten Einzelfall abstrahiert wird. Gleichwohl handelt es sich bei Typisierungen um bestimmte Formen der Generalisierung, welche das individuelle Moment noch erkennbar in sich tragen. Der Typus repräsentiert gewissermaßen das Allgemeine im Gewand des Besonderen (Kuckartz 2010; Straub 1990). Die relationale Hermeneutik greift die aus der Geschichte der Hermeneutik stammenden, teils ambivalenten Diskursmerkmale (siehe Abschn. 2.1) auf und konzeptualisiert auf dieser Grundlage das sozialwissenschaftliche Unternehmen der Textinterpretation einerseits als methodisch kontrollierbares Fremdverstehen, andererseits aber auch als kreativen Prozess, der sich am Ende immer an hermeneutischer Differenz abzuarbeiten hat. Als nicht zuletzt sich selbst reflektierende Kunst der Deutung sozialer und kultureller Phänomene ist ihr Anspruch auf Geltung jener Erkenntnisse, die aus diesem Prozess hervorgehen, auf der einen Seite legitimiert. Auf der anderen Seite kann freilich jede sozial- und kulturwissenschaftliche Interpretation wiederum Gegenstand weiterführender hermeneutischer Bemühungen sein.

4

Ausblick: Stand und Perspektiven

Wie jeder philosophische Diskurs blieb auch die Hermeneutik nicht ohne Kritik. Neben prinzipiellen Einwänden aus Sicht der analytischen Philosophie (z. B. Stegmüller 1986), können die Gegenargumente grob in zwei Gruppen aufgeteilt werden:

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1. Deutliche Kritik durch Habermas (1982) erntete die von Gadamer vorgenommene Aufwertung der Vorurteile und des Traditionszusammenhangs im Prozess des Verstehens. Habermas zufolge verkannte Gadamer die dem Verstehen innewohnende Kraft der Reflexion und Kritik bestehender Verhältnisse. Wenn das Verstehen seine Voraussetzungen nicht zu erkennen in der Lage und lediglich in den Traditionszusammenhang eingeschrieben sei, könne falsches Bewusstsein, das mit gesellschaftlichem Scheinkonsens einhergehe, nicht erkannt werden. Heute wird die Gadamer-Habermas-Kontroverse eher als Scheindisput aufgefasst (Straub 1999, S. 265). Dafür sprechen gewisse Tendenzen der Annäherung beider Autoren in der Folgezeit sowie die von beiden getragene Einsicht, dass der hermeneutische Diskurs in der Fähigkeit der Sprache begründet liege, sich selbst zu überschreiten, und dass kritische Reflexion auf Prozessen der Verständigung beruhe (Grondin 2009, S. 73–78). 2. Aus dem Umkreis der Postmoderne und des Dekonstruktivismus hielten Autoren wie Jean-François Lyotard (1986) und Jacques Derrida der Hermeneutik eine totalitäre Tendenz vor (Grondin 2009, S. 97–113). Im Sinne einer „singularisierenden Hermeneutik“ (Marquard 1981) werde dem Textkorpus ein universelle Geltung beanspruchender Sinn übergestülpt. Der metaphysische Wille zur Macht werde in der Horizontverschmelzung Gadamers perpetuiert, Differenz werde negiert oder unterdrückt. Der Pluralität von Spiel- und Lesarten postmoderner menschlicher Existenz könne die Hermeneutik damit nicht gerecht werden. Diesem Vorwurf begegneten verschiedene Autor/innen mit einer auf Pluralität und Perspektivität setzenden Version hermeneutischen Denkens (z. B. Marquard 1981; Sichler 1994). Ferner wurde u. a. von Gadamer selbst (Grondin 2001, S. 164–167) versucht aufzuzeigen, dass die Konzeption des Verstehens in einem dialogischen Gesprächsmodell begründet liege, das Verständigung über unterschiedliche kulturelle Traditionen erst ermögliche und Differenz nie endgültig aufhebe (Jung 2001, S. 136). Eine weitere Strategie der Verteidigung hermeneutischer Orientierung in Philosophie und Wissenschaft setzt auf deren inhärentes, gegebenenfalls noch zu explizierendes kritisches Potenzial (Kinsella 2006; Kögler 1992). Eine differenzierte Betrachtung von Objekten des Verstehens in ihrem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext und die Reflexion auf den Prozess des Verstehens selbst sind jedenfalls ohne Kritik kaum vorstellbar. Insbesondere die Weiterentwicklung der Hermeneutik zur Tiefenhermeneutik (Lorenzer 1988; Straub 1999, S. 280–326), bei der im szenischen Verstehen die Text-Interpret/in-Interaktion und die Dimension des Unbewussten im Objekt und Subjekt der Deutung in das Selbstverständnis der Hermeneutik einbezogen wird, ermöglicht die Entfaltung kritischer und utopischer interpretativer Sprachspiele (Sichler 2009). Wie immer auch Konzepte und Methoden der interpretativen Sozialforschung ausgearbeitet werden, eine Auseinandersetzung mit den relevanten Grundlagen der Textauslegung erscheint unumgänglich. Ein Forum für eine daran anknüpfende Beurteilung qualitativer Forschung in der Psychologie bietet der nach wie vor lebendige, auch Gegenstimmen mit einbeziehende, hermeneutische Diskurs.

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R. Sichler

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Symbolischer Interaktionismus Von der Interpretation zur interventionistischen Forschung Rainer Winter

Inhalt 1 Die Tradition des symbolischen Interaktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehung und Ursprünge des symbolischen Interaktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theorie, Perspektiven und Methodologie des symbolischen Interaktionismus . . . . . . . . . . . . 4 Die poststrukturalistische Transformation des symbolischen Interaktionismus . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag zeigt, wie sich der symbolische Interaktionismus als eine einflussreiche Tradition der Sozialpsychologie und der Soziologie entwickelt hat. Nach einer Diskussion seiner Ursprünge im amerikanischen Pragmatismus und bei George H. Mead wird Herbert Blumers theoretisches Programm diskutiert. Anschließend wird die poststrukturalistische Transformation des symbolischen Interaktionismus behandelt. Vor allem mit den Arbeiten von Norman K. Denzin wird eine Hinwendung zu Performance, Intervention und Kritik verbunden. Schlüsselwörter

Interaktion · Interpretation · Soziale Welten · Intervention · Performance

R. Winter (*) Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_12

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1

Die Tradition des symbolischen Interaktionismus

1.1

Transdisziplinäre Orientierung

Der symbolische Interaktionismus war im 20. Jahrhundert eine der einflussreichsten Traditionen in der Sozialpsychologie und in der Soziologie. Die qualitative Forschung verdankt ihm wichtige Impulse, Grundlagen und Perspektiven. Seine Ideen und Methoden haben unser Denken und unsere Forschung massiv verändert, Disziplinen wie die Soziologie entscheidend transformiert und in der Psychologie deutlich gezeigt, dass die Grenzen zur Soziologie überschritten werden müssen, wenn das menschliche Handeln verstanden und seine Logik beschrieben werden soll: Individuum und Gesellschaft lassen sich nicht trennen.

1.2

Merkmale

Der Ausgangspunkt des symbolischen Interaktionismus ist die Fähigkeit des Menschen, Symbole produzieren und verwenden zu können. Mittels Sprache können Erfahrungen ausgetauscht und Bedeutungen geteilt werden. Stimulus-ResponseReaktionen werden überwunden, eine Kultur entsteht. So gilt das Interesse dieser Denktradition den Prozessen, in denen Menschen sich selbst definieren, ihre Absichten und Gefühle, Situationen und die Welt, die sie umgibt, sprachlich interpretieren. Sie bilden geteilte Bedeutungen, Routinen und Gewohnheiten aus, schaffen eine (temporäre) gemeinsame Kultur: Diese ist Veränderungsprozessen unterworfen und wird in Interaktionen ständig transformiert. Der symbolische Interaktionismus zeigt, wie wir mit anderen Bedeutungen verwenden und modifizieren, wie wir sie nutzen, um unsere Handlungen und unser Leben zu beschreiben und zu verstehen. Er betont, dass Bedeutungen nicht fixiert und stabil sind, sondern sich verändern, oft mehrdeutig sind und wie neue Bedeutungen entstehen. Deshalb erforscht er z. B., wie die Interpretation von Situationen wechseln oder eine Biografie nach epiphanischen Momenten anders verstanden werden kann (Denzin 1989). Er interessiert sich für die Prozesse der Veränderung im kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Im Zentrum des symbolischen Interaktionismus steht weder das Individuum noch die Gesellschaft. Es sind die Interaktionen, in denen Bedeutungen ausgehandelt werden, Ordnung entsteht und sich in der Auseinandersetzung mit anderen das eigene Selbst ausbildet. Deshalb ist die soziale Wirklichkeit ein emergenter und sich andauernd verändernder Prozess.

1.3

Historische Positionierung im Kontext von Psychologie und Soziologie

Von Anfang an stand der symbolische Interaktionismus mit seiner Orientierung am Verstehen von Symbolen und der sozialen Interaktion zwischen Individuen in Opposition sowohl zu den Strömungen der Psychologie, die sich als Naturwissen-

Symbolischer Interaktionismus

147

schaft verstehen, als auch zu dem die Soziologie lange Zeit dominierenden Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons (1964), für den die Stabilität des gesellschaftlichen Lebens, die Konsistenz verinnerlichter Normen und die soziale Integration zentral waren. Mullins und Mullins (1973) bezeichneten den symbolischen Interaktionismus als „loyale Opposition“ zum Mainstream. Wie Blumer (1969a) beklagte, haben Parsons und seine Schüler/innen die Sozialpsychologie von Mead (1934) nicht verstanden. Beeinflusst durch den Pragmatismus in der Philosophie und in der Psychologie betrachten symbolische Interaktionist/innen die Gesellschaft und auch das Selbst als fragile und kontingente menschliche Schöpfungen. Ihr Interesse gilt der sozialen Veränderung und der demokratischen Transformation von Lebenszusammenhängen. Dabei sind sie nicht auf der Suche nach beständigen Strukturen, das Handeln determinierenden Normen oder universellen Gesetzen, sondern erforschen die Spannungen, Ambivalenzen, Konflikte und Aushandlungen sozialer Welten. Im Zentrum ihrer Analysen und empirischen Forschungen stehen nicht die integrierte Person oder ein die „Normalität“ und den statistischen Durchschnitt der Bevölkerung repräsentierendes psychologisches Subjekt, sondern oft Außenseiter/innen, Underdogs oder Exot/innen, die von der Norm abweichen wie z. B. Vagabundierende, Kleinkriminelle, Spieler/innen, Jazzmusiker/innen, Hippies oder Homosexuelle, die überwiegend als Held/innen ihres Alltags geschildert und auf diese Weise romantisiert werden. So begreifen symbolische Interaktionist/innen sich selbst bisweilen als kulturelle Romantiker/innen, was sie positiv bewerten (Denzin 2000). Sie lehnen den Zwang zur Generalisierung und Standardisierung ab und versuchen dagegen die Einzigartigkeit, Singularität und Prozesshaftigkeit menschlicher Phänomene zu erfassen.

1.4

Der symbolische Interaktionismus heute

Auch in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ist der symbolische Interaktionismus eine vitale, intellektuell fruchtbare, methodisch innovative und experimentelle Denk- und Forschungsrichtung, die vor allem im Bereich der qualitativen Forschung ihre eigenen Wege geht und sich szientistischen Konzeptionen von Psychologie und Soziologie weiter konsequent verweigert (Denzin 2016). Die die disziplinären Felder dominierenden Traditionen übernehmen auf der einen Seite seine Ideen (Atkinson und Housley 2003), marginalisieren bzw. verdrängen aber den symbolischen Interaktionismus als eigenständige Tradition in der Psychologie oder Soziologie. Trotz aller Vereinnahmungsversuche und Totsagungen lebt er aber fort und hat seit Mitte der 1990er-Jahre die qualitative Forschung in den USA radikal und entschieden aus dem Korsett von Positivismus und Postpositivismus gelöst (Denzin und Lincoln 1994, 2005, 2003). Die qualitative Forschung orientiert sich nun nicht mehr an naturwissenschaftlichen Idealen und Kriterien, sondern setzt die „humanistische“ Tradition interaktionistischen Denkens fort, indem sie ihre eigenen methodischen und methodologischen Vorgehensweisen (weiter-)entwickelt (Denzin 2010; Clarke 2012).

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Entstehung und Ursprünge des symbolischen Interaktionismus

Der symbolische Interaktionismus entstand im Kontext des amerikanischen Pragmatismus (Rock 1979; Joas 1988; Helle 2001). Das zweibändige Werk „The Principles of Psychology“ (1890) von William James, John Deweys innovativer Artikel „The Reflex Arc Concept in Psychology“ (1896), Charles Horton Cooleys „Human Nature and the Social Order“ (1902) sowie die Beiträge von George Herbert Mead (1934) begründeten erstmals die interaktionistische Perspektive, die sich auf die subjektive Dimension der menschlichen Erfahrung richtete und diese verstehen wollte. Gleichwohl orientierten sich diese Autoren insofern an den Naturwissenschaften, als sie eine objektive Wissenschaft des menschlichen Verhaltens anstrebten. Für den Pragmatismus, der eine äußerst vielschichtige, komplexe und oft unterschätzte Denktradition darstellt, ist charakteristisch, dass er das Hauptaugenmerk auf die Aktivität und Kreativität jedes menschlichen Wesens legt, auf dessen Fähigkeit, in der Interaktion mit anderen Probleme lösen zu können, Handlungen zu koordinieren und das eigene Tun selbstreflexiv zu erfassen und zu bestimmen. Diese Perspektiven und Themen wurden vom symbolischen Interaktionismus aufgenommen. In seiner phänomenologisch orientierten Psychologie arbeitete William James die Plastizität menschlicher Antriebe heraus, indem er zeigte, wie habits (Gewohnheiten) sich auf der Grundlage vergangener Erfahrungen herausbilden, sich verfestigen und so die ursprünglichen Instinkte kanalisieren. Er unterschied zwischen dem I, dem Zentrum des kontinuierlichen und bei jeder Person einzigartigen „Bewusstseinsstroms“, und dem me, dem Selbst als Objekt, die in der Erfahrung miteinander interagieren. Das Selbst, das verschiedene Dimensionen hat (z. B. materielle, geistige oder soziale), begriff er als die Summe dessen, was ein Individuum ausmacht (James 1890, S. 291). Wie viele soziale Selbste jemand ausbildet, hängt nach James von den Bezugsgruppen ab, mit denen er oder sie interagiert und die sich ein Bild von ihm/ihr gemacht haben (James 1890, S. 294). Auch der Philosoph, Psychologe und Pädagoge John Dewey, dessen Intention es war, die Philosophie so zu rekonstruieren, dass sie Lösungen für alltägliche Probleme anbieten kann, betonte die Bedeutung der sozialen Interaktion für Erfahrung und Handeln. Sein bahnbrechender Artikel „The Reflex Arc Concept in Psychology“ (1896) stellte eine Fundamentalkritik an dem den Mainstream der Psychologie dominierenden dualistischen Modell von Stimulus und Response dar, das die beobachtbaren Bedingungen des Verhaltens ins Zentrum rückt. Dewey legte dar, dass ein Organismus Stimuli nicht passiv rezipiert, sondern sich mittels erworbener habits aktiv mit Situationen auseinandersetzt: Die Anpassung des Organismus an die soziale Umgebung lässt sich als Interaktion von „Geist“ und Umgebung konzipieren. Wie Mead hob Dewey hervor, dass in phylogenetischer Sicht die Sprache es erlaubt, menschliche von nicht-menschlichen Tieren zu unterscheiden. Sie ermöglicht es, Gedanken, Vorstellungen und Gefühle, die in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung entstehen, im eigenen Selbst oder dem von anderen zu lokalisieren. Erst die Kommunikation schafft die Grundlagen für die soziale Konstitution des Selbst und die sinnhafte Erfahrung der Welt.

Symbolischer Interaktionismus

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Charles Horton Cooley (1902) konzipierte die Interaktion als ein vermittelndes Band zwischen Individuen und ihrer sozialen Umgebung, die beide in der Gesellschaft wechselseitig voneinander abhängig sind. Die menschliche Natur betrachtete er als formbar. Vor allem Kinder zeichnen sich, so Cooley, durch eine erstaunliche Fähigkeit zum sozialen Lernen aus: Sie haben dann ein Gefühl für die eigene Identität ausgebildet, wenn sie erkennen, dass ihr Selbstbild die Imaginationen ihrer Bezugspersonen über das, was ihr Selbst ausmacht, reflektiert. Wie später Mead ging auch Cooley davon aus, dass das Kind sich zuerst des Selbst von anderen bewusst wird, bevor es ein eigenes Selbst ausbildet. Methodologisch trat Cooley für eine einfühlende Introspektion ein, die die Bedeutungen und Interpretationen der Teilnehmenden von Interaktionen erfassen sollte. George Herbert Mead, ein enger Freund von Dewey, war einer der Begründer der Sozialpsychologie. Er lehrte in Chicago und entfaltete dort einen großen Einfluss. Mead (1934) arbeitete systematisch heraus, wie das Selbst in der sozialen Interaktion, im menschlichen Gruppenleben, entsteht. Er begriff das Selbst als einen Prozess, das den Menschen mit der Fähigkeit zur Selbst-Interaktion und somit zur Selbstreflexivität ausstattet. Menschen sind hiernach keine kausal durch die Umwelt gesteuerten Organismen; sie werden auch nicht durch eine psychische Struktur determiniert, vielmehr handeln sie auf der Basis von Interpretationen, indem sie die potenziellen Reaktionen anderer auf das eigene Verhalten antizipieren. Es sind Symbole, die die Herausbildung wechselseitiger Verhaltenserwartungen erlauben, die jedoch in Interaktionen wieder verändert werden können. Zentral für die Meadschen Überlegungen ist, dass die soziale Interaktion ein formender Prozess ist, der auf Interpretation aufbaut und als eigenständiges Phänomen untersucht werden muss. Die Phase des frühen Interaktionismus wurde nicht nur durch die Philosophie und Psychologie pragmatistischer Autor/innen geprägt, sondern auch durch die Chicago School, die lange Zeit die dominierende Richtung in der amerikanischen Soziologie gewesen ist (Smith 1988; Tomasi 1998). Sowohl deren Theorie als auch ihre Favorisierung des empirischen Vorgehens gehen auf den Pragmatismus zurück: Der von der Ethnologie und der Völkerpsychologie kommende William Isaac Thomas beschäftigte sich mit den situationellen und kulturellen Einflüssen auf das Verhalten (Thomas und Thomas 1928). Er hob hervor, dass es die Situationsdefinitionen unterschiedlicher Menschen seien, die die „wirklichen“ Tatsachen hervorbringen – Situationen, die als real definiert werden, sind auch real in ihren Konsequenzen. Dabei treten immer Situationen auf, für die es noch keine Definitionen gibt. Methodologisch trat Thomas wie Robert Park für eine ethnografische Vorgehensweise ein, die sich nun auf die eigene Gesellschaft und Kultur richtete. In der berühmten Studie „The Polish Peasant in Europe and America“ (Thomas und Znaniecki 1918) verwandte er die Methode der „einfühlenden“ Introspektion. Auch Robert Ezra Park (Hughes 1950) favorisierte die Ethnologie der eigenen Kultur, insbesondere die qualitative Erforschung städtischer Lebenswelten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die frühen symbolischen Interaktionist/innen die Bedeutung von Gruppenfaktoren und des sozialen Zusammenlebens als Bedingungen für das individuelle Handeln hervorhoben. Gruppen setzen

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sich hiernach aus miteinander interagierenden Individuen zusammen, die Vorstellungen und Bedeutungen teilen. Daher lehnten die frühen Interaktionist/innen die Auffassung ab, dass Individuen abgeschlossene Einheiten seien, deren Handeln durch interne oder externe Faktoren, auf die sie keinen Einfluss haben, gesteuert würde. Sie arbeiteten heraus, welch wichtige Rolle die Interaktionen, die Individuen und soziale Gruppen verknüpfen, und die Reflexion spielen, und richteten ihr Interesse auf die Formen menschlicher Assoziation und Sozialität, um menschliches Handeln verstehen zu können.

3

Theorie, Perspektiven und Methodologie des symbolischen Interaktionismus

3.1

Das theoretische Programm von Herbert Blumer

Es war der zunächst in Chicago und später in Berkeley lehrende Herbert Blumer, der ausgehend vom Werk der frühen Interaktionist/innen den Begriff des symbolischen Interaktionismus prägte und zur Herausbildung und Kanonisierung dieser Tradition beitrug. Vor allem George Herbert Mead, dessen Vorlesungen in den 1930er-Jahren veröffentlicht wurden und dessen Nachfolge er antrat, hat seiner Ansicht nach die Grundlagen des symbolischen Interaktionismus geprägt, den Blumer als Sozialpsychologie begriff. Er beruht auf drei Grundannahmen (Blumer 1969b [1937], S. 2): „The first premise is that human beings act toward things on the basis of the meanings that the things have for them [. . .] The second premise is that the meaning of such things is derived from, or arises out of, the social interaction that one has with one’s fellows. The third premise is that these meanings are handled in, and modified through, an interpretative process used by the person in dealing with the things he encounters“.

Die erste Prämisse plädiert dafür, den Bedeutungen, die „Dinge“ (objects) für Menschen haben, zentrale Aufmerksamkeit zu schenken. In der psychologischen und soziologischen Forschung wird dies oft nicht gemacht. Man konzentriert sich z. B. in der Psychologie auf Stimuli, Einstellungen, Motive oder kognitive Faktoren, mit denen Handeln erklärt werden soll. Ein Verstehen ist aber nur dann möglich, wenn die soziale Genese von Bedeutungen untersucht wird. Diese entstehen im Prozess der Interaktion zwischen Menschen (Blumer 1969b [1937], S. 4), der eine formierende Kraft besitzt. Sie sind soziale Produkte, die durch die Aktivitäten von Menschen, die miteinander interagieren, geschaffen und verändert werden. Menschen lernen die Bedeutung von „Dingen“ also dadurch, dass sie erfahren, wie andere ihnen gegenüber in Bezug auf die „Dinge“ handeln. Blumer (1969b [1937], S. 5) zeigte, dass dies aber nicht bedeutet, dass erworbene Bedeutungen in der Folge einfach angewandt werden. Vielmehr werden diese Bedeutungen angesichts neuer Situationen einem Prozess der Interpretation unterworfen. In einem Prozess der Selbst-Interaktion, der symbolisch vermittelt ist, werden Bedeutungen ausgewählt, überprüft, modifiziert, verworfen oder transformiert. Dieser selbstreflexive Prozess

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151

ist mit der sozialen Interaktion verbunden und gestaltet diese situativ mit. Das Individuum muss die Welt interpretieren, um überhaupt handeln zu können. Zentral für das interaktionistische Denken ist auch Blumers Konzeption der sozialen Welt. Diese besteht nach Blumer aus „Dingen“, die in sozialen Interaktionen entstanden sind. Unter „Dingen“ werden nicht nur materielle Objekte verstanden, sondern auch soziale Objekte (wie z. B. Professor/innen, Polizist/innen, Väter oder Kinder) und abstrakte Objekte (wie z. B. moralische Prinzipien oder Ideen, philosophische Doktrinen etc.): „It is the world of their objects with which people have to deal and toward which they develop their actions. It follows that in order to understand the action of people it is necessary to identify their world of objects.“ (Blumer 1969b [1937], S. 11)

Mead folgend, bestimmte Blumer auch das Selbst als ein „Ding“, das im Prozess der sozialen Interaktion entsteht und so von den „Definitionen“ der anderen mitbestimmt wird. In Prozessen des role-taking betrachten Menschen sich „von außen“ und machen sich selbst zu „Dingen“.

3.2

Die naturalistische Methodologie von Blumer

Der symbolische Interaktionismus zeigt, dass es gemeinsame und andauernde soziale Aktivitäten sind, auf deren Basis Menschen interpretieren und Handlungen entwerfen. Die geformten und vollzogenen Handlungen bringen die sozialen Welten hervor, in denen Menschen leben. Den unterschiedlichen Formen von Kollektivität gilt das qualitativ-empirische Interesse des symbolischen Interaktionismus. Blumer (1969b [1937], S. 21–46) grenzt sich deutlich von statistischen und quantitativen Techniken ab, die seiner Ansicht nach den spezifischen Charakter empirischer Welten nicht erfassen können. Ihm zufolge müssen nicht nur die verwandten Methoden, sondern jeder Aspekt einer wissenschaftlichen Untersuchung muss einem Wirklichkeitstest unterworfen und auf diese Weise validiert werden: Die vorab aufgestellten Annahmen über soziale Welten dürfen nicht als selbstverständlich hingenommen werden, wie es in vielen psychologischen und soziologischen Untersuchungen getan wird. Deshalb forderte Blumer ins Feld zu gehen und die jeweiligen empirischen Welten direkt aus einer Innenperspektive zu erforschen: „What is needed is a return to the empirical social world“ (Blumer 1969b [1937], S. 34). Die sich natürlich vollziehenden Interaktionen und das Leben in Gruppen in unterschiedlichen empirischen Feldern müssen sensibel und detailliert erforscht werden, um verstehen zu können, was in empirischen Welten eigentlich passiert: „If one is going to respect the social world, one’s problems, guiding conceptions, data, schemes of relationship and ideas of interpretation have to be faithful to that empirical world“ (Blumer 1969b [1937], S. 38). Es lässt sich deshalb nicht vorab bestimmen, welche Methoden angewandt werden, sondern sie hängen von der untersuchten empirischen Welt ab, über die sich die Forschenden Klarheit verschaffen möchten.

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Blumer führt als mögliche methodische Zugänge u. a. die direkte Beobachtung, Interviews, biografische Ansätze oder die Dokumentenanalyse an (Blumer 1969b [1937], S. 41). Er plädiert für eine Untersuchungsweise, die die Elemente ihrer Analyse durch die sorgfältige Untersuchung der Instanzen in der empirischen Welt gewinnt. Denn die Validität von Annahmen über die empirische Welt kann Blumer zufolge nicht durch Laborexperimente und das Testen von Hypothesen geprüft werden, sondern nur durch die direkte Untersuchung der symbolischen Interaktionen in der jeweiligen sozialen Welt, indem man sich in sie begibt und die Position des jeweiligen Individuums oder Kollektivs einnimmt, um zu verstehen, wie es seine Welt sieht. Es sind also Formen der Introspektion nötig, um sich den Standpunkt einer Person oder Gruppe zu eigen zu machen und deren Bedeutungswelt zu eruieren. Blumers kraftvoll elaborierter theoretischer Entwurf des Programms des symbolischen Interaktionismus begründete dessen Chicago School. Daneben gab es auch die von Manford Kuhn (1964) ins Leben gerufene Iowa School, die im vorliegenden Zusammenhang aber weniger interessant ist, weil sie einer positivistischen quantitativen Methodologie verpflichtet war und eher eklektizistisch interaktionistisches Gedankengut verwendete. Dem logischen Positivismus folgend, forderte Kuhn eine einheitliche Methodologie für alle Wissenschaften; es ging ihm um die universale Voraussage menschlichen Handelns. Nach dem frühen Tod von Kuhn begründetet Carl Couch (Couch et al. 1986) eine neue Iowa School, indem er sowohl an Kuhn als auch an Blumer anknüpfte. Er kehrte auch zu den Entwürfen und Vorschlägen von Simmel und Mead zurück, eine naturalistische Wissenschaft sozialer Formen zu entwickeln. In Blumers Programm wurden Vorstellungen eines determinierten Handelns abgelehnt; Handeln habe vielmehr eine nicht vorhersehbare, schöpferische und prozesshafte Dimension. Im Zentrum stehen die Prozesse symbolvermittelter Interaktion zwischen Menschen bzw. deren Prozesse der Selbst-Interaktion. In diesen Prozessen werden Entscheidungen getroffen, Handlungsabläufe entworfen und Handlungen koordiniert. Es geht darum zu untersuchen, wie sich diese Prozesse vollziehen, wie Erfahrungen strukturiert sind und gelebt werden. Blumer (1969c) plädierte für sensitizing concepts, die in der subjektiven Erfahrung gründen und anders als definierende Konzepte keine eindeutigen Grenzen haben. Sie sollen Perspektiven und Rahmen eröffnen, müssen aber am Einzelfall präzisiert werden. Er strebte eine naturalistische Methodologie an, um möglichst realistisch die soziale Welt wiederzugeben. Deren Merkmale sind, so Blumer, nicht a priori gegeben, sondern müssen in ihrem prozesshaften Charakter erforscht werden. Handlungen, „Dinge“ und Menschen entwickeln seiner Ansicht nach lokale und miteinander verschränkte Bedeutungen, die sich nur im Feld erschließen lassen.

3.3

Die Untersuchung sozialer Welten

In der Folge wurde die ethnografische Feldarbeit zum bevorzugten empirischen Vorgehen im symbolischen Interaktionismus. Sie ist qualitativ orientiert, lässt sich von dem, was im Feld passiert, überraschen und versucht, die beobachteten Phänomene analytisch zu erfassen und zu vertiefen. Sie kann auf unterschiedlichen

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Methoden aufbauen, so z. B. auf Interviews, auf der Analyse biografischer und lebensgeschichtlicher Kontexte oder der teilnehmenden Beobachtung, die zur wichtigsten Forschungsstrategie wurde. Sie verlangt von den Forschenden zur selben Zeit Beobachtung und Teilnahme an sozialen und symbolvermittelten Prozessen. Das Selbst der Forschenden wird zur deren Werkzeug, um soziale Welten zu erkunden und zu erforschen. Nicht eine vorab definierte Methode oder aufgestellte Hypothesen, sondern die unmittelbare Erfahrung wird zum Fundament ihrer Wissensproduktion: Erst die ethnografische Arbeit kann zeigen, wie eine soziale Welt aufgebaut ist und welche Probleme sich in ihr finden. Dabei gehen symbolische Interaktionist/innen nicht davon aus, dass „Daten“ gegeben sind und nur entdeckt werden müssen. Vielmehr werden sie in den symbolischen Interaktionen im Feld durch die Forschungspraxis geschaffen. Dies bedeutet auch, dass es verschiedene Wirklichkeiten mit einem Wahrheitsanspruch geben kann. Unterschiedliche Fragen im Forschungsprozess können zu unterschiedlichen Darstellungen der sozialen Welten führen; es interessiert nicht, ob eine Darstellung wahrer als die andere ist, weil es kein externes Kriterium der Beurteilung geben kann. Es gibt nur die Erfahrung der konkreten Wirklichkeit, die plural, vieldimensional und unausschöpflich ist (Stone und Farbermann 1970). So wird der symbolische Interaktionismus von einem pluralistischen Realismus im Sinne von Dewey (1922) getragen. Es ist eine Fülle an Arbeiten zu unterschiedlichen sozialen Welten entstanden, die ein großes Publikum fanden. An dieser Stelle ist z. B. Erving Goffmans Studie „Asylums“ (1968) zu erwähnen. Er entwickelte in Auseinandersetzung mit dem symbolischen Interaktionismus einen eigenen Ansatz und untersuchte auf der Basis von teilnehmender Beobachtung und informellen Interaktionen mit Patient/innen einer psychiatrischen Klinik, wie durch die Form der Behandlung, durch die Professionalisierung von Kontrollmechanismen und die Etablierung einer moralischen Ordnung ein konformes Verhalten der Insass/innen erzeugt wurde. In seiner klassischen Studie „Outsiders“ (1963) hat Howard Becker den Marihuana-Gebrauch unter Jazzmusiker/innen untersucht und drei Phasen eines Lernprozesses unterschieden: Zunächst musste die entsprechende Technik eingeübt werden, dann mussten die Effekte wahrgenommen und in einem weiteren Schritt erlernt werden, die Wirkungen zu genießen. Becker (1963, S. 9) zeigte überzeugend, dass Devianz nicht die „Eigenschaft“ einer Handlung oder Person ist, sondern die Folge einer Anwendung von Regeln und Sanktionen gegenüber einem Verursachenden. In anderen Studien wurde herausgearbeitet, dass soziale Organisationen nicht durch eindeutige normative Regeln strukturiert sind, sondern Felder von Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen darstellen, in denen Bedeutungen ständig ausgehandelt werden. So beschrieben Strauss et al. (1963) das Krankenhaus als negotiated order: Regeln sind hiernach nicht festgelegt, Ziele bleiben oft unklar. In unterschiedlichen informellen Prozessen kommt es zu Aushandlungen, Übereinkünften und Kompromissen. So werden Organisationen im Handeln immer wieder neu konstituiert. Jede soziale Ordnung wird in Aushandlungsprozessen geschaffen und konstruiert. Außerdem wurden unterschiedliche Formen kollektiven Handelns (z. B. im Bereich der Mode oder sozialer Protestbewegungen) sowie Rituale und Kulte

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untersucht (Blumer 1978; Lofland 1977). Insbesondere die Phase zwischen 1971 und 1980 wurde von Norman K. Denzin (1992, S. 13) als die „ethnografische Periode“ des symbolischen Interaktionismus bezeichnet. So entstanden auch eine Soziologie des Alltagslebens (Adler et al. 1987) und ein Projekt, das sich der Untersuchung des urbanen Lebens widmete.

3.4

Die postmoderne Wende

In den 1980er-Jahren begann dann eine intensive Beschäftigung mit postmodernen und poststrukturalistischen Ansätzen (Dickens und Fontana 1991). Die im USamerikanischen Kontext entstandene postmoderne Ethnografie (Clifford und Marcus 1986) stellte den realistischen Anspruch ethnografischer Repräsentationen infrage. Die Formen des Forschens und Schreibens und auch die Macht des Forschers/der Forscherin wurden problematisiert: Gender und race wurden kritisch in ihrer Einbindung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse erörtert. In Auseinandersetzung mit den Cultural Studies wurde die Rolle der Medien zum Thema, insbesondere deren dominant-ideologische Bedeutungen, die in der Regel nicht hinterfragt im Alltag kursieren. Zudem wurde untersucht, was zeitgenössische Hollywoodfilme zur Konstitution eines postmodernen Selbst (Denzin 1991) beitragen. Im Bereich der Methoden ist es in der Folge zu Formen der Bricolage und des Experiments gekommen. Die Autoethnografie entwickelte sich (Adams et al. 2015; Holman Jones et al. 2013) und mit ihr Formen des literarischen Schreibens (Leavy 2013; Richardson 2000). Damit verbunden ist eine Hinwendung zu lokalen Erzählungen und Geschichten, in denen Menschen über ihre Erfahrungen berichten, sie darstellen und interpretieren (Holstein und Gubrium 2000). Hier gibt es enge Verbindungen zu den psychologischen Ansätzen der narrativen Psychologie (Sarbin 1986) und des sozialen Konstruktionismus (Gergen und Gergen 2003a) Schließlich haben einige symbolische Interaktionist/innen eine performative Wende vollzogen, die in Formen von Gesellschafts- und Kulturkritik mündet (Denzin 2003; Gergen und Gergen 2012; Jones et al. 2008; Winter und Niederer 2008). Es ist vor allem Norman K. Denzin und seinen Kollegen und Kolleginnen zu verdanken (Denzin und Lincoln 2005, 2011), dass der symbolische Interaktionismus im 21. Jahrhundert theoretisch und methodisch neue Wege gegangen ist, die jedoch seinen Ursprüngen verbunden bleiben. Sowohl die pragmatistische Philosophie und ihr Wahrheitsbegriff als auch Blumers Kritik am Szientismus und seine Forderung nach einer spezifischen Methodologie, um symbolvermittelte Kommunikation erforschen zu können, beeinflussen bis heute das interaktionistische Denken und Forschen. Deweys Ablehnung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit und seine Konzeption, dass sich Wahrheit in ihren Konsequenzen im Handeln offenbare, prägen z. B. die performative Ethnografie, die Wirklichkeiten aufführt, um im Dialog mit dem Publikum die „Wahrheit“ von Erfahrungen zu bestimmen (Denzin 2007, 2008; Winter und Niederer 2008). Auch die Auffassung von Dewey, dass Wahrheit ein öffentliches Gut in einer demokratischen Gesellschaft sein solle, taucht in der Forderung, qualitative Forschung als Werkzeug zur Herstellung sozialer

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Gerechtigkeit und einer radikalen Demokratie zu nutzen, wieder auf (Denzin und Giardina 2009). An dieser Stelle ist auch Kathy Charmaz (2011a, b) von wichtiger Bedeutung. Sie hat im Anschluss an den Symbolischen Interaktionismus eine konstruktivistisch ausgerichtete Grounded-Theory-Methodologie entwickelt, die sie explizit mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit verbindet.

4

Die poststrukturalistische Transformation des symbolischen Interaktionismus

In „Symbolic Interactionism and Cultural Studies“ (1992) entfaltet Denzin wie Blumer in den 1930er-Jahren ein Programm für den symbolischen Interaktionismus, das sich auf Diskussionen und Auseinandersetzungen im Kreis amerikanischer Interaktionist/innen stützt. Vor dem Hintergrund, dass James Carey (1989, S. 96) der Auffassung ist, der symbolische Interaktionismus sei eine amerikanische Variante von Cultural Studies, weil er die kulturelle und soziale Bedeutung von Symbolen untersucht, öffnet Denzin ihn für die oft gesellschaftskritisch orientierten Perspektiven und Konzepte der britischen Cultural Studies. Vor allem den in Birmingham am 1964 gegründeten – dann 2002 geschlossenen – Centre for Contemporary Cultural Studies entstandenen Arbeiten von Stuart Hall und seinen Mitarbeiter/innen, die selbst wiederum zum Teil vom symbolischen Interaktionismus geprägt worden waren, gilt sein Interesse. So analysiert z. B. Stuart Hall (1980) in seinem berühmt gewordenen Encoding-Decoding-Modell die Medienrezeption als Aushandlungsprozess von Bedeutungen. Die ethnografischen Studien von Paul Willis (1977) zu Arbeiterjugendlichen sind an der Chicago School und am symbolischen Interaktionismus orientiert. Die Studie „Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess“ (Winter 2010) knüpft sowohl an den symbolischen Interaktionismus als auch an die Cultural Studies an. Daneben hat sich Denzin zusammen mit Kolleg/innen sehr früh mit der postmodernen Theorie von Lyotard und Baudrillard auseinandergesetzt (Dickens und Fontana 1991) und sich der Herausforderung durch die Arbeiten von Jacques Derrida gestellt. Denzin sieht in der Ablehnung totalisierender, „großer“ Theorien des Sozialen eine Parallele zwischen postmodernen/poststrukturalistischen Autor/innen und den Interaktionist/innen (Denzin 1992, S. 23): Auch sie präferieren lokale Erzählungen und untersuchen sie mittels unterschiedlicher qualitativer Methoden (z. B. Ethnografien, Lebensgeschichten, Interviews oder Filmanalysen). Es gehe nicht darum, aus anderen Disziplinen Theorien oder Modelle zu importieren und eine umfassende Theorie des Sozialen zu konstruieren, sondern zu zeigen und zu untersuchen, wie Menschen zusammen etwas tun (Becker 1986; Becker und Keller 2016). Biografische Zugänge und gelebte Erfahrungen sollen im Zentrum stehen. Dabei ist die poststrukturalistische Einsicht Ernst zu nehmen, dass die Texte der Forschenden erst die „Dinge“ hervorbringen, über die sie schreiben. Die Produktion kultureller Bedeutungen rückt ins Zentrum der Betrachtung. Texte haben immer plurale Bedeutungen, verwenden unterschiedliche rhetorische Strategien und sind offen für vielfältige

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Lesarten. Es gibt keine wahre Bedeutung eines Textes, allerdings starke bzw. weniger überzeugende Interpretationen. Im Anschluss an die Cultural Studies fordert Denzin (1992, S. 83–84), dass gerade die existenziellen Momente (wie z. B. Epiphanien oder kritische Lebensereignisse) untersucht werden sollen, in denen Individuen über ihre gelebten Erfahrungen berichten, sie in Beziehung zu kulturellen Texten (wie z. B. Filmen) und umfassenderen ideologischen Strukturen setzen. Eine Kontextualisierung der Texte im Alltagsleben ist die Voraussetzung für die systematische Dekonstruktion ihrer Mythen und Vorstellungen. Auf diese Weise könne zum einen ein Einblick in kulturelle und gesellschaftliche Prozesse gewonnen werden. Zum anderen könne durch die Artikulation von Unbehagen deutlich werden, dass persönliche Probleme in politische Auseinandersetzungen einbezogen sind. Dabei haben die existenziellen Momente (wie z. B. kritische Lebensereignisse) zentrale Bedeutung, in denen Menschen ihr Leben neu ordnen und anders gestalten, nachdem sie erkannt haben, wie ihre gelebte Erfahrung durch umfassendere textuelle und kulturelle Bedeutungen geprägt und eingeschränkt wird (Denzin 1989). Die Dekonstruktion der „Mythen des Alltags“ (Barthes 1964) ist die Voraussetzung für das Erleben von Differenz und Wendepunkten sowie die Voraussetzung für Veränderungen. Denzin (1992, S. 65–68) knüpft auch an die feministisch orientierten Arbeiten von Patricia Clough (1992) an, die die verwandten Formen realistischer Darstellung in den Arbeiten von Blumer, Becker und Goffman dekonstruiert. Sie zeigt, wie die drei Autoren den voyeuristischen Blick des Forschers privilegierten, der verborgene „Dinge“ enthüllen sollte. Dabei knüpften sie an Formen des Realismus an, wie sie sich im Roman oder im Kino fanden. Der Leser/die Leserin sollte den Eindruck gewinnen, er/sie könnte sehen und erleben, was die Forschenden selbst wahrgenommen und beobachtet hatten. Erfahrungen können aber nie vollständig präsent sein. Sie werden durch Texte nicht nur wiedergegeben, sondern auch neu geschaffen. Deshalb fordert Denzin eine intensive Auseinandersetzung mit den textuellen Grundlagen und Konventionen wissenschaftlicher Arbeit. Er plädiert auch für Schreibexperimente, die das Verhältnis von Text, Autor/in und Untersuchten neu konzeptualisieren. Hierzu zählen poetische, autoethnografische und aufführungsorientierte Texte (Denzin 2003) sowie das spielerische Element der mystory, in der persönliche Erfahrungen oft multimedial in kulturelle Texte übersetzt werden. Diese werden aufgeführt und sollen Kritik an gesellschaftlichen Zuständen üben. Durch diese eigenen Versionen des Realen stellen sich Forschende in ihrer universalen Singularität dar. Diese Argumentation entwickelt Denzin (1997) in „Interpretive Ethnography“ ausführlich. An die Stelle des klassischen realistischen ethnografischen Textes sollten neue ethnografische Texte treten. Ethnograf/innen bzw. qualitativ Forschende sollten nicht mehr davon ausgehen, dass es eine objektive Darstellung der Erfahrung des/der Anderen geben könne. Diese hätten eigene Auffassungen davon, wie er/sie repräsentiert werden möchte. Deshalb seien dialogische Texte erforderlich, die nicht nur die Stimmen der Schreibenden, sondern auch die der Untersuchten zu Wort kommen lassen: „Ethnography is that form of inquiry and writing that produces descriptions and accounts about the ways of life of the writer and those written

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about“ (Denzin 1997, S. XI). Die Stimmen, die in Texten zu Wort kommen, seien jedoch textuelle und performative Schöpfungen und Kreationen. Für Denzin ist die neuere Ethnografie vor allen Dingen dadurch geprägt, dass sie marginalisierten und lange Zeit vom Diskurs ausgeschlossenen Gruppen der globalen, postmodernen Welt hilft, sich zu artikulieren (Denzin 2005). So setzt er sich mit verschiedenen Standpunkt-Epistemologien auseinander, die Schreibende und ihre Position ins Zentrum des Textes rücken. Auch hier weist Denzin darauf hin, dass es problematisch ist, davon auszugehen, es gebe einen direkten Zugang zur gelebten Erfahrung, der die Basis für das Schreiben sein könne: „The writer cannot write from experience itself. Writing (and filmmaking) are built on the representations of experience“ (Denzin 1997, S. 85). Dennoch schließt sich Denzin der Forderung an, dass Ethnograf/innen oder qualitativ Forschende von einer historisch und kulturell situierten Position aus Erfahrungen beschreiben und analysieren. Dabei spiele das Persönliche, das in seiner politischen Dimension betrachtet wird, eine entscheidende Rolle. So schreibt Denzin (2005, S. 936): „I endorse a critical epistemology that contests notion of objectivity and neutrality. I believe that all inquiry is moral and political. I value autoethnographic, insider, participatory, collaborative methodologies“. Deshalb plädiert er im Anschluss an Richardson (2000) für kritische persönliche Erzählungen (Kurzgeschichten, Selbstzeugnisse, Ich-Erzählungen, persönliche Essays, fotografische Essays etc.), die z. B. in kolonialen, patriarchalen oder neoliberalen Kontexten zu Gegenerzählungen werden können und folglich die dominanten Ideologien und Interpretationsrahmen infrage stellen. Denzin (1997, 1999, 2003, 2009) entwickelte eine interpretativ und performativ orientierte Ethnografie, die die Beobachtenden als Interpretierende versteht und sich Aufführungstexten zuwendet, um die Logik des Voyeurismus zu überwinden und eine Vielfalt von Perspektiven zur Darstellung zu bringen. So können im Feld geführte Interviews in zur Aufführung bestimmte Texte, in poetische Monologe transformiert werden. Sie zeigen, wie Menschen in sozialen Kontexten Geschichte schaffen, und können die inspirierende Grundlage für die Transformation konkreter Situationen durch Akte des Widerstands sein (Denzin 2006, S. 331). Denzin betont, dass vor allem autoethnografische Zeugnisse eine wichtige Dimension der performance ethnography seien, weil sie soziale Missstände kritisieren, Kultur in Bewegung bringen und dem Publikum Erfahrung und Teilhabe ermöglichen können. In einem pragmatistischen Sinne bemisst sich die Wahrheit dieser Aufführungen an ihren Folgen, so an der Betroffenheit und dem Erfahrungsaustausch, an den moralischen und politischen Diskursen, die sie auslösen, und an den sozialen Allianzen, die sie hervorbringen. Sie möchten nicht die Welt darstellen, wie sie „wirklich“ ist, sondern intervenieren und ermächtigend wirken (Denzin 2007, 2009). In „The Qualitative Manifest. A Call to Arms“ (2010) fordert er, dass qualitative Forschung sich am Ideal sozialer Gerechtigkeit orientiert: „Critical scholars are committed to showing how the practices of critical, interpretive qualitative research can help change the world in positive ways. They are committed to creating new ways of making the practices of critical qualitative inquiry central to the workings of a free society.“ (Denzin 2010, S. 25)

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Hierfür muss der symbolische Interaktionismus in eine kritische Theorie der Gesellschaft transformiert werden, die historische, soziologische, kulturelle und politische Perspektiven fruchtbar miteinander verbindet (Denzin 2016, S. 113). Inspiriert von der Vision einer radikaldemokratischen Gesellschaft, soll er neue interpretative Praktiken entwickeln, die helfen können, dieses Ziel zu verwirklichen.

5

Ausblick: Stand und Perspektiven

Der symbolische Interaktionismus hat durch seine Verankerung im Pragmatismus, seiner Orientierung am Verstehen von persönlichen und sozialen Wirklichkeiten und seinen demokratischen Intentionen von Anfang an eine alternative Konzeption von Psychologie und Soziologie verkörpert. Er war neben den Cultural Studies und dem sozialen Konstruktionismus auch die Tradition, die den Poststrukturalismus intensiv rezipiert und sich seiner Radikalität gestellt hat. Die Vitalität und Vielfalt der qualitativen Forschung in den USA, die sich im Rahmen dieser Denktradition oder eng beeinflusst durch sie entwickelt hat, ist beeindruckend (Denzin und Lincoln 2011). Die damit verbundene vehemente Kritik an positivistischen und postpositivistischen Vorgehensweisen sowie die Infragestellung traditioneller „wissenschaftlicher“ Auffassungen, deren ideologische Implikationen und Verankerung in Machtstrukturen aufgezeigt werden, führen dazu, dass im deutschsprachigen Raum die neueren Entwicklungen des symbolischen Interaktionismus kaum zur Kenntnis genommen werden. Weiterhin gehen viele Forschende davon aus, dass es eine Wirklichkeit gibt, die „objektiv“ und nicht wertgeladen wissenschaftlich untersucht werden kann. Die Einstellungen, Motive und die Biografie der Forschenden spielen hierbei, so diese Auffassung, keine Rolle; die Wissenschaft stelle einen Spiegel der Natur dar. Dagegen gehen symbolische Interaktionist/innen davon aus, dass es keine objektive Beschreibung geben kann (Denzin 2000, S. 147). Die Welt ist immer schon durch Diskurse, Bilder und Narrationen vermittelt. In der Forschungspraxis verschmelzen theoretische, ethnografische, ästhetische und politische Perspektiven. „Qualitative Forschung ist, wie die Kunst, immer politisch“ (Denzin 2000, S. 147). Nicht alle Vertreter/innen des Interaktionismus teilen diese Auffassungen: Teilweise werden die neuen Formen des Schreibens und der Selbstthematisierung abgelehnt und auf einer strikten Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Fiktion beharrt. Als wesentliches Thema des symbolischen Interaktionismus gilt ihnen die Erforschung der gelebten Erfahrung mittels teilnehmender Beobachtung (Prus 1996); es wird mehr oder minder an den traditionellen Formen der Feldforschung festgehalten. Dieser „Streit um die Wahrheit“ (Denzin 2000, S. 148–149) wird immer wieder geführt. Aus psychologischer Sicht ist vor allem zu bemängeln, dass die Rolle der Emotionen, die affektive Dimension menschlichen Handelns, im Symbolischen Interaktionismus oft nur wenig berücksichtigt wird (als eine der Ausnahmen: Denzin 1984). Ebenso sollte eine Theorie der Person entwickelt werden. Hierzu ist es erforderlich, die soziale Konstitution von Emotionen in Interaktionen zu untersuchen. Dabei ist es auch wichtig, individuelle Differenzen in der Erfahrung und im

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Erleben herauszuarbeiten. Auf diese Weise kann der symbolische Interaktionismus um eine wichtige psychologische Dimension erweitert werden. Blumer kämpfte gegen Behaviorismus und Experimentalpsychologie und entwickelte eine neue Methodologie für das Verstehen menschlicher Erfahrungen. Denzin und seine Kolleg/innen attackieren den szientistischen Mainstream, treten für ein „humanistisches“ und kritisches Verständnis qualitativer Forschung ein und erobern Freiräume des Denkens, des Dialogs und des Forschens. So schaffen sie Alternativen zum positivistischen bzw. postpositivistischen Denken und eröffnen neue Handlungsräume, indem sie die wichtige Bedeutung der Interpretation hervorheben und durch Interventionen in Form qualitativer Untersuchungen bestehende Strukturen verändern möchten. Ohne die Opposition der symbolischen Interaktionist/innen wäre unsere wissenschaftliche Welt wesentlich ärmer und langweiliger.

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Kritische Psychologie Morus Markard

Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte und Ausgangsprobleme der Kritischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundannahmen der Kritischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Diskussionen, Probleme und Forschungsbeispiele der Kritischen Psychologie . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Auf der Basis historisch-empirischer Begründungen psychologischer Kategorien und der Kritik (von Selbstmissverständnissen) experimentell-statistischer Forschung zielt kritisch-psychologische Empirie auf die Analyse und Erweiterung subjektiver Handlungsmöglichkeiten in restriktiven gesellschaftlichen Verhältnissen. Im Begründungsdiskurs mit Betroffenen als Mitforschenden werden Zusammenhänge von Prämissen (als subjektiv akzentuierten Lebensbedingungen) und subjektiven Gründen herausgearbeitet. Entsprechende Methoden, Probleme und das Konzept der Möglichkeitsverallgemeinerung werden an Beispielen dargestellt. Schlüsselwörter

Kritische Psychologie · Handlungsfähigkeit · Begründungsdiskurs · Möglichkeitsverallgemeinerung · Prämissen-Gründe-Zusammenhänge · Subjektwissenschaft

M. Markard (*) Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_4

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Einleitung: Entstehungsgeschichte und Ausgangsprobleme der Kritischen Psychologie

Mit „kritischer Psychologie“ bzw. critical psychology wird eine Vielzahl von Arbeitsrichtungen in der Psychologie bezeichnet, von gemeindepsychologischen über psychoanalytische, kulturpsychologische, feministische bis zu poststrukturalistischen Richtungen (Billig 2006; Heseler et. al. 2017; die Ausgaben des Annual Review of Critical Psychology seit 1999). Ihr kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, sich nicht dem experimentell-statistisch orientierten Mainstream der Psychologie zuzurechnen und sich mit irgendeinem Aspekt des gesellschaftlichen Status quo auseinanderzusetzen. In diesem Beitrag geht es um die von Klaus Holzkamp u. a. an der Freien Universität Berlin begründete „Kritische Psychologie“ („German Critical Psychology“, Reimer und Markard 2014) – einen in erster Linie inhaltlichen Ansatz, dessen Entwicklung jedoch immer mit methodologischen Analysen und Vorschlägen verbunden war. Diese nahmen ihren Ausgang von einer Kritik des experimentell-statistisch orientierten Mainstreams der Psychologie, an der sich in der ersten Phase chronologisch drei Argumentationsebenen hervorheben lassen. Deren erste verdankt sich zwei Monografien, die Holzkamp zu der Zeit verfasste, in der er selbst noch als Experimentalforscher tätig war (Holzkamp 1964, 1968), und betrifft, wie er später resümierte, die immanent nicht lösbare „Diskrepanz zwischen der Eingeschworenheit auf einen engen, pseudoexakten Kanon statistischer Prüfmethodik einerseits und der Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit bei der begrifflichen Fassung dessen, was da eigentlich untersucht werden soll“ (Holzkamp 1981, S. 276–277). Ein ebenso gravierendes Problem sah Holzkamp – das ist die zweite Ebene – in den wiederum methodologisch induzierten „verborgenen anthropologischen Voraussetzungen der allgemeinen Psychologie“, die er mit folgender Argumentation aufzeigte: Im Versuchspersonen (Vp)-Versuchsleiter (Vl)-Verhältnis, das „Ergebnis einer sozialen Rollenzuweisung oder Rollenübernahme“ sei (Holzkamp 2009a, S. 45), werde die Umkehrbarkeit und Gleichberechtigung einer dialogischen Beziehung aufgegeben. Die experimentelle Forschung gehe „von der Idee einer Art ‚Norm-Versuchsperson‘“ aus, die ein bloß „gedachtes“ Individuum sei, das „Umweltbedingungen ausgesetzt ist, die es nicht selbst geschaffen hat, deren Eigenart und Zustandekommen es nicht – oder nicht voll – durchschauen kann und die es als unveränderbar vorgegeben hinnimmt“ (Holzkamp 2009a, S. 58–59; Herv. entfernt, MM). Mit dem Konzept der Norm-Vp sollten „Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich – der Möglichkeit nach – wie ‚Menschen‘ verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden [. . .], sich wie ‚Organismen‘ zu verhalten“ (Holzkamp 2009a, S. 54–55; Herv. entfernt, MM): Insofern basiere eine so verfahrende Psychologie auf einer organismischen Anthropologie. Diese methodologische Kritik wurde später – dritte Argumentationsebene – ergänzt durch die Rezeption der „Sozialpsychologie des Experiments“ (Maschewsky 1978; Mertens 1975), die empirisch untersuchte, auf welche Weise die Konzeption des Experiments faktisch durch Erwartungen und Verhalten der Vp unterlaufen bzw. durch Vl-Vp-Beziehungen unterminiert wird (zu den Grenzen dieses Ansatzes:

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Bungard 1984; Markard 1984). Unter Bezug auf den Symbolischen Interaktionismus sollte empirisch nachgewiesen werden, dass Menschen grundsätzlich Situationen Bedeutungen verleihen, und dass ihre Handlungen durch eben diese Bedeutungen vermittelt (und nicht durch Reize bedingt) sind. Da aber auch die experimentelle Anordnung eine historisch konkrete „Situation“ (und nicht eine methodisch präparierte „Non-Situation“) ist, sind die „Vp-Reaktionen“ nicht reizbedingt, sondern über Erwartungen und Interpretationen vermittelt. Insofern erweist sich die Idee der Norm-Versuchsperson nicht nur konzeptionell als Ausblendung menschlicher Eingriffsmöglichkeiten, sondern auch faktisch als illusionäre Selbstbespiegelung experimentell-psychologischer Forschungspraxis. Was in der experimentell-psychologischen Anordnung mit der Formulierung von Bedingungs-Ereignis-Relationen nur exemplarisch auf den Begriff gebracht wird, ist das viel allgemeinere Wirkungs- und Bedingtheitsdenken in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften, wonach menschliches Erleben und Verhalten durch Bedingungen bewirkt und durch Bedingungsveränderung entsprechend zu manipulieren ist. Insofern ist mit der bislang geschilderten methodologischen Kritik an der experimentellen Mainstream-Psychologie auch eine Kritik an der Funktion dieses Bedingtheitsdenkens generell verbunden: Menschen zu kontrollieren und an gegebene Bedingungen anzupassen. Diese Methoden- und Funktionskritik an der Psychologie bedeutet aber nicht schon gleichzeitig, über begriffliche und methodische Alternativen zu verfügen: Deswegen stellte sich für die Entwicklung der Kritischen Psychologie die Frage, ob bzw. wie gegenüber der kritisierten methodologischen Auffassung des Menschen eine inhaltlich ausweisbare Gegenkonzeption zu entwickeln sei, mit der die „Ungenauigkeit bei der begrifflichen Fassung dessen, was da eigentlich untersucht werden soll“ (Holzkamp 1981, S. 276), überwunden werden sollte.

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Grundannahmen der Kritischen Psychologie

2.1

Historisch-empirischer Ansatz zur Begriffsentwicklung

Die Antwort auf die Frage, wie eine Gegenkonzeption zum Mainstream zu entwickeln sei, bestand – in Anlehnung an die Kulturhistorische Schule (Holzkamp und Schurig 1973; Kölbl 2010) – im Programm einer historischen Rekonstruktion des Psychischen, in Übereinstimmung mit der allgemeinen Überlegung, dass man über Gegenwärtiges mehr erfährt, wenn man dessen Geschichte kennt. Diese kann sich aber nicht nur auf biografische Rekonstruktionen erstrecken, weil die Dimensionen des Psychischen wie „Fühlen“, „Denken“ oder „Aggression“ über die Biografie der Einzelnen hinausgehen: Es muss dabei auch die gesellschaftlich-historische Entwicklung (Produktionsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, institutionelle Gegebenheiten, Denkformen etc.) thematisiert werden, mit der die individuellen Biografien vermittelt sind: also der Mensch-Welt-Zusammenhang. Aber auch diese Perspektive ist historisch noch nicht hinreichend, da menschliche Gesellschaft bzw. die Gesellschaftlichkeit des Psychischen auch Produkt einer vorgesellschaftlichen

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Entwicklung, der Naturgeschichte, der Phylogenese sind, welche deswegen auf die vorgesellschaftliche Entwicklung des Psychischen hin zu analysieren ist: Psychophylogenese. Dass wir – auch – Naturwesen sind, lässt sich schon im Angesicht unseres Stoffwechsels mit der Natur (so sehr er gesellschaftlich reguliert sein mag) kaum leugnen. Psychologisch interessant und relevant werden Bezüge auf die Natur des Menschen immer dann, wenn damit bestimmte aktuelle Verhaltensweisen (wie Aggression oder Egoismus) erklärt werden sollen. Das Problem besteht dabei darin, dass im vorfindlichen – beobachtbaren und erfragbaren – Verhalten natürliche, gesellschaftliche und individual-biografische Dimensionen unentwirrbar „vermischt“ auftreten, und Behauptungen über die „Natürlichkeit“ bestimmter Verhaltensweisen an der Rekonstruktion der „Natur des Menschen“ ausgewiesen werden müssten. Die – gegenstandsbezogene – historische Rekonstruktion des Psychischen will die widersprüchliche Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte in ihren wesentlichen Dimensionen aufschließen – auch, um Naturalisierungen menschlichen Verhaltens und einem genetischen Determinismus entgegenzuwirken (Maiers 2002). Vor allem aber besteht der wissenschaftlich-psychologische Sinn dieses Ansatzes darin, psychologische Grundbegriffe („Kategorien“) zu gewinnen bzw. vorfindliche Begriffe auf ihren Erkenntnisgehalt hin analysieren zu können. Der zentrale Gedanke ist dabei der, dass das entwicklungsgeschichtlich („genetisch“) Frühere als das Allgemeinere und das genetisch Spätere als das Differenziertere und Spezifischere begriffen werden muss (Holzkamp 1984; Maiers 1999). Um dies an einem einfachen Beispiel zu erläutern: Reiz-Reaktions-Lernen, experimentell untersucht etwa bei klassischer Konditionierung, ist eine Weise, sich der Umwelt anzupassen, die sich „früh“ herausbildete, und die die Menschen – als Möglichkeit – mit vielen Arten teilen. Bedeutungsvermitteltes Lernen dagegen entsteht viel später und ist spezifisch für den Menschen. Ein Beispiel dafür: Wenn das Aufleuchten eines Bremslichts ein bloßer Reiz wäre, müssten Fahrschülerinnen und Fahrschüler seine Funktion über eine Reihe von Auffahrunfällen lernen; erfreulicherweise kann man Menschen aber die Bedeutung des Bremslichts verbal vermitteln. Dass Menschen auf dem Spezifitätsniveau „Bedeutungsvermitteltheit“ lernen können, heißt allerdings nicht, dass ihnen das genetisch frühere Reiz-Reaktions-Lernen nicht mehr zur Verfügung stünde, wenn sie sich etwa in für sie undurchschaubaren Situationen orientieren müssen. (Ein Angler z. B. kann den potenziellen Ertrag seiner Aktivitäten nur durch Versuch und Irrtum herausfinden, sofern der See für ihn neu ist [vgl. auch Abschn. 2.4].) Gleichwohl: In psychologischen Begriffen muss deutlich werden, dass das genetisch frühere Reiz-Reaktions-Lernen allgemeiner, und dass das genetisch spätere bedeutungsvermittelte Lernen spezifischer – und für menschliches Lernen wesentlich ist. Bezüglich der Rekonstruktion der vorgesellschaftlichen Dimensionen des Psychischen will ich hier nur hervorheben, dass nach diesen Analysen der Mensch eine „gesellschaftliche Natur“ besitzt, in der die Voraussetzungen zur Möglichkeit individueller Vergesellschaftung gefasst sind (Holzkamp 1983, S. 209–229). Die Herausbildung der gesellschaftlichen Natur und der damit verbundenen, für den Menschen

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spezifischen Lern- und Entwicklungsfähigkeit fand noch im Banne der Phylogenese statt, in der das wesentliche Moment, der Träger der Entwicklung, die genomische Veränderung der Organismen (mit den Mechanismen von Mutation und Selektion) ist (zum Verhältnis von phylogenetischer Rekonstruktion und Genomanalyse: Lux 2012). Die Dominanz von Mutation und Selektion wird mit der Herausbildung der historischgesellschaftlichen Entwicklung abgelöst. Psychologische Begriffe sind dann nur noch als offene „Richtungsbestimmungen“ unabschließbarer Entwicklung (Holzkamp 1983, S. 195) und jeweils unter Bezug auf konkrete gesellschaftlich-historische Entwicklungen zu formulieren. Da das Programm der historischen Rekonstruktion des Psychischen in Konzepten und Befunden den Bereich der Psychologie überschreitet, war und ist es nur als interdisziplinäres Unterfangen zu realisieren, in das Konzepte und empirische Daten aus anderen Wissenschaften wie der Biologie, der Anthropologie, der Paläontologie, der Ökonomie und der Soziologie eingehen. Wegen des empiriehaltigen und historischen Charakters dieser Analysen wird die entsprechende Verfahrensweise als „historisch-empirische“ bezeichnet. Der Sinn dieser Bezeichnung ist auch, diese Art der Untersuchung begrifflich abzusetzen von jener Art empirischer Untersuchungen, wie sie in der Psychologie üblicherweise konzeptualisiert sind: die „aktualempirischen“ Verfahren zur Untersuchung von jetzt und hier ablaufenden Prozessen (Holzkamp 1983, S. 510–522; Markard 2009a, S. 266–268).

2.2

Grundbegriffe

Als (Teil-)Resultate der historisch-empirischen Analysen sind – jenseits der gesellschaftlichen Natur – die Kategorien „gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz“ und „Handlungsfähigkeit“ bzw. „subjektive Notwendigkeit der Verfügung über die Lebensumstände“ wesentliche inhaltliche Voraussetzungen für die aktual-empirische Methodologie der Kritischen Psychologie. Kategorien strukturieren generell die (wissenschaftliche) Sichtweise auf den Gegenstand der Untersuchung. Es hängt von den verwendeten Kategorien ab, welche Fragen man aktual-empirisch stellt, was an der Vielfalt empirischer Gegebenheiten man akzentuiert, welche Art Theorien man formuliert, und wie man empirische Ergebnisse interpretiert. Insofern hängt es (auch) an kritischen Kategorien, inwieweit man gegenüber gegebenen Daten und Verhältnissen sich nicht vereinnahmen lässt (dazu auch Bourdieu 1997). Die kritisch-psychologischen Kategorien sind das allgemeinste – historisch-empirisch – gewonnene, weiter zu entwickelnde (Markard 2009a, S. 175–179; Zander 2008) und jeweils zu explizierende psychologische „Vorwissen“ aktual-empirischer Forschung. (Formal könnten die Kategorien als „empirisch nicht gehaltvolles Theoriewissen“ im Sinne von Kelle und Kluge (2010, S. 39) gefasst werden; dies hätte aber den Nachteil, dass damit terminologisch der historisch-empirische Charakter dieser Kategorien ausgeblendet würde.) Zum kategorial begründeten kritisch-psychologischen „Vorwissen“ gehört: Gesellschaftliche Lebensbedingungen sind nicht als unmittelbare Aktivitätsdeterminanten

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psychologisch relevant, sondern als Bedeutungen, zu denen sich die Individuen verhalten können und müssen – und zwar nach Maßgabe der von ihnen wahrgenommenen Verfügungsnotwendigkeiten, die nicht „als solche“ bestehen, sondern subjektiv in der Erfahrung konkreter Verfügungseinschränkungen in Erscheinung treten. Die Individuen haben dabei unter Herrschaftsverhältnissen grundsätzlich die „doppelte Möglichkeit“, sich mit bestehenden Möglichkeiten zu arrangieren oder diese Möglichkeiten (zusammen mit anderen) auszuweiten. Das damit auch bestehende „doppelte“ Problem, im Arrangement auf Lebensmöglichkeiten zu verzichten bzw. mit der Erweiterung von Lebensmöglichkeiten Konflikte zu riskieren, markiert die Grundkonstellation aktual-empirischer kritisch-psychologischer Forschung zwischen objektiver Bestimmtheit (durch gesellschaftliche Verhältnisse) und subjektiver Bestimmung (als Möglichkeit des Eingriffs in diese Verhältnisse). Diese Konstellation ist in komplexen (für uns relevant: kapitalistischen) Gesellschaften aber nicht nach dem Modell unmittelbarer Kooperationen und situativer Konstellationen zu denken. Vielmehr sind unmittelbare Kooperationen und situative Konstellationen in übergreifende gesellschaftliche Strukturen eingebunden. Diesem Umstand will Holzkamp mit dem Begriff der Bedeutungsstrukturen Rechnung tragen: Diese fasst er als „Inbegriff aller Handlungen, die durchschnittlich (‚modal‘) von Individuen ausgeführt werden (müssen), sofern der gesellschaftliche Produktionsund Reproduktionsprozess auf einer gegebenen Stufe möglich ist (sein soll), also ‚gesamtgesellschaftlicher Handlungsnotwendigkeiten‘“ (Holzkamp 1983, S. 234). Mit „Bedeutungen“ bezeichnet er „den Bezug jedes einzelnen Menschen zum gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhang“ (Holzkamp 1983, S. 234; Herv. entf., MM). Die gesellschaftlichen Bedingungen gewinnen also Bedeutung für die Einzelnen als Handlungsmöglichkeiten bzw. -einschränkungen. In der Art und Weise und soweit ein Individuum Bedingungen und deren Bedeutungen für sich als Handlungsmöglichkeiten bzw. -behinderungen wahrnimmt und für sich akzentuiert, macht es sie für sich zu seinen „Prämissen“. Prämissen sind also nicht bloß Aspekte von Bedeutungskonstellationen, sondern individuell und in subjektiven Interessen begründet aus diesen „herausgegliedert“. Dabei verweist die Unterscheidung von Bedeutungsstrukturen und Bedeutungen auf die Verkürztheit von Auffassungen in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus, die Berücksichtigung der „Situation“ sei – gegenüber einer situationsentbundenen nomothetischen (experimentellen) Herangehensweise – der Schlüssel zu einer adäquaten Erfassung menschlichen Erlebens und Handelns. Das Spezifikum menschlicher Existenz besteht aber nicht darin, dass Situationen zu berücksichtigen sind, sondern dass die zu berücksichtigenden Situationen in übergreifende (für uns: kapitalistische) Strukturen eingebunden sind, ohne deren Begreifen auch „Situationen“ unbegriffen bleiben müssen (dazu auch Markard 2009a, S. 162). Insofern geht es kritisch-psychologischer Forschung auch nicht allein darum, subjektive Sinnstiftungen zu rekonstruieren, sondern zu analysieren, wie sich die Menschen in den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft bewegen, wie sie ihre subjektiven Bestimmungsmöglichkeiten erweitern bzw. eben darauf verzichten – und mit wel-

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chen (psychischen) Problemen dies jeweils verbunden ist (Zander und Pappritz 2008; Markard 2015, S. 50–52).

2.3

Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse

Die grundsätzliche Notwendigkeit der Analyse von Bedingungen und Bedeutungen bei der Klärung psychologischer Fragen und Probleme folgt also daraus, dass gesellschaftliche Bedingungen dem Menschen nicht einfach äußerliche Lebensumstände sind, sondern das Psychische aus dem Vermittlungszusammenhang zwischen gesellschaftlicher und individueller Lebensgewinnung aufzuschließen ist. Diese Bedingungen können aber nicht einfach auf das individuelle Handeln, Denken und Empfinden „herunterkonkretisiert“ werden, da dies an der Spezifik des MenschWelt-Verhältnisses und der Möglichkeitsbeziehung vorbeiginge. Der psychologische Erkenntnisweg ist deswegen nicht der einer zunehmenden Konkretisierung allgemeiner gesellschaftlicher und dann institutioneller Bedingungen auf das jeweilige Problem hin, sondern umgekehrt der Weg von ungelösten Aspekten des Problems hin zu Bedingungen, die für die Analyse und Lösung des Problems von Bedeutung sein können. Die für kritisch-psychologische Aktualempirie unerlässliche Bedingungs-Bedeutungs-Analyse ist also in diesem Sinne problemzentriert. Welche Bedingungen es sind, die problemzentriert aufzuschließen sind, ist eine Frage des jeweiligen Forschungsprozesses und nicht unabhängig von ihm zu beantworten (Markard 2009a, S. 173). Dabei sind – im Rahmen einer „Bedingungs-BedeutungsBegründungs-Analyse“ (Markard 2009a, S. 296) vier Ebenen zu berücksichtigen: die gesellschaftstheoretische Ebene, die Ebene von Handlungszusammenhängen und Denkformen, die Ebene der Handlungsgründe und die Ebene der psychischen Funktionsaspekte wie Emotion und Kognition (Holzkamp 1983, S. 358–367). Für Praxisforschung haben dazu Markard und Holzkamp (1989) einen ausführlichen „Leitfaden“ vorgelegt. Es lässt sich nun resümieren, dass sich die Besonderheit kritisch-psychologischer Methodenvorstellungen weder aus den Eigenarten der dafür infrage kommenden Einzelmethoden (wie Interview, Beobachtung, Gruppendiskussion) noch aus übergreifenden methodischen Orientierungen, wie sie vor allem in der Entgegensetzung „qualitativ“ vs. „quantitativ“ zum Ausdruck kommt, ergibt, sondern vielmehr aus den begrifflich-theoretischen Resultaten und methodologischen Konsequenzen historisch-empirischer Forschung: womit dem Primat des Gegenstandes vor der Methode dezidiert Rechnung getragen sein soll. Der übergreifende Gesichtspunkt ist dabei der der Theoriensprache oder der Charakteristika von Theorien: Gegenüber dem in Abschn. 1 dargestellten Bedingtheitsdiskurs, in dem Bedingungs-EreignisRelationen formuliert werden, sollen hier Theorien zur Selbstverständigung der Beteiligten dienen, eine Intention, die als „subjektwissenschaftlich“ zu charakterisieren ist: Im „Begründungsdiskurs“ geht es um die Welt, wie die jeweiligen

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Menschen sie erfahren, und um die konkrete Klärung des erwähnten Verhältnisses von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung. Anders formuliert: Statt um Bedingungs-Ereignis-Relationen (Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge) geht es um Prämissen-Gründe-Zusammenhänge: Wir haben es beim Begründungsdiskurs weder mit einer „Methode“ noch mit „einer ‚Theorie‘ zu tun, [. . .] sondern eben mit einer bestimmten Diskursform intersubjektiven Umgangs, die zentral durch den Nexus zwischen Bedeutungen, Begründungen, und Handlungsintentionen/Handlungen spezifiziert ist – einerlei, auf welche Weise, wie ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, die einzelnen Instanzen dabei inhaltlich gefüllt sind. Entsprechend liegt die einzige Möglichkeit, den Begründungsdiskurs in seiner Besonderheit zu qualifizieren, darin, ihn vom Bedingtheitsdiskurs, dessen Nexus nicht als Bedeutungs-/Begründungszusammenhang, sondern als ‚Ursache-Wirkungs-Zusammenhang‘ spezifiziert ist, abzuheben.“ (Holzkamp 1996, S. 64)

2.4

Begründungsdiskurs und verborgene Prämissen-GründeZusammenhänge in psychologischen Theorien

Die allgemeine Bedeutung des Begründungsdiskurses für die Psychologie liegt darin, dass dieser nicht in eine hermeneutische Exklave abgeschoben werden kann, sondern sich auch in nomothetisch formulierten und gemeinten Theorien findet, wie Holzkamp am Beispiel von sozialpsychologischen und Lerntheorien (Holzkamp 1987, 1993) gezeigt hat. Wenn die Beziehung zwischen dem Wenn- und dem Dann-Teil einer Hypothese oder Theorie sinnvermittelt ist, handelt es sich – aller nomothetischen Rhetorik zum Trotz – nicht um eine Bedingungs-Ereignis-Konstellation, sondern einen Prämissen-Gründe-Zusammenhang. Dies lässt sich über die Frage klären, ob es möglich ist, zwischen den Wenn- und den Dann-Teil einer psychologischen Aussage ein „subjektiv vernünftigerweise“ oder „subjektiv funktionalerweise“ zu schieben. „Vernünftigerweise“ steht dabei nicht für ein externes Rationalitätskriterium, sondern allein für subjektive Begründetheit und Funktionalität. Inwieweit diese subjektive Begründetheit auch externen Rationalitätskriterien entspricht oder nicht (etwa bei spieltheoretischen Fragestellungen), ist für den Begründungsdiskurs eine nachgeordnete Frage: Dass menschliches Handeln in Prämissen begründet ist, hängt nicht davon ab, ob es auch nach subjekt-externen Kriterien rational ist. Außerdem muss subjektive Funktionalität keineswegs bewusst sein, wie sich beispielhaft am Zusammenhang von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz zeigen lässt, wonach ein definiertes Verhalten nicht jedes Mal, sondern unregelmäßig belohnt („verstärkt“) wird, und es bei einem dauerhaften Ausbleiben der Belohnung länger dauert, bis auch das entsprechende Verhalten ausbleibt („gelöscht“ ist): So wird ein Angler, der mit jedem Angelwurf einen Fisch fängt, jedes Mal belohnt, einer, der nur ab und zu einen Fisch an der ausgeworfenen Angel hat, „intermittierend“. Der erste gibt nun „vernünftigerweise“ schneller auf, wenn kein

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Fisch mehr anbeißt, als der zweite, der „vernünftigerweise“ länger hoffen kann. Im Angelbeispiel sind die Prämissen (wie bei allem Versuch-Irrtum-Lernen) extrem reduziert, da die betreffenden Menschen keine Einsicht in das Geschehen (im See) haben; die entsprechenden subjektiven Funktionalitäten können aber reflektiert und bewusst (gemacht) werden. Ein Beispiel für einen (im Übrigen eher physiologischen, gleichwohl psychologisch relevanten) nicht subjektiv funktionalen Zusammenhang ist der von nachlassender Gedächtnisleistung und zunehmendem Alter. Hier lässt sich zwischen den Wenn- und den Dann-Teil der entsprechenden Aussage (salopp formuliert: „wenn man älter wird, dann lässt das Gedächtnis nach“) kein „subjektiv funktional“ schieben. Methodologisch zentral ist nun der Umstand, dass es sich bei einem PrämissenGründe-Zusammenhang „um eine i. w. S. definitorische Bestimmung ‚vernünftigen‘ Verhaltens unter den gesetzten Ausgangsbedingungen“ handelt (Holzkamp 1987, S. 31), Ausgangsbedingungen, die vom Individuum als Prämissen übernommen worden sind. In diesem Sinne sind – rein formal gesehen – Prämissen-GründeZusammenhänge „implikativ“. Wenn keine unberücksichtigten Bedingungen bzw. Prämissen vorliegen, ist der Prämissen-Gründe-Zusammenhang quasi definitorisch gesetzt und deswegen auch – das ist die methodologische Pointe – einer empirischen Prüfung weder bedürftig noch fähig. Insofern sind empirische Prüfungen von Zusammenhängen, die als PrämissenGründe-Zusammenhänge identifiziert sind, „pseudo-empirisch“, um einen Terminus von Smedslund (1985, S. 79–80) aufzugreifen (dem es allerdings um den Aufweis von Tautologien ging). Außerdem sind sinnhafte Zusammenhänge kein zufallsvariables Geschehen, sodass die Anwendung statistischer Methoden, die eben dies voraussetzen, gegenstands-unangemessen ist. Bei Prämissen-Gründe-Zusammenhängen haben empirische Daten nicht die Funktion, Zusammenhangsaussagen (Hypothesen und Theorien) zu prüfen, sondern sie zu veranschaulichen bzw. zu konkretisieren. Die empirische Frage ist nicht, ob der entsprechende Zusammenhang im nomothetischen Sinne zu falsifizieren oder „bewährt“ ist, „sondern es hängt von der ‚Begründungstheorie‘ als implikativer Struktur ab, welche Art von ‚empirischen‘ Verhältnissen zu ihrem ‚Anwendungsfall‘ taugen“ (Holzkamp 1987, S. 31; vgl. dazu und auch zu der Frage, wie „Bedürfnisse“ und „Typisierungen“ als PrämissenGründe-Zusammenhänge reinterpretierbar sind, Holzkamp 1987, S. 36–44). Was ist aber, wenn – um auf das Angelbeispiel zurückzukommen – ein „intermittierend verstärkter“ Angler beim Ausbleiben von Fischen trotzdem seine Bemühungen schnell beendet? Er wird dann andere Prämissen und Gründe (Hunger, Termine etc.) haben, die zu einer Prämissenspezifizierung im Begründungsdiskurs führen. Unterschiedliche Prämissenspezifizierungen widerlegen sich nicht, und sie stehen auch nicht in Konkurrenz zueinander: Es sind differierende und differenzierte Bestimmungen subjektiver Vernünftigkeit. Festzuhalten bleibt, dass, wer im experimentell-statistischen Paradigma Theorien prüfen will, den Nachweis zu erbringen hat, dass diese Theorien keine verborgenen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge enthalten (zu weiteren Diskussionen: Brandtstädter et al. 1994; Markard 2000).

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2.5

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Möglichkeitsverallgemeinerung

Unter den bislang dargestellten Voraussetzungen scheiden Objektivierungs- und Verallgemeinerungsvorstellungen, die menschliches Handeln als bedingt ansehen, als zufallsvariablen Prozess modellieren wollen und einzelne Fälle als Ausnahmen behandeln, aus. Darunter fallen sowohl experimentelle Prüfungen von Theorien, die als Bedingungs-Ereignis-Relationen formuliert werden (s. dazu die Analyse des „universalistischen Verallgemeinerungstyps“, Markard 2009a, S. 289–290), als auch repräsentative Erhebungen, in denen von Stichproben auf die Verbreitung der untersuchten Phänomene geschlossen werden soll („historisch-aggregativer Verallgemeinerungstyp“, Markard 2009a, S. 290–293; Reimer 2011, S. 147–202). Subjektwissenschaftliche Aussagen können also weder Bestimmungen zur Häufigkeit der in ihnen behandelten Phänomene vornehmen, noch sind sie durch beliebig viele Fälle zu beweisen oder zu widerlegen. Der Umstand, dass sie durch beliebig viele Fälle nicht zu beweisen sind, ergibt sich schon aus dem Problem induktiven Schließens ohne repräsentative Stichproben; dass sie auch nicht durch einen oder auch beliebig viele Fälle zu widerlegen sind, ergibt sich dagegen aus ihrer Charakterisierung als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge. Die Charakterisierung subjektwissenschaftlicher Geltung und Verallgemeinerung muss sich vielmehr auf praktische Lebensvollzüge der Individuen in historisch-konkreten Konstellationen beziehen. Dabei wird in Rechnung gestellt, dass in individuellen Handlungen über-individuelle, nämlich gesellschaftliche Bedingungen/Bedeutungen in der jeweiligen Lage und Position fallspezifisch realisiert werden, indem sich die Individuen – in der „doppelten Möglichkeit“ von Arrangement und Widerstand – unter diesen und zu diesen Bedingungen und Bedeutungen verhalten. Holzkamp hat hierfür eine „Möglichkeitsverallgemeinerung“ (Holzkamp 1983, S. 545) vorgeschlagen, die sich eben nicht auf Merkmale von Menschen bezieht, sondern auf deren „subjektive Möglichkeitsräume“. Die Möglichkeitsverallgemeinerung hat eine „gänzlich andere Struktur“ als eine auf „Fakten“ beruhende Verallgemeinerung. Es geht darum, je meine Befindlichkeit bzw. (begrenzte) Handlungsmöglichkeit als „Verhältnis zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und meiner besonderen Weise ihrer Realisierung, Einschränkung, Mystifikation“ (Holzkamp 1983, S. 548) zu begreifen (zum Verhältnis der Möglichkeitsverallgemeinerung als eines „historisch strukturellen Verallgemeinerungstyps“ [Markard 2009a, S. 297] zur Typenbildung s. Geffers 2008). Auf diese Weise zustande gekommene Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (als Aussageform subjektwissenschaftlicher Forschungsergebnisse) enthalten also keine Feststellungen zur Häufigkeit bzw. zur Verbreitung der in ihnen behandelten Phänomene; sie sind aber relevant für die Klärung der Frage, ob dieselben PrämissenGründe-Zusammenhänge auch bei anderen Menschen vorliegen (diese sich also unter den betreffenden „Möglichkeitsraum“ subsumieren können), oder ob Prämissen spezifiziert werden müssen. Einzelfälle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander „verrechnet“ werden. Subjektwissenschaftlich gilt: Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt. Es sind die indivi-

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duellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selbst ab vom Gedanken der Subjektivität.

2.6

Intersubjektives Beziehungsniveau in der Forschung, Standpunkt des Subjekts und kontrolliert-exemplarische Praxis

„Psychologie vom Standpunkt des Subjekts“ ist nicht metaphorisch gemeint, sondern in dem Sinne wörtlich zu nehmen, dass individuelle Subjekte nicht beforscht werden, sondern auf der Forschungsseite stehen sollen. Gegenstand der Forschung sind nicht (andere) Individuen, sondern die Welt, wie sie von den Individuen erfahren wird (statt dass danach gefragt wird, wie die Welt auf die Individuen wirkt). Die Möglichkeitsverallgemeinerung impliziert in diesem Kontext den Handlungsforschungs-Impuls der Einheit von Erkennen und Verändern (Markard 1991, Kap. 3) und damit die (methodische!) Notwendigkeit der Beteiligung der betreffenden Individuen am Forschungsprozess als „Mitforscher“ (Holzkamp 1983, S. 544–545). Alle an diesem Forschungsprozess Beteiligten müssen sich in der Hinsicht qualifizieren, dass sie die jeweiligen eingebrachten Kompetenzen produktiv nutzen können bzw. bereit sind, ihre Sichtweisen infrage stellen zu lassen und zu diskutieren. Insofern sind frühere Einlassungen von Holzkamp (1983, S. 544–545) und Markard (1985), die sich auf die Qualifikation der Mitforschenden zentrieren, einseitig. In einem derartigen Forschungsprozess darf das intersubjektive Beziehungsniveau nicht unterschritten werden, es muss allerdings selbst Gegenstand von Reflexion in Richtung auf wissenschaftliche Geltung und Verallgemeinerbarkeit der erzielten Resultate sein. Holzkamp hat diesen Aspekt subjektwissenschaftlicher Forschung als „Metasubjektivität“ bezeichnet (Holzkamp 1983, S. 541). Letztlich dienen subjektwissenschaftliche Forschungsprozesse, damit auch die Bestimmungen zum Verhältnis von professionell Forschenden und anderen am Forschungsprozess Beteiligten („Mitforschenden“), der Selbstklärung der Betroffenen (am Maßstab des thematisierten Problems). „Selbstklärung“ verweist nun allerdings nicht nur darauf, dass das jeweilige Subjekt die letzte Instanz bei der Beurteilung der subjektiven Relevanz psychologischer Analysen ist, sondern auch darauf, dass die Konzeption der „Intersubjektivität“ nicht an die „gleichzeitige Anwesenheit zweier [oder mehr] Personen, die hier wirklich ‚intersubjektiv‘ in Beziehung treten, gebunden“ ist (Holzkamp 1996, S. 61). Holzkamp gibt dafür als Grund an, dass die Entstehung von handlungsbezogenen Prämissen-Gründe-Zusammenhängen „so eng an die Intersubjektivität des Erwägens, Planens und Aushandelns gebunden [ist], dass bei Abwesenheit anderer Menschen das Individuum quasi mit sich selbst in Dialog tritt, Selbstgespräche führt und sich so quasi in innerem Sprechen ‚verdoppelt‘“ (Holzkamp 1996, S. 61). Dies schließt ein, dass in einem gewissen Ausmaße das Subjekt der Erfahrung und das Subjekt der Analyse ein und dieselbe Person ist,

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und dass es eine forschungs-praktische Frage ist, wie konkret die Selbstklärung unmittelbar sozial vermittelt ist. Aus den bisherigen Bezügen folgt, dass diese Selbstklärung mit der Perspektive verbunden ist, scheinbar bloß „innerpsychische“ Sachverhalte/Probleme in ihrer Vermitteltheit mit objektiven Lebensbedingungen und deren Restriktionen aufzuschlüsseln und kritische Situationen, in denen Gründe und Konsequenzen des Handelns nicht auf der Hand liegen, gegen Vordergründigkeiten, Selbsttäuschungen etc. in Richtung auf hypothetische und praktisch zu erprobende Handlungsoptionen herauszuarbeiten. Aus diesem Handlungsbezug wiederum ergibt sich als ein „zentraler Grundzug“ kritisch-psychologischer Forschung die „gemeinsame Praxis des Forschers und der Betroffenen in Richtung auf [. . .] Möglichkeiten der Erweiterung der Bedingungsverfügung. Nur im wirklichen, praktischen Versuch der Möglichkeitsrealisierung können nämlich deren je realhistorisch gegebenen objektiven und psychischen Besonderungen und Beschränkungen an der widerständigen Realität empirisch erfahrbar werden, was gleichbedeutend ist mit der ‚metasubjektiven‘ Diskutierbarkeit der speziellen Mittel, die hier zur Überwindung der Realisierungsbehinderungen etc. erfordert sind, und der Umsetzung in neue Änderungshypothesen als Anleitung des nächsten praktischen Schrittes versuchter Verfügungserweiterung etc.“ (Holzkamp 1983, S. 562)

Diese für die Betroffenen/Mitforschenden existenzielle „reale Erweiterung ihrer Bedingungsverfügung, damit Verbesserung ihrer Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit“ ist aber „nicht das primäre Ziel der Forschungsaktivität, sondern nur notwendiges Implikat des Umstandes, dass ich nur über die wirkliche Erweiterung meiner Bedingungsverfügung . . . die Umstände aufweisen kann, unter denen die entgegenstehenden Behinderungen von mir überwunden werden konnten“ (Holzkamp 1983, S. 563). Unter diesem Aspekt schlägt Holzkamp unter Bezug auf einen schon früh von ihm eingebrachten Terminus vor, aktualempirische subjektwissenschaftliche Forschung als „kontrolliert exemplarische Praxis“ (Holzkamp 2009b, S. 129), d. h. als Handlungs- oder Aktionsforschung (Dege 2017) zu charakterisieren.

3

Diskussionen, Probleme und Forschungsbeispiele der Kritischen Psychologie

3.1

„Entwicklungsfigur“ und Bedingungs-BedeutungsBegründungs-Analyse

Idealtypisch operationalisiert wurden die Überlegungen zu Intersubjektivität, Metasubjektivität und kontrolliert-exemplarischer Praxis im Konzept der „Entwicklungsfigur“, mit dem der Prozess einer psychologischen Problemlösung fassbar werden soll (zur Geschichte dieses Konzepts: Markard 2009a, S. 279–281.). Die „Entwicklungsfigur“ ist in vier „Instanzen“ gegliedert: 1. Lebenspraktisches Ausgangsproblem (von Betroffenen): Ein Beispiel ist, dass Erwachsene Kindern „Grenzen“ setzen und dabei mit dem Widerstand

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der Kinder konfrontiert werden. Allgemeiner geht es in der Analyse derartiger „Scene/n alltäglicher Lebensführung“ (Holzkamp 1996) um Probleme, in denen sich in ihrer Dynamik unbegriffene Machtverhältnisse niederschlagen. 2. Analyse der Problemlage: Ziel ist, die vorfindliche und strittige Vielfalt von Interpretationen der Problemlage in einer Forschungsgruppe einerseits zum Zuge kommen zu lassen, sie aber andererseits auch so zu reduzieren, dass alternative und praktikable Handlungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden können. Eine der auftretenden allgemeineren Fragen könnte sein: Ist etwa „Grenzen setzen“ mit der Kategorie der „Subjektivität/Intersubjektivität“ vereinbar oder wird hier schon auf dieser Ebene die Subjektivität des Kindes negiert, wird es zum Objekt von Erziehungsbemühungen gemacht? Dann müssten die Klärungen zum Verhältnis „Grenzen setzen“ – „kindlicher Widerstand“ sich u. a. mit der Frage befassen, ob der Widerstand des Kindes sich gegen die Negation seiner Subjektivität richtet. Ziel der zweiten Instanz der „Entwicklungsfigur“ ist es, diejenigen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge herauszupräparieren, in denen die restriktive Funktionalität der – (bis dahin jedenfalls) erfolglosen – Versuche der Bewältigung der thematisierten Probleme durch die Betroffenen (vor allem diesen selbst) verständlich wird. Da in diesen Debatten alle Daten „zugelassen“ sind, müssen sie auf ihre „Funktion“ und „Modalität“ hin analysiert werden. Zur Datenfunktion: Primär-fundierende Daten sind die, von denen angenommen werden kann, dass sie den Kern des Konfliktes enthalten. Sekundär-fundierend sind Daten, aus denen sich ergibt, dass durch „problem-externe Ereignisse“ das thematisierte Problem sich verschiebt (bestimmte Grenzen müssen gar nicht mehr gesetzt werden, weil sich das Kind weiterentwickelt hat). Stützend-konkretisierend sind einschlägige Daten aus anderen als den bisher berücksichtigten Bereichen des Problems. Bloß veranschaulichend sind weitere Beispiele, die aber auch entfallen könnten, ohne dass die Diskussion substanziell an empirischer Verankerung verlöre. Zur Datenmodalität: Hier ist die Frage, ob die Daten Realbeobachtungen oder eher Pauschalisierungen und Klischees enthalten, ob es Objektivierungen/ Artefakte wie Briefe oder Fotos gibt etc. 3. Herausarbeitung von Handlungsvorschlägen: Ziel ist die Akzentuierung von Handlungsprämissen, unter denen die Betroffenen andere als die bisherigen Handlungsmöglichkeiten sehen bzw. Handlungsblockierungen auflösen können. In dieser Instanz soll also überlegt werden, wie das Ausprobieren von Neuem, von Alternativen praktisch vonstatten gehen könnte. 4. Rückmeldung und Auswertung der praktischen Erfahrungen: Die Frage ist hier, ob die Analysen und Handlungsvorschläge praktisch relevant waren, ob sie modifiziert werden mussten, oder ob die Beteiligten in ihren Änderungsbemühungen scheiterten. Für diesen letzten Fall sind im Konzept der Stagnationsfigur bezüglich aller Instanzen Fragen zu den möglichen Gründen eines Scheiterns versammelt (Markard 2009a, S. 286–287). Gerade an der vierten Instanz lässt sich der idealtypische Charakter der Instanzenabfolge verdeutlichen: Im wirklichen Lebens- und Forschungsprozess wechseln sich Analysen, Erprobungen und Rückmeldungen immer wieder ab.

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Nicht alle kritisch-psychologischen Projekte zielen allerdings auf Problemlösungen und die Realisierung von „Entwicklungsfiguren“. So formulierte Huck (2006, S. 126–127) für die „Forschungsgruppe Lebensführung“ (2004): „Probleme, die einer individuell umsetzbaren Lösung zugänglich sind, interessieren im Rahmen des Forschungsprojekts nicht – was nicht heißt, dass es solche Probleme nicht gibt, oder dass sie wissenschaftlich uninteressant wären“. Die Diskussion von Problemen dient hier also dezidiert nicht dem Ziel, praktische Veränderungen herbeizuführen, sondern die Bedingungen und Konsequenzen problematischen Verhaltens herauszuarbeiten mit der allgemeinen Perspektive der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen das problematische Verhalten als alternativlos erscheint. „Lösungsansätze interessieren uns von daher nur unter dem Aspekt ihrer (relativen) Unzulänglichkeit, sofern aus ihrem Scheitern etwas darüber zu lernen ist, wie man Probleme gerade dadurch verfestigt, dass man sie auf der falschen Ebene angeht“ (Huck 2006, S. 126). Eine nicht auf Problemlösungen, sondern auf die Explikationen interaktiver Verstrickungen (in einem Flüchtlingswohnheim) zielende Forschungsweise charakterisierte auch das Projekt „Rassismus/Diskriminierung“ (Osterkamp 1996; Osterkamp et al. 2002). Fried (2002) kritisierte daran allerdings, dass mit dem Blick auf den Mikrokosmos eines Wohnheims die konkreten gesellschaftlichen Strukturen unterbelichtet blieben, aus denen heraus „rassistische“ Denkweisen verständlich werden und erst sich die Ebene von Eingriffsmöglichkeiten ergebe. Die Art und Weise bzw. das Ausmaß, in dem in kritisch-psychologischen Projekten gesellschaftstheoretisch inspirierte Bedeutungsanalysen eine Rolle spielen, ist in der Kritischen Psychologie in der Diskussion, sowohl für Studien, die praktische Lösungen für lebenspraktische Probleme anstreben, als auch für die, die diese Probleme (nur) explizieren wollen (Bader 2016). Die Relevanz von gesellschaftstheoretischen Analysen für psychologische Forschung betonen Markard und Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis (2000) für Praxisforschung (zur Kritik und Gegenkritik: Osterkamp 2008 und Markard 2009b); Kaindl (2008) für die Analyse von Emotionen sowie Reimer (2011) für die Untersuchung antirassistischer Pädagogik. An den Untersuchungen von Bürgin (2013) und Schmalstieg (2015), die sich mit den Handlungsbegründungen und -möglichkeiten von Gewerkschafter/innen befassen, wird die Notwendigkeit des Gesellschaftsbezuges offenkundig (zu unterschiedlichen Perspektiven auf subjektwissenschaftliche Forschung auch die Beiträge in Allespach und Held 2015).

3.2

„Mitforschung“ und „Selbstklärung“

Die „Entwicklungsfigur“ als idealtypische Konstruktion zu fassen, deutet schon darauf hin, dass ihre Realisierung mit erheblichen praktischen Problemen verbunden ist. Diese Probleme betreffen vor allem die zeitliche Erstreckung einer „Entwicklungsfigur“, die Verwobenheit konkreter Probleme mit anderen Lebensbereichen der Betroffenen sowie die Anforderungen an die Forschenden und „Mitforschenden“. So basierten die wesentlichen Daten des Projekts, in dem das Konzept der „Ent-

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wicklungsfigur“ generiert wurde (Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit 1985), auf über Jahre geführten Tagebüchern der Mitforschenden über das Zusammenleben mit ihren Kindern und ihrer Bereitschaft, regelmäßig an – protokollierten und transkribierten – Projektsitzungen über in den Tagebüchern berichtete Probleme teilzunehmen. Insbesondere bei in Qualifikationszusammenhängen entstehenden Arbeiten kann kaum damit gerechnet werden, dass die Menschen, deren Daten man braucht, (in einem derartigen Ausmaß) ein eigenes Interesse an der betreffenden Forschung haben. Schon der Versuch kommunikativer Validierung stößt häufig genug auf mangelndes Interesse von Forschungspartner/innen. Ein Gegenbeispiel dazu ist die Studie von Knebel und Hummel (2015): Hier wurden Verhaltenstherapien bei Depression unter dem Aspekt begleitet, inwieweit subjektive Depressionstheorien Zusammenhänge der Leidenserfahrung mit – verhaltenstherapeutisch unterbelichteten (Dreier 2008) – Arbeits- und Lebensbedingungen reflektierten. Die Daten wurden über jeweils vier Interviews im Laufe eines halben Jahres bei zwei Klientinnen und einer Therapeutin erhoben. An der Auswertung waren sowohl die Therapeutin wie auch die beiden Klientinnen interessiert und beteiligt. Was bedeutet es, wenn sich das Niveau intersubjektiver Verständigung in Forschungsprozessen nicht (im gewünschten Ausmaß) aufrecht erhalten lässt, wie es eben bei vielen Forschungsaktivitäten der Fall ist (Behrens 2002; Bibouche und Held 2002; Huck 2009; Markard und Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis 2000)? Gälte unter diesen Umständen das Prinzip des „Alles-oder-nichts“, käme folglich „nichts“ heraus. Demgegenüber haben die geschilderten subjektwissenschaftlichen Forschungsregulative den Sinn, Reflexionen darüber zu eröffnen, welcher Erkenntnismöglichkeiten man sich begibt, wenn bzw. soweit die geschilderten methodologischen Vorstellungen nicht realisiert werden können. So besteht eines der Probleme studentischer Praxisforschung, der Auswertung eigener Praxiserfahrungen im Praktikum (Markard und Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis 2000) darin, dass die Praktikant/innen mit ihren Fragen, Kritiken oder Vorschlägen nicht immer auf Praktiker/ innen treffen, die bereit oder in der Lage sind, sich ihrer anzunehmen bzw. sich mit ihnen gemeinsam über Probleme bei der Arbeit zu verständigen. Inwieweit sich Praktiker/innen auf einen Praxisforschungsprozess einlassen, ist damit eine immer wieder neue und empirisch offene Frage (die natürlich auch vom Verhalten der Praktikant/innen abhängt). Soweit sich nun keine diesbezügliche Kooperation zwischen Praktikant/innen und Praktiker/innen herstellen lässt, sind die Praktikant/innen in der Auswertung ihrer Erfahrungen letztlich auf „Spekulationen“ über die Handlungsprämissen der Praktiker/innen angewiesen. Die Studierenden könnten stattdessen den Praktiker/innen Eigenschaften zuschreiben oder sich überhaupt nicht fragen, warum die Praktiker/innen so reden und handeln, wie sie es tun; d. h., sie könnten Erkenntnisinteresse und Fragestellung der kritischpsychologischen Praxisforschung aufgeben. Nur: Solange sie das nicht tun, bleibt ihnen in der geschilderten Lage nichts als Prämissenspekulation, die allerdings wegen der von ihnen analysierten institutionellen Bedingungen einen bedeutungsanalytischen Bezugspunkt hat: institutionelle Bedingungen, aber auch theoretische Orientierungen etc. als potenzielle Prämissen in Rechnung zu stellen.

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Wenn der Begründungsdiskurs unhintergehbar ist, ist „Prämissenspekulation“ der selbstkritische Ausdruck dafür, den Begründungsdiskurs als angemessene Wissenschaftssprache der (subjektwissenschaftlichen) Psychologie auch dann nicht aufzugeben, wenn soziale Selbstverständigung nicht erreicht werden kann, etwa bei der Auswertung verbaler Daten (vgl. die an der „Entwicklungsfigur“ orientierten Vorschläge bei Markard 2019). Grundsätzlich geht es darum, die konkreten Forschungsbedingungen in der Darstellung wissenschaftlicher Untersuchungen transparent zu machen und das damit verbundene Verhältnis von Erkenntnismöglichkeiten und -behinderungen bzw. -grenzen zu diskutieren. Kleinster gemeinsamer Nenner subjektwissenschaftlicher Forschung als einer Forschung vom Standpunkt des Subjekts ist die Herausarbeitung von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen. Hucks (2009) Arbeit zu im Gefängnis einsitzenden jugendlichen „Intensivtätern“ fand unter besonders restriktiven Bedingungen statt. Als Hauptmangel seiner Untersuchung stellt er dar, dass es ihm nicht gelungen sei, eine kontinuierliche und intensive „Mitforschende“-Beziehung zu den Befragten aufzunehmen. Im Ergebnis habe er in der Auswertung der Interview-Transkripte teilweise rekonstruktiv vorgehen müssen, obwohl vielleicht die Möglichkeit bestanden hätte, Begründungszusammenhänge zumindest mit einigen Befragten gemeinsam zu formulieren (was aber mehrere Treffen erfordert hätte: dies war organisatorisch schwierig angesichts der Inhaftierung, außerdem nicht prioritär seitens des Auftraggebers). Trotz dieser Einschränkungen sieht Huck in seiner Untersuchung einen Erkenntnisgewinn: Teilweise auf die verbalen Einlassungen der Betroffenen bezogen, teilweise direkt aus diesen übernommen, hätten sich hypothetische Prämissen-Gründe-Zusammenhänge formulieren lassen, die mit bestimmten Lebensumständen der Betroffenen zu vermitteln seien. Ziel der Auswertung war es, im Zuge der angesprochenen „Möglichkeitsverallgemeinerung“ Konstellationen gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten und Behinderungen zu identifizieren, die problematische Handlungen der Jugendlichen subjektiv notwendig/funktional machten. Der Autor schlägt dazu drei Aussagetypen (Huck 2009, S. 111–113) vor: (1) „faktische“ Aussagen, die, um psychologisch relevant zu werden, weiterer begründungstheoretischer Klärung bedürften, etwa der Umstand, dass in mehreren Fällen allein erziehende Mütter ihr Kind langfristig in ein Heim abgaben, in dem die Betroffenen durchgehend schlechte Erfahrungen machten. (2) „rekonstruierte Begründungszusammenhänge“, die angesichts realer Gegebenheiten mögliche und folgerichtige Prämissen-Gründe-Zusammenhänge formulierten: Das Wissen darum, dass nur wenige Hauptschüler/innen Ausbildungsplätze finden, kann zur Prämisse einer Schulverweigerung werden; offen bleibt, auf welchen Fall dies passt. (3) „Subjektive Theorien“, die von den Befragten selbst in die Diskussion eingebracht worden seien. Dies bedeute allerdings weder, dass diese unanzweifelbar seien, noch, dass man die Wertmaßstäbe teilen müsse, mit denen sie verbunden seien: So „verstünden“ Jugendliche zwar die Normund Sanktionssysteme des Jugendgefängnisses, seien aber durch informelle soziale Regeln unter den Gefangenen zu Überschreitungen der formellen Regeln gezwungen, obwohl sie um die Konsequenzen wüssten: So sei es z. B. notwendig, sich in gewalttätigen Konflikten „wehrhaft“ zu zeigen, um nicht ständig angreifbar zu sein. Exemplarisch seien hier einige verschiedene Motive zu Straftaten wie Lebensstil,

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Langeweile, Ansehen erwähnt, aber auch die teilweise noch bestehenden Vorstellungen der Jugendlichen, wie sie sich der Strafverfolgung entziehen könnten, wie sie die ihnen drohenden Gefahren herunterspielten und dadurch ihre Ängste „abwehrten“, etc. Zum Problem, was die neoliberale Umstrukturierung der Sozialen Arbeit u. a. für das Verhältnis von Sozialarbeiter/innen und Klient/innen aus der Sicht der Sozialarbeiter/innen bedeutet, hat Eichinger (2009) eine Studie vorgelegt, in der sie für die Arbeit bedeutsame Prämissen-Gründe-Zusammenhänge herausgearbeitet hat. Ihr Versuch, die kommunikative Validierung ihrer Ergebnisse auf Gruppendiskussionen auszudehnen, scheiterte allerdings daran, dass die Betroffenen fürchteten, in diesem Forschungskontext persönlich identifizierbar zu werden. Kalpein (2007) hat bezüglich der Problematiken in der Sozialen Arbeit vorgeschlagen, die „Entwicklungsfigur“ um eine Vorinstanz zu erweitern, in der auch das Zustandekommen der Aufträge für die Sozialarbeiter/innen etc. systematisch zu reflektieren ist. Um der Spezifik dieser beruflichen Praxis und darin intendierter Veränderungen Rechnung zu tragen, hat er darüber hinaus „‚freie Kooperation‘ als heuristisches Prinzip bei der Bedeutungsanalyse von Machtanordnungen“ vorgeschlagen (Kalpein 2007, S. 90). In beiden Fällen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass subjektwissenschaftliche Ansprüche nicht von vorneherein aufgegeben werden sollen, wenn „Betroffene“ nicht als Mit-Forschende agieren. Der idealtypische Charakter der Instanzenabfolge der „Entwicklungsfigur“ lässt sich, wie gesagt, auch daran verdeutlichen, dass sich im wirklichen Lebens- und Forschungsprozess Analysen, Erprobungen und Rückmeldungen immer wieder abwechseln. Und wichtiger noch: Weil in den stream of behavior eingebunden, lässt sich eine Entwicklungsfigur nicht wirklich abschließen, ein Umstand, den Vandreier (2012) im Zusammenwirken mit dem Projekt „Selbstverständigung über Drogengebrauch“ dazu brachte, als Alternative zur Entwicklungsfigur das Konzept der „Dossiers“ zu entwickeln: Sich kontinuierlich entwickelnde Darstellungen/Zusammenfassungen/Kommentierungen all dessen, was an Erfahrungen, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbehinderungen bezüglich der betreffenden Person zusammen mit dieser erarbeitet wurde – (Selbst-)Portraits, die für die Betroffenen und andere Menschen in ähnlicher Lage eine Handreichung sein sollen.

4

Ausblick: Stand und Perspektiven

Die Durchdringung der Unmittelbarkeitsverhaftetheit menschlicher Lebensbezüge ist es, auf die sich die Fragestellung subjektwissenschaftlicher Aktualempirie richtet. Psychologische Fragestellungen vom Standpunkt des Subjekts aus schließen die Reflexion des Alltags, bezogen auf „psychologisch relevante“ Probleme der Betroffenen, als Basis psychologischer Forschung ein. Diese Probleme bilden den Ausgangspunkt subjektwissenschaftlicher Forschung, deren Fluchtpunkt die – exemplarische – Lösung dieser Probleme ist: Subjektwissenschaftliche Problemstellungen sind so an subjektive Handlungsproblematiken gebunden. Entsprechend ist die im Begründungsdiskurs mit den Betroffenen („Mitforschenden“) als Herausarbeitung

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von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen erfolgende Theorienbildung darauf gerichtet, unmittelbarkeitsfixierte Vorstellungen und Problemsichten so zu reformulieren, dass andere Handlungsmöglichkeiten konzipierbar, ggf. realisierbar und im Modus der Möglichkeitsverallgemeinerung wissenschaftlich auf den Begriff gebracht werden. Dabei kann sich allerdings auch ergeben, dass die Probleme im gegebenen Rahmen nicht zu lösen sind, sondern dass es dazu weiterer Veränderungen in gesellschaftlicher Größenordnung und damit kollektiver Zusammenschlüsse bedürfte. Für die Einzelnen bedeutet das zu verstehen, warum „ihre“ Probleme nicht auf bloß individueller oder unmittelbar interpersoneller Ebene zu lösen sind. Dies kann – jenseits von Resignation – auch einschließen, sich nicht immer wieder neu zu verstricken, sondern eine „gnostische Distanz“ zu diesen Verstrickungen zu gewinnen, die deren blindes „Wirken“ ermäßigt – und damit zugleich aber auf weiter reichende Veränderungen verweist (Köbberling 2017). Deren theoretische wie praktische Relevanz ist von damit verbundenen Möglichkeiten individueller wie gesellschaftlicher Emanzipation nicht zu trennen. Inwieweit bzw. wie die Forschungsperspektive der Kritischen Psychologie verfolgt wird, ist Gegenstand der dezidiert diesem Ansatz gewidmeten Ausgabe des Annual Review of Critical Psychology 2019 (16).

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Forschungsprogramm Subjektive Theorien Zur Psychologie des reflexiven Subjekts Norbert Groeben und Brigitte Scheele

Inhalt 1 Das epistemologische Subjektmodell als anthropologischer Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . 2 Grundannahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anwendungsfelder des Forschungsprogramms Subjektive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 (FST-)Untersuchungsbeispiel als paradigmatische Veranschaulichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) geht von einem konstruktiven Menschenbild aus: dem reflexions- und kommunikationsfähigen Subjekt, das potenziell rational handeln kann. Die Parallelität zum Selbstbild der Wissenschaftler/innen führt dazu, die Reflexionen des „Alltagsmenschen“ analog zum wissenschaftlichen Theoretisieren zu verstehen, das heißt als „Subjektive Theorien“ mit den Funktionen der Erklärung, Prognose und Handlungsleitung. Diese Subjektiven Theorien werden inhaltlich in der kommunikativen Validierung rekonstruiert und in der explanativen Validierung auf ihre Realitätsadäquanz überprüft. Schlüsselwörter

Reflexives Subjekt · Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit · Potenzielle Rationalität · Kommunikative Validierung · Explanative Validierung

N. Groeben (*) · B. Scheele Psychologisches Institut Uni Köln, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_10

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Das epistemologische Subjektmodell als anthropologischer Ausgangspunkt

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) geht explizit von Menschenbildannahmen als Grundlage sowohl der theoretischen Modellierung als auch der einzusetzenden Methoden aus. Es greift historisch auf die Konzeption von George A. Kelly (1955) zurück, der seiner Theorie der persönlichen Konstrukte das Menschenbild des man the scientist zugrunde gelegt hat. Wie Kelly postuliert das FST, dass das Erkenntnis-Objekt (EO) der Psychologie parallel zum Erkenntnis-Subjekt (ES) konzipiert werden sollte (Groeben et al. 1988, S. 11–17). Und zwar primär aus moralischen Gründen: weil es nicht gerechtfertigt ist, aus lediglich methodologischen Zielsetzungen heraus dem EO grundlegend andere Merkmale, insbesondere weniger Kompetenzen, zuzuschreiben als dem ES (Groeben 1979). Diese (problematische) Zuschreibung ist am deutlichsten im behavioristischen Ansatz enthalten, für den unter dem Zielkriterium der optimalen (externen) Beobachtbarkeit vor allem Verhaltensdimensionen des EO im Mittelpunkt stehen, was aber eine Vernachlässigung von internalen Kognitionsaspekten bedeutet. Außerdem wird das EO damit primär als reaktiv konzipiert, d. h. es wird in erster Linie nach der Kontrolle des (menschlichen) Verhaltens durch Umweltreize und -kontingenzen gefragt. Dieses behavioristische Menschenbild (Subjektmodell: Groeben und Scheele 1977) stellt aus Sicht des FST eine (ungerechtfertigte) Reduktion um höhere geistige Prozesse und Fähigkeiten dar, die sich am augenfälligsten darin zeigt, dass damit die (kognitiven) Prozesse des ES nicht erklärt werden können (Groeben und Scheele 1977, S. 14–20). Der darin implizierten widersprüchlichen Asymmetrie der Menschenbilder setzt das FST dezidiert die Anforderung der Selbstanwendung entgegen. Das für das EO angesetzte Subjektmodell sollte so weit wie möglich dem Selbstbild des ES entsprechen, nicht zuletzt auch um unnötiges Leid (z. B. durch die Theorienanwendung) zu vermeiden; Abweichungen von dieser Parallelität sind explizit zu rechtfertigen. Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Selbstbilds und damit dieser Parallelität steht die grundlegende Fähigkeit des Menschen zur (Selbst-)Erkenntnis. Das darauf ausgerichtete Menschenbild nennen wir deshalb epistemologisches Subjektmodell (Groeben et al. 1988, S. 15–17; Groeben und Scheele 1977, S. 22–25). Es setzt als zentrale anthropologische Merkmale des Menschen an: Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, Reflexivität, potenzielle Rationalität und Handlungsfähigkeit. Dabei stellt die Handlungsfähigkeit den dezidierten Gegenpol zum (primär) reaktiven Verhalten dar (Straub und Weidemann 2015). Handeln ist eine intentionale Aktivität; Intentionalität (Absichtlichkeit) ist das Kernmerkmal, aus dem sich alle anderen Charakteristika von Handlungen ergeben (Groeben 1986). Absichtlichkeit impliziert, dass mit dem Handeln ein Sinn verbunden, ein Ziel angestrebt wird; es werden Wahlmöglichkeiten unterstellt, die zur Entscheidung für eine bestimmte Aktion führen, deren Ausführung geplant und kontrolliert wird; für diese Entscheidung und Planung sind Situationskontexte genauso wie Normen- und Wertsysteme relevant. In all diesen Aspekten manifestiert sich, dass für Handeln eine komplexe, differenzierte, kognitiv-reflexive Innensicht konstitutiv ist, die es in die Forschung

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einzubeziehen gilt. Das FST weist deshalb Überlappungen vor allem mit der philosophischen (analytischen) Handlungstheorie (z. B. Lenk 1978) und den darauf aufbauenden psychologischen Ansätzen auf. Die komplexe kognitive Innensicht (des EO) wird im FST also in Parallelität zum (wissenschaftlichen) ES als kognitive (Erkenntnis-)Tätigkeit verstanden, die zu einer Form des alltäglichen Theoretisierens führt. Dieses erfüllt (wie wissenschaftliche Theorien) die Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie (Theorienanwendung in der Praxis: hier Handlungsleitung). Auch das EO stellt also (analog zum ES) Theorien auf, um sich die Welt (und sich selbst darin) zu erklären, um Vorhersagen zu treffen und aufgrund solcher Erklärungen/Prognosen Handlungsentscheidungen zu treffen, Handlungspläne abzuleiten und durchzuführen (Groeben et al. 1988, S. 17–24). Allerdings kann es sich dabei unter dem Handlungsdruck der Alltagsrealität selbstverständlich nicht um systematisch abgesicherte intersubjektive Theorien (wie in der Wissenschaft) handeln, sondern nur um solche aus der je individuellen, subjektiven Sicht. Wir nennen die komplexen reflexiven Kognitionen, die als Sinndimension des Handelns für das EO die Funktionen der Erklärung, Prognose und Handlungsleitung erfüllen, daher „Subjektive Theorien“ (STn).

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Grundannahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien

Das Konstrukt der ST verdeutlicht sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der reflexiven Sinndimension menschlichen Handelns. Der Theorieaspekt bildet das menschliche Streben nach Welt- und Selbsterkenntnis ab, das auch für das Alltagsdenken gilt. Diese Reflexivität zeitigt komplexe Kognitionsstrukturen, die eine Benennung als (Subjektive) Theorie rechtfertigen. Damit führt das FST eine Binnenstrukturierung für das Konzept der Kognition(en) ein, in der zwischen (niedrigkomplexen) Kognitionen (wie Begriffe, Sätze etc.) einerseits und (hochkomplexen) STn (als Aggregaten von Begriffen und Sätzen) unterschieden wird; durch diese Binnendifferenzierung wird die nach der kognitiven Wende in der Psychologie zu beobachtende Überdehnung des Konzepts „Kognition“ zumindest in einem ersten Schritt aufgehoben (Groeben et al. 1988, S. 47–54; Straub und Weidemann 2015, S. 43–47). Der Subjektivitätsaspekt macht allerdings klar, dass diese hochkomplexen Theorien keinen vergleichbaren Grad an Explizitheit, Präzision und Systematik aufweisen können wie (intersubjektive) wissenschaftliche Theorien. Insofern können für STn nur parallele bzw. analoge Strukturmerkmale wie für wissenschaftliche Theorien angesetzt werden. Das betrifft in erster Linie die Ableitungsstruktur von Hypothesen, die in wissenschaftlichen Theorien explizit, präzise, systematisch vorgenommen werden muss. In STn wird man sich diesbezüglich realistischerweise mit der analogen Anforderung begnügen müssen, dass eine argumentative Verbindung zwischen den (subjektiven) Hypothesen vorliegen muss, wobei diese Verbindung auch durchaus implizit bleiben kann (und erst im Forschungsprozess bei der dialog-konsensualen Erhebung der ST expliziert wird; Scheele 1992). Damit lässt sich als

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grundlegendes, umfassendes Bedeutungspostulat für das Konstrukt „Subjektive Theorie“ festhalten (Groeben et al. 1988, S. 19): • • • •

Kognitionen der Welt- und Selbstsicht als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllt.

Dies ist das weite Verständnis von ST, das z. B. auch alle klassischen Attributionsansätze mit umfasst, die sich allerdings auf die Funktion (subjektiver) Erklärung/en konzentrieren, die das EO vornimmt. Paralleles gilt für die Theorie persönlicher Konstrukte, bei der lediglich die Funktion der Prognose im Mittelpunkt steht. Das FST ist, wie beschrieben, von der anthropologischen Kernannahme Kellys (nämlich der Strukturparallelität von ES und EO) ausgegangen, hat seinen Ansatz aber erweitert um die Berücksichtigung aller Erkenntnisfunktionen des reflektierenden Subjekts. Insofern verfügt das FST über ein erhebliches Integrationspotenzial, da es alle auf Reflektieren, Erkennen und Handeln ausgerichteten Ansätze der (kognitiven) Psychologie in einer einheitlichen theoretischen Modellierung zusammenführen kann (Groeben et al. 1988, S. 245–253, 310–317; Groeben und Scheele 2002, 2015). Dass dabei die Anforderungen an STn nur analog zu wissenschaftlichen Theorien anzusetzen sind, berücksichtigt vor allem in realistischer Weise die Grenzen der (prinzipiellen) Rationalitätsfähigkeit und Handlungskompetenz des Menschen. Das epistemologische Subjektmodell behauptet nicht, dass der Mensch immer und überall rational handelt. Wenn man unter Rationalität ganz basal (zumindest) Realitätsadäquanz der Kognitionen versteht, wäre es auch völlig unplausibel, für ST nicht die Irrtumsmöglichkeit anzusetzen, die wir für wissenschaftliche Theorien seit jeher annehmen. Der Mensch kann sich als Subjektive/r Theoretiker/in irren, nicht zuletzt vor allem auch über sich selbst. Das geschieht z. B., wenn sich eine Person die eigenen Motive nicht (realitätsadäquat) eingesteht und daher ihr Denken eine Rationalisierung (im psychoanalytischen Sinn) darstellt. Man kann diese Variante zwischen (umweltkontrolliertem) Verhalten und (umweltkontrollierendem) Handeln ansiedeln und als Tun bezeichnen (Groeben 1986). Allerdings ist es nicht sinnvoll und nicht legitim, diese Möglichkeit (des rationalisierenden Tuns) als (normalen) Standardfall menschlichen Agierens zu konzipieren, wie dies die Psychoanalyse tut (Erb 1997; Groeben 1986). Das FST hält in Abgrenzung zum pessimistischdestruktiven Menschenbild der Psychoanalyse (das alle menschlichen Prozesse vom Krankhaften her versteht) daran fest, dass der Mensch prinzipiell zu rationalem (realitätsadäquatem) Handeln fähig ist, und konzediert zugleich, dass es bestimmte Situationen/Bedingungen gibt, in denen ein solches Handeln nicht vorliegt, also auch das FST keine Anwendung finden kann und soll (Groeben et al. 1988, S. 35–47). Das trifft vor allem auf Reflexe zu, z. T. auf eingeschliffene Automatismen, auf Intransparenz-Situationen (in denen nicht genügend Informationen vorliegen, um rationale Reflexionen aufzubauen) sowie auf Situationen der Desintegration von Emotion und Kognition (wie z. B. Panik, Phobien, Zwänge etc.). Allerdings ist

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vom Selbstanwendungspostulat des Subjektmodells her zu fordern, dass das Vorliegen solcher Bedingungen (und damit der Übergang von der Gegenstandseinheit Handeln auf Tun oder Verhalten) explizit begründet und gerechtfertigt wird (Groeben und Scheele 2015, S. 119–125). Damit ist deutlich, dass die weite Begriffs-Variante von STn für eine präzisere Spezifizierung dieses Konstrukts um zwei weitere Merkmale ergänzt werden muss. Das ist einmal der Rückgriff auf die subjektive intentionale Sinndimension des Handelns, die nicht von außen beobachtbar, sondern nur von der/dem Handelnden kommunikativ mitteilbar ist. Die (wissenschaftliche) Erhebung dieser Sinndimension (als ST) erfordert daher eine systematische Verstehensmethodik, die unter Rückgriff auf das dialog-konsenstheoretische Wahrheitskriterium als Dialog-Konsens-Verfahren ausgearbeitet worden ist (Scheele 1992). Im Dialog-Konsens werden die Inhalte sowie die Struktur der subjektiv-theoretischen Reflexionen, die der Handlungsentscheidung, -planung und -ausführung zugrunde liegen, expliziert und rekonstruiert. Allerdings impliziert die Möglichkeit, dass diese Reflexionen auch inadäquat sein können, das weitere Merkmal, dass die Realitätsadäquanz der ST geprüft werden muss, d. h. die Frage, ob bzw. inwieweit z. B. die (subjektiven) Motive und Zielsetzungen, die der/die Handelnde mit der thematischen Handlung verbindet, auch als wissenschaftliche (intersubjektive) Erklärung akzeptierbar sind. Es resultiert damit (durch die Hinzufügung von zwei weiteren Merkmalen) folgende spezifischere (engere) Begriffsexplikation von „Subjektiver Theorie“ (Groeben et al. 1988, S. 22): • • • • • •

Kognitionen der Welt- und Selbstsicht, die im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar sind als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllt, deren Akzeptierbarkeit als „objektive“ Erkenntnis zu prüfen ist.

In diesen beiden Merkmalen kommt die zweiphasige Forschungsstruktur des FST zum Ausdruck (Groeben 1986; Groeben et al. 1988, S. 24–29; Straub und Weidemann 2015, S. 51–78). In der ersten (dialog-hermeneutischen) Phase der Erhebung/Beschreibung der intentionalen Innensicht der/des Handelnden geht es um das Verstehen der Gründe und Ziele des EO (aus der Perspektive der ersten Person). Die Erhebungs-Methodik muss die Rekonstruktionsadäquanz der wissenschaftlichen Beschreibung (von Seiten des ES, also der Perspektive der zweiten Person) sichern; sie tut das durch die kommunikative Validierung des DialogKonsens. Dem schließt sich aber als zweite Phase die Prüfung an, ob die subjektiven Gründe und Ziele auch als „objektive“ Ursachen und Wirkungen der Handlung/en feststellbar sind; dies ist nur aus der Beobachtungsperspektive der dritten Person möglich. Hier geht es also um die Realitätsadäquanz der ST und damit die explanative Validierung (Abb. 1). Diese zwei Phasen der kommunikativen und explanativen Validierung stellen die Verbindung von Innen- und Außensicht dar, die für die Erforschung von

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Explanative Validierung: Realitäts-Adäquanz des explanativen Konstrukts:

Ursachen und Wirkungen von Handlungen

Kommunikative Validierung:

Beobachtendes Erklären unter falsifikationstheoretischem Wahrheitskriterium

Rekonstruktions-Adäquanz des deskriptiven Konstrukts:

Gründe, Intentionen, Ziele des Handelnden

Verstehendes Beschreiben unter dialog-konsenstheoretischem Wahrheitskriterium

vorgeordnet

nachgeordnet

Abb. 1 Die zweiphasige Forschungsstruktur des FST: kommunikative und explanative Validierung (Groeben 1986, S. 236)

(intentional-reflexiven) Handlungen unverzichtbar ist. Dabei ist die Phase des dialog-konsensualen Verstehens vorgeordnet, weil nur durch sie der subjektiv gemeinte Sinn der Handlung feststellbar ist; komplementär ist die Phase des systematischen Beobachtens übergeordnet, weil nur durch sie die intersubjektive Akzeptierbarkeit der Handlungserklärung sicherbar ist. Durch diese Überordnung wird auch nicht (wie dies bisweilen kritisiert worden ist, z. B. Flick 1991b; dagegen: Groeben 1992) die Phase der kommunikativen Validierung desavouiert oder gar destruiert, weil das Wissen um den Handlungssinn auch bei Realitätsinadäquanz der subjektiven Reflexion/en eine notwendige Bedingung zur (wissenschaftlichen) Erklärung der zu erforschenden menschlichen Tätigkeiten bleibt (s. Abschn. 3).

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Die Phase der kommunikativen Validierung besteht, um Überforderungen des EO zu vermeiden, aus zwei Schritten: der Erhebung der Kognitionsinhalte (zumeist per halbstandardisiertem Interview) sowie der dialog-konsensualen Strukturrekonstruktion (mithilfe eines Struktur-Lege-Leitfadens; im Einzelnen: Groeben et al. 1988, S. 126–179). Für die Phase der explanativen Validierung sind drei mit der Beobachtung aus der Perspektive der dritten Person arbeitende Ansätze elaboriert worden (Groeben et al. 1988, S. 180–205): Korrelations-, Prognose- und Modifikationsstudien. Bei Korrelationsstudien werden die Inhalte der (individuellen) ST mit entsprechenden beobachtbaren Verhaltensdimensionen verglichen; es ist dies der ökonomischste Ansatz, mit dem aber nicht (zureichend) nachgewiesen werden kann, dass die ST kausal relevant für das Handeln ist. Die aufwändigere Prognosestudie erlaubt dagegen schon eine gewichtigere Stützung der potenziellen Handlungsleitung der ST. Dabei werden aus der ST z. B. für konkrete Situationsklassen Prognosen bestimmter Handlungen (des jeweiligen EO) abgeleitet; die Beobachtung der in der Tat eintretenden Aktivitäten ermöglicht dann eine Abschätzung der explanativen Validität (Groeben et al. 1988, S. 190–198; Straub und Weidemann 2015, S. 70–78). Um potenzielle Verzerrungen (z. B. dadurch, dass das EO um seine Prognose weiß und das Handeln danach ausrichtet) zu vermeiden, kann man auch Retrognosen abfragen bzw. die Prognosen oder Retrognosen von „Doppelgänger/innen“ generieren lassen, die sich im Rollenspiel die thematische ST kognitiv zu eigen gemacht haben. Die aufwändigste, aber auch am ehesten kausal interpretierbare Variante der explanativen Validierung besteht in der Modifikation der ST (z. B. von einem ineffektiven zu einem effektiveren Zustand) mit anschließender Überprüfung, ob sich auch das entsprechende Handeln verändert hat. Unter Rückgriff auf das konstruktive anthropologische Menschenbild (des epistemologischen Subjektmodells) sind hier aber moralisch nur Modifikationen in Richtung auf eine Verbesserung der STn zulässig, sodass nur eine quasi-experimentelle (nicht vollständig experimentelle) Variation der „Variable“ ST vorliegt. Darin manifestiert sich eine unvermeidbare und durchaus gewollte Abgrenzung dieser Validierungsansätze gegenüber dem quantitativen Paradigma, das keine Verbindung von Innen- und Außensicht anstrebt (wie sie vom FST in dieser integrativen Kombination von qualitativer und quantitativer Methodik realisiert wird; Groeben und Scheele 2015, S. 125–132).

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Anwendungsfelder des Forschungsprogramms Subjektive Theorien

Die Einsatzbereiche des FST reichen von der (allgemein-, sozial-, entwicklungs- und differenzialpsychologischen) Grundlagenforschung über die klassischen psychologischen Anwendungsfächer (der Pädagogischen und Klinischen Psychologie) bis hin zu interdisziplinär benachbarten Disziplinen (wie Fremdsprachenphilologie, Wirtschaftswissenschaften, Psychosomatik etc.; s. als neuesten Überblick: Straub und Weidemann 2015, S. 9–106). Entwickelt wurde das FST zunächst im Rahmen der allgemein- und sozialpsychologischen Grundlagenforschung, in der die Gegenstände z. B. von Ironie (erster

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mit der Heidelberger Struktur-Lege-Technik untersuchter Problembereich: Groeben und Scheele 1986) über Selbstständigkeit (Schmid-Furstoss 1990), Zivilcourage (Kapp und Scheele 1996) und Aggression (Scheiring 1998) bis zu (entwicklungsund differenzialpsychologischen) Aspekten von Identitätsentwürfen und -prognosen (Obliers 2002) reichen. Dabei steht häufig einfach die Frage im Vordergrund, welche Reflexionen bestimmte Alltagspsycholog/innen zu dem thematischen Problem haben. Allerdings weist schon diese Frage schnell Weiterungen auf. Der handlungstheoretische Ausgangspunkt des FST impliziert grundsätzlich ein Einsetzen beim Einzelfall, eine idiografische Perspektive, die beim Überprüfen der Handlungsleitung auch prävalent bleibt. Sollen aber vor allem die Inhalte und Struktur/en von STn in einem Gegenstandsbereich aufgeklärt werden, ergibt sich unweigerlich die Frage nach überindividuellen Ähnlichkeiten/Gemeinsamkeiten der erhobenen STn. Dies ist ein Übergang zur nomothetischen Perspektive, der zunächst aus der systematischen Zusammenführung mehrerer Subjektiver Theorien zu einer Struktur, z. B. zu einer sogenannten Modalstruktur, besteht (s. den Überblick bei Schreier 1997). Zudem ermöglicht die postulierte (und über die Erhebungsmethodik realisierte) Parallelität von STn und intersubjektiv-wissenschaftlichen Theorien auch einen Austausch zwischen beiden, der für das FST anthropologisch wie methodologisch essenziell ist (Groeben und Scheele 1977). Das betrifft zum einen die Möglichkeit, dass STn dort, wo es noch keine (zureichend) ausgearbeiteten „objektiven“ Theorien gibt, als Heuristik eingesetzt werden; in diesem Fall lernen sozusagen die ES von den EO. Zum anderen ist aber selbstverständlich auch der komplementäre Fall möglich und angestrebt, dass die Subjektiven Theoretiker/innen von den wissenschaftlichen Theorien lernen: dort, wo diese weiter und rationaler ausgearbeitet sind. Hier führt der Austausch von STn und „objektiven“ Theorien zur Modifikation der STn, die im FST einen zentralen Ansatz der praktischen Anwendung darstellt (s. Abschn. 5 sowie Straub und Weidemann 2015, S. 81–89). Diese primär deskriptiven Fragestellungen beschränken sich häufig auf die (dialog-konsensuale) Rekonstruktion der STn, ohne die zweite Phase der explanativen Validierung anzuschließen. Diese Phase ist dann allerdings für die Anwendungskontexte entscheidend, in denen die Handlungsleitung der STn (durch externe Beobachtung) überprüft wird. Das trifft vor allem für den Problembereich der Pädagogischen Psychologie zu (als einem klassischen, auf Praxis ausgerichteten Anwendungsfach der Psychologie). Die pädagogisch-psychologische Unterrichtsforschung stellt daher den bedeutendsten Schwerpunktbereich dar, in dem das FST eingesetzt worden ist (z. B. Barth 2002; Dann 1992, 1994; Dann und Krause 1988; Lehmann-Grube 2000; Schlee und Wahl 1987; Wagner 2016; Wahl 1991, 2006; Wahl et al. 1983). Dabei unterstellt das FST die Relevanz von STn sowohl auf Seiten der Lehrenden wie der Lernenden. Für die Seite der Lehrer/ innen (bzw. auch Erzieher/innen) ist nach dem Überblick von Straub und Weidemann (2015, S. 84) eine Einbeziehung immer neuer spezifischer Problembereiche zu konstatieren, nämlich neben dem genannten Gruppenunterricht und den Unterrichtskonflikten auch interkulturelle Pädagogik in Integrationsklassen (MerzAtalik 2001), Lehr-Lern-Prozesse im Physikunterricht (Heran-Dörr 2006; Müller 2004), Schulentwicklung (Söll 2002), Unterrichtsstörungen (Girke 1999), Sprach-

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entwicklung und Spracherwerb (Inckemann 2005; Rank 2008), Kreativität (Schneider 2003) bzw. bilingualer Erdkundeunterricht (Viebrock 2006). Eine besondere emanzipatorische Praxisrelevanz erreicht das FST allerdings dadurch, dass es – im Prinzip gleichberechtigt – auch die STn der Adressaten von Lehrbzw. Erziehungsprozessen thematisiert (Oehme 2007; Straub und Weidemann 2015, S. 89–94). Dazu gehören dann z. B. Untersuchungen zu STn von Schulverweigerern (Oehme 2007), Vietnamflüchtlingen (Lummer 1994) sowie Schüler/ innen mit Lernschwierigkeiten (Metzger 2007). Entsprechend gibt es auch erfolgreiche Anwendungen in der Klinischen bzw. Medizinischen Psychologie (vor allem zu Subjektiven Krankheitstheorien: Barthels 1991; Flick 1991a; Kaerger und Obliers 2004; Kaerger-Sommerfeld et al. 2003; Wagner 1995; Wagner und Meerts 2002) sowie der Sportpsychologie (Lippens 1992, 2004). In all diesen Anwendungskontexten ist es von besonderem Interesse aufzuklären, wodurch problematisches Handeln (oder Verhalten) auf Seiten der Lehrkräfte bzw. betreuenden, versorgenden Expert/innen zustande kommt: durch inadäquate, wenn auch handlungsleitende STn oder im Gegenteil dadurch, dass adäquate STn nicht in Handlungen umgesetzt werden. Im Prinzip lassen sich in Bezug auf die Rationalität der STn vier Möglichkeiten der (In-) Adäquanz unterscheiden, wobei sowohl die subjektiv-theoretischen Annahmen über die Ursachen des Handelns (Motive) als auch das Wissen über die Wirkungen berücksichtigt werden müssen (Groeben et al. 1988, S. 70–97). Den optimalen Fall stellt dann sicherlich die vollständig (motiv- und wissens-)rationale ST dar, in der sowohl die Ursachen als auch Wirkungen des (eigenen) Handelns adäquat repräsentiert sind. Partiell rationale Varianten sind zum einen die motivrationale, aber wissensirrationale ST, zum anderen der komplementäre Fall der wissensrationalen, aber motivirrationalen ST. Am problematischsten ist selbstverständlich der Fall einer motiv- und wissensirrationalen ST; gleichwohl ist es absolut wertvoll, die (falschen) Reflexionen zu kennen, die der/die Handelnde mit den eigenen Handlungen verbindet. Allerdings muss dann das ES für die Erklärung dieser Aktivitäten andere Erklärungshypothesen heranziehen, und zwar entweder in Bezug auf (der/dem Handelnden verborgen bleibende) Motive (im Sinne des „Tuns“) oder auf Kontrolle durch die Umwelt (im Sinne des „Verhaltens“). Dabei hat die auf Beobachtungsdaten zurückgreifende explanative Validierung gerade im pädagogisch-psychologischen Bereich durchaus zeigen können, dass mit Kenntnis der STn der Handelnden eine bessere Voraussage möglich ist als ohne diese Kenntnis (z. B. Wahl 1991; Dann et al. 1999). Es bleibt aber selbstverständlich das Problem, dass manche STn nicht (optimal) valide sind, also verbessert werden können. Diese Verbesserung stellt denjenigen Austausch zwischen STn und wissenschaftlichen Theorieansätzen dar, der als Modifikation von STn die wichtigste praktische Konsequenz des FST gerade im Bereich der Pädagogischen Psychologie bildet (Mutzeck et al. 2002; Schlee und Wahl 1987). Modelle der kooperativen bzw. kollegialen Beratung für pädagogische Berufe auf der Grundlage des FST haben in der Praxis einen besonders großen Erfolg, weil sie auf die Probleme und Reflexionen der Betroffenen in intensiver Weise eingehen (Mutzeck 1988, 1996; Schlee 2004). Der Modifikationsansatz des FST greift hier

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klassische Entwürfe der Aktionsforschung (z. B. Lewin 1948; Moser 1977) auf und führt sie weiter. Wie in der Aktionsforschung sind die Problemstellungen der Betroffenen der (einzig) legitime Ausgangspunkt für die intendierte Verbesserung der STn (und ihrer Handlungsleitung). Die Methodologie des FST gewährleistet bei diesem Modifikationsprozess so weit wie möglich ein gleichberechtigtes Gewicht der Subjektiven Theoretiker/innen und der systematischen Kontrolle der Verbesserungseffekte. Die Praxisrelevanz des FST dürfte auch der wichtigste Grund dafür sein, dass es neben der schon angeführten intradisziplinären (psychologischen) Bandbreite von Untersuchungen auch eine erhebliche interdisziplinäre Resonanz gibt. Das betrifft z. B. neben den Wirtschaftswissenschaften (Unternehmensorganisation, Weber 1991), der Konsument/innenforschung (Geise und Westhofen 2006) und dem Coaching von Führungskräften (Riedel 2003) vor allem die Fremdsprachenphilologie (Florio-Hansen 1998; Grotjahn 1998, 2005; Kallenbach 1996). Gerade in diesen Bereichen geht es darum, nicht nur die STn der Lehrenden, sondern auch der Lernenden zu berücksichtigen und in Bezug auf die Lerninhalte wie den Lernprozess zu untersuchen, ggf. zu verändern. Die Interaktion zwischen diesen Reflexionsbereichen des Lehr-Lern-Prozesses dürfte eine wichtige Bedingung für dessen Optimierung darstellen (im besten Fall in Form eines konstruktiven, von Passung gekennzeichneten Zusammenspiels), und die Erfahrungen mit dem FST in solchen interdisziplinären Kontexten können zu einer produktiven Rückkoppelung qua theoretischer Ausdifferenzierung und empirischer Komplettierung führen.

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(FST-)Untersuchungsbeispiel als paradigmatische Veranschaulichung

Zur Veranschaulichung sei die bisher umfangreichste Untersuchung innerhalb des FST komprimiert zusammengefasst, die zu Gruppenarbeit im Schulunterricht durchgeführt worden ist (Dann et al. 1999). Es handelt sich um eine interdisziplinäre Studie unter Beteiligung von Psychologie, Linguistik und Pädagogik. Dabei wird unter Gruppenarbeit (bzw. Gruppenunterricht) eine Sozialform des kooperativen Lernens verstanden, in der für eine begrenzte Zeit der Klassenverband in Kleingruppen aufgeteilt wird, in denen die Schüler/innen möglichst selbstständig ein bestimmtes Thema bearbeiten (Dann et al. 1999, S. 6). Dementsprechend werden drei Phasen des Gruppenunterrichts unterschieden: Arbeitsauftrag, Gruppenarbeit und Auswertung (als Präsentation der Arbeitsergebnisse der Kleingruppe vor dem Klassenplenum; Dann et al. 1999, S. 19). Für alle drei Phasen werden Daten sowohl aus der Außensicht (Beobachtung aus der Perspektive der dritten Person) als auch der Innensicht erhoben (Subjektive Theorien, allerdings aus Gründen der Praktikabilität nur der Lehrkräfte), sodass auch ein Vergleich zwischen den Subjektiven Theorien und dem realen Handeln der Lehrpersonen (explanative Validierung) möglich ist. Die Fragestellungen beziehen sich demgemäß auch auf die damit thematischen drei Ebenen: nämlich welche interaktiven Kommunikationsprozesse ablaufen; mit welchen Intentionen (Subjektiven Theorien) die Lehrkräfte in Richtung auf den Grup-

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penunterricht agieren; und in welchem Ausmaß diese Aktionen mit den Subjektiven Theorien übereinstimmen (Dann et al. 1999, S. 7–8). Die Untersuchung wurde an 16 Hauptschulklassen des nordbayerischen Raums durchgeführt, wobei sowohl männliche als auch weibliche Lehrpersonen einbezogen waren, die entweder geringe oder große Berufserfahrung hatten. Zur Rekonstruktion der Innensicht (in Form von Subjektiven Theorien) wurde die ILKHA eingesetzt (Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen), mit der das handlungsnahe Herstellungswissen der Lehrkräfte (im Sinn der prototypischen Situations-Handlungsabläufe) besonders gut abgebildet werden konnte (Dann et al. 1999, S. 153–162). Es handelt sich um ein post-aktionales Legeverfahren, bei dem durch „Nachträglich Lautes Denken“ die Kognitionsinhalte erhoben werden, die dann mit einem Regelsystem, das die zentralen formalen Bestimmungsstücke eines Flussdiagramms enthält, in die Struktur einer ST überführt werden. Die resultierenden STn können zum einen nach formalen, zum anderen nach inhaltlichen Aspekten ausgewertet werden. Inhaltlich geht es in diesem Fall vor allem um die Anforderungen an die Lehrkräfte: in der Phase des Arbeitsauftrags, während der Gruppenarbeit und während der Auswertungsphase (Dann et al. 1999, S. 171–174). Durch eine inhaltsanalytische Auswertung der STn lassen sich damit individuelle, aber auch überindividuelle (subjektiv-theoretische) Strukturen herausarbeiten. Für die Außensicht-Beobachtung wurden 150 Unterrichtsstunden (per Video) aufgenommen und transkribiert. Die resultierenden Daten wurden auf drei Ebenen mit zunehmendem Auflösungsgrad aufgearbeitet (Dann et al. 1999, S. 30–55): als quantitative Grobanalyse in Form eines Interaktogramms (der Gruppenarbeit), auf mittlerem Konkretheitsniveau eine Schüler/innenprofilanalyse (in Bezug auf Inhalts-, Beziehungs- sowie Prozessaspekte) und auf der Mikroebene eine qualitative Verlaufsanalyse des kommunikativen Handelns. Auf dieser Grundlage wurden die Intragruppenprozesse der Schüler/innen bei der Gruppenarbeit analysiert (Dann et al. 1999, S. 57–103), ebenso wie das Lehrer/innenhandeln (bei den Arbeitsaufträgen, bei Interventionen während der Gruppenarbeit und bei der Gestaltung der Ergebnispräsentationen; Dann et al. 1999, S. 107–143). Es resultiert eine Vielzahl von Ergebnissen, die vor allem auch die problematischen Punkte des lehrer/innenseitigen Umgangs mit der Unterrichtsform Gruppenarbeit identifizieren: zum Beispiel, dass die Lehrer/ innen ein zu hohes Kontroll- und Lenkungsbedürfnis aufweisen, dadurch zu häufig intervenieren, sich bei ihren Interventionen nicht genügend über den Stand der Gruppenarbeit informieren etc. (Dann et al. 1999, S. 121–140). Unter der Perspektive des FST ist der Vergleich von Innensicht (STn) und Außensicht (Beobachtungsdaten) zentral, um die Handlungsleitung der STn (explanative Validierung) zu bestimmen. Dazu wurde das Retrognose-Modell verwendet, indem zwei Beobachter/innen gemeinsam für die aufgezeichneten Gruppenunterricht-Szenen gemäß den Regeln der ILKHA rekonstruierten, welche Entscheidungspfade in der jeweiligen Szene von der Lehrperson realisiert worden waren (zur mehrstufigen Lösung von Entscheidungsproblemen: Dann et al. 1999, S. 223–224), sodass die (später erhobene) ST direkt mit der beobachteten Handlungsstruktur vergleichbar war. Es zeigten sich im Durchschnitt fast 90 Prozent

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Übereinstimmungen, was vor allem auch darauf zurückzuführen ist, dass die ILKHA bewusst handlungsnahes Herstellungswissen erhebt. Bezüglich der Differenzen zwischen STn und beobachteter Handlungsstruktur wird zwischen Abweichungen (andere beobachtete Handlung als subjektiv-theoretisch intendiert), Blindstellen (beobachtbare Prozesse, die in der ST nicht enthalten sind) und Sprüngen (fehlende Konzeptverbindungen in der ST) unterschieden. Das erlaubt die Identifizierung spezifischer Differenzen in den einzelnen Phasen des Gruppenunterrichts, z. B. dass in der Phase der Ergebnisrepräsentation vor allem Blindstellen auftreten, weil die Lehrkräfte schüler/innenseitige Störungen (Lärm, Schwätzen etc.) (zu lange) ignorieren (Dann et al. 1999, S. 271–272). Diese Diagnose spezifischer Einschränkungen der Handlungsleitung ermöglicht dann natürlich gezielte Maßnahmen zur Verbesserung (sowohl der ST als auch deren Handlungsleitung).

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Der Entwicklungsstand des FST ist durch divergierende Dynamiken gekennzeichnet. Im deutschen Sprachraum hat sich von der Benennung her das zentrale Konzept der „Subjektiven Theorie“ vielerorts durchgesetzt (König 2002; Straub und Weidemann 2015). Es besitzt ersichtlich eine gewisse Attraktivität, weil es die Parallelität zum wissenschaftlichen Denken („Theorie“) mit der Subjektivität des Alltagsdenkens vereint. Deshalb wird es mittlerweile deutlich öfter verwendet als alternative Benennungen wie „Naive (Verhaltens-)Theorien“ (Laucken 1974), „Laien-Theorien“, „implizite Theorien“ oder „intuitive Theorien“ (die vor allem im inhaltlichen Bereich der theory of mind vorkommen: z. B. Doherty 2008). Allerdings ist mit dieser begrifflichen Attraktivität auch bisweilen ein recht untechnischer Gebrauch verbunden, der jegliche Art und Inhalte von Alltagsreflexionen als STn bezeichnet, ohne sich um die Sicherung von (subjektiven) TheorieMerkmalen zu kümmern; es handelt sich dann eher um einen Gegenstand, für den nicht einmal der Begriff „Alltagstheorien“ sinnvoll ist, sondern eher Alltags- bzw. Laienpsychologie. Im anglo-amerikanischen Sprachraum ist die terminologische und konzeptuelle Repräsentation des mit subjective theory explizierten Konstrukts (z. B. Dann 1990; Groeben 1990) wegen der Bedeutungsvariation von subject und subjective ungleich schwieriger. Bisweilen wird intuitive theory in vergleichbarer Bedeutung gebraucht, zumeist ist, wenn es um die Alltagsreflexionen von Akteur/innen geht, von folkpsychology die Rede (Hutto und Ratcliffe 2007). Damit aber ist eindeutig eine eher abwertende Konnotation verbunden, die den Aspekt der „Subjektivität“ in den Vordergrund rückt und die theorieparallelen Leistungen des alltäglichen Reflektierens kaum berücksichtigt. Gerade der anthropologische Ausgangspunkt einer strukturellen Parallelität zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Denken hat sich im anglo-amerikanischen Mainstream der Psychologie (bisher) nicht durchsetzen lassen. Das liegt zum einen daran, dass die herrschende kognitionswissenschaftliche Richtung der Computermetapher des menschlichen Geistes

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(sei es in der starken Version der artificial intelligence oder der schwachen des sogenannten Informationsverarbeitungs-Ansatzes) unter anthropologischer Perspektive lediglich die Fortsetzung des Behaviorismus mit anderen Mitteln ist (auch wenn sie selbst mit dem Terminus der „Kognitiven Wende“ einen anderen Eindruck zu erwecken versucht; Erb 1997). Im Vergleich zur kognitionswissenschaftlichen Behandlung des menschlichen Denkens beharrt das FST einfach zu sehr auf den spezifisch menschlichen, positiven Merkmalen von Subjektivität qua Personalität. Trotz dieser (positiven) Bewertungsperspektive findet das FST allerdings auch unter dem (erstarkenden) Dach einer „Positiven Psychologie“ keine problemlose Heimat. Denn diese anthropologisch passende Psychologie konzentriert sich weitgehend auf emotional-motivationale Dimensionen, setzt dem herrschenden Mainstream (mit seiner scheinbaren kognitiven Wende) eine (existenziell verstandene) emotionale Wende entgegen (Snyder und Lopez 2005). Dementsprechend wird die Konzentration auf die STn des Alltagsmenschen auch häufig als eine „Verkopfung“ des psychologischen Gegenstandes kritisiert (Straub und Weidemann 2015, S. 109–114), was aus der Sicht des FST aber auf einen (zu) eingeschränkten Rationalitäts-Begriff einschließlich der neoromantischen Kontrastierung von Emotion und Kognition zurückzuführen ist (Groeben und Scheele 2015, S. 121–125; umfassend Scheele 1991). Allerdings sitzt das FST dadurch sozusagen zwischen allen Stühlen, was aber für eine Nebenströmung der qualitativen Forschung nicht so überraschend ist und im Prinzip auch ein erhebliches Reformpotenzial besitzt. Dieses Potenzial besteht im Falle des FST darin, die Verbindung zwischen einer „positiven“, auf die konstruktiven Möglichkeiten des Menschen ausgerichteten Anthropologie und den kognitiven Dimensionen und Prozessen herzustellen und auszuarbeiten (so auch Straub und Weidemann 2015, S. 107–113). Dazu gehört dann auch die ausstehende theoretische Weiterentwicklung, das Konstrukt der „Subjektiven Theorie“ von überindividuellen Konstrukten wie „soziale Wissensrepräsentationen“ etc. abzugrenzen sowie zu ihnen in Beziehung zu setzen (Groeben und Scheele 2015, S. 123–125); diese Theorie-Elaboration könnte und müsste ebenso die Relation zu der Konzeption einer „Narrativen Psychologie“ klären (die sich in den letzten zwei Jahrzehnten als starke Variante des qualitativen Paradigmas etabliert hat: Bruner 1990; Straub 1998). Neben diesen Interrelationen zu qualitativen Ansätzen eröffnet der weite Begriff der „Subjektiven Theorie“ auch die Möglichkeit, die klassischen (quantitativen) Ansätze der Attributionstheorie ebenfalls unter der Binnendifferenzierung von subjektiven Konstrukten, Hypothesen, Erklärungen, Prognosen, Technologien etc. zu rekonstruieren. Damit gäbe es ein einheitliches Theoriegerüst für alle Modelle der kognitiven Psychologie, die sich mit Kognitionen/Reflexionen in der Komplexität von Satzsystemen beschäftigt haben. Das würde nicht nur eine konzeptuelle Vereinheitlichung bedeuten, sondern auch eine Zusammenführung von empirischen Datenkorpora und methodologischen Traditionen (Groeben und Scheele 2002, 2015). Gerade in Bezug auf die methodologische Dimension impliziert die Berücksichtigung der zwei konzeptuellen Varianten von „Subjektiven Theorien“ eine (konstruktive) Verbindung von qualitativen und quantitativen Ansätzen. Das

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betrifft zunächst einmal die Erhebungsmethoden, bei denen innerhalb des FST zur Rekonstruktion der Sinndimension von Handlung/en mit der Dialog-Hermeneutik eine systematische Form von Verstehensmethodik ausgearbeitet worden ist, die allerdings auch quantitative inhaltsanalytische Auswertungen enthält. Sodann impliziert das methodologische Konzept der zweiphasigen Forschungsstruktur (mit der zweiten Phase einer explanativen Validierung) darüber hinaus ebenso eine Verbindung von qualitativer und quantitativer Versuchsplanung (als möglichst umfassender Berücksichtigung der menschlichen Anthropologie; Schreier 2006). Dabei ist es unbestritten, dass die Methodik der explanativen Validierung innerhalb des FST sowohl von der methodologischen Konzeption als auch der Forschungspraxis her weiter ausgearbeitet werden muss (Groeben und Scheele 2015, S. 125–133; Straub und Weidemann 2015, S. 114–118). Daraus folgt als letzter Schritt notwendigerweise auch die Elaboration von entsprechenden statistischen Auswertungsmodellen. Das FST enthält durch die Verbindung von kommunikativer und explanativer Validierung eine starke Dynamik zur Überwindung der unsinnigen Entgegensetzung von qualitativer Tradition und statistischer Auswertungskomplexität. Gerade im Gegenteil wird durch diese Verbindung der Validierungsarten deutlich, dass die quantitativ-experimentelle Tradition eher mit Standardvarianten von (varianzanalytischen) Auswertungsmodellen auskommt, während die (integrative) qualitative Forschung die sophistizierteren statistischen Auswertungsansprüche erfüllen muss (Groeben 2006; Oldenbürger 2004). Um dieses methodologische Reformpotenzial des FST erfüllen zu können, bedarf es jedoch in Zukunft verstärkt methodologischer Evaluationsstudien sowohl zu klassischen Gütekriterien (wie Objektivität, Reliabilität, Validität) als auch zu spezifischen Zielkriterien des qualitativen Paradigmas (wie gleichgewichtige Interaktion von Gegenstand und Methode, soziale Relation von EO und ES, Ethik empirischer Forschung; s. kritisch Straub und Weidemann 2015, S. 114–118). Dazu gehören dann ebenfalls metatheoretische Diskussionen, die den in der MainstreamPsychologie zu beobachtenden Graben zwischen wissenschaftstheoretischen Einsichten und methodologischer Praxis zu überwinden vermögen (Groeben 1993, 1995, 2006). Ein paradigmatisches Problem ist diesbezüglich, dass die Methodenlehre des (herrschenden) quantitativen Paradigmas immer noch als zentrales Kriterium ansetzt, dass psychologische Beobachtungs- und Erhebungsverfahren den Gegenstand nicht beeinflussen dürfen, obwohl die wissenschaftstheoretische Diskussion längst gezeigt hat, dass jede Beobachtung den Gegenstand verändert. Aus dieser metatheoretischen Einsicht der unvermeidbaren Beeinflussung hat das FST dagegen die Konsequenz gezogen, dass es besser ist, das EO als „Gegenstand“ in Richtung auf die positiven Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen (wie eben Reflexivität, Rationalität etc.) zu beeinflussen (Groeben et al. 1988, S. 206–253; Groeben und Scheele 2015, S. 128–132). Daher bedeutet die Rekonstruktion von STn immer auch eine konstruktive Arbeit des ES mit dem EO an dessen Kognitionssystem. Empirische Forschung ist im FST also kein testing the limits, sondern eher testing the possibilities (des Menschen). Neben der kritisch-konstruktiven Diskussion mit dem quantitativen Paradigma impliziert das aber auch die Klärung

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innerhalb des qualitativen Ansatzes, ob in solchen grundlegenden (anthropologischen) Fragen eine einheitliche Position erreichbar ist.

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Qualitative Heuristik Gerhard Kleining

Inhalt 1 Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die methodologische Positionierung der qualitativen Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die qualitative Heuristik ist ein Such- und Findeverfahren, das speziell für den Gebrauch in der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung entwickelt wurde. Es systematisiert Alltagsverfahren zu vier einfachen Regeln, die sich auf die Integration von Datenerhebung und Datenanalyse beziehen, eingebettet in ein bestimmtes Verhältnis der Forschungsperson zum Forschungsgegenstand. Der Forschungsprozess basiert auf dem Einsatz der Frage, die zu einer Antwort führt und zu einer neuen Frage usw., bis der Sachverhalt aufgeklärt ist (Dialogprinzip). Ziel ist das Erkennen der Struktur einer psychischen oder sozialen Gegebenheit. Kritik ist diesem Erkenntnisprozess immanent, das Ergebnis hinterfragt seine einzelnen Voraussetzungen. Der Beitrag skizziert nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte und die Formen der Anwendung der qualitativen Heuristik abschließend ihr Verhältnis zur Digitalisierung.

G. Kleining (*) Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_14

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G. Kleining

Schlüsselwörter

Qualitative Heuristik · Entdeckende Forschung · Geschichte der Psychologie · Wissenschaftstheorie · Beobachtung · Experiment · Textanalyse · Digitalisierung

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Entwicklungsgeschichte

Die qualitativ-heuristische Methodologie verwendet entdeckende Verfahrensweisen und Forschungsstrategien aus vornehmlich zwei Richtungen: des „qualitativen“ Zweiges der Sozialpsychologie der Lazarsfeld-Schule, repräsentiert durch Herta Herzog u. a. in New York und der kulturellen Anthropologie von W. Lloyd Warner und seines Kreises in Chicago, beide aus den 1950er-Jahren. Daneben war die Dialektik der Kritischen Theorie für die Methodologie von Bedeutung und der Reichtum an empirischen Methoden der Würzburger Denk- und der Frankfurter und Berliner Gestaltpsychologie, neben anderen, darunter der experimentellen Entwicklungspsychologie Jean Piagets. Das einigende Band waren die entdeckenden Kapazitäten der verschiedenen Ansätze und ihre methodisch zu sichernde, d. h. wiederholbare und überprüfbare Tauglichkeit. Die forschungspraktische Entwicklung in Europa geht zurück auf die Wiener Sozialpsychologie in den 1930er-Jahren (bis 1938), besonders auf Lazarsfelds Aktivitäten und die Gründung der Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle am Psychologischen Institut (Zeisel 1979), einem der methodischen Quellen der später weltweit agierenden kommerziellen Markt- und Sozialforschung. Lazarsfelds eigene Interessen an qualitativer Sozialforschung treten hinter seinen quantitativen und mathematischen Beiträgen zurück, er hatte sich aber lebenslang mit qualitativer Methodologie befasst von der „Art of Asking Why“ (1972a [1934]) bis zu seinem letzten Interview (König und Stehr 1976, S. 803; s. auch Lazarsfeld 1972b; Neurath 1979). Seine Schülerinnen Maria Jahoda und Herta Herzog gingen über die Suche nach einer einzigen, vermutlich bestgeeigneten Methode hinaus. Die Gemeindeuntersuchung über die Arbeitslosen in Marienthal, maßgeblich von Jahoda umgesetzt, ist berühmt für die Variation der Erhebungstechniken und die Zusammenfügung unterschiedlicher Beobachtungen zum Ergebnis der „müden Gemeinschaft“, wie auch durch ihre entdeckende Kapazität (Jahoda 1979; Jahoda et al. 1969 [1933]; Kocks und Meck 2005). Herzogs gleichzeitige Dissertation (1933) bei Karl Bühler und Paul Lazarsfeld kombinierte zwei Methoden bei der Wirkungsanalyse der Stimme von Radiosprechern, die „quantitative und die phänomenologische“ und zwei Befragungstechniken: das „Massenexperiment“ und die Einzelanalyse (Herzog 1933, S. 302–303; Kleining 2016). Herzog nahm Bezug auf die Phänomenologie als ihrem theoretischen Hintergrund, Ausgangskonzept für die späteren Erlebnisanalysen und den Begriff des Image; sie kombinierte die phänomenologische Analyse mit der statistischen.1 In den Karl Bühler suchte die subjektivistische „Erlebnispsychologie“ mit der Methode der Selbstbeobachtung in der Auseinandersetzung mit anderen Axiomen zu erneuern (Bühler 1965 [1929]). Sein Organon-Modell (Bühler 1934) vereinigt drei Sprachfunktionen.

1

Qualitative Heuristik

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USA begründete sie mit Methodenvariationen den „Uses-and-gratification-approach“ der aktiven Medienrezeption der Radiohörenden (qualitative und quantitative Interviews, Herzog 1941, 1944). Ein herausragender Erfolg war ihre Entwicklung der „Focus Group“ zur Analyse der amerikanischen Kriegspropaganda (wahrscheinlich 1942) im von Lazarsfeld geleiteten Bureau of Applied Social Research der Columbia University, New York. Die Focus Group war neben dem qualitativen („depth“) Interview die weltweit am häufigsten verwandte qualitative Methode der kommerziellen Markt- und Medienforschung.2 Herzog hat auch andere Methodenkombinationen ausprobiert, wie die von Interviews mit der vom Ökologen Hess entwickelten „Eye Camera“ (ca. 1957) und hat mit verschiedenen projektiven Verfahren aus der Klinischen Psychologie experimentiert (Herzog 1994/1995, erster Brief an Perse 1994, S. 7).3 Die zweite Quelle der heuristischen Methodologie waren die kulturanthropologischen Forschungen von W. Lloyd Warner („1959 Yankee City Series“ 1941–1959), praktiziert u. a. von „Social Research Inc.“, einer mit der University of Chicago lose verbundenen kommerziellen Einrichtung. Dort waren der Anthropologe Burleigh Gardner, die klinische Psychologin Harriett B. Moore, der Soziologe Lee Rainwater und andere tätig (Levy 2006, S. 3–16). Analysebeispiele liefern u. a. Untersuchungen von Hess und Handel (1959), Rainwater (1960) und zahlreiche kommerziellen Arbeiten, etwa für die „Chicago Tribune“ (Martineau 1957). In die Untersuchungen der interdisziplinären Gruppe gingen Einflüsse aus der Chicago-School ein, welche Pragmatik in empirische Forschung übersetzte und durch wegweisende Untersuchungen über Stadtentwicklung und randständige Lebenswelten die qualitative amerikanische Sozialforschung begründete und die spätere befruchtete. Die Grounded-Theory-Methodologie von Glaser und Strauss (1967) hat sich daraus entwickelt. „Discovery“ bezeichnet sie als Ziel der Forschung, darin liegt eine ihrer Gemeinsamkeiten mit der heuristischen Psychologie und Sozialforschung. Die genannten Konzepte hat Gerhard Kleining (Witt 2004) durch entdeckende Methoden aus der empirischen klassischen deutschsprachigen Psychologie erweitert. Er hat versucht, die Gemeinsamkeit der verschiedenen entdeckenden Methoden zu einer „qualitativ-heuristischen“ Methodologie zu vereinen. Sie wurde zunächst als „Umriss“ (Kleining 1982) und später als „Lehrbuch“ (Kleining 1995) vorgestellt. Die „Hamburger Forschungswerkstatt Psychologie und Sozialwissenschaften“ entwickeltes die heuristischen Konzepte weiter, z. B. durch den entdeckenden Gebrauch der Introspektion (Burkart et al. 2010, 2018; s. dazu Mayer 2010).

2

Der Berufsverband ESOMAR schätzte 2009 einen weltweiten Umsatz mit Focus Groups auf 2 Mrd. US $. (vgl. Packard 1957). 3 Zu Herzogs Biografie: Herzog (1994/1995); Klaus und Seethaler (2016); zu ihrer Erfindung der Focus Group: Kleining (2016, S. 131–134).

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G. Kleining

2

Theoretische und methodologische Prämissen

2.1

Eine Definition

Heuristische Forschung ist der reflektierte und systematisierte Einsatz von Suchund Findeverfahren zur Gewinnung von Erkenntnis durch Empirie. „Forschung“ gilt als intentionale Handlung und ist an ihrem Ziel zu messen, dem Entdecken von Neuem als Ergebnis eines nachprüfbaren Prozesses. Probleme des Realitätsverständnisses sind Themen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Jedoch hat auch die Forschungspraxis selbst eine Reihe entdeckender Verfahren hervorgebracht. Sie bilden die Grundlage für die heuristische Methodologie. Qualitative Heuristik ist eine allgemeine und umfassende Forschungsstrategie. Sie ist besonders für qualitative Daten geeignet, aber nicht auf sie beschränkt (Kleining und Witt 2001). Sie kann auch auf Fragestellungen der Sozial- und Textwissenschaften angewandt werden. Wissenschaftsstrategisch unterscheidet sie sich sowohl von erklärenden (deduktiv-nomologischen) als auch beschreibenden (induktiven) bzw. deutenden (hermeneutischen) Aufgabenstellungen (Kleining 2007, S. 216). Von anderen entdeckenden Verfahren (Blumer 1973 [1969]; Glaser und Strauss 1967) setzt sie sich ab durch die Einbeziehung der klassischen mitteleuropäischen Psychologie bis 1933/1938, durch ein erweitertes Methodenspektrum, durch die Nutzung dialogischer Erhebungsmethoden und die daraus entstehende Chance zur immanenten Kritik sowie auf der praktisch-empirischen Seite durch eine vereinfachte Analysetechnik.

2.2

Die Grundannahmen

Grundlegend für die Heuristik ist die Überzeugung, dass „Entdeckung“ durch eine Systematisierung der entdeckenden Forschungsverfahren optimiert werden kann. Die Heuristik setzt nicht auf Intuition (Popper 1994 [1934], S. 6), sondern ist zumeist Ergebnis geduldiger Arbeit am Detail. Einige Verfahrensregeln haben sich als anderen überlegen erwiesen. Hierzu gehören die Variation, der Vergleich und der Dialog. Variation als methodische Maxime steht am Beginn der experimentellen Psychologie, wenn nicht, in Gestalt der vergleichenden Sprachwissenschaft, am Beginn der Kultur- bzw. geisteswissenschaftlich orientierten Forschung im 19. Jahrhundert überhaupt. Wilhelm Wundt übernahm die Methode der Variation vermutlich aus der Physiologie und setzte sie bei seinen Leipziger Versuchen ein. Variiert wurden die Versuchsleiter/in, die Versuchspersonen, die Versuchsgegenstände, die Sinnesgebiete (optisch, akustisch, taktil), die Übermittlungsmedien (elektrisch, verbal) und die Zeitspannen (Mayer 2010). Dagegen verblieb die klassische Form der Introspektion beim einzelnen Subjekt, den zur Selbstbeobachtung ausgebildeten Expert/innen, die eine große Anzahl von Introspektionsakten ausgeführt hatten. Den Vorwurf der Subjektivität konnten aber alle Einzel-

Qualitative Heuristik

207

methoden nicht entkräften, er hat zur Aufgabe des Verfahrens beigetragen.4 Auch der Vergleich von zwei oder mehreren Merkmalen eines Forschungsgegenstandes innerhalb ihrer selbst oder mit anderen ist eine zur Entdeckung geeignete Methode und Kennzeichen verschiedener „vergleichender“ Geisteswissenschaften. In den Naturwissenschaften gehört der Vergleich zum Kanon wissenschaftlichen Arbeitens – im weiteren Sinne ist Messen selbst der Vergleich mit einem als Maß gesetzten Standard. Beim Vergleich mehrerer Daten stellt sich die Frage, was womit verglichen werden soll. Für quantitative Daten ist die Antwort einfach: das Zahlensystem gibt an, was „mehr“ oder „weniger“, „höher“ oder „tiefer“ etc. ist. Qualitative Daten liefern keinen solchen Standard. Die qualitative Heuristik empfiehlt, die internen Verbindungen und Beziehungen eines Gegenstandes dadurch zu identifizieren, dass man nach den Gemeinsamkeiten oder den Ähnlichkeiten innerhalb eines Forschungsgegenstandes sucht. Dafür gibt es eine doppelte Begründung: eine inhaltliche, die besagt, dass jede Beziehung oder Verbindung ein Gemeinsames voraussetzt (das auch ein direkter Gegensatz sein kann) und eine forschungstechnische durch den Umstand, dass die systematische Suche nach Differenzen ins Endlose führt, und die Begrenzung nach Beurteilung durch die Forschungsperson verlangt, was wieder den Subjektivitäts-Vorwurf aufwirft. Ein weiteres Erkenntnis generierendes Verfahren kann der Dialog sein. Er enthält ebenfalls in sich eine Gemeinsamkeit zwischen den Partner/innen. Auch ein „Dialog“ mit Dingen kann gedacht und praktiziert werden, also eine Ausweitung und spezifische Anwendung der Frage, deren heuristische Bedeutung schon die klassische griechische Philosophie erkannte, wobei die Platonischen Dialoge allerdings auch die damalige gesellschaftliche Hierarchie reproduzieren mit dem fragenden Schüler und dem über die Frage (statt über die Antwort!) reflektierenden Philosophen. Die Integration verschiedener Verfahren hatte Lazarsfeld (1933) zu vier Regeln verdichtet als Ergebnis seiner damaligen (Wiener) Forschungserfahrungen. Zu kombinieren seien objektive Beobachtungen und introspektive Berichte, Einzelfallstudien und statistische Daten, gegenwärtige und frühere Informationen über einen Forschungsgegenstand wie auch „natürliche“ und experimentelle Daten (Glock 1979, S. 25). Zu den Grundannahmen der qualitativen Heuristik gehört, dass „Entdeckung“ ein Alltagsprozess ist, dessen Praktizierung ein selbstbestimmtes Leben erst ermöglicht: Die frühen Erfahrungen eines Menschen zielen darauf ab, sich selbst und die Umwelt zu entdecken und sie sich anzueignen in einem beständigen, dialogischen Prozess. Die Menschheit hätte nicht überlebt ohne den psychologischen Vorgang der Entdeckung, der aktiven und später bewussten und intentionalen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. Die Prinzipien des erfolgrei-

Die „Dialogische Introspektion“ versucht den Subjektivismus-Vorwurf durch Einführung der Gruppe in den Introspektionsprozess zu reduzieren (Burkart et al. 2010).

4

208

G. Kleining

chen Suchens und Findens stammen aus der Alltagserfahrung, sie werden wissenschaftlich verwendbar, wenn sie reflektiert und mit nachvollziehbaren Abläufen eingesetzt werden. Dass entdeckende Verfahren nicht nur in der qualitativen und quantifizierenden Psychologie und Sozialforschung zu verwenden sind, sondern auch integraler Teil der Naturwissenschaften, sollte nur diejenigen Forschenden abhalten, sie einzusetzen, die eine grundlegende Differenz nicht nur zwischen den Forschungsgegenständen der Natur- und Geisteswissenschaften sehen, sondern auch zwischen den jeweiligen Methoden. Tatsächlich sind die Forschungsstrategien der (entdeckenden) Psychologie und der (entdeckenden) Naturwissenschaften in vieler Hinsicht ähnlich, Experiment und Beobachtung sind Grundlage für beide (Mach 1980 [1905]).

2.3

Die heuristische Methodologie

Einzelne Techniken führen zu Teilresultaten. Ohne übergreifende Methodologie besteht die Gefahr gravierender Fehler, z. B. ein Detail zu finden, das man für das Ganze hält oder Widersprüchliches zu übersehen. Die erste Forderung an eine entdeckende Methodologie ist deswegen, den ganzen Forschungsprozess auf das Erkennen des Forschungsgegenstandes im Subjekt-Objekt-Verhältnis auszurichten. Als Zweites soll die Methodologie praktikabel sein, also mit möglichst geringem Aufwand Erkenntnisse erbringen. Der Vorschlag einer qualitativ-heuristischen Methodologie war sich dieser Prämissen bewusst (Hagemann und Krotz 2003; Krotz 2005; Kleining 1982, 1994a, 1995, 2007, 2010). Das vorgeschlagene Suchverfahren gibt an, wie die Chance erhöht werden kann, die Struktur des Forschungsgegenstandes aufzuklären.

2.4

Die heuristischen Regeln

Die heuristische Methodologie verwendet vier Regeln, die zusammenspielen. Sie sind als Verläufe zu verstehen, im Sinne von „in Richtung auf . . .“: • • • •

Regel 1: Offenheit der Untersuchungsperson, Regel 2: Offenheit des Untersuchungsgegenstandes, Regel 3: Maximale strukturelle Variation der Perspektiven, Regel 4: Analyse auf Gemeinsamkeiten.

Die beiden ersten Regeln reflektieren das Subjekt-Objekt-Verhältnis und sollen die Chance verbessern, den Forschungsgegenstand als eigenständig zu erfassen. Die beiden folgenden Regeln beziehen sich auf Datenerhebung und Analyse des Gegenstandes in gleicher Absicht: Regel 1 verlangt von der Forschungsperson Offenheit für Neues: Erbringt die Untersuchung anderes als das, was ihr über den Gegenstand schon bekannt ist, und

Qualitative Heuristik

209

sich die Daten hartnäckig erweisen, soll sie ihre Meinung dem neuen Kenntnisstand anpassen. Die Regel verlangt keine Tabula rasa, die weder möglich noch erstrebenswert ist, weil Vorverständnisse auch gegenstandsadäquat sein können. Die Regel wird nur aufgerufen, wenn eine gravierende Differenz zu den Daten auftritt (Kleining 2001). Vor allem soll sie verhindern, dass die Forschungsperson ein Projekt aufgibt, weil die Daten auf den ersten Blick nicht mit den Vorannahmen übereinstimmen. Regel 2 öffnet das Bild des Gegenstandes. Präsentiert sich das Thema im Laufe der Forschung in neuem Zusammenhang, so sollte der Gegenstandsbegriff modifiziert oder geändert werden. Er sollte deswegen schon von Anfang an als „vorläufig“ gelten. Erst am Ende der Forschung ist ganz bekannt, was eigentlich untersucht wurde. Das kann bei durch Drittmittel finanzierten Untersuchungen zu Schwierigkeiten führen, wenn der Geldgeber erwartet, ein Thema beantragungsgemäß abzuarbeiten, während sich der Erkenntnisstand im Verlauf der Forschung und durch sie ändert. Tritt das vermeintliche Dilemma ein, ist das Verhandlungsgeschick der Forschungsperson gefragt. Regel 3 über Datenerhebung oder das Sample verlangt, den (vorläufigen) Forschungsgegenstand von verschiedenen, möglichst „allen“ Seiten zu betrachten oder betrachten zu lassen. Sichtweisen werden gesucht, die bekanntermaßen oder vermutlich voneinander verschieden sind, ob tatsächlich, weiß man erst nach Erhebung des Materials. Hinweise auf alternative Sichtweisen können die Alltagskenntnisse geben oder bisherige Forschungsergebnisse, Befragung von Experten/ Expertinnen, Angaben in der Literatur oder vorläufige Beobachtungen im Feld. Die Differenzen sollen sich – in letzter Instanz – als „maximale strukturelle Perspektiven“ darstellen. Man beginnt im kleinen Maßstab und mit dem Offensichtlichen, zunächst mit zwei, möglichst deutlich voneinander abweichenden Perspektiven. Immer sollten die Methoden variiert werden – zwei für den Anfang – und wenn möglich die Personen, Zeit, Ort und Umstände der Untersuchung. Welche Variationen gesucht werden, hängt vom Forschungsgegenstand und von den Zugangsmöglichkeiten ab. Bei sozialpsychologischer Forschung kann man mit Extremgruppen-Samples arbeiteten. Klinische Forschung gewinnt Kriterien für die Beurteilung des Einzelfalles aus den extremen Ausprägungen der jeweiligen Konstitution oder der Person in extremen Situationen. Gedankenexperimente gehen Realexperimenten voraus. Die Daten aus verschiedenen Perspektiven werden dokumentiert und separat analysiert. Nach Regel 4 über Datenanalyse werden die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Sichtweisen gesucht. Dies bedarf einiger Übung, weil man „gegen den Strich“ die offensichtlichen Differenzen in den Daten zu überwinden trachtet. Hilfreich ist das Nachanalysieren von Beispielen (z. B. Kleining 1994a). Ähnlichkeiten und Analogien sind gesuchte Gemeinsamkeiten, aber auch Negationen als gekonterter Ausdruck eines Inhalts. Der Weg geht von den verschiedenen Formen des Konkreten zu immer höherer Abstraktion. Das Ziel ist, alle Daten unterzubringen (die sogenannte „100-Prozent-Regel“ oder „0-Prozent-Abweichung“). Abstraktion von Konzepten heißt nicht Reduktion, sondern Zusammenfassung und Bündelung. Die abstrakteste Form von konkreten Fällen ist nicht ein einzelner Begriff, sondern die

210

G. Kleining

Wiedergabe von Verhältnissen oder Beziehungen. Die Suche nach Gemeinsamkeiten wurde vielfach als Forschungskriterium genannt.5 Die Kombination der Regeln 3 und 4 entspricht der Kombination der unterschiedlichen Empfindungen der Sinnesorgane zu einem einheitlichen Erleben der „Welt“. Dieser für das Überleben sowohl des Individuums als auch der Gattung wichtige Prozess wirft Licht auf die anthropologische Basis der Entdeckungsregeln.

2.5

Experiment und Beobachtung sind Grundmethoden

Alle Handlungen repräsentieren die Abfolgen von aktiven und rezeptiven Akten. Die Wahrnehmung beispielsweise kombiniert (aktive) „Beobachtung“ und (rezeptives) „Gewahr-Werden“, das Sprechen ist verbunden mit Hören, das Handeln mit Reflexion und Reaktion. Der Dialog besteht aus Tun und Lassen, Sprechen und Zuhörens. Der Eingriff der Forschungsperson in das Geschehen kann auch nur aktiv oder reaktiv sein. Experiment und Beobachtung sind demnach Grundmethoden entdeckender Forschung, im Alltag wie auch in den Wissenschaften (Kleining 1986).

2.6

Der heuristische Forschungsprozess

Gleichgewicht der Regeln: Die vier Regeln unterstützen sich gegenseitig. Es gibt keine Hierarchisierung der Wichtigkeit und keine festgelegte Abfolge. Nur scheinbar geht die Datenerhebung der Analyse voran, weil ihr schon die Gedankenanalyse vorgeschaltet ist. Sobald die ersten Informationen vorliegen, beginnt die reale Analyse, sodass Erhebung und Analyse sich verschränken. Die Datenerhebung ist bei entdeckender Forschung integrierter Teil des Entdeckungsprozesses, nicht hierarchisch primär oder sekundär. Man beginnt mit kleinen Samples und weitet je nach Erkenntnisstand auf die noch nicht erkundeten Fragestellungen und Forschungsbereiche aus. Da alle Felddaten ernst genommen werden, sind auch Einzelfälle oder 5

Zum entdeckenden Analyseverfahren gibt es viele Äußerungen. Georg Simmel (1958 [1908], S. 11): „An den komplexen Erscheinungen wird das Gleichmäßige wie mit einem Querschnitt herausgehoben, das Ungleichmäßige an ihnen – hier also die inhaltlichen Interessen – gegenseitig paralysiert.“ Sigmund Freud fühlte sich an das „Puzzlespiel“ erinnert als das Zusammensetzen des Zusammengehörigen: „wie bei den Zusammenlegbildern der Kinder sich nach mancherlei Probieren schließlich eine absolute Sicherheit herausstellt, welches Stück in die offengelassene Lücke gehört – weil nur dieses eine gleichzeitig das Bild ergänzt [. . .,] dass kein freier Raum bleibt“ (Freud 1896, S. 441). Die 100 %-Auflösung eines Problems wird spielerisch geübt z. B. bei Kartenspielen wie Patience. Rätselfragen dieser Art wurden schon in der klassischen Antike gestellt. Die Auflösungen von Paradoxien haben in der Wissenschaftsentwicklung eine wichtige Rolle gespielt (Mach 1980 [1905], S. 176, 196, 264). Ein Sucherfolg produziert häufig Erleichterung bis Freude. Das „Aha-Erlebnis“, Karl Bühlers ist in die Alltagssprache eingegangen, es solle zu „genauerem Zusehen“ führen (Bühler 1965 [1929], S. 136). Das Badewannen-„Heureka!“ des Archimedes wurde zum Namensgeber der Heuristik.

Qualitative Heuristik

211

sehr kleine Extremgruppen-Samples bedeutend. Alles bleibt im Fluss bis zum Ende. Dabei ist nicht nur das Denkgerüst der formalen Logik gefragt, sondern alle Denk-, Wahrnehmungs- und Empfindungsarten sind aufgerufen, sich an der Suche zu beteiligen (Beispiele in Kleining 1994a, 2003). Dialogprinzip: Der Forschungsprozess wird durch „Fragen“ an den Forschungsgegenstand in Bewegung gesetzt. Dies können gesprochene Fragen in einer realen Situation an eine Person sein, gedachte Fragen an eine Person oder an Gegenstände oder Texte, die mit dem Forschungsgegenstand in Verbindung stehen oder ihn repräsentieren. Die „Antworten“ – real oder gedacht – werden protokolliert und führen zu weiteren „Fragen“, sodass eine Frage-Antwort-Abfolge entsteht. Die Fragen sollen die Perspektiven, unter denen der Forschungsgegenstand gesehen wird, möglichst stark variieren. Das Material wird dokumentiert und später separat analysiert (zur empirischen Begründung s. Kleining 1995, S. 47–65). Intersubjektivität: Das Entdecken der Gemeinsamkeiten in der Vielgestaltigkeit der Daten überführt die subjektive Sicht aus der Einzelperspektive in die Gemeinsamkeit des Intersubjektiven. Die Abfolge konkret 1 ! abstrakt ! konkret 2: Der Forschungsprozess abstrahiert Gemeinsamkeiten aus den konkreten Daten und kehrt von der Abstraktion wieder zurück zum Konkreten, das jetzt in neuer Gliederung erscheint. Das Chaos des Anfangs verwandelt sich in Struktur und Ordnung. Das Modell ist dialektisch, es bindet Widersprüchliches durch immanente Bewegung. Es geht einen Schritt über Georg Simmels (1958 [1908]) „Wechselwirkung“ hinaus, die Gegensätzliches aufeinander bezieht, aber keine Veränderung impliziert. Es öffnet sich gegenüber den Fakten, distanziert sich vom alleinigen Bezug auf formale Logik wie auch vom Selbstbezug der zirkulären Deutung (zur philosophischen Dialektik: Marx 1972 [1857]; zum theoretischen Hintergrund: Stapelfeldt 2003). Ein Beispiel: Auf meinem Schreibtisch befinden sich: zwei PCs, Uhren, etwa 20 Bücher, noch mehr Zeitschriften, Schreibgeräte, viel Papier, beschrieben und leer. Ich nenne die Gegenstände „konkret“: Ich kann sie nach verschiedenen Kriterien ordnen: große und kleine, neue und ältere, mit deutscher und englischer Aufschrift, schöne und hässliche etc. etc. Wenn ich jetzt abzähle, wie viele Elemente in jede Kategorie fallen, gehe ich den Weg der Quantifizierung. Das Ergebnis hängt nicht nur von den Häufigkeiten der Dinge, sondern auch davon ab, welche Kategorien ich gesetzt habe. Diesen subjektiven Aspekt versuche ich durch stärkere Orientierung auf die Gegenstände selbst abzuschwächen. Was ist die Gemeinsamkeit jeder Klasse? Was hat sie mit den anderen Gruppierungen gemeinsam? Was haben alle Gegenstände vor mir gemeinsam? Die Antworten sind jetzt von anderer Art als bei einer Klassifikation nach meinen früheren Kriterien. z. B. befinden sich alle Gegenstände hier und jetzt auf dem Schreibtisch, alle haben eine Funktion, alle sind hergestellt und hierher verbracht worden, haben eine Geschichte, für alle wurde bezahlt, sie haben, für mich, einen Erlebnisgehalt, eine ästhetische Dimension usw. Noch weiter gehend: alle haben einen Platz in der Zeit, der „objektiven“ und meiner eigenen, dem Zeiterleben, alle einen Ort, alle eine Funktion etc. Bei der Frage nach Gemeinsamkeiten komme ich auf Abstraktionen – Zusammenfassungen, die jeweils dieselben Ausprägungen eines Merkmals unter einem neuen Begriff subsummieren.

212

G. Kleining

Sie müssen in einem zweiten Schritt mit anderen Abstrakta in Zusammenhang gebracht werden, sie sind dann Arbeitswerkzeuge, oder Erlebnisinhalte oder Gegenstände mit eigener Geschichte, die sich mit meiner eigenen auf eine erforschbare Weise verbinden usw. Man sieht schon, dass sich die Gegenstände ordnen lassen, nachdem sie zunächst nur aufgelistet worden waren. Den Zusammenhang zu finden ist das Ziel der entdeckenden, hier der qualitativ-heuristischen Analyse. Durch den Analyseprozess verwandeln sich die zählbaren Gegenstände in vielfach verflochtene Verhältnisse und Beziehungen. Anfang und Ende: Weil alle Daten in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden sollen, ist der Anfang beliebig. Man beginnt, wozu man Lust hat oder wo der Zugang zum Material einfach erscheint, ähnlich wie bei einem Kreuzworträtsel oder Puzzle. Man endet, wie bei diesen Rätseln, wenn alles aufgeklärt ist und neue Daten, trotz weiterer Variation, keine neuen Erkenntnisse produzieren. Glaser und Strauss (1967) haben dafür „Sättigung“ vorgeschlagen – ich nenne das die 100 %-Regel, die Einordnung aller Daten in ein übergreifendes Konzept bzw. das Fehlen aller Informationen, die dem entgegenstehen. Umschlag in Kritik: Endet die Forschung mit der Erkenntnis der Struktur eines Forschungsgegenstandes, können weitere Fragen an sie immanente Probleme verdeutlichen. Die Bewertung der Ergebnisse erhält eine neue Dimension, wenn die Faktoren einbezogen werden, auf die der Forschungsgegenstand wirkt oder von denen er bestimmt wird. Dadurch kann sich die Prognose über zukünftige Chancen und Risiken verbessern (Kleining 1988).

2.7

Textanalyse

Alle Forschungsdaten enthalten das Problem der Analyse. Der Textanalyse liegen entweder Fremdtexte zu Grunde oder notierte oder verschriftlichte verbale Äußerungen. Wegen des Offenheits-Postulats (Regeln 1 und 2) arbeitet die heuristische Textanalyse nicht mit vorgefertigten Programmen – „Analyse ist Chefsache“. Die große Herausforderung ist die Analyse auf Gemeinsamkeiten. Wer noch keine Erfahrung hat, kann sie üben. (Beispiele in Kleining 1994a, sie beziehen sich auf Fragebogenerhebungen, Dialoge, Reden, Trivial- und künstlerische Gedichte. Der Band enthält ebenfalls Beispiele für Textbeobachtung und Textexperimente.) Die heuristische Textanalyse ist die Anwendung der heuristischen Methodologie auf Texte. Ziel ist es, die Struktur der Texte zu erkennen. Verwendet werden die originalen Formulierungen, bei Befragungen verbale Protokolle, normalerweise ohne weitere Signaturen. Der erste Schritt ist zumeist die Auswahl der Texte. Sie sind häufig zu umfangreich, um sie im Ganzen zu lesen und zu behalten. Dann beginnt man mit Teilen, die möglichst verschieden sein sollen. Sind Texte sehr kurz – z. B. ein Gedicht – werden sie durch verwandte Texte oder zugehörige Informationen erweitert; der Untersuchungsgegenstand kann sich erweitern oder anders akzentuieren (Regel 2 der heuristischen Methodologie).

Qualitative Heuristik

213

Die Fremdtexte werden, außer durch gezielte Experimente, nicht verändert, etwa, indem man „nur das Wichtigste“ berücksichtigt, das „Nebensächliche“ weglässt, Wiederholungen streicht. Zu analysierende Texte werden auch nicht „nacherzählt“, zusammengefasst oder erläutert. Sie werden auch nicht gedeutet – Heuristik ist keine Hermeneutik (Subjektivitäts-Problematik). Mit zwei oder drei dem Eindruck nach verschiedenen, aber originalen Textteilen kann man beginnen. Analyse und Sampling gehen ineinander über und befruchten sich gegenseitig in einem dialogischen Prozess. Während des Analysevorganges kann man weitere Daten aus dem Umfeld der Problembereiche heranziehen. Dies können schon vorhandene Texte sein oder auch neu erhobene Daten, die fragliche Themen aufklären. Die Analyse versucht die Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Textteilen zu entdecken. Dazu kann man die Texte mit der Frage lesen: „Sagt ein Text etwas aus, das ich so oder so ähnlich in einem anderen Textteil schon gelesen habe?“ Die Gemeinsamkeit notiere ich mir. Der Prozess ist der der Abstraktion, d. h. ich ziehe aus einem komplexen Text die Merkmale heraus, die ich bei einem anderen Textteil auch vorzufinden meine. Dabei reicht zunächst eine Vermutung und eine vorläufige Formulierung der Gemeinsamkeit aus – im fortschreitenden Prozess der Analyse wird sich die Vermutung bestätigen oder zu korrigieren sein (iteratives Vorgehen). Ein vereinfachtes Beispiel soll den Analyseprozess erläutern. Wovor kann man Angst haben? Mehrere Personen äußern sich über ihr Angsterleben: 1. Angst vor Spinnen, Mäusen, Schlangen, 2. Angst vor Einbrechern, 3. Angst vor der Zahnärztin, 4. Platzangst vor zu engen/zu weiten Räumen. Man wird die einzelnen Ängste explorieren und die Angaben dokumentieren. Die heuristische Analyse „befragt“ die Texte nach ihren Gemeinsamkeiten. Man kann versuchsweise die Angaben Nr. 2 und 3 zusammenfassen, als Handlungen von Personen die Angst verursachen. Die Lebewesen unter 1 widersprechen dem: angsterregend sind auch kleine Tiere, vor denen sich die Befragten „ekeln“. Kann man diese Ängste mit der Platzangst Nr. 4 in Verbindung bringen, weil sie beide die Sicherheit und Autonomie des Subjekts infrage stellen und zwar auf einer emotionalen, nicht nur rationalen Ebene? Diese Gemeinsamkeit könnte im übertragenen Sinne auch auf die Ängste in 1. zutreffen, sodass wir hier eine Aussage über alle Ängste machen könnten, nicht nur über ihre jeweils spezifische Ausprägung. Nicht Menschen oder Tiere wären dann die Quellen der Angst, sondern die von ihnen ausgehenden realen oder zugeschriebenen Bedrohungen. Man kann auf weitere Gemeinsamkeiten stoßen, wie die physiologischen Begleiterscheinungen (Schweißausbruch, Herzklopfen etc.). Dann wird man das Sample erweitern und weitere Personen, Situationen, Auslöser, Verläufe, Begleiterscheinungen etc. einschließen. Die Daten können aus verschiedenen Quellen stammen, aus Befragungen, Beobachtungen, Dokumenten, oder sie können experimentell hergestellt werden (Regel 3 über Variation). Der Analyseprozess geht vom Konkreten aus und führt über mehrere Stufen zur Abstraktion. Man kann auch sagen, er beginnt mit dem Besonderen und führt zum Allgemeinen oder auch: er beginnt mit der Beschreibungen der Symptome und arbeitet das Gemeinsame, das Phänomen heraus.

214

G. Kleining

Abb. 1 Der Analyseprozess. Die Zahlen beziehen sich auf Inhalte des im Text gegebenen Beispiels im Text

Nachdem die Abstraktion hergestellt wurde, ist die Reise zurück anzutreten. Man endet wieder bei den Symptomen oder den Ausgangsdaten. Sie erhalten aber unter Kenntnis des Allgemeinen einen spezifischen Charakter und können, anders als zu Anfang möglich, auf der Folie der allgemeinen Bedingungen des Themas beurteilt werden. So kommt man vielleicht von den Spinnen, Mäusen und Schlangen zur Identitätsproblematik der betroffenen Person. Das ist im Prinzip auch das Verfahren der (analytischen) Psychotherapie (Abb. 1). Die Methoden der heuristischen Textanalyse sind entweder die Beobachtung von Texten oder das Experimentieren mit Texten, die eingesetzt werden, um bestimmte Detailfragen zu klären. Beobachtung und Experiment arbeiten mit der Frage-Antwort-Abfolge und sind dialogische Prozesse. Der Analysevorgang ist abgeschlossen, wenn alle Textteile untergebracht sind (100 %-Regel).

2.8

Beispiel des Anfangs einer qualitativ-heuristischen Untersuchung

In einer Untersuchung wurde mit der Methodologie der qualitativen Heuristik der Frage „Was heißt Vertrauen“ nachgegangen. Angewandt wurde (a) die qualitative Textanalyse von 30 Texten in 13 Print- und online-Zeitungen, vier Politiker/innenReden sowie (b) „dialogische Introspektion“ mit zehn Personen mit insgesamt 16 Berichten, in denen die Teilnehmer/innen ihre Erfahrungen niederschrieben (Kleining 2010, S. 127–146). Zusammenfassung der Ergebnisse: Zu unterscheiden sind zwei Arten des Vertrauens: Vertrauen im Alltag und öffentliches, durch die Medien vermitteltes Vertrauen. Beurteilungskriterien leiten sich ab von der eigenen Erfahrung. „Vertrauen ist Kennzeichen einer ursprünglichen Bindung in einer Zweierbeziehung oder kleinen Gruppe, seine Voraussetzung ist die direkte oder symbolische Interaktion und Kommunikation. Vertrauen ist selbstbestimmt, es verbessert die individuellen Lebensbedingungen. Vertrauen, wie auch Misstrauen, sind ‚Steuerungsmechanismen für das tägliche Leben.‘“ (Kleining 2010, S. 143)

Qualitative Heuristik

215

Im Alltag entsteht Vertrauen in der (face-to-face)-Interaktion in „Primärgruppen“ (Cooley 1909) wie im Kind-Mutter-Verhältnis, in Familien- und Freundeskreisen oder zu ausgewählten Autoritäten wie zu bestimmten Ärzt/innen, Anwält/innen, Steuerberater/innen, Geistlichen etc. in einem „natürlichen“, dialektischen Prozess des Gebens und Nehmens. Er ist vornehmlich gefühlsgesteuert. Die Bewertungskriterien sind persönliche. Sie sind flexibel und passen sich an die die jeweilige Situation an. Die Hauptkriterien zur Beschreibung des Vertrauens sind die jeweiligen Bezugsgruppen, die Prozesse der Vertrauensbildung bzw. des Vertrauensverlustes, die Legitimation des Vertrauens bzw. seine Bewertungsmaßstäbe und seine Funktion. Öffentliches Vertrauen bezieht sich dagegen auf „Sekundärgruppen“ (wie politische Parteien, Interessenverbände, die eigene Nation) und auf Personen bzw. Bevölkerungsgruppen, die als deren Repräsentant/innen gelten. Die Beziehungen zu ihnen werden medial aufgebaut und verändert, sie stammen in aller Regel nicht aus der eigenen Erfahrung. Verhältnisse zu ihnen erscheinen als prinzipiell fragwürdig, möglicherweise fremdbestimmt, manipulierbar, gesteuert, um bestimmte Ziele zu erreichen. Vertrauen wird verdinglicht, zu einer Ware. „Vertrauen ist genau die Währung, mit der bezahlt wird“ (Angela Merkel). Vertrauen in der öffentlichen Darstellung ist stereotypisiert, vermittelt durch ein Gut/Böse-Schema der Moral. Die öffentlichen Auseinandersetzungen und Kritiken seien Teil eines Kampfes der Großgruppen um Macht und Einfluss. Reflexion: Privates und öffentliches Vertrauen erscheinen als Gegensätze, gehören aber zusammen. Öffentliches Vertrauen wird gemessen mit den Kriterien des Alltagsvertrauens. Es wendet sich vielfach als fremd von ihm ab. Die „Spaltung“ des Vertrauens kann man weiter verfolgen und prüfen, welche Phänomene des alltäglichen Lebens oder der politischen oder ökonomischen Realität ähnliche Widersprüche aufweisen. Rasch landen wir bei den „Grand Theories“. Im heuristisch orientierten Forschungsprozess kommen wir jetzt zu den Theorien – wir gehen nicht von ihnen aus. Sie werden darauf hin geprüft, ob sie die Fragen beantworten, die sich nach der Analyse unseres Materials stellen. Können die Theorien die empirischen Erkenntnisse bestätigen? Oder: Wie müssen die theoretischen Ansätze verändert oder überhaupt neu entworfen werden? Im positiven Fall beginnt ein Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie, denn Theorie kann auch Schwachpunkte der Empirie oder noch unerforschte Bereiche aufzeigen. Hier steckten der Kern des Entdeckungsprozesses und sein Ziel: Die Theoretisierung der Empirie; ihr Einbau in ein übergreifendes theoretisches Gebäude (Witt 2003).6

6

Weiter können Theorien sein, die sich mit dem Verhältnis von Privatem und Öffentlichem in der Moderne beschäftigen und eine Art „Spaltung“ diagnostizieren wie Riesman et al. (2001), Habermas (1981) oder schon Tönnies (2017 [1887]).

216

2.9

G. Kleining

Prüfverfahren

Die psychologische Testtheorie enthält Maße für den Grad der Übereinstimmung von Testerhebungen mit externen Variablen („Validität“) und zur Stabilität der Testergebnisse selbst, z. B. bei Split-half- oder wiederholter Anwendung („Reliabilität“). Sie werden bei quantitativen Daten und deduktiver Methodologie angewandt (zum deduktiven Verfahren durch Hypothesentesten: (Popper 1994, S. 7), Rustenbach 2006, S. 17; zu Reliabilität und Validität Pawlik 2006, S. 570–575). Die heuristische Methodologie baut dagegen die Validitäts- und Reliabilitätsprüfungen schon in die Datenerhebung und Datenanalyse ein. Validität: Regel 3 über die „maximale strukturelle Variation der Perspektiven“ verlangt, zunächst als „äußerlich“ angesehene Informationen in die Datenerhebung aufzunehmen, auch auf Verdacht, und sie auf Übereinstimmungen mit anderen Aspekten des Forschungsgegenstandes zu prüfen (Regel 4: „Analyse auf Gemeinsamkeiten“). Dadurch werden sie, im positiven Fall, zu „inneren“ Kriterien („innere Validität“). Die Unsicherheit in diesem Teilbereich liegt darin, dass ein ebenfalls relevanter „äußerer“ Aspekt nicht berücksichtigt wird, weil er nicht entsprechend gewürdigt wurde oder überhaupt nicht bekannt ist – diese Problematik betrifft die deduktive Testtheorie in gleicher Weise. Reliabilität: Auch die Verlässlichkeit ist bei heuristischer Forschung in die Datenerhebung integriert. Wie bei einem Legespiel oder Kreuzworträtsel werden die neuen „Teile“ in die bestehenden Strukturen eingepasst, wobei sich diese verändern können, bis ein in sich stimmiges Gesamtbild, eine „Struktur“ entsteht, in der alle Teile ihren Platz haben (100 %-Regel). Die geglückte Analyse – das schlussendliche Zusammenpassen aller Aspekte – wird im Forschungsprozess zunehmend genauer und damit mit gleichem Ergebnis wiederholbar. Range, Reichweite oder Geltung der Ergebnisse sind, anders als in der Testtheorie, wo sie auf eine als gegeben angenommene „Grundgesamtheit“ bezogen werden (Rustenbach 2006, S. 21), bei heuristischen Untersuchungen Resultat der Forschung. Ob ich wo etwas finde, kann nur die Forschung selbst beantworten. Die Extrempositionen des Samples markieren die jeweilige Reichweite. Deren Grenzen können geprüft werden (testing the limits). Alle psychologischen Daten und Erkenntnisse gelten zunächst nur für die erhobenen Fälle und die Bedingungen, unter denen sie erhoben wurden. Behauptungen über erweiterte Reichweiten müssen belegt werden, gegebenenfalls geprüft werden durch testweise Erweiterung der Samples. Die Notwendigkeit, die jeweilige Geltung von Ergebnissen zu bestimmen, warnt vor der Annahme, bestimmte psychologische Typen als unveränderlich oder eine bestimmte Abfolge gesellschaftlicher Formate als festgeschrieben anzunehmen, wie die „evolutionären Universalien“ in der Modernisierungstheorie (Parsons 1970) und erinnert daran, dass Menschen historische Wesen sind, die in jeweils neu bestimmten veränderlichen gesellschaftlichen Verhältnissen leben.

Qualitative Heuristik

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Die methodologische Positionierung der qualitativen Heuristik

Die qualitative Heuristik führt verschiedene Handlungsstrategien zusammen, die sich in der Alltagspraxis, der Forschungserfahrung und, im weiteren Sinne, der Erkenntnistheorie (Krotz 2003) als zielführend erwiesen haben. Ziel der Heuristik ist es, die Struktur des Forschungsgegenstandes oder seine innere Organisation aufzuklären. Zu diesen Regeln oder Empfehlungen gehört, bei der Lösung eines Problems mit den Fakten zu beginnen, nicht mit Hypothesen über Fakten.7 Die Prüfung vorhandener Theorien ist nicht im engeren Sinne ihr Anliegen. Die qualitative Heuristik verortet sich mit anderen Wissenschaften, die auf „discovery“ zielen und sich als „grounded“ oder „grass-rooted“ verstehen, wie die Forschungen des ‚Symbolischen Interaktionismus‘ im weiteren und die Grounded-Theory-Methodologie im engeren Sinne (Glaser und Strauss 1967). Entdeckende Forschung haben aber auch viele andere Richtungen der empirischen Psychologie und der Sozialwissenschaften betrieben, wie die Gestaltpsychologie im Feld der Wahrnehmung und des Denkens (Metzger 2008; Wertheimer 1964). Ein bedeutender Beitrag ist das Buch des berühmte Physikers und „Naturforschers“ Ernst Mach, über die „Psychologie der Forschung“ in den Naturwissenschaften, das heute noch grundlegend ist. Viele „klassische“ Untersuchungen sind – mutatis mutandis – mit Gewinn zu lesen, beispielsweise Kleining (2016) über Herta Herzog, eine der Pionierinnen der qualitativen Sozialpsychologie. Anders als man vermuten mag, spielen bei vielen Entdeckungen Ahnung und Gefühl und nicht die vorab formulierte Hypothese eine große Rolle (Kleining 2003), sie mag sogar in die Irre führen, wie die Entdeckung Amerikas als „Seeweg nach Indien“ oder die des Porzellans auf der Suche nach Gold. Gleichwohl besitzt die qualitative Heuristik Besonderheiten, die sie von dem Methodenareal auch anderer qualitativer Forschung unterscheidet. Dazu gehören insbesondere zwei: die eine ist die Analyse der Daten auf Gemeinsamkeiten, die sich in der Theorie wie auch in den empirischen Beiträgen der Klassiker findet. Die zweite Besonderheit ist die Einbeziehung der Dialektik in den Forschungsprozess in einer an die Alltagsform angelehnten „Einheit der Widersprüche“, die Widersprüchliches auf ihre Gemeinsamkeit zurückführt.8 Auch spezifisch ist die Verwendung von Beobachtung und Experiment für die Analyse von Texten, obgleich es für Experimente im „natürlichen“ Gegenüber auch weitbekannte Beispiele gibt, wie die „Krisenexperimente“ von Harold Garfinkel (1967).

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In den (entdeckenden) Wissenschaften sind die Fakten das, was die Forschungsperson zu Beginn der Untersuchung für die Fakten hält. 8 „Heiß“ und „kalt“ als „Temperatur“; „laut“ und „leise“ als „Laut“ oder „Schall“ oder „Intensität“ – die Art der Abstraktion ergibt sich aus der konkreten Beschreibung etc.

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Eine Weiterentwicklung der Methode ist der Versuch zur Wiedereinführung der klassischen Introspektion, so wie sie in der „Dialogischen Introspektion“ vorgeschlagen wurde, einem „gruppengestützten Verfahren zur Erforschung des Erlebens“ (Burkart et al. 2010; Mayer 2003). Nach meinen Erfahrungen in Lehre und Forschung kann man der qualitativen Heuristik die folgenden Stärken und Problemfelder zuordnen (Hagemann 2003). Stärken: Sie bündelt Verfahren, die in der Geschichte der Psychologie und der Sozialwissenschaften ihren entdeckenden Charakter erwiesen haben. Sie berücksichtigt auch die deutschsprachige Psychologie vor 1933 bzw. 1938. In der Praxis sind eine Reihe neuer Verfahren bzw. Methodenvariationen entstanden, wie das qualitativ Experiment (Kleining 1986), das rezeptive Interview (Kleining 1994b), die Anwendung von Beobachtung, Experiment und den Dialog auf Texte (Kleining 1994a) und die Nutzung der Kleingruppe zur Introspektion (Burkart et al. 2010). Sie empfiehlt einfache Regeln und integriert Aussagen zur Forschungsperson, dem Forschungsgegenstand, dem Sample, der Analyse, dem Forschungsprozess, dem Forschungsziel und den Prüfverfahren. Sie hat ein breites Anwendungsgebiet, kann auch auf quantitative Daten Anwendung finden. Gelungene Analysen können zur Entwicklung und Kritik von Theorien herausfordern. Nicht zu unterschätzen: Eine gelungene Analyse macht Spass („Heureka!“). Probleme. Trotz hoher Plausibilität der „Regeln“ durch ihre Nähe zu Alltagspraktiken beim Suchen können in der akademischen Lehre wie auch der empirischen Praxis einige charakteristische Schwierigkeiten auftreten (Hagemann 2003; Witt 2003). Sie resultieren daraus, dass das Verfahren in manchem der Mainstream-Methodologie widerspricht, die das Aufstellen und Testen von Hypothesen für das geeignete Verfahren und die Quantifizierung für die angemessene Datenform hält. Die „Analyse auf Gemeinsamkeiten“ läuft zudem der üblichen Beachtung der Differenzen in der modernen Warenwelt entgegen und muss erst wieder bewusst gemacht werden. Die 100 %-Regel irritiert aus erkenntnistheoretischen oder forschungspraktischen Gründen oder weil sie die Integration unbequemer Daten verlangt (Hagemann 2003, S. 35). Heuristische Vollständigkeit kann aber gerade die Lösung eines bestimmten Problems voraussetzen wie bei Freuds Puzzle (s. Fußnote 5). Obwohl man alles vorher bedacht zu haben scheint, kann der Forschungsprozess, weitere Problembereiche öffnen, statt sie zu schließen. Das kann emotional (und das Zeitbudget) belasten. Gegebenenfalls ist weitere Forschung angesagt. Vor allem: Der Forschungsprozess ist zeitaufwendig und mühsam. Und: Er kann misslingen.

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Die Herausforderungen betreffen vor allem die durch die Digitalisierung vereinfachte und verbilligte Beschaffung von Daten, etwa durch Umwandlung der Focus Groups in „Digital Focus Groups“ (Chadwick 2017) und die Automatisierung der

Qualitative Heuristik

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Auswertung durch standardisierte Rechenoperationen.9 Aus Sicht der Heuristik erweitert und verengt die Verwendung digitalisierter Verfahrensweisen das epistemologische Potenzial einer entdeckenden Sozialforschung. Es erweitert sie im Sinne einer „Öffnung“ der Forschungsmethodologien, die einen leichteren Zugang zu Daten ermöglicht und eine Potenzierung der zugänglichen Datenmengen. Digitalisierung kann aber auch die Entdeckung von Zusammenhängen erschweren, indem sie die Welt in einzelne Elemente auflöst. Die Gefahr besteht im Verlust des Zusammenhanges (den „Wald“ nicht mehr zu sehen hinter den einzelnen Bäumen) und in der Wiederkehr des überwunden geglaubten Widerspruchs zwischen der Elementen- und Ganzheitspsychologie wie den qualitativen und den quantifizierenden Methoden. Der Fokus entdeckender Sozialforschung bleibt der lebendige Mensch. Zuerst und vor allem ist auch im „digitalen Zeitalter“ die Rückkehr zu den Ursprüngen der psychologischen Methode nötig, die einen möglichst direkten und „offenen“ Kontakt mit Menschen sucht und dabei das eigene Erleben einschließt. Psychologie ist eine auf Menschen bezogene Wissenschaft. Ihre heuristische Wendung sucht Strukturen des Verhaltens und des Erlebens in bestimmten sozialen Situationen zu erkennen. Qualitative (oder „analoge“) Daten sind der Königsweg des Zugangs zum individuellen Erleben und Handeln. Sie sind am wenigsten belastet und eingeengt durch offene oder latente Vorannahmen über deren vermeintliche Nützlichkeit oder interessengeleitete Verwertung, zumal wenn sie unter entdeckender Absicht, also in möglichst starker Variation der Perspektiven gesammelt werden. Überspitzt kann man formulieren: je mehr man sich auf dem Weg des „Fortschrittes“ durch Digitalisierung wähnt, umso wichtiger wird der Nachweis von Verhältnissen und Beziehungen im konkreten Einzelfall. „Big data“ werden so mit „small is beautiful“ konfrontiert. Digitalisierung beschleunigt und verbilligt zwar den Zugang zu enorm großen Wissensbeständen, ist aber alleine kein Wahrheitskriterium. Auch digitalisierte Daten können heuristisch bearbeitet werden. Grundsätzlich gelten neue Formen der Datenerhebung und der Datenverarbeitung als Chance, weil sie die Forschungsmöglichkeiten erweitern und neue Perspektiven eröffnen. Da größere Datenmengen nicht anders als quantifiziert zur Verfügung stehen, stellt sich der Heuristik die Aufgabe, eine spezielle Verfahrensweise für derartige Informationen einzusetzen. Dafür geeignet sind die unter dem Begriff der „explorativen Statistik“ zusammengefassten statistischen Techniken. Ich habe, zusammen mit Dietmar Jungnickel, Verfahren eingesetzt, die Daten über große Bevölkerungsgruppen in „Lebenswelten“ segmentiert in solche mit starken Gemeinsamkeiten in sich und starken Unterschieden zu anderen Lebenswelten. Die entdeckende Methodologie ist die gleiche wie die für qualitative Daten, lediglich wird die „Analyse auf

Die Forschung „basiert immer mehr auf Daten, die bereits in digitalisierter Form vorhanden sind. Die Rolle des Forschers ändert sich vom Interviewer hin zu einem Datenbetreuer“ (ICC und ESOMAR 2017). Datenverwaltung als Gegenposition zur Qualitativen Henstik.

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Gemeinsamkeiten“ nicht per Hand, sondern durch gruppierende statistische Verfahren wie Faktoren- und Clusteranalysen ausgeführt (Beispiele Kleining und Jungnickel 2016, 2017; Kleining 2017). Schließlich kann die Tatsache der Digitalisierung selbst Gegenstand der Erforschung sein, um ihr Potenzial zu hinterfragen. Welches Menschenbild entwirft eine digitalisierte Welt? Was sagt sie aus über unser Selbstverständnis? Anregend sind die Beiträge von Schraube und Marvakis (2016) über Digitalisierung und Rosa (2013) über Entfremdung im Erkenntnisprozess.

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Sozialer Konstruktionismus Rainer Winter

Inhalt 1 Die Herausbildung des sozialen Konstruktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ursprünge des sozialen Konstruktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theorie, Perspektiven und methodologisches Vorgehen des sozialen Konstruktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Neue Perspektiven der qualitativen Forschung im sozialen Konstruktionismus . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag zeigt, wie sich der soziale Konstruktionismus in kritischer Auseinandersetzung mit der positivistisch orientierten Psychologie herausgebildet hat. Er stützt sich auf vielfältige Quellen, die die wichtige Bedeutung von Sprache, Kultur, Interpretation und Kritik hervorgehoben haben. Eine zentrale Rolle im sozialen Konstruktionismus spielen soziale Beziehungen, in denen sich das Selbst konstituiert. Da sie sich verändern, verändern sich auch die sozialen Konstruktionen, die prozesshaft und kontextuell zu verstehen sind. In der qualitativen Forschung werden performative Ansätze verfolgt, die Wissenschaft mit Kunst und Politik verbinden. Schlüsselwörter

Sozialer Konstruktionismus · Performance · Wirklichkeit · Beziehung · Dialog

R. Winter (*) Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_7

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R. Winter

1

Die Herausbildung des sozialen Konstruktionismus

1.1

Disziplinäre Einordnung

Der soziale Konstruktionismus ist eine Richtung der Psychologie, die sich in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts als theoretische und methodologische Alternative zur naturwissenschaftlich orientierten Psychologie herausgebildet hat (Gergen 1982). Er artikuliert ein deutliches Unbehagen und eine fundamentale Kritik an der ihre vielfältigen Ursprünge verleugnenden, Differenzen unterdrückenden und relativ einheitlichen Entwicklung der Psychologie, die sie durch ihre Fixierung auf die Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert und durch ihre gesellschaftliche Funktion als Diskurs sozialer Überwachung und Kontrolle im Kontext des (staatlichen) „Psy-Komplexes“ genommen hat (Rose 1985). Der soziale Konstruktionismus plädiert für ein plurales Verständnis von Psychologie, das sich der Kritik und der Emanzipation verpflichtet fühlt, Bedingungen individueller und gesellschaftlicher Veränderung aufzeigen sowie neue Handlungsmöglichkeiten offenlegen möchte (Gergen 2002, Kap. 3; Gergen und Gergen 2003a). In oppositioneller und kritischer Weise problematisiert der soziale Konstruktionismus die im Positivismus und Empirismus für selbstverständlich gehaltenen Auffassungen der (psychischen) Realität, indem er zu einem radikal anderen Verständnis psychologischer und sozialer Phänomene einlädt. Sein Ausgangspunkt ist nicht das Individuum, sondern das Soziale, die Beziehungen zwischen Menschen. Wissen, Erfahrung und das Selbst sind stets sozial verankert. Vor diesem Hintergrund geht der soziale Konstruktionismus davon aus, dass wissenschaftliche Beobachtungen nicht den Charakter der Realität enthüllen können, denn sie sind immer schon sprachlich vermittelt und verweisen auf die kulturellen und sozialen Kontexte ihrer Entstehung. Der soziale Konstruktionismus hat vielfältige Ursprünge in den Sozial- und Kulturwissenschaften und sich in unterschiedlichen Ausprägungen entwickelt (Burr 2003; Holstein und Gubrium 2007; Keucheyan 2007; Nightingale und Cromby 1999; Zielke 2007). So gibt es keine einheitliche und singuläre Position mit einem expliziten Programm. Gleichwohl gibt es geteilte Perspektiven auf psychologische und soziale Phänomene sowie grundlegende Annahmen, die bei allen Unterschieden zu Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in der Argumentation und Vorgehensweise führen. Die unterschiedlichen Formationen dieser Richtung stehen in einem Dialog miteinander, dessen Basis das Projekt einer Erneuerung und kritischen Transformation der Psychologie ist.

1.2

Merkmale

Die Diskussionen um den Konstruktionismus, die sich in unterschiedlichen Bereichen wie z. B. der Therapie (Gergen 2006) oder der Organisationsforschung (Deissler und Gergen 2004; Gergen 2001a, S. 137–148) entfaltet haben, problematisieren fundamentale Annahmen unseres modernen Wissenschafts- und Weltverständnisses

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(Gergen 2001b). Während der Mainstream der Psychologie kulturelle, soziale und historische Zusammenhänge weitgehend ausblendet und tabuisiert (Gergen 1973), sind im sozialen Konstruktionismus ihre Berücksichtigung und Analyse die Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis psychischer Phänomene, von menschlichen Beziehungen und der Konstitution des Selbst. Das Selbst z. B. ist nicht naturgegeben, sondern das Produkt sozialer und kultureller Prozesse, es entsteht und entwickelt sich in sozialen Beziehungen, die sich voneinander unterscheiden und auch verändern können (Cromby und Standen 1999). Daher wird die oft zu findende Auffassung, dass Menschen relativ feststehende innere Eigenschaften, Einstellungen oder Charakterzüge haben, die ihr Verhalten bestimmen und verantwortlich dafür sind, was sie sagen und tun, im sozialen Konstruktionismus abgelehnt. Das Interesse verschiebt sich auf die sozialen Praktiken, die Menschen vollziehen, und auf ihre sozialen Interaktionen. Deshalb werden die Diagnose psychischer Störungen als persönliche Probleme und die daran anschließenden, auf das Individuum konzentrierten Formen der Behandlung heftig kritisiert. Stattdessen werden die Störungen als Konstruktionen betrachtet, die in den dynamischen Prozessen der Interaktion gemeinsam hergestellt werden. Der grundlegende Anspruch der Psychologie, universale Eigenschaften des Menschen beschreiben und seine wahre Natur entdecken zu können, erweist sich in der antiessenzialistischen Perspektive des sozialen Konstruktionismus als Selbstmissverständnis einer Disziplin, die nicht erkennt, dass das von ihr produzierte Wissen stets historisch und kulturell spezifisch ist. So kann es kein objektives Wissen geben, das sich auf die direkte Wahrnehmung und Beobachtung der Realität stützt. Der Anspruch der positivistisch orientierten Psychologie, objektive Fakten sowie kausalursächliche Zusammenhänge zu entdecken, lässt sich nicht aufrechterhalten, denn das geschaffene Wissen ist immer perspektivisch, partiell und von Interessen geprägt. Es entsteht in Prozessen und Formen des Austausches zwischen Gruppen von Wissenschaftler/innen, die bestimmte Auffassungen und methodologische Vorgehensweisen miteinander teilen. Auf diese Weise fordert der soziale Konstruktionismus die individualistische Sicht der Wissensproduktion heraus. Auch das Verständnis von „Wahrheit“ ist an interaktiv hergestellte und akzeptierte Formen des Verstehens gebunden, und in sozialen und kulturellen Praktiken werden geteilte lokale Versionen des Wissens konstruiert. Der Konstruktionismus betrachtet die Sprache als eine Form sozialen Handelns. Sie drückt nicht Emotionen oder Denken auf sekundäre und passive Weise aus, sondern gestaltet und artikuliert sie; Sprache bildet nicht die Wirklichkeit ab, sondern bringt diese hervor. So gilt das Interesse der Struktur und dem performativen Charakter von Sprache, den Sprachspielen und ihrer wirklichkeitsschaffenden Kraft.

2

Ursprünge des sozialen Konstruktionismus

Ein wesentliches Merkmal des sozialen Konstruktionismus ist, dass der Ansatz im Dialog zwischen wissenschaftlichen, philosophischen und auch künstlerischen Richtungen entstanden ist. Deshalb zeichnet er sich durch Offenheit, Pluralität,

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Flexibilität und Neugier in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aus. Er öffnet die Psychologie für Erkenntnisse und Perspektiven aus anderen Disziplinen und entfaltet so ein Gegenprogramm zu dem oft zu beobachtenden Monolog dieser Disziplin mit sich selbst. Dabei steht die im 20. Jahrhundert vollzogene linguistische Wende im Zentrum seiner Betrachtung. Auch die daran anschließende kulturelle Wende im Kontext von Poststrukturalismus und Postmoderne wurde intensiv rezipiert und als eine Herausforderung für das Selbstverständnis der Psychologie betrachtet (Gergen 2001b). Die linguistische Wende führte zu einer Krise der Repräsentation: Die sprachlichen Beschreibungen wurden nicht länger als externer Ausdruck eines menschlichen Geistes aufgefasst, der als Spiegel der Welt betrachtet wurde, wie es typisch für viele Erkenntnistheorien war (Rorty 1981). Es war vor allem der späte Wittgenstein (1953), der gezeigt hat, dass die Sprache ihre Bedeutung im (sozialen) Gebrauch erhält. Zum einen betonte er die Vielfältigkeit der Sprache, zum anderen hob er aber die Regelmäßigkeiten und die Übereinstimmungen im Sprachgebrauch in einer Lebensform hervor. Hiernach verleiht Begriffen nicht ihr Bezug zur externen Realität oder zu einem Gegenstand ihre Bedeutung; sie erhalten diese im Kontext ihrer Verwendung in Sprachspielen. Wissen entsteht in sprachlichen, sozialen Praktiken. Während Wittgenstein die Regelmäßigkeit unserer sprachlichen Einteilungen hervorhob, lotet der soziale Konstruktionismus die Möglichkeiten alternativer Sprachverwendungen aus. Die Studie „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ von Thomas S. Kuhn (1973 [1969]) hat ebenfalls eine wichtige Erkenntnis für den Konstruktionismus enthalten. Kuhn zeigte, dass ein Paradigma, eine Gedankenstruktur, deren Annahmen und Praktiken geteilt werden, die Voraussetzung für die Schaffung von Wissen und die Produktion von Wahrheit ist. Dabei generieren unterschiedliche Paradigmen auch unterschiedliche wissenschaftliche Realitäten. Auf diese Weise machte Kuhn auch deutlich, dass wissenschaftliches Wissen auf der Teilnahme an Gemeinschaften beruht. Während seine Arbeiten historisch angelegt sind und die Produktion von Wissen retrospektiv betrachten, wird in den wissenssoziologischen science studies herausgearbeitet, wie beispielsweise auch im naturwissenschaftlichen Labor die Produktion von „objektivem wissenschaftlichem Wissen“ in dynamische und offene Prozesse eingebunden ist (Knorr-Cetina 1984). Es ist das Resultat von strategischen Konstruktionen, von Selektionen und von Verhandlungen. Auch die wissenssoziologischen Studien „Ideologie und Utopie“ von Karl Mannheim (1952 [1929]) oder „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann (1969) arbeiteten heraus, dass Wissen in sozialen Prozessen entsteht und die soziale Wirklichkeit gemeinsam konstruiert wird. Vor allem der Symbolische Interaktionismus betont, wie in sozialen Interaktionen Bedeutungen ausgehandelt werden, Ordnung entsteht und sich in Auseinandersetzung mit anderen das eigene Selbst ausbildet. Auch die Ethnomethodologie (Garfinkel 2003) und die Konversationsanalyse sind für den sozialen Konstruktionismus von wichtiger Bedeutung (Potter 1996): Sie zeigen, wie in den Konventionen alltäglicher Gespräche Methoden enthalten sind, mittels derer Ereignisse, Objekte und Institutionen als Realitäten hervorgebracht werden. Sie machen auch deutlich,

Sozialer Konstruktionismus

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wie viel Vertrauen aufgebracht werden muss, um den gemeinsamen Regeln der Realitätskonstruktion zu folgen und eine soziale Wirklichkeit zu schaffen. Wesentlich für den sozialen Konstruktionismus wurden darüber hinaus die Dekonstruktion von Jacques Derrida (1976) und die Diskursanalyse von Michel Foucault (1974). Ausgehend von der textuellen Konstruktion der Wirklichkeit zeigen dekonstruktive Verfahren, wie Diskurse Realität und Subjektivität konstruieren. Wie für Wittgenstein ist auch für Derrida die Sprache unhintergehbar. In Abgrenzung zum Strukturalismus zeigte er, dass eine Sprache nicht als ein abgeschlossenes und fixiertes System betrachtet werden kann. Die möglichen Differenzierungen in einer Sprache, die unendlich sind, führen zu neuen Bedeutungen und Sinnrahmen. Gerade dieser Aspekt, dass die Strukturen einer sozial geteilten Sprache (neue) Phänomene produzieren, gewinnt im sozialen Konstruktionismus zentrale Relevanz. Hier schließt auch die Rezeption der Arbeiten von Michel Foucault an. Insbesondere seine Konzeption des Diskurses (Foucault 1974) wird intensiv rezipiert. In historischen Analysen der Psychiatrie, der Klinik und des Gefängnisses zeigt er, dass diese Institutionen von Anfang an Diskurse produzieren, die neue „Objekte“ konstituieren, die dann beschrieben, analysiert und Formen der Behandlung bzw. der Bestrafung unterzogen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Schizophrenie, die identifiziert, kontrolliert und mit dem „Normalen“ verglichen wird. Diskurse bringen neue Weisen des Aussagens, des Denkens und der Klassifikation hervor, die zu neuen Entitäten führen. Damit verbunden sind entsprechende Subjektpositionen. So ermöglicht es z. B. der psychiatrische bzw. psychologische Diskurs, sich als Depressive/r, als Borderliner/in oder als Zwangsneurotiker/in zu artikulieren. Foucault macht deutlich, dass die Produktion von „Wahrheit“ immer an spezifische soziale Arrangements gebunden ist. Es sind aber nicht nur die Entwicklungen in der Philosophie und in der Soziologie, die den sozialen Konstruktionismus prägen. Auch in der Psychologie gibt es Vorläufer und parallele Entwicklungen (Flick 2000). So hat George A. Kelly (1986 [1955]) eine Psychologie der persönlichen Konstrukte entwickelt, die er als Bedeutungsdimensionen begreift. Menschen haben hiernach das Bedürfnis, ihre Umwelt erklärbar zu machen, um Kontrolle und Sicherheit zu erlangen. Sie antizipieren Ereignisse, indem sie deren über Situationen hinweg konstant bleibenden Eigenschaften zu identifizieren versuchen. Dabei entwickeln Menschen unterschiedliche Muster, die Welt zu konstruieren, die dazu führen, dass sie in verschiedenen Welten leben. Die Voraussetzung für Sozialität ist, dass jemand sich bemüht, die Konstruktionsprozesse anderer zu konstruieren. Ähnliche Konstruktionen können dazu führen, dass Ereignissen eine ähnliche Bedeutung zugewiesen wird. Im Anschluss an Kelly beschäftigt sich der Konstruktionismus vor allem damit, wie Konstruktionen der Welt und des Selbst verändert werden können, um neue Handlungsmöglichkeiten und Weisen des Selbstverständnisses zu entwickeln. Auch der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass die Welt von Menschen konstruiert wird und gerade deshalb einen so stabilen Eindruck vermittelt. Ernst von Glasersfeld (1985) schlägt den Begriff der „Viabilität“ vor, um die Passung zwischen Realität und Erkenntnis zu bezeichnen. Sowohl im Alltag als auch in der Wissen-

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schaft können Konstruktionen und Theorien nicht auf ihre Korrespondenz mit der Realität hin überprüft werden. Lediglich die Nützlichkeit des von ihnen bereitgestellten Wissens kann zu ihrer Beurteilung herangezogen werden. Bei Humberto Maturana (1982) steht ebenfalls die Position der (wissenschaftlichen) Beobachter/ innen im Zentrum der epistemologischen Analyse. Jede Erkenntnis geht – wie schon bei Kelly – auf deren Unterscheidungen zurück. Hier werden die Unterschiede zwischen den Denkrichtungen deutlich. Während der radikale Konstruktivismus zu erklären versucht, wie ein einzelnes Individuum eine unabhängige Realität wahrzunehmen und zu verstehen versucht, geht der soziale Konstruktionismus vom Sozialen aus, von den Beziehungen zwischen Menschen und den gemeinschaftlichen Konstruktionen von Bedeutung. Für ihn sind Handelnde nicht „Herr/innen“ ihrer Konstruktionen: „Für Konstruktivisten und Konstruktivistinnen ist der Prozess der Konstruktion der Welt ein psychologischer; er spielt sich im ‚Kopf‘ ab. Für Sozialkonstruktionistinnen und -konstruktionisten ist dagegen das, was wir für real halten, eine Folge sozialer Beziehungen“ (Gergen 2002, S. 293–294). Auch die Herausbildung einer narrativen Psychologie (Sarbin 1986) wirkte inspirierend auf den Konstruktionismus und ist vielfältige Verbindungen mit ihm eingegangen. So hat Bruner (1997 [1990]) gezeigt, dass die Erzählung die wichtigste Methode ist, um Erfahrungen zu strukturieren und zu organisieren. In gewisser Weise erzählen wir, um zu sein. Durch das Erzählen von Geschichten werden kulturelle Bedeutungen aktualisiert und Leben verstehbar. Die narrative Vorgehensweise legt bisweilen nahe, dass es nur eine (biografische) Geschichte zu erzählen gebe. Der soziale Konstruktionismus betont jedoch, dass sich hinter jeder Geschichte andere Geschichten verbergen, deren narrative Komplexität und Alternativen der Selbst- und Welterschließung er offenlegen möchte.

3

Theorie, Perspektiven und methodologisches Vorgehen des sozialen Konstruktionismus

3.1

Die Krise der Repräsentation und ihre Bedeutung für die Psychologie

Die Krise der Repräsentation, die zunächst in der Philosophie diskutiert wurde, war grundlegend für die Neukonzeptualisierung der Psychologie im sozialen Konstruktionismus. Die in psychologischen Ansätzen implizit vorhandene Abbildtheorie der Sprache wurde durch eine performative und soziopragmatische Sprachauffassung ersetzt (Gergen 1994, Kap. 2; Zielke 2004, S. 240–257). Es wird die Vorstellung verabschiedet, Wissenschaft könne objektive Beschreibungen der Welt hervorbringen. Die Sprache kann nicht auf neutrale Weise die Wahrheit transportieren. Dies führt zu verschiedenen Annahmen und Folgerungen. Die Beschreibungen und Darstellungen der Welt und von uns selbst werden nicht durch die Objekte, die wir beschreiben, vorgegeben oder angeleitet (Gergen 1994,

Sozialer Konstruktionismus

231

S. 49). Sie entstehen in der menschlichen Koordination von Handlungen bzw. Praktiken. So sind die Bedeutungen von Wörtern „interindividuell“ (Bachtin 1986), sie werden im sozialen Kontext von Beziehungen gebildet. Dabei sind Formen des Verstehens in Traditionen eingebettet und auf diese Weise kulturell verankert. Trotzdem verändern sie sich auch in alltäglichen Interaktionen, in den sprachlich vermittelten Beziehungsmustern. In diesen werden Wörter und Handlungen auf eine relativ stabile Weise miteinander verbunden. So sind z. B. für Psychoanalytiker/innen oder für Experimentalpsycholog/innen die Glaubwürdigkeit und Akzeptabilität von wissenschaftlichen Äußerungen an die Beziehungen und den Austausch mit ihren Kolleg/innen gebunden, in deren Rahmen sie erfolgt sind und Sinn machen (Gergen 1994, S. 53). Deshalb lehnt der soziale Konstruktionismus die individuelle Sicht des Wissens ab und plädiert für eine relationale Psychologie (Gergen 2009).

3.2

Formen von Kritik

Gleichzeitig stellt der soziale Konstruktionismus die dominanten Realitäten und die mit ihnen verbundenen Lebensformen infrage, weil er von der Intention getragen wird, Veränderungen im persönlichen und gesellschaftlichen Leben herbeizuführen. Da „Wertneutralität“ und „Objektivität“ in seiner Sicht rhetorische Konstruktionen von Gemeinschaften von Wissenschaftler/innen darstellen, fordert er eine kritische Analyse der ethischen und politischen Fragen, die mit dem wissenschaftlichen Tun verbunden sind (Gergen 1994, S. 57–63). Eine interne Kritik soll die Konstruktionen der Psychologie (z. B. im Bereich der Psychopathologie) sowie ihre Folgen im sozialen Feld (z. B. in den Behandlungsformen) analysieren. So sollen die internen Werte der Disziplin und ihre gesellschaftliche Funktion thematisiert werden. Gleichzeitig fordert der soziale Konstruktionismus eine kulturelle und gesellschaftliche Kritik, die neue Möglichkeiten der Realitätskonstruktion und des Miteinanderlebens eröffnen soll. Jede Form von Wissenschaft folgt implizit Werten und Interessen, auch wenn sie dies nicht reflektiert. Es ist Aufgabe der Ideologiekritik, wie sie z. B. die Frankfurter Schule (Habermas 1968) ausgebildet hat, dies zu zeigen: „Die ideologische Kritik legt nahe, dass die Worte dieser Autoritäten [Wissenschaftler/ innen, Verfassungsrichter/innen oder Religionsführer/innen] keine exakten Abbildungen der Realität sind. Ihre persönlichen Interessen bringen sie dazu, bestimmte Aspekte in den Vordergrund zu stellen und andere weitgehend außer Acht zu lassen.“ (Gergen 2002, S. 36)

Der Konstruktionismus gründet seine Formen von Kritik explizit auf der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit, Anerkennung von Minderheiten, Konfliktreduktion etc. Er möchte scheinbar unveränderliche soziale Realitäten und starre Beziehungen aufbrechen, den konstruierten und von Interessen geleiteten Charakter

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R. Winter

dominanter Diskurse aufzeigen und Handlungsoptionen offenlegen. Veränderte Wirklichkeitskonstruktionen können zu neuen Handlungsentwürfen führen.

3.3

Dekonstruktion und Rekonstruktion

Da kulturelle Praktiken aus der Perspektive des sozialen Konstruktionismus überwiegend kontingent sind, können sie prinzipiell auch verändert werden (Gergen 1994, S. 59). Um dies bewirken sowie uns und die Welt anders verstehen zu können, benötigen wir neue Vokabularien und Rahmen. Gergen (1994, S. 60) führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „generativen Theorie“ ein: „I proposed the term generative theory to refer to theoretical views that are lodged against or contradict the commonly accepted assumptions of the culture and open new vistas for intelligibility.“ Zusammenfassend zeichnet sich in der Perspektive von Gergen der soziale Konstruktionismus durch drei entscheidende Merkmale aus: „[. . .] deconstruction, wherein all presumptions of the true, the rational, and the good are open to suspicion – including those of the suspicious; democratization, wherein the range of voices participating in the consequential dialogues of the science is expanded, and reconstruction, wherein new realities and practices are fashioned for cultural transformation.“ (1994, S. 62–63)

Er beschränkt sich also nicht auf eine kritische und dekonstruktive Analyse der positivistischen Psychologie, die auf Quantifikation setzt, sondern bemüht sich um eine Rekonstruktion der Psychologie in einem interpretativen Rahmen. Beispielsweise wird der traditionelle Persönlichkeitsbegriff, der von Merkmalen oder Eigenschaften einer Person ausgeht, die ihre Emotionen und ihr Handeln bestimmen sollen, problematisiert, indem gezeigt wird, dass Handeln von den Kontexten abhängt, in denen wir agieren. Der Bezug auf eine Innenwelt, der durch den gewöhnlichen Sprachgebrauch nahegelegt wird, verschließt den Blick auf die Rolle von Beziehungen in der Formung unseres Verhaltens. Der Gebrauch der Sprache zur Beschreibung von Emotionen macht nicht innere Zustände sichtbar, er gibt vielmehr den Anreiz, Emotionen in der sprachlich vorgegebenen Weise zu erfahren. Dabei dient der Begriff der Persönlichkeit im Alltag dazu, das eigene Handeln und das von anderen zu erklären. Wir handeln in der Perspektive des sozialen Konstruktionismus so, als ob wir und die anderen eine Persönlichkeit hätten. Was wir aber unter einer bestimmten Persönlichkeit verstehen, wie sie die Welt und sich selbst erfährt, lässt sich nur durch unseren kulturell geprägten Sprachgebrauch verstehen. Dieser rekonstruierte Persönlichkeitsbegriff macht nicht nur die Funktion des Begriffs in alltäglichen Interaktionen sichtbar. Es geht auch darum, für selbstverständlich gehaltene Konzeptionen des Psychischen zu dekonstruieren und ihre soziale Genese offenzulegen. Persönlichkeit wird in Beziehungen konstituiert, in denen Menschen Bedeutungen teilen, schaffen und aufrechterhalten.

Sozialer Konstruktionismus

3.4

233

Diskurse, Macht und Handlungsfähigkeit

Vor allem in der diskursiven Psychologie, die sich als eine Formation des sozialen Konstruktionismus betrachten lässt, wird untersucht, wie Menschen aktiv Darstellungen und Erklärungen konstruieren, um ihre Identität in der Interaktion mit anderen zu formieren und zu stabilisieren (Potter und Wetherell 1987). Dabei kann es auch zu Auseinandersetzungen und zu einem Kampf um Bedeutungen kommen. Wie in der Ethnomethodologie geht es darum, die Methoden zu erforschen, mittels derer das Alltagsleben geschaffen und sinnhaft erfahren wird. Hierzu werden kulturelle Texte wie z. B. Zeitungsartikel oder Gespräche in natürlichen Settings analysiert. Die diskursive Psychologie geht davon aus, dass Wirklichkeit durch Sprache und Diskurs erst konstruiert wird; es gibt kein Wissen außerhalb der Sprache, die gebraucht wird, um Wissen zu beschreiben und zu konstituieren. Im Zentrum der Analyse stehen die sprachlichen Ressourcen, die kulturelle sowie soziale Bedeutungen organisieren und jeweils zur Konstruktion von Ereignissen und Objekten zur Verfügung stehen. Potter und Wetherell (1995, S. 89) bezeichnen diese kulturell geteilten Rahmen als „interpretative repertoires“: „By interpretative repertoires we mean broadly discernible clusters of terms, descriptions and figures of speech often assembled around metaphors or vivid images [. . .] They are available resources for making evaluations, constructing factual versions and performing particular actions“. Sie können zu vielfältigen Zwecken genutzt werden. Ebenso kann eine Person in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Repertoires aktivieren, die sich auch widersprechen können. Die damit verbundenen Konstruktionen der Welt und des Selbst führen zu entsprechenden Formen des sozialen Handelns, die sprachlich und diskursiv vermittelt sind. Die eng an Foucaults Machtanalysen (Foucault 1977, 1978) anschließende kritische Diskursanalyse hebt hervor, dass Definitionen und Repräsentationen immer perspektivisch und mit der Konstitution eines je spezifischen Wissens verbunden sind. Werden z. B. aus der Position der Normalität andere als verrückt klassifiziert, dann entsteht eine Machtasymmetrie. Mit der Klassifikation sind auch Formen sozialer Praktiken wie z. B. Praktiken der Einschließung oder Behandlung mit Psychopharmaka verbunden. Da es aber immer mehrere Diskurse gibt, die die Bedeutung von Objekten festlegen und Handlungsoptionen implizieren, muss ein dominanter Diskurs stets mit Infragestellung und Widerstand rechnen. Der soziale Konstruktionismus geht nicht davon aus, dass Personen „innere“ psychische Eigenschaften haben, sondern dass ihre Identität durch die Verbindung verschiedener diskursiver Praktiken (z. B. in den Bereichen Alter, Gender, kulturelles Kapital, Ethnizität etc.), an denen sie teilnehmen, konstituiert und rekonstituiert wird. Dabei greifen Personen die kulturell verfügbaren Interpretationsrahmen auf: Diskurse geben bestimmte Subjektpositionen vor und beschränken damit auch die Möglichkeiten der Erfahrung und der Selbstentfaltung (Willig 1999). Einige dieser Positionen werden nur vorübergehend eingenommen, sie sind nicht stabil, sondern flüchtig. In Interaktionen gehen Personen aktiv mit Diskurspositionen um und stellen sie auch infrage. Daher steht die Identität einer Person nie fest und ist immer

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offen für Veränderungen. Sie hängt von den jeweiligen Positionen ab, die in diskursiven Praktiken verfügbar sind (Davies und Harré 1990). Subjekte können durch verschiedene Diskurse positioniert werden, mit denen unterschiedliche Rechte, Verpflichtungen und Handlungsmöglichkeiten verknüpft sind. Die subjektive Erfahrung wird durch die jeweils eingenommenen Subjektpositionen bestimmt. Ein geschickter und kompetenter Gebrauch von Diskursen in interpersonalen Beziehungen kann helfen, sich selbst oder die Kontexte, in denen man lebt, zu verändern. Eine kritische Analyse der Diskurse, die die Realitätskonstruktion bestimmen, kann die Voraussetzung für Widerstand und Wandel sein. Dabei können marginalisierte oder minoritäre Diskurse Alternativen für Identitätskonstruktionen anbieten. Der soziale Konstruktionismus hebt hervor, dass Diskurse in Beziehungen und Interaktionen genutzt werden. Wie im Symbolischen Interaktionismus rücken die gemeinsamen Handlungen ( joint actions) ins Zentrum der Aufmerksamkeit, in denen Menschen aufeinander zugehen, sich aufeinander beziehen und einen gemeinsamen Erfahrungs- und Handlungsraum schaffen (Shotter 1995). Was wir sagen und tun, ist nicht durch unsere Persönlichkeitsmerkmale bestimmt, sondern wird gemeinsam vollbracht. Dies hat auch Implikationen für den Forschungsprozess. Die Forschenden bringen gemeinsam Interpretationen hervor, die von ihrem jeweiligen Wissen und ihrer Perspektive abhängen (Charmaz 2011). Wenn wir die interpretativen Weisen, wie wir über uns und die Welt sprechen, verändern können, können wir auch unsere Beziehungen umgestalten und neue Formen des (Zusammen-)Seins kreieren (Shotter 1993). In diesem Zusammenhang verwendet vor allem Kenneth Gergen (2002, S. 179–208) den Begriff des Dialogs. Er lehnt die individualistische Auffassung der Person, die das westliche Denken prägt, ab. Stattdessen plädiert er für eine relationale Sichtweise, die Personen als eine Funktion ihrer Beziehungen mit anderen betrachtet (Gergen 2009). Unser Selbst konstituiert sich im interpersonalen Austausch, in Prozessen des Dialogs und des Aushandelns. Jede neue Beziehung, die wir eingehen, wird durch unsere früheren Beziehungen geprägt. So werden wir von einer Vielzahl von Selbsten bevölkert, die uns zu multiplen, fragmentierten und inkohärenten Personen machen, was nicht negativ betrachtet, sondern als Möglichkeitsraum beschrieben wird. Erst Erzählungen über uns oder das Schreiben von autobiografischen Texten vermitteln uns den Eindruck von Kohärenz und Kontinuität, weil sie sich auf Erfahrungen und Erlebnisse beziehen, die uns als Subjekten zuschreibbar sind (Leitner 1982, S. 38). Kulturell verfügbare narrative Formen, die unsere Erfahrungen in Geschichten darstellen, strukturieren deren Darstellung (Chase 2011; Leavy 2015, Kap. 2; Sarbin 1986). In der Regel haben sie einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Sie wählen Ereignisse aus dem Lebenslauf aus und vergegenwärtigen diese. Wie Alois Hahn (2000, S. 103) feststellt, schaffen sie Ordnung durch Auswahl und Vereinfachung. In einer konstruktionistischen Perspektive ist nun entscheidend, welches generative Potenzial Erzählungen enthalten. Können sie z. B. Menschen helfen, ihr Leben zu verändern? So können z. B. Erzählungen generiert werden, um mit Traumata oder chronischen Krankheiten besser umgehen zu können (Leavy 2015, S. 46–54). Gergen und Gergen (1986) heben hervor, dass wir Erzäh-

Sozialer Konstruktionismus

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lungen auch benutzen können, um eine Vielfalt von Geschichten über uns selbst zu erzählen. Autobiografische Erzählungen sind Ressourcen, die wir in Interaktionen verwenden können, um uns selbst als erlebende und handelnde Person in unseren verschiedenen Dimensionen sinnvoll darzustellen und Möglichkeiten unseres Selbst auszuloten.

4

Neue Perspektiven der qualitativen Forschung im sozialen Konstruktionismus

Die sozialkonstruktionistische Forschung ist in den USA Teil einer Erneuerungsund Reformbewegung innerhalb der qualitativen Forschung (Denzin und Lincoln 2005, 2011), die nicht mehr davon ausgeht, dass wissenschaftliche Forschung objektiv und realistisch die Welt, wie sie ist, repräsentieren kann. Ebenso wenig kann Sprache die individuelle Erfahrung adäquat abbilden. Denzin und Lincoln (1994) sprechen von einer Krise der Validität in Bezug auf wissenschaftliche Praktiken, weil es kein Kriterium gibt, das es erlaubt, eine wissenschaftliche Untersuchung auf ihre Kohärenz und Übereinstimmung mit der Realität hin zu prüfen. Im Bereich der qualitativen Forschung entstand eine intensive Debatte darüber, wie darauf reagiert werden kann, dass wissenschaftliche Untersuchungen nicht mehr „die Wahrheit“ entdecken (können). Gergen und Gergen (2003b, S. 578–583) unterscheiden zwischen vier methodologischen Innovationen, die aus sozialkonstruktionistischer Sicht relevant sind und die bereits erwähnten diskursiven und narrativen Zugänge ergänzen sollen. Dies betrifft zunächst die erhöhte Reflexivität, die den Lesenden die historische und lokale Situiertheit einer Studie sowie das persönliche Engagement des Forschers/der Forscherin näherbringt. Damit verbunden ist eine Hinwendung zu autoethnografischen Betrachtungen, die reflektieren sollen, wie die persönliche Geschichte mit der Untersuchung verbunden bzw. wie diese persönlich, kulturell und historisch lokalisiert ist. In der Zwischenzeit ist die Autoethnografie auch zu einer eigenen Methode geworden (Bochner und Ellis 2002, 2016; Holman Jones et al. 2013). Eine zweite Perspektive ist die der Vielstimmigkeit. So können in einem Forschungsbericht z. B. die Untersuchten für sich selbst sprechen (Venkatesh 2015). Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Plausibilität verschiedener und zum Teil sich widersprechender Interpretationen dargestellt wird. Eine dritte Antwort auf die Kritik an der traditionellen Form von Validität sind literarische Schreibweisen (Leavy 2013) Diese verlassen den realistischen Diskurs und wenden sich der Fiktion, der Poesie und autobiografischen Experimenten zu. Auch Texte in Collageform oder multimediale Arrangements sind möglich. Die vierte Antwort stellt die performative Wende der neueren qualitativen Forschung dar (Denzin 2003; Winter und Niederer 2008). Ergebnisse qualitativer Forschung sollen nicht nur in schriftlicher Form vermittelt werden, sondern auch als Performance, die auf unterschiedliche künstlerische Mittel und audiovisuelle Medien zurückgreifen kann. „In effect, the performance provides the audience with possibilities for a rich engagement with the issues, but leaves them free to interpret as

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they wish“ (Gergen und Gergen 2003b, S. 583; viele Beispiele finden sich in Jones et al. 2008). In „Playing with Purpose. Adventures in Performative Social Science“ (Gergen und Gergen 2012) zeigen Mary und Kenneth Gergen in einem biografischen Rückblick, wie und warum sie sich der performativen Wende in den Sozialwissenschaften verschrieben haben. Im Kontext der 1960er-Jahre, in dem zum einen künstlerische Formen zur Grenzüberschreitung, zum Experimentieren und zur Kritik an der Gesellschaft eingesetzt wurden, zum anderen politische Demonstrationen zu ästhetischen Inszenierungen in der Öffentlichkeit wurden, entwickelten sie die Idee, künstlerische Verfahren und Sensibilitäten in die Wissenschaft einzubringen, um in der und durch die Universität kulturellen und sozialen Wandel zu bewirken. Vor allem die Performance kann Gesellschaftskritik mit politischem Aktivismus verbinden. Gleichzeitig bereichert sie die Sozialwissenschaften, weil sie ästhetisch geprägte Formen der Wahrnehmung und des Wissens präferiert. „If we approach the world with the eyes of a storyteller, we begin to notice unfolding dramas; if we approach it with a poetic sensitivity, we might notice subtle rhythms and cadences in speech; with a choreographic approach, we might see a world of relational patterns; with the eyes of a theatre director, we might be drawn to varying character types; and so on. In effect, the performative orientation brings with it a vitally expanded array of ‚lenses for viewing‘, ‚invitations for dancing‘, or ‚canvasses for coloring‘, and with them myriad potentials for illuminating the social world.“ (Gergen und Gergen 2012, S. 48–49)

Gergen und Gergen (2012) legen dar, wie unterschiedliche performative Orientierungen (z. B. duografisches Schreiben, relationale Kunst oder visuelle Performance) die Grenzen der Sozialwissenschaften verschieben, neue Einsichten kreieren und Transformationen in der Selbst- und Weltwahrnehmung in Gang bringen. Insgesamt betrachtet erfordern diese methodologischen Neuerungen ein neues Verständnis qualitativer Forschung, das diese an den Handlungsmöglichkeiten misst, die sie den Forschenden und ihrem Publikum ermöglicht (Denzin 2010), z. B. im Bereich der Empowerment-Forschung. Deshalb schlagen Gergen und Gergen (2003b, S. 597–598) eine relationale Forschung vor, die das Publikum zu einem Dialog unter Gleichberechtigten einlädt.

5

Ausblick: Stand und Perspektiven

Der soziale Konstruktionismus ist neben dem Symbolischen Interaktionismus und den Cultural Studies (Winter 2001) eine Richtung in den Sozialwissenschaften, die sich intensiv mit dem Poststrukturalismus auseinandergesetzt und versucht hat, von ihm zu lernen. Wenn dieser zeigt, dass Realität und Realitätserfahrung durch Texte und Diskurse kulturell vermittelt sind, so dient ihm die Kategorie des Realen, die Jacques Lacan (1999) eingeführt hat, zur Bezeichnung des Bereiches, der nicht kulturell vermittelt ist und von dem wir keine Vorstellung haben. Der Konstruktionismus legt sein Augenmerk auf die symbolische Ordnung, die einen Zugang zur sozialen Realität ermöglicht, tabuisiert aber das Reale, so die unerträgliche Erfahrung von Tod, Schmerz und Verlust, die wir kulturell zu glauben wissen, aber nicht kennen,

Sozialer Konstruktionismus

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bis wir selbst betroffen sind. Für Lacan markiert die Abwesenheit des Realen den Tod des Subjekts. An anderer Stelle beschreibt er das Reale als das „Mysterium des sprechenden Körpers“, als „Mysterium des Unbewussten“ (Lacan 1999, zit. nach Belsey 2005, S. 51). Die Lacansche Perspektive macht deutlich, dass Konstruktionen nur einen Teil der menschlichen Existenz ausmachen. Der soziale Konstruktionismus sollte dies in seine Überlegungen miteinbeziehen.1 In eine ähnliche Richtung weist die Frage nach dem Platz des Körpers in der Theoriebildung, die in vielen Richtungen seit einiger Zeit gestellt wird und zu intensiven Debatten geführt hat (z. B. die bei Sage erscheinende Zeitschrift „Body and Society“). Vor allem phänomenologisch orientierte Autoren/Autorinnen heben im Kontext der qualitativen Psychologie (Burr 2003) die leibliche Erfahrung als Fundament für die Konstruktion hervor. Durch sie erfahren wir die Welt auf nicht kognitive Weise und drücken dies aus. Für Burr (2003, S. 198) sind diese Erfahrungen außerhalb des Diskurses und der Sprache: „We can ‚speak‘ of experiences and of the conditions under which we live and these expressions cannot be silenced or reframed by discourse. The expressivity of the body can therefore be subversive“. Ihrer Ansicht nach ist es ein Manko des sozialen Konstruktionismus, dass er (bisher) individuelle Differenzen in der subjektiven Erfahrung der leiblichen Verankerung, des eigenen Selbst, des Begehrens und von Emotionen nicht angemessen berücksichtigt hat. Für ein Verständnis der unterschiedlichen und sich auch widersprechen könnenden Subjektpositionen, die eine Person erfahren und leben kann, scheint auch ein Rückgriff auf eine Konzeption des Unbewussten sinnvoll, das freilich nicht essenzialistisch verstanden werden sollte. Dieses kann eine affektive Verankerung der Person bewirken (Walkerdine 1997). Im sozialen Konstruktionismus wurde bisher wenig untersucht, welchen Einfluss die materielle Welt auf soziale Konstruktionen hat. Welche Einschränkungen und Möglichkeiten ergeben sich durch sie? Im neuen Materialismus rücken sie ins Zentrum der Betrachtung (MacLure 2015) und problematisieren das konstruktionistische Selbstverständnis, das primär von sozialen Beziehungen ausgeht. Auch strukturelle Merkmale von Gesellschaften, die sich z. B. in Formen kultureller und sozialer Ungleichheit äußern, werden in ihrer soziale Konstruktionen gestaltenden Form oft ausgeblendet (Cromby und Nightingale 1999). Allerdings versuchen kritische Psychologinnen und Psychologen dieses Manko zu beheben, indem sie den sozialen Konstruktionismus mit Konzeptionen des kritischen Realismus verbinden, der die Bedeutung realer Prozesse und Strukturen betont (Willig 1999). Zweifellos liegt die große Stärke des sozialen Konstruktionismus in der radikalen Kritik der Fundamente der traditionellen Psychologie, die er überzeugend dekonstruiert. Er konzipiert keine grand theory menschlichen Verhaltens, sondern entwickelt unter postmodernen Bedingungen ein plurales Theorieverständnis, das die Stärken der Psychologie im Dialog mit anderen Disziplinen entfalten soll: „This

1

Vgl. zur Kritik und Weiterentwicklung auch die Beiträge in der FQS-Debatte zum sozialen Konstruktionismus ab Vol. 9, No.1; http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/search/sec tions.

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will be a psychology replete with conceptual resources, sensitive to ideology and history, innovative in its methods of inquiry, and a continuing font of new and effective practices“ (Gergen 2001b, S. 812). Der soziale Konstruktionismus stellt neue Fragen, erprobt vielfältige Methoden der Welterzeugung und entfaltet ein anderes Verständnis von Psychologie. Er sensibilisiert für die Möglichkeiten individueller und gesellschaftlicher Veränderung, die im Rahmen qualitativer Forschung in den USA nun intensiv diskutiert wird (Cannella et al. 2015; Denzin 2010). Dabei betrachtet er seine eigene Theorie als Form diskursiven Handelns (Gergen und Zielke 2006), als eine Praktik, die zu Anschlusspraktiken in Gemeinschaften einlädt, die seine sozialen Konstruktionen teilen.

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Sozialer Konstruktionismus

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Erzähltheorie/Narration Jürgen Straub

Inhalt 1 Entstehungsgeschichte, historische Bedeutung und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . 2 Spezielle theoretische Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktueller Stellenwert, wichtige Themen und zentrale Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Erzählen von Geschichten kann als universale anthropologische Praxis gelten, wenngleich die Anlässe und Inhalte, Formen und Funktionen dieser Tätigkeit historisch und kulturell höchst variabel sind. In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Erzählen in verschiedenen Wissenschaften (und fast allen psychologischen Subdisziplinen) eingehend erforscht und hat – im Rahmen dieses narrative turn – nicht zuletzt zu innovativen Methodenentwicklungen im Bereich der Datenerhebung und -analyse geführt. Der theoretisch ausgerichtete Beitrag klärt wesentliche strukturelle Merkmale einer Erzählung und erörtert die wichtigsten soziokulturellen und psychosozialen Funktionen des Erzählens (von der narrativen Konstitution menschlicher Zeit und der Organisation geschichtlicher Wirklichkeiten über soziale Funktionen wie etwa die Beziehungsstiftung und Gemeinschaftsbildung bis hin zu psychischen Leistungen z. B. im Feld der Krisenbewältigung). Er schließt mit Hinweisen auf aktuelle Themen der Erzähltheorie und (qualitativen) Erzählforschung (vornehmlich in der Psychologie).

J. Straub (*) Fakultät für Sozialwissenschaft, Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, RuhrUniversität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_8

241

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J. Straub

Schlüsselwörter

Erzählung/Narration · Zeit · (Lebens-)Geschichte · Narrative Identität · Narrative Psychologie

1

Entstehungsgeschichte, historische Bedeutung und disziplinäre Einordnung

1.1

Homo narrator: Erzählen als Anthropologikum

Mit leichter Feder notierte Roland Barthes vor einigen Jahrzehnten, die Erzählung schere sich nicht „um gute oder schlechte Literatur“. Sie sei „international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach vorhanden wie das Leben selbst“ (Barthes 1988, S. 102). Er berichtete sodann von Erzählungen in „nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften“ (Barthes 1988, S. 102). Er hatte wohl recht damit, im Erzählen von Geschichten eine anthropologische Konstante zu sehen. Die vielfältige narrative Praxis gehört zur conditio humana, zum „Homo narrator“ (Boesch 2000). Diese von weit her kommende Definition des Menschen wirkt bis heute unverbraucht. Sie gilt nicht zuletzt in der (narrativen) Psychologie unserer Tage als ein im Leben von jedermann und jederfrau verwurzelter „Grund-Satz“. Ohne Bezugnahme auf das Erzählen liefen Begriffe wie „Erinnerung“ und „Gedächtnis“, „Erfahrung“ und „Erwartung“, „Handeln“ und „Erleiden“, „Geschichte“ und „Lebensgeschichte“ oder „Selbst“ und „Identität“ Gefahr, ihren vollen Bedeutungsgehalt zu verlieren. Sie würden partiell unverständlich. Die Narration ist „grundlegend für die Organisation, Transformation und Kommunikation von Erfahrung“ (Stierle 1979, S. 92). In der Tat sehen wir Dinge und Ereignisse, andere Menschen und „uns selbst in unserer Lebenswelt immer schon im Zusammenhang von Geschichten“ (Stierle 1979, S. 92). Der Inhalt und zuvor schon die dramatische Form oder Struktur erzählter Geschichten liefern wichtige Kriterien für das, was uns an unseren Erlebnissen bedeutsam erscheint und schließlich den Status mitteilbarer Erfahrungen erhält. Relevant ist, „was sich zu Geschichten ordnet und in ihnen zugleich eine prägnante Zeitgestalt gewinnt“ (Stierle 1979, S. 92). Das Erzählen ist zwar nicht der einzige, aber ein herausragender sprachlicher Modus, aus Erlebnissen intersubjektiv kommunizierbare und reflektierbare Erfahrungen und Erwartungen zu formen. In Erzählungen entwerfen, artikulieren und gestalten Erzählende ihre Welt, indem sie Geschehenes zeitlich ordnen (in linearen Sequenzen oder in beliebig komplexen, nicht-linearen Verweisungszusammenhängen, die auch Bezugnahmen auf antizipierte, befürchtete oder erhoffte Ereignisse und Entwicklungen einschließen können). Wie sehr der Begriff der Erzählung/Narration (sowie damit verwobene Zeitvorstellungen) durch Komplexitätssteigerungen strapaziert werden können – bis hin zu ihrer Auflösung – zeigt bekanntlich vor allem die moderne Literatur. Dass davon die interdisziplinäre Gedächtnis- und Erinnerungsforschung sowie speziell eine am (alltagsweltlichen) „autobiografischen Prozess“ interessierte narrative Psy-

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chologie viel lernen können, demonstriert Jens Brockmeier (2015) sehr detailliert, exemplarisch etwa in seinen Analysen berühmter Texte von Marcel Proust oder W. G. Sebald (Brockmeier 2015, S. 268–270, 275–277, 285–306; dazu Straub 2018). Geschichten sind eine in ihrer praktischen, kulturellen, sozialen und psychischen Bedeutung kaum zu überschätzende Artikulationsform des Menschen (zum Begriff der Artikulation Arnold 2010, S. 70–72). Der Mensch ist unweigerlich in Geschichten verstrickt und zeitlebens mit diesen Verstrickungen befasst. Er ist das Wesen, das nicht nur erzählen, sondern vom Erzählen erzählen und sich noch zu dieser reflexiven Struktur bewusst verhalten kann. Das Erzählen ist eine anthropologische Universalie und für jede Wissenschaft, die an den Erlebnissen bzw. den Erfahrungen und Erwartungen von Menschen interessiert ist, von eminenter Bedeutung. Empirische Forschung ist demnach nicht zuletzt als Analyse von Erzählungen anzulegen. Dabei sind auch psychologische Erzählanalysen in hohem Maße auf den Einsatz qualitativer, rekonstruktiver oder interpretativer Methoden angewiesen (Lucius-Hoene 2010).

1.2

Rehabilitierung des Erzählens in der Philosophie und den Wissenschaften

Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler: Solche und verwandte Einsichten zirkulieren heute in mannigfachen Gestalten in der Philosophie und den Wissenschaften. Sie zeugen von einer Rehabilitierung des Erzählens in jüngerer Zeit. Die Narration besaß in diesen Gefilden nämlich keinen besonders guten Ruf. Aus dem Feld einer genuin wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung war die Erzählung als eine spezifische Sprachform und kommunikative Gattung seit Längerem weitgehend verbannt. Auch in der Psychologie war kaum vom Erzählen und seiner Bedeutung für die dynamischen, praktischen Selbst- und Weltverhältnisse von Personen die Rede. Insbesondere mit dem Siegeszug der nomologischen Wissenschaften in der Neuzeit ist die Kritik am Erzählen als einer Praxis oder gar eines Verfahrens der wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, speziell der wissenschaftlichen Erklärung, stetig gewachsen. Das Erzählen von Geschichten gilt in den nomologischen Wissenschaften und der ihnen zur Seite gestellten Wissenschaftstheorie bis heute als alltagsweltliche, minderwertige Form der Darstellung und Kommunikation. Oder man betrachtet es als eine literarische Praxis, die die Kunst strikt von der Wissenschaft scheidet – keinesfalls aber dazu taugt, Verbindungen und Verwandtschaften auszumachen, zumal solche, die von einem geteilten Interesse am Erzählen und vielleicht sogar davon herrühren, dass zumindest manche Sozial- und Kulturwissenschaften ebenso wie die schöne Literatur und andere Künste vom Erzählen abhängig sein könnten. Provozierende Einsprüche gegen diese traditionelle Verachtung der doxa und speziell gegen die Vertreibung des Erzählens aus den modernen Wissenschaften wurden über Säkula hinweg von einer defensiven und marginalisierten Position aus vorgetragen. Sie schienen das theoretische und methodische Fundament wissen-

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schaftlichen Denkens zu untergraben. Diese etwas starre Sicht der Dinge änderte sich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts erheblich. Die treibende Kraft war dabei keineswegs die Literaturwissenschaft, die sich selbstverständlich stets mit dem Erzählen, seinen literarischen Formen, Verfahren und Resultaten, befasst hat, sondern die Geschichtstheorie bzw. Geschichtsphilosophie. Die narrative Struktur historischer Erkenntnis galt zunehmend und gilt noch heute als weitester Rahmen und unhintergehbare Bedingung der Geschichtswissenschaft und, so kann man diese Einsicht generalisierend ergänzen, ebenso aller anderen Disziplinen, die – wie die Psychologie – mit temporal komplexen Phänomenen, kurz: mit Veränderungen befasst sind. Das haben etwa folgende prominente Beiträge gezeigt: • Paul Ricœurs bis heute unübertroffene Analysen des inneren Zusammenhangs zwischen Zeit und Erzählung (z. B. 1988 [1983], 1991 [1985]); • die narrativistischen Arbeiten Jörn Rüsens (z. B. 1990), der das Erzählen ebenfalls für unverzichtbar hält, sobald Zeit in Gestalt wechselseitiger Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft thematisch wird und dadurch bedeutungsstrukturierte bzw. sinn-volle Zeit-Zusammenhänge entworfen werden; • die subversiven Schriften Hayden Whites, der in „Metahistory“ (1991 [1973]) seiner Zunft vorhielt, der Kunst und ihren literarischen Verfahren der Fabelbildung näher zu stehen als den strengen Wissenschaften, da die Geschichtsschreibung am Ende doch nur Geschichten erzähle, seien es Tragödien, Komödien, Romanzen, Satiren oder Varianten dieser bekannten Plotstrukturen; später kritisierte er diese erzählerische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft vehement und empfahl ihr eine Ausrichtung an der seines Erachtens realitätsgerechteren Form der Chronik (White 1990 [1987]; dazu Straub 1993, 2000); • die ebenfalls besonders wichtigen Beiträge aus der Analytischen Philosophie, die Arthur Dantos (1974 [1965]) luziden Untersuchungen folgen und im Erzählen einen genuinen und unersetzbaren Modus auch der wissenschaftlichen Erklärung temporal komplexer Phänomene erkennen. Solche Phänomene, die stets Veränderungen darstellen oder beinhalten, sind nur durch die narrative Entfaltung einer Geschichte zu beschreiben und uno actu zu verstehen und zu erklären. Entsprechend sprach Danto vom Schema einer narrativen Erklärung, das aus dem formalisierten Modell einer Kausalerklärung im Sinne der nomologischen Subsumptionstheorie ausschert. Wiederum lässt sich ergänzen: Die narrative Erklärung bietet in allen interpretativen Sozial- und Kulturwissenschaften eine wichtige Ergänzung zu den Formen sowohl der kausalen (bzw. korrelationsstatistischen) als auch der intentionalistischen Erklärung sowie zu jenem Erklärungsschema, in dem die Bezugnahme auf Regeln die entscheidende Rolle spielt (Straub 1999, S. 141–143). • Wollte man diesen bahnbrechenden Arbeiten, die in der Geschichtstheorie vielfältige Fortsetzungen und parallele Bemühungen hervorriefen (z. B. Angehrn 1985; Ankersmit 1983), einen herausragenden Beitrag aus der Psychologie hinzugesellen, in dem zeit- und geschichtstheoretische Einsichten gewürdigt und vor allem in gedächtnis- und erinnerungstheoretischer Perspektive weiter entwickelt

Erzähltheorie/Narration

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werden, wäre das Jens Brockmeiers voluminöse Studie „Beyond the Archive“ (Brockmeier 2015). Parallel und komplementär zur vornehmlich zeit- und geschichtstheoretischen Rehabilitierung des Erzählens, die häufiger mit identitätstheoretischen Überlegungen einherging (Angehrn 1985), stieg das Interesse am Erzählen auch in anderen Disziplinen. Die in der interpretativen Soziologie angesiedelte Entwicklung der Technik des narrativen Interviews durch Fritz Schütze (1983, 1987; s. auch Mey 2000) ist das in den Sozialwissenschaften wohl prominenteste Beispiel dafür. Schützes Begründung für die Entwicklung gerade dieses Erhebungsverfahrens war mehrgliedrig, vernachlässigte aber – erstaunlicher Weise – spezifisch zeittheoretische Argumente oder streifte sie allenfalls. Wichtiger war ihm die (sozial-)anthropologische Feststellung, dass alle (sprachfähigen) Menschen (Selbst-)Geschichten erzählen können. Demgemäß wurde das narrative Interview auch zügig als jenes Verfahren etabliert, welches in herausragender Weise geeignet sei, alltagsweltliche Erfahrungen aus der Perspektive der betroffenen bzw. handelnden Subjekte, nach deren Relevanzsetzungen und obendrein in deren eigener Sprache zu rekonstruieren. Bekanntlich wurde diese wichtige Einsicht in die prekäre Gestalt einer oft kritisierten Homologiethese überführt (Bude 1985), nach der „Zugzwänge des Erzählens“ und andere Eigenheiten dieses „Sachverhaltsdarstellungsschemas“ angeblich dafür sorgen, dass das erzählte Leben dem tatsächlich gelebten quasi entspricht. Das Erzählen wurde hier auch deswegen nobilitiert, weil es die facta bruta eines gelebten Lebens – die ehemalige Erlebnisse, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Absichten, Handlungen einer Person, etc. – angeblich noch im Nachhinein adäquat wiederzugeben vermag. Der/die autobiografische Erzähler/in wurde gewissermaßen als exklusiv autorisierte/r Repräsentant/in nackter lebensgeschichtlicher Tatsachen konzipiert, als eine Art Archivar/in der eigenen Lebensgeschichte (zu einer allgemeinen Kritik dieses theoretischen Modells s. Brockmeier 2015). Damit wurde nicht allein die für die Darstellung sog. Fakten konstitutive Funktion sprachlicher Formen und speziell narrativer Schemata unterschlagen, also auf vereinfachende Weise von der poetischen und hermeneutischen Dimension der Sprache abstrahiert. Darüber hinaus unterschätzte Schützes und Kallmeyers Erzähltheorie (Schütze 1987) das Geschick von Menschen, fingierte Ereignisse als Tatsachen zu repräsentieren (willkürlich oder unwillkürlich, bewusst oder unbewusst), ohne die verbindlichen Regeln einer kulturell eingespielten Narrationsgrammatik zu verletzen. Abgesehen davon erscheint folgender Gesichtspunkt erinnerungswürdig: Schützes Auffassung, dass die universale narrative Kompetenz im Grunde genommen relativ schichtenunabhängig verteilt sei (und auch durch andere soziokulturelle Differenzierungen wie Geschlecht, Generation oder Milieu vergleichsweise unbeeinträchtigt bleibe), hatte eine heute oft vergessene, macht- und herrschaftskritische Note. Erzählen kann (so gut wie) jede/r, sobald diese Kompetenz erst einmal erworben worden ist. Das narrative Interview war, lange vor den postcolonial studies unserer Tage, eines der ersten Erhebungsverfahren, deren Einsatz mit der Absicht des voicing einhergehen konnte (nicht musste): Geschichten erzählen zu lassen konnte bedeuten, Menschen eine Stimme zu geben und sie öffentlich vernehmbar

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zu machen im Rahmen einer Art „Sozialwissenschaft von unten“ (oral history, oral sociology, oral psychology etc.). Schützes Arbeiten entfalteten zumal im deutschsprachigen Raum eine außergewöhnliche Wirkung (nicht zuletzt, weil sie sich mit Ansätzen aus dem angloamerikanischen Sprachraum gut verbinden ließen, etwa mit der Grounded-Theory-Methodologie; s. auch Mey und Ruppel 2016, S. 275–276). Das einzige Exempel für den Aufstieg des Erzählens in den Wissenschaften ist Schützes komplexer Ansatz und speziell die Technik des narrativen Interviews jedoch keineswegs, zog diese innovative Methode, die bald schon in sehr verschiedenen Untersuchungsfeldern angewandt wurde, eine ganze Reihe kreativer Ideen nach sich. In den Sozial- und Kulturwissenschaften bahnte sich – alles in allem, aus verschiedenen Quellen gespeist – ein sog. narrative turn an, der eine höchst innovative und schöpferische Konzentration auf die vielfältigen Potenziale des Erzählens mit sich brachte. Dies betraf nicht nur die methodische Ebene der Datenerhebung (narratives Interview u. a.), sondern auch sehr grundsätzliche (theoretische) Aspekte, vor allem im Bereich • einer narrativen Anthropologie, in der das eingangs erwähnte Menschenbild des homo narrator immer genauere Züge annahm, • einer im engeren Sinne narrativen Psychologie, in der nun sukzessive alle möglichen kulturellen, sozialen und psychischen Phänomene – einschließlich der „klassischen“ psychischen Strukturen und Funktionen wie Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis und Erinnerung, Emotion, Motivation, Volition und Handeln – in ihrem Zusammenhang mit dem Erzählen untersucht wurden (s. Abschn. 3.2), • einer Epistemologie, in der das Verhältnis zwischen Sprache (speziell dem Erzählen) und nicht-sprachlicher Wirklichkeit (einschließlich des Zeiterlebens) eingehend bedacht wurde (s. Abschn. 2), sowie • einer interpretativen Methodologie, die erzählanalytische Ansätze und zunehmend raffiniertere, auf Erzähltexte (und andere symbolische Medien) gemünzte Auswertungsverfahren hervorbrachte (z. B. Boothe 1992, 2011; Lucius-Hoene 2010; Lucius-Hoene und Deppermann 2002; Mey und Ruppel 2016). Die Psychologie spielte bei diesen Entwicklungen die Rolle eines Nachzüglers (Bruner 1998, S. 52, Fn. 13). Sie hat vieles, bevor sie sich selbst als narrative Psychologie formierte, nur zögerlich zur Kenntnis genommen (z. B. Bruner 1986; Polkinghorne 1988, 1998; Sarbin 1986; Straub 1989, 1998; Wiedemann 1986; zum Überblick: Echterhoff und Straub 2003, 2004; aktuelle Beispiele finden sich in der von Mark Freeman herausgegebenen Reihe „Explorations in Narrative Psychology“; s. auch Abschn. 3, Fn. 2). Wichtige Argumente, die die Genese der interdisziplinären und internationalen „narrativen Strömung“ plausibilisierten, wurden häufig einfach ignoriert. Dies war längere Zeit sogar in der psychologischen Biografieforschung der Fall, wo erzähltheoretische Reflexionen, die die überlieferten Konzeptionen und Verfahren infrage stellten, besonders nahe lagen. Als sich narrative Ansätze in der durch Schützes Arbeitsgruppe beflügelten soziologischen Biografieforschung (und bald auch in der erziehungswissenschaftlichen) zu etablieren began-

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nen, blieben produktive Kooperationen aus. Hans Thomae etwa wollte die eng mit seinem Namen verbundene „biografische Methode“ für die Psychologie reserviert wissen und steckte so ein disziplinäres Reservat ab, in dem kaum Gedanken an die wirklich neuen Einsichten einer narrativen, interpretativen Biografieforschung verschwendet wurden (Kaiser 2005; Straub 1989, S. 9–11). Andere Beiträge aus der Psychologie befassten sich zunächst vorwiegend aus gedächtnis- und erinnerungstheoretischer Perspektive mit dem Erzählen (und anderen Formen der retrospektiven Repräsentation vergangener Ereignisse, speziell ehemaliger Erlebnisse). Sie zogen aus dem vielfach replizierten Befund, dass das autobiografische (episodische) Gedächtnis keineswegs „objektive“ Abbilder oder mimetische Reproduktionen der Vergangenheit abzuspeichern und abzurufen in der Lage ist, skeptische Schlüsse (z. B. Strube und Weinert 1987). Man misstraute dem Erzählen, weil es sich als unzuverlässiger und invalider Zeuge erwies, sobald es darum ging wiederzugeben, was einst tatsächlich geschehen war. Die dramatisierende Erzählung schien bloß dazu beizutragen, die Erinnerungen eines ohnehin lücken- und fehlerhaften Gedächtnisses vollends ins Reich des realitätsverzerrenden Wunschdenkens zu befördern. Die auf autobiografische Erzählungen gestützte Forschung schien deswegen weitgehend auf Sand gebaut.

2

Spezielle theoretische Grundannahmen

Die zentrale epistemologische Voraussetzung dieses ziemlich negativen Urteils war offenkundig, dass man die mimetische Funktion einer „realitätsgetreuen Wiedergabe“ des Vergangenen für möglich und obendrein als zentrale Aufgabe von Gedächtnis, Erinnerung und Erzählung ansah. Das menschliche Gedächtnis fungiert in der angedeuteten theoretischen Perspektive als eine Art (technisch unzulänglicher) Rekorder, der vornehmlich für visuelle und auditive (aber auch für olfaktorische, gustatorische, taktile/haptische) Sinneseindrücke empfänglich ist und diese aufzuzeichnen hat, dabei aber fehlerhaft funktioniert und lediglich allzu begrenzte Speicherkapazitäten besitzt. In analoger Weise gelten Erinnerungen als störanfällig und unzureichend – gemessen am technomorphen Ideal einer möglichst „totalen“ sowie „direkten“ Aufzeichnung und Wiedergabe beliebiger Ereignisse. Dabei unterschätzt man die philosophischen Probleme, die diesem zweifelhaften „Ideal“ innewohnen (zur Kritik s. etwa Rorty 1981 [1979]; speziell in gedächtnis-, erinnerungs- und erzähltheoretischer Perspektive Brockmeier 2015). Nur allmählich setzte sich die auch in der Psychologie spätestens seit Frederik Bartlett (1932; Kölbl und Straub 2011) verfügbare Einsicht durch, dass (subjektive) Repräsentationen ehemaliger Geschehnisse aus prinzipiellen Gründen niemals diesen Ereignissen selbst vollkommen entsprechen können (im Sinne eines Abbildes oder „Spiegels der Natur“). Erinnerungen sind u. a. hermeneutisch und narrativ vermittelt. Sie transformieren, zumal als sprachlich artikulierte Erinnerungen, Geschehnisse und Ereignisse unweigerlich in symbolisch strukturierte Erfahrungen. Im Übrigen sind sie intendierte bzw. (unbewusst) motivierte Akte. Als Erinnerungshandlungen können wir ihnen Inten-

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tionen und Motive, Anlässe und Gründe, Ziele und Zwecke zuweisen, die ihre vielschichtige (polyvalente) Bedeutung mitbestimmen. Jede an symbolische Formen gekoppelte Repräsentation von Vergangenem – auch und gerade in Gestalt persönlicher, stets an kulturelle und soziale Vokabulare, Schemata, Scripts etc. gebundener Erinnerungen – ist eine (Re-)Konstruktion, die vom Standpunkt und in der Perspektive einer Gegenwart vorgenommen wird. Diese Gegenwart ist konstitutiv für das, was wir Vergangenheit nennen, als solche identifizieren, beschreiben, verstehen oder erklären und vom ehemaligen Geschehen begrifflich unterscheiden (Stierle 1973; Straub 1993, 1998, S. 83–85). Im Unterschied zu dem, was unwiderruflich geschehen ist, verändern sich Vergangenheiten im Licht einer sich wandelnden Gegenwart (und damit verwobener Zukunftserwartungen). Vergangenes als symbolische Repräsentation des Geschehenen ist im Fluss und demgemäß in gewisser Weise unbestimmt (Hacking 2001). Dies heißt – einem verbreiteten Missverständnis zum Trotz – jedoch keineswegs, dass allein die Gegenwart maßgeblich dafür sei, was Menschen retrospektiv und retrodiktiv als Vergangenheit rekonstruieren und repräsentieren. Eine derartige präsentistische Überzeichnung einer wichtigen Einsicht ist ebenso verfehlt wie die groteske Idee, die nicht hintergehbare, konstitutive Funktion der Gegenwart für jeden Akt der Artikulation, der Bildung und Umbildung von Vergangenheit mache solche (Re-)Konstruktionen zu bloßen Inventionen (Hacking 1999). Vergegenwärtigungen von Vergangenem beziehen sich stets auf etwas (Geschehnisse, Ereignisse, Erlebnisse), das nicht in der Gegenwart angesiedelt ist und in ihr aufgeht. Sie sind mit Ansprüchen auf empirische Triftigkeit und Geltung verknüpft, die sich – im Prinzip, allerdings nicht restlos – überprüfen und kritisieren lassen. Gewiss enthalten alle – zumal die narrativen – Repräsentationen von Vergangenheiten fiktionale Elemente. So sind etwa jeder Anfang und jedes Ende einer erzählten Geschichte Resultate poetischer Akte, für die die Erzählenden verantwortlich sind, nicht aber das in eine Geschichte und schließlich (womöglich) in den Text der Geschichte verwandelte Geschehen selbst (Straub 1993, 1998, 2000; White 1991 [1973]). Deswegen ist aber nicht gleich die ganze Geschichtserzählung fiktiv, bloß erfunden, reine Einbildung eines seiner Gegenwart und nichts als dieser verhafteten Subjekts. Die komplexen Relationen zwischen Vergangenheit und Gegenwart (und Zukunft) klären differenzierte philosophische Theorien der Bezugnahme (z. B. Ricœur 1991 [1985]). Solche Theorien der „indirekten Referenz“ zeigen, dass es eine Vergangenheit ohne ehemalige Geschehnisse, auf die wir uns in unseren hermeneutischen, z. B. narrativen Retrospektiven beziehen können, nicht gibt und geben kann. Erinnerte Vergangenheiten, die wir mit einstigen Ereignissen bzw. Erlebnissen verbinden – auch weil ihre Spuren womöglich in unserem Leib oder dem Leib anderer Menschen präsent sind, nicht zuletzt in den „Schädelstätten der Geschichte“ –, unterscheiden sich von den fiktionalen Produktionen in der Literatur und anderen Gefilden künstlerischer Fantasie und profaner Einbildungskraft. Darüber sollten partielle Gemeinsamkeiten zwischen Erzählungen dieser oder jener Art nicht hinwegtäuschen. Vergangenheit – auch die im grammatischen Modus des Futurum exaktum vorausentworfene, erwartete Vergangenheit bzw. vergangene Zukunft – wird nicht

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zuletzt in Geschichten repräsentiert. Das Erzählen ist notwendig für die Repräsentation von Vergangenem, insofern es um die Vergegenwärtigung von Zeit-Zusammenhängen geht. Dabei ist wichtig zu sehen, dass jedes Aufweisen eines temporalen Zusammenhangs eine (bereits eingespielte, abstrakte und allgemeine) Zergliederung der Zeit in (scheinbar „immer schon“ separierte) Einheiten voraussetzt. Der konventionelle (kulturelle) Operationsmodus unterscheidet Vergangenheit (V), Gegenwart (G) und Zukunft (Z) als derartig getrennte Zeit-Räume – und unterschlägt zugleich den historisch und kulturell kontingenten Konstruktcharakter dieses vielen Menschen heute so selbstverständlich, ja geradezu natürlich erscheinenden „VGZ-Schemas“. Indes haben bereits manche der oben stehenden Äußerungen daran erinnert, dass im alltäglichen Erleben häufig gar nicht so scharf zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft getrennt wird. In den unser Denken und Fühlen begleitenden Erlebnissen und Vorstellungen, in den Bildern und Klängen sowie anderen Sinneseindrücken, die unsere Erinnerungen und Erwartungen prägen, verschwimmt oft vieles und geht mitunter sogar alles durcheinander. Das ist nicht nur bei außerordentlichen Flashbacks und Flashforwards der Fall. Nicht selten empfinden wir die analytisch getrennte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als unauflöslich miteinander verwoben und erleben den „Fluss der Zeit“ keineswegs als lineare Sukzession, sondern als Synchronizität von gestern, heute und morgen (wobei sich auch eigene mit fremden Erfahrungen und Erwartungen vermischen mögen). Die Philosophie – exemplarisch etwa Martin Heidegger (1927) – hat längst auf diese Eigentümlichkeit des lebensweltlichen Zeiterlebens hingewiesen, und auch die zeitgenössische Erzähltheorie reflektiert diese Eigenart bisweilen ausführlich. In der modernen Literatur gestaltet man dieses komplexe Erleben überaus kunstvoll und dekonstruiert auf diese Weise – mit dem intendierten Effekt einer radikalen Irritation der Leser/innen – die lebensferne Abstraktheit des VGZ-Schemas sowie jeder allzu simplen Vorstellung temporaler Linearität, unidirektionaler Kausalität, zeitlich geordneter Gedächtnis- und Erinnerungsleistungen oder Identitätsbildungsvorgänge. Brockmeier (2015) überschreibt einschlägige Buchkapitel aussagekräftig mit Titeln wie „Dissolving the Time of Memory. The Autobiographical Process as Temporal Self-Localization“ oder „Beyond Time: The Autographical Process as Search Movement“. Dabei betrachtet er literarische Meisterwerke (wie etwa W.B. Sebalds „Austerlitz“) lediglich als Vorhut eines allgemeineren kulturellen Wandels. Dieser keineswegs nur theoretische und metaphorische paradigm shift führt weg vom gedächtnis- und erinnerungstheoretischen Modell des Archivs. Er avisiert und erprobt schließlich erzähl- und zeittheoretische Formen eines „wilden Denkens“, das schlichte zeitliche Ordnungen und scheinbar klare, unidirektionale temporale Relationen kaum mehr kennt – dafür aber hoch komplexe, von Kontingenz durchzogene Beziehungsnetze sowie Erlebnisse einer unauflöslichen Ganzheit, in der Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte unvorhersehbar ineinander übergehen und „heillos“ miteinander vermengt sind. Das kommt so manchen Alltagserfahrungen sowie den daraus schöpfenden Selbst- und Weltverhältnissen „temporal komplexer Subjekte“ sehr viel näher, als es die narrative Psychologie und die damit verbundene qualitative Forschung (insbesondere im Feld der Biografie- und Identi-

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tätsforschung) bislang wahrgenommen und in empirischen Projekten angemessen untersucht hat. Im Übrigen zeigt auch der zuletzt erörterte Aspekt: Das Erzählen verrät mitunter über die in einer Gegenwart lebenden Erzählenden, über ihr aktuelles Welt- und Selbstbild, ihre heutige Lebensform und Denkungsart, ihre jetzigen Motive und Intentionen sowie über den gegenwärtigen kulturellen und sozialen Kontext des Erzählens mindestens so viel wie über das, was dereinst geschehen und erlebt worden sein mag. Das ist freilich kein Defizit der Erzählung. Es macht sie als eine (aus vielerlei Gründen) unverwechselbare Sprachform vielmehr besonders interessant – gerade für die Psychologie. Die Erzähltheorie und die empirische (qualitative) Analyse von Narrationen sind auch deswegen vorrangige – und nach wie vor zukunftsträchtige, vielversprechende, innovationsfreudige – Betätigungsfelder nicht zuletzt dieser Disziplin.

3

Aktueller Stellenwert, wichtige Themen und zentrale Diskussionen

Manche historische Betrachtungen der Sozial- und Kulturwissenschaften lassen dem linguistic und interpretive turn einen narrative turn (sodann einen iconic oder pictorial, einen spatial, einen material, einen cultural turn u. a. m.) folgen.1 Wie sehr die Konzentration auf das (alltägliche) Erzählen und Rezipieren von Geschichten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die gängige Auffassung des „Gegenstandes“ der Sozial- und Kulturwissenschaften prägte, wie sehr die Erforschung von Narrationen und verwandten Phänomenen die theoretischen Überzeugungen und das methodische Selbstverständnis zahlreicher Vertreter/innen der Humanities beeinflusste, belegen längst eine ganze Reihe einschlägiger Sammelbände und Monografien (Bamberg 1997; Green 2002; McQuillan 2000; Nünning und Nünning 2002; zuletzt etwa Koschorke 2012, der vieles rekapituliert und sich dabei um eine „allgemeine Erzähltheorie“ bemüht). Die Forschungsschwerpunkte verschoben sich in den vergangenen Jahrzehnten – grob gesprochen – sukzessive „von formal bzw. ästhetisch inspirierten Fragestellungen hin zur Diskussion erkenntnistheoretischer, psychologischer, sozialer und kultureller Aspekte oder ‚Leistungen‘ von Erzählungen“ (Seitz 2003, Abschn. 3.3). Die mittlerweile weitverzweigte narrative Psychologie ist alles andere als homogen. Als Sammelbezeichnung und Synthese heterogener theoretischer Positionen, verschiedener methodischer Perspektiven und wissenschaftlicher Praktiken ist sie

1

Einen Überblick über die schwindelerregenden Wenden, die, ungeachtet des suggestiven new speech aus den rhetorisch aufgerüsteten Marketingabteilungen des Wissenschaftsbetriebs, häufig eher Aufmerksamkeitsverlagerungen und neue Akzentsetzungen darstellen als „revolutionäre Paradigmenwechsel“ oder dergleichen, bietet Bachmann-Medick (2006).

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zunächst einmal bloß durch das gemeinsame Interesse am Erzählen und an Erzählungen charakterisiert. Sie erstreckt sich quer über alle traditionellen Teildisziplinen und die neuesten psychologischen Forschungsfelder.2 So reichen entsprechende Ansätze • von allgemeinpsychologischen Teilgebieten wie der Gedächtnispsychologie, Sprachpsychologie, Handlungstheorie und der Methodenlehre, • über die Entwicklungspsychologie, • die Persönlichkeitspsychologie, • die Sozialpsychologie, • bis hin zur Klinischen Psychologie • und Psychotherapie(-forschung), • schließlich zu Gebieten wie der denkbar breit angelegten Biografie- und Identitätsforschung, • einer Psychologie des Geschichtsbewusstseins, • oder der thematisch wiederum sehr ausdifferenzierten Kulturpsychologie (Straub und Chakkarath 2010). Sieht man sich einschlägige Arbeiten etwas näher an, fällt schnell auf, dass die Bezeichnung „narrative Psychologie“ eigentlich irreführend ist. Genauer betrachtet handelt es sich um eine vielfältige und facettenreiche Psychologie des Narrativen, der Narration und der Narrativität, nicht aber um eine Psychologie, die sich selbst des Erzählens als eines sprachlichen Modus des systematischen Denkens, der methodischen Beschreibung sowie des wissenschaftlichen Verstehens und Erklärens bediente (Straub 1989, 1998; exemplarisch Straub 2014, 2015). Eine Disziplin, die sich durch das Adjektiv „narrativ“ selbst qualifizierte – und nicht nur ihren Forschungsgegenstand –, sucht man bis heute beinahe vergeblich. Es handelte sich dabei um eine Wissenschaft, die nicht bloß Traditionen wie z. B. die (nie ganz verblasste) klinische Kasuistik bereichern würde, sondern in neuartiger, radikaler und umfassender Weise Potenziale einer erzählenden Wissenschaft auszuloten trachtete (und so unweigerlich die eingeschliffenen Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft antasten müsste, ohne sie vollständig einreißen zu wollen). Was unter dem Titel einer narrativen Psychologie erforscht und verhandelt wird, ist nur noch schwer zu überblicken. Der folgende Einblick ist an zwei Fragen orientiert: was ist eine Erzählung und welche psychologisch interessanten Funktio-

2 Zum Folgenden finden sich zahlreiche Literaturhinweise in Echterhoff und Straub (2003, 2004); teilweise auch Brockmeier (2015). Wichtige Einsichten bieten z. B.: Clandinin und Connelly (2000), Fludernik und Ryan (2018), Holstein und Gubrium (2012), Polkinghorne (1988), Pagnucci (2004). Als Quellen für gezielte Literaturrecherchen eignen sich verschiedene Zeitschriften und Handbücher, auch interdisziplinär ausgerichtete, etwa „Diegesis: Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung/Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research“ (Hrsg. von M. Chihaia u. a.); „Narrative Inquiry“ (Hrsg. von John Benjamins Publishing Company, seit 1991, bis 1997 unter dem Titel „Journal of Narrative and Life History“).

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nen erfüllt dieser Modus menschlichen Denkens und Sprechens, der für unser Fühlen, Wünschen, Wollen und Handeln von kaum zu überschätzender Bedeutung ist?3 Antworten darauf machen klar, warum sich die zeitgenössische Psychologie mittlerweile so eingehend mit Narrationen befasst (hat) – und wieso diese Beschäftigung auch in einem Handbuch für qualitative Methoden ihren Platz haben muss.

3.1

Was ist eine Erzählung?

„Erzählung“ und „Narration“ können den Akt des Erzählens und/oder die dabei gebildete „Geschichte“ meinen (im Sinne von Fabel, story, plot, intrigue, wovon der Kollektivsingular „die Geschichte“ – im Sinne der Historie oder Biografie – als Gesamtheit bestimmter Geschehnisse oder Ereignisse abgegrenzt ist; Straub 1998). Vorschläge zur begrifflichen Bestimmung von Erzählungen gibt es viele (z. B. Koschorke 2012; Lucius-Hoene und Deppermann 2002). Im Folgenden werden einige wichtige Merkmale einer Erzählung angeführt. Dabei wird ein elementarer Prototyp skizziert, der als Ausgangspunkt für ein flexibles und kontextsensitives Verständnis dienen kann. Erzählungen entfalten Ereignis- und Handlungsverläufe. Handlungen menschlicher Protagonist/innen, aber auch andere Ereignisse, werden dabei in einer symbolischen und zeitlichen Ordnung dargestellt. Sie folgen nicht unverbunden aufeinander (wie in einer Chronik; White 1990 [1987]), sondern stehen untereinander in vielfachen Beziehungen (z. B. kausalen, funktionalen, argumentativen, korrelativen, assoziativen, konnotativen), die ihnen je spezifische Bedeutungen verleihen. Eine Erzählung oder Geschichte lässt sich in größere Untereinheiten zergliedern, in jedem Fall in Anfang, Mitte und Ende (eine differenzierte Gliederung bietet Kochinka 2001). Die Erzählung erhält ihre spezifische Struktur oder Form, aber auch ihre Dynamik, durch den „Plot“. Dieser bestimmt, welche Rolle Ereignisse im Rahmen einer Erzählung spielen, welche Bedeutung ihnen in ihr zugeschrieben werden kann – ob sie aus der Perspektive des oder der Handelnden beispielsweise als Störung, Hindernis oder Glücksfall gelten. Der Plot legt nicht zuletzt fest, auf welchen Endpunkt die Erzählung zuläuft. Zentrale, psychologisch besonders wichtige Bestandteile eines Plots sind die Versuche eines oder mehrerer Akteure, Intentionen oder Absichten zu verwirklichen, also Ziele oder Zwecke unter den jeweils gegebenen, situativen und kontingenten Bedingungen durch geeignete Handlungen zu erreichen, sowie die Ergebnisse und Folgen dieser Handlungen. Narrationen sind mit Motiven, Wünschen, Sehnsüchten und Bestrebungen sowie dem Gelingen oder Scheitern menschlichen Handelns befasst (Bruner 1990). Eine Geschichte schildert häufig ein Hindernis zwischen einem Ausgangs- und einem Zielzustand, sodass per Definition ein Problem vorliegt (eine Komplikation oder Krise, ein Plan-Bruch etc.). Man hat es demnach nicht mit einer Geschichte zu 3

Ausführlicher wurden diese Fragen in anderen Arbeiten bearbeitet, aus denen hier ein paar Formulierungen übernommen werden (z. B. Echterhoff und Straub 2003, 2004).

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tun, wenn ein Anfangszustand bloß durch einen natürlichen, zwangsläufigen oder gewohnten Gang der Dinge in einen Endzustand übergeht, wie beispielsweise in der Ereignisfolge „Sokrates wurde geboren, er führte sein Leben und starb schließlich.“ Dabei handelt es sich allenfalls um eine narrative Abbreviatur, die auf Erzählenswertes und Erzählungen verweist, ohne selbst schon eine Narration zu sein. Die Komplikation wird in der Regel durch ein kontingentes, unerwartetes und oft unvorhersehbares Ereignis hervorgerufen, ein destabilisierendes Element, das den beteiligten Protagonist/innen eine Reaktion zum Zweck der Realisierung ihrer Intentionen oder Wünsche abverlangt. Labov und Waletzky (1967) haben frühzeitig eine idealtypische Struktur erzählter Geschichten in Gestalt einer von ihnen so genannten narrativen „Normalform“ formuliert. Ihre formale linguistische Analyse der Strukturebenen, Elemente und Erzeugungsregeln von Narrationen ergab folgende Phasen einer Erzählung: 1. Orientierung (Einleitung und Informationen zum Setting, bestehend aus Angaben zu Personen, Ort, Zeit und Situation), 2. Komplikation (Problem, Barriere zur Zielerreichung, Handlungsmotivation), 3. Evaluation (Bedeutungsstiftung durch Perspektiveinnahme oder Betroffenheit), 4. Auflösung (Ergebnis der Handlungen, Rückwirkung auf Problemstellung) und 5. Coda (abschließende Bemerkungen, Perspektivwechsel von der Ereignisfolge hin zur Gegenwart). Weitere empirische Untersuchungen haben jedoch deutliche Abweichungen von der postulierten Normalform ergeben. Dennoch waren Labovs und Waletzkys Arbeiten maßgeblich für die Entwicklung differenzierter Geschichtengrammatiken (vor allem in der Linguistik) und Geschichtenschemata (vor allem in der kognitiven Psychologie) (z. B. Mandler 1984; zum Überblick wiederum Echterhoff und Straub 2003, 2004; s. auch Fludernik und Ryan 2018). Die Komplikation oder Krise behielt in fast allen erzähltheoretischen Modellen ihre herausragende (nicht zuletzt psychologische) Bedeutung. Das krisenhafte, komplizierende, destabilisierende Ereignis erzeugt Spannung und Unsicherheit und hat dadurch häufig eine affektiv-emotionale Wirkung; es kondensiert die Sinnstiftungsbemühungen von Erzähler/innen und Rezipient/innen. Viele Modelle zur Geschichtenstruktur betrachten die Komplikation als dynamisch-dramatischen Scheitel- oder Höhepunkt (highpoint), von dem ausgehend sich das gesamte Erzählpotenzial entfalten lässt. Aus demselben Fundus bekannter Ereignisse können durch unterschiedliche emplotments verschiedene Erzählungen entstehen (z. B. Komödien, Tragödien, Romanzen und Satiren; Boothe [1992, S. 13–15] differenziert die Spannungsorganisation formal als Klimax oder Antiklimax, restitutio ad integrum nach einer Desintegration oder nach einer Klimax, als Approbation, Frustration, Chance, Antichance oder Enigma). Bereits die skizzierte (struktur-)theoretische Vorstellung einer prototypischen Erzählung macht klar, warum Erzählanalysen als via regia speziell der psychologischen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung gelten dürfen. Diese Einsicht lässt sich präzisieren, indem einzelne (mögliche) Funktionen des Erzählens unter die Lupe genommen werden. Durch die Identifikation wesentlicher Funktionen wird nicht

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zuletzt auf wichtige Fragestellungen einer erzähltheoretisch fundierten Psychologie hingewiesen, die sich vorrangig qualitativer Methoden bedient.

3.2

Funktionen des Erzählens

Das Erzählen von Geschichten kann psychischen, kommunikativen, sozialen und kulturellen Funktionen dienen. Auf alle diese Funktionen können qualitative Erzählanalysen ihr Augenmerk richten. Manche von ihnen wurden bereits genannt. Das gilt gleich für die ersten beiden: 1. Temporalisierung und Dramatisierung der menschlichen Welt; 2. narrative Konstitution von Sinn und Bedeutung, Erzählen als Praxis des meaning making; 3. Kontingenzbearbeitung: In einer Zeitlichkeit entwerfenden und selbst der Zeit unterworfenen narrativen Ordnung dreht sich vieles, oft das Wesentliche, um den Einbruch von Kontingenz in die Welt des Menschen. Das Erzählen macht es möglich, Kontingenz, mithin den Zufall, zu thematisieren und zu bearbeiten, zugleich aber zu transformieren und zu reduzieren. Das heißt allerdings nicht, die Erzählung diene lediglich der Kontingenz- und Komplexitätsreduktion. Sie schafft womöglich erst einmal jenes Kontingenzgefühl und Kontingenzbewusstsein, an dem sie sich sogleich abarbeitet. Die Erzählung macht aus der „wilden“, „irrationalen“ Kontingenz auf der Ebene des unentwegt Geschehenden eine narrativ „geregelte“, „intellegible“, in nunmehr bestimmter Weise sinnhafte und bedeutungsvolle Angelegenheit. Damit wird der Zufall auf sprachsymbolischer Ebene, ohne auf ein Gesetz oder eine Regel zurückgeführt worden zu sein, selbst zum Bestandteil einer geregelten, eben narrativen Struktur und in dieser Form psychisch verarbeitbar; 4. allgemeine psychische Funktionen: • Steuerung und Strukturierung der Wahrnehmung bzw. Rezeption beliebiger Ereignisse (auch im Rahmen des Sprach- und Textverstehens); • Denken und Urteilen: Erzählen stiftet Einsicht, es verkörpert eine besondere, eben narrative Intelligenz und phronetische Vernunft (Straub 1998, S. 151–153). Narratives Denken schafft eine wichtige kognitive Grundlage für die Orientierungsbildung in einer von Kontingenz durchsetzten Praxis. Die erzählerische Repräsentation und Integration von Sachverhalten kann der Einschätzung von Situationen und Problemen dienen, moralische Urteile und praktische Orientierungen begründen. Erzählungen helfen auch bei der Einschätzung und Beurteilung anderer Personen und bei Attributionen im sozialen Kontext; • Gedächtnis und Erinnerung: Die Frage der „Speicherung“ und Bewahrung vergangener Erfahrungen (allgemeiner: die Gedächtnis- und Erinnerungsfunktion narrativer Strukturen und Praktiken) steht seit Bartletts (1932) wegweisenden Studien mit im Zentrum der narrativen Psychologie. Die Einsicht in die erzählerische Gestaltung von Erinnerungen in Gesprächen bzw. im sozialen

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Kontext geht einher mit der in jüngerer Zeit stärker beachteten Kokonstruktivität oder Kommunikativität des Erinnerns; Motivation und persönliche Ziele: Motive lösen die (unbewusste) Bereitschaft aus, Handlungen auszuführen, die Individuen bestimmten (zumeist positiv bewerteten) Zielzuständen näher bringen. Auch das Erzählen von Geschichten kann als ein motivierender Schritt bzw. als „Mittel“ zur Erreichung von Zielen dienen. Die einschlägige Forschung hat sich nicht zuletzt mit spezifischen Motiven beschäftigt, aus denen Menschen erzählen und (ihrerseits motivierende) Geschichten bilden; Emotion und Affekt: Die Produktion und Rezeption von Erzählungen können eine breite Palette von emotionalen Funktionen erfüllen (man denke etwa an Gefühle der Erleichterung, an die Entlastung von Schuld oder Scham, den Abbau von Angst oder Furcht, an Vertrauensbildung). Es liegt auf der Hand, dass dem Erzählen in der klinischen Literatur auch eine hilfreiche oder heilende, therapeutische Wirkung zugesprochen wird (Boothe 2010; Boothe und Straub 2002). Es kann jedoch auch zu belastenden Retraumatisierungen führen, sodass das Geschichtenerzählen sicherlich nicht als universell einsetzbares Therapeutikum gelten darf; Identitätsbildung und Identitätspräsentation: Diese Funktion schließt viele der oben genannten ein. Die Identität einer Person geht keineswegs vollständig in erzählten (Selbst-)Geschichten auf, gibt es doch auch andere Modi der Identitätsbildung und -präsentation (z. B. Bilder). Die zeitliche Dimension personaler Identität ist jedoch unweigerlich an das Erzählen von Geschichten gebunden – selbst dort, wo „Zeit“ suspendiert, aufgelöst und transzendiert, dekonstruiert oder destruiert wird und sich das Erzählen mitunter erheblich ändert, etwa durch die Vermengung von Genres oder die Einbindung ikonischen Materials wie Fotos (Brockmeier 2015, S. 257–259, 285–287). Diese sprachliche Praxis ist der bis heute am besten untersuchte Modus einer auf Kontinuität und Identität zielenden Synthese temporaler, lebensgeschichtlicher Differenz (Brockmeier und Carbaugh 2001; McAdams 1993). Dabei implizieren die Begriffe „Kontinuität“ und „Identität“ keinerlei bleibendes Substrat oder gar die „Behauptung eines angeblich unwandelbaren Kerns der Persönlichkeit“ (Ricœur 1996 [1990], S. 11), weshalb „Kontinuität“ – gegen alltagsweltliche Gebrauchsweisen des Wortes, also kontraintuitiv – von Konstanz und ohnehin von Kohärenz und Konsistenz zu unterscheiden ist (Straub 2004; Grundzüge dieser Identitätstheorie werden dargestellt in Straub 2016, S. 139–166 sowie Straub 2019). Selbst-Erzählungen sind Artikulationen einer ersehnten Identität, ohne die Frage, wer jemand (geworden) ist und sein möchte, jemals definitiv beantworten zu können (und manchmal auch in aller Vorläufigkeit eher schlecht als recht). Die Beschäftigung mit Selbst-Erzählungen markiert nicht zuletzt eine (bleibende) methodische Herausforderung der (qualitativen) empirischen Erzähl- und Identitätsforschung (Lucius-Hoene 2010); Erwerb narrativer Kompetenz (durch die sukzessive Rezeption/Produktion von Geschichten): Dazu liegen zahlreiche Arbeiten vor (z. B. Boueke et al. 1995; Habermas und Bluck 2000). Narrative Kompetenz, die zur Konstruktion

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einer Lebensgeschichte und narrativen Identität erforderlich ist, trägt nicht zuletzt zur Entwicklung von anderen Fähigkeiten bei, etwa der moralischen Urteilskompetenz oder der Kommunikationsfähigkeit; 5. kommunikative und sozial-interaktive Funktionen des Erzählens: Diesbezüglich lassen sich im Anschluss an Quasthoff (2001) die inhaltsbasierten Funktionen, die sich in den kommunikativen und pragmatischen Wirkungen des Erzählten zeigen, von den formbasierten Funktionen unterscheiden, die jenseits der erzählten Inhalte das sozial-interaktive Beziehungsfeld prägen, im Einzelnen: • kommunikative, rhetorische und pragmatische Wirkungen auf die Adressat/ innen: Informieren, Überzeugen, Überreden (z. B. Seitz 2003, der Ansatzpunkte einer auf solche Wirkungen zugeschnittenen Zuhörer/innenpsychologie skizziert); • sozial-interaktive und phatische Funktionen: solche adressat/innenbezogene Funktionen des Erzählens zielen auf die Herstellung oder Gestaltung einer sozialen Beziehung zwischen Produzent/innen und Rezipient/innen, wobei bereits der Vorgang des Erzählens selbst z. B. der Steigerung des Ansehens der/des Erzählenden sowie der Stiftung oder Veränderung anders charakterisierter sozialer Beziehungen dienen kann; • Erzählungen und Geschichten verkörpern Angebote an die Adressat/innen, sich auf eine gemeinsame soziale Realität einzulassen und weiterhin an der Kokonstruktion einer interaktiv validierten Realitätssicht teilzuhaben, in deren Rahmen sie ihre künftigen Wahrnehmungen, Urteile und Handlungen koordinieren können; • das Erzählen kann nicht zuletzt zur sozialen Integration beitragen und Gemeinschaft stiften (sowie andere psychosoziale Funktionen in Gruppen erfüllen: Joas 2014). Interaktives Erzählen ist – z. B. in Kontexten interkultureller Kommunikation – womöglich auch ein geeignetes Mittel, um Gesprächspartner/innen in die Schaffung einer zwar gemeinsamen, dabei aber Differenzen artikulierenden, bewahrenden und zugleich durch wechselseitige Anerkennung überbrückenden Welt zu verwickeln.

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Erzähltheoretische Überlegungen haben in den letzten Jahrzehnten ein weites Spektrum an produktiven Perspektiven und Fragestellungen eröffnet. Höchst vielfältige empirische Forschungen haben in kurzer Zeit eindrucksvolle Fortschritte speziell im Feld der narrativen Psychologie erbracht. Vieles wäre ohne den Einsatz qualitativer Methoden, insbesondere die Entwicklung narrativer Erhebungstechniken und erzählanalytischer Auswertungsverfahren, nicht möglich gewesen. Es ist offenkundig, dass diese erfreuliche Geschichte heute noch nicht zu Ende erzählt werden kann. Narrative Ansätze haben wesentlich dazu beigetragen, dass auch in der wissenschaftlichen Psychologie die lebensweltliche Handlungs- und Lebenspraxis sowie damit verwobene psychische Strukturen und Funktionen heute so intensiv erforscht

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werden wie nie zuvor – und zwar auf einem noch vor wenigen Jahrzehnten kaum zu erahnenden Niveau. Die heute vorhandenen theoretischen und methodischen Instrumente sind hoch entwickelt. Sie eignen sich nicht zuletzt in hervorragender Weise dazu, empirische Forschungen (auch) aus der emischen Perspektive zu betreiben, also die Welt- und Selbstverständnisse handelnder und von Widerfahrnissen betroffener, bisweilen leidender Personen (sowie Gruppen jedweder Art) einzubeziehen. In einmaliger Weise berücksichtigen narrative Ansätze die zeitliche Dimension kultureller, sozialer und psychischer Phänomene. Begrüßenswert ist außerdem die oftmals enge Verflechtung grundlagentheoretischer und anwendungsorientierter Forschungen sowie psychologischer Praxisfelder (z. B. in der narrativen Psychotherapie; Boothe 2010; Freedman und Combs 1996; Scheidt et al. 2015). Viele diese Stärken narrativer Ansätze verdanken sich nicht zuletzt ihrer außerordentlichen interdisziplinären und internationalen Vernetzung. Keines der in diesem Beitrag erwähnten Forschungsgebiete ist heute bereits „abgegrast“. Die Entwicklung narrativer Forschungsmethoden – vor allem von qualitativen Auswertungsverfahren – ist in der Psychologie noch immer voll im Gang. Zahlreiche extrem komplexe Themenfelder – wie z. B. die „Entwicklung narrativer Kompetenz“, „Identität und Narrativität“, „Erzählung, Erinnerung und Gedächtnis“, „kulturelle Formen der (Selbst-)Erzählung“, „autobiografisches Bewusstsein und Geschichtsbewusstsein“, „Erzählung und Trauma“, „Narration und Emotion/Motivation“, „Erzählung und Gemeinschaftsbildung“, „Narrationen zwischen Fakten, Fiktionen und Täuschungen“ – bieten zahllose Möglichkeiten für weiterhin innovative Forschungen. Ein noch lange bleibendes Desiderat stellt auch die Herausforderung dar, psychologische Ansätze noch stärker auf die Beiträge aus anderen Disziplinen und auf neue Perspektiven zu beziehen. So ließe sich die ohnehin interdisziplinäre Struktur der theoretischen, methodologischen und empirischen Narratologie oder Erzählforschung festigen und auch in der Psychologie weiter fruchtbar machen. Naheliegend sind etwa noch intensivere und systematischere Auseinandersetzungen mit sog. „postklassischen“ Erzähltheorien, die (bei Nünning und Nünning 2002) etwa in Gestalt feministischen Denkens, kulturgeschichtlicher Perspektiven, der postkolonialen Erzähltheorie und pragmatischen Narratologie oder der postmodernen/poststrukturalistischen (Dekonstruktion der) Narratologie auf die Bühne der Gegenwart treten. Eine ganz besondere Herausforderung stellt – nicht zuletzt angesichts der „Sprachzentriertheit“ und „Textlastigkeit“ der qualitativen Forschung auch in der (narrativen) Psychologie – nicht zuletzt die Verbindung erzähltheoretischer Perspektiven sowie erzählanalytischer Verfahren mit bildtheoretischen Ansätzen sowie dem methodischen Bemühen dar, Bilder (aller Art: gezeichnete und gemalte, Fotos, Videos und Filme sowie weiteres ikonisches Material) zu interpretieren und zu verstehen. Es darf heute als konsensfähige Einsicht gelten, dass Erzählungen Bilder evozieren und Bilder zum Erzählen anregen – und beides, narrative und ikonische Weisen der Welterzeugung, aufs engste miteinander verflochten sind. Das gilt zwar nicht allein, aber ganz besonders und auf eigene, bedenkenswerte Art für die Welt- und Selbst(re)präsentationen in digitalen sozialen Medien sowie anderen Foren und Arenen des WorldWideWeb.

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Handlungstheorie Jürgen Straub

Inhalt 1 Entstehungsgeschichte, historische Bedeutung und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktueller Stellenwert, wichtige Themen, zentrale Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Wichtige Stationen und Typen handlungstheoretischen Denkens (vor allem in der Psychologie) werden dargestellt. Das Hauptaugenmerk des Beitrags liegt auf einer sozial- und kulturtheoretischen Bestimmung des Handlungsbegriffs sowie einer Differenzierung von Handlungstypen und Formen der hermeneutischen Handlungserklärung. Solche verstehenden Erklärungen können sich im Rahmen des intentionalistischen Modells, des Modells regelhaften Handelns und schließlich des narrativen Modells bewegen (das der Zeitlichkeit und Kreativität menschlichen Handelns in einzigartiger Weise Rechnung trägt). Diese dreigliedrige Typologie sprengt die in der Psychologie gängige Reduktion handlungstheoretischen Denkens auf das Konzept des ziel- oder zweckgerichteten Handelns. Sie betont die prinzipielle Polyvalenz unseres Handelns und trägt der für die Entwicklung qualitativer (verstehender, interpretativer, rekonstruktiver) Forschungsmethoden so wichtigen Einsicht Rechnung, dass hermeneutische Handlungserklärungen verschiedene Wege einschlagen und Verfahren anwenden können.

J. Straub (*) Fakultät für Sozialwissenschaft, Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, RuhrUniversität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_3

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Schlüsselwörter

Handlung/Handlungstheorie · Handlungstypen · Bedeutung · Polyvalenz · Verstehen · Erklärung · Hermeneutik · Pragmatismus · Intention · Regel · Erzählung/Narration

1

Entstehungsgeschichte, historische Bedeutung und disziplinäre Einordnung

Handlungstheorien sind so alt wie die europäische Philosophie und Wissenschaft (Aristoteles 1983 [1139ab22-b 5], S. 155). Aristoteles stellte seine einschlägigen, noch immer einflussreichen Überlegungen im Kontext der philosophischen Anthropologie und Ethik an. Wesentliche Elemente seiner Definition – allen voran die mit dem ziel- bzw. zweckgerichteten Handeln intentionaler, reflexiver Subjekte verbundene Wahl- und Entscheidungsfreiheit – sind bis heute aktuell. Das gilt ebenso für Aristoteles’ Unterscheidung zwischen praxis (πράξιϛ, griechisch: Handeln, Tun, Tätigkeit, Handlung, Tat u. a.) und poiesis (ποίησις, Tun, Machen, Hervorbringen, Herstellen, Anfertigen u. a.), durch die er einen weiten Begriff symbolisch-kommunikativer Praxis vor der Reduktion auf poietisches, herstellendes Handeln im Sinne eines technischen Vorgangs bewahrte (Werbik 1985). Die wichtigste Quelle handlungstheoretischen Denkens im 20. Jahrhundert stellt der amerikanische Pragmatismus dar (Joas 1992a). In den einschlägigen Schriften von Charles Sanders Peirce, John Dewey, William James und George Herbert Mead wird die theoretische Aufmerksamkeit auf das symbolisch vermittelte Handeln gerichtet. Wie insbesondere Mead darlegte, ist das Handeln in Interaktionszusammenhänge eingebettet, in der die – immer voraussetzungsvollere – Verwendung von Gebärden und signifikanten Gesten und schließlich der Sprache die entscheidende Rolle spielt. Handlungsfähige Personen reagieren nicht unmittelbar und nicht notwendigerweise so oder so auf (externe oder interne, aus der Umwelt kommende oder im Organismus entstehende) „Reize“. Handlungen sind keine Wirkungen determinierender Ursachen, sondern haben Gründe (und Hintergründe), die analysiert und verstanden werden können. (Hinter-)Gründe konstituieren Sinn und Bedeutung. Qualitative, rekonstruktive oder interpretative Forschungen stehen vor der Aufgabe, mögliche und tatsächlich maßgebliche (Hinter-)Gründe von Handlungen zu untersuchen. Sie stützen sich dabei auf mehr oder weniger elaborierte Theorien und Methodologien des methodisch kontrollierten Fremdverstehens. Der Handlungsbegriff impliziert notwendigerweise die Aufgabe des Verstehens (Sichler 2010; Straub 1999, 2006). Die Vertreter/innen des Pragmatismus grenzen sehr systematisch nicht allein das symbolisch vermittelte Handeln vom rein reaktiven (und auch vom instinktiven) Verhalten ab. Sie schaffen überdies in innovativer Weise Raum für ein theoretisches Denken, das den Handlungsbegriff von seinen überlieferten, noch heute wirkmächtigen Engführungen (vor allem) auf zielgerichtetes und zweckrationales Handeln befreit. Hans Joas (1992b; dazu Straub 1992a, 1999) hat dargelegt, dass die gängigen

Handlungstheorie

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Vorstellungen sowohl im Sinne des intentionalistischen oder teleologischen Rationalmodells, als auch des regelorientierten bzw. normativen Modells im Pragmatismus in eine differenziertere, komplexere Handlungstheorie integriert sind (s. Abschn. 3.3). In dieser Theorie steht die Kreativität des Handelns mit im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Übrigen sind es wiederum vornehmlich pragmatistische und von dieser Strömung beeinflusste Autorinnen und Autoren, die den für die moderne Psychologie so typischen Individuozentrismus überwinden und jedes Handeln stets auch vom geschichtlichen, kulturellen, sozialen und konkret-situativen Kontext her auffassen, in dem Akteure ihr wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln entwerfen, vollziehen und koordinieren. In manchen Punkten ähnlich dachten die hier lediglich erwähnten Vertreter der sog. Kulturhistorischen Schule der russischen Psychologie – Lev Vygotskij, Alekseij Leont’ev und Aleksandr Lurija (Kölbl 2006) –, deren praxis- bzw. tätigkeitstheoretischer Ansatz nicht nur für die heutige Kulturpsychologie (s. Boesch und Straub 2007; Straub und Chakkarath 2010), sondern auch für psychologische Handlungstheorien (z. B. Holzkamp 1983) von Bedeutung ist. Der Pragmatismus geht stringent vom Prinzip einer primären Sozialität und Kulturalität menschlichen Handelns aus und bettet dieses in dynamische Verhältnisse praktischer Intersubjektivität ein (Habermas 1988; Joas 1980; Straub 1989, S. 36–43), ohne die mögliche Individualität von Handlungen und Personen zu verkennen.1 Die gleichzeitige Beachtung der sozio-kulturellen Konstitution der Person – ihres zeitlebens veränderlichen, sich entwickelnden Selbst bzw. ihrer Identität – und ihrer Individualität im Sinne der Einzigartigkeit und Unberechenbarkeit einer durch keinerlei kulturelle oder soziale Strukturen und Prozesse völlig festgelegten agency trägt zu einer bis heute ungebrochenen Attraktivität dieses Ansatzes bei. Meads Handlungstheorie (Mead 1968 [1934]) ist, wie der gesamte Pragmatismus, anticartesianisch. Geist und Bewusstsein sind Errungenschaften einer Lebensform, die keine Monaden kennt, sondern leibliche Menschen, die an Sprachspielen (sensu Wittgenstein 1984; s. dazu Schulte 1989) teilzuhaben lernen und in Geschichten verstrickt sind, in denen stets auch (signifikante) Andere wichtige Rollen spielen und unweigerlich Teile des eigenen Selbst werden. In der Psychologie wurde das Erbe des Pragmatismus nur vereinzelt zur Kenntnis genommen und als Grundlage einer handlungstheoretisch orientierten Forschung ausgewiesen (Straub 1989, 1999). Die direkten Quellen der psychologischen Handlungstheorien des 20. Jahrhunderts liegen anderswo: Diese Theorien, die in seinerzeit kaum wahrgenommenen Ausnahmefällen bereits in den 1950er-Jahren Gestalt annahmen (Boesch 1983, 1988, der an Pierre Janet, Kurt Lewin u. a. anknüpft), im großen Stil jedoch erst seit den 1970er-Jahren Verbreitung fanden (etwa Boesch

1

Dies wird nicht zuletzt in Meads berühmt gewordener Theorie des Selbst (Mead 1968 [1934]) deutlich (ohne die seine Handlungs-, Kommunikations- bzw. Interaktionstheorie nur unzureichend zu begreifen ist). Mead bestimmte das Self als eine temporale und dynamische, fragile und dennoch integrative Struktur, die in sich differenziert ist. Wir haben es hier mit dem Musterbeispiel einer Theorie zu tun, die die partiell autonome Person und deren agency als permanente (psychische) Synthesis des Heterogenen konzeptualisiert (Joas 1980; Ricœur 1996 [1990]; Straub 1989, S. 34–43, 2004, 2016, S. 139–166, 2019).

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1980; Cranach und Harré 1982; Cranach und Tschan 1997; Gauld und Shotter 1977; Straub et al. 2020; Werbik 1978), waren im Wesentlichen eine Folgeerscheinung der „halbherzigen“ kognitiven Wende der 1960er-Jahre. Dies plausibilisiert eindrücklich ein Rückblick Jerome Bruners (1990a, b; dazu Straub 1992b; Marsico 2015). Bruner, der selbst maßgeblich an der cognitive revolution beteiligt war, berichtet, dass sich eine Gruppe erfinderischer Köpfe bereits in den 1950er-Jahren in radikaler Weise vom behavioristischen Programm verabschieden wollte. Man hielt, wie früher, mentale Termini (wie Wunsch, Intention, Absicht, Plan etc.) für unabdingbar, sobald es um angemessene psychologische Beschreibungen und Erklärungen spezifisch menschlichen Erlebens und Handelns gehen sollte. Anders als es Bruner und einige Mitstreiter/innen von Anfang an im Sinn hatten, führte die kognitive Wende allerdings keineswegs zu einer am alltäglichen Erleben und Handeln interessierten, sozial- und kulturtheoretisch ausgerichteten Psychologie. Sie brachte vielmehr einen informationstheoretisch verengten „Computationalismus“ hervor, der den human mind nur so weit erforschen konnte, wie es die computationalen Modelle eben erlaubten (im Prinzip und je nach ihrem aktuellen technischen Entwicklungsstand; Zielke 2004). Die kulturelle und soziale Praxis sowie das individuelle Tun und Lassen handlungsfähiger Personen blieb weitgehend außen vor. Es lag auf der Hand, dass aus der Enge der (experimentellen) kognitiven Psychologie – die selbst die Sozialpsychologie in eine Ansammlung von „individuozentrischen“ social cognition approaches verwandelte – nur eine neue, insbesondere eine dezidiert handlungstheoretische Ausrichtung der Psychologie würde herausführen können. Man wollte die alltägliche Handlungs- und Lebenspraxis ganz gewöhnlicher Leute studieren, deren sinnhaftes und bedeutungsvolles Erleben, Tun und Lassen. Nichts von all dem, was Menschen umtreibt und beschäftigt, sollte fortan ausgelassen werden. Die Handlungstheorie sollte dabei im Rahmen einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Psychologie platziert werden. Praxis und Sprache sowie andere symbolische Formen wurden die Leitbegriffe für die methodisch vielfältigen Analysen von acts of meaning (Bruner 1990b) und (informellen oder institutionalisierten) pragma-semantischen Netzwerken (Straub 2010a; Weidemann 2009).2 Bruner und einige andere schlugen einen solchen Weg ein und erarbeiteten jene „soziozentrischen“ Ansätze, die heute in vielerlei Varianten verfügbar sind (Winter 2

Darin kann man im Rückblick eine verbreitete Tendenz in den zunächst individuozentrischen Kognitionswissenschaften sehen (Varela 1990; dazu Straub 1992c). – Es ist unschwer zu erkennen, dass sich in der heute dominierenden neurowissenschaftlichen Ausrichtung der Psychologie etwas wiederholt, was die Kognitionswissenschaften als eigenen Irrtum eingesehen haben. Zwar ist in den neurosciences längst anerkannt, dass Kultur, Gesellschaft und andere Dimensionen des Sozialen schon deswegen nicht vernachlässigt werden dürfen, weil sie die Entwicklung des (für alles Erleben und Verhalten des Menschen „maßgeblichen“) Gehirns mitbestimmen. Sie verkennen jedoch, dass wissenschaftliche Erklärungen der Handlungs- und Lebenspraxis des sprachbegabten Tiers unweigerlich eines theoretischen Vokabulars bedürfen, mit dem sich pragmatische und semantische Sachverhalte und deren dynamische Relationen angemessen artikulieren und analysieren lassen. Das lässt sich auch im Rahmen einer strikt neurowissenschaftlichen Terminologie natürlich nicht bewerkstelligen (Werbik und Benetka 2016).

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2010; Zielke 2004). Bruner selbst gilt, neben Boesch, seit Jahrzehnten als einer der bedeutendsten Repräsentanten einer handlungstheoretisch orientierten Kulturpsychologie – die ebenso gut als kulturtheoretisch fundierte Handlungspsychologie bezeichnet werden kann. Dieser Ansatz ist jedoch keineswegs die dominierende Variante im Feld der handlungstheoretisch ausgerichteten Psychologie. Psychologische Handlungstheorien entwickelten sich vielmehr meistens in den Bahnen einer theoretisch, methodologisch und methodisch noch stark vom Behaviorismus geprägten Wissenschaft. Der Behaviorismus war dabei lediglich die stärkste und einflussreichste Ausprägung eines „szientistischen“ Denkens, das gewisse Vorstellungen einer „objektiven Naturwissenschaft“ propagierte und für allgemein verbindlich hielt.

2

Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen

2.1

Zweierlei Richtungen

Obwohl sich psychologische Handlungstheorien von den Verhaltenstheorien behavioristischer Provenienz kritisch absetz(t)en (sowie von deren anthropologischen Vorannahmen und Implikationen; Groeben 1986; Groeben und Erb 1997; Groeben und Scheele 2010), teilen sie mit diesen doch so manche Überzeugungen und Orientierungen. Dazu gehören sehr häufig etwa • die theoretische Fokussierung des Individuums bei gleichzeitiger Ausblendung oder Marginalisierung des historischen, kulturellen und sozialen Kontexts sowie des situierten sowie interaktiven bzw. kommunikativen Charakters menschlichen Handelns, • das Interesse an einer vermeintlich universalen, kausalen Mechanik menschlichen Handelns (und seiner Bedingungen und Folgen), • die methodische Ausrichtung an (quasi-)experimentellen Untersuchungsdesigns, die – die Favorisierung vermeintlich „objektiver“ Verfahren impliziert und, komplementär dazu, – die Ausblendung der Subjektivität der Forschenden und deren Rolle im Forschungsprozess (und ggf. ebenso der Besonderheit eines Forschungsteams; Allert et al. 2014; Mruck und Mey 1998) sowie – die Ignoranz gegenüber der hermeneutischen Dimension psychologischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Schaut man sich gängige Handlungstheorien und korrespondierende empirische Forschungen in der Psychologie genauer an, lassen sich diese Punkte leicht entdecken. Kuhl und Waldmann (1985) haben, als der Aufstieg psychologischer (und anderer) Handlungstheorien bereits seinen Zenit erreicht hatte (Greve 1994; Lenk 1981, 1984), eine kritische Bilanz gezogen und vorgeschlagen, vom „Experimentieren mit Perspektiven“ doch endlich abzulassen und möglichst bald fruchtbare

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„Perspektiven fürs Experimentieren“ einzunehmen und forschungspraktisch umzusetzen. Sie beziehen sich dabei auf Ansätze, die sie selbst favorisieren. Im Rahmen der nomologisch-experimentellen Handlungspsychologie unterscheiden sie vier Theoriegruppen: • Analysen des molaren Handlungsstromes, die sich mit dem fortwährenden Wechsel und Ineinanderübergehen von (zielorientierten, zweckgerichteten) Handlungen befassen; • Analysen von Handlungsregulationsprozessen, die auf der Annahme basieren, dass sich Handlungen in einzelne Bestandteile zerlegen lassen, die als interne, weitgehend automatisierte und nicht-bewusste Teilaspekte für die kontrollierende und regulierende Strukturierung des (wiederum zielorientierten, zweckgerichteten) Handlungsvollzugs maßgeblich sind (man denke an Rückkoppelungsschleifen, wie sie aus kybernetischen Modellen bekannt sind); • Analysen von Selbstkontrollprozessen, die eine für die Ausführung ausgewählte Handlungstendenz gegen konkurrierende Alternativtendenzen „abschirmen“ (sodass es tatsächlich zum intendierten Handeln kommen kann); • entscheidungstheoretische Analysen der motivationalen Determinanten der Zielbildung. Kuhl und Waldmann (1985) unterscheiden sodann einzelne Ansätze (auch innerhalb einer Gruppe) anhand verschiedener Kriterien, die sich beziehen auf den „theoretische[n] Status der verwendeten Konstrukte (z. B. deskriptiv vs. erklärend), die formale Kohärenz der Annahmen, die Art der nahegelegten empirischen Überprüfung (z. B. Experiment, Protokollanalysen) und die (Art und Enge der) Beziehung zwischen den theoretischen Annahmen und den empirischen Überprüfungsmethoden“ (Kuhl und Waldmann 1985, S. 160). Im Folgenden werden die genannten Theoriegruppen und einzelne Forschungen, die den angeführten Hauptthemen gewidmet sind, nicht näher betrachtet. Sie wurden hier erwähnt, um an wesentliche thematische Interessen und Perspektiven der nomologisch-experimentellen Handlungspsychologie zu erinnern und die Art und Weise zu vergegenwärtigen, in der Handlungstheorien dort verwendet und geprüft werden (Heckhausen und Heckhausen 1985; Kuhl und Beckmann 1985). Diese (Teil-)Theorien beanspruchen allesamt, im Rahmen des experimentellen Paradigmas empirisch prüfbar zu sein. Auf diesem Weg des empirisch-experimentellen Tests von operationalisierten theoretischen Hypothesen soll unser Wissen über menschliches Handeln sukzessiv erweitert werden (wie schirmt ein Akteur eine Handlungstendenz erfolgreich gegen interferierende, störende Alternativen ab? Wie optimiert man Handlungsabläufe durch effiziente und schnelle Regulationsprozesse? Wie setzen sich Personen tatsächlich Handlungsziele, in einem Meer von möglichen Vorhaben? usw.). In Untersuchungen dieses Typs mögen hie und da zwar auch „qualitative“ Methoden Verwendung finden (z. B. Verfahren der Datenerhebung, die auf die Selbstbeobachtung und das „laute Denken“ von Personen setzen; dazu Konrad

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2010; bezüglich der Auswertungsmethodik denke man an Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse; Mayring 2000; Schreier 2014). Allerdings stößt man hier nirgendwo auf ein genuines Feld qualitativer Forschung. Letztlich sind die angestrebten Theorien nomologische Aussagensysteme, die auf quantitativen Analysen empirischer Daten beruhen (und insbesondere kausale bzw. korrelative Beziehungen identifizieren sollen). Das ist ganz anders in jenen Handlungstheorien, welche in methodischer Hinsicht konsequent an den Einsatz qualitativer, rekonstruktiver oder interpretativer Verfahren gekoppelt sind. Vertreter/innen dieser (bei Kuhl und Waldmann kaum wahrgenommenen) Gruppe bilden und testen ihre Theorien nicht nur auf andere Art und Weise – nämlich nicht im Rahmen experimenteller Settings unter möglichst standardisierten, kontrollierten und reproduzierbaren (Labor-)Bedingungen –, sondern weisen ihnen auch eine andere Funktion zu. (Selbst die interessierenden Themen und Fragestellungen verändern sich merklich; man lese einmal nach, womit sich Bruner z. B. 2002 oder Boesch z. B. 2005 beschäftigen; s. auch Lonner und Hayes 2006 oder die jüngste Einführung in die Handlungspsychologie von Kaiser und Werbik 2012.) Wenn im Rahmen hermeneutischer, semiotischer oder interpretativer Ansätze beispielsweise Überlegungen angestellt werden, die sich auf begriffliche Zusammenhänge z. B. zwischen „Handlung“ und „Wissen“, „Ziel“/„Zweck“ und „Mittel“ beziehen, tut dies niemand, um die theoretisch analysierten und ausgewiesenen Zusammenhänge empirisch auf ihre Triftigkeit zu prüfen. So fragt niemand (ernsthaft): Ist es tatsächlich wahr – empirisch zutreffend –, dass handelnde Personen Ziele zu erreichen oder Zwecke zu erlangen suchen? Selbstverständlich können Akteure mit ihrem Handeln (bestimmte) Ziele verfolgen (und ihr Handeln dabei als zweckdienliches Mittel begreifen, begründen, rechtfertigen etc.). Das gehört zur Pragma-Semantik des (intentionalen) Handelns. So ist der (intentionalistische) Handlungsbegriff definiert. Die angeführte Annahme hält der Alltagserfahrung stand. Sie bedarf keiner empirischen Prüfung. Sie bringt „lediglich“ zum Ausdruck, wie wir – in Lebenswelt und Wissenschaft – üblicherweise vom „Handeln“ und von „Handlungen“ sprechen. Solche Einsichten eröffnen grundlegende heuristische Perspektiven für die erfahrungswissenschaftliche, qualitativ-empirische Analyse konkreter Handlungen (Analysen von Zielbildungsprozessen, Entscheidungskonflikten usw.; exemplarisch: Weis 2013, wo es vor allem um komplexes Handeln und kollektives Entscheiden in Familien geht). Die theoretische Reflexion und Präzisierung des Handlungsbegriffs führt dabei womöglich zu Differenzierungen, die weit über das heuristische Potenzial des Begriffs intentionalen, zielorientierten oder zweckrationalen Handelns hinausgehen. Die empirisch-hermeneutische Forschung gelangt auf der Grundlage verfügbarer theoretischer Handlungsbegriffe auf erfahrungswissenschaftlichen Wegen zu Erkenntnissen, die etwas über den Zusammenhang zwischen bestimmten (Typen von) Handlungen und bestimmten (Typen von) Wissensbeständen aussagen (s. Abschn. 3.3). Sie nimmt die Einsicht in die symbolische, pragma-semantische Struktur allen Handelns ernst und rückt demgemäß die hermeneutische Problematik des Sinnverstehens ins Zentrum methodologischer Reflexion.

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2.2

J. Straub

Allgemeine Begriffsbestimmungen

Handlungsfähige Personen können bedenken und wählen, wie sie unter gegebenen Umständen auf die für sie bedeutsamen Aspekte einer Situation antworten. Im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten und offen stehenden Spielräume setzen reflexive Handlungssubjekte eigene Akzente (Waldenfels 1990a). Dazu müssen sie mehr oder minder komplexe Deutungs- bzw. Verstehensleistungen erbringen. Wer handelt, tut dies zwangsläufig auf der Grundlage eines – oft implizit bleibenden, routinierten und habitualisierten – Verständnisses der gegebenen (Rahmen-)Bedingungen und eigener Ressourcen. In jedem Fall ist menschliches Handeln hermeneutisch vermittelt. Wissenschaftliche Repräsentationen dieses Handelns sind demnach hermeneutische, interpretative Rekonstruktionen eines selbst schon in Deutungsund Verstehensleistungen begründeten Handelns (Giddens 1984). Handlungen sind sinn- und bedeutungsstrukturiert, sie schaffen Sinn und Bedeutung und sind selbst als acts of meaning (Bruner 1990b) zu konzeptualisieren. Sie stehen für eine theoretische Position, in der Personen „trotz“ ihrer primären Sozialität und Kulturalität als partiell autonome Subjekte aufgefasst werden können. Der Handlungsbegriff ist der theoretische Statthalter einer „Freiheit“ von Menschen, die in ihrer Fähigkeit, präsentative und sprachliche Symbole zu verwenden (Langer 1965), begründet ist, mithin in der vor allem in ihrer Sprachfähigkeit verwurzelten Begabung, sich von sich, ihrem Tun und Lassen distanzieren zu können. Dieses Vermögen der Abstandnahme ist die Voraussetzung für das, was gemeinhin Reflexionsfähigkeit und Handlungspotenzial genannt wird (Frankfurt 2007). Mit produktiven Handlungen nehmen Akteure Einfluss auf die Welt, einschließlich des eigenen Selbst, und verändern sie und sich; mit präventiven Handlungen beugen sie solchen (erwarteten, befürchteten) Veränderungen vor. Das eigene Selbst ist von den Handlungen eines Akteurs immer tangiert, die materielle, kulturelle oder soziale Welt ist es nicht unbedingt. Das Handeln führt zu einem bestimmten Ergebnis – der Handlung – und es zeitigt bestimmte interne und externe Folgen (und Nebenfolgen, intendierte oder unbeabsichtigte). Nicht nur die Wirkungen des Handelns können in Form der Innen- und Außendimension differenziert werden. Externe Wirkungen werden häufig Objektivationen genannt, interne Wirkungen können als Objektivierungen oder, dem „Objekt“ angemessener, als Subjektivierungen bezeichnet werden. Ein Tisch oder Maschinengewehr, eine Kirche oder Partitur sind Objektivationen menschlichen Handelns (und als solche mögliche Gegenstände der Artefaktanalyse; s. z. B. Lueger und Froschauer 2007). Aspekte des Selbst oder der Identität wie die Gelassenheit oder Selbstsicherheit einer Person können häufig als Subjektivierungen dechiffriert werden. Menschen schaffen sich zwar nicht selbst – vollkommen aus sich heraus, ganz aus eigenen Kräften, sie sind keine bloßen producer of his/her own development, wie dies etwa Lerner und Busch-Rossnagel (1981) programmatisch für die Entwicklungspsychologie formulierten. Sie sind aber auch nicht unbeteiligt, sobald es um das eigene Selbst und die personale Identität geht. Als handlungsfähige Subjekte gestalten sie diese mit. Sie haben ein Mitspracherecht in Fragen der eigenen Lebensführung. Entsprechend sind sie mitverantwortlich für das Subjekt, das sie (geworden) sind und sein werden.

Handlungstheorie

271

Nicht nur die Wirkungen können als extern oder intern klassifiziert werden – wobei Handlungen meistens beide Arten von Folgen nach sich ziehen –, sondern auch die Handlungen selbst. Neben externalen Handlungen – Holz hacken, ein Bild malen, jemanden küssen – kennen wir internale Handlungen, die der Beobachtung verschlossen bleiben. Denkhandlungen und viele Tätigkeiten unserer Fantasie und Imaginationskraft zählen dazu (sofern wir eine gewisse Kontrolle auf sie ausüben, sie gestalten können). Das gilt bekanntlich sogar für Tagträume (nicht jedoch für die Träume, die, wie Sigmund Freud [1968 (1900)] sagte, den Schlaf hüten und unser Bewusstsein ruhen lassen).3

3

Aktueller Stellenwert, wichtige Themen, zentrale Diskussionen

3.1

Handeln und Lassen

Nichts von dem, was bislang ausgeführt wurde, ist veraltet. Ich trage nun noch einige terminologische Unterscheidungen nach, die auf besonders aktuelle Debatten verweisen: Nicht zu handeln, wo man hätte handeln können oder sollen, ist nichts weiter als eine spezielle Form des Handelns. Wir sprechen gemeinhin von einer Unterlassung (etwa im Fall einer moralisch verwerflichen und/oder juristisch belangbaren „unterlassenen Hilfeleistung“). Von hier aus erstreckt sich ein in der psychologischen Theoriebildung noch weitgehend brach liegendes Feld. Es stellt sich nämlich, sobald man von Unterlassungen spricht, schnell die Frage, wie es denn in den verfügbaren Handlungstheorien um eine Haltung bestellt ist, die eher mit dem Lassen oder Sein-Lassen zu tun hat als mit dem produktiven und präventiven Handeln (im engeren Sinn). Zwar gibt es in der abendländischen Tradition – sowohl in religiösen bzw. theologischen als auch in philosophischen und literarischen Kontexten – reichliche Überlegungen zur Gelassenheit als einer (demütigen und zugleich vernünftigen) Haltung gegenüber dem Unverfügbaren. Gelassenheit empfiehlt sich, wo immer die Dinge beim besten Willen nicht zu ändern sind. Vom Lassen und Sein-Lassen ist jedoch eher wenig die Rede, sodass man sagen kann, dass Handlungstheorien eine aktivistische Schlagseite haben, die ein zentrales Merkmal der abendländischen Kultur bzw. des in ihr dominierenden Denkens widerspiegelt. Handlungstheorien sind häufig Bestandteile einer epistemischen Praxis, die auf Kontroll- und Verfügungsgewalt im Zeichen einer zweckrational verengten, instrumentellen bzw. strategischen Vernunft aus ist. Kritische Korrekturen an dieser Tradition nehmen jedoch solche Handlungstheorien vor, die Handlungstypen an verschiedene Formen einer in sich differenzierten Vernunft binden. Das ist etwa bei Jürgen Habermas (1981) der Fall, dessen Konzeption einer „mehrstimmigen 3

Zum besonderen Status von (an andere adressierten) sprachlichen Handlungen bzw. Sprechakten siehe Straub (1999, S. 34–36).

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Vernunft“ das instrumentelle Denken in seine Schranken verweist. Auch in der Psychologie finden sich rationalitätstheoretisch differenzierte Handlungstypologien (Aschenbach 1984). Radikaler noch als Habermas kritisiert Waldenfels (1990b, 1999) gewisse Engführungen, Einseitigkeiten und Reduktionismen überlieferter Handlungstheorien. Seine Phänomenologie geht mit jeder Form des überzogenen Aktivismus und Rationalismus ins Gericht und bietet oft komplexere, unserer Praxis angemessenere Möglichkeiten zu konzeptualisieren, was wir in Zwischen- und Übergangsfeldern, in denen unsere leibliche Vernunft ebenso zu Hause ist wie das vielfältige „Andere der Vernunft“, so alles tun und lassen, erleiden und zu Wege bringen. Die aktivistische und rationalistische Schlagseite der meisten Handlungstheorien (s. auch Straub und Weidemann 2015) wird im Übrigen besonders deutlich, wenn man den Blick in Kulturen schweifen lässt, die vor allem das Sein-Lassen bedenken und achten. Der (Zen-)Buddhismus bezieht seine Attraktivität in der westlichen Welt nicht zuletzt aus dieser ihm zugewiesenen kontrastiven Funktion, die das Selbst- und Weltverhältnis des „abendländischen“ Menschen und die spezifische Form der „aktivischen Vernünftigkeit“ zu hinterfragen, zu korrigieren und zu erweitern gestattet – ohne sie ganz zu verabschieden.

3.2

Handeln, Freiheit, Autonomie

Handlungen sind als Statthalter einer gewissen Freiheit und partiellen Autonomie des Menschen (Straub und Zielke 2005) das begriffliche Gegenstück zu Widerfahrnissen, also einem Geschehen oder Ereignis, das sich ohne Zutun und Verantwortung einer Person einstellt und von dem diese gleichwohl betroffen ist (in ihrem Erleben und Leben; Junge et al. 2008). Während uns Widerfahrnisse zustoßen – wie ein misslicher Unfall, ein glückliches Geschick oder ein sonstiges kritisches Lebensereignis –, vollziehen wir Handlungen proaktiv und selbsttätig. Widerfahrnisse werden erlitten, Handlungen ausgeführt (mitunter nach reiflicher Überlegung, komplizierten Entscheidungen und detaillierten Planungen). Handlungstheorien sollten idealiter im engeren Sinn praktische und pathetische Aspekte unserer Existenz integrieren (Straub 1999, S. 41–43). Im Normalfall handeln wir zwar unter Bedingungen aller Art – die unsere Möglichkeiten und Spielräume sowohl eröffnen als auch limitieren –, aber dennoch aus freien Stücken. Die Grenzen zwischen dieser Freiheit und Verhältnissen, die uns Zwang auferlegen oder zumindest unter Druck setzen, dies zu tun und jenes zu lassen, sind freilich fließend. Subtilere Handlungstheorien kennen im Übrigen auch widerfahrnisartige Momente im Handeln selbst. Und sie wissen, dass Widerfahrnisse ihrerseits in ihrer Qualität und Wirksamkeit von Wahrnehmungen, mithin von Deutungs- und Verstehensleistungen der Betroffenen abhängig sind, die Handlungscharakter haben (Straub 1999, S. 41–43). Die Aktualität von (psychologischen) Handlungstheorien besteht nicht zuletzt darin, dass sie jenseits der Alternative deterministischer Konzeptionen radikaler Heteronomie (wie sie etwa der Behaviorismus oder neurowissenschaftliche Ansätze vertreten) einerseits, idealistischen

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Vorstellungen des „starken Subjekts“ andererseits (Straub 2002, 2010b) denken und komplexere Modelle vorschlagen. Theo Herrmann (1987) hat übrigens zu Recht darauf hingewiesen, dass Handlungstheorien wegen ihrer ontologischen und anthropologischen Voraussetzungen – ihres logisch implizierten Welt- und Menschenbildes – mit einigen, den nomologischen Wissenschaften zugrunde liegenden Ideen unvereinbar sind. Wer glaubt, das menschliche Handeln sei wie beliebige sonstige Ereignisse erklärbar – also im Sinne der bedingungsanalytischen Subsumtionstheorie der Erklärung auf deterministisch formulierbare (Natur-)Gesetze zurückzuführen –, braucht sich mit Spielräumen des Handelns, mit Freiheit, Würde und Verantwortung nicht weiter aufzuhalten (Holzkamp 1986). Uwe Laucken geht mit guten Gründen davon aus, dass der „Seinsentwurf der Bedingungsanalyse [. . .] mit dem Seinsentwurf, der Handlungstheorien ihrer logischen Voraussetzung nach möglich macht, unverträglich ist. Eine Handlung ist nicht bestimmbar als raum-zeitliche Ereigniseinheit, sondern nur als passende Verweisungseinheit einer stimmigen Verweisungskonfiguration.“ (Laucken 1989, S. 188–189)

Dazu bedarf es der Deutung oder Interpretation. Handlungen werden verstehend identifiziert, beschrieben und erklärt. Das kann allerdings in verschiedenen, gleichermaßen präzise explizierbaren Formen bewerkstelligt werden. Das Verstehen bzw. verstehende Beschreiben und Erklären von Handlungen ist plural verfasst. Es gibt nicht bloß einen Weg des Verstehens – ebenso wenig wie wir nicht allein eine einzige Form menschlichen Handelns kennen (Kertscher und Werbik 2014). Die im Folgenden noch kurz skizzierte Handlungstypologie ist diesem Gedanken verpflichtet. Sie geht davon aus, dass zu unterscheidende theoretische Handlungsbegriffe verschiedenen Formen oder Schemata der hermeneutischen Handlungserklärung korrespondieren.

3.3 3.3.1

Dreierlei Handlungsbegriffe und Schemata der hermeneutischen Handlungserklärung

Zielgerichtetes Handeln und das intentionalistische Modell der Handlungserklärung Der Begriff des ziel- oder zweckgerichteten Handelns firmiert unter den Bezeichnungen des intentionalistischen oder teleologischen Modells (intentio, lateinisch: Absicht; télos, griechisch: Ziel, Zweck). Er setzt ein Subjekt voraus, das Intentionen hegt, sich nach einer getroffenen Entscheidung zwischen Alternativen das ausgewählte Ziel vornehmen und dieses auf der Grundlage des Wissens über ZweckMittel-Zusammenhänge bewusst und planvoll verfolgen kann. Diesem zweckrational vorgehenden Akteur dient das eigene Handeln als ein subjektiv für angemessen gehaltenes Mittel, um eine Absicht zu verwirklichen und das gesteckte Ziel zu erreichen. Dieses instrumentelle Handeln muss faktisch nicht zweckmäßig bzw. zielführend sein. Der hier verwendete Wissensbegriff umfasst also empirisches Wissen ebenso wie Glaubensüberzeugungen oder Meinungen. Akteure wissen,

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P1 A beabsichtigt, p herbeizuführen. P2 A weiß (glaubt, meint), dass er p nur herbeiführen kann, wenn er a tut K

Folglich macht sich A daran, a zu tun.

Abb. 1 Intentionalistische bzw. teleologische Handlungserklärung nach von Wright (1974, S. 83; zu Differenzierungen dieses Schemas, auch im Hinblick auf „unbewusste Motive“, Straub 1999, S. 101–103)

glauben oder meinen, dass das eigene Handeln bestimmte Zwecke erfüllt bzw. Ziele erreicht, also bestimmte Ergebnisse und Folgen zeitigen wird. Deshalb handeln sie, wie sie eben handeln. Intentionale Subjekte haben Gründe für ihr Handeln. Fast alle psychologischen Handlungstheorien sind diesem intentionalistischen Handlungsbegriff verpflichtet – und verabsolutieren ihn (Beispiele und kritische Analysen finden sich bei Straub 1999). Besonders gut ausgearbeitet und mit einer darauf zugeschnittenen Methodologie und Methodik des Verstehens und Erklärens von Handlungen verbunden ist das intentionalistische Modell im Rahmen des „Forschungsprogramms Subjektive Theorien“ (Groeben und Scheele 2010; Straub und Weidemann 2015). Für die hier verfolgten Zwecke genügt abschließend eine knappe Wiedergabe der einfachsten Variante des Schemas einer intentionalistischen oder teleologischen Handlungserklärung nach Georg H. von Wright (1974). Demnach verstehen und erklären wir ziel- oder zweckgerichtete Handlungen, indem wir die Prämissen (in Gestalt des motivational-volitional-kognitiven Komplexes) sowie die daraus folgende Konklusion rekonstruieren (Abb. 1):

3.3.2

Regelgeleitetes Handeln und das regelbezogene Modell der Handlungserklärung In der Diskussion des einflussreichen Buches von v. Wright wurde schnell klar, dass es nicht besonders fruchtbar ist, sich als Handlungstheoretikerin oder empirischer Handlungspsychologe allein im begrifflichen und heuristischen, hermeneutischen und explanativen Rahmen des intentionalistischen Modells zu bewegen. Wer Passant/innen beiläufig mit einem Handzeichen grüßt, verfolgt damit meistens keine besonderen Ziele oder Zwecke, sondern befolgt eine eingespielte soziokulturelle Regel. In diesem und zahllosen anderen Fällen muss man entsprechend just solche Regeln rekonstruieren, wenn man die betreffende Handlung als Handlung bestimmter Art identifizieren und beschreiben, verstehen und erklären will. Man weist sie damit als integrale Bestandteile einer Lebensform und gegebenenfalls eines dazu gehörenden Sprachspiels aus. Genau das hatte Peter Winch (1966) im Sinn, als er im Anschluss an Ludwig Wittgensteins Analyse des „Regelfolgens“ die Soziologie und Sozialpsychologie (sowie verwandte Disziplinen) darauf verpflichtete, sich aus emischer Perspektive um eine derartige Explikation handlungskonstitutiver oder handlungsregulativer Regeln zu kümmern. Die Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln stammt von John Searle (1990). Während erstere bestimmte Handlungen überhaupt erst möglich

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P 1 Akteur A gehört zur Teilmenge Ego der Gruppe oder Gesellschaft G. P2 Akteur A befindet sich zum Zeitpunkt t in einer Situation der Klasse s. P 3 In G besteht die Regel r, die besagt, dass Ego in Situationen der Klasse s Handlungen der Klasse a ausführen (unterlassen) kann oder soll. K Akteur A vollzieht (unterlässt) eine Handlung der Klasse a (in einer Situation der Klasse s zum Zeitpunkt t). Abb. 2 Modell der Handlungserklärung durch Bezugnahme auf Regeln

machen – man denke an einen beliebigen Zug einer Figur im Schachspiel –, modulieren die regulativen Regeln ein Handeln, das auch ohne sie ausgeführt werden könnte (in Gestalt einer Verkehrsregel etwa geben sie die Geschwindigkeit an, mit der wir laut Gesetz durch eine bestimmte Kurve fahren dürfen). Bekanntlich können Regeln verletzt (und verändert) werden. Häufig halten sich Menschen jedoch daran. Anders wären koordiniertes Handeln und das Zusammenleben kaum denkbar. Regeln spielen in ganz verschiedenen Lebensbereichen und Handlungsfeldern eine wichtige Rolle: Technik, Ethik, Moral, Recht, Ästhetik, Spiel sind Beispiele dafür. Wir unterscheiden u. a. allgemeine von bereichsspezifischen Regeln, universale (wie die Menschenrechte) von solchen, die lediglich für einen bestimmten Adressat/ innenkreis gelten usw. Für die Psychologie besonders interessant sind jene (oft sanktionierten) Regeln, welche gemeinhin als kulturelle oder soziale Normen bezeichnet werden. Wie diese, so sind auch andere Regeln oftmals nicht explizit, sondern implizit. Sie sind in Form von Dispositionen Bestandteil des praktischen Selbst- und Weltverhältnisses einer Person. Sie gehören zu deren sozialem Habitus (im Sinne Pierre Bourdieus 1997; Wacquant 2016), sind dem Sprechen und Handeln inhärent und lassen sich mitunter keineswegs so einfach identifizieren. (Weswegen die zuständigen Wissenschaften auf den Plan gerufen werden, etwa im Fall verzwickter interkultureller Konflikte, in denen Handelnde nicht miteinander vereinbaren Regeln folgen; s. El-Mafaalani 2012.) Auf detaillierte Ausführungen dazu, auf Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Normen und Werten sowie auf genauere Bestimmungen des allgemeinen Regelbegriffs – der strikt vom statistischen Begriff einer Regelmäßigkeit abzugrenzen ist – muss hier verzichtet werden (Straub 1999, S. 113–115). Ich begnüge mich wiederum mit der Wiedergabe eines Schemas, das nun der verstehenden Erklärung von Handlungen durch die Bezugnahme auf handlungsleitende Regeln dient (Abb. 2):

3.3.3

Temporalität und Kreativität des Handelns: die narrative Handlungserklärung Beide bislang vorgestellten Handlungsbegriffe und Erklärungsmodelle sehen davon ab, dass eine Handlung als Bestandteil einer zeitlichen Ordnung und in ihrer eigenen Temporalstruktur aufgefasst werden kann. Außerdem ignorieren sie die Kreativität menschlichen Handelns. Handlungen können Ordnungen, die Welt und das Selbst,

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J. Straub

schöpferisch und innovativ ändern (Joas 1992b; Waldenfels 1990b). Diese Aspekte berücksichtigt allein das narrative Handlungsmodell (Straub 1999, S. 141–143). Erzählungen erlauben es, eine Handlung in ihrer zeitlichen Extension zu beschreiben, als einen womöglich allmählichen und temporal äußerst komplexen Vorgang. Man denke etwa an Handlungen wie „Studieren“ oder „eine Weltreise machen“, die jeweils viele Teilhandlungen integrieren und sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken. Außerdem implizieren sie Veränderungen, die handlungstheoretisch mitunter besonders relevant sind. Der Akteur hat früher – wiederum beispielsweise – noch nie eine Weltreise unternommen, war nicht drogenabhängig etc. Handlungen als derartige „temporal komplexe“, Veränderungen implizierende Phänomene lassen sich gewiss auf verschiedene Weise darstellen. Wenn jedoch die in diesem Handeln implizierte Veränderung interessiert, lassen sie sich nicht anders beschreiben (und uno actu erklären) als durch die Erzählung jener Geschichte, die zur besagten Veränderung führte. Handlungen sind häufig erst dadurch in ihrer besonderen Qualität beschreibbar, verstehbar und erklärbar, dass sie als Geschichte ausgeschrieben oder als Elemente einer erzählbaren Geschichte ausgewiesen werden (z. B. also biografisch oder historisch kontextualisiert werden). Sinn und Bedeutung der Teilnahme an einem „Ostermarsch“ oder einem öffentlichen Protest gegen die Verhaftung von Regimegegner/innen im heutigen Iran sind ebenso Beispiele dafür wie eine ökologische Lebensführung, die Veganismus und den Verzicht auf Flugreisen einschließt (Ruppel und Straub 2017). Wie die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, so verweist auch die Kreativität des Handelns auf die Kontingenz und Dynamik unserer Praxis. Während die oben skizzierten Begriffe und Modelle davon ausgehen, dass das Handeln entweder als Verfolgen vorab bestehender Intentionen (Ziele, Zwecke) oder als Befolgen vorgängiger Regeln aufzufassen ist, berücksichtigt eine Theorie der Kreativität des Handelns, dass (und wie) Intentionen und Regeln im Vollzug des zeitlich strukturierten, dynamischen Handelns entstehen oder modifiziert werden können. Kreatives Handeln folgt nicht nur einem Logos, es schafft auch „seinen eigenen Logos“ (Waldenfels 1980, S. 265). Auch dieser schöpferische Aspekt zwingt die Handlungspsychologie dazu, sich des narrativen Modells zu bedienen. Erzählungen bzw. narrative Erklärungen bewahren Kontingenz und lassen Raum für die Thematisierung der Entstehung von Neuem. Wie Arthur Danto (1980) in seiner bahnbrechenden Studie gezeigt hat, erfüllt das Erzählen von Geschichten eine deskriptive und zugleich eine autoexplanative Funktion, ohne Kontingenz und Spontaneität, Kreativität und Innovation zu eliminieren. Erzählungen liefern Beschreibungen und Erklärungen (auch) von temporal komplexen bzw. geschichtlich situierten Handlungen, die wiederum auf keine andere Beschreibungs- und Erklärungsform reduzierbar sind. Wichtig ist, dass jede Erzählung eine Veränderung bzw. einen Wandel thematisiert, beschreibt und erklärt. Ihr Explanandum lässt sich demgemäß so formulieren: „E: x ist F in t1 und x ist G in t2. F und G sind Prädikatsvariable, die jeweils ersetzt werden müssen durch entgegengesetzte Prädikate [z. B. abstinent, drogensüchtig; J.S.]; und x ist eine individuelle Variable, die durch einen Eigennamen zu ersetzen ist, der das Subjekt der Veränderung bezeichnet“ (Danto 1980, S. 156; t1 und t2 sind verschiedene Zeitpunkte).

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„Der Wandel von F-G ist die Veränderung in x, die Erklärung verlangt. Doch um den Wandel zu erklären, bedarf es der Beziehung auf etwas, das in t2 mit x geschieht, ein Ereignis, von beliebigem Komplexitätsgrad, das die Veränderung in x verursachte. Ich biete daher folgendes Modell, das die Struktur einer erzählenden Erklärung wiedergeben soll: (1) x ist F in t1 (2) H ereignet sich mit x in t2 (3) x ist G in t3 (1) und (3) bilden zusammen das Explanandum, (2) ist das Explanans. Die Hinzuziehung von (2) ergibt die Erklärung für (1)-(3)“. Abb. 3 Modell der narrativen Erklärung nach Danto (1980, S. 376)

Das Schema einer narrativen Erklärung lässt sich folgendermaßen wiedergeben (Abb. 3): Danto hebt hervor, dass dieses Schema klar mache, wieso die angebotene Erklärungsform die Gestalt einer Erzählung besitzt: (1), (2) und (3) besäßen nämlich ganz offenkundig die Struktur der Erzählung: Sie hat einen Anfang (1), einen Mittelteil (2) und ein Ende (3) (Straub 1999, S. 141–162). Wer Handlungen eines bestimmten Typs – nämlich temporal komplexe, geschichtlich situierte oder unter dem Aspekt ihrer Kreativität interessierende Handlungen – erklären will, muss unweigerlich eine Geschichte erzählen. Insgesamt lässt sich festhalten: Die Handlungstheorie in der Psychologie ist differentiell anzulegen. Sie operiert mit eigenständigen, nicht aufeinander zurückführbaren begrifflichen Handlungstypen und Typen der Handlungserklärung. Die getroffenen Unterscheidungen schließen nicht aus, dass das konkrete Handeln einer Person (oder auch einer Gruppe) im Rahmen mehrerer Modelle beschrieben und verstehend erklärt werden kann – und im Übrigen immer wieder anders dargestellt und plausibilisiert wird, als es bislang getan wurde. Handlungen sind nachträglich revidierbare und reformulierbare Deutungs- oder Interpretationskonstrukte. Sie sind auch deswegen (und nicht nur wegen ihrer Überdeterminiertheit) polyvalent.

4

Ausblick: Stand und Perspektiven

Die abschließenden Bemerkungen beziehen sich auf einen Aspekt handlungstheoretischen Denkens, der mir im Hinblick auf den Einsatz und die Entwicklung qualitativer Forschungsmethoden besonders wichtig erscheint. Die prinzipielle Polyvalenz des Handelns mündet nämlich zwangsläufig in die methodologisch höchst bedeutsame Auffassung einer stets möglichen Pluralität von Handlungsbeschreibungen und -erklärungen. Die Vorstellung, jede Handlung müsse einen Grund, einen Sinn und eine Bedeutung haben, wird damit obsolet. Handlungstheoretiker/innen sind nicht auf exklusive Beschreibungen und monolithische (monokausale etc.)

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Erklärungen verpflichtet (Straub und Weidemann 2015). Sie brauchen im Übrigen nicht vor dem nur allzu realistischen Eingeständnis zurückscheuen, dass oft nicht zu entscheiden ist, welcher von mehreren denkbaren der maßgebliche Grund einer Handlung ist, wo ihre zentrale Bedeutung liegt etc. Das ist keine Kapitulation vor der Komplexität unseres Handelns, sondern eine Einsicht, die die empirischqualitative Forschung nur bereichern kann. Perspektivenvielfalt stellt Konkurrenz nicht still, sondern regt die fortwährende Suche nach dem best account, der überzeugendsten und hilfreichsten verstehenden Erklärung menschlichen Handelns erst an. Dies ist keine Schwäche einer „weichen“ Theorie, sondern eine Stärke, die der Wirklichkeit menschlichen Handelns Rechnung trägt. Ein wichtiges Desiderat einer dem interpretativen Paradigma verpflichteten Handlungspsychologie kann demnach vor allem darin gesehen werden, dieser Einsicht breite Geltung zu verschaffen und ihr durch eine konsequente Differenzierung und undogmatische Pluralisierung theoretischer Handlungsbegriffe, korrespondierende Modelle der verstehenden Handlungserklärung und darauf zugeschnittene qualitative Forschungsmethoden gerecht zu werden.

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Kulturpsychologie Pradeep Chakkarath und Jürgen Straub

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Historische Perspektive und disziplinäre Einordnung einer kulturwissenschaftlichen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretische und methodologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Wichtige Themen und zentrale Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Indigene Psychologien und Desiderata kulturpsychologischer Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden die ideengeschichtlichen Ursprünge der Kulturpsychologie und ihre damit verbundenen methodologischen Positionen nachgezeichnet. Betont wird die kulturwissenschaftliche Perspektive auf psychische Phänomene, die in der Abhängigkeit von kulturell variierenden Lebensformen, Sprachspielen, Praktiken und Diskursen betrachtet und mit besonderem Interesse für damit zusammenhängende Bedeutungs- und Sinngebungsprozesse untersucht werden. Es wird erläutert, weshalb sich diese Zusammenhänge mit Methoden der vornehmlich naturwissenschaftlich ausgerichteten Mainstream-Psychologie nicht befriedigend analysieren lassen und warum kulturpsychologische Analysen insbesondere auf interpretative Verfahren und interdisziplinäre Befunde zurückgreifen.

P. Chakkarath (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Straub Fakultät für Sozialwissenschaft, Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, RuhrUniversität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_16

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P. Chakkarath und J. Straub

Schlüsselwörter

Kulturpsychologie · Interpretative Verfahren · Indigene Psychologie · Kultur · Handlung

1

Einleitung

Folgt man einer historiografisch gut etablierten Narration zur Psychologiegeschichte, so nimmt die genuin wissenschaftliche Erforschung psychischer Phänomene ihren Anfang im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Deutschland und im Schnittfeld verschiedener naturwissenschaftlich ausgerichteter Disziplinen wie der Medizin (vor allem Anatomie, Physiologie und Pathologie) und der Physik (vor allem der Elektrophysik, Optik und Akustik). Vielzitierte Initiatoren dieser thematischen und methodologischen Ausrichtung des Faches waren beispielsweise Ernst H. Weber, Gustav T. Fechner, Rudolph H. Lotze und Hermann v. Helmholtz. Wenn ihre unterschiedlichen Beiträge zur Erforschung und insbesondere apparategestützten Messung psychischer Phänomene immer mal wieder als „Psychophysik“ etikettiert werden, so trifft das durchaus einen bestimmenden Charakterzug dieses disziplinären Anfangs und seines weiteren Verlaufs, der bis in die moderne Neuropsychologie führt (Read 2015; Sowden 2012). Man darf jedoch nicht übersehen, dass die psychologische Theorienbildung des 19. Jahrhunderts in beträchtlichem Maße auch von klassischen philosophischen, insbesondere erkenntnistheoretischen Fragestellungen etwa zu Rationalismus, Nativismus und Empirismus, Determinismus, Indeterminismus und Willensfreiheit, zur Abgrenzung nomothetischer von ideografischen Perspektiven, der Erklären-Verstehen-Kontroverse oder auch zu religiösem und ästhetischem Empfinden geprägt war. Wie sehr die Anfänge der modernen Psychologie noch philosophisch informiert und von durchaus differenzierten erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen und methodologischen Beiträgen begleitet waren, gerät auch aus dem Blick, wenn immer mal wieder das Jahr 1879, in dem Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig das vermutlich erste psychologische Laboratorium einrichtete, zum geradezu mythologischen Gründungsjahr der modernen Psychologie verklärt wird. Zwar wurde mit diesem Labor tatsächlich die psychophysikalisch inspirierte Idee einer exakten Messbarkeit und Berechenbarkeit psychischer Phänomene akademisch institutionalisiert, doch ist Wundt mit seiner Forderung nach einer „dualen Psychologie“, die sich nicht nur experimenteller, sondern auch kultur- und sozialwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse bedient, eine denkbar schlecht gewählte Gallionsfigur einer betont am Vorbild der Naturwissenschaften, insbesondere an der Methodologie der Physik orientierten Psychologie (Jüttemann 2006). Mag es Wundt (1900–1920) mit seiner voluminös angelegten „Völkerpsychologie“ ebenso wenig wie den früheren „Völkerpsychologen“ des 19. Jahrhunderts gelungen sein, eine methodologisch und systematisch überzeugende Ergänzung der experimentellen Psychologie vorzulegen, so kann doch in seinem Bemühen um eine inhaltlich wie auch methodisch interdisziplinär ausgerichtete und kulturintegrative Psychologie durchaus ein moderner Impuls für die Entstehung der Kulturpsychologie im 20. Jahrhundert gesehen werden. So

Kulturpsychologie

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betrachtet, könnte sich auch die Historiografie der Psychologie motiviert fühlen, die geläufigen und häufig eurozentrischen Rekonstruktionen der Entwicklung des Faches als einer Naturwissenschaft um psychologisch relevante geistes- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu ergänzen, die weit vor dem 19. Jahrhundert und auch außerhalb Europas und der USA geleistet wurden. Entlang dieser Hinweise werden wir in den folgenden Abschnitten versuchen, die historiografischen und methodologischen Perspektiven der Kulturpsychologie, ihre interdisziplinäre Ausrichtung, ihre disziplinären Abgrenzungen, ihr Menschenbild, ihre auf all dem basierenden Methodenpräferenzen sowie ihr wissenschaftliches Selbstverständnis zu skizzieren. Dabei sollen die dargestellten Prinzipien und Perspektiven, die viele kulturpsychologische Ansätze verbinden, nicht über eine gewisse Diversität und Heterogenität „der“ Kulturpsychologie hinwegtäuschen.

2

Historische Perspektive und disziplinäre Einordnung einer kulturwissenschaftlichen Psychologie

Dass der Mensch nicht nur als ein Naturwesen unter vielen, sondern hinsichtlich seiner geistigen Fähigkeiten und Leistungen zugleich als ein einzigartiges, soziohistorisch geprägtes Kulturwesen verstanden werden kann und muss, ist eine Einsicht, die sich in vielen frühen Texten der menschlichen Ideengeschichte findet. Die oben erwähnte Fixierung auf eine historiografische Narration, die den Beginn der Psychologie an der experimentellen Ausrichtung des Faches festmacht, trägt dazu bei, die psychologische Relevanz dieser weit zurückreichenden und außerhalb der Mainstream-Psychologie nach wie vor äußerst einflussreichen Einsicht zu verdecken (Chakkarath 2011). In einer kulturpsychologischen Perspektive sind diese Beiträge schon alleine deshalb interessant, weil sie uns gemeinsame, ähnliche, oft aber auch erheblich unterschiedliche Auffassungen vom Menschen und seiner Psyche vor Augen führen. Anstatt allzu voreiligen, präsentistisch und ethnozentrisch gefärbten universellen Annahmen zu erliegen, dürfen wir folglich davon ausgehen, dass kulturell etablierte und gelegentlich divergierende Menschenbilder Einfluss auf Sozialisations-, Enkulturations- und Akkulturationsprozesse sowie darin mitangelegte Erziehungs-, Denk-, Urteils-, Attributions-, Erlebens- und Verhaltensstile nahmen und immer noch nehmen. Lehrreich ist der weiterreichende historische Rückblick aber auch für die Methodengeschichte einer Psychologie, die ihre wissenschaftliche Bedeutung nicht ausschließlich an naturwissenschaftlichen Verfahren festmacht. So finden sich beispielsweise bereits in der griechischen Antike, etwa in Herodots „9 Büchern zur Geschichte“, erfahrungswissenschaftliche, z. B. ethnografische Studien. Im Übergang zur frühen Neuzeit entstanden wegweisende theoretische und empirische Beiträge (Chakkarath 2003, 2013a; Jahoda 1992; Straub 2004a, 2007a). Ähnliches gilt für Traditionen außerhalb der okzidentalen Welt. Auf der Suche nach alternativen Konzepten zur Erforschung kulturspezifischer Phänomene wird heute vielfach auf die psychologische Bedeutung indigener (z. B. australischer, chinesischer, indischer, koreanischer, philippinischer, taiwanesischer, lateinamerikanischer) Denk- und Forschungstraditionen hingewiesen, denen wissenschaftliche Seriosität in vielen Fällen schwerlich abgesprochen werden kann (Chakkarath 2005,

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2007a, 2013b, 2018a; Kim et al. 2006). Daran ist festzuhalten, auch wenn die Wissenschaftsauffassungen zwischen den Kulturen und innerhalb einer Kultur (diachron und synchron) erheblich voneinander abweichen können. Beschränkt man sich auf die Tradition kulturpsychologischen Denkens in der westlichen Welt, wird man Giambattista Vico eine besonders wichtige Funktion zuschreiben dürfen (Vico 1990 [1725]; Tateo 2015). Seine vornehmlich gegen Descartes und Newton gerichtete Auffassung vom Menschen als einem historischen und gesellschaftlichen, Sinn und Bedeutung schaffenden Wesen zielte nicht allein gegen die „monistische“ und dogmatische Vorstellung einer in methodischer Hinsicht einheitlichen (Natur-)Wissenschaft. Sie ebnete zudem den Weg für eine Völkerpsychologie, um die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts Moritz Lazarus und Haijm Steinthal (von Graevenitz 1999), später schließlich Wundt (Jüttemann 2006; Straub 2007a), intensiv bemühten. Trotz theoretischer und methodischer Unterschiede, die es verbieten, eine ungebrochene Kontinuität zu unterstellen, können die sich auf Vico, J. G. Herder, W. v. Humboldt u. a. berufenden Völkerpsychologen des 19. Jahrhunderts aus den einleitend genannten Gründen als Wegbereiter der heutigen Kulturpsychologie betrachtet werden. Nach den Ansätzen im Rahmen der sogenannten geisteswissenschaftlichen Psychologie Wilhelm Diltheys oder Eduard Sprangers sowie einigen marginalen Unternehmungen, wie z. B. des Versuchs der Fortführung von Wundts Völkerpsychologie durch Willy Hellpach, trugen insbesondere Lev Wygotski, Aleksander Lurija und Alexei Leontjew als Repräsentanten der sogenannten kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie zur Profilierung einer avancierten Kulturpsychologie bei (Kölbl 2006). Weitere Impulse kamen von manchen der Wegbereiter/innen der sog. „kognitiven Wende“ im Übergang der 1950er zu den 1960er-Jahren. Nach Jerome Bruner (1997 [1990]) hatte diese cognitive revolution eine an der alltagsweltlichen Praxis interessierte, handlungs- und kulturpsychologische Neuorientierung einleiten sollen (Straub 1992, 2001). Wirklich durchsetzen konnte sich die Kulturpsychologie (cultural psychology) – trotz früher Arbeiten z. B. von Ernst E. Boesch, Michael Cole, Sylvia Scribner, Jaan Valsiner u. a. – allerdings erst, als die seit Ende der 1940er-Jahre erfolgte Institutionalisierung der nordamerikanischen cross-cultural psychology (deutsch: kulturvergleichende Psychologie) bereits weit fortgeschritten war, nämlich in den späten 1980er-Jahren (vgl. Jahoda und Krewer 1997; Lonner 2018). Mit der Profilierung der cross-cultural psychology als einer Subdisziplin der akademischen Psychologie gelang es zwar, auch in der Mainstream-Psychologie das Bewusstsein für die kulturelle Prägung psychologischer Phänomene zu erhöhen, doch blieb die kulturvergleichende Psychologie weitgehend dem quantitativen und nomologisch ausgerichteten Methodenrepertoire verpflichtet, während insbesondere die europäische Kulturpsychologie sich als kulturwissenschaftlicher Ansatz begreift und hermeneutisch-interpretative Verfahren bevorzugt. Für Außenstehende ist die Unterscheidung dieser beiden Ansätze nicht auf Anhieb plausibel, da auch die Kulturpsychologie Vergleiche anstellt und, trotz einiger nennenswerter Unterschiede, weitere Gemeinsamkeiten zwischen diesen Strömungen einer culture inclusive psychology bestehen (Straub 2001; Straub und Chakkarath 2019; Straub und Thomas 2003). Im Folgenden werden genuin kulturpsychologische Interessen und Perspektiven in Abhebung von der kulturvergleichenden Psychologie und jeder anderen Form einer primär naturwissenschaftlich-nomologisch ausgerichteten Psychologie aufgezeigt.

Kulturpsychologie

3

Theoretische und methodologische Grundlagen

3.1

Prinzipien der Kulturpsychologie – im Unterschied zur kulturvergleichenden Psychologie

287

„Kulturpsychologie“ (cultural psychology) ist eine international etablierte Bezeichnung für eine Vielfalt theoretischer Ansätze und methodischer Forschungsprogramme (Boesch und Straub 2007; Chakkarath 2007a, 2011; Miller 1997; Straub 2004b). Bei aller Verschiedenheit im Detail lassen sich drei eng miteinander verbundene, weitgehend akzeptierte Ausgangspunkte identifizieren. Diese bilden eine fundamentale (meta-)theoretische Basis und einen ebenso grundlegenden methodischen Orientierungsrahmen: 1. Alle psychischen Phänomene (Strukturen, Prozesse, Funktionen) werden in ihrer „intrinsischen“ Abhängigkeit von kulturellen Lebensformen und Sprachspielen, Praktiken und Diskursen betrachtet. Das wechselseitige Konstitutionsverhältnis zwischen Kultur und Psyche bildet ein wichtiges Prinzip. Kulturpsychologie ist also – anders als etwa die kulturvergleichende Psychologie – keine Subdisziplin, sondern eine allgemeine Perspektive auf alle möglichen Gegenstände psychologischer Forschung und damit einhergehende wissenschaftliche, aber auch außerwissenschaftliche Diskurse und deren Manifestationen. 2. Kulturpsycholog/innen hegen die Überzeugung, dass Kulturen als praktische, dem Tun und Lassen inhärente Wissens-, Zeichen- und Symbolsysteme konzeptualisiert werden müssen, die es Menschen gestatten, ihrer Welt, ihrem Selbst und ihrem Dasein Sinn und Bedeutung zu verleihen. Alle Menschen denken, fühlen, bewerten und handeln zeitlebens in einem solchen Netz kultureller Bedeutungen, das sie zwar verändern oder (zumindest partiell) wechseln, aber niemals völlig abschütteln können. Kulturen erfüllen Orientierungsfunktionen für leibliche, sprach-, empfindungs- und handlungsfähige Subjekte. Multiple Zugehörigkeiten zu Kulturen sind möglich und in aller Regel auch zu erwarten, insbesondere in komplexen, nicht zuletzt kulturell differenzierten Gesellschaften (Straub 2003), einschließlich der ihnen innewohnenden Konfliktpotenziale. 3. Kulturpsychologie ist eine interpretative Wissenschaft, für die die hermeneutische Problematik des Sinnverstehens (Straub 1999a, b) im Zentrum methodologischer Reflexionen steht. Dementsprechend besteht das methodische Repertoire der Kulturpsychologie vornehmlich aus qualitativen, rekonstruktiven oder interpretativen Methoden. Jerome Bruner bestimmt die Kulturpsychologie ganz in diesem Sinn als eine „interpretative Psychologie“, die versuche, „die Regeln festzustellen, nach denen Menschen in kulturellen Kontexten Bedeutungen erzeugen“ (Bruner 1997, S. 126). Die Kulturpsychologie hat sich dabei dem Grundsatz verschrieben, ihre theoretischen und methodischen Instrumente dem interessierenden Forschungsgegenstand anzupassen – und nicht umgekehrt nur solche Gegenstände zu erforschen, die dogmatisch ausgezeichneten (natur-)wissenschaftlichen Verfahren zugänglich und in etablierten

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theoretischen Begriffen erfassbar sind. Sie unterscheidet sich auch in diesem Punkt von der nomologischen kulturvergleichenden Psychologie (Matsumoto 2001). Während die kulturvergleichende Psychologie der Suche nach tatsächlich universalen psychologischen Gesetzmäßigkeiten Priorität gibt (Poortinga 1997, S. 351), geht die Kulturpsychologie auf Distanz zu diesem übergeordneten Ziel (ohne die Existenz solcher Universalien zu bestreiten). Wird gegen die Kulturpsychologie gelegentlich auch der Vorwurf erhoben, dass sie relativistische Positionen vertrete (Poortinga 2016) und es ihr aus einer nomologischen Perspektive in gewisser Hinsicht an harter Wissenschaftlichkeit mangele, so ist demgegenüber einzuwenden, dass die Identifizierung von Unterschieden und die darauf gestützte Erarbeitung von begrifflichen Differenzierungen unverzichtbare Aufgaben aller Wissenschaft sind. Entsprechende Untersuchungen müssen eine gut abgesicherte Behauptung von Gesetzmäßigkeiten und universellen Strukturen notwendigerweise begleiten, ihr häufig sogar vorangehen. In diesem Bemühen zeigt sich die Kulturpsychologie, wie auch Bruner (1997) betont, als prinzipiengeleiteter und methodisch disziplinierter Ansatz, dem es an wissenschaftlicher Rigorosität keineswegs mangelt. Ungeachtet derartiger methodologischer Debatten lehnen kulturvergleichende Psychologie wie auch Kulturpsychologie gleichermaßen entschieden den vielfach überzeugend kritisierten, „absoluten“ und „naiven“ Pseudo-Universalismus ab (Segall et al. 1998). Sowohl unreflektierte theoretische Begriffe als auch (keineswegs kulturneutrale) Standardverfahren haben reihenweise zu Artefakten einer Forschung geführt, die unisono kritisiert werden. Vielfach wurden kulturelle Besonderheiten kurzerhand gar als psychologische Universalien ausgegeben. Empirische Befunde waren bekanntlich allzu häufig Ergebnisse von Forschungen, die fast ausschließlich in der sogenannten westlichen Welt durchgeführt worden waren. Dabei wurde selbst dort nur ein kleiner und wenig heterogener Teil der Bevölkerung einbezogen. Es handelte sich vor allem um Studierende (vielfach „Versuchspersonen“ in psychologischen Studiengängen), überwiegend um relativ junge weiße Männer und auch einige Frauen aus der (zumeist protestantischen) Mittelschicht der USA sowie einiger europäischer Länder (Henrich et al. 2010). Diese Auswahl diente dann als vermeintlich repräsentative Stichprobe, an der hypothetisch formulierte, allgemeine psychologische Gesetze getestet wurden, die für „den“ Menschen schlechthin Gültigkeit beanspruchten. Anders als die berechtigten Einwände erwarten ließen, hat sich daran bis heute nicht viel geändert. Die culture inclusive psychology wendet sich noch immer gegen eine Psychologie, die gleichermaßen culture-bound, cultureinsensitive oder gar culture-blind ist. Die Kulturpsychologie und kulturvergleichende Psychologie teilen weitere Standpunkte, Orientierungen und Anliegen. Dazu gehört etwa die Kritik an den ethischen, moralischen und politischen Implikationen bzw. Konsequenzen des epistemologischen Ethnozentrismus sowie die komplementäre, an die westliche Psychologie adressierte Ermahnung, die sogenannten Anderen und Fremden in Zukunft doch ernster zu nehmen und in gebührendem Maße einzubeziehen – als Forschungsobjekte, Forschungspartner/innen und Forschungssubjekte, die ihr eigenes kulturelles und psychologisches Wissen einbringen können sollten (sowohl im Sinne eines empirischen Tatsachenwissens als auch im Sinne eines kulturspezifischen prozeduralen Wissens

Kulturpsychologie

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bzw. praktischen Know-hows, durch das die wissenschaftliche Psychologie Zugang zu kulturellen Lebensformen und Sprachspielen, Praktiken und Diskursen erhält). Erkenntnis und Anerkennung erscheinen dabei wie die zwei Seiten einer Medaille. Die sogenannten indigenen Psychologien unserer Tage haben sich als wichtiges Sprachrohr dieser „postkolonialen“ Kritik und ihrer naheliegenden politischen, epistemologischen und methodologischen Folgen erwiesen (Chakkarath 2005, 2007a, 2012; Gergen et al. 1996). Ohne hier auf weitere Gemeinsamkeiten zwischen der Kulturpsychologie und der kulturvergleichenden Psychologie näher eingehen zu können (dazu Chakkarath 2011; Straub 2001; Straub und Thomas 2003), sei wenigstens noch erwähnt, dass hier wie dort komparative Ansätze und die Methodologie des Kulturvergleichs zentral sind. In der Kulturpsychologie gibt es dabei besonders starke Bemühungen, angemessene Tertia Comparationis für kulturvergleichende Untersuchungen auszumachen, für die notwendige Äquivalenz theoretischer Begriffe und methodischer Verfahren zu sorgen oder auch vor der möglichen Unvergleichbarkeit des radikal Verschiedenen zu warnen (Greenfield 1997; Straub 1999b). Es sei ebenfalls kurz an die allseits geteilte Forderung erinnert, dass empirische Forschungen aus der „emischen“ Innen- und aus der „etischen“ Außenperspektive (im Sinne der von Pike 1954 getroffenen Unterscheidung) erfolgen sollen und dass von einer Vielfalt von (qualitativen und quantitativen) Forschungsmethoden sowie vom Prinzip der Triangulation Gebrauch gemacht werden kann (Boesch und Straub 2007). Natürlich gibt es gewisse Präferenzen auf beiden Seiten, wie etwa die Bevorzugung qualitativer Methoden durch die interpretative Kulturpsychologie, wie sie trotz der frühen Grundlegung durch Jerome Bruner heute vor allem außerhalb der USA betrieben wird (Straub und Chakkarath 2019; Slunecko et al. 2017). Auch trennende Besonderheiten sind leicht auszumachen (wie etwa ausführliche texttheoretische, hermeneutische und übersetzungswissenschaftliche Reflexionen auf Seiten der kulturwissenschaftlichen Strömung). Demgegenüber ist wechselseitige Kritik am sowohl komplementären als auch konkurrierenden Partner an der Tagesordnung (z. B. Boesch 1996). Die wichtigste Differenz hat mit einer (sozial-)ontologischen oder (sozial-) anthropologischen Vorannahme sowie den damit verwobenen epistemologischmethodologischen Folgen zu tun. Während Vertreter/innen der kulturvergleichenden Psychologie davon ausgehen, dass die psychologisch interessierende Wirklichkeit im Sinne einer natürlichen Ordnung durch Gesetzmäßigkeiten strukturiert ist, die nach dem Modell von Ursache und Wirkung konzeptualisiert und identifiziert werden können, bricht die Kulturpsychologie mit dieser naturalistischen und kausalistischen Ontologie. Ohne die großen Erfolge der Naturwissenschaften zu mindern oder die Funktionalität speziell der experimentellen Methode für bestimmte Zwecke zu bezweifeln, richtet sie sich gegen deren Verabsolutierung im Feld der sozial- und kulturwissenschaftlichen Humanities. Sie wendet sich jenen interpretativen Disziplinen zu, welche sich traditionell mit der sinn- und bedeutungsstrukturierten menschlichen Welt befassen. Sinn- und Bedeutungszusammenhänge jedoch sind anderer Art als Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Sie lassen sich nicht nach dem kausalistischen Modell als Naturgesetze erforschen, und zwar weder im Sinne

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des strengen deduktiv-deterministischen noch des abgeschwächten induktiv-statistischen Modells (in dem strikte Naturgesetze durch probabilistische Aussagen ersetzt werden). Die Kulturpsychologie kennt demzufolge eine Mehrzahl gleichermaßen „wissenschaftlicher“ Erklärungsmodelle. Keines von ihnen ist „an sich“ wertvoller als die anderen. Sie dienen vielmehr spezifischen Zwecken in variablen pragmatischen Kontexten, in denen nach wissenschaftlichen Erklärungen verlangt wird. Erklärungen können als Antworten auf Warum- oder Wie-Fragen verschiedene Formen annehmen und Funktionen erfüllen (Straub und Werbik 1999).

3.2

„Kultur“ in der Kulturpsychologie: begriffliche Grundlagen und theoretische Perspektiven

Die Kulturpsychologie befasst sich mit menschlichem Erleben, Denken, Urteilen, Fühlen, Wollen und Handeln (einschließlich seiner Genese, Objektivationen und Objektivierungen/Subjektivierungen), wobei sie beliebige Einzelphänomene in ihren jeweiligen Sinn- und Bedeutungsgehalten als kulturell geprägt untersucht. „Kultur“ fungiert in dieser Perspektive als eine Art Quelle, die einer bestimmten Handlung in jeweils spezifischer Weise Sinn und Bedeutung verleiht. Es sind u. a. kulturell etablierte und einer größeren Zahl von Akteur/innen bekannte Regeln, die z. B. das Verspeisen einer Oblate im Rahmen eines institutionalisierten Rituals in einer Kirche als eine ganz bestimmte religiöse Handlung ausweisen, verständlich machen und ihr Zustandekommen (partiell) erklären. Wer diese Regeln und ihren weltanschaulich-christlichen Rahmen nicht kennt, wird in der vom Geistlichen an die Gläubigen gereichten Oblate schwerlich den „Leib Christi“ symbolisiert sehen, etc. Er oder sie wird diese religiöse Praxis in ihrer kulturell konstituierten Sinn- und Bedeutungsstruktur nicht erkennen, identifizieren, beschreiben, verstehen und erklären und an der kulturellen und sozialen Praxis, zu der das Verspeisen einer Oblate gehört, nicht „kompetent“ teilnehmen können: Diese Praxis bleibt dann unverständlich, äußerlich und fremd. Handlungen bilden den paradigmatischen Gegenstand einer Kulturpsychologie, die in vielen Varianten handlungstheoretisch ausgerichtet ist. In welchen Weisen werden nun Kultur und Handlung in der kulturpsychologischen Forschung miteinander verbunden, aufeinander bezogen bzw. relationiert (Straub und Shimada 1999)? Welche möglichen Beziehungen werden theoretisch unterstellt? Was heißt es mithin, Handlungen (sowie andere psychische, sinn- und bedeutungsstrukturierte Phänomene) als kulturelle Phänomene aufzufassen, zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären? Der Begriff der Kultur selbst liefert die Antwort auf diese Fragen. Er zeigt z. B., warum es zum Geschäft kulturpsychologischer Handlungserklärungen gehört, wie im oben gegebenen Beispiel nach explanativen (konstitutiven oder regulativen) Regeln zu suchen (Straub 1999a, S. 113–140) – und warum sich dieses Geschäft in dieser Aufgabe nicht erschöpft. Zwar gibt es zahllose Bestimmungen des Kulturbegriffs (Chakkarath 2003; Straub 2007b), doch zeigt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen der heuristische und explanative Wert des von Boesch vorgeschlagenen Verständnisses

Kulturpsychologie

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von Kultur. Boeschs Kulturbegriff erweist sich als nützlich beim Versuch, die Welt des Menschen als eine sinn- und bedeutungsstrukturierte Welt menschlichen Handelns zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären (Straub et al. 2020): „Culture is a field of action, whose contents range from objects made and used by human beings to institutions, ideas and myths. Being an action field, culture offers possibilities of, but by the same token stipulates conditions for, action; it circumscribes goals which can be reached by certain means, but establishes limits, too, for correct, possible and also deviant action. The relationship between the different material as well as ideational contents of the cultural field of action is a systemic one; i.e. transformations in one part of the system can have an impact in any other part. As an action field, culture not only induces and controls action, but is also continuously transformed by it; therefore, culture is as much a process as a structure.“ (Boesch 1991, S. 29)

Kultur ist praktisches Wissen und untrennbar mit der wissensbasierten Praxis des Menschen verwoben. Kulturelles Wissen eröffnet und begrenzt Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten. Dieses Wissen kann verschiedene Gestalten annehmen: Es kann explizit, artikuliert, vielfältig symbolisiert und reflektiert sein, oder implizit bleiben, leiblich verkörpert sein und performativ inszeniert werden, in Institutionen objektiviert, in Dingen, Räumen und Plätzen materialisiert sein. Es ist veränderlich, also grundsätzlich historisch verfasst und im Übrigen ein Produkt kulturellen Austauschs (Burke 2000). Kulturen sind keine Archipele, sondern offene und dynamische Systeme. Es sind keine objektiv identifizierbaren Entitäten mit geschlossenen Grenzen, sondern wissensbasierte Praktiken, die stets nur in vergleichender Perspektive – also von einem bestimmten Standpunkt und in einer bestimmten Perspektive – wahrgenommen und beobachtet werden können. Kulturen sind, mit anderen Worten, unweigerlich relationale Konstrukte. Sie werden von verschiedenen Menschen unterschiedlich erfahren und bestimmt, wobei Kulturen eine variable Mehrzahl von in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen Personen integrieren, also keineswegs nur als „Nationalkulturen“ oder „Kulturkreise“ bestimmbar sind. Sie bilden vielmehr einen konjunktiven Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, den die Angehörigen eines Kollektivs teilen. Diese Gemeinsamkeit macht sie zu Zugehörigen, die gewisse Aspekte ihrer qualitativen Identität gemeinsam haben und partiell auch gemeinsam haben wollen (zum Identitätsbegriff s. Straub 2004c, 2018). Möchte man genauer begreifen, wie sich die Kulturpsychologie auf kulturelles Wissen bezieht, um ausgewählte psychische Phänomene (z. B. Handlungen) in ihrer jeweiligen Sinn- und Bedeutungsstruktur genauer zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären, tut man gut daran, dieses Wissen in verschiedene typische Formen zu gliedern. Diese Formen passen nicht zufällig zu jenen Modellen der Handlungserklärung, welche in der Philosophie und Wissenschaftstheorie seit gut einem halben Jahrhundert als ernst zu nehmende Alternativen zum deduktiv-nomologischen und induktiv-statistischen Modell gehandelt werden (Straub und Werbik 1999). Eine Kultur stellt bisweilen auf ganz offenkundige, häufiger auf kaum merkliche Weise einer wandelbaren Vielzahl von Personen Ordnungsformen sowie Deutungsund Bewertungsmuster für die kognitive und rationale, emotionale und affektive Identifikation, Evaluation und Strukturierung von Gegebenheiten und Geschehnissen

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sowie Prinzipien und Paradigmen der Handlungsorientierung und Lebensführung bereit. Fasst man den Kulturbegriff als offene und dynamische Wissensstruktur auf, lassen sich nun dreierlei Formen oder Typen kulturellen Wissens unterscheiden. Kultur ist demnach nicht einfach eine lediglich vage charakterisierbare „symbolische Ordnung“ (oder dergleichen), sondern ein differenziell bestimmbares, transindividuelles und handlungsleitendes Wissens-, Zeichen- oder Symbolsystem, das sich zusammensetzt aus 1. kollektiven Zielen, die Individuen übernehmen, situationsspezifisch konkretisieren und als zweckrational handelnde Akteur/innen durch den Einsatz wiederum kulturspezifischen Mittelwissens verfolgen können (Straub 1999a, S. 102–112); 2. kulturspezifischen Handlungsregeln; dazu gehören auch sprachliche Regeln aller Art, außerdem – wie gesagt – soziale Normen, die in Aufforderungs- bzw. die sie fundierenden Bewertungsnormen oder Werte differenziert werden können (Straub 1999a, S. 113–140); 3. einem kulturspezifischen Reservoir an geteilten Geschichten, durch die Angehörige einer Kultur ihre Identität, ihr kollektives und individuelles Selbst- und Weltverständnis bilden, artikulieren und tradieren, und dies so, dass nicht zuletzt der zeitlichen und kreativen Dimension der Praxis Rechnung getragen wird (Straub 1999a, S. 141–161). Diese Ziele, Regeln, Normen und Werte sowie die Geschichten, die in einer Kultur kursieren und das Handeln orientieren und bestimmen, müssen keineswegs eine sprachsymbolische oder diskursive Gestalt besitzen. Sie sind dem Handeln häufig implizit und allenfalls in Spuren oder Anzeichen präsent (z. B. in so genannten „narrativen Abbreviaturen“, die auf Geschichten oder Erzählungen mit Diskurscharakter verweisen, wie z. B. „1989“ oder „Twin Towers“ oder „Mekka“). Ebenso können sie in nichtsprachlichen Symbolen (z. B. Verkehrsschildern, Orden und Kunstwerken) verkörpert sein. Symbole sind Anzeichen oder Spuren kultureller Überlieferungs-, Sinn- und Bedeutungszusammenhänge. An solchen Anzeichen oder Spuren setzt die kulturpsychologische Handlungsinterpretation an, wenn sie Handlungen in bestimmter Weise identifiziert, versteht und erklärt, indem sie „kulturelle Texte“ auch „über die Schultern der Handelnden hinweg“ zu lesen versucht und mit deren konkretem Tun und Lassen in Zusammenhang bringt (Straub und Weidemann 2015). Kulturelles Wissen ist keine Bedingung menschlichen Handelns im Sinne eines kausal wirksamen Faktors. Es stellt vielmehr ein Reservoir heterogener, in systematischer Absicht jedoch unterscheidbarer Typen von Bestimmungsgründen dar, denen sich die stets polyvalente Sinn- und Bedeutungsstruktur von Handlungen verdankt (zum Begriff der „Polyvalenz“ s. Boesch 1991). Dies klar zu machen und dadurch theoretische Perspektiven für die hermeneutische Erklärung menschlichen Handelns (und anderer psychischer Phänomene) zu eröffnen, ist die Funktion der oben skizzierten Typologie kultureller Wissensformen. Insofern zahlreiche Handlungen auf transindividuelles, kulturelles Wissen verweisen (und ohne dieses Wissen gar nicht denkbar wären), ist die Kulturpsychologie am Zug. Ihr Terrain bilden psychische

Kulturpsychologie

293

Phänomene, die Bestandteile eines nur interpretativ zu erschließenden, durch kollektive Wissenssysteme konstituierten Verweisungszusammenhangs sind. Deswegen steht die Problematik des Sinnverstehens im Zentrum der Methodologie und Methodik kulturpsychologischer Forschung. Das oben angeführte Beispiel – das Verspeisen einer Oblate im Kontext eines religiösen Rituals – spricht auch diesbezüglich für sich. Solche Handlungen verweisen auf die religiösen Welt- und Menschenbilder wie auch auf die praktischen Überzeugungssysteme, zu denen sie gehören. Sie sind demgemäß gerade nicht als diskrete Variablen konzeptualisierbar, die logisch unabhängig von diesen Weltbildern und Überzeugungssystemen wären und in rein empirisch-kontingenten Beziehungen zu diesen stünden (z. B. Greenfield 1997, S. 303; Markus et al. 1996). Zahllose Rituale, Mythen, Utopien sowie darin angelegte Vorstellungen vom Richtigen und Falschen, darin verankerte Legitimationen bestehender Verhältnisse und erwünschter Entwicklungen, wie auch darüber vermittelte handlungsorientierende Überzeugungen bieten anschauliche Beispiele für die komplexen und mitunter überaus komplizierten Zusammenhänge, um deren sinnverstehende Entschlüsselung es kulturpsychologischer Forschung geht (Chakkarath 2007b, sehr anschaulich macht das auch Boesch 1983, 2005). Solche Beispiele zeigen zugleich, wie etwa Ritualisierungen, Mythologisierungen und damit einhergehende Zeit- und Handlungsorientierungen nahezu alle menschlichen Lebensbereiche – von Religion über Politik und Sport bis zu Wissenschaft und persönlichem Alltag (für Beispiele siehe Chakkarath und Weidemann 2018; Kölbl und Sieben 2018; Valsiner 2012) – bedeutungsstiftend durchziehen und sich entsprechend auch in narrativen Selbstauskünften von Individuen wiederfinden, deren Analyse vor dem Hintergrund des bisher Gesagten von besonderem kulturpsychologischen Interesse ist (Brockmeier 2015; Straub 1999a).

3.3

Grundlagen der Methodenwahl

Die kulturpsychologische Empirie schließt damit unmittelbar an die alltags- oder lebensweltliche Erfahrungs- und Wissensbildung an. Greenfield fordert demgemäß, dass die kulturpsychologische Forschung Verfahren einzusetzen habe, durch die sich die Entwicklung gemeinsamer Aktivitäten und gemeinsamer Bedeutungen sowie der kommunikative Prozess ihres Erwerbs adressieren lassen (Greenfield 1997, S. 305). Dies bedeutet nicht zuletzt, dass die Forschungsmethoden der jeweiligen kulturellen Praxis, in der sie eingesetzt werden sollen, angemessen sein müssen. Mitunter können sie deswegen erst im Zuge der kulturpsychologischen Forschung entwickelt werden (Scribner und Cole 1981). Diese in der indigenen Psychologie verbreitete, auch in der Kulturpsychologie anzutreffende Auffassung macht ethnografische Forschung, wie sie etwa in der Tradition phänomenologiebasierter Wissenssoziologie betrieben wird (Hitzler und Eisewicht 2016), häufig unverzichtbar. Sie eröffnet überdies fruchtbare Anschlussmöglichkeiten an neuere autoethnografische Ansätze, die eine methodische Selbstreflexion der Forschenden einfordern, in der etwa die eigene Beobachterposition und Standortgebundenheit auf den Einfluss hin geprüft

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werden, den sie auf den Forschungsprozess und die Forschungsresultate nehmen (Ellis 2004; Ellis und Bochner 2010). Das kulturpsychologische Bemühen, die interessierenden und gelegentlich noch unvertrauten Phänomene möglichst unvoreingenommen, aber dennoch methodisch gesichert zu untersuchen, erfordert strukturiertes, reflektiertes und flexibles Vorgehen zugleich. In dieser generellen Ausrichtung, die sie offen für multimethodale und multiperspektivische Forschungsdesigns wie auch für interdisziplinäre Anleihen macht, trifft sie sich mit grundlegenden Positionen der Grounded-Theory-Methodologie (Mey und Berli 2019) oder verwandter Ansätze (Ratner et al. 2001). Dies schließt den Einsatz experimenteller und speziell quantitativer Methoden keineswegs aus, relativiert ihn aber erheblich. Im Übrigen bemühen sich manche Vertreter/ innen durchaus um eine gewisse Integration qualitativer und quantitativer Methoden sowie der dazu gehörenden wissenschaftlichen Paradigmen – ohne deren Unterschiede zu vertuschen (was im Zuge einer oberflächlichen „Integrationsrhetorik“ leicht geschieht). Eine in dieser Hinsicht exemplarische und sowohl in der kulturvergleichenden Psychologie wie auch in der Kulturpsychologie vielbeachtete Arbeit ist Patricia Greenfields Langzeitstudie zu intergenerationaler Transmission und kreativer Transformation kulturellen Wissens in indigenen Gemeinden des mexikanischen Bundesstaates Chiapas (Greenfield 2004).

4

Wichtige Themen und zentrale Diskussionen

Zu den besonders gut ausgearbeiteten theoretischen Konzeptionen, die vielfach auch umfangreiche empirische Forschungen angeregt haben, gehören: • Ernst E. Boeschs „symbolische Handlungstheorie und Kulturpsychologie“; • Lutz Eckensbergers in Anlehnung an Boesch entwickelte und in diversen empirischen Projekten fruchtbar gemachte Konzeption; zusammen mit B. Krewer gelten die drei Autoren manchmal als Repräsentanten der „Saarbrückener Schule“ (Eckensberger 1990; Krewer 1992); • Jerome Bruners handlungs- und erzähltheoretisch fundierte Kulturpsychologie; • Richard Shweders Entwurf einer cultural psychology, der sich auf unterschiedliche, darunter ethnologische Quellen stützt (Shweder 1990); • Jürgen Straubs an Überlegungen von Hans Werbik anschließende, textwissenschaftliche und hermeneutische Handlungs- und Kulturpsychologie (Straub 1999a; Straub und Werbik 1999); • Michael Coles Ansatz, der an die tätigkeitstheoretische, soziogenetische bzw. kulturhistorische Tradition der russischen Psychologie anknüpft (Cole 1996); • ebenfalls dieser Tradition verpflichtet ist die kultur- und entwicklungspsychologische, zudem sozialanthropologisch informierte Konzeption von Jaan Valsiner (Valsiner 2000, 2014), der auch als Herausgeber des internationalen Journals „Culture & Psychology“ tätig ist;

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• an dieselbe Richtung knüpft James V. Wertsch in zahlreichen Arbeiten an, u. a. unter Bezugnahme auf Bakhtins Literaturtheorie (Wertsch 1991); • eine der einst aktivsten Gruppen in Europa war die „Nijmegen Cultural Psychology Group“ (NCPG); zu ihr zählten etwa Paul Voestermans, Cor Baerveldt, Theo Verheggen oder Harry Kempen, der u. a. mit Hubert Hermans Arbeiten zum dialogischen Selbst verfasst hat (Hermans und Kempen 1993); • Gustav Jahoda hat neben viel beachteten historischen Untersuchungen zahlreiche systematische Beiträge vorgelegt; • Carl Ratner hat u. a. mehrere Publikationen zur Theorie und Methodologie qualitativer Forschung in der Kulturpsychologie publiziert (Ratner 2012; Ratner et al. 2001); • Alfred Lorenzer und Hans-Dieter König gehören zu jener Gruppe von Autor/ innen, die die Psychoanalyse (bzw. „Tiefenhermeneutik“) auch im Feld der psychologischen Kulturanalyse fruchtbar zu machen suchen; • die Ethnopsychoanalyse wird etwa von Mario Erdheim, Maya Nadig oder Paul Parin vertreten. Diese Liste ist unvollständig (für weiterführende Angaben s. Boesch und Straub 2007; Straub und Chakkarath 2019; Straub et al. 2006). Zahlreiche weitere theoretische, methodologische sowie empirische Beiträge können der Kulturpsychologie zugeordnet werden – Markova, Markus, Kitayama, Peng, Nisbett oder Rogoff gehören zur Reihe der vor allem in angelsächsischen Ländern tätigen Kulturpsycholog/innen, die ihre Positionen und häufig multimethodal angelegten Untersuchungen als „kulturpsychologisch“ bezeichnen würden. Einige Konzeptionen, die gegenwärtig ebenfalls intensiv diskutiert werden, unterhalten zumindest partielle, bisweilen auch engere Verwandtschaften zur Kulturpsychologie. Dazu zählen etwa • der zeitgenössische „soziale Konstruktionismus“ Kenneth Gergens und die damit verwandte „diskursive Psychologie“; • die im deutschen Sprachraum insbesondere von Carl-Friedrich Graumann vertretene phänomenologische Psychologie; • die Psychologie sozialer Repräsentationen von Serge Moscovici; • die als psychologische Semantik konzipierte, phäno- und logografische Sozialpsychologie Uwe Lauckens; • die rekonstruktiv verfahrende „Psycho-logik“ (regelgeleiteter) semantischer und pragmatischer Beziehungen, wie sie Jan Smedslund vertritt; • die verstehend-erklärende Psychologie Norbert Groebens (und Brigitte Scheeles), die sich um eine Integration hermeneutischer und empiristischer Traditionen bemüht; • indigene Psychologien unterschiedlicher Provenienz und Ausrichtung (s. Abschn. 5). Schon diese knappe Aufzählung verweist auf eine Vielzahl gut bearbeiteter Fragestellungen und empirischer Forschungsfelder, von denen hier lediglich einige besonders bekannte erwähnt werden, nämlich die Untersuchung

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• unterschiedlicher Konzepte personaler Identität bzw. des Selbst, der narrativen Verfasstheit des Erinnerns und des autobiografischen Gedächtnisses (Brockmeier 2015; Chakkarath 2006; Heine und Buchtel 2009; Markus und Kitayama 1991); • kulturspezifischer Formen moralischer Entwicklung und moralischen Bewusstseins (Eckensberger 2003; Miller 2006; Miller et al. 1990); • kulturspezifischer Emotionen (Shweder et al. 2008; in psychohistorischer Perspektive: Stearns und Stearns 1988); • kulturell geprägter Kognitionsstile (Nisbett et al. 2001; Peng und Nisbett 1999); • kulturell geprägter Attributionsstile (Miller 1984; Peng und Knowles 2003); • kulturspezifischer Aspekte von Bindung bzw. Bindungsverhalten (Rothbaum und Morelli 2005). Alle diese Arbeiten bieten eine Fülle an konkreten Beispielen für kulturpsychologische Thematiken, Denk- und Vorgehensweisen, die sich auch in den bereits erwähnten indigenen Psychologien finden.

5

Indigene Psychologien und Desiderata kulturpsychologischer Ansätze

Obgleich viele Vertreter/innen der indigenen Psychologie sich aufgrund der zuvor bereits erwähnten Kritik an der eurozentrischen Prägung der heutigen MainstreamPsychologie nicht nur in kritischer Distanz zur kulturvergleichenden Psychologie, sondern auch zur Kulturpsychologie sehen, ist eine fachliche Integration indigener Theorien und Forschungsansätze aus kulturpsychologischer Sicht wünschenswert (Chakkarath 2012). Dafür sprechen vor allem drei Gründe: • die methodologisch begründete kulturpsychologische Präferenz für emische Ansätze, die einen reflektierten Zugang zu den Sicht- und Verständnisweisen der beforschten Personen erleichtern; • die Überzeugung, dass kulturspezifische Traditionen des systematischen Nachdenkens (wie auch deren Repräsentation in Laientheorien) den Enkulturationskontext von Menschen nachhaltig mit strukturieren und somit hohe entwicklungs-, kognitions- und sozialpsychologische Relevanz besitzen (Chakkarath 2013b; Super und Harkness 1997), • die Einsicht, dass auch psychologische Theorien westlicher Provenienz, mitsamt dazugehörigen Menschenbildern, kulturell geprägt sein und eine entsprechend eingeschränkte Reichweite haben können. Diese Feststellungen zeigen, dass kulturpsychologische Perspektiven auch Relevanz für wissenschaftstheoretische Debatten haben, in denen die kulturelle Prägung von Ideen und Theorien bislang eher vernachlässigt wird (Chakkarath 2018b). In diesen Zusammenhängen rücken auch indigene weltanschaulich sowie philosophisch eingebettete Denk- und Analysetraditionen in das Interesse der Forschung, sowohl wegen ihres möglichen Potenzials an alternativen wissenschaftli-

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chen Beschreibungen, Interpretationen und Erklärungen als auch wegen ihres möglichen Einflusses auf die Entwicklung und Sozialisation von Individuen (der von der Bewertung der Wissenschaftlichkeit dieser Traditionen nicht abhängt; Chakkarath 2007b, 2012, 2018a). Viele der Irrläufer und Fehlentwicklungen psychologischer Forschung – z. B. rassistisch gefärbte Theorien zu vermeintlichen Intelligenz- und Persönlichkeitsunterschieden – resultierten (und resultieren noch) zu einem guten Teil aus der Ignoranz für diese Zusammenhänge, die sich partiell auch in Form von historisch gewachsenen stereotypen Annahmen westlicher Theorien über „die Anderen“ zeigen (Chakkarath 2010). Dass auch die Kulturpsychologie sich dieser Kritik stellen muss, zeigt ein Blick auf die Auswahl der von ihr mehrheitlich zitierten Autor/innen, die sich fast ausschließlich aus europäischen und amerikanischen „Klassikern“ der westlichen Sozialwissenschaften rekrutieren, von denen die meisten außerhalb ihrer beiden Kontinente nie geforscht haben und mit den Denktraditionen anderer Kulturen häufig nur unzulänglich vertraut waren. Die indigenpsychologische Kritik an diesem Umstand ist umso ernster zu nehmen, als sie vornehmlich von Vertreter/innen solcher Länder vorgetragen wird, die einstmals Kolonien genau derjenigen westlichen Staaten waren, deren wissenschaftliche Konzepte und Standards u. a. imperialistisch durchgesetzt wurden. Die Tauglichkeit dieser Theorien und Konzepte für die Erforschung und Verbesserung der sozialen Realitäten in den ehemaligen Kolonialländern wird aber zusehends infrage gestellt (Chakkarath 2012; Misra und Gergen 1993). Die indigene Psychologie hat längst darauf hingewiesen, dass eine Reihe kulturspezifischer Phänomene dem Blick westlicher Wissenschaft entgehen (obwohl gerade sie lebenspraktisch und wissenschaftlich höchst bedeutsam sind). Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte amae sein, das der Psychoanalytiker Takeo Doi (1982) als einen zentralen Aspekt der japanischen Mutter-Kind-Bindung und als strukturierendes Merkmal der individuellen und kollektiven japanischen Psyche auffasste. Amae wurde gelegentlich mit „Abhängigkeit und Freiheit in Geborgenheit“ übersetzt. Dieses komplexe Phänomen und das korrespondierende Konzept, das individuelle Autonomie und soziale Bindung gerade nicht als unvereinbare Gegensätze begreift, widerspricht Doi zufolge in vielerlei Hinsicht westlichen Vorstellungen von den Grundlagen sicherer psychologischer Bindung und positiver Persönlichkeitsentwicklung (für weitere Beispiele s. Chakkarath 2007a, 2012). In methodologischer und methodischer Hinsicht wäre etwa an die seit Jahrtausenden praktizierte Erforschung psychischer Phänomene mit teilweise hochsystematisierten introspektiven Beobachtungsverfahren zu denken. Werden diese Verfahren in der westlichen Tradition sehr kritisch gesehen, so wird außerhalb Europas und Nordamerikas insbesondere die Ausrichtung der Methoden an Kultur- und Bildungsstandards westlicher Populationen kritisiert. Beispielsweise sind illiterate Gruppen nicht mit Fragebogen, geschweige denn Antwortskalen vertraut, sodass kulturadäquate und gegebenenfalls im Kulturvergleich brauchbare Alternativen entwickelt werden müssen, was ohne tief greifende indigene Kenntnisse über die untersuchten Populationen und ihre Lebenswelt nicht gelingen kann. Ein Beispiel hierfür ist das Ersetzen der klassischen fünf-stufigen Likert-Skala durch das sogenannte ladder rating, ein Verfahren, in dem illiteraten, häufig handwerklich arbeitenden Personen im ländlichen Indien

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kleine handliche fünf-stufige Leitern in senkrechter Position gereicht werden, sodass sie durch Auflegen der Finger auf die jeweilige Sprosse ihre Antwortgewichtung haptisch anzeigen können (Sinha 1969). Auch hinsichtlich qualitativer Beobachtungsund Interviewverfahren haben Vertreter/innen der indigenen Psychologie die Anpassung an die kulturellen Kontexte und Lebensgewohnheiten der Untersuchungspersonen gefordert. Enriquez (1993) zeigt dies am Beispiel der Indigenisierung psychologischer Feldforschung auf den Philippinen, wo Dauer, Ort und Häufigkeit der Untersuchungen wie auch die Größe der untersuchten Gruppen und die Auswahl der Mitarbeiter/innen an den Lebensgewohnheiten und Vertrautheiten der untersuchten Personen festmacht werden. Auch die Frage, ob z. B. teilnehmende oder nichtteilnehmende Beobachtung angemessen ist, wird daran entschieden, was aus Sicht der Untersuchten und ihrer Lebenspraxis als angemessen, vertraut und am wenigsten störend erscheint. So kann es beispielsweise angemessen sein, dass die Forschenden nicht nur interviewen, sondern sich von den untersuchten Personen auch interviewen lassen (Pe-Pua 2006). Was jeweils angemessen ist, kann dabei auch regional und ethnisch stark variieren. Eine ähnliche Kulturspezifizität und Variation wird für psychologisch relevante indigene Konzepte konstatiert, deren begriffliche Bedeutung nicht in die Untersuchung hineingetragen, sondern ihr gemäß des emischen Forschungsansatzes allererst (z. B. über Befragung der untersuchten Personen) entnommen wird. Aus kulturpsychologischer Sicht mahnen die indigen-psychologischen Ansätze primär eine höhere interkulturelle Kompetenz auch in der kulturpsychologischen Forschung an, zugleich eine größere Offenheit für indigene Denk- und Forschungstraditionen sowie für indigene Expertisen. All das ist nicht zuletzt eine Frage der Fremdsprachen- und Übersetzungskompetenz. Was den Erwerb und die Lehre entsprechender Kompetenzen und damit den Abbau von ethnozentrisch basierten Barrieren und Wissensdefiziten anbetrifft, so muss sich die Kulturpsychologie zukünftig an der Ernsthaftigkeit ihrer eigenen Ansprüche messen lassen.

6

Ausblick: Stand und Perspektiven

Kulturpsychologie untersucht psychologische Phänomene mit besonderem Interesse dafür, wie sie aus dem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von Kultur und Psyche hervorgehen. Kultur wird dabei als ein praktisches, mit Anderen geteiltes Wissens-, Symbol- und Orientierungssystem verstanden, das menschliches Denken, Erleben und Handeln in jeweils unterschiedlichen, häufig auch überlappenden Bereichen bzw. Handlungsfeldern strukturiert und orientiert. Insoweit Kultur es Menschen ermöglicht, ihrem Leben, ihren Lebenswelten und ihren Inhalten Sinn und Bedeutung zu verleihen, sind sie zwar einerseits abhängig von Kultur, können sie aber auch verändern. Dieses Verständnis von Mensch, Kultur und Psyche reicht weit vor die naturwissenschaftlich ambitionierte Mainstream-Psychologie der letzten beiden Jahrhunderte zurück, was den Rückgriff auf das Methodenrepertoire der älteren, hermeneutisch und interpretativ ausgerichteten Wissenschaften in gewisser Weise erleichtert, wobei diese methodologische Ausrichtung aber aufgrund des spezifischen Interesses am tiefergehenden Verstehen von Prozessen der Bedeutungs-

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und Sinngenerierung auch erfordert ist. Es zeigt sich hier, dass eine genauere Profilierung und Charakterisierung der Kulturpsychologie mit einer genaueren Rekonstruktion ihrer vielfältigen historischen Ursprünge und Entwicklungen einhergehen sollte. Eine solche Rekonstruktion der Genese kulturpsychologischer, aber auch allgemeiner psychologischer Perspektiven sollte der Kulturpsychologie zukünftig ein wichtigeres Anliegen sein als es bisher der Fall ist. Fruchtbar wären entsprechende Bemühungen u. a. auch für die Erweiterung klassischer wissenschaftstheoretischer Positionen um kulturpsychologische Perspektiven. Für die zukünftige kulturpsychologische Forschung bringt auch die jüngere Bewegung der so genannten indigenen Psychologien neue Herausforderungen mit sich. Viele dieser Herausforderungen mögen nicht prinzipiell neuer Art sein, sondern in jeder Gesellschaft angesichts einer großen Zahl an soziodemografischen Unterschieden zwischen diversen Schichten und Gruppen bestehen. Die Auseinandersetzung mit so genannten indigenen Psychologien hat die Sensibilität der weitgehend aus westlichen Denktraditionen hervorgegangenen Kulturpsychologie für ihre eigene kulturelle Prägung allerdings erhöht. Psycholog/innen aus nichtwestlichen Regionen weisen immer wieder und immer hörbarer darauf hin, dass viele der aus westlichen Ländern importierten Theorien, Begrifflichkeiten und Methoden für die Arbeit mit Menschen, die in nichtwestlichen Entwicklungskontexten und Erlebenswelten sozialisiert wurden, wenig hilfreich sind. Diese Problematik zeigt sich schon lange nicht mehr als eine von fernen Menschen in entlegenen Gegenden der Welt. Migrations- und Globalisierungsprozesse haben die Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Kulturations- und Akkulturationserfahrungen zu einem nahezu alltäglichen, fast überall anzutreffenden und bisweilen auch als problematisch empfundenen Phänomen werden lassen. Dass die Perspektiven und das Methodenrepertoire der Kulturpsychologie einiges Potenzial aufweisen, zur genaueren Analyse derartiger Phänomene, vielleicht auch zur Lösung damit zusammenhängender Konflikte beizutragen, ist kaum zu bestreiten. Sie sollte sich dafür allerdings auch stärker als bisher neueren methodologischen Entwicklungen öffnen, die sie dabei unterstützen, präsentistische und ethnozentrische Sichtweisen einzudämmen. Zu wünschen wäre etwa ein größeres Interesse an Methoden (z. B. der Introspektion), die in psychologischen Methodenhandbüchern westlicher Verlage selten ernste Beachtung finden; zu wünschen wäre aber auch ein verstärktes Interesse an der systematischen Integration von Ansätzen (z. B. der Autoethnografie), die in den westlichen Sozialwissenschaften selbst in jüngerer Zeit entwickelt wurden, um gerade den hier angedeuteten Problemen besser begegnen zu können. Kurz: Die Kulturpsychologie wird sich, um diesen neueren Entwicklungen gerecht zu werden und ihren eigenen Maßstäben zu genügen, gründlicher als bisher mit ihrer eigenen historischen und soziokulturellen Prägung, daraus resultierenden Perspektiveinschränkungen und Methoden zu deren Überwindung befassen müssen.

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Feministische und queere Psychologien Anna Sieben

Inhalt 1 Entstehungsgeschichte und Ortsbestimmung feministischer und queerer Psychologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Vier Ansätze feministischer/queerer Psychologie – theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wichtige Themen und zentrale Diskussionen feministischer und queerer Psychologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Feministische und queere Psychologien sind schwerpunktmäßig im Kontext der zweiten Frauenbewegung und der politischen Bewegungen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender entstanden. Als wissenschaftliche Subdisziplin konnten sich feministische und queere Psychologien im angloamerikanischen Raum etablieren. Im Rahmen der deutschsprachigen Psychologie hingegen fand bislang keine Institutionalisierung statt, wobei in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an diesen Ansätzen zu beobachten ist. Eine Ausnahme bilden Ansätze feministischer Psychotherapie, diese sind verhältnismäßig weit verbreitet. Feministische und queere Psychologien sind so heterogen wie der Feminismus selbst. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Dieses Kapitel umfasst in komprimierter Form die Inhalte des Buchs „(Queer-)Feministische Psychologien. Eine Einführung“ (Sieben und Scholz 2012). Julia Scholz danke ich für ihre vielfältigen Beiträge, die auch in dieses Kapitel eingeflossen sind. A. Sieben (*) Fakultät für Sozialwissenschaft, Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, RuhrUniversität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_9

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Grundlagen, Themen und verwendeten Forschungsmethoden. Tendenziell werden häufiger qualitative als quantitative Methoden eingesetzt; manche Forschungsprogramme orientieren sich aber auch primär an den Methoden der quantitativ-experimentellen Psychologie. Hier werden vier verschiedene Felder vorgestellt: 1. die „Psychologie der Frau“, 2. die feministische Erforschung von Geschlechtergemeinsamkeiten und -unterschieden, 3. sozialkonstruktionistische, diskursanalytische und dekonstruktivistische Ansätze und 4. queere Psychologien. Schlüsselwörter

Feminismus · Feministische Psychologie · Queer · Queere Psychologie · Geschlecht · Sexualität · Heteronormativität · Transgender

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Entstehungsgeschichte und Ortsbestimmung feministischer und queerer Psychologien

Feministische Wissenschaften analysieren und bewerten Geschlechterverhältnisse aus machtkritischer Perspektive. Sie sind mit dem zentralen politischen Anliegen des Feminismus verbunden: der Überwindung von Ungleichheit und Unterdrückung, die an das Geschlecht einer Person geknüpft sind. Von repressiver Ungleichheit sind in jeweils spezifischer Weise Frauen, Transgender, Intersexe und auch Männer betroffen. Feministische Wissenschaften weisen nach der hier zugrunde gelegten Definition folgende weitere Eigenschaften auf: Sie vermeiden eine Essentialisierung von Geschlechterverhältnissen und zeigen, wenn möglich, ihre Veränderlichkeit auf. Geschlecht wird dabei als verwoben mit anderen sozialen Kategorien, zum Beispiel Alter, sexuelle Orientierung, „Rasse“ oder Klasse konzeptualisiert. Feministische Wissenschaftler/ innen richten ihre kritische Aufmerksamkeit immer auch selbstreflexiv auf die eigene Forschung und die Wirkungen der eingenommenen, wertenden Perspektive. Bei feministischen Bewegungen und Wissenschaften handelt es sich um ausgesprochen heterogene Projekte. Mit dem hier verwendeten, weiten Feminismusbegriff1 versuche ich, die Heterogenität (bis hin zur Widersprüchlichkeit) der Ansätze zu umfassen. So verstehe ich auch den Begriff „queer“2 als eine Spezifizierung und Ergänzung des Feminismusbegriffs, nicht als ersetzende Alternative. „Queer-feministisch“ bezeichnet Ansätze, die sich aus machtkritischer Perspektive mit der Ordnung der Geschlechter und Sexualitäten auseinandersetzen und dabei eine Subversion und Dekonstruktion der dichotomen Kategorien Geschlecht und sexuelle

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Der Begriff Feminismus wird in Deutschland ca. seit den 1970er-Jahren als Bezeichnung für die zweite oder neue Frauenbewegung (Lenz 2009) verwendet. Er stammt von dem lateinischen Wort femina = Frau ab und findet sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Französischen. 2 Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion des Begriffs queer, auch in Auseinandersetzung mit dem Begriff Feminismus, siehe Schlichter (2005).

Feministische und queere Psychologien

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Orientierung betreiben. Des Weiteren versteht sich queer als Antwort auf die postkoloniale Kritik am Feminismus. Die Verbindung von Geschlecht mit den sozialen Kategorien „Rasse“ und Kultur wird betont und führt zur Einsicht in die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik trotz vielfältiger sozialer Differenzen. Die Entscheidung für einen weiten Feminismusbegriff ist auch eine politische. Zu zeigen, dass Feminismus ein heterogenes Feld ist, zu Veränderungen in der Lage, zur Selbstreflexion verpflichtet und auch zu internen Konflikten bereit, ist in Zeiten besonders wichtig, in denen der Feminismus (wieder einmal3) als überholt bezeichnet wird. Feministische Wissenschaft ist dem Prinzip der Unvoreingenommenheit und Offenheit verpflichtet. „Thinking through feminism“ (Ahmed et al. 2000) ist das Leitmotiv dieses Kapitels, in dem in feministischer Perspektive über verschiedene psychologische Ansätze nachgedacht wird. Simone de Beauvoir entwarf bereits 1949 in „Das andere Geschlecht“ das Programm einer feministischen Psychologie. Sie legte sich die Frage vor „Was ist eine Frau?“ (de Beauvoir 2007 [1949], S. 27) und antwortete in häufig zitierter Weise: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (Beauvoir 2007 [1949], S. 334). De Beauvoir ersetzte das „Sein“ durch das „Geworden Sein“ und forderte, dass Frauen „aus einer existenziellen Perspektive unter Berücksichtigung ihrer Gesamtsituation erforscht werden“ (Beauvoir 2007 [1949], S. 77). Die Frau sei „den Männern heute unterlegen [...]: die Frage ist nur, ob es ewig bei diesem Stand der Dinge bleiben soll“ (Beauvoir 2007 [1949], S. 20–21). Wissenschaft trat so in den Dienst des Feminismus. Doch wie de Beauvoir deutlich machte, verpflichtet eine feministische Haltung auch zur Kritik an Wissenschaft: „Um die Unterlegenheit der Frau zu beweisen, haben die Antifeministen damals nicht nur wie vordem die Religion, die Philosophie und die Theologie herangezogen, sondern auch die Naturwissenschaften – die Biologie, die Experimentalpsychologie usw.“ (Beauvoir 2007 [1949], S. 20). Kritik auf der Basis von wissenschaftlicher Forschung und Kritik an Forschung – beides sind gleichermaßen wichtige feministische Perspektiven. Erst etwa ein Viertel Jahrhundert nach dem Erscheinen von de Beauvoirs Buch entwickelten sich in verschiedenen sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern feministische Wissenschaften, die wahlweise als feministische Forschung, Frauenforschung, Geschlechterforschung oder ab den 1990er-Jahren vor allem als Gender Studies benannt werden. Ihre Entstehung und Weiterentwicklung ist nicht zu trennen von den politischen Bewegungen zu ihrer jeweiligen Zeit. Vor allem die sog. neue Frauenbewegung (Lenz 2009) wirkte in den 1970er-Jahren erst als Initialzündung für feministische Wissenschaften und im weiteren Verlauf als Schrittmacher.4 Ähnliches gilt für die queer-feministischen Wissenschaften, die sich ohne die 3

Selbst de Beauvoir musste sich schon mit dem Vorwurf der Überholtheit des Feminismus auseinandersetzen. So schrieb sie auf der ersten Seite von „Das andere Geschlecht“: „In der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen“ (Beauvoir 2007 [1949], S. 9). 4 Besonders deutlich wird diese enge Verbindung von Feminismus und Psychologie in den frühen Arbeiten von Frigga Haug 1980; Haug und Hauser 1985. Der Beginn ihrer feministischen Forschung lag in kollektiven Frauengruppen, die sich im theoretischen Umfeld der Kritischen Psychologie mit den eigenen Lebenssituationen als Frauen auseinandergesetzt haben.

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politischen Bewegungen von Schwulen, Lesben, Trans-Menschen oder Intersexen wohl nicht entwickelt hätten. Die psychologische Betrachtungsebene bietet sich für feministische und queere Fragen geradezu an. Wer sich mit der Befreiung aus geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen auseinandersetzt, stößt wie Beauvoir auf die Frage nach dem individuellen Werden und Anders-Werden; Fragen, die durchaus von der Psychologie als Wissenschaft vom menschlichen Denken, Handeln, Fühlen und Wollen bearbeitet werden. Einzelne Schriften zur Psychologie der Frau entstanden bereits im Kontext der ersten Frauenbewegung; Brinker-Gabler (1978) legt eine Zusammenstellung von Texten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor. Umfassende Forschungsprojekte entstanden aber erst in den 1970er- und 1980er-Jahren. Sie setzten sich mit der weiblichen Psyche, vor allem aber mit den psychischen Verwicklungen von Frauen mit dem Patriarchat auseinander. Später bildeten sich weitere feministische Ansätze in der Psychologie, die sich hinsichtlich ihrer Themen, (wissenschafts-) theoretischen Fundierung und Forschungsmethoden zum Teil stark voneinander und von der Psychologie der Frau unterscheiden. In diesem Beitrag werden diese Ansätze unterschieden in: 1. die Psychologie der Frau, 2. die feministische Erforschung von Geschlechtergemeinsamkeiten und -unterschieden, 3. sozialkonstruktionistische, diskursanalytische und dekonstruktionistische Ansätze und 4. queere Psychologien (s. Abschn. 2). Als Institution war die Psychologie bislang kein guter Ort für feministische und queere Forschung, vor allem nicht in Deutschland. So gibt es in Deutschland keine entsprechend ausgerichteten Zeitschriften, Lehrstühle, Dachverbände oder Studiengänge. Etwas besser sieht es allerdings in Anwendungsfeldern der Psychologie aus. So konnten sich Ansätze feministischer und/oder queerer Psychotherapie etablieren (z. B. Franke und Kämmerer 2001; Beiträge in Sieben et al. 2015). Im deutschsprachigen Raum ist in den letzten Jahren zudem ein verstärktes Interesse an queerfeministischen Perspektiven in der Psychologie zu beobachten. So wurden an verschiedenen Orten – meist durch studentische Initiativen – Veranstaltungen organisiert, bei denen queere und feministische Ansätze eine wichtige Rolle spielen. Hierzu zählen beispielsweise das „Symbiosium“ in Wien (2012), die Kritische Ferienuni in Berlin (2012, 2014) oder die Vortragsreihe „(Queer-)Feminismus & Psychologie“ in Göttingen (2015). 2015 und 2017 wurden in Bochum und Köln internationale Konferenzen unter dem Titel „Feministische und queere Perspektiven für die Psychologie“ durchgeführt. Ob sich aus diesen verschiedenen Initiativen wissenschaftliche Institutionalisierungen entwickeln, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Anders sieht es in der angloamerikanischen Psychologie aus. Bereits 1973 wurde innerhalb der American Psychological Association die „Division for the Psychology of Women“ gegründet. Aus dieser Division ging 1977 die bis heute fortlaufende Zeitschrift „Psychology of Women Quarterly“ hervor. Sie ergänzt die bereits seit 1975 herausgegebene US-amerikanische Zeitschrift „Sex Roles“. 1984 wurde in der APA zusätzlich die „Division for Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Issues“ gegründet. Auch sind im US-amerikanischen Kontext queer-feministische Psychologien repräsentierende Lehrbücher zu finden (z. B. Unger und Crawford 1996). Die

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Nachfrage nach Lehrbüchern ist unter anderem dadurch erklärbar, dass in den USA Lehrstühle und Studienangebote einer psychology of women etabliert sind.5 In Großbritannien sind queer-feministische Psychologien ähnlich solide institutionell verankert. In der British Psychological Society wurde 1987 die „Psychology of Women Section“ und 1998 die „Psychology of Sexualities Section“ eingerichtet. Zentrales Publikationsorgan der britischen feministischen Psychologie ist seit 1991 die Zeitschrift „Feminism & Psychology“; die „Sexualities Section“ gibt die Zeitschrift „Lesbian & Gay Psychology Review“ heraus. Zu erwähnen ist des Weiteren die mehrbändige Buchreihe „Gender and Psychology. Feminist and Critical Perspectives“ (Herausgeberin Sue Wilkinson). Eine Sektion für die psychology of women gibt es des Weiteren in den psychologischen Dachverbänden Australiens, Kanadas, Koreas und Neuseelands. Recherchen, die einen Überblick über die Lage in Ländern insbesondere außerhalb der sog. westlichen Welt vermitteln würden, sind bislang nicht bekannt.

2

Vier Ansätze feministischer/queerer Psychologie – theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen

2.1

Psychologie der Frau

Das Hauptaugenmerk der sog. Psychologie der Frau (psychology of women) richtet sich auf psychologische Phänomene, die in spezifischer Weise bei Frauen auftreten. Der Androzentrismus der Psychologie wird kritisiert und durch eine geschlechterdifferenzierte Psychologie korrigiert. Die Kritik richtet sich vor allem gegen vier Elemente des Androzentrismus: die Vernachlässigung von frauenspezifischen Themen, die Gewinnung von Daten an rein männlichen Stichproben, die Aufstellung männlicher Normen (z. B. bei psychologischen Tests) und die Abwertung oder Pathologisierung von psychischen Phänomenen bei Frauen. Eine allgemeine Kritik der Psychologie betrifft ihre Geschlechterunsensibilität. Geschlecht bleibt in den meisten psychologischen Theorien unbeachtet. Eine besonders prominente Vertreterin einer derartig argumentierenden feministischen Psychologie ist Carol Gilligan (1982), die die Theorie einer spezifisch weiblichen Moralentwicklung formuliert hat. Weitere wichtige Vertreterinnen sind z. B. Juanita Williams (1987), Margaret Matlin (1987) oder Birgit Rommelspacher (1987). Einige Wissenschaftler/innen betreiben die Psychologie der Frau auf der wissenschaftstheoretischen Grundlage der Mainstream-Psychologie. Ihre feministische Ausrichtung besteht also „nur“ in einer Themenverschiebung und einer Identifikation und Korrektur von Vorurteilen über Frauen. Andere beziehen sich in ihrer So berichteten Unger und Crawford (1996) mit Bezug auf den Bericht des „Women’s Programs Office“ aus dem Jahr 1991, dass von 503 Psychology Departments 51 Prozent angaben, auf Undergraduate-Niveau Kurse zur psychology of women anzubieten.

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Forschung auf eine explizit feministische Wissenschaftstheorie, meist auf die sog. Standpunkttheorie (s. die Einführung in feministische Wissenschaftstheorien in der „Stanford Encyclopedia of Philosophy“, Anderson 2012). Standpunkttheorien postulieren, dass Frauen aufgrund ihrer Perspektive zur Erforschung von Frauen- und Geschlechterthemen besser geeignet seien. So begründet ist die psychology of women auch eine von Frauen durchgeführte Psychologie. Die verwendeten Forschungsmethoden sind ähnlich wie die wissenschaftstheoretische Fundierung breit gefächert und umfassen quantitative und qualitative Verfahren. Bereits die Bezeichnung Psychologie der Frau zeigt, dass sie dem Differenzfeminismus nahesteht. Es ist die Betonung der Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen sowie der Verschiedenheit ihrer Lebensbedingungen in patriarchalischen Machtverhältnissen, die diesen politischen und wissenschaftlichen Ansatz auszeichnet. Die Differenz zwischen Männern und Frauen sei hierarchisch strukturiert und beinhalte die Unterdrückung von Frauen durch Männer. Geschlecht wird als trennbar in sex und gender konzeptualisiert.6 In neueren Arbeiten dieser psychologischen Tradition werden allerdings die binäre Geschlechterdifferenzierung selbstkritisch reflektiert und auch Perspektiven einer „Psychologie des Mannes“ entwickelt (z. B. Hyde 2006). In den meisten Publikationen der psychology of women wird auf die Arbeiten von Sigmund Freud Bezug genommen. Dieser psychoanalytischen Theorie wird mit Ambivalenz begegnet. Einerseits wird die Theoretisierung von Geschlechtlichkeit und Sexualität positiv bewertet. Für Freud sind die Entwicklung von Kindern zu Männern und Frauen sowie die Formung der Sexualität nicht selbstverständlich, sondern erklärungsbedürftig. Andererseits wird Freud vorgeworfen, die männliche Entwicklung als Norm etabliert und Weiblichkeit übersehen und abgewertet zu haben. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse wurde u. a. von den Theoretikerinnen Nancy Chodorow (1985), Jessica Benjamin (1993, 2002) und Juliet Mitchell (1976) geführt und wird in aktuellen Arbeiten fortgesetzt (z. B. Johnson 2014; Baraitser 2009). Im theoretischen Rahmen der Psychoanalyse warfen sie (wie de Beauvoir und Haug) die Frage auf, wie Menschen in den gegebenen Gesellschafts- und Familienstrukturen zu Frauen und Männern werden. Dabei sind diese Arbeiten alle stark interdisziplinär ausgerichtet und berücksichtigen neben der Psychoanalyse insbesondere philosophische und sozialtheoretische Arbeiten. Wichtige weitere feministische Lesarten der Psychoanalyse wurden später u. a. von Luce Irigaray (1979), Monique Wittig (1992) und Judith Butler (1991) vorgelegt. Deren Arbeiten unterscheiden sich aber deutlich vom Forschungsprogramm der Psychologie der Frau und werden dem Abschn. 2.3 als dekonstruktionistische Ansätze zugeordnet. Eine besondere Variante der Psychologie der Frau entstand im theoretischen Kontext der kritischen Psychologie. Auch diesem marxistisch orientierten und von

6

Das heißt, dass sowohl ein biologisches Geschlecht (meist als Ursprung der Zweigeschlechtlichkeit) angenommen wird, für die Ausgestaltung des Geschlechts einer Person aber auch (oder vor allem) soziale Faktoren verantwortlich gemacht werden.

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der Gesellschaftlichkeit des Menschen ausgehenden Ansatz wird Geschlechterinsensitivität, vor allem die Vernachlässigung der „Frauenfrage“ vorgeworfen. In enger Anlehnung an die allgemeinen Debatten über das Verhältnis zwischen Marxismus und Feminismus thematisierte die Kritische Psychologie der Frau psychologische Aspekte der Hausarbeit, der Identität oder der Trennung zwischen Reproduktion- und Produktionssphäre (Dreier 1980; Haug 1980; Roer 1980). Dabei wurde die Frage in den Mittelpunkt gestellt, wie Menschen innerhalb gegebener gesellschaftlicher Strukturen zu Frauen und Männern werden (Haug 1987). Diese abstrakte Betrachtungsebene wurde ergänzt durch die Thematisierung konkreter, auch eigener Probleme auf dem Wege der Emanzipation. In kaum einer anderen feministischen Psychologie wird dieser enge Bezug zwischen Wissenschaft und eigenem Leben, zwischen theoretischer Einsicht und persönlichem Lernen so deutlich.

2.2

Kritische Erforschung von Geschlechtergemeinsamkeiten und -unterschieden

Die nicht-feministische Erforschung von psychologischen Geschlechterunterschieden und die Publikation einschlägiger Befunde, teils auch in populärwissenschaftlichen Medien, hat Konjunktur. So wird häufig berichtet, Männer seien aggressiver, durchsetzungsstärker, Frauen einfühlsamer und emotional intelligenter. Erklärt werden die „gefundenen“ Unterschiede häufig evolutionspsychologisch und unter Rückgriff auf die unterschiedliche genetische Ausstattung von Männern und Frauen (siehe für eine umfassende Analyse klassischer psychologischer Theorien hinsichtlich ihrer Geschlechterkonzepte: Sieben 2014). Feministische Psycholog/innen (Hyde 2005; Maccoby und Jacklin 1974; Rustemeyer 2001; Shaw-Barnes und Eagly 1996) argumentieren, dass die Forschung zu Geschlechterunterschieden ideologisch verzerrt sei. Diese Verzerrung wird zurückgeführt auf • methodische Unzulänglichkeiten früherer Studien, die zu einer Überbetonung von Geschlechterunterschieden geführt hätten (vor allem fehlende Dokumentation der Effektstärken); • einen Mangel an Metaanalysen, wodurch die Widersprüchlichkeit und Marginalität von Befunden unsichtbar bleibe; • die Testung der Unterschiedshypothese und die Vernachlässigung der Gleichheitshypothese sowie fehlende Berücksichtigung von Moderatorvariablen; • die Wahl von Theorien, die gefundene Unterschiede essentialisierten. Ergänzend wird dafür plädiert, Geschlecht nicht als dichotome Kategorie, sondern als zweidimensionale Abstufung von Männlichkeit und Weiblichkeit zu konzeptualisieren (z. B. Bem 1976). Diese feministischen Ansätze sind einer nomothetisch orientierten und quantitativ arbeitenden Psychologie verpflichtet. Sie kritisieren, dass die MainstreamForschung zu Geschlechterunterschieden nicht nur anti-feministisch, sondern auch und vor allem aufgrund ihrer ideologischen Verzerrung nicht objektiv und wissen-

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schaftlich sei. Forschende in diesem Bereich bezeichnen ihre Arbeiten allerdings nicht unbedingt selbst als feministisch. Aufgrund ihrer ideologiekritischen Haltung werden sie hier trotzdem den feministischen Psychologien zugeordnet.

2.3

Sozialkonstruktionistische, diskursanalytische und dekonstruktionistische Ansätze

Geschlecht wird in dieser Tradition als kulturelles und soziales Phänomen verstanden, an dessen Herstellung zwar auch biologische Faktoren beteiligt sein können, die aber selbst nie unmittelbar, sondern immer über soziokulturelle Faktoren vermittelt wirken. Zentrale Bedeutung kommt der Sprache und den Diskursen zu. Sprache als kulturell und sozial spezifisches Bezeichnungssystem vermittelt zwischen menschlichem Denken und der Realität. Sprache bildet diese Realität nicht einfach ab (und repräsentiert sie in Aussagen, die im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit beurteilt werden können), sondern stellt diese Realität performativ her (Gergen und Gergen 2009). Eine überlappende Bedeutung mit dem Begriff „Sprache“ kommt dem Begriff „Diskurs“ zu, der neben Sprache aber auch andere, sog. diskursive Praktiken (Körperbewegungen, Redeweisen, rechtliche Bestimmungen etc.) umfasst (Mills 2007). Da Sprache und Diskurse realitätsformend wirken, sind sie immer auch machtvoll und politisch. Feministische Theoretiker/innen identifizieren Diskurse als Quelle der an Geschlecht gebundenen Unterdrückungen, wobei sich Herrschaft vor allem an begriffliche Gegensätze (Dichotomien, binäre Codes)7 bindet. Da aber niemand völlig aus der Sprache oder den Diskursen aussteigen kann, wird die Dekonstruktion als kritische, feministische Strategie verfolgt. Die Dekonstruktion „einer begrifflichen Opposition zerstört diese nicht als einen ‚falschen‘ Gegensatz [...], sondern sie erkennt die Gewaltförmigkeit in der spezifischen, kontingenten Form des Gegensatzes, den man [...] nicht so treffen muss [...]. Dieses Aufschließen einer scheinbar fixierten Beziehung ist eine Eröffnung von neuen Möglichkeiten des Sprechens und Handelns.“ (Saar 2007, S. 175)

Für die feministische Psychologie bedeutet der Sozialkonstruktionismus zweierlei. Erstens sind hiernach auch psychische Phänomene im Zusammenhang mit Geschlecht und Sexualität als soziale Konstruktionen zu verstehen – und nicht als gegebene und zu untersuchende Phänomene „in der Welt“. Zweitens stelle auch die Psychologie als Wissenschaft sprachliche Kategorien und Diskurse her oder beeinflusse sie; daher kann psychologisches Wissen Gegenstand diskursanalytischer Untersuchungen werden (wie dies implizit bereits de Beauvoir 2007 [1949], S. 20, gefordert hat). So berichten z. B. Scheele und Rothmund (2001) über psychologi-

7

So kritisieren Feminist/innen vor allem die Unterscheidungen Mann/Frau, Kultur/Natur, aktiv/ passiv; siehe Haraway (1995).

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sche Untersuchungen, in denen gezeigt wurde, dass bei Verwendung des generischen Maskulinums8 in wissenschaftlichen Texten die bezeichnete Person tatsächlich eher als Mann denn als Frau vorgestellt wird. Hegarty und Buechel (2006) beschreiben, wie neben der Sprache auch Grafiken eine androzentrische Verzerrung aufweisen können. Es sei an dieser Stelle hinzugefügt, dass das „APA Publication Manual“ bereits seit 1977 das generische Maskulinum verbietet. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) gibt zwar kein eigenes Publikationsmanual heraus, verweist aber in der Regel auf das der APA. Umso fragwürdiger ist, dass in den ethischen Richtlinien der DGPs keine geschlechtergerechte Sprache gefordert wird und zusätzlich in den ethischen Richtlinien ausschließlich das generische Maskulinum Verwendung findet. Konstruktionistische, diskursanalytische und dekonstruktionistische Arbeiten in der Psychologie legen meist den Schwerpunkt auf einen der drei Schritte Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion (Burman 1998; Gergen 2001). Unter Konstruktion sind Untersuchungen zu fassen, die Konstruktionen von psychischen Phänomenen im alltäglichen oder im psychologischen Diskurs beschreiben (Gergen 2001; Wilkinson und Kitzinger 1995). Dekonstruktionistische, feministische Psycholog/innen kritisieren die in diese Konstruktionen eingelassenen Kategorisierungen und Dichotomisierungen. Gegenstand der Dekonstruktion sind häufig psychologische Theorien, vor allem auch andere feministische Psychologien. So ist ein Gegenstand der Kritik die der Psychologie der Frau (s. Abschn. 2.1) zugrunde liegende Unterscheidung von Frauen und Männern. Die Perspektive der Rekonstruktion wird von denjenigen eingenommen, die im Anschluss an ihre Kritik versuchen, „bessere“, d. h. weniger festlegende und hierarchisierende Beschreibungen zu liefern.9 Als dem Sozialkonstruktionismus nahestehend kann die Genderforschung in der „klassischen“ Sozialpsychologie angeführt werden (z. B. „The Social Psychology of Gender“, Rudman und Glick 2008). Hier werden Theorien und Konzepte der Sozialpsychologie, vor allem der sozialen Kognitionsforschung, für die Genderforschung fruchtbar gemacht (z. B. Stereotyp, Vorurteil, selbsterfüllende Prophezeiung): Es wird gezeigt, wie Geschlecht als soziales Merkmal Wahrnehmungen, Denken und Handeln beeinflusst, und seinerseits als Merkmal durch eben diese Prozesse konstituiert und sozial konstruiert wird (Marecek et al. 2004). Besonders interessant ist aus feministischer Perspektive die Forschung zum Konzept des Essentialismus10 (z. B. Prentice und Miller 2007).

Der Begriff „generisches Maskulinum“ bezeichnet die Verwendung der männlichen Form zur Bezeichnung von Männern und Frauen. 9 So versuchte zum Beispiel Gergen (2001), eine positive, nicht-pathologisierende Redeweise über die Menopause zu etablieren. 10 Im Modus des Essentialismus denkend wird angenommen, dass Personen aufgrund einer ihnen innewohnenden Essenz zu einer sozialen Kategorie gehören (dies geschieht vor allem bei der Kategorie Geschlecht). Es wird hier untersucht, welchen Einfluss dieses essentialisierende Denken auf das Wahrnehmen, Denken und Handeln hat. 8

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Diese Art der Forschung ist mit dem sozialen Konstruktionismus verwandt, weil sie Einblicke in die Mikromechanismen der Konstruktionsvorgänge vermittelt. Gegen eine Zuordnung zum sozialen Konstruktionismus spricht allerdings die fehlende Selbstanwendung dieser Perspektive. Am Umgang mit dem Merkmal Geschlecht kann diese Zweigleisigkeit gezeigt werden. Einerseits wird Geschlecht als konstruiert begriffen.11 Andererseits wird aber die Einteilung der Versuchspersonen in Männer und Frauen als selbstverständlich angesehen und praktiziert. Insoweit kann diese Forschungsrichtung nicht insgesamt als feministisch bezeichnet werden, sie hält aber für eine feministische, konstruktionistische Perspektive wertvolle Erkenntnisse bereit.

2.4

Queere Psychologien

Queere Psychologien heben die Verbundenheit der Kategorien „Geschlecht“ und „sexuelle Orientierung“ hervor: Die Normen der Geschlechter und das hierarchische Verhältnis zwischen Männern und Frauen werden gemeinsam thematisiert mit Normen der Sexualität und der Unterdrückung nicht-heterosexueller Sexualitäten. Butlers (1991) Konzept der Heteronormativität trifft genau diese Beziehung. Des Weiteren steht im Zentrum die dekonstruktivistische Kritik an den dichotomen und hierarchisierenden Kategorien Mann/Frau und homosexuell/heterosexuell und eine Einbeziehung der Themen Transsexualität, Transgender oder Intersexualität. Nicht nur diese dekonstruktivistische Kritik, auch viele Grundannahmen, theoretische Traditionen, Denkweisen und bevorzugte Forschungsmethoden teilen queere Psychologien mit den in Abschn. 2.3 vorgestellten Ansätzen. So kann queer auch als Bezeichnung für dekonstruktivistischen Feminismus verwendet werden. Queere Perspektiven vereinigen zwei kritische Perspektiven in der Psychologie, die feministische und die schwul/lesbische. Eine Koalition beider Perspektiven ist dabei nicht selbstverständlich (die Darstellung der schwul/lesbischen Perspektive würde ein eigenes Kapitel erfordern; siehe Clarke und Pee 2007 für einen Überblick); hier sollen nur zwei Vorbehalte beispielhaft zur Sprache kommen: Erstens werden der feministischen Psychologie teilweise Homophobie und eine Vernachlässigung der Erforschung lesbischer Frauen vorgeworfen (Kitzinger 1996). Zweitens stehen einige Feminist/innen der Zusammenarbeit mit schwulen Männern kritisch gegenüber. Queere Perspektiven setzen gerade die Subversion dieser Kategorien und damit einhergehender identitärer Grenzziehungen auf das Forschungsprogramm und verstehen queer als umbrella term. Andere bevorzugen die abkürzende Bezeichnung LGBTQ-Psychologien12 (Clarke und Peel 2007; Clarke et al. 2010) oder die Kombination „feministische und queere Psychologien“ (wie in diesem Beitrag). Durch 11

Es sei hinzugefügt, dass meist nur das soziale Geschlecht, gender, als sozial konstruiert begriffen wird. Gleichzeitig wird biologische Zweigeschlechtlichkeit, sex, als real existierend und nicht konstruiert beschrieben. Es wird also mit einer „klassischen“ sex/gender-Trennung gearbeitet. 12 LGBTQ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Queer.

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315

diese Bezeichnungen soll verhindert werden, dass der Begriff queer die jeweils eigenen historischen Entwicklungen, politischen Anliegen und wissenschaftlichen Themen von LGBTQ oder feministischen Psychologien unsichtbar macht oder dass eine Perspektive sich als dominante entwickelt und die anderen marginalisiert.

3

Wichtige Themen und zentrale Diskussionen feministischer und queerer Psychologien

Auch wenn diese vier verschiedenen Ansätze grob in der aufgelisteten chronologischen Reihenfolge entstanden sind, ist von der Vorstellung einer fortschreitenden Entwicklung der feministischen Psychologie Abstand zu nehmen. Vielmehr stehen die verschiedenen Ansätze häufig nebeneinander und ergänzen sich. Dies wird besonders deutlich an der Verschiedenheit der bearbeiteten Themen, die alle gleichermaßen berechtigt, notwendig und aktuell sind. Die Psychologie der Frau (Abschn. 2.1) beschäftigt sich mit psychologischen Aspekten der Lebenssituation von Frauen in einer geschlechtlich differenzierten und hierarchisierten Gesellschaft. In den Lehrbüchern der nordamerikanisch geprägten psychology of women finden sich meistens Kapitel zu folgenden Themen: biologische Grundlagen von Geschlecht, Entwicklungen in der Kindheit, Menstruation, Leistungsmotivation, Frauen und Arbeit, Liebesbeziehungen, Sexualität, Schwangerschaft, Gewalt und späteres Lebensalter. Dem Thema „Karriere von Frauen“ widmeten Betz und Fitzgerald (1987), der „Klinischen Psychologie“ Franke und Kämmerer (2001) je ein eigenes Handbuch. Andere Themenschwerpunkte finden sich in der „Psychoanalyse der Frau“ und „Kritischen Psychologie der Frau“: Erstere thematisiert vor allem Konzepte wie den Ödipus-Komplex, den Penisneid und geschlechtsspezifische Bindungsmuster; letztere psychische Aspekte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Trennung von Produktion/Reproduktion und von privater/öffentlicher Sphäre und der Hausarbeit, aber auch z. B. die Selbstständigkeit von Frauen, Sexualität, Pornografie oder Prostitution. Die kritische Forschung zu Geschlechtergemeinsamkeiten und -unterschieden (Abschn. 2.2) arbeitet insbesondere zu Geschlechterunterschiede und -stereotypen. Themen sind hier Aggression, Kriterien bei der Partner/innenwahl, Sexualität, Leistungsmotivation und Intelligenzleistungen (speziell räumliches Orientierungsvermögen). Sozialkonstruktionistische, diskursanalytische und dekonstruktivistische Ansätze (Abschn. 2.3) wenden sich ähnlichen Themen wie den im Rahmen der Psychologie der Frau behandelten zu – mit dem Unterschied, dass sie die dort behandelten Phänomene als diskursiv hergestellt begreifen. Insoweit geht es z. B. um „The Bleeding Body: Adolescents Talk about Menstruation“ (Lovering 1995) statt um Menstruation. Zusätzlich sind psychologische Theorie im Allgemeinen und feministische, psychologische Theorien im Besonderen Gegenstand der Untersuchung (Burman 1998; Wilkinson und Kitzinger 1995). Texte der queeren Psychologie (Abschn. 2.4) sind oft auf der metatheoretischen Ebene angesiedelt: Es wird viel häufiger gefragt, was eine queere Psychologie

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eigentlich sein kann (z. B. Burman 1998; Clarke und Peel 2007; Clarke et al. 2010), als dass zu empirischen Forschungsfragen gearbeitet wird.13 Teilweise wird die Psychologie als disziplinärer Ort der Forschung auch komplett abgelehnt (Kitzinger 1996). Für empirische Arbeiten ist kennzeichnend, dass sie den Blick auf dass sie den Blick auf das „Normale“ richten und es erklärungsbedürftig machen. Dadurch rücken zum Beispiel Themen wie Sexualität (Johnson 2014), Heterosexualität (Wilkinson und Kitzinger 1993) oder Männlichkeit (z. B. Seidler 2005) in den Vordergrund. Außerdem werden die Lebenssituationen derjenigen untersucht, die sexuell und geschlechtlich von Heteronormativität abweichen, also z. B. Elternschaft im Leben von Lesben, Transmenschen oder Schwulen. Zuletzt ist die kritische Auseinandersetzung mit den Klassifikationssystemen psychischer Krankheiten ICD und DSM IV zu nennen. Die Klassifikation von Homosexualität als Krankheit wurde (erst) 1993 gestrichen. Andere Klassifikationen haben aber Bestand, so die der Geschlechtsidentitätsstörung, des Transvestismus oder der Störungen der sexuellen Präferenz. Die Debatten um diese Klassifikationen (z. B. Johnson 2007) haben die Entwicklung des ICD-11 geprägt. Die zentralen Diskussionen zwischen verschiedenen feministischen Psychologien sind in Abschn. 2 bereits angeklungen. Diese betreffen zunächst den Umgang mit der dichotomen Geschlechterkategorie. Die psychology of women verwendet diese Kategorie zur Gegenstandskonstituierung, sozialkonstruktionistische Ansätze untersuchen die Herstellungs- und Stabilisierungsmechanismen der Geschlechterunterschiede und queere Ansätze streben eine Dekonstruktion der Geschlechterkategorie an. Die Frage nach der Konzeptualisierung der Geschlechterdifferenz beeinflusst die präferierte Namensgebung. Sollte von feministischer Wissenschaft, queerer Forschung, Frauenforschung oder Gender Studies gesprochen werden? Eine kritische Aufarbeitung der Namensgebung feministischer Wissenschaft in Deutschland hat Sabine Hark (2005) vorgelegt. Für die Diskussion in der Psychologie sind vor allem die Berichte über die Institutionalisierung in den USA und Großbritannien aufschlussreich (Unger 1998; Wilkinson 1996). Als nächster Diskussionspunkt sind die divergierenden Wissenschaftstheorien zu nennen. Für die einen ist feministisches Wissen möglichst objektives, nicht ideologisch-verzerrtes Wissen, für die anderen notwendigerweise Wirklichkeit konstruierend, standortgebunden und subjektiv. Mit der Wahl einer Wissenschaftstheorie hängt die Entscheidung für bestimmte Forschungsmethoden zusammen. Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob sich feministische von nicht-feministischen Methoden unterscheiden lassen (für ausführliche Diskussionen: Althoff et al. 2001; Kimmel und Crawford 1999). Insgesamt überwiegt in diesem Zusammenhang sowohl aus inhaltlichen als auch aus politischemanzipatorischen Gründen eine Affinität zu qualitativen Methoden (Gergen 2008): Sozialkonstruktionistische Ansätze untersuchen durch Sprache und Diskurse herge13

Obwohl diese Diskussionen in der dekonstruktivistischen und queeren Tradition besonders häufig sind, sei darauf hingewiesen, dass sich eine als feministisch verstehende Psychologie immer die Frage stellen muss, was sie in Abgrenzung zur „objektiven“ Mainstream-Psychologie eigentlich sein kann. Dementsprechend finden sich im Rahmen aller hier vorgestellten Ansätze solche metatheoretischen Überlegungen.

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stellte Bedeutungen und darin eingelassene Machtverhältnisse. Eine Erfassung und Auswertung dieses Untersuchungsmaterials ist ohne qualitative Methoden undenkbar. Wer sich die Dekonstruktion zum Ziel macht, kann im Sinne der Selbstanwendung kaum mit vor der Untersuchung festgelegten (dichotomen) Untersuchungskategorien arbeiten – diese Fixierung ist für viele experimentelle und quantitative Verfahren aber unerlässlich (siehe für eine ausführliche Ausarbeitung einer queeren Perspektive auf quantitativ-experimentelle Methoden: Scholz 2018). Aus politischemanzipatorischer Perspektive spricht für einige qualitative Verfahren, dass sie eine Hierarchie zwischen Versuchsleiter/innen und Teilnehmenden vermeiden und letzteren eine eigene „Stimme geben“. Einige Forschende (z. B. Gergen 2001) verbinden mit ihrer Forschung direkt eine Veränderungsintention und versuchen, z. B. im Interview bereits eine Verschiebung des Diskurses herbeizuführen. Dass die Durchführung einer Forschungsarbeit immer standpunktgebunden ist, gehört bei vielen qualitativen Verfahren zu den Grundannahmen und wird dementsprechend reflektiert – es ist auch dieser selbstreflexive Umgang, der die besondere Nähe zwischen feministischer und qualitativer Forschung erklärt. Es sei allerdings betont, dass diesem hohe Anspruch an partizipative, emanzipative und reflexive Forschung sicherlich nicht alle qualitativen Verfahren gerecht werden. Mit wenigen Ausnahmen (u. a. das Forschungsprogramm Subjektive Theorien, Groeben et al. 1988) wird z. B. der Auswertungsprozess ohne Partizipation der Versuchsteilnehmenden durchgeführt.

4

Ausblick: Stand und Perspektiven

Eine Stärke queer-feministischer Psycholog/innen besteht darin, dass sie ein politisches und teilweise persönliches Anliegen haben. Sie stellen ihre Forschungsfragen im Hinblick auf zu verändernde Verhältnisse der Geschlechter und Sexualitäten und verlieren dabei nicht so leicht die praktische und emanzipatorische Relevanz ihrer Forschung aus den Augen. Angesichts der Komplexität der Geschlechterverhältnisse und der vielfältigen Verwicklungen der Wissenschaft mit ihnen erscheint die Heterogenität der feministischen Psychologie auch in Hinblick auf die verwendeten Methoden als sinnvolle Adaptation an den Gegenstand. Die Unterschiede und Widersprüche zwischen den verschiedenen Ansätzen sind aber auch als Ausdruck einer selbstreflexiven, dialogorientierten und plural verfassten Wissenschaft positiv zu bewerten (Longino 1994). Dass Forschung immer an den eigenen, wertenden Standpunkt gebunden ist, liegt bei feministischen Psychologien auf der Hand. Eine explizite Auseinandersetzung mit und Diskussion um die eigenen Grundannahmen ist somit eine unvermeidbare Stärke. Intensive Auseinandersetzungen mit vielfältigen Forschungsmethoden haben dazu geführt, dass von feministischen Psycholog/innen wichtige (Weiter-)Entwicklungen vor allem qualitativer Verfahren ausgegangen sind (z. B. Gergen 2008; Kimmel und Crawford 1999). Aus all diesen Gründen dürfen die feministischen Psychologien als ausgesprochen positives Beispiel (gesellschafts-)kritischer Psychologie gelten. Die größte Schwäche feministischer Psychologien ist ihre Marginalität, vor allem in Deutschland: Die feministische Psychologie ist zu wenig institutionalisiert und mischt sich zu wenig ein. Dies gilt für die Integration in die Mainstream-

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Psychologie, die Schaffung einer institutionell selbstständigen feministischen Psychologie und die Anbindung an interdisziplinäre Gender Studies gleichermaßen. So fehlen nicht nur feministische Perspektiven in der Psychologie, sondern auch psychologische Perspektiven in den feministischen Wissenschaften. Besonders interessant könnte aufgrund der naturwissenschaftlichen Ausrichtung großer Teile der Psychologie auch die Zusammenführung mit der kritischen Geschlechterforschung in den Naturwissenschaften (Ebeling und Schmitz 2006) sein. Mit der fehlenden Etablierung als Forschungsbereich hängt der Mangel an theoretischen und empirischen Arbeiten direkt zusammen. Viele Fragen der feministischen Psychologie sind unbeantwortet. Insbesondere im Bereich der dekonstruktivistischen und queeren Ansätze fehlt es an konkreten Forschungsarbeiten, welche die dort geführten metatheoretischen Debatten ergänzen. In diesem Kapitel wurden feministische Psychologien auch deswegen als so vielfältig vorgestellt, um Forschende verschiedenster psychologischer Richtungen zu queer-feministischer Psychologie zu ermutigen.

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Feministische und queere Psychologien

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Teil II Ausgewählte Anwendungsfelder

Qualitative Entwicklungspsychologie Günter Mey

Inhalt 1 Disziplinäre Einordnung und historische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Beitrag klassischer Arbeiten zu einer qualitativen Entwicklungspsychologie . . . . . . . . 3 Zentrale Themen einer qualitativen Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In dem Beitrag werden zunächst einige „klassische“ Arbeiten aus der Frühphase der Entwicklungspsychologie vorgestellt, die mit Blick auf eine Methodeninnovation wichtige Anstöße für die Neukartierung einer qualitativen Entwicklungspsychologie bieten. Im Anschluss daran werden mit Biografie, Identität, Moral und Bindung ausgewählte Themenfelder markiert, in denen ein qualitatives Vorgehen zentral gestellt wurde und wird. Für die Entwicklungspsychologie kann ein Rekurs auf qualitative Methoden vor allem in der Kindheits- und Alternsforschung verzeichnet werden, während die methodologische Konturierung einer qualitativen Juventologie noch aussteht. Obwohl sich für die Entwicklungspsychologie insgesamt etliche qualitative Forschungsbemühungen finden, weist sie als Fach bislang weiterhin kein qualitatives Forschungsprofil auf. Plädiert wird daher für die weitere Ausarbeitung einer an Transformationen und als Prozessanalyse ausgerichteten qualitativen Entwicklungspsychologie.

G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Internationale Akademie Berlin, Institut für Qualitative Forschung, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_62

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G. Mey

Schlüsselwörter

Tagebuchstudien · Beobachtung · Interviews · Identität · Kindheitsforschung · Biografie · Narrative Psychologie · Alternspsychologie

1

Disziplinäre Einordnung und historische Relevanz

Die Entwicklungspsychologie als eines der zentralen Teilfächer der Disziplin kann, verglichen mit anderen Fachgebieten, durchaus als „qualitativ“ affin gelten. Nicht zuletzt aufgrund ihres Forschungsgegenstandes – der intraindividuellen Entwicklung mit Blick auf kürzere, aber auch längerfristige Veränderungen sowie der Fülle an entwicklungsrelevanten Themen und Kontexten für alle innerhalb des Faches beachteten Altersgruppen – bietet es sich an, auf qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren zurückzugreifen. Darauf hat schon Lutz Eckensberger (1979) vor mehr als 40 Jahren aufmerksam gemacht, indem er den multiparadigmatischen Charakter des Faches (Resse und Overton 1979 [1970]) betonte, der spätestens im Zuge des Umbaus von einer „traditionellen“ hin zu einer „modernen“ Entwicklungspsychologie (Oerter 1968) sich abzuzeichnen begonnen hatte. Demnach existierten unterschiedliche Theorien, Modelle und Fragestellungen nebeneinander, die auch verschiedener Methoden bedürften. Insofern seien auch qualitative Forschungsansätze unverzichtbar, und hierbei insbesondere interpretative Methoden, die auf Sinn und Erfahrung basieren und eine Erforschung von Subjekten erlauben, die (selbst-) reflexiv und deutend ihre Umwelt ko-konstruieren. Diese Überzeugung deckte sich mit weiten Teilen der Entwicklungspsychologie, in der ab den 1970er-Jahren die Konzeption eines selbstreflexiven Subjekts und die Rede von den „Individuals as Producers of their Development“ (Lerner und Busch-Rossnagel 1981) kursierten und z. B. in den dialektischen Ansatz von Klaus Riegel (1978) Eingang gefunden hatten. Es wurde vermehrt ein Verständnis propagiert, dass eine angemessene Untersuchung der „Entstehung individueller Deutungsprozesse und Regelsysteme im Kontext kulturell geteilter Deutungsmuster und Regelsysteme“ (Eckensberger und Keller 1998, S. 43) zu leisten sei. Anschlussfähig für eine qualitative Methodik ist auch die Kritik Bronfenbrenners (1977), der für Alltagsnähe und für die Berücksichtigung von Lebenswelten plädierte und für die damals gängige experimentelle Forschungspraxis mit seinem sozialökologischen Ansatz eine Alternative eröffnete. Im Zuge einer Kartierung der Relevanz von qualitativer Forschung in der Entwicklungspsychologie – und wie im Rahmen der Ausarbeitung von „Grundlinien einer qualitativen Entwicklungspsychologie“ (Mey 2000, 2010) pointiert – kam auch den Arbeiten aus der „Frühphase“ des Faches wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Besonderes Anliegen war es dabei herauszustellen, dass „die Großeltern der heutigen Entwicklungspsychologie bereits über ein eigenständiges Instrumentarium verfügten“ (Keller 1989, S. 229). In der Mainstream-Entwicklungspsychologie – die sich wie die Gesamtdisziplin zunehmend naturwissenschaftlich verstand und quantitativ dominiert war – wurden genau diesen Arbeiten recht bald als „impressionistisch“ oder „unwissenschaftlich“ diskreditiert. In vielen Lehrbuchdarstellungen

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scheinen diese Werke – wenn überhaupt – wohl, wie Hoppe-Graff (1998) vermutet, vor allem noch deshalb erwähnt zu werden, um aufzuzeigen, wie entwicklungspsychologische Forschung nicht zu betreiben sei. Mit Blick auf eine qualitative Forschungsausrichtung sind die frühen Arbeiten aber gerade interessant, weil sich hier ein „Gegenstandsverständnis“ findet, das auf „Ganzheit“, „Historizität“, „Einzelfallbezug“ usw. verweist – allesamt Konzepte, die heute als „Säulen qualitativen Denkens“ (Mayring 2002, S. 24–39) bezeichnet werden können und mit denen Entwicklung jenseits der (variablen- statt personenorientierten) Entwicklungspsychologie mit ihrem Fokus auf beobachtbarem (messbarem) Verhalten als komplexes Geschehen verstanden und rekonstruiert werden kann. Im Folgenden wird zunächst auf einige „klassische“ Arbeiten aus der Frühphase der Entwicklungspsychologie eingegangen (Abschn. 2). Im Anschluss daran werden ausgewählte Themenfelder skizziert, für deren Bearbeitung ein qualitatives Vorgehen zentral war und ist (Abschn. 3). Darauf folgt eine Einschätzung des aktuellen Standes qualitativer Forschung in der Entwicklungspsychologie (Abschn. 4).

2

Der Beitrag klassischer Arbeiten zu einer qualitativen Entwicklungspsychologie

Der Darstellung der klassischen Arbeiten ist voranzuschicken, dass die „Gründungseltern“ zwar viele Argumente für die Fundierung und Ausgestaltung einer qualitativen Entwicklungspsychologie lieferten, das Label „qualitativ“ allerdings selbst nicht verwendet haben, da die heute übliche Begriffsdistinktion qualitativ vs. quantitativ fehlte. Selbstverständlich fehlte es nicht an Diskussionen um Methoden (in) der (Entwicklungs-)Psychologie: so die Debatte um die „Krise der Psychologie“ (Bühler 1927), die bereits den Beginn der Disziplin kennzeichnete, teilweise geführt um den von Windelband (1894) unterbreiteten Vorschlag der Unterscheidung zwischen nomothetischer und ideografischer Wissenschaft (anstelle des Gegensatzpaares Natur- vs. Geisteswissenschaft; Hoppe-Graff et al. 2001). Insofern kann bei Arbeiten aus der Frühphase des Faches nicht einfach von „Vorläufern“ qualitativer Forschung gesprochen werden, denn „Vorläuferschaft“ stellt eine nachträgliche Zuschreibung dar. Es wäre – um eine Analogie zu verwenden, auf die Mario Erdheim (1996, S. 85) im Zusammenhang mit der Frage der „Nachträglichkeit“ hinweist – „völlig verfehlt zu sagen, El Greco habe den Expressionismus vorweggenommen und sei gleichsam einer seiner Vorläufer gewesen. Der Expressionismus schuf vielmehr die Empfindlichkeit, die eine neue und fruchtbare Einschätzung der Werke von El Greco erlaubte“. Verallgemeinert bedeutet dies, dass sich zu jeder Zeit aufgrund der jeweiligen Problemlagen/-verständnisse das Interesse auf die Vergangenheit in genau jener Art und Weise richtet, die zur Lösung je gegenwärtiger Fragen nötig scheint. Auch für die Entwicklungspsychologie ist dies ersichtlich. So fanden Piagets Arbeiten – in den 1920er-Jahren begonnen – erst in den 1960er-Jahren, im Zuge der „kognitiven Wende“, ihren Durchbruch, d. h. erst in

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dieser Zeit bestand ein tiefes Verständnis für dessen Anliegen einer genetischen Erkenntnistheorie. Dies gilt ebenso für die lange Zeit vergessene Arbeit „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ (Muchow und Muchow 2012 [1935]), deren „Wiederentdeckung“ in eine Zeit fiel, in der sich das Fach mit einer ökologischorientierten Entwicklungspsychologie für die materialen Umwelten und konkreträumliche Einbettung von Entwicklung zu interessieren begann (Görlitz et al. 2012 [1998]; Miller 1998). Wenn nach „Klassikern“ und „Wegbereitern“ (eine ebenfalls häufig zu findende Terminologie) gefragt wird, ist zuerst an die Tagebuchaufzeichnungen von Stern und Stern (1965 [1907]) zu denken. Jürgen Zinnecker (1999, S. 72) begreift diese als eine „Ethnografie“ des Kinder(zimmer)lebens jenseits der „lebensfremden Schematismen und Abstraktionen, die uns unter dem Namen ‚Psychologie‘ nicht selten begegnen“, wie es Stern selbst ausdrückte (Stern 1927, S. 145). Da die Sterns kindliche Äußerungen in ihrer Ganzheit erfassen wollten, legten sie die Aufzeichnungen für jedes ihrer drei Kinder separat an; auch die Auswertung sah vor, zunächst materialnah die drei Fallgeschichten zu präsentieren, um erst danach unter Einbezug eines größeren theoretischen Kontexts Vergleiche anzustellen. Diese Herangehensweise ist für Werner Deutsch (der sich um die Einordnung und Zugänglichmachung der Stern’schen Tagebuchstudien verdient gemacht hat) ein methodischer Anker auch für die Zukunft. Er hält entsprechend fest: „Vielleicht bekommen entwicklungspsychologische Tagebuchstudien wieder mehr Aufwind, wenn an die Stelle einer Psychologie, die Menschen in Strukturen und Funktionen zerteilt, eine Sicht des Menschen tritt, die die Verbindung dieser Strukturen und Funktionen innerhalb einer sich entwickelnden Person betont.“ (Deutsch 2001, S. 351) Noch vor den Sterns – die ihre Arbeiten in ein theoretisches Rahmenkonzept, den „Personalismus“, eingebettet haben und damit explizit theorieorientiert waren (Lamiell 2010) – fanden sich einige der für die Konstituierung des Faches zentrale Arbeiten, die als reine Datensammlungen angelegt waren. In den sogenannten „Vater-Tagebüchern“ (Schmid 2001) dokumentierten bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert etwa Charles Darwin (1974 [1877], s. dazu Conrad 1998) oder Wilhelm Preyer (1923 [1882], s. dazu Hoppe-Graff und Kim 2007) möglichst detailgetreu die Entwicklungsprozesse der eigenen Kinder. Gegenüber der gängigen Kritik innerhalb der Mainstream-Psychologie – insbesondere wird der Einzelfallbezug und die mangelnde Generalisierung, die Nähe der Forschenden zu ihren Forschungssubjekten und die damit verbundene Voreingenommenheit beklagt – plädiert Siegried Hoppe-Graff (1989, 1998) seit Ende der 1980er-Jahre für eine Wiedereinführung solcher Tagebuchstudien als Längsschnittmethode. Ebenfalls stehen diese frühen Arbeiten dafür, die (Einzel-)Fallstudie als Design für die Entwicklungspsychologie aufs Neue zu legitimieren (Mey und Wenglorz 2005). Lange unbeachtet waren auch die Arbeiten von Martha Muchow, jener Mitarbeiterin von William Stern, der nach dessen Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten die Abwicklung des Hamburger Instituts übertragen wurde und die sich 1933 das Leben nahm, weil sie „persönlich vor den Verhältnissen in Deutschland kapituliert[e]“ (Zinnecker 1998, S. 5). Ihre posthum durch ihren Bruder Hans Heinrich

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veröffentlichte Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ (Muchow und Muchow 2012 [1935]) zeichnete sich durch unterschiedliche offene methodische Zugänge aus: teilnehmende Beobachtungen, Gespräche, Aufsatzverfahren neben Dokumentenanalysen und standardisierten Verfahren. Darüber hinaus insistierte Muchow auf der Differenz zwischen Erwachsenen/Forschenden- und Kind-Perspektive und erkannte damit an, dass das Verstehen der Eigenart von Kindern die Anerkennung der Unterschiedlichkeit von Erwachsenen und Kindern voraussetzt. Heute gilt diese Arbeit als ein Klassiker einer umweltpsychologischen und lebensweltlichen Kindheitsforschung (Mey 2018). Ebenso sind die zeitgleich – aber ohne Referenz auf Muchow – vorgelegten Arbeiten von Kurt Lewin anzuführen, insbesondere jene, die er in seinem filmischen Werk „Das Kind und seine Welt“ unter der Regie von Eberhard Frowein (1935) vorgelegt hat (Thiel 2003). Der Film war wie die Studie von Muchow lange Zeit „verschwunden“ und wurde erst ab den späten 1970er-Jahren wieder rezipiert (Van Elteren 1992); Teile des Films, insbesondere spielende Kinder in Berliner Hinterhöfen, sind für den Dokumentarfilm „Auf den Spuren von Martha Muchow“ (Mey und Wallbrecht 2016) verwendet worden. In diesem Zusammenhang zu nennen sind auch die von Robert Waelder (1932) getätigten Analysen von Spielbeobachtungen (dazu: Hoppe-Graff 2005) und die Arbeit des Ehepaars Katz und Katz (1928), die die Gespräche mit ihren beiden Kindern protokollierten und die insgesamt 154 festgehaltenen Dialoge als Zugang zu deren Denken, Wünschen, Fühlen verstanden (dazu: Billmann-Mahecha 2011). Die letztgenannten Studien sind weit weniger bekannt und werden seltener rezipiert als das Werk von Jean Piaget, der wohl bekannteste Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts, dessen Forschung Gerald Duveen (2000) als „Ethnografie“ klassifiziert. Piaget hat im Rahmen seiner strukturgenetischen Studien einige Innovationen vorgelegt. Hans Thomae (1976, S. 42) würdigt entsprechend: „[D]ie Basis einer mehr und mehr unübersehbaren experimentellen Literatur bildeten Beobachtungen und systematische Gespräche (Explorationen) mit wenigen Kindern. Das qualitative Studium konkreten Verhaltens, dem man die Chance einer gewissen Variationsbreite im Beobachtungszeitraum zubilligt, damit also der Gegenstand selbst und nicht ein methodologisches Prinzip, bildet die notwendige sachliche Voraussetzung für die Entstehung eines Werkes, das sich mehr und mehr zu einem umfassenden psychologischen Kosmos bildet. Dies ist ein Aspekt der Piaget-Story, den viele seiner Anhänger heute übersehen.“

Insbesondere in seinen methodischen Darlegungen im Band „Das Weltbild des Kindes“ (Piaget 1999 [1926]) zu den Einsatzmöglichkeiten und Anwendungen der „klinischen Methode“ erörterte Piaget die Grenzen rein-experimentellen Vorgehens für die ihn interessierenden Fragen nach Repräsentationen von Phänomenen und dazugehörigen Erklärungsmustern von Kindern. Testverfahren gingen, so Piaget, „möglicherweise an wesentlichen Fragen, an spontanen Interessen und ganz ursprünglichen Vorstellungen vorbei“ (Piaget 1999 [1926], S. 18); auch (standardisierte) Beobachtungen seien – trotz seiner Wertschätzung für diese Methode – ungeeignet. Mit seinen Ausführungen hat Piaget kenntlich gemacht, wie Methodenwahl und

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Methodenentwicklung vom Gegenstand her begründet und geleistet werden können und müssen. Seine Arbeitsweise findet sich auch in Überlegungen zur Revitalisierung des „qualitativen Experiments“ wieder (Burkart 2005). Darüber hinaus hat er mit seiner genetischen Erkenntnistheorie (Piaget 1988) und seinen Ausführungen zu assimilierenden und akkommodierenden Operationen wichtige theoretische Anknüpfungspunkte insbesondere mit Blick für im Auswertungsprozess zu vollziehende Verstehensleistungen gegeben, die allerdings nur selten (so etwa bei Jürgen Straub 1999) gewürdigt werden. Einen ganz anderen Strang der Entwicklungspsychologie, die sich zu dieser Zeit vornehmlich als Kindheitsforschung verstand, bilden die Tagebuchanalysen Adoleszenter von Charlotte Bühler (z. B. 1929). Bühler stufte zur Erforschung des „Seelenlebens des Jugendlichen“ die damals gängigen psychologisch-experimentellen Vorgehensweisen als nur begrenzt tauglich ein und sah in der Analyse der von Jugendlichen verfassten Tagebüchern einen eigenen, dem speziellen Gegenstand („innere“ Zustände und ihre Verarbeitung) angemesseneren Zugang. Bühler war jedoch – wie Rolf Oerter in seinem Vorwort zur 7. Auflage (Oerter 1991, S. 7) ausführt – noch nicht „in der methodenkritischen Situation wie nachfolgende Generationen von Entwicklungspsychologen“, sodass ihre Auswertungen aus heutiger Sicht eine nicht genau zu charakterisierende Mischung aus Hermeneutik und Inhaltsanalyse darstellten, denn „beide Formen der Auswertung [...] werden methodisch nicht scharf geschieden“ (Oerter 1991, S. 6). Dass allerdings auch schon zu damaliger Zeit methodisch fundierter gearbeitet wurde, legen die zum gleichen Zeitpunkt durchgeführten Arbeiten von Siegfried Bernfeld (1978 [1931]) nahe: Er näherte sich den ihm vorliegenden Tagebuchtexten Adoleszenter (so in seinen Hauptwerk „Trieb und Tradition“) via hermeneutischem Forschungsansatz, psychoanalytischer Methodik und unter einer sozialgeschichtlichen Perspektive (dazu wie auch zu Bühlers Arbeiten Kochinka 2008). Zudem forderte Bernfeld explizit die Reflexion der Beziehung zwischen Forschenden und ihrem Gegenstand, wie an einer Passage deutlich wird, in der er enthusiastisch auf die Introspektion zu sprechen kommt: „Ohne introspektive Erinnerung bleibt uns alles, was wissenschaftliche Beobachtung vom Kinde und dem Jugendlichen festzustellen vermag, letztlich unverständlich, oder wir sind in Gefahr, es im Sinne des erwachsenen Seelenlebens aufzufassen“ (Bernfeld 2010 [1922], S. 5). Zum Schluss sei zumindest noch auf „Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem“ von Charlotte Bühler (1933) hingewiesen, in dem erstmals im deutschsprachigen Raum das höhere Lebensalter in einer Psychologie der Lebensspanne einbezogen und mit Interviews gearbeitet wurde. Entlang der hier kursorisch herausgestellten Studien ist kenntlich geworden, wie sehr diese in der Frühphase der Entwicklungspsychologie zentralen Arbeiten im Sinne einer qualitativen Forschungsorientierung angelegt wurden und einen wesentlichen Teil des Faches mitgeprägt haben. Innerhalb der Mainstream-Entwicklungspsychologie wird die besondere methodische und methodologische Relevanz nur wenig gewürdigt. Seitens der qualitativen Forschung steht bis heute eine stringent systematisierte Aufbereitung der Fülle an fruchtbaren Arbeiten aus der Zeit der Weimarer Republik für die Kartierung der qualitativen Forschung in der Entwick-

Qualitative Entwicklungspsychologie

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lungspsychologie noch aus (erste Überlegungen dazu finden sich bei BillmannMahecha 1994, 2015; Mey 2010). In einer solchen Aufbereitung wären sicherlich weitere Arbeiten zu berücksichtigen. Zu denken ist an die Vorschläge, Introspektion als Zugang für entwicklungspsychologische Studien zu rekonzeptualisieren, wie sie in der Ganzheitspsychologie Anwendung fanden (Valsiner 2017). Ebenso wären die Arbeiten von Lew Wygotski (2002 [1934]) von Interesse, dessen Überlegungen einen wichtigen Beitrag zu einer (entwicklungs-)psychologischen Hermeneutik liefern können (Kölbl 2004). Aufzugreifen wäre hierbei insbesondere seine Forderung, dass eine Psychologie, die „komplexe Ganzheiten“ untersuchen möchte, eine Analysemethode benötigt, die eine Zergliederung in Einheiten erlaubt und zugleich die „komplexen Ganzheiten“ bewahrt.

3

Zentrale Themen einer qualitativen Entwicklungspsychologie

Ähnlich wie sich für die Entwicklungspsychologie in der Weimarer Zeit eine Fülle an Arbeiten nennen lassen, in denen qualitative Forschung betrieben und qualitative Ansätze entwickelt wurden, gilt dies für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Mit dem Nationalsozialismus hat es eine tiefe Zäsur in der Wissenschaftslandschaft gegeben; Forschende wurden vertrieben bzw. immigrierten (wie Lewin und Stern) oder begangen Suizid (wie Martha Muchow). Zum Teil wurde an die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vorgelegten Werke nicht bzw. wie im Falle der Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ (Muchow und Muchow 2012 [1935]) erst nach vielen weiteren Jahrzehnten angeschlossen. Stattdessen wurden neue Zugänge ohne Rekurs auf „Vorgängerarbeiten“ vorgeschlagen, so etwa – wie nachfolgend skizziert – für die Forschungsfelder Biografie, Identität, Moralentwicklung und Bindung (Abschn. 3.1) sowie zumindest ansatzweise für die Kindheits- und Alternsforschung und (weniger deutlich) für eine qualitative Juventologie (Abschn. 3.2).

3.1

„Moderne Klassiker“ einer qualitativen Entwicklungspsychologie

Für die deutschsprachige Entwicklungspsychologie besonders zentral waren die Arbeiten von Hans Thomae und die von ihm vorgeschlagene „biografische Methode“ (Thomae 1952, 1956). Eingebettet waren diese in seine grundsätzlichen Überlegungen zum „Individuum und seine Welt“ (Thomae 1996 [1968]) und zu einer insbesondere an biografischen Prozessen interessierten Entwicklungspsychologie (Kaiser 2005; Kruse 2005). Gemeinsam mit Ursula Lehr u. a. machte Thomae darauf aufmerksam, dass sich in Lebensläufen weit mehr „Einschnitte“, „Meilensteine“ und entwicklungsrelevante Stationen finden, als dies etwa in dem Modell der Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1948) nahegelegt schien (z. B. Lehr 1998). Denn wenn der Blick auf die subjektiven Sinnbezüge von Individuen und die (Re-)Konstruktionen ihrer Lebensgeschichten gerichtet wird, geraten über die je

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nach Alternsabschnitt zentralen normativen Marker eben auch non-normative Ereignisse in den Fokus, wie sie im Konzept der „kritischen Lebensereignisse“ mittlerweile gefasst werden (Filipp 2010). Ebenfalls relevant für die Grundzüge einer qualitativen Entwicklungspsychologie sind die Arbeiten von Erik H. Erikson, der insbesondere wegen seines Beitrags zu Identitätsforschung in keinem Band der Entwicklungspsychologie fehlt. Erikson hatte im Anschluss an die Freud’sche Entwicklungstheorie eine psychosoziale Theorie menschlicher Persönlichkeit vorgeschlagen und dabei nicht nur die psychosexuellen Phasen „psycho-sozial“ ausgelegt und seine Betrachtungen über das Jugendalter hinaus auf den gesamten Lebenslauf ausgedehnt, sondern er ist auch methodisch anders vorgegangen. Zwar bildeten auch für ihn psychotherapeutische Sitzungen einen wesentlichen Erkenntnisort für seine Theorieentwicklung. Er führte jedoch aufgrund seiner Arbeiten mit Kindern darüber hinaus (Spiel-)Beobachtungen durch, die er dann aber eher „streng“ psychoanalytisch gedeutet hat. Aufgrund seines Interesses an der sozialen Verfasstheit von Entwicklung – etwa dargelegt in „Kindheit und Gesellschaft“ (Erikson 1950); heute würden einige seiner Arbeiten eher kulturpsychologisch verortet – hat er längere Feldaufenthalte bei Indianerstämmen realisiert. Schließlich hat er auch historische Dokumente einer Analyse unterzogen, darunter die Schriften von Adolf Hitler oder einen Film über Maxim Gorki, und eine Art „Psychohistorie“ betrieben. An dem Werk Eriksons ist bemerkenswert, wie er als historisch-interessierter und anthropologisch-inspirierter Psychoanalytiker seine Forschungsarbeit gestaltete. Sei es als Feldaufenthalte in verschiedene Kulturen, die Analyse vorliegender Materialien sowie seine Beobachtungen und Gespräche oder der Rückgriff auf seine klinische Fallarbeit. Da diese Studien heutigen „Standards“ – sowohl der quantitativen als auch der qualitativen Forschung1 – nur ansatzweise entsprechen, werden sie weit weniger gewürdigt als seine Verdienste um Identitätstheorien. Die Erforschung von Identität wurde im Anschluss an Erikson von James Marcia systematisiert. Marica entwickelte das „Identity Status Interview“ (ISI), für das er die aus Eriksons Theorie abgeleiteten Identitätsdimensionen „Krise“ und „Verpflichtung“ zur Konturierung von vier Identitätsformationen – als „übernommen“, „diffus“, „aufgeschoben“ und „erarbeitet“ bezeichnet – heranzog (Marcia 1980). Mit dem ISI und dem dazu entwickelten Auswertungsmanual (Marcia 2007) wurden verschiedene Fragebereiche (insbesondere zu Wertorientierung, Arbeit und Familie) – zusammengestellt, die dann insbesondere auf diese vier Statuse von Identität abgestimmt waren. Marcia gelang es auf diese Weise, den Ansprüchen an eine überprüfbare Empirie zu genügen, z. T. aber um den Preis, die mit Identität verbundene Komplexität unterbestimmt zu lassen (zu narrativer Identitätsforschung siehe Abschn. 3.2). Mit dem „Struktur-Dilemma-Interview“ wurde in den 1960er-Jahren von Lawrence Kohlberg ebenfalls ein eigenes Verfahren etabliert, das auf die Erforschung der Moralentwicklung abzielte (Kohlberg 1995). In diesem werden den Interviewten

1

Siehe dazu die Debatte in Forum Qualitative Forschung/Forum: Qualitative Social Research, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/pages/view/quality.

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Dilemmata (Geschichten) aus miteinander unvereinbaren Werten oder Handlungsoptionen vorgegeben. Eine der bekanntesten Geschichten ist das sog. „Heinz-Dilemma“, in dem die Geschichte eines Ehemannes dargestellt wird, dessen Frau erkrankt ist und sich die Frage stellt, ob dieser zur Beschaffung des Heilung versprechendem Medikaments in eine Apotheke einbrechen dürfe. Im Rahmen des Interviews werden Gründe für die Lösung des Dilemmas durch systematische Nachfragen weitergehend exploriert. Kohlberg, ein Schüler Piagets, der auch mit Robert K. Merton und Anselm L. Strauss Kontakt hatte, schuf damit für lange Zeit das wichtigste Instrument, auf dessen Grundlage die Phasen der moralischen Entwicklung skizziert wurden (Garz 2008). In der Folgezeit wurde nicht nur eine Fülle an Dilemmata entworfen, in denen die handelnden Protagonist/innen immer mit einem Grundkonflikt konfrontiert werden, sondern dieses Vorgehen auch modifiziert – z. B. in Bildgeschichten übersetzt insbesondere für Interviews mit Kindern. Carol Gilligan (1988), eine langjährige Mitarbeiterin Kohlbergs, die sich insbesondere für die weibliche Moralentwicklung interessierte, nutzt im Unterschied hierzu leitfadenorientierte Interviews, die an realen Lebenssituationen ausgerichtet sind (Kiegelmann 2009). Eine Ausdehnung über die klassischen Bereiche der Moralentwicklung hinaus findet sich für angrenzende Themenbereiche, z. B. in Studien zum Rechtsverständnis (Weyers 2014). Ein in der heutigen Entwicklungspsychologie zentraler Forschungsbereich stellt die Bindungsforschung in der Tradition von John Bowlby (1995 [1988]) dar, die sich in den Folgejahrzehnten ausdehnte und durch die Entwicklung immer neuer methodischer Zugänge auszeichnet. Waren zu Beginn vor allem Beobachtungen die zentrale Methode, insbesondere umgesetzt in einer standardisiert ablaufendenden Abfolge von Mutter-Kind-Interaktionen im Rahmen des sog. Fremde-SituationTests (Ainsworth et al. 1978), wurden zunehmend andere Verfahren entwickelt, nicht zuletzt, da Bindung mehr und mehr als ein lebenslanges Thema konzipiert und untersucht wurde (Gloger-Tippelt 2001). Etabliert hat sich im Rahmen der Forschung mit Jugendlichen und Erwachsenen vor allem das „Adult AttachmentInterview“ (George et al. 2001 [1985]), ein offenes Interview, in dem nach Bindungserfahrungen und Bindungsrepräsentationen gefragt wird. Für Kinder wurden bild/spielbasierte Verfahren wie das „Geschichtsergänzungsverfahren“ (GlogerTippelt und König 2016) entworfen. Ähnlich wie sich durch die Bindungsforschung entwicklungspsychologische Forschung konturierte, trifft dies auf einen Teilstrang der psychoanalytischen Kleinkindforschung zu. Mit der Kontroverse um den „rekonstruierten“ vs. „beobachteten Säugling“ (Burian 1998) wurde eine experimentelle Säuglingsforschung initiiert, an deren Ende die Geburt des „kompetenten Säuglings“ (Dornes 1993) stand. Entworfen wurde ein eigenes „Paradigma“, mit dem die traditionell psychoanalytische Vorgehensweise (die Rekonstruktion erinnerter Kindheiten im psychoanalytischen Setting mit erwachsenen Patient/innen) überwunden werden sollte, da diese aufgrund der eingenommenen „retrospektiv-pathomorphen“ und „adultzentrischen“ Perspektive zu einer defizitären Konstruktion von Kindheit beitrage (Seiffge-Krenke 2003, S. 209–210). Für den überwiegenden Teil der zu den hier aufgeführten Themenfeldern genannten Forschungsarbeiten gilt, dass sie vom Mainstream aus betrachtet als qualitativ

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gelten, da – anders als sonst in der Mainstream-Entwicklungspsychologie mit dem überwiegend via Fragebogen oder in experimentellen Settings erzeugten Daten – mit „freien“ Beobachtungen und „semi-strukturieren“ Interviews gearbeitet wird. Anzumerken ist aber, dass das erhobene Material in der Regel per Manual theoriegeleitet ausgewertet wird. Ein solches Vorgehen, bei dem nach einer offenen Erhebung kategorial mit vermeintlich klaren Auswertungsvorgaben gearbeitet wird, findet insgesamt in der Entwicklungspsychologie vergleichsweise häufig Anwendung, zumeist geht diese Vorgehensweise mit einer Quantifizierung der Daten einher. So kommentiert Wolfgang Hegener (1998, S. 93) zur dritten Auflage von „Das Individuum und seine Welt“ (Thomae 1996 [1968]): „wenn es um die Auswertung geht, ist alles wieder beim alten: Hier sind dann nur die ‚harten Methoden‘ erlaubt und sakrosankt“. Mit einer solchen in weiten Teilen der Entwicklungspsychologie präferierten Praxis bleibt allerdings das theoriegenerierende Potenzial der qualitativen Forschung, die sich gerade in der Datenanalyse entfalten kann, z. T. deutlich unterbestimmt.

3.2

Arbeitsfelder qualitativer Forschung in einer Entwicklungspsychologie der Lebenspanne

In den oben ausgewiesenen Arbeiten wurde bereits deutlich, dass qualitative Forschung sich in die Breite des Faches eingeschrieben hat, wobei sich einige Schwerpunktsetzungen im Rahmen einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne erkennen lassen. So findet sich – wohl auch schon begründet über die Arbeiten von Thomae und Lehr – ein qualitativer Forschungsstil innerhalb der Gerontologie (also der Entwicklungspsychologie des Alterns), dies auch wegen deren interdisziplinärer Ausrichtung (Mayring 2001). Dabei bieten neben Interviews ethnografische Zugänge (sei es in Seniorenheimen oder an öffentlichen Plätzen) oder Gruppendiskussionen zur Relevanz von Kommunikationsprozessen in Altengruppen oder zum intergenerationalen Austausch wichtige Anknüpfungspunkte für theoretische und anwendungsbezogene Fragen (z. B. im Kontext von Pflegesituationen; Dieris 2006). Auch in der Entwicklungspsychologie der (frühen) Kindheit existieren deutliche Bezugspunkte zur qualitativen Forschung. Nicht zuletzt hat sich dieser Bereich profiliert, da aus der Frühphase der Entwicklungspsychologie wichtige Arbeiten – wie die von dem Ehepaar Stern oder von Martha Muchow (siehe Abschn. 2) – als methodisch innovativ hervorgehoben und als Traditionslinie genutzt werden konnten. Beobachtungen, Forschungstagebücher, Videografien, Gruppendiskussionen und Interviews, aber auch die Analyse von Kinderzeichnungen gehören in diesem Forschungsfeld mittlerweile zum Standardrepertoire (Mey 2011). Allerdings wurde die entwicklungspsychologische Kindheitsforschung lange Zeit scharf aus dem Umfeld der Kindheitssoziologie kritisiert, insbesondere ist ihr eine „Falschkodierung des Forschungsgegenstandes Kinder und Kindheit“ (Lange 1999, S. 61) vorgeworfen worden: Demnach werde infolge einer individualistischen Zentrierung auf das Kind dessen Sozialität ausgeblendet.

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Darüber hinaus unterliege entwicklungspsychologisches Denken einem Universalismus, der auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten abhebe, Historizität verkenne, Entwicklung jenseits von Kulturalität betrachte und sich zudem durch eine Nichtbeachtung der Gender-Perspektive auszeichne (Burman 2005). Schließlich provozierten gerade die in der Entwicklungspsychologie präferierten Stufenkonzepte und Phasenmodelle eine als problematisch angesehene Bewertung von Entwicklung, also eine Einordnung in „höherwertig“ vs. „minderwertig“, und von dort sei es nur ein kurzer Weg zu einer Bewertung von Entwicklungsverhalten als „richtig“ vs. „falsch“. Diese Kritiken, wie z. B. von Berry Mayall (1996) oder Gerold Scholz (1994) vorgetragen, beziehen sich aber z. T. auf auch innerhalb der Entwicklungspsychologie als überholt angesehene Konzeptionen. Die heutige qualitative entwicklungspsychologische Kindheitsforschung weist viele Anschlussstellen und Parallelen zu Positionen der sogenannten „Neuen Kindheitsforschung“ auf (Mey 2018). In dieser seit den 1990er-Jahren in Deutschland sich etablierenden Forschungsrichtung lautet, angestoßen durch die in Großbritannien und Skandinavien seit Mitte der 1980er aufgekommenen New Childhood Studies, die leitende Maxime, explizit nach „der Perspektive der Kinder“ zu fragen, statt „über Kinder“ zu forschen, und es wird von „children as beings“ statt „becomings“ gesprochen (z. B. Qvortrup et al. 2011). Im Zuge dessen sind auch die Möglichkeiten und Grenzen des methodischen Vorgehens innerhalb der Forschung zu Kindheit und mit Kindern systematischer ausgelotet worden (z. B. Heinzel 2012; Mey 2005a; Mey und Schwentesius 2019). Verglichen mit der Kindheits- und Alter(n)sforschung hat sich eine „qualitative Adoleszenzforschung“ weniger durchsetzen können, obschon sich vereinzelt Arbeiten finden, in denen spezifische Fragen des Jugendalters bzw. diverse Entwicklungskontexte von Jugend behandelt werden. Aber anders als etwa für die Kindheitsforschung fehlen grundsätzliche methodologische Erörterungen oder entsprechende Themenbände zu einer qualitativen Juventologie. Zwar hat Helmut Fend in den 1990er-Jahren in einem Längsschnitt paraliterarische Dokumente (Tagebücher, Gedichte) genutzt (Fend 1990) und damit im „Geiste“ der Bühler’schen Arbeiten argumentiert; auch Marianne Soff (1989) hat Tagebuchanalysen vorgenommen. Dies hat jedoch genauso wenig zu einer Kontierung dieses Forschungsbereichs beigetragen wie die Untersuchung von Carlos Kölbl (2004) mit Gruppendiskussionen zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher oder die vorfindlichen Positionierungen z. B. von Josef Held (2010), der eine subjektwissenschaftliche Jugendforschung propagiert sowie von Studien, die sich im Schnittfeld zur sozialwissenschaftlichen Jugendkulturforschung bewegen. Zu letzterem, von der Entwicklungspsychologie fast gänzlich vernachlässigten Forschungsfeld, gehört etwa die Arbeit von Dietrich und Mey (2018), die sich unter Einbezug von Artefaktanalysen und in Szenen produzierten Dokumenten wie sogenannte Fanzines mit den Konstruktionen von Jugend(lichkeit) und Generation(alität) befassen (s. auch Mey und Dietrich 2019). Am ehesten anschlussfähig für das Fach scheinen Untersuchungen zur juvenilen Identitätsentwicklung (z. B. Kraus 1996; Mey 1999), in denen mit Interviews gearbeitet wird und die Bezüge zur „narrativen Psychologie“ und zu kulturpsychologischen Ansätzen herstellen. Deren potenzieller Beitrag für die Ausarbei-

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tung einer qualitativen Entwicklungspsychologie wird – stellvertretend und daher ausführlicher dargestellt – an der Studie von Alba Polo (2014) deutlich. Polo fragte nach den Identitätskonstruktionen weiblicher Adoleszenter insbesondere mit Blick auf die Auseinandersetzung mit deren Vätern und widmete sich den biografischen Erfahrungen der Mädchen und jungen Frauen, deren Wünsche, Widerfahrnisse, Zumutungen und Hoffnungen, ihre Auseinandersetzungen mit sich und ihrer (Lebens-)Welt sowie ihr (Er-)Leben als Heranwachsende. Polo zeichnet ein facettenreiches Bild der Adoleszenten, das sich durch Verbundenheit, Selbstbehauptung und Privilegierung auszeichnet. Entwicklung wird hierbei konsequent prozessual gefasst und methodisch bearbeitet. Insofern steht ihre Vorgehensweise für eine qualitative Entwicklungspsychologie als „Prozessanalyse“ (Mey 2000). Am Ende resultiert daraus eine gelungene Verknüpfung, mit der sie unter Rückgriff auf sprachanalytisch-diskursive und psychoanalytische Ansätze eine rekonstruktive und zugleich auf unbewusste Prozesse abhebende dynamische Lesart umsetzt (Boothe 2011). Polos gegenstandsgerechte Kombination unterschiedlicher Theorie- und Methodenströmungen bilden das Fundament für ihre Überlegungen zur narrativen Konstruktion von Identität, deren Strukturen und Prinzipien sie in biografischen Darstellungen und damit Selbst- und Beziehungsthematisierungen en détail aufdeckt. Anhand von Positionierungsanalysen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004) gelingt es ihr nicht nur, Selbst- und Fremdpositionierung zu erschließen, sondern auch temporale Bezugspunkte offenzulegen und nicht zuletzt auch zu beleuchten, wie die Interviewten sich zu ihr als Forschende positionieren. Gerade letzteres fügt sich zu dem Übertragungsmodell psychoanalytischer Provenienz: Die Arbeit von Alba Polo zeichnet sich aus durch die – etwa von Georges Devereux (1973 [1967]) herausgehobene – erkenntnisgenerierende Bedeutung der Subjektivität der Forschenden sowie die Reflexion auf das Forschungshandeln, und rückt damit das interaktive Geschehen in der Forschungssituation ins Zentrum.

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Ausblick: Stand und Perspektiven

In der Entwicklungspsychologie kann – wie in dem Beitrag herausgestellt – durchaus auf eine eigene mannigfaltige Forschungsgeschichte mit qualitativen Methoden rekurriert werden. Auch besteht in zentralen Feldern eine Offenheit für die Nutzung von qualitativen Verfahren, wobei, was die Auswertung von Daten angeht, in der Regel aber eher „konventionell“ mit inhaltsanalytischen Vorgehensweisen gearbeitet wird. Aktuell ist insbesondere an der Schnittstelle zur Kulturpsychologie – wie in rückliegenden Jahrzehnten für sozialökologische Studien – eines der zentralen „Entwicklungsfelder“ für eine qualitative Forschung in der Entwicklungspsychologie auszumachen. Hierbei finden sich auch interdisziplinäre Berührungen, in denen auch deutlicher als im Mainstream die diversen – narrativen, diskursiven, reflexiven, visuellen oder materialen – Turns aufgegriffen werden. Insofern verwundert es auch nicht, dass in Teile der Entwicklungspsychologie Methodenimporte aus den sozial- und

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kulturwissenschaftlichen „Nachbardisziplinen“ und damit die Breite an Methoden der Erhebung und Auswertung (wie Narrations-, Konversations- und Metaphernanalyse oder Diskursforschung) Eingang gefunden haben (Demuth und Mey 2015). Dass sich in der gegenwärtigen Entwicklungspsychologie eine zunehmende Relevanz qualitativer Forschung abzeichnet, wird auch daran ersichtlich, dass sich seit Beginn der 2000er-Jahre aussagekräftige Abhandlungen zu qualitativer Forschung in einigen einschlägigen Lehr- und Handbüchern der Entwicklungspsychologie finden (z. B. Hoppe-Graff 1998; Mey 2011; Smith und Dunworth 2003) und ein umfangreiches Handbuch vorgelegt wurde (Mey 2005b). Nach der so vorgenommenen Grundlegung einer qualitativen Entwicklungspsychologie, mit der relevante Ansätze und Methoden gebündelt und Desiderata benannt wurden, sind in einigen Übersichtskapiteln selbst in Mainstream-Darstellungen nun auch qualitative und quantitative Zugänge zunehmend gleichberechtigt nebeneinander vorgestellt worden (Deutsch und Lohaus 2006). Ungeachtet dieses Voranschreitens bleibt aber festzuhalten, dass qualitative Forschung mit Blick auf die Gesamtdisziplin und verglichen mit der Dominanz standardisierter Forschung nach wie vor wie ein Randbereich wirkt. An diesem Eindruck ändert sich auch nichts, wenn hinzugenommen wird, dass viele Forschende durch den vergleichsweise hoch gehandelten Einsatz von Mixed-Methods-Varianten auch qualitative Vorgehensweisen „in Kauf nehmen“ (Lippe et al. 2011). Denn hierbei handelt es sich oft um Umsetzungen, bei denen die Potenziale qualitativer Forschung und deren Beitrag insbesondere für die Theoriebildung nicht hinreichend genutzt werden. Dabei könnten gerade ein Rekurs auf qualitative Methodologien und die Verwendung qualitativer Methoden für die entwicklungspsychologische Forschung und für ein substanzielles Verständnis der (Genese der) Subjektentwicklung als zwingend angesehen werden. Denn wenn das Fach nicht bei einem abstrakten Begriff von Entwicklung stehen bleiben will, „der durch die Zu- oder Abnahme dieser oder jener Fähigkeiten oder durch den Übergang von einem zum anderen hypostasierten Entwicklungsstadium zu definieren wäre“ – wie Thomae (2002, S. 16) in einem seiner letzten Aufsätze pointiert heraushebt –, ist die Forderung einer weiteren Ausarbeitung einer qualitativen Entwicklungspsychologie mit Nachdruck auf die Agenda zu setzen (Lamiell 2018). Denn qualitative Forschung erlaubt, sich dem Gegenstand der Entwicklungspsychologie – nämlich Prozessen von individueller Veränderung und Transformation – angemessen anzunähern. Eine solche Prozessperspektive und die Rekonstruktion von Entwicklungsabläufen setzt voraus, die Erhebung und noch mehr die Auswertung so zu gestalten, dass Entwicklung als Transformation und sequenzieller Verlauf überhaupt fassbar wird, statt sich weiter mit Designs und Methodenanwendungen einer non developmental psychology (Valsiner 2000) zu bescheiden.

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Qualitative Entwicklungspsychologie

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Qualitative Persönlichkeitspsychologie Karl-Heinz Renner und Philipp Yorck Herzberg

Inhalt 1 Was ist Persönlichkeitspsychologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Qualitative Spuren in der Geschichte der Persönlichkeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodische Ansätze der Differentiellen Psychologie im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zwei aktuelle qualitative Ansätze in der Persönlichkeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Trotz nur spärlicher Hinweise in Lehrbüchern lassen sich markante, qualitative Spuren in der Geschichte der Persönlichkeitspsychologie nachweisen. Anhand der von Stern (1911) vorgeschlagenen vier Disziplinen der Differentiellen Psychologie wird die Differenz zwischen nomothetischer (Variations- und Korrelationsforschung) und idiografischer (Psychografie und Komparationsforschung) Vorgehensweise verdeutlicht und Ansätze zu deren Integration skizziert. Die psychobiografische Persönlichkeitsforschung und die Diskursanalyse werden als zwei neuere qualitative Ansätze genauer vorgestellt. Insgesamt wird eine stärkere Nutzung der persönlichkeitspsychologischen Einzelfall- und Komparationsforschung angemahnt, die ohne qualitative Methoden nicht möglich ist.

Elektronisches Zusatzmaterial: Die Online-Version dieses Kapitels (https://doi.org/10.1007/9783-658-18234-2_73) enthält Zusatzmaterial, das für autorisierte Nutzer zugänglich ist. K.-H. Renner (*) Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Y. Herzberg Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_73

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K.-H. Renner und P. Y. Herzberg

Schlüsselwörter

Psychografie  Komparationsforschung  Idiografisch vs. nomothetisch  Psychobiografische Persönlichkeitsforschung  Diskursanalyse  Intraindividuelle Organisation von Persönlichkeit

1

Was ist Persönlichkeitspsychologie?

Nach einem berühmten Diktum von Kluckhohn und Murray (1953, S. 53) ist jeder Mensch in gewisser Hinsicht wie alle anderen Menschen, wie einige andere Menschen und wie kein anderer Mensch. Während die Allgemeine Psychologie nach Gesetzmäßigkeiten sucht, die für nahezu alle Menschen gelten (. . . wie alle anderen Menschen, z. B. Lerngesetze, Sprachfähigkeit), ist es das Ziel der Differentiellen Psychologie, Unterschiede zwischen einzelnen Personen oder Gruppen von Personen auf bestimmten Dimensionen bzw. Merkmalen zu identifizieren (. . . wie einige andere Menschen): Einige Menschen sind z.B. ängstlicher als andere oder intelligenter, extravertierter, offener, optimistischer. Zudem untersucht die Differentielle Psychologie, mit welchen anderen Merkmalen solche interindividuellen Unterschiede auf einer bestimmten Dimension assoziiert sind. Dabei geht es auch um die Frage, welche Konsequenzen bzw. „outcomes“ in der Zukunft mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen vorhergesagt werden können nach dem Motto „individual differences that make a difference“. Zum Beispiel werden die Merkmale akademische Intelligenz und Gewissenhaftigkeit, aber auch soziale und emotionale Kompetenzen als Prädiktoren für Studien- und Berufserfolg analysiert. Die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn untersucht die einzigartige Organisation von psychischen Merkmalen innerhalb einer Person (. . . wie kein anderer Mensch): Wie wirken bestimmte Motive, Emotionen und Kognitionen bei einer Person zusammen? Die Bezeichnung Persönlichkeitspsychologie gilt als Oberbegriff für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn (Laux 2008).1 Das qualitative Paradigma umfasst unterschiedliche Positionen, Traditionen und Methoden, die deutlich machen, das es sich um einen sehr diversen und vielfältigen Ansatz handelt (Flick 2007; Mey 2016; Mey und Mruck 2014). Im Gegensatz hierzu stehen die nur sehr spärlichen Bezugnahmen auf qualitative Ansätze in aktuellen Lehrbüchern der (Methoden der) Persönlichkeitspsychologie (z. B. Herzberg und Roth 2014; Reis und Judd 2014; Robins et al. 2007). In den Stichwortverzeichnissen taucht der Begriff „qualitativ“ entweder gar nicht oder nur mit wenigen Verweisen auf. Deshalb ist es notwendig, sich zunächst auf Spurensuche zu begeben, wenn es um qualitative Ansätze in der Persönlichkeitspsychologie geht. Es stellt sich die Frage, welche qualitativen Positionen vertreten und welche Methoden eingesetzt

1

Wir bedanken uns bei Lothar Laux und den Herausgebenden des Handbuchs für wertvolle Hinweise zum Manuskript.

Qualitative Persönlichkeitspsychologie

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wurden und werden, um Gegenstand und Themen der Persönlichkeitspsychologie zu untersuchen.

2

Qualitative Spuren in der Geschichte der Persönlichkeitspsychologie

In allen Lehrbüchern, die sich mit Persönlichkeitstheorien befassen, nimmt die Psychoanalyse von Sigmund Freud einen prominenten Platz ein. Das von Freud entwickelte theoretische „Gebäude“ enthält nicht nur persönlichkeitspsychologische Anteile – die Charaktertypen sowie das Modell des psychischen Apparats, das die intraindividuelle Organisation widerspiegelt –, sondern auch allgemeinpsychologische (Bewusstseinsebenen), entwicklungspsychologische (die psychosexuelle Entwicklungslehre), psychotherapeutische (z. B. Übertragung und Gegenübertragung) sowie kulturpsychologische „Stockwerke“ (z. B. zur Interaktion von Kultur, Sexualität und Aggression). Obwohl Freud als Naturwissenschaftler begann und seine „Redekur“ (Gay 1989) als lediglich vorläufige Methode bezeichnete, die beim Fortschreiten der Wissenschaft durch strengere Methoden ersetzt werden müsse, war sein Vorgehen qualitativ im Sinne einer psychoanalytischen Tiefenhermeneutik: Er deutete seine eigenen und die Träume seiner Patient/innen und interpretierte deren Erinnerungen. Lorenzer (1974) hat dieses Vorgehen als szenisches bzw. als tiefenhermeneutisches Verstehen rekonstruiert. Der latente Sinn der Erzählungen eines Patienten bzw. einer Patientin wird dabei über die Wirkung ihrer Worte auf das Unbewusste des Analytikers bzw. der Analytikerin erschlossen: „Der Analytiker steht nicht in beschaulicher Distanz zum Patienten, um sich – wie aus einer Theaterloge – dessen Drama anzusehen. Er muss sich aufs Spiel mit dem Patienten einlassen, und das heißt, er muss selbst die Bühne betreten. Er nimmt real am Spiel teil“ (Lorenzer 1974, S. 138). Innerhalb der humanistischen Ansätze in der Persönlichkeitspsychologie ist die Studie zu Merkmalen selbstverwirklichender Menschen von Maslow (1981) zu nennen. Diese Studie wurde unter methodischen Gesichtspunkten wegen des unsystematischen Vorgehens kritisiert. In der Tat ist das von Maslow als „holistische Analyse“ (Maslow 1981, S. 183) bezeichnete Auswertungsverfahren nur sehr vage und intransparent beschrieben. Deutlich systematischer im Sinne einer qualitativen Fallauswahl war allerdings die Gewinnung der Probandinnen und Probanden. So wurden geeignete Fälle, die das multidimensional definierte Kriterium der Selbstverwirklichung sehr wahrscheinlich oder ziemlich sicher erfüllen, ausgewählt und verschiedenen Kategorien zugeordnet (z. B. historische Gestalten, darunter Abraham Lincoln). Eher den Mixed Methods (Lippe et al. 2011; Schreier und Odağ 2010) zuzuordnen ist der Role Construct Repertory Test (kurz: Rep-Test), den George Kelly (1955) als zentrales Instrument zur Erfassung des persönlichen Konstruktsystems eines Klienten entwickelt hat. Beim Rep-Test konstruieren die Teilnehmenden sozusagen ihren eigenen Fragebogen, indem sie durch den Vergleich mit anderen Personen idiosynkratrische bipolare Bedeutungsdimensionen (personale Konstrukte, z. B. selbstbewusst

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vs. ängstlich) generieren, auf denen sie dann sich selbst und andere Personen quantitativ einschätzen können (s. auch Fromm 2004). Auch innerhalb der Intelligenzmessung, einer Domäne, die das quantitative Paradigma geradezu prototypisch repräsentiert, lassen sich qualitative Spuren identifizieren: In seiner Theorie der multiplen Intelligenzen plädierte Gardner (1985) für eine situative Erfassung der einzelnen Intelligenzen, bei der – ganz im Sinne der qualitativen Forderung nach Gegenstandsangemessenheit – die betroffenen Modalitäten auch tatsächlich eingesetzt werden sollten. Gardner unterscheidet neben sprachlicher, räumlicher und logisch-mathematischer Intelligenz auch körperlichkinästhetische, musikalische und personale Intelligenzen. Wenn es um die Ausprägung der körperlich-kinästhetischen Intelligenz geht, dann sollte der tatsächliche Einsatz des Körpers, z. B. beim Einüben eines Spiels oder Tanzes, berücksichtigt werden. Eine Prüfung der räumlichen Fähigkeiten sollte die Orientierung in einer unvertrauten Umgebung beurteilen. In Deutschland sind Interviews zur freien Exploration besonders in der biografischen Persönlichkeitsforschung von Thomae (1968, 1996) eingesetzt worden. Thomae verfolgte an Ideen von Stern anknüpfend einen idiografischen Ansatz: „Das Individuum und seine Welt“ (so der Titel seines Hauptwerks) sollte möglichst genau und sowohl theoretisch als auch methodisch unvoreingenommen erfasst werden. Theoretische Unvoreingenommenheit bedeutet, dass die Forschenden einem Individuum nicht die eigenen psychologischen Konstrukte überstülpen sollten. Thomae grenzt sich damit von solchen Forschungsansätzen ab, die er als normativ bezeichnete; dazu zählen auch humanistische Theorien, die eine „fully functioning person“ (z. B. Rogers 1963) als Idealbild vorgeben. Zudem kritisierte er die Fragebogenmethode, weil die Item-gestützte Erhebung den idiosynkratrisch strukturierten Erlebnisstrom „zerhacke“ (Laux 2008, S. 164). Ebenfalls an Stern – insbesondere an Sterns Komparationsforschung als vierter Disziplin der Differentiellen Psychologie (s. den nachfolgenden Abschn. 2) – und auch an Thomaes (1996) psychologischer Biografik knüpft der methodische Ansatz der Komparativen Kasuistik an (Jüttemann 2009). Es handelt sich dabei um eine Forschungsstrategie zur Beschreibung und Erklärung differenzieller Phänomene, wobei unter Phänomenen ganz unterschiedliche Kategorien (z. B. normalpsychologische, aber auch pathologische Merkmale und Zustände, Rollen, Identitätsaspekte) fallen können. Ausgehend von einer genauen qualitativen und vergleichenden Analyse einzelner Fälle bzw. Phänomene wird versucht überindividuelle Typen zu generieren. Damit einher geht eine von Jüttemann (1998) als „genetisch“ (im Sinne von Genese) bezeichnete Persönlichkeitspsychologie, die entwicklungspsychologische Aspekte und insbesondere das Prinzip der Autogenese berücksichtigt. Autogenese bezeichnet dabei die „eigenverantwortliche Lebens- und Selbstgestaltung mit dem [. . .] Ziel einer optimalen Ausschöpfung gegebener persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten“ (Jüttemann 1998, S. 120). Die Komparative Kasuistik als Forschungsstrategie zielt dabei dezidiert und in Abgrenzung vom hypothetico-deduktiven Modell auf Theoriengenerierung ab, wobei die komplexen, prozessualen und biografischen Bedingungen der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Phänomene beschrieben und erklärt werden sollen.

Qualitative Persönlichkeitspsychologie

3

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Methodische Ansätze der Differentiellen Psychologie im Überblick

Für alle drei von Kluckhohn und Murray (1953) pointiert ausgedrückten Sichtweisen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Personen gibt es methodische Ansätze, die in der psychologischen Forschung einen ganz unterschiedlichen Stellenwert aufweisen. Diese methodischen Zugänge sind in ihren Grundzügen von Stern (1911) beschrieben worden (Abb. 1). Stern unterschied die Variationsforschung als die Untersuchung der Verteilung individueller Ausprägungen desselben Merkmals in einer Population; die Korrelationsforschung als die Erforschung des interindividuellen Zusammenhangs zwischen Merkmalen in einer Population; die Psychografie als das Studium des Merkmalsmusters eines Individuums in Bezug auf viele Merkmale; und die Komparationsforschung als den Vergleich der Merkmalsmuster verschiedener Personen in Bezug auf dieselben Merkmale. Das Schema verdeutlicht, dass sich die Psychografie aus der Variationsforschung und die Komparationsforschung aus der Korrelationsforschung durch Vertauschung von Personen und Merkmalen ergeben, also durch die Transponierung der PersonenMerkmals-Matrix. Gleichzeitig wird dadurch deutlich, dass es zwei komplementäre, sich nicht widersprechende Ansätze zur Erfassung individueller Differenzen gibt. Im merkmalsorientierten Ansatz bildet das Merkmal die Einheit der Betrachtung (Variations- und Korrelationsforschung), im personenorientierten Ansatz ist es die Person (Psychografie und Komparationsforschung). Unter der merkmalsorientierten Perspektive wird das Individuum hinsichtlich seiner Vergleichbarkeit mit anderen beschrieben. Die Beschreibung einer Person geschieht daher mithilfe von Merkmalen, die für alle Personen Gültigkeit haben, also genereller Natur sind. Beispielhaft wären die Dimensionen des Fünf-Faktorenmodells (John und Srivastava 1999) zu nennen. Allgemeingültig wären hierbei die Beschreibungsdimensionen; die individuelle Charakteristik ergibt sich aus dem Merkmalsprofil, welches die Ausprägungen der Individuen auf den Merkmalen beschreibt. Allerdings lässt sich damit die Einzigartigkeit eines Individuums nur schwach abbilden, da die Persönlichkeitsdimensionen, anhand derer Personen verglichen werden, starke Abstraktionen darstellen und gleiche Merkmalsprofile als identische Charakteristika betrachtet werden. Für diese Beschreibungsart hat Stern (1911) den Begriff „nomothetisch“ verwendet. Der griechische Begriff „nomos“ (νóμος) steht für „Gesetz“ oder „Brauch“; nomothetisch bezeichnet daher die Beschreibung eines Menschen unter allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, im Speziellen hier: die generellen, für alle Individuen gültigen Persönlichkeitsmerkmale. Unter der personenorientierten Perspektive wird das Individuum hinsichtlich seiner Unvergleichbarkeit beschrieben. Das Ziel besteht darin, ein tiefes Verständnis für eine einzelne Person und ihr Verhalten zu entwickeln. Dabei stehen solche Aspekte im Zentrum der Betrachtung, die das Individuum als einzigartig kennzeichnen. Diese Merkmale müssen somit nicht genereller Natur sein, sondern treffen möglichweise nur auf eine einzige Person zu. Vertreter/innen dieses Ansatzes gehen davon aus, dass Individuen nicht anhand des gleichen Merkmalssatzes beschrieben werden können, da keine Beschreibungsdimensionen existieren, die auf alle Personen gleichermaßen

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Objekt der Forschung

Schema

Disziplin

A B C ... M N.......X Y Z

Merkmale

ein Merkmal an vielen Individuen

m

m

Variationsforschung

m n

Korrelationsforschung

A B C ... M N.......X Y Z

zwei oder mehrere Merkmale an vielen Individuen

m n

zwei oder mehrere Individualitäten in Bezug auf viele Merkmale

a b c. .. .. . m .n .. .. .. . x y z

Individuen

eine Individualität in Bezug auf viele Merkmale

a b c. .. .. . m .n .. .. .. . x y z

M

Psychographie

MN

Komparationsforschung

Abb. 1 Vier Paradigmen zur Analyse individueller Differenzen (Stern 1911, S. 18)

zutreffen. Entsprechend müssen zur Analyse der individuellen Persönlichkeit auch Methoden gewählt werden, die es erlauben, „Einzigartigkeit“ abzubilden. Für diese Zugangsweise hat Stern den Begriff „idiografisch “ verwendet (Stern 1911, S. 19). Das griechische Wort „idios“ (ìδιος) bedeutet „einzigartig“ oder „eigentümlich“; idiografisch bezeichnet daher die Beschreibung eines Menschen, bei der versucht

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wird, den Einzelfall anhand seiner charakteristischen Einmaligkeit abzubilden, wobei aber einzigartige Personen durchaus hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten – komparativ – verglichen werden können. Idiografische Ansätze greifen meist auf qualitative Erhebungsverfahren wie Interviews, Tagebücher, Briefwechsel oder Behandlungsprotokolle und deren qualitative Auswertung zurück oder verfolgen qualitative Forschungsstrategien, wie z. B. die Psychologische Biografik oder die Komparative Kasuistik. In ihren Anfängen beschäftigte sich die psychologische Forschung mit exemplarischen Einzelfallanalysen zur Aufdeckung universeller Gesetzmäßigkeiten. Insbesondere Freuds Beschreibungen klinischer Patient/innen, z. B. Sergei Konstantinovitch Pankejeff (Wolfsmann, Freud 1996 [1918]) oder Ernst Lanzer (Rattenmann, Freud 1996 [1909]) waren detaillierte Einzelfallstudien mit der Intention, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten in Einzelfällen zu finden bzw. zu demonstrieren. Ihnen lag die Annahme zugrunde, dass es solche universellen Gesetze gibt und sie sich deshalb in jedem Einzelfall finden lassen. Die Einzelfälle wurden somit als Manifestationen genereller Gesetzmäßigkeiten betrachtet. Diese „Idee eines allgemeingültigen Individuums“ (Stern 1911, S. 16) wurde von Stern kritisiert, er verfolgte das Ziel, die Differentielle Psychologie von der Allgemeinen Psychologie abzugrenzen und favorisierte eine Individualitätsforschung. Die damit verbundene induktive Forschungslogik, nach Sterns Schema mit dem Fokus auf dem Individuum, wurde in der zeitgenössischen psychologischen Forschung zugunsten einer deduktiven Forschungsorientierung aufgegeben, die Suche nach universellen Gesetzmäßigkeiten erfolgt fast ausschließlich über Aggregation der Daten vieler Einzelfälle (nach Sterns Schema mit dem Fokus auf den Merkmalen). Eine vehemente Abkehr von der idiografischen Forschungstradition hin zur rein nomothetischen Forschung ist insbesondere in der Persönlichkeitspsychologie festzustellen, die sich an dem programmatischen Titel eines Beitrages von Eysenck „The Science of Personality: Nomothetic!“ (Eysenck 1954) zeigt und bis heute Bestand hat (Asendorpf 2000). Die Vernachlässigung idiografischer Ansätze dürfte weniger dem Gegenstand der Persönlichkeitspsychologie, nämlich der Beschreibung, Erklärung und Vorhersage individueller Unterschiede im Verhalten und Erleben von Menschen geschuldet sein, sondern der Orientierung der psychologischen Forschung an den nomothetischen Gesetzeswissenschaften. Dabei schließen sich idiografische und nomothetische Vorgehensweisen ebenso wenig aus wie qualitative und quantitative Strategien. Eine Möglichkeit, die Polarität idiografischer versus nomothetischer Forschungstraditionen zu überbrücken, sind typologische Ansätze. Typologische Ansätze sind einerseits nomothetisch, da Gruppen von Personen aufgrund der Ähnlichkeitsstruktur von Merkmalsprofilen in einer Stichprobe gebildet werden. Andererseits beruht die nomothetische Analyse auf idiografisch reicheren Daten, da komplette Merkmalsprofile von Personen gruppiert werden und nicht einzelne Merkmale. Die Typenbildung kann dabei „rein quantitativ“, d. h. mit Hilfe von statistischen, clusteranalytischen Algorithmen erfolgen (z. B. Moosbrugger und Frank 1992). Ein Beispiel für eine qualitative Typenbildung ist die im zweiten Abschnitt bereits skizzierte Komparative Kasuistik (Jüttemann 2009, s. auch Kelle und Kluge 2009). Thomaes

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Ansatz der Psychologischen Biografik ist dagegen ein Beispiel für die Integration idiografischer und nomothetischer Ansätze, in dem zugleich auch qualitative und quantitative Methoden berücksichtigt werden (Thomae 1996; s. auch Laux 1995). Schmitz (2000) sieht in der Kombination von Idiografie und Nomothetik eine neue Chance für den Erkenntnisfortschritt der Psychologie. Erst langsam scheint sich diese Erkenntnis in der empirischen Persönlichkeitsforschung durchzusetzen, nicht zuletzt sollten methodische Entwicklungen im Bereich der Mixed Methods (Schreier und Odağ 2010) dazu beitragen.

4

Zwei aktuelle qualitative Ansätze in der Persönlichkeitspsychologie

Trotz der Dominanz der nomothetischen und damit in der Regel auch meist quantitativen Ansätze gibt es sowohl eine Tradition (s. Abschn. 2) als auch neue Entwicklungen qualitativer Methoden mit dem Fokus auf idiografischer Forschung in der Persönlichkeitspsychologie. Im Folgenden möchten wir zwei neuere qualitative Ansätze herausgreifen und genauer vorstellen: Die psychobiografische Persönlichkeitsforschung (Abschn. 4.1) und die diskursive Produktion von Persönlichkeit (Abschn. 4.2). Geht man mit Runyan (1997) davon aus, dass die Persönlichkeitspsychologie vier Aufgaben bzw. Ziele hat, nämlich 1. die Entwicklung genereller Theorien über die Persönlichkeit, 2. die Analyse individueller Unterschiede, 3. die Analyse von Prozessen und Klassen von Verhalten sowie 4. das Verständnis einzelner Personen, dann wird deutlich, dass insbesondere die qualitativen Methoden unverzichtbar für den letzten Punkt, das Verstehen einzelner Individuen und ihres Lebens sind.

4.1

Psychobiografische Persönlichkeitsforschung

Die psychobiografische Persönlichkeitsforschung hat entsprechend des eingangs zitierten Diktums von Kluckhohn und Murray (1953) das Ziel, die Einzigartigkeit einer bestimmten Person zu beschreiben und zu verstehen. Zu den bekanntesten psychobiografischen Studien zeitgenössischer Persönlichkeiten gehört das im zweiten Weltkrieg vom Nachrichtendienst des Kriegsministeriums der USA angefertigte Persönlichkeitsprofil über Adolf Hitler, um dessen zukünftiges Verhalten abschätzen zu können. Diese Art der Persönlichkeitsbeurteilung wird von allen Geheimdiensten der Welt über wichtige Personen anderer Staaten weiterhin durchgeführt. Ebenfalls sehr bekannt sind die psychobiografischen Studien von Freud über Leonardo da Vinci (Freud 1910), Gordon Allports „Letters from Jenny“ (Allport 1965), Erik Eriksons Studie über den jungen Martin Luther (Erikson 1958) sowie die Studien über Joseph Stalin, Henry James, König Georg III. und Vincent van Gogh (Gilmore 1984; Runyan 1981, 1988). Aktuelle Arbeiten liegen von Dan McAdams über die Präsidenten George W. Bush und Donald Trump vor (z. B. McAdams 2011). Psychobiografische Studien zu den psychischen Störungen berühmter Persönlich-

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keiten sind aktuell von Köhler (2017) vorgelegt worden. Neben dem bayerischen Märchenkönig Ludwig II. und dem Philosophen Friedrich Nietzsche wird u. a. auch die Schriftstellerin Virginia Woolfe untersucht, die wegen verschiedener „psychischer Anfälle“ und „Schreckensvisionen“ mehrere Suizidversuche unternahm sowie zahlreiche Klinikaufenthalte absolvieren musste und wahrscheinlich an einer schizoaffektiven Störung erkrankt war.2 Die systematische Analyse von autobiografischen Erzählungen mit Hilfe von strukturierten Interviews und validierten Kodiersystemen ist kennzeichnend für den narrativen Ansatz von Dan P. McAdams (z. B. Bauer und McAdams 2004). Identität wird als narrative Identität aufgefasst, als internalisierte Geschichte, die eine Person immer wieder erzählt, um die Vergangenheit und die Zukunft in ein mehr oder weniger kohärentes Ganzes zu integrieren und um ein gewisses Ausmaß an Einheit und Sinn zu erlangen. Jede Lebenserzählung ist zwar einzigartig, zugleich aber können innerhalb einer Kultur bestimmte gemeinsame Muster über verschiedene Lebensgeschichten hinweg identifiziert werden. So tendieren amerikanische Männer und Frauen mittleren Alters nach einer Analyse von McAdams (2006) dazu, ihr Leben als Folge von „Erlösungsgeschichten“ (narratives of redemption) zu erzählen. In den „Erlösungsgeschichten“ spiegeln sich Werte und Normen, die für die amerikanische Kultur schon immer kennzeichnend waren, nämlich Sühne, Emanzipation, Aufschwung, Selbstverwirklichung und sozialer Aufstieg. Da das Studium einzelner Persönlichkeiten von vielen quantitativ eingestellten und arbeitenden Persönlichkeitspsycholog/innen als arbiträr und zu subjektiv abgewertet wird, sind methodische Standards für die psychologische Analyse von Biografien entwickelt worden (z. B. Runyan 1997; Schultz 2005), die im Folgenden als Synopse dargestellt werden. Der erste Schritt ist die Auswahl der Person, deren Biografie psychologisch analysiert werden soll. Prinzipiell kann jede Person Ziel einer psychobiografischen Einzelfallstudie sein. Bedenkt man allerdings den enormen zeitlichen, organisatorischen und wissenschaftlichen Aufwand der Erstellung einer psychobiografischen Einzelfallstudie, so sollte die Wahl auf Personen fallen, für die ein potenzielles Interesse bei Lesenden besteht und für die umfangreiches und reliables Datenmaterial im Sinne von Primärdaten vorliegt (wie im Falle des Exzerpts der psychobiografischen Studie zu Virginia Woolf). Der zweite Schritt ist, wie generell in der persönlichkeitspsychologischen Forschung, die Formulierung von Hypothesen. In Abgrenzung zur quantitativ orientierten Persönlichkeitsforschung liegt bei der qualitativen Einzelfallstudie die Besonderheit darin, dass die Hypothesen keine deduktiv aus Theorien abgeleiteten Hypothesen, sondern auf idiografische Besonderheiten der untersuchten Person fokussiert sind. So wäre von Interesse, welche konkreten Anlässe, Begegnungen,

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Ein zusammenfassendes Exzerpt der psychobiografischen Studie zu Virginia Woolf. Wir danken Thomas Köhler für die Bereitstellung und Kürzung der Psychobiografie von Virginia Woolf (ausführlich: Köhler 2017).

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inneren Antriebe, Arbeitstechniken, speziellen Fähigkeiten und Einstellungen in einem Einzelfall zu besonderen Leistungen geführt haben können. Der dritte Schritt ist die Datensammlung, die bei psychobiografischen Studien immer auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen basieren muss. Typische quantitative Studien der Persönlichkeitspsychologie beschränken sich auf eine Datenquelle, vorrangig Selbstauskünfte oder Labordaten. Auch wenn multimethodale Daten gefordert werden und wünschenswert sind, sind sie (noch) die Ausnahme. Für die qualitative psychobiografische Studie sind sie eine notwendige Voraussetzung. Die Vielfalt der Daten reicht von Primärquellen wie schriftlichen Nachlässen, Briefwechseln, Tagebüchern, jegliches Archivmaterial, künstlerischen oder wissenschaftlichen Werken über Filmaufnahmen, Fotografien, Audiodateien (z. B. aus Rundfunkinterviews, Diktaten) bis zu Sekundärquellen wie Berichten von Verwandten, Partner/innen, Mitarbeiter/innen, Biografien, Zeugnissen, Beurteilungen durch andere Personen. Im vierten Schritt werden nach Sichtung der gewonnenen Quellen die im zweiten Schritt formulierten ersten Hypothesen konkretisiert und gegebenenfalls revidiert. Die Auswertung der Quellen führt sehr häufig dazu, dass auch neue Ideen generiert werden, die in weitere Hypothesen überführt werden können. Wenn die Hypothesen fixiert sind, erfolgt im fünften Schritt die Aufarbeitung der relevanten Quellen. In der Regel liegt umfangreiches Datenmaterial vor, das strukturiert werden muss. Neben chronologischen Gesichtspunkten kann das Material nach psychologischen Gesichtspunkten, z. B. den Stadien der Identitätsentwicklung sensu Erikson (1959), Theorien der Freundschaftsentwicklung (z. B. Frederickson und Carstensen 1990) oder nach psychologischen Konstrukten, wie zum Beispiel Abwehrmechanismen, Motiven, Zielen, Attributionsstilen etc. strukturiert werden. Dabei kann die Strukturierung mehr oder weniger streng an einem persönlichkeitspsychologischen Menschenbild bzw. Paradigma (z. B. dem psychoanalytischen) oder auch eklektizistisch erfolgen. Ein weiterer Ansatz ist die Identifikation von prototypischen Verhaltensweisen der untersuchten Person und deren Erklärung mit den vorgenannten Ansätzen. Bei der Bearbeitung der Quellen werden die Forschenden (fast) immer mit der Problematik von Diskrepanzen aus den unterschiedlichen Datenquellen konfrontiert sein. Diese Diskrepanzen können formaler Art sein, etwa unterschiedliche Angaben zu Geburts- oder Todesdaten. Oftmals lassen sich diese Diskrepanzen auch nicht auflösen, so dass diese Unterschiede in der Psychobiografie explizit dargestellt werden müssen. Diskrepanzen unterschiedlicher Quellen in Bezug auf idiosynkratische Aspekte sind durch die Forschenden wenn möglich aufzulösen oder ebenfalls in ihrer Mehrdeutigkeit explizit zu machen. Dieses Problem ist ein häufiger Kritikpunkt an der qualitativen Persönlichkeitsforschung, da keine statistischen Methoden zur Entscheidungsfindung herangezogen werden können und daher oft kritisiert wird, dass dieses Vorgehen stark subjektiv ist. Dieser Vorwurf kann auf zweierlei Weise abgeschwächt werden. Zum einen gibt es auch bei der statistischen Vorgehensweise immer Schritte, bei denen die Forschenden subjektiven Entscheidungsspielraum haben. Beispielsweise gibt es eine Vielzahl von Verfahren zur Gruppenbildung, die in der Persönlichkeitsforschung eingesetzt werden und nicht notwendiger Weise

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in ihren Ergebnissen konvergieren. Prototypisches Beispiel ist die Vielzahl von Clusteralgorithmen (z. B. Moosbrugger und Frank 1992), die auf unterschiedliche Aspekte der Daten unterschiedlich reagieren und teils zu drastischen Unterschieden in der Zuordnung von Personen zu Gruppen kommen (Aldenderfer und Blashfield 1996). Zum anderen kann der subjektive Freiraum durch Bewertung der Güte der Datenquellen eingeschränkt werden. So sind Primärquellen in der Regel zuverlässiger als Sekundärquellen. Auch wenn Primärquellen keine objektiven Quellen sind, so geben sie doch Einblick in die Selbstwahrnehmung oder auch Selbstdarstellung der untersuchten Persönlichkeit. Selbstbeurteilungen sind auch in der quantitativen Persönlichkeitspsychologie eine der Hauptdatenquellen, die im Gegensatz zur qualitativen Forschung stark formalisiert sind und für die explizit Gütekriterien wie Reliabilität und Validität angegeben werden können. Primäre Daten müssen aber nicht notwendigerweise von der untersuchten Person selber stammen, es können auch Daten von Personen sein, die mit der untersuchten Person kommuniziert und interagiert haben und darüber in Form von Tagebüchern, Interviews, Protokollen usw. berichten. Wenn zwei externe primäre Quellen vorliegen und diese Darstellungen zu unterschiedlichen Einschätzungen oder Bewertungen der Zielperson führen, muss nicht notwendigerweise eine Diskrepanz in dem Sinne vorliegen, dass nur eine der beiden Quellen korrekt sein kann. Ähnlich wie beim 360 -Feedback können aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Merkmale, Verhaltens- und Erlebensweisen der Zielperson zum Tragen kommen und von den externen Beobachter/innen wahrgenommen und bewertet werden. Diese unterschiedlichen Perspektiven sollten als Bereicherung verstanden werden, da sie doch die Kontext- bzw. Situationsabhängigkeit von Verhaltens- und Erlebensweisen der Zielperson verdeutlichen können und damit eine Quelle des Erkenntnisgewinns über die Zielperson darstellen. Haben die psychobiografisch orientierten Forschenden Anlass zum Zweifel an der Akkuratheit der Beobachtungen, kann als Nebenfrage die Analyse der Glaubhaftigkeit der Quelle untersucht werden. Generell lassen sich dabei auch die Erkenntnisse der gutachterlichen Glaubwürdigkeitsforschung anwenden, z. B. Positivindizien wie konkrete, anschauliche Schilderung, Detailreichtum und Zugeben von Erinnerungslücken, Schilderung abgebrochener Handlungsketten und von Unverstandenem, Selbstkorrekturen und Belastungen und logische Konsistenz (Arntzen 2007). Nach der Beurteilung der Validität der Datenquellen erfolgt die Interpretation der Daten als iterativer Prozess. Die Iteration besteht in einem kontinuierlichen Prozess der Prüfung der Hypothesen mittels der verfügbaren Daten, der Entscheidung, ob die Daten zur Prüfung der Hypothesen ausreichend und valide sind, ob möglicherweise neue Daten gesammelt werden müssen und ob durch neue Daten Bedarf an weiteren Hypothesen besteht. Lassen sich keine weiteren Daten mehr eruieren, sind die Hypothesen mit dem Stand der Daten zu prüfen. Im Gegensatz zur quantitativen Persönlichkeitsforschung stehen keine statistischen Entscheidungskriterien zur Verfügung, die Schlussfolgerungen basieren auf Plausibilitätserwägungen. Daher ist es wichtig, auch alternative Schlussfolgerungen zu präsentieren. Beispielsweise hat Runyan (1981) mehr als ein Dutzend Thesen, warum van Gogh sein Ohr abschnitt, kritisch geprüft und einige der Thesen, jedoch nicht alle, entkräften können. Damit

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wird die Möglichkeit eröffnet, mit Daten, die zur Zeit der Studie noch nicht vorlagen oder nicht verfügbar waren, weitere psychobiografische Analysen durchzuführen.

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Gestützt auf die sprachphilosophischen Arbeiten von Ludwig Wittgenstein und John Austin betonen soziale Konstruktivist/innen, dass Sprache als Form sozialen Handelns und nicht (nur) als Instrument zur Beschreibung und symbolischen Abbildung der Welt verstanden werden müsse. Sprache als Form sozialen Handelns wird z. B. in den folgenden, sogenannten performativen Sprechakten deutlich: „Ich taufe Dich auf den Namen Peter“, „Sie dürfen hier nicht rauchen“. In beiden Fällen wird durch Sprache etwas getan, im ersten Fall eine Taufe und eine Namenszuweisung vollzogen, im zweiten Fall wird etwas verboten. Auf den ersten Blick mag die Sprechakttheorie trivial erscheinen; brisant ist aber die damit verbundene Implikation, nach der beim Vollzug performativer Sprechakte, also schlicht beim Aussprechen, (neue) Tatsachen in die Welt geschaffen werden. So ist die Art und Weise, wie Personen über sich selbst und die Welt sprechen, konstitutiv für ihre Sicht von sich selbst und der Welt. Dadurch dass in der amerikanischen Kultur eine Sprache vorherrscht, die Tatkraft, Individualität, Freiheit und Unabhängigkeit betont, werden diese Werte auch real (Gergen 1991). Die Handlungsaspekte der Sprache werden insbesondere in der diskursiven Psychologie und der damit verbundenen Diskursanalyse untersucht (s. auch Allolio-Näcke 2010). In einführenden Texten (z. B. Coyle 2007) werden in der Regel zwei grundlegende Formen der Diskursanalyse unterschieden: 1. Die aus der diskursiven Psychologie hervorgegangene Diskursanalyse, die, soziologisch gesprochen, die Mikroebene konkreter sprachlicher Interaktionen fokussiert und lediglich untersucht, was die Wörter machen, d. h. wie ein bestimmter diskursiver Effekt erzeugt wird. Der Zusammenhang zwischen Wörtern und den psychischen Merkmalen und Prozessen der Personen, die diese Wörter hervorbringen, wird dagegen ausgeblendet. Das Beispiel im folgenden Abschn. 4.2.1 bezieht sich auf diese Variante der Diskursanalyse, die im Wesentlichen auf den diskurspsychologischen Ansatz von Jonathan Potter und Margaret Wetherell (1987) zurückgeht. 2. Die sogenannte Foucault’sche Diskursanalyse knüpft an den Diskursbegriff des gleichnamigen französischen Philosophen an und untersucht Diskurse eher im Sinne von wirkmächtigen makrosoziologischen Phänomenen. Diskurse legen demnach fest, was von wem wo und wann über die Welt und uns selbst gesagt werden kann und darf (Willig 2001, S. 107). Dominierende Diskurse erzeugen bestimmte soziale Realitäten, indem sie bestehende soziale Strukturen und damit verbundene Machtbeziehungen verstärken. Im Gegensatz zur eher mikrosoziologisch vorgehenden Diskursanalyse wird in der Foucault folgenden Diskursanalyse auch beachtet, welche Effekte Diskurse auf Personen haben und wie Personen mit sogenannten diskursiven Ressourcen umgehen. Es geht insbesondere

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darum, welche Positionen einem Subjekt innerhalb eines Diskurses zugewiesen werden. Das Beispiel zur diskursiven Konstruktion von Persönlichkeit im Abschn. 4.2.2 soll diese Positionierung von Subjekten innerhalb von Diskursen veranschaulichen (die nachfolgende Darstellung orientiert sich an Renner 2011).

4.2.1 Eigenschaftszuschreibungen in Diskursen Potter und Wetherell (1987) haben Augenzeug/innen von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant/innen interviewt und sie u. a. darum gebeten anzugeben, welche Gründe es nach ihrer Auffassung für die Entstehung von Gewalt gibt. Die folgende Diskursanalyse zeigt, dass unterschiedliche Modelle der menschlichen Natur benutzt wurden, um das Handeln der beteiligten Parteien zu rechtfertigen oder zu diskreditieren. Einige Interviewpartner/innen rechtfertigten aggressive Handlungen der Polizei infolge von Provokationen als „natürlich“, d. h. der menschlichen Natur entsprechend und sozusagen programmiert: „I think the police acted very well. They’re only human, if they lashed out and cracked a skull occasionally, it was, hah, only a very human action I’m sure“ (Potter und Wetherell 1987, S. 112). Demonstrant/innen wurden von den Interviewten in zwei Personentypen klassifiziert: Personen, die aus „aufrichtigen“, „echten“ Motiven demonstrieren, also z. B. wirklich gegen Apartheid sind, und Personen, die sich aus nicht-aufrichtigen Motiven an Demonstrationen beteiligen, um gegenüber Polizist/innen gewalttätig werden zu können. „I think most, probably 90 percent of them, were there for the right reasons and the ones who got on television and hit the headlines were the 10 percent who wanted to beat up the police.“ (Potter und Wetherell 1987, S. 112) „A lot of protestors weren’t actually for the cause, they just went for the fun of the game.“ (Potter und Wetherell 1987, S. 113)

Im letzten Zitat wird nach Potter und Wetherell den nicht-aufrichtigen Demonstrant/innen ein Vergnügen an Gewalt („fun of the game“) zugeschrieben, um ihr Verhalten zu erklären. Im Gegensatz zur Polizei, die aggressive Handlungen im Sinne von natürlichen und entschuldbaren Reaktionen gegenüber Provokationen ausführt, wird hier die Gewalt der nicht-aufrichtigen Demonstrant/innen verurteilt. Letztere werden nach Potter und Wetherell oft der sozialen Kategorie des „Aufwieglers“ (stirrer or trouble-maker) zugeordnet. Diese diskursive Konstruktion sei außerordentlich nützlich, da damit mögliche politische oder andere Motive hinter gewalttätigen Ausschreitungen abgewiesen und ignoriert werden könnten. Potter und Wetherell weisen insbesondere darauf hin, wie flexibel Eigenschaftszuschreibungen im Sinne von linguistischen Ressourcen in Diskursen eingesetzt werden können, um Personen zu beschuldigen, zu entschuldigen oder zu loben. So zeigt das nachfolgende Zitat, dass die bisherigen Eigenschaftszuschreibungen auch so eingesetzt werden können, dass die Gewalt der Polizei verurteilt und die der Demonstrant/ innen gerechtfertigt wird. Damit wird das oben beschriebene Erklärungsmuster für die Gewalt der Polizei einerseits und die Gewalt der Demonstranten andererseits

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sozusagen umgedreht: „It seemed like he [reference to specific policeman] was almost enjoying the violence and that kind of gave me a revealing sort of side to it“ (Potter und Wetherell 1987, S. 115).

4.2.2 Die Zuweisung von Positionen in Diskursen Das zweite Beispiel zur diskursiven Konstruktion von Persönlichkeit basiert auf Davies und Harré (1999) und veranschaulicht die Rolle von Persönlichkeit innerhalb der sogenannten positioning theory. Durch eine Äußerung in einem Gespräch wird ein Diskurs und damit eine bestimmte Weise der Welterzeugung und das heißt auch: der Erzeugung der eigenen Persönlichkeit und der Persönlichkeit des/der anderen aufgerufen. Diese Weise der Welt- und Persönlichkeitserzeugung bzw. -zuschreibung kann unter narrativer Perspektive als Geschichte verstanden werden, in der verschiedene Positionen oder Rollen zu besetzen sind bzw. zugewiesen werden. Davies und Harré bevorzugen das dynamischere und flexiblere Konstrukt der „Position“ innerhalb eines Erzählstrangs gegenüber dem eher statischen und trägeren Konzept der „Rolle“. Damit impliziert ist die Vorstellung, dass Positionen innerhalb von Gesprächen und den dabei aufgerufenen Geschichten oder Handlungssträngen häufig wechseln können. Das nachfolgende Beispiel veranschaulicht diese Annahmen der positioning theory. Sano und Enfermada machen sich an einem Wintertag in einer fremden Stadt auf den Weg, um Medikamente für Enfermada zu kaufen. Sano fragt in mehreren Läden nach bis nach einiger Zeit des vergeblichen Suchens klar wird, dass es keine Apotheke in der Nähe gibt. Die beiden beschließen die Suche zu unterbrechen. Daraufhin sagt Sano (Originalzitat): „I’m sorry to have dragged you all this way when you’re not well“ (Davies und Harré 1999, S. 45). Enfermada, überrascht durch diese Äußerung, entgegnet: „You didn’t drag me, I chose to come“ (Davies und Harré 1999, S. 45). Diese Äußerung überrascht wiederum Sano, der im weiteren Verlauf des Gesprächs darauf beharrt, sich als Gesunder für Enfermada verantwortlich zu fühlen. Enfermada will aber nicht, dass er sich für sie verantwortlich fühlt, da sie das in die Position einer Frau bringe, die nicht verantwortlich ist und folglich auch unfähig, selbst Entscheidungen über ihr Wohlergehen zu treffen. Sano kann diese Argumentation nicht nachvollziehen, da es für ihn eine selbstverständliche Verpflichtung sei, dass ein Gesunder sich um einen Kranken kümmert. Damit wäre doch überhaupt keine Bedrohung der Freiheit des Kranken verbunden. Enfermada interpretiert Sanos Äußerung aber innerhalb ihres feministischen Hintergrunds als Versuch, sie selbst in die inakzeptable Subjektposition einer Frau zu bringen, die lediglich eine passive Nebenrolle in der patriarchalischen Geschichte eines aktiven männlichen Hauptdarstellers spielt. Enfermada glaubt, dass Sanos Kommentierung ihrer gemeinsamen Suche nach Medikamenten eine generelle Einstellung gegenüber Frauen offenbart. Damit aber wird Sano in die Position eines Sexisten gebracht. Gegen diese Positionierung protestiert er, indem er Enfermada vorwirft, dass sie offensichtlich eine Art „worst-interpretation principle“ anwende, das charakteristisch für die Reaktionen ultra-sensitiver Feministinnen gegenüber eingebildeten Kränkungen sei. Dieser Vorwurf verärgert Enfermada noch mehr als die ursprüng-

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liche „Entschuldigung“, weil sie sich jetzt nicht nur ihrer aktiven Handlungsfähigkeit beraubt sieht, sondern auch noch als trivialisiert und dumm charakterisiert wird. Nach Davies und Harré (1999) verdeutlicht dieses Beispiel, wie zwei Personen mit den besten Absichten in einen Streit geraten, der durch die Macht der unterschiedlichen narrativen Handlungsstränge und der damit verbundenen Subjektpositionen bedingt wird und nicht durch die ursprünglichen Intentionen der Sprecher/ innen. Weder beabsichtigte Sano, patriarchalisch zu sein, noch wollte Enfermada „zickig“ erscheinen. Beide bewegen sich durch ihre Äußerungen bzw. Sprechakte aber in unterschiedlichen narrativen Handlungssträngen, ohne dass es ihnen bewusst ist. Die ursprüngliche Entschuldigung wurde von Sano als Äußerung von Mitgefühl innerhalb einer Geschichte konstruiert, in der er die Position des Pflegers oder Arztes und Enfermada die Position der Kranken einnimmt. Enfermadas Entgegnung auf Sanos Entschuldigung deutet nach Davies und Harré darauf hin, dass sie Sano an ihre Lesart erinnern wollte, in der das Suchen nach einem Medikament als gemeinsames „Abenteuer“ zweier Besucher/innen eines fremden Landes erzählt wird. Im weiteren Verlauf nimmt Enfermada Sanos Entschuldigung zunehmend mehr als Herablassung wahr, da sie seinen Sprechakt in einen patriarchalischen Handlungsstrang platziert, in dem Sano die Position des unabhängigen, mächtigen Mannes und sie die Position der abhängigen hilflosen Frau besetzt. Die damit verbundenen Sprechakte Enfermadas werden von Sano innerhalb einer Geschichte gelesen, in der ihm die Position eines Chauvinisten zugewiesen wird und Enfermada die Position einer rechthaberischen Suffragette einnimmt. Davies und Harré betonen, dass die Wahrnehmung der eigenen Subjektposition und der Subjektposition des bzw. der anderen in einem Gespräch entscheidend beeinflusst, wie verstanden wird, was gesagt wurde. Persönlichkeit, Selbst und Identität werden in der positioning theory als extrem variable Subjektpositionen konzipiert, die in Gesprächen dadurch eingenommen und zugewiesen werden, dass Sprechakte narrative Handlungsstränge implizieren, in denen damit assoziierte Positionen zu besetzen sind. Die beiden Beispiele zur diskursiven Produktion von Persönlichkeit zeigen, wie Persönlichkeitsmerkmale oder bestimmte Versionen des Selbst und der Identität in Diskursen, also mit sprachlichen Mitteln, eingesetzt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen – so im ersten Beispiel, um gewalttätiges Verhalten zu rechtfertigen oder zu diskreditieren. Es geht also um das, was Burman und Parker (1993, S. 1) als die „öffentliche und kollektive Realität von psychischen Phänomenen“ bezeichnet haben: „Psychological phenomena have a public and collective reality, and we are mistaken if we think they have their origin in the private space of the individual“. Diese Sichtweise ist ungewöhnlich, und die damit verbundene Ausblendung jeglicher Rückschlüsse auf psychische Merkmale von Personen fand nicht ungeteilte Anerkennung (Zielke 2007). Man muss nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten bzw. die Person/Persönlichkeit mit dem Diskurs (Renner und Laux 2000). Ausschließlich auf die öffentliche und kollektive Realität von psychischen Phänomenen zu fokussieren, greift genauso zu kurz wie die alleinige Konzentration auf „innerpsychische“ Phänomene. Beide Perspektiven müssen nicht als miteinander konkurrierend, sondern sollten als komplementär und sich ergänzend aufgefasst werden.

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Obwohl in aktuellen Lehrbüchern entweder gar nicht oder kaum auf qualitative Ansätze Bezug genommen wird, lassen sich markante qualitative Spuren in der Geschichte der Persönlichkeitspsychologie identifizieren: Qualitative Methoden bzw. Methodologien spielten in der Entwicklung von psychoanalytischen und humanistischen Persönlichkeitstheorien eine prominente Rolle und standen bzw. stehen in Deutschland im Mittelpunkt der biografischen Persönlichkeitsforschung von Thomae (1968, 1996) und der komparativen Kasuistik von Jüttemann (1990, 2009). International markieren gegenwärtig auch psychobiografische und diskursanalytische Ansätze das Potenzial des qualitativen Vorgehens in der Persönlichkeitspsychologie. Trotz dieser „qualitativen Erfolgsmeldungen“ und obwohl sich nach unserem Eindruck mittlerweile eine friedliche Koexistenz von qualitativen und quantitativen Ansätzen eingestellt zu haben scheint, dominiert nicht nur in der Persönlichkeitspsychologie nach wie vor das quantitative Paradigma. Die Entwicklung von Mixed Methods könnte eventuell zu einer größeren Akzeptanz qualitativer Methoden beitragen. Hilfreich wären in diesem Zusammenhang paradigmatische persönlichkeitspsychologische Studien, die zeigen, dass sich dieses „gemischte“ methodische Vorgehen erstens lohnt, um neue theoretische Erkenntnisse und empirische Befunde zu generieren, und zweitens auch hochrangig publiziert werden kann bzw. häufig zitiert wird. Problematisch ist, dass einige der referierten Ansätze lediglich programmatisch bleiben ohne ein eigenes empirisches Forschungsprogramm zu etablieren, so z. B. Gardners Theorie der multiplen Intelligenzen (Gardner 1985). Auch die von Gerd Jüttemann vorgeschlagene Komparative Kasuistik muss wegen der „für Anwender/innen wenig handhabbaren Verfahrensvorschläge“ (Mey und Mruck 2009, S. 110) noch präzisiert werden. Denn sowohl quantitative als auch für qualitative Ansätze sind dann umso überzeugender, je methodisch stringenter und rigoroser sie durchgeführt werden können und müssen. Ausgerechnet in der Persönlichkeitspsychologie, die nach allgemeinem Konsens die einzigartige Organisation von psychischen Merkmalen innerhalb einer Person erforschen möchte, werden viel zu wenige Einzelfallanalysen durchgeführt. Die Psychografie im Sinne von Stern ist in der zeitgenössischen Persönlichkeitspsychologie ein verlorener Posten und ebenso fehlen Studien zur intraindividuellen Organisation von Persönlichkeit. Auf das letztgenannte Defizit hat schon Manfred Amelang (2005) in seiner Rede anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 2004 in Göttingen hingewiesen; seitdem hat sich daran sehr wenig geändert. Wenn es in der Persönlichkeitspsychologie aber wirklich auch um Einzigartigkeit, Individualität und die intraindividuelle Organisation gehen soll, dann müssten viel mehr Einzelfallstudien durchgeführt werden, die sich nicht nur auf die quantitative Vermessung des Individuums verlassen können, sondern auch qualitative Methoden berücksichtigen müssen. Denn gerade eine neu zu belebende persönlichkeitspsychologische Einzelfallforschung und eine präzisierte Form der Komparativen Kasuistik bzw. Typenbildung werden von qualitativen Methoden stark profitieren können.

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Qualitative Sozialpsychologie Thomas Kühn und Phil C. Langer

Inhalt 1 Disziplinäre Einordnung und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Relevanz und Entwicklung qualitativer Ansätze in der Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zwischen Kritik und Vision: Auf den Spuren des (post-)modernen Alltags – Aktuelle Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag ist den Grundzügen qualitativer Forschung in der Sozialpsychologie gewidmet. Es wird kritisiert, dass es an Sichtbarkeit qualitativer Ansätze fehlt und dass dies im Widerspruch zu ihrer Bedeutung und ihrem Potenzial steht. Dafür werden zunächst Bezugspunkte sozialpsychologischer Forschung anhand von wichtigen historischen Meilensteinen dargestellt, ehe anhand von Beispielen aus aktuellen Studien veranschaulicht wird, wie sich Forscher/innen aus einer dynamischen Perspektive, die das Soziale nicht naturalisiert und verdinglicht, mit alltäglicher Lebensführung, biografischen Prozessen und gesellschaftlichen Kontextbedingungen auseinandersetzen. Eine in diesem Sinne zugleich reflexive und kritische Sozialpsychologie leistet wichtige Beiträge für die soziale Ungleichheitsforschung. Abschließend wird die Bedeutung qualitativer Ansätze für die Sozialpsychologie hervorgehoben und mit einem Aufruf nach stärkerer Sichtbarkeit verbunden.

T. Kühn (*) · P. C. Langer International Psychoanalytic Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_75

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Schlüsselwörter

Reflexive Sozialpsychologie · Kritische Sozialpsychologie · Emanzipatorische Forschung · Mixed Methods · Soziale Ungleichheit

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Disziplinäre Einordnung und Grundlagen

Die Sozialpsychologie ist jene Disziplin in der Psychologie, die sich systematisch mit der sozialen Verankerung des Menschseins beschäftigt. Indem nach dem Erleben und Handeln der Subjekte im gesellschaftlichen Kontext gefragt wird, kommt ein Themenkomplex in den Blick, der sich schon vor der Etablierung und akademischen Institutionalisierung der Sozialpsychologie als eigenständiger Disziplin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Blickpunkt philosophischer Debatten befand. Mit Identität und sozialer Wahrnehmung, Einstellungen und Vorurteilen, pro- und antisozialem Verhalten, Gruppenbildung und Gruppendynamik werden Schlüsselfragen des menschlichen Daseins verhandelt. Die Sozialpsychologie weist dabei Schnittmengen und Querverbindungen zu zahlreichen geistes- und naturwissenschaftlichen Fachgebieten auf, insbesondere der Soziologie, Politik-, Erziehungs- und Kulturwissenschaft sowie der Linguistik und den Neurowissenschaften. Auch innerhalb der Psychologie lässt sich die Sozialpsychologie nicht trennscharf abgrenzen. Insbesondere in Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie, in Rechts-, Verkehrs-, Konsum- und Markt-, Gesundheits- und Friedenspsychologie sind Perspektiven einer angewandten Sozialpsychologie von zentraler Bedeutung. Zeitgenössische Gesellschaften sind dahingehend als pluralistisch anzusehen, als es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was eine Gesellschaft und damit verbunden ein gutes und im ethischen Sinne richtiges Leben ausmacht (z. B. Rosa 1998; Taylor 1989). Dies betrifft auch die Wissenschaft, in der es unterschiedliche Deutungsweisen gibt, die einem sozialen Wandel unterworfen sind und miteinander in einem Spannungsfeld stehen können (z. B. Kelle 2008). Gerade in der Sozialpsychologie, in der die Verzahnung von einzelnen Menschen und Gruppen mit gesellschaftlich bestimmten Kontexten im Mittelpunkt steht, wird dies besonders deutlich. In der Art und Weise, wie Sozialpsychologie jeweils definiert wird, drücken sich deshalb unterschiedliche paradigmatische Grundhaltungen aus. Im deutschsprachigen Raum spricht Graumann (1992) von drei Varianten der Sozialpsychologie mit jeweils spezifischen erkenntnistheoretischen Fundierungen sowie damit einhergehenden Verständnissen von Subjekt, Gesellschaft und deren Zusammenspiel (s. auch Kruglanski und Stroebe 2012). Mit ihm lässt sich eine psychologische, soziologische und (psycho-)analytische Strömung der Sozialpsychologie unterscheiden, die jeweils durch eine eigene Entstehungsgeschichte gekennzeichnet ist. Bei der im Sinne Graumanns „psychologischen“ Sozialpsychologie wird bevorzugt mit quantitativ-experimentellen Methoden gearbeitet. Sie ist im deutschsprachigen und amerikanischen Raum gegenwärtig dominant (vgl. Abschn. 2). Dem stehen „soziologische“ Ansätze entgegen, die auf einem pluralistischen Theoriefundament (u. a. symbolischer Interaktionismus, Phänomenologie,

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Kritische und Diskurstheorie) aufbauen und affiner für qualitative Methoden sind. Um das Soziale nicht als gegeben einfach vorauszusetzen und es dadurch unangemessen zu verkürzen, bedarf es einer sozialtheoretischen Fundierung von sozialpsychologischer Forschung (Decker 2019). Auch gilt es, extremen Individualismus zu vermeiden (s. dazu Stam et al. 1998), zeitgenössische Subjektstrukturen kritisch zu reflektieren und ihre Entwicklung in den Kontext historischer Prozesse zu stellen (Keupp und Hohl 2006). Beispielhaft sind diese Ansätze in den Vorschlägen von Keupp (1993) zu einer „reflexiven Sozialpsychologie“ und, daran anschließend, von Kühn (2015) zu einer „kritischen Sozialpsychologie“ entfaltet. Bei der psychoanalytisch informierten Variante der Sozialpsychologie schließlich, die insbesondere von Fromm (1999b [1932]) angestoßen wurde und auch für die Forschungen am Frankfurter Institut für Sozialforschung der 1920er- und 1930er-Jahre prägend war (Funk 2005), geht es auf der Basis eines psychodynamischen Verständnisses des Unbewussten um eine systematische Untersuchung sozialer Konflikt- und Problemlagen. Soziologische und (psycho-)analytische Ansätze der Sozialpsychologie sind qualitativen Methoden wesentlich verbunden. Mit diesen können soziale Wirklichkeitskonstruktionen von Menschen in den Blick genommen werden, die sich eine symbolische Welt schaffen, indem sie sich und die Umwelt interpretieren, mit gesellschaftlich verankerten Strukturen auseinandersetzen und durch ihr Handeln zu deren Reproduktion oder Veränderung beitragen. Eigene kognitive und emotionale Prozesse sind dabei stets auf Andere bezogen, indem angenommene Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Handlungsweisen antizipiert und in eigene Entscheidungen und Routinen einbezogen werden. Subjektivität und Reflexivität sind zentrale Bezugspunkte für qualitativ ausgerichtete Forschung und kritische Wissensproduktion in der Sozialpsychologie (Kühner et al. 2016; Langer et al. 2013). Die Art und Weise, wie ein Bestandteil dieser Gesellschaft beschrieben und erklärt wird, ist stets politisch, nicht zuletzt, weil sie das Selbstverständnis ihrer Angehörigen beeinflusst. Sozialpsycholog/innen sollten sich deshalb der Gefahr bewusst sein, dass sie dazu beitragen können, mit ihren Analysen sozial begründete Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsverhältnisse unsichtbar zu machen, etwa indem sie das Augenmerk zu sehr auf das direkt zu Beobachtende und zu Messende richten und in ihren Erklärungen zu individualistisch argumentieren. Deshalb ist es gerade für sozialpsychologische Forschung wichtig, die eigene Standortgebundenheit zu reflektieren (s. dazu aus feministischer Perspektive Haraway 1988; Harding 1991; Nentwich und Kelan 2014; Rohde-Dachser 1991). Graumann (1992) selbst kritisiert, dass zu wenig die Verflechtungen zwischen den von ihm benannten Grundströmungen der Sozialpsychologie untersucht wurden und dass es zu wenig Austausch zwischen den Vertreter/innen der unterschiedlichen Ansätze gibt. In diesem Zusammenhang ist die von ihm eingeführte Unterscheidung zwar bezüglich der historischen Genese verschiedener sozialpsychologischer Richtungen überzeugend, gleichwohl aber in ihrer Nomenklatur problematisch, da eine Einengung von psychologischer auf experimentelle und soziologischer auf interpretative Forschung ebenso wenig angemessen ist wie die Trennung (psycho-)analytisch begründeter Ansätze von psychologischen und soziologischen Vorgehensweisen.

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Letztlich sind in allen genannten Strömungen psychologische Fragestellungen von zentraler Bedeutung. Trotz dieser kritischen Anmerkung wird auf die Unterscheidung im folgenden Abschnitt zu Darstellungszwecken nochmals Bezug genommen, da sie eine gute Orientierung bietet, um die Bedeutung und die Entwicklung qualitativer Forschung in der Sozialpsychologie zu skizzieren (Abschn. 2). Im Anschluss daran wird anhand ausgewählter aktueller Forschungsdebatten aufgezeigt, wie subjektive Wirklichkeitskonstruktionen, die sich in unterschiedlichen Formen alltäglicher Lebensführung und biografischer Verläufe ausdrücken, in den Fokus sozialpsychologischer Forschung geraten und auf der Grundlage eines dynamischen Grundverständnisses mit sozialen Strukturen in Verbindung gebracht werden (Abschn. 3). Den Beitrag abschließend werden zentrale Herausforderungen qualitativer Forschung in der Sozialpsychologie markiert und daraus sich ergebende disziplinäre Perspektiven aufgezeigt (Abschn. 4).

2

Relevanz und Entwicklung qualitativer Ansätze in der Sozialpsychologie

Bei einer Durchsicht aktueller Lehrbücher fällt schnell ins Auge, dass quantitative Ansätze dominieren, während qualitative Ansätze entweder gänzlich ausgespart bleiben oder nur am Rande erwähnt werden. Diese hegemoniale Position quantitativer Forschung wird kaum reflektiert, geschweige denn problematisiert. An zwei Beispielen kann das verdeutlicht werden. In dem fast 800 Seiten umfassenden Lehrbuch „Social Psychology“ von Gilovich et al. (2016) wird qualitativen Methoden – enggeführt auf die teilnehmende Beobachtung – im Methodenkapitel etwas mehr als eine halbe Seite gewidmet, sodass insgesamt der Eindruck des Exotischen geweckt wird. Obwohl es sich um eine neutrale Beschreibung der dominierenden Forschungspraxis zu handeln scheint, kommt implizit eine Wertung ins Spiel, bei der qualitative Forschung mit informellen „Eindrücken“ (also nicht wissenschaftlich fundiert) gleichgesetzt wird, während quantitative Methoden als formal(er), also wissenschaftlich(er), im eigentlichen Sinn „empirisch“ suggeriert werden. Qualitativen Methoden wird bestenfalls die Aufgabe zugewiesen, in Vorstudien den Weg für die eigentliche wissenschaftliche Untersuchung zu bereiten. Dies wird eher implizit vermittelt und nicht als Ergebnis einer intensiven, kenntnisreichen und argumentativ geführten Auseinandersetzung mit qualitativen Methoden. Dies gilt auch für das zweite Beispiel, den Beitrag „Forschungsmethoden in der Sozialpsychologie“ von Manstead und Livingstone (2014) im Lehrbuch „Sozialpsychologie“ von Jonas et al. (2014). Hier wird die nicht weiter begründete Behauptung angeführt, dass sich qualitative Forschung stärker auf die Beschreibung als auf die Erklärung konzentriere und mehr daran interessiert sei, wie Verhalten konstruiert als wie es verursacht werde (Manstead und Livingstone 2014, S. 41). Dagegen ist von einem qualitativ begründeten Standpunkt einzuwenden, dass gerade das Erkennen von Wirkungszusammenhängen und das Überschreiten bloßer Beschreibungen das große Potenzial und den eigentlichen Reiz qualitativer Forschung in der Sozialpsy-

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chologie ausmachen. Wenig überraschend ist, dass im weiteren Verlauf des Lehrbuches qualitative Forschung weitgehend unsichtbar bleibt. Auch wird – trotz des Hinweises von Manstead und Livingstone (2014, S. 41), dass die Bedeutung von Methoden und damit verbundenen Zielsetzungen sozialpsychologischer Forschung von philosophischen Grundannahmen abhänge – diese epistemologische und ontologische Fundierung, die als zentrale Grundlage verschiedener sozialpsychologischer Ansätze identifiziert wird, im weiteren Verlauf des Lehrbuchs nicht wieder aufgegriffen, sondern hat den Status einer Randbemerkung inne. Dies ist sinnbildlich für den Status quo der akademischen Sozialpsychologie. Diese Beispiele stehen für die Dominanz quantitativer Ansätze in der akademischen Sozialpsychologie und damit verbundene Strategien, alternative Wissenschaftsnarrative unsichtbar zu machen, indem quantitative Vorgehensweisen als synonym mit wissenschaftlichen Methoden gesetzt werden. Tuffin (2005, S. 42) spricht in diesem Hinblick kritisch von einer „dehumanisation of experimental procedures“. Gleichwohl gibt es eine lange Tradition qualitativ-wissenschaftlicher Forschung in der Sozialpsychologie, die entscheidende Beiträge geliefert hat, um das Miteinander in zeitgenössischen Gesellschaften verstehen und auf der Grundlage reflexiver Analysen auch gestalten zu können. Eine gute Gesamtdarstellung der Geschichte qualitativer Forschung in der Sozialpsychologie liegt noch nicht vor. Die Überlegungen von Denzin und Lincoln (2017), die in dem von ihnen herausgegebenen „Handbook of Qualitative Research“ acht Phasen einer transdisziplinären Geschichte qualitativer Forschung identifizieren, ist auf die Sozialpsychologie nur bedingt übertragbar, die vielfach durch interdisziplinäre Debatten geprägt wurde. Etwas weiter führt hier der Beitrag von Brown und Locke (2017) zum „Handbook of Qualitative Research in Psychology“ (Willig und Stainton-Rogers 2017), in dem drei „Wellen“ qualitativer Forschung in der Sozialpsychologie beschrieben werden. Die erste Welle habe ihren Ausgang von einer vielfach konstatierten Krise des Faches Anfang der 1970er-Jahre genommen, die auch eine dezidierte Kritik am unreflektierten Vertrauen auf quantitativexperimentelle Designs beinhaltete. Dabei habe es kaum fachinterne methodische Vorlagen gegeben, an die Interessierte an qualitativen Methoden hätten anknüpfen können. Die Autor/innen beschreiben die von ihnen bis 1990 datierte erste Welle als Suchbewegung, in der neue Methoden wie die „Q-Methodology“ (Stephenson 1953) entwickelt und bestehende hermeneutische (Gergen et al. 1986) sowie diskursanalytische Ansätze fruchtbar gemacht wurden. In der zweiten Welle, bis 2005 datiert, habe im Zusammenhang mit Foucaults Diskurstheorie eine Institutionalisierung diskursiver Psychologie stattgefunden. Daneben hätten phänomenologische Methoden vor allem in gesundheitsbezogenen Forschungen große Resonanz gefunden. Diese Phase lasse sich als Bemühen um eine größere Systematisierung des methodischen Vorgehens verstehen, in der die sprachliche Dimension in den Vordergrund getreten sei. Die seit 2005 sich entfaltende Phase fassen Brown und Locke unter der Überschrift einer zunehmenden Diversifikation qualitativer Methoden. Sie sei mit einem Erstarken einer kritischen Diskursanalyse, mit sozialpsychologischen Versionen der Grounded-Theorie-Methodologie, psychoanalytisch informierten Methoden der Psychosocial Studies, Konversationsanalyse, aber auch mit dem Aufkommen an

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quantitative Verfahren gut anschlussfähiger Methoden wie der Thematic Analysis (Braun und Clarke 2006) verbunden. Auch die von Brown und Locke (2017) dargestellte Geschichte erscheint indes zu kurz gegriffen, da sie sich ausschließlich auf Ansätze bezieht, die in Großbritannien und in den USA entwickelt wurden, also einen angloamerikanischen Bias aufweist. Gerade im deutschsprachigen Raum sind indes richtungsweisende Impulse zu verzeichnen, die für qualitative Forschung in der Sozialpsychologie heute noch relevant sind. Zudem lassen Brown und Locke wichtige Traditionen qualitativer Forschung in der Sozialpsychologie sowie über die Sozialpsychologie hinausweisende innovative Methodenentwicklungen unberücksichtigt. Anknüpfend an Graumanns Unterscheidung der drei Varianten der Sozialpsychologie (Abschn. 1) sollen diese Leerstellen im Folgenden mit Hinweisen auf jeweils zentrale Werke gefüllt werden. In der Entwicklung der von Graumann als „psychologisch“ bezeichneten Tradition spielten Experimente eine zentrale Rolle. In sozialpsychologischen Lehrbüchern wird kaum reflektiert, dass das Experiment keineswegs notwendigerweise immer an ein nomothetisches Wissenschaftsverständnis und an quantitative Auswertungsverfahren geknüpft sein muss. Sowohl bei Lewin (1963) als auch bei Kleining (1994) zeigt sich hier ein anderes Verständnis, das offen für qualitative Ansätze ist (s. auch Schottmayer 2009). Übersehen wird häufig auch, dass qualitative Elemente in vielen der „klassischen“ sozialpsychologischen Studien wesentliche Bestandteile des methodischen Designs waren. Ein Beispiel hierfür ist das von Sherif et al. (1954) durchgeführte „Robbers Cave Experiment“, in dem Gruppendynamiken und die Entstehung sowie Überwindung von Intergruppenkonflikten untersucht wurden. In einem inszenierten Sommerferienlager im Robbers Cave State Park (Oklahoma, USA) traten zwei Gruppen von sich unbekannten Kindern im Alter von 11 bis 12 Jahren nach „typischen“ Camp-Aktivitäten (z. B. Zelten, Bootfahren) in der jeweiligen Gruppe in sportlichen Wettkämpfen (z. B. Tauziehen, Football) gegeneinander an. Bemerkenswert war, wie schnell und heftig Feindseligkeit zwischen den beiden Gruppen entstand und sich in aggressivem Handeln gegen die jeweils andere Gruppe äußerte. Die Befunde führten zu einem innovativen Schub in der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung und bildeten die empirische Grundlage für die auch heute noch verwendete Theorie des realistischen Konfliktes, dem zufolge der Wettbewerb zwischen Gruppen um wichtige begrenzte Ressourcen zu Vorurteilen und Feindseligkeit zwischen diesen Gruppen führen kann. Auch wenn in dem Experiment eine rigorose Prüfung von Hypothesen avisiert und auch quantitative Labordaten erhoben wurden, so beruhte es doch fundamental auf ethnografisch gewonnenen Beobachtungsdaten (Fine und Elsbach 2000). Ein anderes Beispiel stellt das weit über die Sozialpsychologie hinaus bekannte „Stanford Prison Experiment“ dar (Zimbardo et al. 2005 [1973]), das eindrücklich Effekte der Deindividuation auf Gehorsamsbereitschaft und antisoziales Verhalten aufgezeigt hat. In einem simulierten Gefängnis im Keller der Stanford University (Kalifornien, USA) wurden 24 „durchschnittlichen“ und psychisch unauffälligen Studierenden willkürlich die Rollen von Gefangenen oder Gefängniswärtern mit entsprechenden Uniformierungen zugewiesen. Bereits nach wenigen Tagen musste das Experiment abgebrochen werden, da sich die „Wärter“ gegenüber den „Gefan-

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genen“ durch nicht vorgesehene Strafen (Nahrungsentzug, Isolationshaft, Entkleidung) sadistisch verhielten und psychisches Leiden verursachten. Trotz mittlerweile fundierter Kritik am methodologischen Aufbau und der methodischen Durchführung werden die aus dem Experiment generierten Theorieansätze nach wie vor diskutiert, wenn es etwa um Versuche der Erklärung kollektiver Gewalt im Militär geht (s. z. B. Carnahan und McFarland 2007 sowie Lankford 2009 zum Verhalten von US-Soldat/innen in Abu Ghraib). Im qualitativen Forschungsdiskurs wird auf das Stanford Prison Experiment vor allem im Hinblick auf dessen ethische Implikationen („do not harm“) rekurriert (Tolich 2014). Diese Beispiele zeigen, dass qualitative und quantitative sozialpsychologische Methoden zum Teil als komplementär angesehen werden können (zu Mixed Methods s. auch Abschn. 3). Insbesondere die am Frankfurter Institut für Sozialforschung durchgeführte Studie zur „autoritären Persönlichkeit“ (Adorno et al. 1950; Fromm 1999a [1936], b [1932]), die sowohl der psychologischen wie soziologischen als auch der (psycho-)analytischen Tradition der Sozialpsychologie zugerechnet werden kann, ist hier ein wichtiger Meilenstein. Im Rahmen der qualitativen Teilstudie ging es sowohl um die Prüfung der Validität der Ergebnisse der standardisierten Fragebogenerhebung als auch darum, Persönlichkeitsstrukturen zu verstehen, die mit standardisierten Verfahren nicht erfasst werden konnten (z. B. Kelle 2017, S. 42). Dafür kamen qualitative Interviews und sogenannte „Gruppenexperimente“ zum Einsatz (Pollock 1955). Letztere waren für die Etablierung der Methode der Gruppendiskussion von zentraler Bedeutung, die insbesondere von Mangold (1960) weiter ausgearbeitet wurde (s. z. B. Lamnek 2005). Damit wurden Anknüpfungspunkte geschaffen, die zur Entwicklung einer rekonstruktiven (Bohnsack et al. 2010), problemzentrierten (Kühn und Koschel 2018) und psychoanalytischen (Volmerg 1977) Perspektive und Fundierung der Methode geführt haben. In der „soziologischen“ Forschungstradition der Sozialpsychologie sind die oben skizzierten Geschichtsschreibungen qualitativer Forschung zunächst durch Hinweis auf die sogenannte „Chicago School“ zu ergänzen. Die stark qualitativ ausgerichtete Forschung, die v. a. von Park, Burgess, Thomas und Wirth am Institut für Soziologie der Universität Chicago initiiert wurde, begriff Chicago als Paradigma einer modernen Großstadt, ein „social laboratory containing a diversity and heterogeneity of peoples, lifestyles, and competing and contrasting worldviews“ (Vidich und Lyman 2003, S. 75), in dem soziale Problemlagen und Konfliktdynamiken empirisch untersucht werden sollten. Es entstanden wegweisende Arbeiten einer an „natural areas“ (Park 1952, S. 196) orientierten urbanen und subkulturellen Ethnografie, die nach dem Ersten Weltkrieg mit der auf autobiografischen Zeugnissen basierenden Untersuchung polnischer Immigranten durch Thomas und Znaniecki (1996 [1918–20]) eingesetzt hatte. Beispielhaft dafür sind die Studien von Wu (1926) zu Chinatown, von Wirth (1928) zum jüdischen Ghetto oder von Dai (1970 [1937]) zu Opiumabhängigkeit in Chicago. Besonders einflussreich erwies sich die Forschung von Whyte (1943), der in seiner Studie „Street Corner Society“ die Lebenswelt italienischer, überwiegend männlicher Immigranten in Boston in den Blick nahm. Die Fortführung der Tradition der „Chicago School“ nach dem Zweiten Weltkrieg war eng mit den Arbeiten von Becker und Goffman verbunden. Theoretisch wie

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methodologisch prägend wurde dabei Blumers Grundlegung des symbolischen Interaktionismus, die sich auf Grundannahmen von Mead stützt. Sie bildet sich beispielhaft in Beckers 1953 publizierter Interviewstudie „Becoming a Marihuana User“, der auf teilnehmender Beobachtung beruhenden Untersuchung zur professionellen Sozialisation von Medizinstudierenden („Boys in White“) durch Becker et al. (1961), in Goffmans (1961) Studie zur Psychiatrie als einer „totalen Institution“ sowie seinem Buch zu Stigma als „Beschädigung sozialer Identität“ (Goffman 1963) ab. Der symbolische Interaktionismus stellte sowohl einen wesentlichen Bezugspunkt in der Grundlegung des Forschungsstils der Grounded-Theory-Methodologie dar, den Strauss und Glaser (1965) in der Untersuchung des institutionellen Umgangs mit Sterben im Krankenhaus entwickelten, als auch in der Begründung der Ethnomethodologie durch Garfinkel (1967). Auf die zentrale Bedeutung darauf, wie die Umgebung subjektiv wahrgenommen und gedeutet wird, wird nicht zuletzt in sozialkonstruktivistischen Ansätzen hingewiesen, die in der Tradition des von Schütz (1932) entwickelten Lebenswelt-Konzepts und des nicht nur in der Soziologie bahnbrechenden Werks „The Social Construction of Reality“ von Berger und Luckmann (1966) stehen. Diesen Forschungsansätzen ist ein gesellschaftskritischer und -verändernder Impetus eingeschrieben, der auch für die deutschsprachige Tradition einer emanzipatorischen Forschung kennzeichnend ist. Durch die Untersuchung von, zu und mit vulnerablen Gruppen werden in dieser Tradition Phänomene der machtvollen Kategorisierung, sozialen Stigmatisierung und Marginalisierung in den Blick genommen, um durch deren Analyse empirisch begründete Perspektiven einer gerechteren Gesellschaft aufzuzeigen. Ihrem Selbstverständnis nach ist diese Forschung gesellschaftskritisch, indem sie von einem Leiden der Subjekte an den von diesen als gegebenen wahrgenommenen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeht und zu deren Emanzipation beitragen möchte (Kühn 2015; Langer 2018). Deutlich kommt dieser Ansatz in der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ zum Ausdruck, die Jahoda et al. (1975 [1933]) Ende der 1920er- bzw. Anfang der 1930er-Jahre durchführten, um die Folgen von massenhafter und lang anhaltender Arbeitslosigkeit zu untersuchen. Als gesellschaftskritisches (Teil-)Projekt sollte die Trennung von Theorie und Praxis überwunden werden: „Denn der Marienthaler Versuch ist nur ein Teil eines Programmes, das in größerem Umfang die Ergebnisse der Psychologie in den Dienst gesellschaftswissenschaftlicher Probleme stellt und von diesem Dienst her die Wissenschaft selbst bereichern will“ (Jahoda et al. 1975 [1933], S. 142). Dieses Bemühen spiegelte sich auf der Mikroebene des Forschungshandelns wider, dass nämlich „kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben natürlich einzufügen hatte“ (Jahoda et al. 1975 [1933], S. 28). Es fand seinen Niederschlag in den Methoden, die in der Untersuchung genutzt wurden, etwa in der „Ärztlichen Behandlung“ (die zugleich Aufschluss über den Gesundheitszustand der Bevölkerung geben sollte) oder der „Kleideraktion“ (die es zugleich erlaubte, dass „unauffällig Einblick in die häuslichen Verhältnisse“ gewonnen werden konnte; Jahoda et al. 1975 [1933], S. 28). Die Studie, in der auch qualitative Interviews, Beobachtungen und projektive

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biografiebezogene Verfahren wie das Schreiben von Schulaufsätzen zum Einsatz kamen (Langer und Ahmad 2018), ist ein frühes Beispiel für eine innovative und produktive Methodenkombination (Baur et al. 2017, S.3) und dafür, dass qualitative und quantitative Verfahren komplementär sein können, ohne dass im Vorfeld eine Methodologie als zentral definiert wird (Kühn 2017). Im Ergebnis wurden Perspektivlosigkeit und Fatalismus der als „müde Gemeinschaft“ beschriebenen Dorfbevölkerung diagnostiziert, Befunde, die Folgen für die sozialpsychologische Arbeitslosigkeitsforschung bis in die Gegenwart hinein zeitigten (z. B. Rogge 2013; Ulich et al. 1985). Im Verständnis einer soziologischen Sozialpsychologie haben sich Ende der siebziger Jahre Heinz et al. mit Biografien von Hauptschüler/innen auseinandergesetzt und dabei insbesondere das Konzept einer freien Berufswahl kritisch beleuchtet. Methodisch wurde dafür ein Längsschnittdesign entwickelt, das es ermöglichte, von den Befragten in der Erhebungssituation nicht bewusst reflektierte Brüche zu rekonstruieren und sie ins Verhältnis zu biografischen Entwicklungen zu setzen. So konnte nachgewiesen werden, wie im Sinne biografischer Konstruktion Selektionsergebnisse als Ergebnis personalisierter Bemühungen interpretiert wurden (Heinz et al. 1987) und dadurch Anpassungen an sozial ungleiche Ausgangsbedingungen förderten. Witzel entwickelte in diesem Zusammenhang das problemzentrierte Interview, das noch heute von zentraler Bedeutung für reflexiv-kritische Forschung in der deutschsprachigen Sozialpsychologie und darüber hinaus ist (Witzel 2000; Witzel und Reiter 2012). Eine emanzipatorische Haltung ist schließlich in die Tradition einer analytischen Sozialpsychologie eingeschrieben. Als methodologische Vorschläge, wie das Unbewusste in der Forschungspraxis zur Sprache gebracht werden kann, sind in der psychoanalytischen Tradition z. B. auf Lorenzers (1972, 1986) Überlegungen zu einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse und zum „szenischen Verstehen“ sowie auf Nadigs (2004) Ansatz einer ethnopsychoanalytischen Deutungswerkstatt, in der das psychoanalytische Konzept der Gegenübertragung als Forschungsinstrument fruchtbar gemacht wird, zu verweisen. Beispielhaft für qualitative Studien der analytischen Sozialpsychologie stehen die vom Ehepaar Mitscherlich (2003 [1963]) unter Bezug auf eigenes psychoanalytisch-therapeutisches Material verfasste Studie „Unfähigkeit zu trauern“ zu den Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft sowie die Arbeiten zur industriellen Arbeitswelt von Leithäuser und Volmerg (1988), in deren Kontext die „themenzentrierte“ Herangehensweise in Form von Gruppendiskussionen und Interviews begründet wurde (z. B. Schorn 2000). Im englischsprachigen Raum hat sich zudem mit den Psychosocial Studies ein produktiver Forschungszusammenhang etabliert, in dem sich eine undogmatische Wiederaneignung psychoanalytischer Konzepte mit Traditionen Kritischer Theorie, Postcolonial Studies, Feminismus und QueerTheorie sowie vor allem Diskurs- und Schizoanalyse findet (s. z. B. Frosh 2007, 2010; Hook 2012; Lapping 2011). Baraitser (2015, S. 208) spricht dabei von einem „emerging non-disciplinary space“, in dem sehr unterschiedliche Themen wie „desire, subjectivity, melancholia, alterity, fantasy, biopolitics, identification, ambivalence, affect, relational ethics, ecology, actor-networks, objects, and, of course,

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inter, multi and transdisciplinarity“ verhandelt werden. In Deutschland steht die Rezeption der Psychosocial Studies indes erst am Anfang (Brunner et al. 2012; Kirchhoff 2012; Langer et al. 2014).

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Zwischen Kritik und Vision: Auf den Spuren des (post-) modernen Alltags – Aktuelle Forschungsfelder

Wenn man davon ausgeht, dass menschliches Handeln immer mit einer spezifisch kontextgebundenen und symbolvermittelten Perspektive auf das Leben verbunden ist, ist Sozialpsychologie von zentraler Bedeutung zum Verständnis (spät-)moderner Lebensführung. Sie widmet sich symbolischen Wirklichkeitskonstruktionen von Einzelnen, welche die Grundlage für Handlungen im Alltag und die Bildung sozialer Gruppen darstellen (z. B. Sullivan 2014). Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen Interaktionen in Alltagssituationen, die als sozial und kulturell geformte Kontexte verstanden werden (Voß 1995). Der Alltag befindet sich in einem stetigen Transformationsprozess, der wiederum im Fokus kulturpsychologischer und soziologischer Analysen steht (z. B. Straub 2010). Obwohl es zahlreiche konkurrierende Ansätze gibt, sozialen Wandel zu beschreiben, besteht doch weitgehend Einigkeit darüber, dass es in den letzten Jahrzehnten zumindest partiell zu einer Erosion traditioneller Strukturen gekommen ist, die zu einer Pluralisierung von Lebensformen ebenso wie zu sozialstrukturell bedingten Unsicherheiten und uneindeutigen Ausgangsbedingungen für menschliches Handeln führen (z. B. Keupp und Hohl 2006; Lüscher 2016). Im zeitgenössischen soziologischen Diskurs wird insbesondere auf Entgrenzungs- und Beschleunigungstendenzen verwiesen (z. B. Funk 2011; Rosa 2013). Um die mit diesen sozialen Wandlungsprozessen einhergehenden Veränderungen im Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft zu verstehen, leistet qualitative sozialpsychologische Forschung wichtige Beiträge, weil sie in der Lage ist, Ambivalenzen und Widersprüche zu erfassen. Ein derart dynamisches Verständnis der Sozialpsychologie ist von positivistischen, naturalistischen und essenzialistischen Ansätzen abzugrenzen, welche die Wirklichkeit implizit oder explizit als universal begreifen, indem z. B. menschliches „Verhalten“ ohne Bindung an soziale und zeithistorische Kontexte als Ausdruck allgemeiner Gesetzmäßigkeiten oder als Konsequenz neuropsychologischer Prozesse beschrieben wird. So wird zum Beispiel seit den 1980erJahren vor allem durch eine feministisch begründete Sozialpsychologie der Verweis auf „natürliche“ Unterschiede zwischen Männern und Frauen kritisiert. Statt experimenteller Laborstudien, in denen Geschlecht in positivistischem Sinn lediglich als Variable erfasst wurde und die lange implizit an männlichen Lebenswirklichkeiten orientiert waren (Sieben 2010), ist in feministischen Arbeiten das biografische Interview zur zentralen Methode avanciert, das die Ausbeutung der Interviewpartner/innen verhindern, deren Empowerment befördern und auch für die Interviewenden eine Lernerfahrung darstellen soll (Reinharz 1992, S. 127; s. dazu die Studien von Diezinger et al. 1983; Gilligan 1982). Auch bezüglich der Herstellung von Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen wie Nationen haben qualitative Ansätze in der

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Sozialpsychologie entscheidend dazu beigetragen, ambivalente und kontextabhängige Identitätskonstruktionen aufzudecken und von essentialisierenden Konzepten abzugrenzen (z. B. Kühn 2015; Reicher und Hopkins 2001). Es bedarf deshalb einer sozialpsychologischen Perspektive, welche auf die Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit menschlichen Handelns gerichtet ist. Zeitlichkeit kann aus einer dynamischen Perspektive in unterschiedlicher Form thematisiert werden: erstens indem konkrete situative Interaktionssequenzen in den Blickpunkt gerückt werden, wie es Buchholz und Kächele (2016) als Beispiel einer sozialpsychologisch informierten Analyse von Psychotherapiegesprächen oder Bamberg und Georgakopoulou (2008) anhand der Auseinandersetzung mit als „small stories“ bezeichneten Narrativen über reale oder imaginierte Geschehnisse im Alltag eindringlich verdeutlichen. Außerdem ist Zeitlichkeit zweitens mit spezifischen zeit-historischen Kontexten verbunden, wie es exemplarisch bei King und Gerisch (2009) bezüglich individueller Folgen sozialer Beschleunigung und bei Ehnis et al. (2015) hinsichtlich der Bedeutung gesellschaftlichen Wandels für Identitätskonstruktionen zum Ausdruck gebracht wird. Zeitlichkeit kann sich drittens auf längere Zeiträume und Prozesse im Lebensverlauf beziehen, indem etwa biografische Übergänge in Arbeit, Partnerschaft und Familie untersucht werden. Biografien beschreiben „das sinnhafte Handeln eines Subjektes in einer durch einen Lebensprozess vorgegebenen Zeitstruktur“ (Sackmann 2013, S. 53). Eine biografische Perspektive widmet sich sozialpsychologischen Facetten von Sozialisation. Das Ziel besteht darin nachzuzeichnen, wie es in sozialen Kontexten zur Ausbildung von Wissens- und Wertestrukturen sowie habitualisierten Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Handlungsweisen kommt, die entscheidend dafür sind, welche Möglichkeitsräume für das eigene Leben gesehen und genutzt werden. Ein sehr gutes Beispiel dafür liefert Welzers (1993) Interviewstudie zu den „Herbstübersiedlern“, die vor dem 9. November 1989 aus der DDR in die BRD gekommen sind. Auch die Bedeutung von sozialen Netzwerken und deren Veränderung im biografischen Verlauf stehen im Fokus sozialpsychologischer Forschung, die häufig mittels Mixed-Methods-Ansätzen durchgeführt wird (z. B. Klärner et al. 2016; von der Lippe 2012). Da sich soziale Ungleichheit als Kern für die Entwicklung sozialer Missstände begreifen lässt, sind qualitative, biografiebezogene Ansätze in einer kritischen Sozialpsychologie (Kühn 2015) von zentraler Bedeutung, um Mechanismen zu rekonstruieren, die dazu führen, dass diese Ungleichheit im Bewusstsein von Einzelnen sowie im Rahmen öffentlicher Debatten teilweise unsichtbar bleibt. Damit wird an das Grundverständnis Fromms (1999b [1932]) angeknüpft, dass es der Sozialpsychologie um das verstehende Nachvollziehen des „sozialen Kitts“ gehen sollte. Keupp (1993, S. 11) fragt in dieser Hinsicht, warum Menschen die Ketten nicht abstreifen, für die es keine gesellschaftliche Legitimation gibt. Die Aufgabe der Sozialpsychologie besteht hiernach darin, den Status quo zu hinterfragen und danach zu streben, offenzulegen, wie Einzelne und soziale Gruppen in ihrem Entwicklungspotenzial beeinträchtigt werden. Für die sozialpsychologische Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit ist die Analyse von biografischen Verläufen zentral, um zu verstehen, wie es zur Genese

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horizontaler und vertikaler Ungleichheiten kommt (Kühn 2015; Schneider und Kraus 2014). Dass in diesem Sinne soziologische und psychologische Fragestellungen sehr gut im Rahmen sozialpsychologischer Forschung verknüpft werden können, lässt sich am Beispiel des Sonderforschungsbereichs „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ aufzeigen, der zwischen 1988 und 2001 an der Universität Bremen angesiedelt war und von dem wichtige Impulse für die Methodenkombination ausgegangen sind (Baur et al. 2017, S.4; Kelle 2008; Kelle und Kluge 2001). In verschiedenen Teilprojekten wurden mit statistischen Verfahren Lebensverläufe nachvollzogen, gleichzeitig wurde insbesondere mit qualitativen Interviews untersucht, wie sich Erwachsene mit sozialen Institutionen wie Elterngeld oder wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung („Sozialhilfe“) auseinandersetzen und dies bei auf die eigene Biografie bezogenen Abwägungsprozessen berücksichtigen (Born und Krüger 2001; Heinz und Krüger 2001; Weymann und Heinz 1996). Im Rahmen der von Heinz geleiteten Studie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ wurden im Rahmen eines prospektiven Mixed-Methods-Längsschnittdesigns durch standardisierte Befragungen und problemzentrierte Interviews die erwerbsbiografischen Verläufe einer Kohorte von Absolvent/ innen verschiedener dualer Ausbildungsgänge verfolgt (Kühn 2004, 2017). Auf der Grundlage der qualitativen Längsschnittstudie unterscheiden Witzel und Kühn situationsübergreifende Typen von Orientierungen und Handlungen, die im Zuge beruflicher Entwicklungsverläufe ausgebildet werden und in Abhängigkeit von unterschiedlich ausgeprägten sozialen Chancen und Risiken in verschiedenen Regionen und Berufsfeldern stehen. Insgesamt grenzen sie sechs Typen sogenannter berufsbiografischer Gestaltungsmodi voneinander ab, die sich in die drei Gestaltungsmodi-Gruppen Karriereambition, Statusarrangement und Autonomiegewinn zusammenfassen lassen. Durch diese Unterscheidung kann verdeutlicht werden, wie subjektive Wahrnehmungs- und Handlungsweisen dazu beitragen, statusbezogene Ungleichheiten zu etablieren und zu verfestigen (Kühn 2015; Witzel und Kühn 2000). Wenn im Sinne einer dynamischen Perspektive Prozesse thematisiert werden, kann sich dies sowohl auf äußere Abläufe als auch auf innere Entwicklungen beziehen, zum Beispiel im Sinne von sich verändernden subjektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen. Im Vergleich zu standardisierten Methoden der Einstellungsforschung gibt es im Rahmen qualitativer Sozialpsychologie differenziertere Möglichkeiten zu analysieren, wie sich Menschen mit unsicheren, nicht eindeutigen und widersprüchlichen Ausgangsbedingungen auseinandersetzen. Indem auch verschiedene Diskursformen und narrative Modi unterschieden werden können, können bestimmte Muster offengelegt werden, wie die alltägliche Lebensführung durch Angehörige verschiedener sozialer Gruppen reflektiert und mit selbstreflexiven Überlegungen zur eigenen Stellung in der Gesellschaft verflochten wird (z. B. Kirchhoff et al. 2019; Rehbein und Souza 2014). Insbesondere verschaffen ethnografische Ansätze Zugänge zu Lebensschicksalen, die mithilfe standardisierter Befragungen nicht möglich wären. Plastisch verdeutlicht dies etwa Thomas (2011, 2017), der sich mit der subjektiven Bewältigung von Exklusion und Armut beschäftigt, indem er sich z. B. der Gestaltung des Alltags durch „junge Menschen auf der Straße“ widmet, die sich am Berliner Bahnhof Zoo treffen.

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Ein weiteres Beispiel für eine in diesem Sinne dynamische Perspektive sind die Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Keupp zur Konstruktion von Identität unter Bedingungen „reflexiver Modernisierung“ – so auch der Titel des Sonderforschungsbereich 536, in dem Keupp zwischen 1999 und 2009 das Teilprojekt „Individualisierung und posttraditionale Ligaturen – die sozialen Figurationen der reflexiven Moderne“ geleitet hat. Im Kontext einer groß angelegten qualitativen Längsschnittuntersuchung mit Jugendlichen, in denen neben narrativen Interviews auch ego-zentrierte Netzwerkkarten als methodisches Element zum Einsatz kamen (Kraus 2000), wurde die alltägliche Identitätsarbeit von Jugendlichen nachvollzogen. Diese wird von den Autor/innen als ein aktiver, fortlaufender und wesentlich narrativer Prozess der Herstellung eines gelingenden Passungsverhältnisses von gesellschaftlichem Außen und psychischem Innen auf den drei Ebenen der situativen Selbstthematisierung, der Teilidentitäten und der Metaidentität, die insbesondere Wertorientierungen und biografische Kernnarrative betrifft, verstanden (Keupp 2008; Keupp et al. 2002). Empirisch fundiert betonen Keupp et al. dabei Anerkennung als zentrales Ziel der Identitätsarbeit und fordern die Entwicklung der notwendigen „reflexive[n] Achtsamkeit für die Erarbeitung immer wieder neuer Passungsmöglichkeiten“ (Keupp 2008, S. 22) ein. Sozialpsychologie leistet in diesem Sinne einen wichtigen Beitrag, die symbolische Reproduktion von Gewalt und Macht aufzudecken. Keupps Arbeiten weisen durch die Betonung der Bedeutung von lebensgeschichtlicher Kohärenz auch einen gesundheitspsychologisch einsichtsreichen Weg qualitativer Forschung. In deutlichem Gegensatz zu (post-)positivistisch fundierter Forschung, die weitgehend unter Ausklammerung der sozialstrukturellen Dimension auf Einflussfaktoren individuellen Gesundheitsverhaltens fokussiert ist und damit aktuelle Tendenzen neoliberaler Privatisierung von Gesundheit unkritisch reproduziert und stärkt, erlauben es qualitative Ansätze, subjektive Sinnkonstruktionen und gesundheitsbezogenes Handeln im Kontext sozial ungleich verteilter Ressourcen und gesellschaftlicher Teilhabechancen zu verstehen. So können etwa jene psychosozialen Dynamiken sichtbar gemacht werden, die schwule Männer aufgrund biografischer Erfahrungen gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung vulnerabel machen für das Eingehen HIV-bezogener Risiken (Langer 2009). Einen wichtigen Bezugspunkt für derartige sozialpsychologische Studien bildet das Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1997). Das hiernach für einen „produktiven“ Umgang mit gesundheitlichen Beanspruchungen zentrale Kohärenzgefühl (sense of coherence) weist in Fortführung narrativer Ansätze der Psychologie auf die Bedeutung der Kohärenz von Lebensgeschichten hin, die durch schwere und/oder chronische Erkrankungen problematisch und brüchig werden. Bury (1982) spricht dabei von biographical disruption als Störung von alltäglichen Selbstverständlichkeiten. Kraus (2014) thematisiert die „Arbeit am Unerzählbaren“ aus der Perspektive narrativer Identitätskonstruktionen. Die Aufgabe, sinnhafte Erzählungen der Erkrankung (illness narratives) zu entwickeln, bezieht die gesamte Biografie mit ein, in deren narrative Rekonstruktion die Erkrankung eingewoben wird (Hydén 1997; s. auch Lucius-Hoene 2000).

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Ausblick: Stand und Perspektiven

In Anlehnung an Jahoda liegt das besondere Potenzial der Sozialpsychologie darin, in der Gesellschaft auf den ersten Blick Unsichtbares sichtbar zu machen, indem Wirkungszusammenhänge aufgedeckt und Wechselwirkungen identifiziert werden. Durch diese Identifizierung wird es möglich, „ein kritisches Verständnis der verwirrenden Vielfalt der modernen Welt zu gewinnen“ (Jahoda 1994, S. 304–305). Die Aufgabe, Unsichtbares sichtbar zu machen, besteht aber nicht nur gegenüber sozialpsychologischen Forschungsgegenständen, sondern auch für die Selbstdarstellung und Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten (Kühn 2019; Kühn und Stahlke 2018). Denn in einer nach wie vor stark von experimentellen und standardisierten Vorgehensweisen geprägten akademischen Sozialpsychologie dürfen sich qualitative Forscher/innen nicht mit einem Nischendasein zufriedengeben, sondern sollten die Erkenntnispotenziale dieser Methodengruppe stärker nach außen sichtbar machen. Die Sozialpsychologie kann und muss wichtige Beiträge zur Diskussion zentraler gesellschaftspolitischer Fragen liefern. Im Sinne eines gesellschaftskritischen Ansatzes ist ein besonderes Augenmerk bei der Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheiten auf Prozesse des Unsichtbarmachens und der Verschleierung von Benachteiligung zu richten, die zu Schweigen, Krankheit oder Apathie führen, aber nicht dazu, dass öffentlich Kritik zum Ausdruck gebracht wird. Eine in diesem Sinne kritische Sozialpsychologie sollte gleichzeitig danach streben, nicht ausgeschöpfte Potenziale aufzuzeigen und dazu beizutragen, symbolische Gefängnisse zu sprengen (z. B. Langer 2019). Dies erfordert, sich damit auseinander zu setzen, wie soziale Praktiken und Institutionen derart umgestaltet werden könnten, dass in einer Gesellschaft positiv besetzte Werte noch deutlicher und konfliktfreier zum Ausdruck kommen können. Die Dringlichkeit gesellschaftspolitischer Beiträge wird nicht nur innerhalb kritischer Strömungen der Psychologie (z. B. Heseler et al. 2017), sondern auch in benachbarten sozialwissenschaftlichen Disziplinen erkannt (z. B. Honneth 2007, S. 40–49, 2011, S. 27–28). Honneth etwa ruft zu sozialpsychologischen Beiträgen auf, welche die Verarbeitung sozialer Missstände durch Individuen verständlich machen und auch aufzeigen, welches humane Potenzial des Widerstands und des Wachstums besteht. Folgt man Keupp (2013, S. 9), befindet sich die Psychologie durch ihre einseitige Fokussierung eines naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmodells in einer „Ohnmachtsfalle“, die „mit einem Verlust an gesellschaftlichem Engagement“ und einer „Unfähigkeit, die psychischen Befindlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten im globalen Kapitalismus zu thematisieren“, verbunden sei. Es geht also auf der einen Seite darum, qualitative Ansätze in der Sozialpsychologie zu stärken. Auf der anderen Seite ist es wichtig, sich nicht mit einer generellen Kritik des Status quo zu bescheiden und damit implizit zur Unsichtbarmachung qualitativer Ansätze beizutragen. Denn insbesondere dank der inter- und transdisziplinären Bedeutung sozialpsychologischer Forschung gibt es zahlreiche Konzepte, empirische Projekte und Methoden, auf die für weitere Forschungen aufgebaut werden kann (Mey und Ruppel 2018). Diesbezüglich wäre eine stärkere Vernetzung von qualitativ Forschenden mit sozialpsychologischem Fokus ebenso wünschenswert wie die Erstel-

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lung alternativer Hand- und Lehrbücher zur Sozialpsychologie sowie einer systematischen transnationalen Aufbereitung der historischen Wurzeln. Um noch sichtbarer zu werden, sollte in selbstbewusster Art und Weise das eigene Potenzial betont und Raum für Forschung eingefordert werden. Dazu gehört auch, geeignete Anschlussmöglichkeiten zu anderen Forschungsmethoden und Perspektiven auf das Soziale auszuloten, um diese in Mixed-Methods-Ansätzen zu erproben und reflektieren (z. B. Kühn und Koschel 2015; Schreier und Odağ 2010).

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Qualitative Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie Michael Dick, Hartmut Schulze und Theo Wehner

Inhalt 1 Disziplinäre Einordnung und Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Qualitative Forschung in der Geschichte der AOW-Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktuelle Themen und Diskussionen qualitativer Forschung in der AOW-Psychologie . . . 4 Gegenstand und Kontext der AOW-psychologischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Fallstudie in der Arbeits- und Organisationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie (AOW-Psychologie) wird als Teildisziplin der Psychologie definiert und eingegrenzt. In ihrer Entstehung und Entwicklung hat die qualitative Forschung einen starken Einfluss, was an verschiedenen Forschungsfeldern und historischen Studien aufgezeigt wird. Anschließend werden aktuelle Entwicklungen der qualitativen Forschung in der AOW-Psychologie vorgestellt. Die Fallstudie wird dabei als gegenstandsadäquate Erkenntnisstrategie der Psychologie begründet und ihre methodische Arbeitsweise dargestellt. An zwei Beispielen wird das Vorgehen verdeutlicht,

M. Dick (*) Professur für Betriebspädagogik, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Schulze Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten, Schweiz E-Mail: [email protected] T. Wehner ETH Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_64

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bevor die Gütekriterien für Fallstudien erörtert werden. Der Artikel schließt mit einer Bilanzierung und Bewertung der Entwicklung qualitativer Forschung in der AOW-Psychologie. Schlüsselwörter

Arbeitspsychologie · Organisationspsychologie · Wirtschaftspsychologie · Organisationsentwicklung · Fallstudie

1

Disziplinäre Einordnung und Entstehungsgeschichte

Die Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie (AOW-Psychologie) ist ein Sammelbegriff für verschiedene überlappende Felder der Angewandten Psychologie, die sich mit der Situation und Rolle des Menschen im Arbeits- und Wirtschaftsleben befassen. Subsumierte Bereiche sind die Personal-, Markt-, Finanzoder Berufspsychologie; inzwischen weniger gebräuchlich sind die Bezeichnungen Betriebs- oder Ingenieurpsychologie. Sie lässt sich von psychologischen Teildisziplinen abgrenzen, die sich auf andere Funktionssysteme der Gesellschaft richten (Verkehr, Umwelt, Recht, Bildung, Gesundheit, Gemeinde, Medien). Wichtigste Nachbardisziplinen sind die Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften, die Industriesoziologie und die Managementforschung. Gemeinsam mit technischen, informatischen und medizinischen Subdisziplinen bildet sie die Arbeitswissenschaften. Die AOW-Psychologie wurzelt in einer Absetzbewegung von der Psychologie als experimenteller Wissenschaft, wie sie sich Anfang des 20. Jahrhunderts akademisch etablierte. Schüler von Wilhelm Wundt strebten einen stärkeren gesellschaftlichen Nutzen der psychologischen Forschung an: „Für sich allein genommen ist die ganze kausale Behandlung des seelischen Lebens doch eine recht künstliche und unfruchtbare Betrachtungsart. Das Seelenleben ist Geist und will in seinem Sinn verstanden werden“, knüpft Münsterberg (1913, zit. nach Lück 2004, S. 32) an die geisteswissenschaftliche Tradition des Faches an. Bis 1918 entstanden 250 psychologische Labore, in denen diagnostische Untersuchungen zur Sicherheit in der Bedienung technischer Anlagen durchgeführt wurden (Kanning 2007). Die Potenzierung technischer Leistungsfähigkeit zu jener Zeit führte an die Grenzen der menschlichen Beherrschungskapazität. Personalauswahl, Eignungsdiagnostik und Arbeitsgestaltung waren die ersten Felder, die der AOW-Psychologie zur Geltung verhalfen. Der aus heutiger Sicht verwirrende Begriff Psychotechnik wurde in Analogie zu den Technikwissenschaften verwendet, die zu den Naturwissenschaften im gleichen Verhältnis standen wie die Psychotechnik zur experimentellen Grundlagenpsychologie. Anwendungs- und Kontextbezug verbanden sich mit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Aber auch die Laborexperimente in dieser frühen Phase wären mit dem Etikett „quantitativ“ unzutreffend bezeichnet, wurden sie doch mit wenigen erfahrenen Versuchspersonen durchgeführt. Und die umwälzenden Zeitstudien in realer Arbeitsumgebung, die Frederic Taylor (1998 [1911]) durchführte, würde man heute als systematische Beobachtungsverfahren im natürlichen Kontext einordnen, dessen Einführung

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neuer Organisationsstrukturen (Leistungslohn, Arbeitszeitverkürzung) als Interventionsstudie oder Aktionsforschung. Münsterberg sprach von „praktischen Experimenten der wissenschaftlichen Betriebsführung“ (Münsterberg 1997 [1912], S. 95).

2

Qualitative Forschung in der Geschichte der AOW-Psychologie

Die gestalterische Aufgabe der AOW-Psychologie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Reichhaltigkeit des Kontextes menschlicher Arbeit und die Betrachtung psychischer Prozesse in ihrer Ganzheit. Viele ihrer Forschungslinien sind durch qualitative Studien begründet, deren Ergebnisse bis heute einflussreich sind. Die durch die „Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“ durchgeführte Studie über die Arbeitslosen von Marienthal beruhte auf teilnehmender Beobachtung und Handlungsforschung (Jahoda et al. 2009 [1933]). Die neun Forscherinnen und sechs Forscher wohnten zeitweise vor Ort, organisierten Hilfsangebote für die Gemeinde und nutzten vielfältiges Datenmaterial von der örtlichen Einwohnerstatistik bis zum Schulaufsatz. Erstmals wurden die psychischen und sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit – Resignation, Passivität, Überforderung – ausführlich dokumentiert und präzise beschrieben, wodurch das damals vorherrschende Bild einer politisch aktiven und revolutionären Arbeiterschaft infrage gestellt war. Mit ihren Trainingsgruppen und Feedbackprozessen legte die Forschungsgruppe um Kurt Lewin schon in den 1940er-Jahren Grundlagen der Organisationsentwicklung und der kollegialen Beratung bzw. Supervision (Lewin 1946). Ausgangspunkt waren Experimente zur Dynamik in Kleingruppen, in denen die Teilnehmer/innen zunächst nur beobachtet wurden, dann aber auf eigenen Wunsch aktiv an den Auswertungssitzungen der Forscher/innen teilnahmen und ihre Verhaltensweisen kritisch reflektieren („t-groups“; Comelli 1985). Aus einem ursprünglich streng laborexperimentellen Ansatz (daher der Begriff „Laboratoriumsmethode“) entwickelte sich so eine Form der Aktionsforschung, die für die Organisationsentwicklung prägend ist (Cassell und Johnson 2006). Unter Beteiligung der Akteure werden Veränderungen induziert und anschließend beobachtet, wie diese vollzogen und begründet werden. Den Impuls zur Veränderung geben Daten, die die Forscher/innen im System erheben, aufbereiten und an die Akteur/innen zurückspiegeln („Survey-Feedback“). Der soziotechnische Systemansatz leitet sich aus einer detaillierten Analyse der Technologien, der Arbeitsabläufe und der sozialen Prozesse ab, die in den 1940erund 1950er-Jahren als Feldstudien unter Tage im englischen Kohlebergbau oder in der indischen Textilindustrie durchgeführt wurden (Trist und Bamforth 1951). Hunderte weitere Studien folgten. Kernaussage dieses Ansatzes ist die Interdependenz technischer und sozialer Teilsysteme (Pasmore et al. 1982). Die Zeitschrift „Human Relations“ repräsentiert diese auch psychoanalytisch beeinflusste Arbeitsund Organisationsforschung bis heute. Ein weiterer Ausgangspunkt qualitativer Arbeitsforschung sind die Feldstudien der soziologischen Chicagoer Schule. In deren Tradition führte Anselm Strauss wegweisende Studien zur Veränderung der Arbeitsorganisation und -verteilung im

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Krankenhaus durch (Strauss et al. 1985). Dabei entstand das Konzept des Arbeitsbogens (arc of work), der die Gesamtheit aller Komponenten von Arbeit beschreibt (Seltrecht 2016). Deren Ordnung, Abfolge und Zuteilung wird durch die Akteure/ innen selbst im Arbeitsprozess thematisiert und entwickelt. Diese reflexive Artikulation (Seltrecht 2016) stellt eine immanente Form der Organisationsentwicklung ohne externe Intervention dar. In der Führungsforschung ist mit der Unterscheidung zwischen aufgabenorientiertem (directive) und beziehungsorientiertem (supportive) Führungsverhalten ein bis heute grundlegendes Konzept qualitativen Ursprungs: 1790 erzählte Episoden über Führungsverhalten wurden zunächst inhaltsanalytisch auf 150 Statements und neun Dimensionen reduziert, die dann faktorenanalytisch zwei Dimensionen ergaben (Ohio State Leadership Studies, Hemphill und Coons 1957). Ähnlich entstand die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Arbeitsmotivation: 203 Buchhalter und Ingenieure erzählten Ereignisse ihrer Arbeit, mit denen sie außergewöhnlich zufrieden oder außergewöhnlich unzufrieden waren. Diese wurden in 16 Kategorien geordnet, die ein charakteristisches Muster aufwiesen: Positive Erlebnisse werden mit intrinsisch wirkenden Anreizen verknüpft, negative mit extrinsischen Anreizen (Herzberg et al. 1959). Eine Fallstudie, die fünf Manager aus verschiedenen Domänen (Industrie, Beratung, Konsumgüter, Krankenhaus, Schule) je eine Woche begleitete, veränderte das Bild des Managers in der wissenschaftlichen Literatur (Mintzberg 1973). Bis dahin wurden sie als Unternehmer, Entscheider und langfristig denkende Planer gesehen. Die Rekonstruktion ihres Alltags lenkte den Blick auf die Situativität ihres Handelns, das durch nicht vorhersehbare Einflüsse von außen und von innen, durch kurzfristige Anliegen und häufige Unterbrechungen sowie durch ein hohes Maß an spontaner Kommunikation gekennzeichnet ist. Die Beobachtungen wurden zu einem Modell verdichtet, das zehn verschiedene Managementrollen (z. B. Galionsfigur, Vernetzer, Radarschirm, Problemlöser) beschreibt. Je nach Aufgabe und Situation dominieren unterschiedliche Rollenanteile. Die Fallstudie Mintzbergs (1973) trug stark zu einem Paradigmenwechsel in der Managementforschung und Organisationstheorie bei, der Kontingenz und ständigen Wandel ins Zentrum stellt. Ebenfalls auf Basis von Fallbeobachtungen und Interviews wurden die Persönlichkeit von Führungskräften (Kets de Vries 1985) und die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen (Kets de Vries 1999) untersucht und dabei dysfunktionale Muster herausgearbeitet. Psychodynamische Theorien dienen hier als theoretische Hintergrundfolie, um pathologische Entwicklungen in Organisationen zu verstehen, die zunehmend in der Forschung aufgegriffen werden (s. Westermann und Dick 2014).

3

Aktuelle Themen und Diskussionen qualitativer Forschung in der AOW-Psychologie

In der aktuellen Forschungslandschaft sind qualitative Methoden zwar verbreitet, jedoch finden nur wenige Arbeiten breite Aufmerksamkeit oder Eingang in größere Forschungszusammenhänge. Qualitativ wird vor allem auf der Ebene von Abschlussarbeiten und Dissertationen geforscht, wobei es kaum thematische Eingrenzungen gibt.

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Ein wesentlicher Befund der qualitativen Arbeits- und Organisationsforschung ist die Einbettung menschlichen Wissens und Handelns in die Kontextbedingungen der Arbeit. Wegweisend sind hier Studien zur Mensch-Maschine-Interaktion (Suchman 1987), zur Entwicklung von Tätigkeitssystemen (Engeström et al. 1999), zum situierten Lernen in Praxisgemeinschaften (Lave und Wenger 1991) oder zur Bedeutung von Erfahrung und spontaner Improvisation in der Arbeit (Fischer 2000; Orr 1996; Schulze et al. 2001). Das entdeckende Potenzial der qualitativen Sozialforschung entfaltet sich besonders dort, wo das Implizite und das Prozesshafte an Bedeutung gewinnen, z. B. im Wissensmanagement und Erfahrungstransfer (Wehner und Dick 2001), beim Phänomen des Widerstands und der Abwehr in Veränderungsprozessen (Bain 1998), in der Entwicklung, Stabilisierung und Änderung gemeinschaftlicher Routinen (Edmondson et al. 2001) oder beim Lernen aus Fehlern (Mehl und Wehner 2008). Etabliert sind in der Psychologie biografische Ansätze (Jüttemann 2011). Untersuchungen hierzu betreffen Berufsverläufe und Alltagsgestaltung bei Menschen mit stark arbeitszentrierten und entgrenzten Lebensformen (Ewers et al. 2006) oder die berufliche Sozialisation entlang von Statuspassagen (Heinz et al. 1998). Die Karriere wird als vielschichtiges Beziehungs- und Erwartungsverhältnis zwischen Individuum und Organisationen erforscht (Kade 2008; Raeder 2007). Arbeiten zur subjektiven Aneignung und sozialen Konstruktion technischer Entwicklungen (Flick 1996) und über Gesundheitsvorstellungen von Ärzt/innen und Pflegekräften (Flick et al. 2004) greifen auf den Ansatz der sozialen Repräsentationen zurück. Als besondere Form sozial geteilten Wissens sind diese über episodische Interviews rekonstruierbar. Dresdner Arbeitspsycholog/innen haben sich auf methodisch vielfältige Weise mit kognitiven Strukturierungsprozessen in der Planungstätigkeit von Ingenieur/innen beschäftigt (Hacker 2002; Sachse 2001; Starker und von der Weth 2008). Hier werden Interviews, Beobachtungsverfahren oder Gruppendiskussionen miteinander verknüpft, häufig im Rahmen natürlicher Experimente. Neben dem klassischen narrativen oder dem leitfadengestützten Interview sind in der Angewandten Psychologie auch andere Verfahren etabliert und weiterentwickelt worden. Das Triadengespräch ist eine Erweiterung des narrativen Interviews zur Rekonstruktion erfahrungsbasierten Wissens, bei dem die Zuhörerschaft auf einen Novizen und einen Laien verteilt wird (Dick 2006; Dick und Jacob 2010). Interaktionsanalysen (Bales und Cohen 1982), soziale Netzwerkanalysen (Frosch et al. 2018; Holzer 2009), Strukturlegetechniken (Scheele und Groeben 1988) und das Repertory Grid (Fromm 1995; Raeithel 1993) nutzen systematische Heuristiken für die explorative und interpretative Analyse. In der Tradition der Interaktionsanalyse erlaubt das Instrument zur Kodierung von Diskussionen (IKD) im organisationspsychologischen Kontext die Dokumentation von Beobachtungen sowohl standardisiert als auch offen und qualitativ, wobei nonverbales Verhalten, emotionale Ausdrücke und die Beziehungsebene einbezogen werden (Schermuly et al. 2010). Aus dem ursprünglich klinischen Kontext adaptiert hilft das Repertory-Grid-Interview dabei, die subjektive Sicht von Akteuren auf komplexe soziale Zusammenhänge abzubilden, so bei Veränderungsprozessen in Organisationen (Cassell et al. 2000; Dick et al. 2015a), beim Umgang mit Wissen in Organisationen (Clases 2004) oder bei der Koordination verschiedener Lebensbereiche (Deubel 2009).

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Im gut erforschten Feld der Personalauswahl spielt neben den seit Langem bewährten psychologischen Instrumenten Subjektivität weiterhin eine große Rolle. Eine Interviewstudie mit Personalverantwortlichen zeigte, dass in Einstellungsinterviews unbewusste Faktoren und Intuition wesentlich sind (Kolominski 2009). Ähnlich verhält es sich auf dem Tätigkeitsfeld der Organisationsberatung (Scholl 2012). Während sich die Forschung um Bedingungen für Produktivität, Leistung, Gesundheit oder Zufriedenheit, also um die Ergebnisebene kümmert, orientieren sich die Praktiker/innen am Beratungsprozess. Aktuell stellt auch die betriebliche Gesundheitsförderung ein wichtiges Feld für qualitative Forschung dar (s. den jährlich erscheinenden Fehlzeiten-Report, Badura et al. 2016). In einem weiteren Gebiet, der Büroraumgestaltung, konnte aufgrund teilnehmender Beobachtung die Bedeutsamkeit informeller Kommunikation für den Wissensaustausch, für schnelle Abstimmungen und generell für das Funktionieren in Organisationen aufgezeigt werden (Bismarck et al. 1999). Auf dieser Basis entwickelten Schulze et al. (2014) Pilotinstallationen „Virtueller Cafés“ für die Förderung informeller Kommunikation über verteilte Standorte in Projekten, Netzwerken und Organisationen. Einige Handbücher zur qualitativen Organisationsforschung dokumentieren internationale Aktivitäten (Elsbach und Bechky 2009; Symon 2000). Häufig sind narrative Ansätze zur Rekonstruktion von Praxis und sozialer Wirklichkeit in Organisationen zu finden (Boudens 2005; Erlach 2017; Hjorth und Steyaert 2004). Eine Übersicht über qualitative Methoden der AOW-Psychologie im deutschen Sprachraum liefern Kühl et al. (2009).

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Gegenstand und Kontext der AOW-psychologischen Forschung

Arbeit und wirtschaftliche Wertschöpfung werden nicht durch Individuen allein erbracht, sondern durch Unternehmen und Institutionen, die individuelle Leistungen koordinieren und deren Potenziale vervielfachen. Wenn vorhandene Ressourcen, technische Verfahren und formale Regelungen dauerhaft auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet werden und so ein gemeinsames System mit Außengrenzen bilden, dann sprechen wir von Organisationen. Sie bilden den Rahmen für die Strukturierung von Arbeitstätigkeiten. Je nach Zielsetzung sind Organisationen in unterschiedlichem Ausmaß durch technische und ökonomische Rationalität bestimmt. Organisationen sind daneben aber auch das Ergebnis sozialer Prozesse (Katz und Kahn 1966). Während die technischen und ökonomischen Zusammenhänge in Organisationen eher deterministisch aufgefasst werden, ist ihre soziale Realität eher mehrdeutig und unbestimmt. Sie weist eine Oberflächenebene und eine Tiefenstruktur auf. Die expliziten und offiziell vertretenen Verlautbarungen einer Organisation, Abteilung oder Person müssen nicht dem entsprechen, was diese tatsächlich antreibt (Argyris 1999; Argyris und Schön 1996). Dafür kann es viele Gründe geben, etwa die Habitualisierung bestimmter Deutungs- und Verhaltensweisen, die in ihrer Selbstverständlichkeit niemandem mehr auffallen (organisationale Routinen), die Verdrän-

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gung und Abwehr von Befürchtungen und Ängsten (Janis und Mann 1977), der taktische Umgang mit Konflikten (Neuberger 2006) u. a. m. Das soziale System einer Organisation ist das Ergebnis von Konstruktionen, in denen die Organisationsmitglieder Ereignissen Bedeutung verleihen. Diese sozialkonstruktivistische Ansicht wird durch verschiedene Forschungsrichtungen und mit unterschiedlichen Begründungen aufgegriffen, etwa in der Managementforschung (Weick 1985), der sozialen Lerntheorie (Wenger 1998) oder der systemischen Organisationstheorie (Baecker 1998). Gerade die erfolgreiche Praxis einer konstruktivistisch fundierten Organisationsberatung (König und Volmer 1997; Schein 2000) kann als Beleg für den starken Einfluss sozialer Prozesse der Bedeutungsgenerierung innerhalb von Organisationen gelten. Mit dieser Gegenstandsbestimmung kann die sozialwissenschaftliche Arbeitsund Organisationsforschung sehr gut an die Grundannahmen des symbolischen Interaktionismus (Blumer 1980) anschließen, demnach Menschen gegenüber Objekten auf Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Objekte für sie haben. Diese Bedeutungen entstehen durch soziale Interaktion und werden durch gemeinsames Handeln laufend verändert. Sozialforschung bemüht sich in dieser Tradition um ein verstehendes Nachvollziehen sozialer Praxis (Schütze 1987). Methodisch werden diese Annahmen beispielsweise durch die Ethnografie aufgegriffen, die sich auf die Rekonstruktion bestimmter Ausschnitte der je eigenen Kultur und sozialen Lebenswelt richtet, dabei versucht, das selbstverständlich Gewordene in den Blick zu nehmen und zu erkennen, wie dieses hervorgebracht und aufrechterhalten wird. Die Ethnografie ist eine „flexible, methodenplurale, kontextbezogene Strategie“, die „ganz unterschiedliche Verfahren beinhalten“ kann (Lüders 2010, S. 389). Dazu gehören Beobachtungen, Dokumentanalysen, Interviews, Gruppendiskussionen u. a. m. Gerade ihr sensibler Kontextbezug ist für Arbeits- und Organisationsforschung bedeutsam, denn Organisationen und ihre Mitglieder bilden Grenzen und separieren das Innen und Außen. Grenzen werden aber auch nach innen konstruiert, indem sich einzelne Abteilungen, Arbeitsgruppen oder Professionen voneinander abgrenzen. Diese Differenzen konstituieren das Selbstverständnis, die Identität einer Organisation. Organisationen sind in ihrer sozialen Dimension – und damit in die Psychologie interessierenden Fragestellungen – ein komplexer und dynamischer Gegenstand, der sich einem nomothetischen (auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zielenden, abstrahierenden) Zugriff entzieht. Aus ethischen und forschungspraktischen Gründen werden experimentelle Eingriffe, „ein Herumprobieren mit nicht absehbaren Konsequenzen im Feld“, abgelehnt (Nickel und Nachreiner 2010, S. 1006). Umgekehrt aber problematisieren Organisationspsycholog/innen immer wieder das Problem der praktischen Übertragbarkeit im Labor gewonnener formaler Theorien (Kanning et al. 2007; Ohly et al. 2016). Die vermeintlich große Lücke zwischen dem Labor und dem natürlichen Verhaltensumfeld – Nickel und Nachreiner (2010, S. 1006) sprechen von einem Dilemma – lässt sich zumindest teilweise durch ein einseitiges Methodenverständnis in der Forschungspraxis erklären. Denn grundsätzlich kennt die Psychologie Methoden auf verschiedenen Konkretions- bzw. Abstraktionsstufen: Exploration, Deskription und Explanation (Döring und Bortz 2016), Beschreibung, Korrelation, Experiment (Myers 2008) oder Fallstudien, korrelative und experimentelle Designs (Chmiel 2008). Die Exploration, Beschreibung

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oder Fallrekonstruktion wird jedoch unterschätzt und kämpft gegen den Ruf unwissenschaftlich zu sein: „Einen Fingerhut voll dramatischer Ereignisse verallgemeinern wir schleunigst auf Badewannengröße“ (Allport 1954, zit. nach Myers 2008, S. 27). Fallstudien sind jedoch deutlich mehr als die Rekonstruktion dramatischer Einzelfälle. Sie erlauben durchaus ein systematisches und kontrolliertes, dabei aber auch flexibles und sensibles Vorgehen (Scholz und Tietje 2002). In ihnen kommen unterschiedliche Methoden zum Einsatz und erzeugen auf verschiedenen Ebenen, Niveaus und aus verschiedenen Perspektiven Daten, die miteinander trianguliert und validiert werden (Flick 2008; Hackel und Klebl 2008). Eine ermutigende Bilanz des Entwicklungsstandes der industriesoziologischen Fallstudie legen Pongratz und Trinczek (2010) vor. Mit den heute vorliegenden leistungsfähigen und zuverlässigen Methoden kann an die Tradition der Fallstudie in der Arbeitsforschung angeknüpft werden, um der zunehmenden Geschwindigkeit, Vielschichtigkeit und gegenseitigen Überlagerung von Entwicklungsprozessen gerecht zu werden.

5

Die Fallstudie in der Arbeits- und Organisationsforschung

Fallstudien, genauer: Ethnografisch orientierte Fallstudien knüpfen an dieses Verständnis von Organisationen als sozialer Praxis an, sie erlauben sowohl deren verstehendes Nachvollziehen als auch verändernde Impulse. Die Fallstudie steht als Forschungsansatz neben den derzeit in der AOW-Psychologie dominierenden Ansätzen der fragebogenbasierten statistischen Modellierung und den darauf aufsetzenden Metaanalysen sowie vergleichenden Designs auf experimenteller Basis (Döring und Bortz 2016, Kap. 7). Alle drei folgen jeweils unterschiedlichen Erkenntnisstrategien. Zwei sich einander ausschließende Strategien, die zwar nacheinander oder aufeinander aufbauend, nicht aber gleichzeitig in einer Studie zur Anwendung kommen können, sind die Exploration und die Falsifikation. Die Exploration zielt auf das Entdecken unbekannter bzw. verborgener Phänomene, Strukturen oder Prozesse und wird z. B. durch Fallstudien ermöglicht. Das Experiment hingegen zielt auf das Prüfen von Theorien und daraus abgeleiteten Annahmen durch Falsifikation. Die Exploration folgt einem offenen und zyklischen Vorgehen aus Datenerhebung und Datenauswertung und erarbeitet sich auf diese Weise Schritt für Schritt ein Gesamtbild vom untersuchten Gegenstand (Flick 2002). Die Falsifikation hingegen erfordert ein lineares Design, in dem zunächst die Prüfkriterien festzulegen sind, um dann die Daten in eben diesen festgelegten Formaten und den gewählten Prozeduren zu erheben und auszuwerten. Daraus ergibt sich, dass die Falsifikation auf theoretisch elaboriertem Vorwissen beruhen muss. Ähnliches gilt für Fragebogenstudien, die aber zunehmend auch explorativ eingesetzt werden, etwa um Wirkungszusammenhänge zwischen Variablen in Strukturgleichungsmodellen zu testen (Dormann et al. 2010). Die Fallstudie wird als ein Forschungsansatz definiert, in dem ein oder wenige Beispiele eines Phänomens in der Tiefe betrachtet werden (Blatter 2008). In Fallstudien werden verschiedene sozialwissenschaftliche Erhebungs- und Auswertungsverfahren bei der Analyse eines sozialen Prozesses kombiniert, um dessen Kontext

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systematisch zu berücksichtigen (Berg 2001; Pflüger et al. 2010; Yin 2014). Unterschieden werden Intensivfallstudien, bei denen die Prozessdynamik und Erlebnisperspektive im Mittelpunkt stehen, vergleichende Fallstudien, die strukturelle Merkmale von Organisationen untersuchen, Kurzfallstudien zur Vorbereitung, Spezifizierung oder Ergänzung von Annahmen, oder als einfachste Form anekdotische Verweise auf eigene Erfahrung, wie sie sich häufig in der Beraterliteratur finden (Pflüger et al. 2010). Die beiden letztgenannten sind keine Forschungsmethoden, sondern Argumentationsfiguren. Die beiden erstgenannten Formen generieren systematisch Daten und integrieren verschiedene Methoden und Teilstudien. Entsprechend lässt sich von der integrierten Fallstudie sprechen. Sie zeichnet sich durch die Reichhaltigkeit des dokumentierten Materials, ihren engen Kontextbezug, eine Vielfalt der eingesetzten Methoden, durch die Flexibilität im Vorgehen und durch die Kooperation zwischen Forscher/innen und Beforschten aus.

5.1

Das Vorgehen einer Fallstudie

Ein exploratives und offenes Vorgehen und die Kombination verschiedener Methoden bedeuten jedoch keineswegs Beliebigkeit, welche die Gefahr, sich im vielgestaltigen Geschehen des Falles und einer großen Menge gesammelter Daten zu verlieren, impliziert. Was die Fallstudie zusammenhält, ist der Gegenstand, das Thema der Forschung. Dieser kann zu Beginn unterschiedlich weit ausgearbeitet sein, wird aber im Verlauf der Studie immer stärker konturiert. Vor Beginn der Feldphase und der Erhebung von Daten sind der Gegenstand und sein Kontext zu beschreiben und hinsichtlich ihrer Bekanntheit bzw. Fremdheit in Bezug zum Vorwissen der Forscher/innen zu bewerten. Dabei kann es helfen, nach dem Auslöser oder der Begründung für ein Forschungsvorhaben zu fragen. Sind der Gegenstand hinreichend beschrieben und die initiale Fragestellung formuliert, stellt sich die Frage, wo und wie er im Feld aufzufinden ist. Die Auswahl der zu untersuchenden Fälle bestimmt das Erkenntnisspektrum und -potenzial der Studie. Sie entscheidet darüber, was in der Betrachtung ausgeschlossen bleibt. Ein späterer Einbezug weiterer Fälle ist zwar möglich, erfordert aber eine Korrektur des Gegenstandsverständnisses und verlängert den Forschungsprozess insgesamt. Geeignete Kriterien für die Auswahl der Fälle sind: • • • •

Reichhaltigkeit, Vielfalt der Bedingungen und Perspektiven Auffälligkeit (unerwartete Ereignisse, Störungen) Repräsentativität (wofür repräsentativ, wie festgestellt?) Verfügbarkeit (Feldzugang)

Die Dokumentation und Aufbereitung der Fälle konstituiert ebenfalls Perspektiven und schließt andere gleichzeitig aus. Prinzipiell ist das Reservoire an möglichen Daten unendlich, einige sind bereits vorhanden, andere werden durch die Studie erzeugt. Eine Revision und Ergänzung der Daten ist jederzeit, aber nicht unbegrenzt möglich. Kriterien bei der Auswahl der Daten und Dokumente sind:

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• • • •

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Breite und Tiefe des erfassten Spektrums Betroffenheit, Zentralität im Feld Bezug zur Fragestellung Dokumentationsaufwand und Auswertbarkeit

Die Auswahl einer Erhebungsmethode erfordert immer eine Überprüfung und ggf. Modifikation der Vorannahmen. Je nach Fragestellung und Datenformat ist auch die Strategie der Datenauswertung zu bestimmen. Sofern durch die Erhebungsmethode nicht bereits Auswertungsprozesse vorgegeben sind (z. B. bei der Narrationsanalyse oder der dokumentarischen Methode), lassen sich grob zwei Strategien unterscheiden: Die Ordnung, Systematisierung und Hierarchisierung der Daten zum Zweck der Beschreibung von Phänomenen oder die Suche nach verborgenen Sinnstrukturen durch Interpretation. Ersteres orientiert sich an der Inhaltsanalyse (Mayring 2010), letzteres an der Hermeneutik in ihren unterschiedlichen Spielarten. Hilfreiche Anleitungen für die Durchführung von Fallstudien gibt Yin (2014). Zwei Beispiele sollen die unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten der Fallstudie illustrieren, zunächst ein exploratives, dann ein explanatives Design.

5.2

Beispiel: Explorative Fallstudie „Produktives Wohlbefinden“

Ein Pharmaunternehmen, das seine Unternehmenszentrale von einem Produktionsstandort zu einem offenen Campus für Forschung, Entwicklung und Verwaltung umgestaltet hatte, stand vor der Frage, wie sich die Umbaumaßnahmen auf das Wohlbefinden und die Produktivität der Mitarbeiter/innen auswirkten. Innerhalb von 15 Jahren waren 17 Bürogebäude mit ca. 3400 Arbeitsplätzen zu multifunktionalen Arbeits- und Büroflächen umgewandelt worden. Die verschiedenen Gebäude hatten sowohl befürwortende als auch skeptische Einschätzungen hervorgerufen. Bislang war unklar, wodurch sich die unterschiedlichen Reaktionen auf die neue Arbeitsumgebung erklären ließen und welche räumlichen Konstellationen das Wohlbefinden der Mitarbeiter/innen förderten. In einer explorativen Studie sollte erforscht werden, ob und wie Produktivität und Wohlbefinden aus Sicht der Mitarbeiter/innen miteinander erlebt werden und in welchen Tätigkeiten bzw. in welchen Arbeitsumgebungen dies verwirklicht werden kann (Dick et al. 2015a). Neben Feldbeobachtungen und Bewegungsskizzen (Befragte zeichnen ihre Aufenthalte und Bewegungen auf Landkarten ein) wurden mit einem mehrstufigen Interviewverfahren (narratives Gridinterview; Dick 2000) Daten erhoben. Das Verfahren erzeugt kontextnahe Detailinformationen (Erzählung) und überführt diese gemeinsam mit den Befragten in vergleichbare Modelle. Die Stichprobe (N=11) wurde nach den folgenden Kriterien variiert: Berufsgruppe, Aufgabe im Unternehmen, Mobilität im Unternehmen, Fach- oder Führungsaufgabe, standardisierte oder eher offene Tätigkeiten sowie demografische Merkmale. Die Auskunftspersonen erzählten zunächst über typische Arbeitssituationen und Arbeitsorte und bewerteten diese anschließend im systematischen Vergleich untereinander. Die dabei entstande-

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nen Konstrukte wurden inhaltsanalytisch zu sechs dominanten Bewertungsdimensionen über die Arbeit verdichtet. Diese lauteten: • • • • • •

verbunden – allein fokussiert – vielfältig (Enge – Weite) authentisch – formal aktiv – passiv (Kontrolle) konzentriert – entspannt (Arbeit – Erholung) öffnend – schließend (Ideen – Entscheidung)

Es zeigte sich, dass Beschäftigte, die Wohlbefinden und Produktivität separiert erleben, ihre Arbeit vorwiegend entlang der Polarität „konzentriert – entspannt“ bewerteten. Für diese Gruppe machte es keinen großen Unterschied, ob sie im Einzelbüro oder in einer flexiblen Büroraumumgebung arbeiten, solange Konzentration und Vertraulichkeit gewahrt waren. Beschäftigte hingegen, denen eine Integration von Produktivität und Wohlbefinden gelang, bewerteten ihre Arbeit dominant entlang der Polarität „authentisch – formal“. Sie erleben produktives Wohlbefinden in Situationen, in denen sie ihren Aufgaben authentisch und informell nachgehen. Hierfür bieten die neuen Arbeitsumgebungen gegenüber dem herkömmlichen Einzelbüro deutlich mehr Möglichkeiten. Zusammenfassend: Die Fallstudie suchte Aspekte, die die besondere Wirkung der neuen Arbeitsumgebung auf Produktivität und Wohlbefinden der Arbeitenden erklären können. Dabei wurden bekannte psychologische Merkmale von Arbeitssituationen gefunden, mit Authentizität aber auch ein bislang unbeachteter Aspekt entdeckt.

5.3

Beispiel: Explanative Fallstudie „Konstruktive Kontroverse“

Entscheidungen in Organisationen stehen oftmals vor Dilemmata: Wie viel Information ist nötig, wer soll beteiligt werden, wie deterministisch darf Planung sein, wo ist Raum für Korrekturen (Dick 2015; Kühl 2000)? Für diese besonders in Innovationsprozessen auftretenden Spannungsfelder bietet die Methode „Konstruktive Kontroverse“ Lösungsansätze (Johnson et al. 2006; Vollmer 2016). Ihr theoretisch gut begründetes und im schulischen Kontext bestätigtes Potenzial sollte in Unternehmen erprobt und evaluiert werden. Entlang einer integrierten Fallstudie mit neun Fällen in verschiedenen Unternehmen sollte gezeigt werden, wie sich die Konstruktive Kontroverse in realen Innovationsprojekten bewährt. Hierzu wurde eine einheitliche Strategie zur Implementierung und Durchführung von Konstruktiven Kontroversen erarbeitet. Die Durchführung umfasste neun festgelegte Schritte in einem zweistündigen Workshop für zwei Teams, die jeweils eine Position der Kontroverse vertreten. Die Schritte lauten wie folgt: 1) Teams bilden 2) Argumente erarbeiten, 3) Debatte, 4) Perspektivwechsel, 5) Argumente der Gegenseite erarbeiten, 6) Debatte, 7) Integration, 8) Umsetzungsplanung, 9) Prozessreflexion. Beim Perspektivwechsel sollten die beiden Teams jeweils die Position der anderen Seite übernehmen und verteidigen. Die Implementierung in großen, mittleren und kleinen Unternehmen

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wurde durch ein Forschungsteam begleitet und analysiert. Untersucht wurden Anwendungsmöglichkeiten und Voraussetzungen, Funktionsweise und Eigenschaften sowie die Auswirkungen der Methode. Dabei wurden nicht nur der Workshop selbst, sondern auch dessen Einbettung in den engeren Kontext der Aufgabe/Abteilung und den weiteren Kontext des Unternehmens dokumentiert, dem Diktum der Aktionsforschung folgend: „In case of a field experiment such as a workshop, this means that an analysis of the situation before and after the workshop is needed to define the change created by the workshop. It means also that the workshop itself has to be described as carefully and accurately as possible with the objective of finding out as much as possible exactly what type of happening had created this change.“ (Lewin 1947, S. 151)

Konkret hieß dies, dass auf verschiedenen Ebenen Daten erhoben wurden (Tab. 1). Auf der obersten Ebene ging es darum, kontroverse Themen oder Projekte zu finden, die für das Unternehmen insgesamt von Bedeutung sind und sich nach vorgegebenen Kriterien als Fälle eignen. Auf der Abteilungsebene wurden die Fälle für die Intervention inhaltlich aufbereitet. Die Intervention selbst wurde als Workshop durchgeführt und dokumentiert, u. a. durch Flipchart-Protokolle, Trainer/ innen-Aufzeichnungen und ein Teilnehmer/innen-Blitzlicht. Per Fragebogen wurde das Teamklima vor und nach der Intervention ermittelt. Nach dem Workshop wurden die Umsetzung der Ergebnisse und die Bewertung der Konstruktiven Kontroverse im Kontext des Unternehmens erfragt. Auf diese Weise sollten organisationale Lernprozesse unterschiedlicher Reichweite aufgezeigt werden. Wenn es gelänge, eine Kontroverse im Workshop pragmatisch oder innerhalb bestehender Routinen zu lösen, so wäre dies als Anpassungslernen (single loop learning; Bateson 1972) zu werten. Würden in einer Kontroverse verschiedene Perspektiven und neue Aspekte sichtbar und so Innovationen ermöglicht, so wäre dies ein expansives Lernen (double loop learning; Bateson 1972). Wird die Methode im Workshop zielführend eingesetzt, von den Teilnehmenden verstanden und gerät das Tab. 1 Datenquellen der Fallstudie „Konstruktive Kontroverse“ Ebene Umfeld des Unternehmens Organisation

Abteilung/Fall/Kontroverse

Workshop

Datenformat Interview Geschäftsführung Dokumentenanalyse Interview Geschäftsführung Teamfragebogen Gruppendiskussion Interview Teamleitung Teamfragebogen Workshop-Dokumentation Gruppenspiegel Blitzlicht Beobachtung Trainer/innen-Debriefing Trainer/inner-Supervision

Zeitpunkt Vor der Intervention (I.) Vor der I. Vor der I. Vor und nach der I. Nach der I. Vor und nach der I. Vor und nach der I. Während und nach der I. Während der I. Während der I. Während der I. Nach der I. Nach der I.

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Team so in die Lage selbstständig konstruktive Kontroversen durchzuführen, so könnte von Deutero Learning im Sinne einer verallgemeinerten Lernfähigkeit (Bateson 1972) gesprochen werden. In allen neun Fällen konnten bedeutsame fachliche Kontroversen identifiziert werden. In den Workshops wurden in den meisten Fällen neue Lösungen entwickelt und anschließend umgesetzt. In einigen Fällen wurden Probleme bearbeitet, die zwar nicht real bestanden, aber durchaus Relevanz für die Teams hatten. Die Auswertung der Workshops zeigte, dass vor allem der Perspektivwechsel wirksam war und so ein besseres Verständnis für andere Positionen entstand – ein Lerneffekt, der über das konkrete Problem hinausging und für Organisationen besonders wertvoll ist, da so ein verteiltes und gründlicheres Wissen über Prozesse, Funktionen und Strukturen entsteht. In zwei Fällen hingegen gelang es nicht oder nur bedingt, Workshops zu initiieren. Da diese aber intensiv vorbereitet wurden, lagen Daten zum engeren und weiteren Kontext der Fälle vor. Dadurch wurde es möglich, Entscheidungsstrukturen, verdeckte Agenden und Dilemmata in den jeweiligen Organisationen aufzudecken. Dies betraf zwar nicht mehr die Methode Konstruktive Kontroverse, erweiterte aber das Wissen der Forscher/innen über Konflikte in Organisationen und notwendige Erweiterungen und Ergänzungen der untersuchten Methode (Dick et al. 2015b). Zusammenfassend: Aus einem anderen Kontext bekannte Wirkungszusammenhänge sollten in einem neuen Kontext (Unternehmen) repliziert werden. Dies ist weitgehend gelungen, es traten aber auch unerwartete Konstellationen auf, die zu einer Revision des Gegenstandsverständnisses (kontroverse Entscheidung in Organisationen) führten.

5.4

Fazit und Gütekriterien für Fallstudien

Auslöser der in Abschn. 5.2 dargestellten explorativen Fallstudie war eine Fragestellung aus der Praxis, während die in Abschn. 5.3 angeführte explanative Fallstudie im Sinne einer Replikation aus der Forschung heraus motiviert war. Sie begründete sich aus der Entwicklung der Konstruktiven Kontroverse im Kontext der psychologischen Konfliktforschung (Johnson et al. 2006). Der Nutzen für Praxis und Wissenschaft war in beiden Studien vergleichbar. Im ersten Fall war das starke Interesse des Unternehmens ausschlaggebend für die Möglichkeit des Feldzugangs, im zweiten Fall war die überzeugende theoretische Grundlegung des Projekts die Bedingung dafür, dass Unternehmen sich bereitfanden, an der Studie mitzuwirken. Im explorativen Fall gab die Erzählung von Arbeitssituationen eine methodische Struktur vor. Im zweiten Fall war der Gegenstand sehr gut ausgearbeitet, sodass die unterschiedlichen Methoden und Fallverläufe einen Bezugspunkt hatten und sich nicht in Beliebigkeit verloren. Durch den wechselseitigen engen Bezug zwischen einzelner Beobachtung (Detail) und theoretischer Verdichtung (Gesamtbild) ist es der Fallstudie möglich, das Gegenstandsverständnis zu modifizieren, ohne den Gegenstand dabei zu verändern oder zu verlieren.

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Tab. 2 Gütekriterien einer empirischen Fallstudie Kriterium Ökologische Validität Inhaltsvalidität Generalisierbarkeit Reliabilität

Multiperspektivität

Indikator enger Feldbezug, Dauer und Orte des Feldaufenthaltes, Wahl dem Feld bzw./den Akteur/innen angemessener Ausdrucksformen Stringente Entwicklung des Gegenstandsverständnisses im Studienverlauf, schlüssige Verknüpfung zwischen Gegenstand und Kontext Kontrastive Fallauswahl; kriteriengeleitete Variation der Beobachtungsfälle Anteil formaler Regeln bei der Entstehung und Transformation von Daten (Angabe von formalen Regeln der Transformation) Kontrolle über die Anwendung der Methode Triangulation der Methoden, Daten und Beobachter/innen Nachvollziehbarkeit der Schritte

Abschließend sollen einige Überlegungen zu Gütekriterien für Fallstudien in der Arbeits- und Organisationsforschung skizziert werden. Die Validität bezieht sich einerseits auf die Gültigkeit der Befunde im jeweiligen Kontext (ökologische Validität), andererseits auf die Anschlussfähigkeit an bestehende Theorien und Begriffe des Faches (Inhaltsvalidität). Die Generalisierbarkeit oder Repräsentativität ist dadurch zu sichern, dass ein breites Spektrum an Beobachtungen getätigt wird, die zudem aufgrund expliziter Kriterien variiert werden. Die Reliabilität sagt etwas darüber aus, wie verlässlich eine Methode angewandt wird. Vorgegebene Regeln und Schritte helfen zu vermeiden, dass der/die Untersucher/in beliebig vorgeht. Die Beherrschbarkeit der methodischen Operationen trägt ebenfalls zur Reliabilität bei. Objektivität ist im engeren Sinne kein Gütekriterium für qualitative Sozialforschung, da Forscher/innen und Beforschte bewusst und gezielt kooperieren. Eine Unabhängigkeit von einzelnen Forschungspersonen kann aber erreicht werden, indem verschiedene Beobachter/innen beteiligt werden, verschiedene Methoden und Perspektiven eingesetzt und verschiedene Situationen beobachtet werden (Multiperspektivität). Die unterschiedlichen Beobachtungen werden miteinander in Beziehung gesetzt und aneinander überprüft (Triangulation; Flick 2008). Tab. 2 gibt eine Übersicht über die wichtigsten Gütekriterien der Fallstudie.

6

Ausblick: Stand und Perspektiven

Inzwischen werden bestimmte methodische Entwicklungen im Fach kritisch gesehen. So häufen sich Strategien der Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung, mit denen statistische Signifikanz erhöht wird („p-hacking“), was zu falschen positiven Befunden führt, während nicht signifikante Ergebnisse trotz ihrer Wichtigkeit nicht publiziert werden. Publizierte Befunde gelten folglich vorschnell als evident, obwohl sie nie unter anderen Bedingungen repliziert wurden und Replikationen ohne diesen Effekt nicht publik werden. Dies wird als Replikationskrise in der Psychologie diskutiert (Asendorpf et al. 2013; Ulrich et al. 2016). In der Folge

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finden sich zunehmend Hinweise auf methodischen Pluralismus (Fiedler 2016), die Bedeutung der Hypothesengenerierung und die Grenzen korrelativer Fragebogenstudien und sozialpsychologischer Laborexperimente (Ohly et al. 2016). In den Lehr- und Handbüchern der AOW-Psychologie kam die qualitative Forschungsmethodik lange Zeit so gut wie gar nicht vor, in neuen Auflagen ändert sich dies (Döring und Bortz 2016; Hussy et al. 2010). In der umfassenden arbeitspsychologischen Enzyklopädie werden als grundlegende methodische Ansätze Querund Längsschnittstudien, Metaanalysen sowie Evaluation und Arbeitsanalysen behandelt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der statistischen Modellierung, dagegen werden Befragungen und Beobachtungen nur knapp als Teil der Arbeitsanalyse erwähnt (Kleinbeck und Schmidt 2010). Die Möglichkeit kausaler Schlussfolgerungen und die Generalisierbarkeit von Forschungsergebnissen seien die Ziele, an denen sich die Versuchsplanung auszurichten habe (Freund und Holling 2007, S. 78). Kontextbedingungen werden hier als eine die Güte von Forschung gefährdende und zu kontrollierende Größe gesehen, nicht aber als Ausgangspunkt und Bewährungsinstanz von Forschung. In den führenden psychologischen Fachzeitschriften ist die Situation ähnlich, wie eine von uns durchgeführte Recherche in 33 der führenden Fachzeitschriften in der Datenbank PsychInfo zeigt. Zwischen 2008 und 2015 sind hier insgesamt ca. 16.500 Aufsätze erfasst, davon 11.800 empirische, 9500 quantitative, 500 gemischte und 1500 qualitative Forschungsarbeiten. Dies entspricht etwa den Verhältnissen im Vergleichszeitraum 2000 bis 2007 (Dick et al. 2011). Die Streuung ist allerdings erheblich: Während in Zeitschriften mit explizit psychologischem Fokus (z. B. „Organizational Behavior and Human Decision Processes“, „Journal of Organizational Behavior“) zwischen 0 und 2,5 % qualitative Artikel erscheinen, ist das Verhältnis bei soziologisch ausgerichteten Journalen eher ausgeglichen. In „Organization Studies“ oder „Gender, Work and Organization“ überwiegt der Anteil qualitativer Studien. Im „Academy of Management Journal“ haben immer wieder qualitative Arbeiten den Best Paper Award erhalten (Gephart 2004). Die Psychologie fällt in der Anwendung qualitativer Forschungsmethoden hinter die Nachbardisziplinen der Management- und Wirtschaftswissenschaften sowie der Industrie- und Organisationssoziologie deutlich zurück (Scandura und Williams 2000). Diese Unterschiede haben sich seit 2007 noch verschärft. Dies wird zumindest dann zu einem Problem, wenn die Nachbardisziplinen einander weitgehend ignorieren, anstatt wechselseitig Befunde zu vergleichen. Unzufriedenheit darüber wird immer wieder artikuliert. Lutz von Rosenstiel bemerkte, dass „arbeits- und organisationspsychologische Erkenntnisse meist nur innerhalb eines stabilen Kontextes gültig sind und dementsprechend häufig bereits nach kurzer Zeit ihre Nützlichkeit für die Praxis verlieren“ (Rosenstiel 2007, S. 19). Diese Argumentation spricht gegen die Strategie der Metaanalysen, die nur über einen langen Zeitraum zu realisieren sind. Das Potenzial qualitativer Strategien wird in einem Review des wichtigsten Periodikums der Organisationswissenschaften untermauert. Die Hälfte der 25 dort meist zitierten Artikel weist auf die Notwendigkeit qualitativer Designs hin, vor allem werden Fallstudien, (teilnehmende) Beobachtungen und Interviews gefordert (Aguinis et al. 2008, S. 105).

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Aufgrund der einseitigen Orientierung an quantitativen Verfahren haben sich in der AOW-Psychologie kaum geteilte Standards für die Erhebung qualitativer Daten entwickeln können, verglichen mit den deutlichen Fortschritten bei der quantitativen Auswertung. Ansätze einer methodologischen Diskussion zur Organisation finden sich in Wolf et al. (2010). So werden Potenziale verschenkt, die vor allem in der Kombination verschiedener Methoden liegen (Flick 2008). Wie im Beispiel (Abschn. 5.2 und 5.3) gezeigt, ist es möglich, ein Phänomen vergleichend aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Kontexten zu untersuchen. Auch Entwicklungsverläufe von und in Organisationen über längere Zeit, die ein vertieftes Verständnis etwa von Innovations- und Veränderungsprozessen ermöglichen würden, sind bislang kaum erforscht. Dabei geht es nicht nur um explorative Studien in frühen Stadien einer Forschungslinie, sondern auch um die Erprobung von Befunden, Modellen und Theorien und deren Replikation in der Praxis. Um qualitative und entdeckende Verfahren in der AOW-Psychologie zu fördern, wären ein Diskurs über Gütekriterien, methodische Standards in der Anwendung und die systematische Verankerung in den Curricula der Ausbildung auf Master- und Postgraduiertenebene notwendig. Auch sollte die Bewertung von Publikationsleistungen sich nicht auf quantitative Indexe und internationale Zeitschriften beschränken, in denen regionale und qualitative Studien wenig Publikationschancen haben. Die Bewertung empirischer Forschung sollte sich stattdessen eher an inhaltlichen Aussagen orientieren.

Literatur Aguinis, H., Pierce, C. A., Bosco, F. A., & Muslin, I. S. (2008). First decade of „organizational research methods“. Trends in design, measurement, and data analysis topics. Organizational Research Methods, 12(1), 69–112. Argyris, C. (1999). Eingeübte Inkompetenz – ein Führungsdilemma. In G. Fatzer (Hrsg.), Organisationsentwicklung für die Zukunft. Ein Handbuch (S. 129–144). Köln: EHP. Argyris, C., & Schön, D. A. (1996). Organizational learning II. Theory, method, and practice. Reading: Addison-Wesley. Asendorpf, J. B., Conner, M., de Fruyt, F., de Houwer, J., Denissen, J. J. A., Fiedler, K., et al. (2013). Recommendations for increasing replicability in psychology. European Journal of Personality, 27(2), 108–119. https://doi.org/10.1002/per.1919. Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., & Meyer, M. (Hrsg.). (2016). Fehlzeiten-Report, 2016. Unternehmenskultur und Gesundheit – Herausforderungen und Chancen. Berlin: Springer. Baecker, D. (1998). Organisation als System. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bain, A. (1998). Social defenses against organizational learning. Human Relations, 51(3), 413–429. Bales, R. F., & Cohen, S. P. (1982). SYMLOG. Ein System für die mehrstufige Beobachtung von Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta. Bateson, G. (1972). Steps to an ecology of mind. New York: Ballantine. Berg, B. L. (2001). Qualitative research methods for the social sciences (4. Aufl.). Boston: Allyn & Bacon. Bismarck, W. v., Held, M., & Maslo, J. (1999). Anforderungen an ein System zur Unterstützung der informellen Kommunikation. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 53(1), 10–17. Blatter, J. K. (2008). Case study. In L. M. Given (Hrsg.), The Sage encyclopedia of qualitative research methods (Bd. 1, S. 68–71). Los Angeles: Sage.

Qualitative Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie

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Qualitative Pädagogische Psychologie Carlos Kölbl und Andrea Kreuzer

Inhalt 1 Disziplinäre Einordung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Historische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktueller Stellenwert und zentrale Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Beispiele qualitativ orientierter Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das methodologisch-methodische Selbstverständnis der Pädagogischen Psychologie ist insbesondere an den quantitativ-statistischen Verfahren orientiert, die auch sonst in der Psychologie zur Anwendung kommen. In dem Beitrag wird gezeigt, in welchen Hinsichten qualitative Methoden in dieser Teildisziplin der Psychologie üblicherweise zum Einsatz kommen und welche Bedeutung ihnen zukommen könnte. Dabei erfolgen nach einer kurzen disziplinären Einordnung der Pädagogischen Psychologie ein historischer Rückblick sowie eine Nachzeichnung des aktuellen Stellenwerts qualitativer Forschung in dieser Disziplin. Sodann werden zwei Studien zu exemplarischen Zwecken vorgestellt. Es handelt sich hierbei zum einen um eine Arbeit aus dem Kontext des Forschungsprogramms Subjektive Theorien, zum anderen um eine Diskursanalyse eines unterrichtlichen Geschehens. Abschließend werden Herausforderungen und Desiderate identifiziert, insbesondere die Notwendigkeit, qualitative Forschung in der Pädagogischen Psychologie nicht auf einige wenige besonders gut an quantitative Forschungsvorhaben anschließbare Verfahren einzuengen.

C. Kölbl (*) · A. Kreuzer Lehrstuhl für Psychologie, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-18234-2_72

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C. Kölbl und A. Kreuzer

Schlüsselwörter

Pädagogische Psychologie  Pädagogik  Qualitative Methoden  Forschungsprogramm Subjektive Theorien  Diskursanalyse

1

Disziplinäre Einordung

Die Pädagogische Psychologie gehört zu den angewandten Disziplinen der Psychologie. Dabei unterhält sie zu Grundlagendisziplinen wie der Allgemeinen, der Entwicklungs- und der Differentiellen Psychologie vielfältige Beziehungen. Ihr Gegenstand ist das Verhalten und Erleben von Menschen in pädagogischen Situationen (z. B. Hasselhorn und Gold 2017, S. 12). Zu ihren Schwerpunkten gehören kognitive und motivationale Voraussetzungen des Lernens, das Lehren und das Unterrichten, schulische Beurteilungs- und Bewertungsprozesse, Lernsituationen und Lernumwelten, schulische Lernbereiche, Leistungsstörungen und Präventionsbzw. Interventionsansätze sowie außerschulische Erziehungs- und Bildungsprozesse (Hasselhorn 2019). Wie schon aus dieser allgemeinen Bestimmung zu erahnen ist, führen Abgrenzungsbemühungen gegenüber der Pädagogik als eigenständiger Wissenschaft zu Schwierigkeiten. Überhaupt lässt sich ein Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Wissenschaften feststellen, sie sind einander oftmals das, was Ewald Terhart für die Allgemeine Didaktik und die Lehr-Lernforschung diagnostiziert hat: „fremde Schwestern“ (Terhart 2002; für das Verhältnis von Pädagogik und Psychologie überhaupt s. Herzog 2005; zum Problem der Gegenstands- und Funktionsbestimmung sowie zum Selbstverständnis des Faches s. Brandtstädter 1986; Brandtstädter et al. 1979; Herrmann 1979; Hofer 1987; Krampen 1996). Die teilweise zu beobachtende Fremdheit resultiert aus einem Bündel an Faktoren, unter anderem wird darauf verwiesen, dass die Pädagogische Psychologie stärker als die Pädagogik an quantitativen Verfahren und einer experimentellen Logik orientiert sei sowie an eher non-normativen Aussagen arbeite. Die historischen Wurzeln der Pädagogischen Psychologie werden in der Psychologie, der Philosophie, aber gerade eben auch der Pädagogik identifiziert.

2

Historische Relevanz

Eine Geschichte der Pädagogischen Psychologie mit besonderem Blick auf qualitative Forschung muss erst noch geschrieben werden. Wir beschränken uns auf wenige Schlaglichter (Berliner 2009; Ewert 1979; Hilgard 1996; Krapp 2014; Skowronek 1979). Pädagogisch-psychologisches Denken und Forschen beginnt nicht erst mit der universitären Verankerung der Psychologie als eigenständiger Disziplin. Als wichtige Vorläufer gelten etwa John Locke (1632–1704), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Friedrich Fröbel (1782–1852) und Johann Friedrich Herbart (1776–1841). Für die Pädagogische Psychologie i. e. S.

Qualitative Pädagogische Psychologie

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sind im deutschsprachigen Raum zu Beginn insbesondere die Arbeiten Ernst Meumanns (1862–1915) und Aloys Fischers (1880–1937) bedeutsam. Während Meumann das Experiment als Königsweg der Erkenntnis etablieren möchte und folgerichtig an einer „experimentellen Pädagogik“ arbeitet, darf Fischers Methodenverständnis als weiter bezeichnet werden, ist er doch neben einer Etablierung des Experiments nicht zuletzt auch an einer phänomenologisch orientierten (Pädagogischen) Psychologie interessiert. Für die sich konstituierende Pädagogische Psychologie im US-amerikanischen Kontext sind William James (1842–1910), John Dewey (1859–1952) und Edward Lee Thorndike (1874–1949) hervorzuheben. Sie begründen unterschiedliche Forschungsprogramme, was Differenzen in inhaltlicher, wissenschaftstheoretischer und methodologisch-methodischer, aber auch in Hinsicht auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis umfasst. Die lerntheoretischen Studien Thorndikes zeichnen sich durch eine strikte Orientierung am laborexperimentellen Paradigma sowie an statistischen Analyseprozeduren aus und bereiten dem Behaviorismus den Weg. James und Dewey zählen zu den Mitbegründern des amerikanischen Pragmatismus. Dewey gilt darüber hinaus als ein Wissenschaftler, der gerade auch aus der Beobachtung des alltäglichen Betriebs der von ihm und seiner Ehefrau gegründeten Versuchsschule in Chicago pädagogisch-psychologische Einsichten zu gewinnen vermag. Der Bedeutung Deweys (und James’) zum Trotz setzte sich die „Thorndike-Linie“ und ein behavioristisches Verständnis weitgehend durch und beeinflusste die Pädagogische Psychologie nicht nur in Nordamerika einige Jahrzehnte maßgeblich. Erst mit der „kognitiven Wende“ in den 1950er/60er-Jahren wurde dieser Einfluss zurückgedrängt und das Ziel verfolgt, „to bring back mind into psychology“ (Bruner 1990, S. 1). Dabei griff man auch auf frühere Einsichten und Methoden zurück, etwa auf die bereits von Karl Duncker (1903–1940) kreierte Methode des lauten Denkens (Konrad 2010). In der Pädagogischen Psychologie mündete die kognitive teilweise in eine konstruktivistische Wende, die sich nicht zuletzt auf Autoren wie Dewey und Jerome Bruner (1915–2016) beruft, wobei Letzterer die Grundzüge seiner interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie auch im pädagogisch-psychologischen Feld fruchtbar macht (zu Handlungstheorien in der Psychologie s. Straub 2010; zur Kulturpsychologie Straub und Chakkarath 2010).

3

Aktueller Stellenwert und zentrale Diskussionen

In der Pädagogischen Psychologie kommen schwerpunktmäßig quantitative Verfahren zum Einsatz. Folgerichtig finden sich in dem von Wolfgang Schneider und Marcus Hasselhorn herausgegebenen „Handbuch der Pädagogischen Psychologie“ in der Sektion zu Forschungsmethoden etwa Ausführungen zu experimentellen und quasi-experimentellen Designs sowie zu Zeitreihen- und Mehrebenenanalysen, zu qualitativen Verfahren aber lediglich der Hinweis auf deren Existenz (Köller 2008, S. 697). Diesbezüglich ähnlich uninformiert werden die Lesenden nach der Lektüre von Detlef Rosts „Interpretation und Bewertung pädagogisch-psychologischer Studien“ (Rost 2013) zurückgelassen, die Lektüre des Kapitels „Forschungsmethoden“ (Scheibe et al. 2014) in dem Lehrbuch von Seidel und Krapp hilft ebenfalls kaum weiter. Wolfgang Schneider macht in seinem Enzyklopädiebeitrag zu methodischen

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Ansätzen der empirischen Erziehungs- und Sozialisationsforschung Platzgründe für seine Aussparung qualitativer Ansätze geltend und äußert im Übrigen, es habe den Anschein, „daß die noch zu Anfang der achtziger Jahre beobachtbare Kluft zwischen ‚positivistischen‘ Positionen und hermeneutischen Methodologien deutlich reduziert, wenn nicht gar überwunden“ sei (Schneider 1994, S. 98). So ließe sich fortfahren, weshalb wir nur noch summarisch festhalten, dass sich auch in allen anderen bekannten Einführungs- und Überblickswerken der Pädagogischen Psychologie aus dem deutschsprachigen Raum ein eklatanter Mangel an detaillierten Ausführungen zu qualitativen Methoden verzeichnen lässt. Die einschlägigen publizistischen Flaggschiffe der Disziplin bestätigen das eben skizzierte Bild. Qualitative Studien in Fachzeitschriften wie „Zeitschrift für Pädagogische Psychologie“, „Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie“, „Psychologie in Erziehung und Unterricht“, „Educational Psychologist“ oder „Journal of Educational Psychology“ stellen die Ausnahme von der Regel dar (s. auch Butler 2009, S. 907; Miller et al. 2008, S. 472–474). Dabei weisen die angloamerikanischen Journals tendenziell eine etwas größere Offenheit auf, so widmet sich etwa die erste Ausgabe des Jahres 2002 des „Educational Psychologist“ dem Thema „Using qualitative methods to enrich understanding of self-regulated learning“ (Perry 2002; s. auch Abschn. 4). In Zeitschriften, die zwar auch unter starker Beteiligung Pädagogischer Psycholog/innen erscheinen, aber ein stärker interdisziplinäres Profil aufweisen, wie etwa das „Journal for Educational Research Online/Journal für Bildungsforschung Online“ und die „Frühe Bildung“, finden sich ebenfalls noch eher qualitative Arbeiten als in den „traditionellen“ Journals der Pädagogischen Psychologie. Wenn qualitative Verfahren in der Pädagogischen Psychologie angewandt werden, geschieht dies etwa in der Handlungs- und Praxisforschung oder im Sinne von Ethnografien in schulischen Kontexten, vorzugsweise aber im Rahmen explorativer Vorstudien (Klauer 2006) und neuerdings auch vermehrt im Rahmen von MixedMethods-Designs (z. B. von der Lippe et al. 2011; Tiedemann und BillmannMahecha 2002). Besonderer Beliebtheit erfreut sich die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 2015), andere qualitative Zugänge finden (ungerechtfertigter Weise) weit weniger Beachtung. Im Grunde genommen lief auch eine der wenigen Debatten hierzulande zu qualitativer Forschung in der Pädagogischen Psychologie, speziell der Lehr-Lernforschung, darauf hinaus, just die Inhaltsanalyse nach Mayring als eines der wenigen nutzbringenden Verfahren auszuzeichnen. Dies ist etwa in Alexander Renkls Beitrag der Fall, auch wenn dessen Titel „Jenseits von p < 0,05. Ein Plädoyer für Qualitatives“ (Renkl 1999a) mehr verspricht. Weitere Beiträge bzw. Kommentare zu dieser Debatte, die in der Zeitschrift „Unterrichtswissenschaft“ erschienen ist, steuerten Mayring (1999), Leutner (1999) sowie Schnabel (1999) bei, Renkl (1999b) zeichnete auch für die Einführung verantwortlich. Allerdings werden auch immer wieder Rufe nach einer stärkeren bzw. breiteren Berücksichtigung qualitativer Forschung hörbar. So beklagen etwa Andermann und Dawson (2011, S. 235–236) die vorzugsweise variablenpsychologisch betriebene Motivationsforschung und unterstreichen den Wert qualitativer Studien in diesem Feld, den sie darin sehen, dass solche Arbeiten es Motivationsforschenden erlauben, „to delve more deeply into the ways in which students truly think about motivation“.

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Überhaupt scheint es im angloamerikanischen Bereich insgesamt eine etwas größere Wertschätzung für qualitative Verfahrensweisen in der Pädagogischen Psychologie zu geben, wie schon weiter oben unter Bezug auf die jeweiligen Zeitschriftenlandschaften angedeutet wurde. Robert Calfee und David Berliner leiten beispielsweise das von ihnen im Auftrag der APA, Division 15 „Educational Psychology“ herausgegebene Handbuch so ein: „We rely on the narrative to introduce the volume because tales are more engaging than expositions, because story places conceptual issues into an integrative context, and because qualitative methods are playing an increasingly important role in educational psychology“ (Calfee und Berliner 1996, S. 1). Anders als im Falle des oben erwähnten Handbuchs von Schneider und Hasselhorn finden sich hier im Kapitel zu „Data and data analysis“ durchaus detaillierte Ausführungen zu qualitativen Methoden (Behrens und Smith 1996). Dies trifft auch auf die Fortführung des Handbuchs durch Patricia Alexander und Philipp Winne zu (s. Butler 2009); demgegenüber fällt das Methodenkapitel in der dritten Auflage wieder einseitiger aus (Penuel und Frank 2016). Diesseits des Atlantiks enthält „The Sage handbook of qualitative research“ (Willig und Stainton-Rogers 2008) ein eigenes Kapitel zu qualitativer Forschung in der Pädagogischen Psychologie (Miller et al. 2008), wobei es die Grenzen dessen, was üblicherweise unter diese Disziplin fällt, rasch zugunsten anwendungsnäherer und nicht mehr ohne weiteres disziplinär eindeutig zuzuordnender Forschung überschreitet (hierzu auch Abschn. 5). In der zweiten Auflage (Willig und StaintonRogers 2017) gibt es kein eigenes Kapitel für die Pädagogische Psychologie mehr.

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Beispiele qualitativ orientierter Studien

Im Folgenden werden zwei qualitativ orientierte Studien zu exemplarischen Zwecken dargestellt. Es handelt sich zum einen um eine Arbeit, die im Rahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien (FST) durchgeführt worden ist. Das FST ist gerade im pädagogischen Feld immer wieder fruchtbar gemacht worden: Die Wahrnehmung qualitativer Forschung in der Pädagogischen Psychologie ist hierzulande deutlich von diesem Programm geprägt worden. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass es vergleichsweise gut an quantitative Forschung anschließbar ist. Zum anderen widmen wir uns einer mit diskursanalytischen Mitteln durchgeführten Studie aus dem bereits erwähnten Schwerpunktheft des „Educational Psychologist“, um auch einen methodischen Zugang deutlich werden zu lassen, der sich dezidierter als ein genuin qualitativer versteht. Freilich wird auch dieser Zugang in der vorzustellenden Studie gerade so genutzt, dass eine deutliche Nähe zur quantitativ verfahrenden Pädagogischen Psychologie gesucht wird, was sich generell in dieser Teildisziplin der Psychologie feststellen lässt. Wir kommen darauf zurück (s. Abschn. 5). Gruppenunterricht im Schulalltag In dem breit angelegten Vorhaben „Gruppenunterricht im Schulalltag“ (Dann et al. 1999) werden u. a. subjektive Theorien von Lehrkräften im Hinblick auf Gruppen-

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unterricht mithilfe von Leitfadeninterviews sowie Struktur-Lege-Techniken erhoben und rekonstruiert. Dabei wird ganz im Sinne des FST davon ausgegangen, dass das Alltags- wie das wissenschaftliche Denken auf Welt- und Selbsterkenntnis ausgerichtet ist (zum FST s. etwa Groeben 1986; Groeben et al. 1988; Straub und Weidemann 2015). Daher ist es auch beim Alltagsdenken sinnvoll anzunehmen, dass in ihm Theorien ausgebildet werden. Diese unterscheiden sich von wissenschaftlichen Theorien etwa im Hinblick auf ihre explanativen Potenziale. StrukturLege-Techniken dienen dazu, das, was in Interviews geäußert wird, in eine Struktur zu überführen, in der die Relationen zwischen unterschiedlichen Beständen der jeweiligen subjektiven Theorie grafisch veranschaulicht bzw. verdichtet werden. Diese Verdichtungen werden den Interviewpartner/innen vorgelegt, um die Interpretationen der Forschenden kommunikativ zu validieren. In dem hier interessierenden Projekt wird nicht nur die Innensicht zum Gruppenunterricht herausgearbeitet, sondern auch die Außenperspektive mittels Videoaufzeichnungen einbezogen, und es werden beide Perspektiven miteinander verglichen (Dann et al. 1999). Eine der Fragestellungen des Projekts richtet sich auf die Rekonstruktion sozialer Einflüsse auf das individuelle Wissen von Lehrkräften (Lehmann-Grube 1999). Hierzu werden die subjektiven Theorien der Lehrkräfte personenübergreifend analysiert, woraus wiederum eine Anforderungsstruktur im Gruppenunterricht erarbeitet wird. Darüber hinaus werden die Fachliteratur zum Gruppenunterricht und einschlägige Ausführungen in Lehrerzeitschriften analysiert. Als Resultat ergeben sich drei Typen sozialer Repräsentationen von Gruppenunterricht. Der erste Typ führt Gruppenunterricht trotz einengender curricularer Vorgaben und anderer begrenzender struktureller Bedingungen durch. Die Lehrkraft behält hier die Rolle als wissende Autorität und greift kontrollierend und steuernd ein. Der zweite Typ sieht Gruppenunterricht als Erweiterung des engen Rahmens von Lehrplan und strukturellen Bedingungen. Hier zieht sich die Lehrkraft zurück, sie steht beratend und helfend zur Seite. Der dritte Typ sieht Gruppenunterricht als (teilweise) Aufhebung des engen curricularen Rahmens und anderer struktureller Bedingungen. Hier sollen die Schülerinnen und Schüler ohne Hilfe arbeiten. Danach werden die individuellen Antworten der Lehrkräfte auf die Anforderungen im Gruppenunterricht in Sinneinheiten unterteilt und den drei Typen zugeordnet. In einer tabellarischen Darstellung lässt sich damit für jede Lehrkraft ablesen, mit welcher Häufigkeit in der jeweiligen subjektiven Theorie die unterschiedlichen Typen vertreten sind. Schließlich werden die Typen durch Faktoren gewichtet. Einige Lehrkräfte lassen sich sehr klar einem Typ zuordnen, bei anderen ist dies weniger gut möglich. Diskursanalyse, Scaffolding und selbstreguliertes Lernen Debra K. Meyer und Julianne C. Turner (2002) widmen sich mit diskursanalytischen Mitteln ausgewählten Aspekten des selbstregulierten Lernens. Dabei handelt es sich um diskursanalytische Mittel in einem eher weiten Sinne, insofern hier Unterrichtsdiskurse in einer Manier analysiert werden, die an inhaltsanalytische Vorgehensweisen erinnert (in diesem Sinne s. etwa auch Mey et al. 2012; zu unterschiedlichen

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Spielarten der Diskursanalyse s. Allolio-Näcke 2010). Das zunehmende Interesse für qualitative Methoden in diesem Feld reflektiere auch einen theoretischen Wandel: Selbstreguliertes Lernen werde nicht mehr als bloß individueller, sondern als sozialer Prozess betrachtet. Daher sei es entscheidend, den übergreifenden Kontext zu erforschen, innerhalb dessen sich selbstreguliertes Lernen abspiele. Die Autorinnen richten ihr Augenmerk auf das „Scaffolding“. Dieses ist definiert als „an instructional process in which a teacher supports students cognitively, motivationally, and emotionally in learning while helping them to further develop autonomy“ (Meyer und Turner 2002, S. 18). Die Lehrkraft gibt ein Gerüst („Scaffold“) vor, das das selbstregulierte Lernen fördern soll. „Scaffolding“ bezeichnet generell den Umstand, dass eine Lehrkraft Lernenden ein Gerüst anbietet, das im gelingenden Fall der Strukturierung ihrer Lernprozesse dient. Im Laufe des Lernprozesses, wenn die Lernenden zunehmend selbstständiger werden, wird in gleichem Maße das helfende Gerüst sukzessive „abgebaut“, da davon ausgegangen wird, dass die Lernenden im Lernprozess dieses Gerüst immer stärker internalisieren. Scaffolding ist ein in pädagogisch-psychologischen Lehr-/Lerndiskursen überaus gängiges Konstrukt, das u. a. mit der kulturhistorischen Psychologie Vygotskijs, speziell seinen Überlegungen zu einer Zone der proximalen Entwicklung in Verbindung gebracht wird (z. B. Lompscher und Giest 2018; generell zur kulturhistorischen Psychologie Kölbl 2006). Zunächst wurden Unterrichtsstunden aufgenommen und verschriftet, um sodann kodiert bzw. kategorisiert zu werden. Beim Kodierschema orientieren sich die Autorinnen an der zuvor oben explizierten begrifflichen Bestimmung von Scaffolding. Insgesamt werden drei Kategorien herausgearbeitet. Die erste Kategorie betrifft vorzugsweise „Verständnis und Autonomie“, also die Frage danach, inwiefern das fachliche Verständnis durch die Auseinandersetzung mit Schlüsselkonzepten und Verfahren gefördert werden konnte. Die zweite Kategorie richtet sich auf „Motivation, Emotion und soziale Zusammenarbeit“. Hier geht es um die Schaffung eines positiven Klassenklimas durch die Lehrkraft mittels Unterstützung der intrinsischen Motivation, des emotionalen Wohlbefindens und der Zusammenarbeit untereinander. Zur Veranschaulichung ein Ausschnitt aus einer Unterrichtssequenz, in der deutlich wird, wie die Lehrerin Mrs. Robinson auf Schwierigkeiten in der Klasse reagiert: „MR: I talked to a few of you this morning and I could tell that there was a lot of confusion over the homework. Jewel attempted to do the homework, and she couldn’t do 1 through 6, but she went ahead and did 21 through 22 [damit sind die Nummern der Aufgaben gemeint, die zuhause zu erledigen waren, Anm.: C.K./A.K.]. And she was really upset and I told her that I was not going to penalize her because she at least ATTEMPTED to do the work. [. . .] But what is the purpose of us trying to do the homework? Amy? Amy: Learn how to do it. MR: Right. After I teach you the skills, that’s why you do the homework, to see if you can understand the skills. Those children that don’t care, which I don’t have any children like that, (she speaks to the class as if confiding in them) but you know those CHILDREN – I’m sure you’ve HEARD of them – that don’t even TRY to do their homework – but you guys, you really do TRY and that is the whole purpose of it, OK? [. . .].“ (Meyer und Turner 2002, S. 22)

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Als dritte Kategorie wird „Organisation und Management“ fokussiert, um auch das „Classroom Management“ erfassen zu können, also den mehr oder weniger gelingenden Umgang der Lehrkraft mit der ganzen Klasse, nicht zuletzt im Hinblick auf potenziell störende Verhaltensweisen. Zu den angeführten Kategorien werden noch Unterkategorien sowie eine weiter ausdifferenzierte Kodiertabelle mit Beispielen erstellt. Dadurch kann tabellarisch dargestellt werden, mit welcher Häufigkeit das Handeln der Lehrkräfte den jeweiligen Kategorien entspricht. Im Vergleich zwischen den Lehrkräften werden unterschiedliche unterrichtliche Diskursmuster deutlich. Die qualitative Herangehensweise erlaubt zudem die detaillierte Beschreibung unterschiedlicher Lernkontexte. Abschließend sei zu exemplarischen Zwecken noch auf die qualitativen Studien von Fitzgerald und Noblit (2000), Pressley et al. (2004), Evensen et al. (2001) sowie Johnston et al. (2001) hingewiesen sowie auf deren Kurzzusammenfassungen in Miller et al. (2008, S. 475–476).

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Ausblick: Stand und Perspektiven

Pädagogische Tatbestände sind in ihrer Komplexität auf unterschiedliche methodologisch-methodische und disziplinäre Zugänge angewiesen. Wenn die Pädagogische Psychologie ihre Erkenntnismöglichkeiten nicht unnötig einengen möchte, täte sie gut daran, nicht allein auf quantitative Verfahren zu setzen, sondern auch das gesamte methodologisch-methodische Angebot der qualitativen Sozialforschung für ihre Zwecke kritisch zu sichten. Die nach wie vor häufig zu beobachtende Beschränkung auf qualitative Inhaltsanalysen oder Mixed-Methods-Designs sowie die Engführung qualitativer Verfahren auf ihre möglichst gute Anschlussfähigkeit an die quantitativ verfahrende Forschung stellt eine halbherzige Pädagogische Psychologie jenseits von p < 0,05 dar. Bei so einer Sichtung muss geprüft werden, was aus der „eigenen Tradition“ noch heute brauchbar ist und weiterentwickelt, aber auch, was von Nachbardisziplinen genutzt werden kann. Der „Methodenimport“ dürfte die Methoden im Zuge komplexer Übersetzungsprozesse nicht unverändert lassen. Dies würde die Pädagogische Psychologie dann nicht allein zu einem „Profiteur“ avancierter und andernorts elaborierter Methodendiskurse machen, sondern auch der weiteren qualitativen Methodenentwicklung generell dienen. Der Einsatz und die Weiterentwicklung qualitativer Methoden dürfte aber auch dort lohnenswert sein und vorangetrieben werden können, wo pädagogische Tatbestände nicht speziell unter dem Gesichtspunkt einer bestimmten Disziplin, sondern inter-, multi- oder transdisziplinär untersucht werden. Dabei ist dann nicht nur an die Überschreitung disziplinärer Grenzen zwischen Pädagogischer Psychologie und Pädagogik zu denken, sondern auch zwischen diesen beiden Disziplinen und den Fachdidaktiken. Hier sollten auch die Bemühungen um eine „Psychologie der Unterrichtsfächer“ im Verbund mit Forschungen zur Entwicklungspsychologie des bereichsspezifischen Wissenserwerbs hilfreich sein (für den Bereich des Gesellschaftsverständnisses etwa s. Kölbl 2014; Kölbl und Mey 2014). Solche Über-

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schreitungen sind leicht gefordert, aber schwer umzusetzen (für einen Versuch z. B. Deuble et al. 2014). Die Schwierigkeiten sind im Wesentlichen diejenigen, die man auch bei anderen Versuchen, disziplinäre Grenzen zu überschreiten, beobachten kann: Unterschiedliche und z. T. konfligierende Auffassungen von Gegenstand, lohnenden Forschungsfragen, Begriffen und der Wertigkeit bestimmter methodischer Zugänge. Im besonderen Fall der Untersuchung pädagogischer Tatbestände werden solche Schwierigkeiten nicht selten so „gelöst“, dass die Pädagogische Psychologie das empirische Kerngeschäft übernimmt und die Pädagogik sowie/ bzw. die jeweilige Fachdidaktik (sich) auf die Lieferung begrifflicher und theoretischer Versatzstücke oder aber auf „lebensnahe“ Veranschaulichungen beschränkt (werden). Die Herausforderung und der größere Gewinn dürften aber darin bestehen, die einzelnen Disziplinen auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch zu bringen, gerade auch mit ihren jeweiligen methodologisch-methodischen Erkenntnispotenzialen.

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