Philologus: Band 112, Heft 1/2 [Reprint 2022 ed.]
 9783112640463

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PHILOLOGUS Z E I T S C H R I F T FÜR DAS KLASSISCHE ALTERTUM Im Auftrage des Instituts für griechisch»römische Altertumskunde bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin

Herausgegeben von W O L F G A N G S C H M I D • OTTO L U S C H N A T ERNST GÜNTHER SCHMIDT

Band 112 Heft 1/2

19 68

AKADEMIE*VERLAG / BERLIN in Arbeitsgemeinschaft mit der DIETERICH'SCHEN VERLAGSBUCHHANDLÜNG G.m.b.H. WIESBADEN

INHALT von Band 112, Heft 1/2 Seite

Demokrit über die Sonnenstäubchen. Ein neues Fragment in arabischer Überlieferung

GOTTHARD STROHMAIER,

SANFORD' G. ETHERIDGE, DIETER IRMER,

Aristotle's Practical Syllogism and Necessity

Beobachtungen zur Demosthenesüberlieferung Das Stemmaproblem

ALEXANDER KLEINLOGEL, FRANZ QUADLBAUER,

Properz 3,1

1 20 43 63 83

Miszellen HÜGH LLOYD-JCINES,

Melanippides Fr. 1.1— 2 (PAGE P M G 757)

J . DAVIES, A

119

Note on the Philosopher's Descent into the Gave

121

HEINZ GERD INGENKAMP,

Die Seele nach Aristoteles, EN I 13

ERNST GÜNTHER SCHMIDT, ERNST

Nachtrag zu Epicurea fr. 314/315 Us

A. SCHMIDT, «MaXvjib}?. Zu Theokrit, Idyll IV

PETER HOWELL,

Postis

JOHN RICHMOND, T . A . DOREY,

119

Some Thucydidean Parallels

WESLEY E . THOMPSON,

"-que que-" in Classical Latin Poets

Livy X X I - X X V : Codex Oxoniensis, Bibl. Coll. Novi 2 7 8

RUDOLF KEYDELL,

Zur Sprache des Epigrammatikers Lukillios

126

129 131 132 135 140 141

Mitteilung

145

Eingegangene Druckschriften

145

Die Mitarbeiter werden gebeten, die Manuskripte an einen der Herausgeber, Professor Wolfgang Schmid, 5301 Röttgen bei Bonn, Am Kottenforst 39, oder Professor Otto Luschnat, 1 Berlin 41, Lessingstr. 4, oder Dozent Ernst Günther Schmidt, 69 Jena-Nord, Straße des 8. Mai 30, Korrekturen und sonstige geschäftliche Post an Dr. E. Bechenberg, Deutsche Akademie der Wissenschaften, 108 Berlin Ü, Otto-Nuschke-Str. 22— 23, zu senden und am Schluß der Manuskripte ihre Adresse stets genau anzugeben. Der Verlag liefert den Verfassern 30 Sonderdrucke eines jeden Beitrages unentgeltlich. Bestellungen auf weitere Sonderdrucke gegen BerechnungAitten wir spätestens bei der Übersendung der Korrektur aufzugeben; ihre Bezahlung erfolgt durch Abzug vom Honorar. Verlag: Akademie-Verlag GmbH, in Arbeitsgemeinschaft mit der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung GmbH, Wiesbaden; 108 Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 , Fernruf 22 04 41, Telex-Nr. 01120 20, Postscheckkonto: Berlin 350 21. Bestellnummer der Zeitschrift: 1031. Die Zeitschrift erscheint jährlich in einem Band zu vier Heften. Bezugspreis je Heft im Abbonement 12, — M zuzüglich Bestellgeld. Einzelheft 12, — M, Preis des Doppelheftes 2 4 , - M. Sonderpreis für die DDR 1 8 , - M. Veröffentlicht ipter der Lizenznummer 1297 des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik. Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg.

GOTTHARD STROHMAIER

DEMOKRIT ÜBER DIE SONNENSTÄUBCHEN Ein neues Fragment in arabischer Überlieferung Überhaupt ist es gar nicht wahrscheinlich, daß Demokrit ein System gemacht habe. Ein Mann, der sein Leben mit Reisen, Beobachtungen und Versuchen zubringt, lebt selten lange genug, um die Resultate dessen was er gesehen und erfahren, in ein kunstmäßiges Lehrgebäude zusammen zu fügen. Und in dieser Rücksicht könnte wohl auch Demokrit, wiewohl er über ein J a h r h u n d e r t gelebt haben soll, noch immer zu f r ü h vom Tod überrascht worden seyn. Wieland, Die Abderiten

In dem noch nicht edierten medizinischen Sammelwerk „Bustänu l-atibbä' wa-raudatu l-alibbä'" („Garten der Ärzte und Au der Verständigen")1 von Ibn al-Maträn (gest. 1191 n.Chr.) 2 findet sich im Anschluß an eine Darstellung der Krankheitslehre bei den Epikureern folgendes Zitat: Tauqif Dlmvqrätls huwa sähibu l-habä' wa-l-agzä'i llati lä tatagazza'u yaqülu inna tarkiba l-agsäm min habä'i l-habä'i l-mabtüt fi l-hawä'i lladi yabinu fi su'ä'i s-sams. wa-min adillatihi anna l-insän idä waqafa fihi wa-hakka gismahü tasä'ada minhu mitlu dälika l-habä' wa-naqasa mina l-gild hattä 1

Vorhanden, soweit mir bekannt, in vier Handschriften: 1. Army Médical Library, Bethesda/Maryland, Nr. A 8 (vgl. D. M. SCHTJLLIAN U. F. E . SOMMER, A catalogue of incunabula and manuscripts in the Army Médical Library, New York [1951], 299) ; f ü r die freundliche Beschaffung eines Mikrofilms bin ich PH. DE LACY zu Dank verpflichtet, die übrigen Handschriften waren mir leider nicht zugänglich; 2. Ahmadiya-Bibliothek der Zaitüna-Moschee, Tunis, Nr. 5400 (vgl. SALÂHUDDÏN AL-MUNAGGID, Masädir gadïda 'an ta'rlhi t-tibb 'inda l-'arab, Revue de l'Institut des Manuscrits Arabes 5, 1959, Nr. 145, vgl. S. 230, und S. HAMARNEH, Arabie historiography as related to the health professions in Médiéval Islam, Sudhoffs Archiv 50, 1966, 15); 3. Bibliothek des Saih Ridä as-Sabïbï, Bagdad, Nr. 1 (vgl. M. RIDÄ A§-SABIBÏ, Bustänu l-atibbä' wa-raudatu l-alibbä' au Dimasq fl 'asriha d-dahabl, La Revue de l'Académie Arabe [Damaskus] 3, 1923, 2f., und SALÄHUDDIN AL-MTJNAGGID, a . a . O . ) ; 4. Rampur, Nr. 1:470(29) (vgl. C. BROCKELMANN, Geschichte der arabischen Literatur, Suppl.-Bd. 1, Leiden 1937, 892). 2 Ein Leibarzt des aus der Geschichte der Kreuzzüge bekannten Sultans Salähuddin (Saladin), t r a t vom Christentum zum Islam über (s. R. WALZEB, Galen on Jews and Christians, Oxford 1949, 87—89, und S. HAMABNEH, a. a. O. 14f., dort weitere Literatur).

1

Zeitschrift „Philologus" 1/2

2

GOTTHARD STROHMAIER

in dama l-hakk tasallaha l-gild. qala wa-innama dalika t-tasalluh li-naqs mä hariba min binä'i l-badan bi-tilka l-agzä'i llati lä tatagazza''1. „Feststellung des Demokrates — das ist der Mann mit dem Staub und den Teilen, die nicht geteilt werden —, er sagt: Die Zusammensetzung der Körper ist aus dem ganz feinen Staub, der in der Luft verteilt ist und der im Sonnenstrahl sichtbar wird. Ein Beweis dafür ist: Wenn man sich in ihn hineinstellt und seinen Körper kratzt, steigt von ihm solcher Staub auf und nimmt von der Haut ab, so daß die Haut abgeschält wird, wenn das Kratzen andauert. Er sagte: Und dieses Abgeschältwerden ist wegen der Verminderung dessen, was von dem Bau des Körpers aus jenen Teilen, die nicht geteilt werden, zerstört ist." Die nachfolgende Untersuchung wird zunächst auf die Frage der Echtheit eingehen, ist es doch auf den ersten Blick verwunderlich, daß sich bei einem arabischen Autor des zwölften Jahrhunderts ein Fragment des Philosophen finden soll, das uns die anderen Quellen bisher vorenthalten haben. Da es nicht in der originalsprachlichen Fassung vorliegt, ist in diesem Zusammenhang auch zu ermitteln, wer es übersetzt hat und wie dessen Zuverlässigkeit zu beurteilen ist. Eine Interpretation ist sinnvollerweise erst anschließend daran zu geben, sie wird sich zunächst mit den möglichen griechischen Äquivalenten der einzelnen Wörter befassen, danach soll versucht werden, das neue Fragment in das bisher bekannte Material einzuordnen. Demokritzitate, dies sei zur Orientierung vorausgeschickt, stellen in der arabischen Literatur an und für sich nichts Ungewöhnliches dar. Sie begegnen vor allem in gnomologischer Literatur, die sich im syrisch-arabischen Baum einer ebenso großen Beliebtheit erfreute wie im griechischen. Auf Grund der in dieser Literatur grassierenden Namensvertauschungen, die durch sorglose Bearbeitungen und Neuzusammenstellungen verursacht wurden, muß man sich jedoch hüten, die darin erfolgte Einordnung eines Spruches oder einer Anekdote unter dem Namen eines bestimmten Philosophen allzu ernst zu nehmen2. Im Unterschied zu dem Material der Gno1

Hs. Bethesda, fol. 8 5 v 5 - 1 0 . Wichtige grundsätzliche Bemerkungen bei J. KRAEMER, Arabische Homerverse, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 106, 1956, 287—306. Sie gelten m. E. auch für die Demokritsprüche bei as-Sahrastäni, auf die F. ALTHEIM U. R. STIEHL die Aufmerksamkeit gelenkt haben (Neue Bruchstücke Demokrits aus dem Arabischen, Wissensch. Zeitschr. d. Karl-Marx-Univ. Leipzig, Ges.- u. sprachw. Reihe 11, 1962, 567—570, und Die aramäische Sprache unter den Achämeniden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1963, 185 — 192). Besonders anschaulich ist die wertvolle Materialsammlung bei F. ROSENTHAL, Sayings of the ancients from Ibn Durayd's Kitab al-mujtanä, Orientalia N. S. 27, 1958, 29—54 u. 150-183. 2

Demokrit über die Sonnenstäubchen

3

mologien handelt es sich aber bei dem neuen Fragment weder um eine Anekdote noch um eine knapp formulierte Sentenz, die eine allgemeine Weisheit zum Ausdruck bringen soll. Es ist vielmehr ein aus dem Zusammenhang gerissenes Stück einer wissenschaftlichen Beweisführung und als solches gänzlich ungeeignet, einen breiteren Leserkreis zu erbauen, wie es der Zweck der Gnomologien ist. Es ist also nicht anzunehmen, daß das Fragment bei Ibnal-Maträn aus einer solchen trüben Quelle geschöpft ist. Eine andere Möglichkeit scheint eine Angabe bei Ibn al-Qifti (gest. 1248 n. Chr.) zu eröffnen, der zufolge Schriften Demokrits über die Atome erst ins Syrische und danach ins Arabische übersetzt worden seien1. Leider nennt er keine Titel, mit Ausnahme von „Briefen", die aber im Fihrist des Ibn an-Nadlm (verfaßt 987 n. Chr.) in einer Liste alchimistischer Schriften aufgeführt werden2. Auf Demokrits Namen gefälschtes alchimistisches Material hat in der Tat Eingang in den syrischen und damit zugleich auch den arabischen Raum gefunden 3 . Wenn also arabische Autoren Angaben über Demokrit machen, so ist zunächst immer mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ihr Wissen aus einer solchen Quelle stammt. Im Falle des neuen Fragments ist dies jedoch sehr unwahrscheinlich. Es liefert ein Argument für die Atomtheorie, diese aber spielt in dem gefälschten Schrifttum, soweit ich es übersehe, gar keine Rolle, wie sie auch überhaupt auf die antike Alchimie ohne Einfluß geblieben zu sein scheint 4 . 1 Hg. v. J. LIPPERT, 182,6f. — Dies wird übrigens von dem als Gewährsmann genannten Ibn Gulgul nicht bestätigt, diesem war nur zu entnehmen, daß Demokrit ein Grieche war, über die Atome schrieb und in den Tagen des Sokrates lebte (Les générations des médecins et des sages, hg. v. FTJ'ÄD SAYYID, Kairo 1955 [Publications de l'Institut Français d'Archéologie Orientale du Caire, Textes et Traductions d'Auteurs Orientaux 10], 33). 2 Hg. v. G . FLÜGEL, Bd. 1, S. 3 5 4 , 2 3 . — Ob diese mit den in der Suda genannten èmaroXat (68 A 31 — das vorsokratische Material wird auch im folgenden, soweit nicht anders erforderlich, nur zitiert nach H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, hier benutzt in 7. Aufl., hg. v. W. KRANZ, Berlin 1954) identisch sind, bleibe dahingestellt. F. ALTHEIM U. R. STIEHL denken an die beiden Demokritbriefe der pseudohippokratischen Briefsammlung (Neue Bruchstücke 570; Die aramäische Sprache 192). 3 Vgl. M. BERTHELOT, La chimie au Moyen Âge, Bd. 2, Paris 1893, S . I X — X I I , syr. S. 10—60, S. 19—120; dazu E. O. VON LIPPMANN, Entstehung und Ausbreitung der AIchemie, Bd. 1, Berlin 1919, 40—46. — Weitere Belege für Demokrit als Alchimisten und auch als Geoponiker s. bei M. STEINSCHNEIDER, Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen, S. 48—53, 237 u. 380f. des Nachdr. Graz 1960. 4 Eine Ausnahme s. bei Stephanus Alexandrinus, De magna et sacra arte. Buch 6 (Physici et medici Graeci minores, hg. v. J. L. IDELER, Bd. 2, Berlin 1842, 223), worauf PAIJL K R A U S (Jäbir ibn Hayyän, Bd. 2, Kairo 1942 [Mémoires présentés à l'Institut d'Égypte 45], 10f., Anm. 3) hinweist.

1*

4

GOTTHARD STROHMAIER

Wäre also der Angabe bei Ibn al-Qifti Vertrauen zu schenken, nach der echte Demokritschriften über die Atome ins Arabische übersetzt worden seien? Das neue Bruchstück kann keinesfalls als Beweis dafür dienen, denn es bietet sich für seinen Überlieferungsweg eine weitere Möglichkeit, die ihrerseits alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, nämlich die, daß es als Zitat in einer anderen griechischen Schrift enthalten war, die für uns verloren ist, aber in arabischer Übersetzung im zwölften Jahrhundert noch zugänglich war. Leider hat Ibn al-Maträn nicht mitgeteilt, woher er das Zitat entnommen hat. Auch an einer anderen Stelle zitiert er ein Vorsokratikerfragment ohne Angabe seiner Quelle, die sich aber in diesem Falle eindeutig ermitteln läßt und damit zugleich eine erwünschte Parallele zu dem vermuteten Überlieferungsweg des Demokritfragments bietet. Es heißt: „Empedokles sagte: ,Mit der Erde erkennen wir die Erde, mit dem Wasser erkennen wir das Wasser, mit der Luft erkennen wir die Luft, mit dem Feuer erkennen wir das Feuer.'" 1 Dies ist die zwar unpoetische, aber sachlich richtige Wiedergabe zweier aus Aristoteles' De anima und der Metaphysik bekannter Verse: yait\i [xev yap yatav dnamayLsv, USOCTI 8' üScop, oti&ept 8' al&epa Siov, aTap 7tupl 7iöp CUSTJXOV2. Eine dort weiter zitierte dritte Zeile «TTopyqv 8e aTopyiji, vsixot; 8e rs veixe'i Auyp« fehlt bei Ibn al-Maträn, und sie fehlt auch bei Galen im siebenten Buch von De placitis Hippocratis et Piatonis, wo er das Empedoklesfragment anführt3. Ibn al-Maträn ist dieses Werk wohlbekannt, er zitiert im Kontext eine Zusammenfassung des nämlichen siebenten Buches4. Sie, und nicht eine der beiden Aristotelesschriften, war also in diesem Falle seine Vorlage. Überhaupt ist Galen von Pergamon derjenige Autor, der im „Bustänu l-atibbä'" bei weitem am häufigsten zitiert wird. Ihm verdanken wir auch sonst einige wichtige Vorsokratikerfragmente, erinnert sei an den Umstand, daß mit der Herausgabe der nur arabisch erhaltenen Abhandlung Über die medizinische Erfahrung zugleich ein neues Demokritzitat zugänglich wurde5. Es ist daher das wahrscheinlichste, daß Ibn al-Maträn sein 1 Qäla Anbäduqlus inna bi-l-ard nudriku l-ard wa-bi-l-mä' nudriku l-mä' wa-bi-l-hawä' nudriku l-hawä' wa-bi-n-när nudriku n-när (Hs. Bethesda, fol. 13 r 9f.). 2 31 B 109. 3

V 6 2 7 , 1 7 f . K Ü H N ( = 6 2 5 , 1 7 f . MÜLLER).

4

Hs. Bethesda, fol. 12 v 5f., s. auch 13 v 6f. Galen, On medical experience, hg. v.

5

K a p . I X § 5 ( b e i DIELS-KRANZ S. S . 4 2 3 ) .

R.

WALZER,

Oxford

1944

(Nachdr.

1946),

Demokrit über die Sonnenstäubchen

5

Fragment einer der Galenschriften entnahm, die heute sowohl auf griechisch wie auf arabisch verloren sind, zu seiner Zeit aber noch zugänglich waren. Zu diesen gehört das philosophische Hauptwerk De demonstratione, das Ibn al-Maträn an anderer Stelle zitiert1 und dessen Verlust für uns besonders bedauerlich ist. Im 9. Jahrhundert n. Chr. zählte es bei den Arabern noch zum Rüstzeug des Arztes, der auf die philosophische Vertiefung seiner Kunst Wert legte2. Daß es gerade dieses Werk war, dem das Fragment entstammt, wird durch den engeren Kontext des „Bustänu l-atibbä'" nahegelegt. Kurz zuvor ist von der Definition der Gesundheit und der Krankheit nach der Lehre der Atomisten die Rede, wobei auch die Namen des Herakleides (von Pontos) und des Epikur genannt werden3. In De demonstratione hatte Galen, wie Selbstzitaten zu entnehmen ist, das ganze dreizehnte Buch der Auseinandersetzung mit den Atomisten gewidmet4. Dabei wäre es nur natürlich gewesen, wenn er auch den Ahnherrn der von ihm befehdeten Richtung zu Wort kommen ließ, und gerade in einer Abhandlung über das wissenschaftliche Beweisverfahren würde eine Polemik gegen den Wert des geschilderten Experiments seinen guten Platz gehabt haben. Wenn also das Fragment aus De demonstratione oder einer anderen Galenschrift stammt, so dürfte damit zugleich feststehen, in welchem Kreise die Übersetzung aus dem Griechischen ins Arabische erfolgt ist. Die Galenübersetzungen, die sich bei den arabischen Ärzten durchsetzten, stammen fast ausnahmslos von dem Nestorianer Hunain ibn Ishäq (809 bis 873 n. Chr.) oder seinen Schülern®. Die Güte ihrer Arbeiten steht außer jedem Zweifel, es handelt sich indes nicht um solche sklavisch genauen Übersetzungen, aus denen sich das Original Wort für Wort rekonstruieren ließe. Falls die Vermutung richtig ist, daß das Fragment dem dreizehnten 1

Hs. Bethesda, fol. 59 r 2—12; hier übernommen aus Hunains Schrift „Zur Entschuldigung Galens" (Fi l-i'tidär 'an Öällnüs, vgl. Hunain ibn Ishäq Über die syrischen und arabischen Galen-Übersetzungen, hg. v. G. BERGSTRÄSSER, Leipzig 1925 [Abhandlungen f. d. Kunde d. Morgenl. 17,2], Nr. 46). 2 Siehe CH. BÜRGEL, Die Bildung des Arztes. Eine arabische Schrift zum „ärztlichen Leben" aus dem 9. Jahrhundert, Sudhoffs Archiv 50, 1966, 353, 357 u. 360. 3 Hs. Bethesda, fol. 85r9 u. 12. 4 Siehe I. v. MÜLLER, Über Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, Abhandlungen d. bayer. Akad. d. Wiss., 1. Kl., Bd. 20, 2. Abt., München 1895, 471-473. - Über Galens eigene Vorstellungen vom Aufbau der Materie, in denen er sich ganz an Aristoteles anschließt, vgl. Kommentar zu Galen, Über die Verschiedenheit der homoiomeren Körperteile, hg. v. G. STROHMAIER (Corpus Medicorum Graecorum, Suppl. Orientale III; ih. Vorb.). 5 Siehe G. STROHMAIER, Art. Hunayn b. Ishäk, The Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Leiden—London 1960ff., Bd. 3, 578—581.

6

GOTTHARD STROHMAIER

Buch von De demonstratione entnommen wurde, so ließe sich damit noch Genaueres über die Person des Übersetzers sagen. Hunain berichtet selbst, daß er von Bagdad über Damaskus bis nach Alexandrien gereist ist, um Galens philosophisches Hauptwerk zu beschaffen. Er konnte, wenn auch nicht das Ganze, so doch ansehnliche Bruchstücke davon auftreiben, die er hernach ins Syrische übertrug. Darunter befand sich auch das vollständige dreizehnte Buch, das einem Nachtrag zu Hunains Bericht zufolge später von seinem Sohn Ishäq ibn Hunain ins Arabische übertragen wurde1. Auf alle Fälle ist es gerechtfertigt, bei der folgenden Ermittlung einiger entscheidender griechischer Äquivalente die anderen Übersetzungstexte der Hunainschule zum Vergleich heranzuziehen. Dimuqrätis (Demokrates): Diese Namensform ist in der arabischen Literatur bei weitem häufiger anzutreffen als die ebenfalls vorkommende Form Dlmüqrltus*, die korrekte Transkription von AvüiÄJcpiTo?, die z. B. in den bisher herausgegebenen Galenübersetzungen der Hunainschule begegnet 3 . Die Schreibung Dimuqrätis, oft auch verkürzt zu Dlmuqrät oder ähnlich, scheint auf die in griechischen Handschriften verbreitete Lesart AYj(j.oxptzTr^4 zurückzugehen, die sich vor allem in den Florilegien 5 , aber nicht nur dort findet6. Da im Arabischen beide Namensformen geläufig waren und ihre Identität bei den philosophisch Gebildeten gleichwohl feststand, konnte es auch geschehen, daß sie im Verlauf der handschriftlichen Überlieferung gegeneinander vertauscht wurden, weil ein Abschreiber oder ein Benutzer die eine oder die andere Form für die korrektere hielt. Ein anschauliches Beispiel dafür liefern zwei Handschriften, die Hunains Übersetzung von Galens De elementis secundum Hippoeratem enthalten 7 . In dieser Schrift kommt der Name Av)[x6xpiT0i; dreimal vor 8 , und dafür bietet die erste Handschrift jedesmal die Lesart Dlmüqrltus, die zweite aber jedesmal Dimuqrätis. Die vorliegende Form bei Ibn al-Maträn bedeutet also keineswegs, daß in der griechischen Vorlage An)[ioxpä"n)mx6v. If both these factors are present, the animal will be capable of locomotion (433b27—30).

After a few more remarks about the faculty peculiar to man (XoyioTix-ij «pavToc 0 (d. h. blieben stets Hss. ohne Nachkommen) und P ' ( l ) > 1, dann existiert eine Lösung der Gleichung x = P(x) mit x < 1 und gibt eine Wahrscheinlichkeit dafür an, daß eine Linie nach wenigen Generationen bereits ausstarb. Die genaue Ermittlung der p k ist — und das illustriert fast noch am besten die grundsätzlichen 1 So auch ansatzweise W H I T E H E A D - P I C K F O R D , a. O . 88. CASTELLANI kam auf die Betrachtung asymmetrischer Verhältnisse durch die Resultate der „production maximum", die für die Verbreitung klassischer Autoren aber kaum eine Bolle gespielt hat (a. O. 29f., vgl. TIMPANARO, a. O. 122f., ferner HERING, a. O. 183f.) 2 Bei viel gelesenen Autoren folgten die Generationen sicher viel dichter aufeinander, und entsprechend größer war die Nachkommenschaft. Für den gesamten Zeitraum vom 9. bis zum 15. J h d t . erscheint der obige Ansatz als Durchschnittswert nicht übertrieben hoch; bei manchen Autoren war er, nach den vorhandenen Stemmata zu schließen, schon vor der Palaeologenzeit erreicht.

Das Stemmaproblem

73

Schwierigkeiten deduktiver Verfahren — ein Ding der Unmöglichkeit. Ließe sich aber zeigen, daß die durchschnittlichen Nachkommenzahlen bei Hss. analog der Kinderzahl menschlicher Familien eine geometrische Progression bilden (FOURQUET a. 0 . 10f.), dann wäre P(z) annähernd genau durch p 0 + a p z ( l — pz) _ 1 und p k durch ap k (k ^ 1) beschrieben, und man müßte nur noch p, p0 und a statistisch ermitteln. Orientiert man sich an d e r H u m a n g e n e a l o g i e ( v g l . A . LOTKA b e i F E I X E R a . 0 . 1 3 0 A . 1), d a n n w ä r e

p ~

0,7.

Aus P ( l ) = 1 und P ' ( l ) = 2,5 ließen sich p0 und a sofort errechnen und die Lösung von x = P(x) wäre 5/14, d. h. jede dritte Linie starb im Durchschnitt innerhalb weniger Generationen aus. Bei durchschnittlich dreifacher Primärspaltung, wie wir sie angenommen haben, käme das auf die vorhin besprochene Asymmetrie als den „Normalfall" hinaus — da wir aber nichts über den Parameter X a priori sagen können, bleibt auch hier alles in der Schwebe. Zudem wird die Analogie zur Humangenealogie sicher in dem einen Punkt durchbrochen, daß eine Hs. in der unmittelbar folgenden Generation zwar ohne Nachkommen bleiben, einige Generationen später aber wieder abgeschrieben und so erneut zum Ahnherrn einer Linie werden konnte. Das Beispiel ist insofern interessant, als es die Vermutung nahelegt, daß MAAS mit der Annahme überwiegender Zweispaltigkeit nicht ganz unrecht hatte (a. O. 29). Noch deutlicher zeigt es aber das Dilemma, in das jede Verfeinerung der deduktiven Methoden hineinführt. — Bei alledem ist ein überaus wichtiger Faktor erst teilweise berücksichtigt. Man hat bisweilen den Vorgang der Dezimierung des Gesamtbestandes auf wenige Zeugen als Hauptgrund für die Seltenheit mehrspaltiger Stemmata angesehen 1 . Wie sich oben herausgestellt hat, trifft dies aber nur für den Ausnahmefall von drei oder höchstens vier erhaltenen Handschriften zu. Weit wirkungsvoller war die Dezimierung, wenn sie die kontinuierliche Entfaltung der Tradition hemmen und das frühzeitige Absterben einzelner Linien begünstigen konnte. Allerdings darf man sich auch hier nicht von der genealogischen Analogie täuschen lassen; denn blieb irgendein Glied der Linie erhalten, so konnte es vor seiner Vernichtung auch in späten Epochen immer noch Ursprung neuer Handschriftenfamilien werden. Aber weder dieser Zug ist im CASTELL ANischen Modell ausreichend berücksichtigt noch die viel folgenschwerere Tatsache, daß eine Handschrift des 9. oder 10. Jh. längst nicht die Überlebenschance besaß, die man beispielsweise einer im Westen angefertigten Kopie des 15. Jh. zugestehen würde. Bei einem solchen Gefälle der einzelnen Überlebenschancen besitzen aber Handschriftenkonstellationen aus dem oberen Stemmabereich nur noch eine um Potenzen geringere Eingangswahrscheinlichkeit als analoge Konstellationen aus späten Kopien; d. h. man kann in diesem Modell die LAPLACE-Verteilung, die alle Konstellationen als gleichwertig behandelt, nicht beibehalten. Wir sehen uns damit vor die zusätzliche Schwierigkeit gestellt, eine halbwegs zutreffende Abwägung der Überlebenschancen für Handschriften aus verschiedenen Epochen anzugeben, bei der Lückenhaftigkeit unserer Kenntnisse ein aussichtsloses Unterfangen. Man kann höchstens an einem willkürlich gewählten Beispiel die Auswirkungen eines solchen Wahrscheinlichkeitsgefälles auf die ChancenVerteilung der Stemmatypen illustrieren; ganz uninteressant ist daß Ergebnis nicht 2 . 1

Namentlich W. W. GREG, Recent Theories of Textual Criticism, Modern Philology

2 8 , 1 9 3 0 / 3 1 , 4 0 5 , J . ANDRIEU, a . O . 4 6 2 , d a z u CASTELLANI, a . O . 2 4 f . u n d HERING, a . O .

181 f. und 183 f. 2 Sei ein symmetrisches Stemma aus drei Substemmata zu je 15 Hss. (4 rein zweispaltige Generationen) vorausgesetzt und sei die Überlebenswahrscheinlichkeit wie folgt gestaffelt: 0,2 p für die erste, 0,4p für die zweite, 0,8 p für die dritte, p für die letzte Generation. Das Tripel aus den Hyparchetypi hat dann die Wahrscheinlichkeit 0,008p 3 , eines aus der

ALEXANDER KLEINLOGEL

74

Die Möglichkeiten, modifizierte und verfeinerte mathematische Verfahren zu finden, sind damit noch lange nicht erschöpft 1 . Der zu erwartende Gewinn stünde aber zum Aufwand in keinem vernünftigen Verhältnis mehr. Im Grunde gilt das bereits von den bisherigen Betrachtungen, die uns aus dem Dilemma der BEDiERschen Zweifel nur in ein anderes geführt haben. Immerhin wissen wir jetzt, daß die MAASsche Typologie weder zur Bestätigung noch zur Widerlegung der statistischen Größen taugt; „objektive" Gründe sind an ihr nicht abzulesen2. Umgekehrt hat die erforderliche Adaption des CASTELLANischen Verfahrens schon nach wenigen Schritten seine Abhängigkeit von eng verflochtenen Eingangswerten und Parametern gezeigt. Seine Verwendung wäre also nur dann sinnvoll, wenn die Prämissen auf ausreichend genaue statistische Untersuchungen bezogen werden könnten. Postulate oder Vermutungen mit großzügigen Töleranzen können dies nicht ersetzen; die Einsicht, daß diese Eingangswerte bestimmte Grenzen nicht überschreiten dürften, war im Grunde das einzige konkrete Ergebnis 3 . Wie soll man aber mit einiger Gewißheit ermitteln, wie groß im Durchschnitt die Wahrscheinlichkeit für einmalige, doppelte, dreifache oder unterbliebene Abschriftnahme war? Wie die zeitliche (und sicherlich auch geographische) Abhängigkeit dieser Größen feststellen, wie die Zahl der Generationen, wie die Zahl der übersprungenen Generationen, wie schließlich die gleichfalls zeit- und ortsabhängige Überlebenswahrscheinlichkeit? Vorläufig kann man keine befriedigende Antwort auf diese Fragen erwarten. Aber selbst wenn wir über die nötigen Daten verfügten, wäre uns nicht geholfen. Die Deduktionen sind an die Gültigkeit der Prämissen gebunden, bestätigen uns also nur die Resultate der Methode, die zu ihrer Ermittlung angewandt worden ist. Sinnvoll wäre das Verfahren nur in zwei Fällen. Entweder müßten aprioristische Aussagen im Sinne von Axiomen vierten Generation, p3. p läßt sich aus der Normierung des Wahrscheinlichkeitsmaßes ermitteln, was in unserem Falle aber unnötig ist, da die Wahrscheinlichkeiten für |E 2 | und | E31 jeweils p3 als Faktor enthalten und: dieser bei der Quotientenbildung herausfällt. Es ist dann P(Ej) = 239,424p3, P(E 2 ) = 5047,872p3, P(E 3 ) = 1815,848p3, q also ¿= 2,78; d. h. die Symmetrie gleicht alles wieder aus. Ist dagegen der dritte Zweig nur bis zur zweiten Generation ausgebildet, dann schnellt q auf 1838,522/148,84 ~ 12,2 hinauf! Man kommt also beliebig genau an BBDIEES Statistik heran. 1 Die angemessenste Methode wäre die der Verzweigungsprozesse bei genauerer Kenntnis der zeitabhängigen (und auch ortsabhängigen) p k und der gleichfalls zeitabhängigen Überlebenswahrscheinlichkeit; man müßte eine Serie verschiedener Möglichkeiten in den Einzelheiten durchrechnen und anschließend statistisch auswerten. Über den Wert solchen Aufwands vgl. das folgende. 2

3

Gegen HERING, a. 0 . 180 u. 184.

Vgl. oben S. 72 und A. 2 sowie den Exkurs, MAAS a. O. 29.

Das Stemmaproblem

75

als Basis für unsere Deduktionen zugelassen sein; dann könnte man daran die Richtigkeit von Ermittlungen am konkreten Objekt kontrollieren. Nach Lage der Dinge scheidet diese Möglichkeit aber aus. Oder es käme darauf an, von Erfahrungswerten aus Prognosen über den Ausgang gleichartiger Prozesse zu stellen. Auf handschriftliche Traditionen wird man dies aber nicht anwenden können, denn der Prozeß ihrer Ausbreitung ist ein für allemal zum Erliegen gekommen. Die Ergebnisse aus Untersuchungen spezieller Traditionen kann man, sofern sie von entstellenden Irrtümern frei sind, an solchen Durchschnittswerten aber nicht messen, denn es kommt bei ihnen stets nur auf das Spezifische und Besondere, nicht auf das „Normale" an. Außerdem: wenn wir über eine Basis korrekt untersuchter Traditionen verfügten, welches Bedürfnis bestünde dann überhaupt noch, diese Ergebnisse deduktiv zu rechtfertigen? Die wahrscheinlichkeitstheoretische Fragestellung auf das Stemmaproblem anzuwenden, heißt also das Pferd beim Schwanz aufzäumen1. II Die deduktiven Verfahren haben die in sie gesetzte Erwartung, eine objektive Begründung für die vorherrschende Zweispaltigkeit liefern zu können, nicht erfüllt. Damit ist zugleich auch die Aussicht auf eine deduktive Rechtfertigung der MAASschen Methode geschwunden. Man müßte sie mit gleicher Entschiedenheit ablehnen wie den Versuch einer deduktiven Widerlegung. Der Nachweis, daß dem großen Methodiker bei der Anlage seiner Typenlehre und bei ihrer Deutung folgenschwere Irrtümer unterlaufen sind, hat in diesem Zusammenhang nur untergeordnete Bedeutung. Die angefochtenen Thesen stellen keinen integrierenden Bestandteil der textkritischen Methode als solcher dar, und ihre Unvertretbarkeit wirkt sich darum auf die Glaubwürdigkeit des ganzen MAASschen Systems nicht aus. Selbst die Stemmatik, aus der die Typologie doch letztlich hervorgegangen ist, wird von diesem Urteil kaum berührt; denn ihre Ergebnisse sind nicht an die Gesetzmäßigkeiten der Typenlehre, sondern an die Regeln der textkritischen Methode gebunden. Für deren Angemessenheit kann es aber, wie wir gesehen haben, keinerlei deduktive Begründung geben. Das Stemmaproblem ist auf diesem Wege seiner Lösung kaum einen Schritt näher gekommen, und man hat sich erneut die Frage vorzulegen, ob die Methode 1

Vgl. WHITEHEAD-PICKFORD, a. 0. 90. Ähnlich TIMPANABO, a. O. 120; sein Argument richtet sich jedoch mehr gegen die Annahme, das Phänomen der hs. Tradition sei einer theoretischen Behandlung als zufallsbestimmtem Geschehen nicht zugänglich. Viel fragwürdiger erscheint dagegen der Ansatz und die sinnvolle Auswertbarkeit eines solchen an sieh möglichen Verfahrens, das gerade im Falle hs. Tradition zu Zirkelschlüssen führen muß.

76

ALEXANDER KLEINLOGEL

einschließlich der Stemmatik bei Beachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln zu vertretbaren Resultaten führt oder ob sie tatsächlich für Fehlurteile dermaßen anfällig ist, daß jede Art stemmatischer Veranschaulichung von vornherein verdächtig erscheint. So besehen könnte auch jetzt noch das Überwiegen der Zweispaltigkeit ein Gradmesser für den Einfluß etwa vorhandener verfälschender Tendenzen sein. Der Wegfall deduktiver, von der Methode selbst unabhängiger Kriterien macht die Untersuchung nicht leichter, denn im Grunde ist man mehr als zuvor auf die Verläßlichkeit der herkömmlichen induktiven Verfahren (und das heißt in erster Linie der MAASschen Methode) angewiesen. In dieser Situation verdienen die Einwände gegen M A A S besondere Beachtung, wobei freilich den besonnenen Ausführungen T I M P A N A R O S kaum etwas hinzugefügt zu werden braucht. In einem Punkt ist jedoch, auch als Fortführung der Ansätze, die im ersten Teil sichtbar wurden, eine Ergänzung möglich und notwendig, die aufzugreifen nicht zuletzt deswegen lohnend erscheint, weil sie das Stemmaproblem weitgehend entschärft. MAAS hat kein Hehl daraus gemacht, daß die strenge Stemmatik im Bereich einer Kontamination versagt1. In seiner Skepsis neigte er sogar eher dazu, die Grenzen der Anwendbarkeit zu eng als zu weit abzustecken. Trotzdem richteten sich die kritischen Äußerungeiii fast ausnahmslos gegen die Anwendung der Methode auf kontaminierte Überlieferungen. Da MAAS diesen Anspruch nicht erhoben hatte, war eine solche Kritik nur dann sinnvoll, wenn sie auf die Gefahren aufmerksam machen sollte, denen ein Herausgeber ausgesetzt ist, Wenn er sich bei der Erforschung unerschlossener Traditionen notgedrungen zunächst der MAASschen Methode bedient, so als sei die Überlieferung im ganzen unkontaminiert, und auch dann noch nach mechanischen Gesichtspunkten verfährt, wenn sich die Anzeichen sekundärer Beeinflussung mehren. Nun ist es in der Regel ohne Zuhilfenahme externer, d. h. nicht unmittelbar dem Text entnommener Indizien verhältnismäßig schwierig, allein von der MAASSchen Stemmatik aus das Vorliegen von Kontamination zu diagnostizieren. Denn wie nachher an einem oft herangezogenen Beispiel zu zeigen sein wird, kann die klassifikatorische Auswertung der Leitfehler aus zwei grundverschiedenen Traditionen dennoch zu demselben, in sich vollkommen konsistenten stemmatischen Bild führen. Nur wenn die Tradition reichhaltig genug ist, um Gegenkontrollen zu ermöglichen, oder wenn mehrfache Kontamination in verschiedenen Tr&ditionszweigen stemmatische Irregularitäten erzeugt2, nötigt auch die MAASsche Methode schon in einem frühen Stadium 1 a. 0.8—9, besonders 30. Das Ausbleiben von Kontamination war überdies eine der stillschweigenden Voraussetzungen für die ganze deduktive Betrachtung. 2 Wenn es sich um Traditionsabschnitte aus dem unteren Stemmabereich handelt, ist mit den verschiedenen übergeordneten Textformen (d. h. der Ahnenreihe des betreffenden Hyparchetypus) die entscheidende Vergleichsmöglichkeit geboten. In der speziellen Problematik der zweispaltigen Stemmaform geht es aber in erster Linie um die Frimärspaltung, für die dieses Kriterium nicht zur Verfügung steht. Die Irregularitäten beziehen sich auf den von TIMPANABO 130f. geschilderten Fall, daß sich drei Familien a, ß, y paarweise in Fehlergemeinschaften ay, aß, ßy finden, was nur bei weitgehender Kontamination denkbar ist.

Das Stemmaproblem

77

der Bestandsaufnahme zur Annahme sekundärer Einflüsse und zum Verzicht auf rein mechanische Betrachtungsweise. Umgekehrt kann mit dem Fortgang der Untersuchung auch der Zwang zur Differenzierung und Verfeinerung der Fehlerbeurteilung größer werden und Fehldiagnosen begünstigen. Das hängt unter anderem mit der Tatsache zusammen, d a ß sich der beispielsweise für direkte Abhängigkeit erforderliche Nachweis des Ausbleibens eines echten Trennfehlers ziemlich schwierig gestaltet 1 und daß ein Bearbeiter auch nicht immer der Versuchung widersteht, einer vermeintlichen Evidenz zuliebe auch die hartnäckigeren Abweichungen einfach hinwegzuinterpretieren 2 . Gegen solchen Mißbrauch ist freilich auch die verläßlichste Methode nicht gefeit. MAAS, der diese Schwierigkeiten sehr wohl gesehen hatte, empfahl darum, nur solche Verderbnisse als Leit- und insbesondere als Trennfehler zuzulassen, die nach unserem Wissen weder durch Konjektur noch durch Kollation beseitigt (oder eingeschleppt) worden sein können3. Nun gehen die von COLLOMP und in seinem Gefolge von FOURQUET, F R A N K und selbst von CASTELLANI angeratenen Vorkehrungen kaum weiter, nur daß bei ihren Überlegungen zumeist noch die Sorge mitspricht, möglichst alle der Methode innewohnenden Tendenzen zu falscher Zweispaltigkeit unschädlich zu machen4. Daraus ergibt sich eine gewisse Paradoxie. In ihrem Bemühen, das Risiko falscher Anwendung der Methode auf ein Mindestmaß zu reduzieren, grenzen die Kritiker ziemlich genau einen Bezirk ab, innerhalb dessen die Methode auch bei Kontamination noch mit ausreichender Zuverlässigkeit arbeitet. Bei näherem Zusehen zeigt sich freilich ein Unterschied. Daß das Vorhandensein von Kontamination einer sicheren Bestimmung von Trennfehlern im Wege steht, haben wir eben gesehen. Da es aber in höchstem Maße unwahrscheinlich ist, daß Kollation oder Konjektur auch den originären Bestand an Bindefehlern völlig auszumerzen oder zu überfremden imstande war, bleibt die Herkunft des Substrats trotz sekundärer Überlagerungen kenntlich und man kann zumindest immer noch die Familienzugehörigkeit, ohne externe Indizien aber nur schwer die direkte 1 Vgl. MAAS, a. O. 31 (Latente Evidenz) und ERBSE, a. O. 99. Wie schwierig die Fehlerbewertung bisweilen sein kann, davon legen die zahlreichen Diskussionen und Kontroversen, namentlich in der Gegenüberstellung von Papyri und Hss., ein beredtes Zeugnis ab. 2 Vgl. PASQUALI, Storia usw. 3 5 , TIMPANABO 1 3 1 f. 8 a. 0 . 26. Es gibt allerdings auch genug Fälle, in denen fehlerhafte Varianten, die durchaus den Anschein der Richtigkeit gegen sich hatten, als besonders auffällige Abweichung übertragen wurden und sich dann im Text einnisteten, so daß auch mit dem Aufkommen sekundärer Bindefehler gerechnet werden muß (vgl. TIMPANARO, a. 0 . 128). 4 P . COLLOMP, La critique des textes, Paris 1931, 65 (vgl. PASQUALIS Rezension, Gnomon 8, 1932, 127ff.). Die Forderung, der Fehler müsse «apte et sûr» sein, wird von F R A N K , a. 0 . 472 A. 3 auf die ganze Tradition übertragen ('il faut que la tradition soit apte, c'està-dire résultant de la transmission écrite d'un texte unique, et sûre, c'est-à-dire exempte de contamination'), vgl. ferner FOURQUET, Le Paradoxe de B Î D I E R , a. O . 13. CASTELLANI 36 meint dasselbe, vgl. TIMPANARO 128. I m Prinzip steht das aber alles schon bei MAAS.

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ALEXANDER K L E I N L O G E L

Abhängigkeit ermitteln1. Das hat auch M A A S erkannt, und die von Späteren betonte Unsicherheit bei solchen Ermittlungen ist im Grunde nur Erläuterung seiner knappen Formulierungen2. Aber gerade in dieser Situation herrscht eine ausgeprägte Tendenz zu zweispaltiger Wiedergabe, sobald man sich in den Bahnen der MAASschen Stemmatik darauf beschränkt, die Varianten nur auf ihre gegenseitigen Relationen zu befragen, so als ob sie losgelöst von ihrem Träger ein Eigenleben führten. Das macht sich sehr leicht als perspektivische Verzerrung bemerkbar, die durch gestaffelte Zweispaltigkeit ganz anders geartete Überlieferungsverhältnisse zu approximieren versucht. Man macht sich das am besten am konkreten Beispiel klar3. Es seien von einem verlorenen Archetypus Q drei Zweige A, B und C ausgegangen. War einer dieser Zweige, etwa A, Kontamination ausgesetzt und wurden durch sie Archetypuskorruptelen behoben, dann übernahmen diese in B und C weitergeführte Verderbnisse, obwohl es. sich um ursprüngliche Bindefehler der ganzen fl-Tradition handelte, die Funktion von Trennfehlern für BC, die nunmehr den Eindruck machten, aus einem besonderen Hyparchetypus zu stammen. Da nun die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß auf Seiten von A spezifische Trennfehler die Kontamination unbehelligt überstanden haben, ergibt sich das Bild doppelter Zweispaltigkeit. Die Identität des Substrats von A mit dem Bestand von BC führt zur Rekonstruktion eines Pseudoarchetypus ü*, in den alle positiven Einflüsse der Kontamination zurückprojiziert werden, während sich die negativen Einflüsse als Trennfehler für A präsentieren, il*, womit eigentlich eine Etappe zwischen fl und A bezeichnet werden müßte, vereinigt damit in sich die Q-Fassung und eine möglicherweise völlig unabhängige Tradition und degradiert den eigentlichen Archetypus zum Hyparchetypus von BC. Das Wesen der Verzerrung wird an der graphischen Darstellung besonders deutlich: / A

/

ß

\

/ \

B

C

\

A

/

/

/

ß*

\

n i I B

\

\ C

Ein solches Stemma wird den Relationen zwischen den Textfassungen gerecht 4 , stellt aber keine adäquate Wiedergabe der Wirklichkeit dar. Dies wäre der Fall, wenn ü*, wie 1

In dieser Strenge vornehmlich nur für Erstspaltungen gültig, vgl. oben S. 76 A. 2. a. 0 . 3 0 , vgl. TIMPANARO 1 3 2 und A . 2 , der unter Umständen mehrere Stemmata gleicher Wahrscheinlichkeit aufzustellen empfiehlt. 3 Diesen Fall behandelt TIMPANABO 1 2 7 f. und 1 2 8 A. 2 . MAAS hatte aber, entgegen TIMPANAROS Ansicht, wohl auch die Fälle leichter Kontamination im Auge, die noch am ehesten zu verfälschten Stemmata führten. Denn war der Einfluß der Kontamination besonders stark, dann streben die Fassungen ohnehin so stark auseinander, daß man zur Erklärung kaum mit endogener Divergenz und mit der Annahme geschlossener Tradition auskommt. 4 Wir machen uns hier schon ein wichtiges Argument zu eigen, das ERBSE, a. 0 . 97 in die Diskussion eingeführt hat. 2

MAAS,

Das Stemmaproblem

79

es, rein als Möglichkeit genommen, ja denkbar ist, tatsächlich Archetypus gewesen wäre, oder wenn die Kontaminationsquelle und ß auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgingen. Die Darstellung verschiedener Realitäten kann also durchaus bei ein und demselben Stemma enden, und man muß sich im Ernst fragen, ob es unter solchen Voraussetzungen überhaupt statthaft ist, in den Stemmata Abbilder der Wirklichkeit zu sehen. Die Ambivalenz wird erst in dem Augenblick aufgehoben, wenn zusätzliche Kriterien die Abhängigkeit von A bzw. die Einordnung von Q* sicherstellen 1 .

Die scheinbar subtile Unterscheidung zwischen Darstellung der Variantenrelationen und Darstellung von Handschriftenbeziehungen wirkt sich aber nicht unerheblich auf den Ansatz des Stemmaproblems aus. Ehe wir darauf eingehen, ist jedoch ein Analogon zum eben behandelten Beispiel zu erörtern, bei dessen Betrachtung IRIGOIN und E R B S E scheinbar unvereinbare Positionen bezogen haben. Einen wichtigen, Zweispaltigkeit begünstigenden Umstand hat A. D A I N in Erinnerung gebracht 2 : Der Textbestand einer Handschrift blieb in den seltensten Fällen unverändert; meistens war er im Laufe der Jahrhunderte tiefgreifenden Umgestaltungen durch Überarbeitung, Korrektur, Ergänzung oder auch nur durch mechanische Verderbnis ausgesetzt. Wurde ein solcher Kodex zu verschiedenen Zeiten kopiert, dann spiegelten die Abschriften selbstredend auch die sekundären Veränderungen, die vor ihrer Zeit lagen, wider. Späte Kopien konnten so, besonders beim Vorliegen starker Einflüsse, ein ganz anderes Gesicht als frühe Abschriften haben und den Ansatz eines eigenen Hyparchetypus nahelegen. Nachzuweisen war ein solcher Tatbestand mit Sicherheit freilich nur dann, wenn die betreffende Vorlage erhalten war 3 oder wenn externe Indizien ihn wahrscheinlich machten. Für beide Fälle führte IRIGOIN eindrucksvolle Belege aus der Piaton- und Pindarüberlieferung an und sprach die Empfehlung aus, die Ergebnisse der LACHMANNschen Methode, deren Leistungsfähigkeit nicht zu leugnen sei, mit einem genaueren Studium der konkreten handschriftlichen Verhältnisse zu verbinden 4 . E R B S E legte in seiner Entgegnung, gestützt auf sein vorhin bereits erwähntes Argument, dar, daß die beiden Verfahren verschiedene Ziele verfolgen 6 . Während IRIGOIN eine stemmatologische Ordnung für die Handschriften als konkrete Objekte anstrebe, komme es MAAS in erster Linie nur auf die Bestimmung der Relationen an, die zwischen den verschiedenen Textfassungen gelten; für die Zwecke der Textkonstitution, die gegenüber textgeschichtlicher Betrachtung den Vorrang haben, sei es aber unerheblich, zu wissen, ob die verschiedenen Fassungen in einem oder in zwei Büchern standen'. 1

Bei tiefgreifender Kontamination (vgl. oben S. 78 A. 3), durch die sich die Distanz zwischen A und BC stark vergrößert hat und unter Umständen sogar genuin antike Varianten eingeschleppt worden sind, wird der wahre Sachverhalt ohnehin rasch zu erkennen sein. Naturgemäß geht es bei der ganzen Diskussion um Grenzfälle mit ungünstigen Vorbedingungen, bei denen das Vorliegen sekundärer Einflüsse nicht sofort evident ist. 2 Édition des textes classiques; Théories et méthodes, Assoc. G. Budé, Congrès de Nîmes 1932, Actes du Congrès, Paris 1932, 79f., vgl. TIMPANARO, a. 0 . 126. 3

Vgl. ERBSE, a . O . 97.

4

a. O. 217.

4

TIMPANAROS

5

a. 0 . 97f., vgl. oben S. 78 A. 4. Einwand gegen E R B S E S Argumentation geht am wesentlichen vorbei. TIMPANARO (a. 0 . 1 2 7 ) übersieht, daß bei Veränderung der Vorlage, gleichgültig in welcher Weise, die späten Abschriften stets nur den Zustand zu ihrer Zeit reflektieren, ihr Konsens also den Wert von „zwei Stimmen" gegen die eine von A nur dann haben kann, wenn die

80

ALEXANDER KLEINLOGEL

Wieder haben wir den Fall, daß die divergierenden Darstellungen im Sinne der recensio äquivalent sind, auf die Wirklichkeit bezogen aber recht unterschiedlichen Aussagewert besitzen. Hinter dieser Ambivalenz verbirgt sich ein Problem grundsätzlicherer Art. Ihrer ganzen Konzeption nach sind die gewohnten Stemmata alles andere als überlieferungsadäquat. Mit B B D I E R S verwunderter Äußerung über das Aussehen unserer Stemmata, bei denen sich die Wurzeln oben und die Verzweigungen unten befinden, hat dies nichts zu tun; B B D I E R stand dabei sicher unter dem Eindruck der sprachlichen Metapher, wie man sich überhaupt nur schwer des Gefühls erwehren kann, daß viele seiner Zweifel von der metaphorischen Vorstellung genährt waren1. In Wirklichkeit orientieren sich die Stemmata an einem näherliegenden Gegenstück, nämlich am genealogischen Stammbaum 2. Wie dort werden die Individuen, d. h. die Handschriften, durch einen Punkt repräsentiert und die verwandtschaftlichen Beziehungen durch Linien dargestellt. Beim Familienstammbaum erscheint dies durchaus angebracht, da die Entwicklung des Individuums auf die Verwandtschaftsbeziehungen keinen Einfluß hat und nach einer Generation auch keine weiteren Nachkommen mehr von ihm zu erwarten sind. Anders bei handschriftlicher Tradition. Solange eine Handschrift existierte, und sie konnte viele Handschriftengenerationen überdauern, lag es immer im Bereich des Möglichen, daß sie als Vorlage benutzt und abgeschrieben wurde. Sie Analogie zum Familienstammbaum wird hier, wie oben schon zu betonen war 3 , in einem entscheidenden Punkt durchbrochen; daß für sukzessive Änderung des Aussehens einer Handschrift und für ihre Auswirkung auf die Kopien in einer solchen Veranschaulichung kein Platz ist, ergibt sich von selbst. Als Punkt fixiert, kann die Handschrift nur in der Verflechtung der obwaltenden Variantenrelationen erfaßt werden; soll die Darstellung aber die konkreten Beziehungen unter den Handschriften erkennen lassen, dann muß sie ein chronologisches Element enthalten, d. h. sie muß statt der punktuellen eine lineare Veranschaulichung wählen: a

a

Zustandsänderung in rein mechanischer Korruption bestanden hatte. Dies nachzuweisen ist ein Problem für sich. 1 Romania 54, 165, sowie 171 f. die bekannte Stelle: «dans la flore philologique il n'y a d'arbres que d'une seule essence, toujours le tronc se divise en deux branches maîtresses et en deux seulement» und «un arbre bifide n'a rien d'étrange, mais un bosquet d'arbres bifides, un bois, un forêt? Silva portentosa.» 2 Vgl. PASQUALI, Storia 141. TIMPANABO betont die Ausrichtung der Stemmatik an der Sprachgeschichte des 19. Jhdts., die aber selbst stark genealogisch orientiert war. 3 S. 73 (Exkurs).

Das Stemmaproblem

81

Eine solche „diachronische Linie", in der die Etappen der Entwicklung gekennzeichnet sind und von der an verschiedenen Stellen die Kopien abzweigen, umfaßt auch das Relationenschema der MAASschen Stemmatik, kommt aber dem wirklichen Sachverhalt wesentlich näher als diese. Die Hauptschwierigkeit dabei ist, den Hyparchetypus als weiterentwickelten Archetypus zu identifizieren1. Von dieser Aufgabe ist die MAASsche Methode aber zumeist überfordert. Wo es gelingt, dieser Schwierigkeit Herr zu werden, geben stets externe Indizien den Ausschlag: Verhältnisse bei den parallel überlieferten Scholien, Korrekturen, Benutzernotizen, marginale Zusätze, Systeme von Scholienverweiszeichen usw. 2 Mit anderen Worten, für eine wirklichkeitsadäquate Erfassung der handschriftlichen Abhängigkeiten muß IRIGOINS Empfehlung befolgt und die Gesamtheit der Indizien herangezogen werden, die das konkrete Objekt bietet. Erst dann sind wirklich objektive Aussagen über die Häufigkeit von Zwei- und Mehrspaltigkeit möglich. Grundlage der Untersuchung wird natürlich auch weiterhin das MAASsche Verfahren und seine Aussagen über die Relationen der einzelnen Textformen sein. Von einer Widerlegung der MAASachen Stemmatik wird man deshalb nicht reden dürfen, wohl aber von der Notwendigkeit einer methodologischen Ergänzung 3 .

Für das Stemmaproblem haben diese Feststellungen eine bemerkenswerte Konsequenz. Schränkt man den Anspruch der konventionellen Stemmata auf Wirklichkeitstreue ein und findet man sich damit ab, daß in Grenzfällen nur die Relation zwischen den verschiedenen Textfassungen und der Grad ihrer Verwandtschaft zum Ausdruck kommt, dann existiert das Stemmaproblem in voller Schärfe nicht mehr, denn selbst wenn perspektivische Verschiebungen Zweispaltigkeit vortäuschen, können die Relationen im Sinne von E R B S E noch zutreffend veranschaulicht sein. Es ist gut denkbar, daß ein konsequentes Befolgen der Empfehlung I R I G O I N S und eine angemessenere stemmatische Veranschaulichung zu Ergebnissen führt, bei denen der zweigespaltene Traditionstyp nicht mehr so häufig vertreten ist4. 1

Vgl. ERBSE, a. 0. 98. In gewissem Sinn kommt auch das MAASsche Stemma dieser Art der Veranschaulichung entgegen, wenn der Hyparchetypus ß mit einer späteren Fassung von oc identifiziert wird. Dann bezeichnet die Verbindungslinie aber keine verwandtschaftliche Beziehung mehr, sondern Identität, d. h. also die ,Lebenslinie' von a. 2 In der Praxis werden diese Indizien schon längst mit aller Selbstverständlichkeit zur Vervollständigung des Bildes herangezogen. IRIGOIN bedient sich ihrer bei seinen Ermittlungen zum «état des manuscrits» ebenso wie, um willkürliche Beispiele zu wählen, etwa ERBSE der Scholienverweiszeichen (Beitr. z. Überl. d. Iliasscholien, Zetemata 24, München 1960, 8) oder ZTJNTZ (An Inquiry into the Transmission of the Plays of Euripides, Cambridge 1965) der Scholien und anderer externer Indizien. Dagegen vermißt man sie bei DAWE (a. O.) und fragt sich, ob ihre Berücksichtigung nicht doch die Aporie beheben könnte. 3 Man wird im übrigen nicht daran denken, nun keine andere Darstellung mehr als die mit diachronischer Linie für angemessen zu halten. Dafür ist sie, besonders bei reicher Überlieferung, zu aufwendig. Sie ist aber sehr gut geeignet, besonders komplizierte Teilabschnitte überlieferungsgetreu wiederzugeben, bei denen es auch darauf ankommt, Kopisten- und Rezensionsgewohnheiten verschiedener Epochen zu verdeutlichen. 4

Vgl. die Schlußfolgerungen TIMPANAROS, a. 0 . 134f.

6 Zeitschrift „Philologus" 1/2

82

ALEXANDER KLEINLOGEL

Im Grunde sollte man sich daran aber nicht zu stark orientieren. Entscheidend ist für die Richtigkeit des Ergebnisses die Angemessenheit der Methode. Bei der Variabilität des handschriftlichen Befunds und der komplexen Verflechtung handschriftlicher Beziehungen ist mit Axiomen und Dogmen nicht viel gewonnen. Nur in ständiger Auseinandersetzung mit dem konkreten Objekt und in konsequenter Anpassung der Methode und der Maßstäbe an die Erfordernisse des jeweiligen Problems gelangt man zu verläßlichen Ergebnissen. Daß dabei die MAASsche Methode und die Stemmatik ihre Bedeutung jemals verlieren werden, ist kaum anzunehmen. Bochum

FRANZ

QUADLBAUER

PROPERZ 3,1 Vom Wesen seiner Kunst, von seiner Berufung als Dichter und von seiner Ruhmeserwartung spricht Properz am Beginn seines dritten Buches. Die vorliegende Studie ergab sich aus einem Bemühen um die besonderen bedeutungsmäßigen Nuancen der offenkundig kunsttheoretischen Motive und der Motive mit — mehr oder minder — verhüllter literarkritischer Implikation in diesem „Programmgedicht", einem Bemühen ferner um die Erkenntnis der speziellen Art, in der Properz diese Motive als konstruktive Bauelemente seines Gedichtes verwendet1. I Aufschlußreiches ergibt sich gleich bei näherer Betrachtung der Verse 1-6:

1

Callimachi manes et Coi sacra Philitae, in vestrum, quaeso, me sinite ire nemus. 3 Primus ego ingredior puro de fönte sacerdos Itala per Graios orgia ferre choros. 5 Dicite: Quo pariter Carmen tenuastis in antro? Quove pede ingressi? Quamve bibistis aquam? Das Anliegen des ersten Teils der Elegie 3,1 (V. 1—20) ist literarkritischer Natur, wie von V. 5 an (carmen tenuastis) eindeutig klar wird. Nun hat man aber die beiden ersten Disticha vielfach einseitig vom Religiösen her zu deuten und zu verstehen gesucht: So erklärt man manes und sacra als „shades" und „rites paid to the dead", bzw. sacra als „virtually synonymous with manes"2, nemus als „consecrated grove, where worship is offered 1

Die Arbeit ist der Behandlung des Gedichtes durch W. WIMMEL (Kallimachos in ß o m etc., Hermes Einzelschr. 16, 1960, 214 ff.) verpflichtet, doch anders gerichtet. WIMMEL betrachtet das Gedicht als Glied der „apologetischen" Tradition. Er verweist zwar auch auf „Übergänge und Verbindungen" innerhalb des Gedichtes (220), aber in erster Linie interessieren ihn a. die Herkunft der von Properz verwerteten apologetischen Elemente (des von Kallimachos inaugurierten Stil- und Stoffkampfes), b. die Variation dieser Elemente gegenüber den Quellen und dem üblichen apologetischen Schema. 2

BUTLER-BARBER a d l o c . ; D . R . SHACKLETON BAILEY, P r o p e r t i a n a , C a m b r i d g e 1956,

135; G. LTTCK, The Cave and the Source, CQ NS 7, 1957, 175. Cf. P. J. ENK, Ad Propertii carmina commentarius criticus, Zutphaniae 1911, ad loc. 6»

Franz Qtjadlbauer

84

to the shades of the two poets" 1 , furo de fönte sacerdos mit „the priest comes from the sacred spring with holy water" ( B u t l e r - B a r b e r ) . Läßt sich nun, entgegen solcher streng auf das Religiöse gerichteten Deutung, zeigen, daß schon in V. 1—4 auch literartheoretische Implikationen vorliegen, so wäre ein geschlossenerer Zusammenhang mit dem eindeutig literarkritischen Thema des Folgenden gewonnen. Wie steht es damit? Gleich der in energischer Emphase an die Spitze gerückte Kallimachos, der in dem chiastisch ausgewogenen Vers in dem Koer Philitas (in betonter Endstellung!) sein stilistisches und sachliches Gegengewicht findet, bringt assoziativ die stilkritische Komponente herein. Was hier von früheren Elegien her mitschwingt, zeigen die Stellen Properz 2,l,39f. (Begründung, warum er kein Epos schreibt): Sedneque Phlegraeos Iovis Enceladique intonet angusto pectore Callimachus

tumultus

und 2,34,31 f. mit dem R a t an Lynceus, Philitas 2 nachzuahmen et non inflati somnia Callimachi, epische Themen aber und den Aeschyleus cothurnus zu lassen (ibid. 33ff.; 41). Die Dichter, die Properz als Vorbilder apostrophiert, repräsentieren das „feine" Dichten (cf, Callim. Aitienprol. 24 MoCaocv . . . Xe7UTaXsv]v; epigr. 27,3f. XeTCTat / py\oiec,)3 im Gegensatz zum großen, pathetischen (cf. intonet* oben), das vor allem für das große, heroische Epos charakteristisch ist (vgl. Phlegraeos . . . tumultus oben; Aitienprol. 5). Von kallimacheischer Warte aus sieht Properz das Pathetische als „aufgeblasen", ein Vitium, dem der non inflatus Callimachus eben zu entgehen wußte 5 . Nicht entging ihm allerdings der tumidus Antimachus, wie ihn Catull 95,10 nennt, das Kallimachoswort vor Augen, daß Antimachos' Lyde ein 7ia/ü ypafi[i.a xai ou Topov 1

Butler-Babber ad loc.; Shackleton Bailey I.e. (S. 83 Anm, 2); G. Luck I.e.

(S. 83 Anm. 2). 2 Zu memorem Musis imitere Philitan L. A l f o n s i , Note Properz., L'ant. class. 18, 1949, 344f. („Filita che ricorda per dono delle Muse"; G. Lttck, Properz und Tibull, Liebeselegien, Zürich 1964, liest Musis Meropen (nach dem cod. Lusat.) imitere Philitae). Vielleicht ist statt des schwierigen überlieferten memorem zu lesen tenuem; dies wäre der zu Philitas wohl passende Terminus für den feinen Stil: cf. 3,1,5 (über Kallimachos und Philitas) tenuastis (Carmen); ibid. 8 tenui pumice. 3 Der term. techn. 3,1,5 (cf. oben Anm. 2). 4 Nach Aitienprol. 20, wo das „Donnern" abgelehnt wird. Cf. aber Aristoph. Acharn. 631, wo der „Donner" der Bede des „Olympiers" Perikles bewundert wird. 6 Inflatus ist der Rhetorik geläufig und bezeichnet da die Entartung des erhabenen Stils (z. B. Rhet. Her. 4,10,15).

Properz 3,1

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sei 1 . Die Identität des angustum pectus2, das Properz Kallimachos zuschreibt, mit dem Ideal des feinen, gedrechselten Stils (XS7FTOV, xopov) wird illustriert durch Prop. 2,34,43 incipe iam angusto versus includere torno3. Als exemplum für das feine Dichten figuriert in beiden oben zitierten Elegien Properzens eigenes genos, die Liebesdichtung (2,1,41/5; 1/2; 2,34,44)4. Während nun Kallimachos und Philetas in 3,1 von früheren Elegien her die aura des lepton anhaftet, das seinerseits mit der Liebeselegie assoziiert erscheint, bringen manes und sacra den kultischen Bereich herein, aber wohl nicht den kultischen Bereich um seiner selbst willen, sondern mit Symbolgehalt behaftet, vor allem sacra, ob man es nun mehr in Richtung von SANDBACHS Deutung „poesy of Coan Philitas", also auf das Werk bezogen, symbolträchtig sein läßt, oder in Richtung auf E N K S „pars melior poetae", „anima sancta" oder ALFONSIS „poetica iniziazione"6. Ähnlich steht es mit nemus (V. 2), das, durch nachdrückliches Hyperbaton von vestrum getrennt, besondere Emphase am Versschluß gewinnt; es ist zunächst im Anschluß an (die eigentliche, symbolfreie Bedeutung von) manes

1

Kallim. frg. 398 PF. Die elegische Form hat die Lyde also nicht vor dem .fetten* Stil bewahrt. Für Kallimachos gehört die Elegie ja auch zur Epik (cf. inot; Aitienprol. 5), er trennt die Elegie nicht wie die Augusteer als feines genos ab (H. HERTER, Bericht über die Literatur zur hellenistischen Dichtung 1921—35, JAW 255, 1937, 111; zu Properz vgl. gleich unten), sondern unterscheidet augenscheinlich hier wie dort einen „fetten" und feinen Stil. Vgl. S. 92. 2 Das griechische Äquivalent XETTTÖV ARIJ&OS findet sich, allerdings ohne stilkritische Implikation im Sinne des Kallimachos, bei Aristophanes (Nub. 1 0 1 7 ) , wie E . R E I T Z E N STEIN, Zur Stiltheorie des Kallimachos, Festschrift R. Reitzenstein, Leipzig 1931, 35, feststellt. 3 Zum angustum, pectus (bzw. -us tornus) vgl. das exiguum flumen, das Symbol für Properzens Dichtweise 3,9,36 (oppos.: tumidum mare), das ebenfalls mit Kallimachos' und Philitas' Poesie parallelgestellt wird (ibid. 43f.). 4 Ebenso 3,3,52 (cf. V.47ff.) und 3,9,43f. (cf. 45f.). 4,6,3f. Philitaeis.... corymbis/ ... Cyrenaeas ... aquas geht es dagegen um einen anderen, großen Stoff (Schlacht bei Aktium), den Properz aber doch kallimacheisierend als Aition einkleidet (um damit dem negativen Großen, dem des Epischen, zu entgehen), wie V. 11 und 67 zeigen. 8

F . H . SANDBACH, C R 52, 1938, 2 1 4 ; J . P . ENK, M n e m o s y n e S. I I I 13, 1947, 7 0 f . ;

1. c. ( S . 84 Anm. 2) 345. Zur umstrittenen Deutung von sacra cf. auch SHACKLE1. c. ( S . 83 Anm. 2). Die pars melior poetae (anima sancta) E N K S , gegen die SHACKLETON B A I L E Y U. a. polemisiert, nähert sich übrigens weitgehend der alten, auch von ihm selbst in Erwägung gezogenen Ansicht, daß sacra „virtually synonymous" mit manes sei. Doch auch dann, wenn man mit SHACKLETON B A I L E Y als eigentliche Bedeutung von sacra „rites paid to the dead" annimmt, so ist doch sein Verdikt, das Wort habe „nothing to do with poetry", nicht ohne weiteres hinzunehmen. Die vorliegende eigentliche Bedeutung aus dem kultischen Bereich schließt ja eine literarkritische Implikation nicht aus. L.

ALFONSI

TON BAILEY

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FRANZ QUADLBATJER

und sacra „a consecrated grove"1; aber auch hier drängt sich die literartheoretische Implikation auf: Vestrum (!) nemus ist eben der Hain zweier Dichter, der kaum völlig von dem antrum V. 5 zu trennen ist, wo die beiden ihr Lied „verfeinerten", also eindeutig Poetisches taten, vestrum nemus ist ein Hain mit Beziehung zum lepton2. Daß der an sich kultische Begriff des sacerdos in V. 3 — in markanter Endstellung, die durch das weitgespannte Hyperbaton zu primus am Versanfang noch pointierter wird — sehr wohl mit Poetischem verquickt sein kann, dafür genügt der Hinweis auf Horazens Musarum sacerdos3. Wichtig als Symbolträger ist vor allem der Begriff des purum in puro de fönte (V. 3), wie sich zeigen wird. Der Bau des Verses gibt dem Ausdruck besonderes Gewicht: Auf daktylisch fließendes primus ego ingredior folgen, durch die Penthemimeres abgesetzt und herausgehoben, retardierend die vier Längen puro de fon(te). Man hat die Stelle schon immer in Zusammenhang gebracht mit Kallimachos' Apollohymnus (llOff.): AY)OI

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