Monographie der Ruhr
 9783111580821, 9783111207988

Table of contents :
Vorrede
Inhalt
Berichtigung
Aetiologie der Ruhr
Pathologische Anatomie der Ruhr
Beschreibung der Ruhr
Wesen der Ruhr
Prognose der Ruhr
Behandlung der Ruhr

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MONOGRAPHIE OER

RUHR TOD

Dr. P. F. Witt. Vogt, Professor dar medleinlschea Klinik in Bern.

JT.

Giefsen, 1866. • K i c k e r * « a l t e Badiluuiiluf

Vorrede. Mein Büchlein bringt nichts wesentlich Neues. Es ist ja die Ruhr „eine alte Bekannte", von welcher schon lange her und so viel gesprochen wurde, dafs bedeutende neue Entdeckungen durch die organische Chemie und Physik, durch die pathologische und mikroscopische Anatomie u. s. w. bei ihr kaum möglich erscheinen. Und doch glaube ich, dafs meinen Fachgenossen, und besonders den praktischen Aerzten es nicht überflüssig und unnöthig scheinen wird, hier zu lesen, was ich auf einer mehr als 40jährigen Laufbahn als praktischer Arzt und klinischer Lehrer bei dieser häufigen Krankheit beobachtete, und welche Anschauungen ich mir aus meinen Beobachtungen bildete. Sie werden wohl einige Scherflein zur genaueren Kenntnifs derselben finden, und mein Bestreben nicht verkennen, die Auffassung des Beobachteten so viel als möglich für die Therapie zu verwerthen.

rv Diese liegt im Vergleich zu den grofsen Fortschritten der Pathologie noch sehr im Argen, und es bleibt uns Allen darum eine Aufgabe, sie aus dem ihr drohenden Untergang in gänzliche Zerfahrenheit und blindes empirisches Herumtappen zu retten, damit wir Aerzte bleiben und die Heilkunst nicht in bloise Naturforschung sich auflöse. B e r n , den 21. Sept. 1856. Br. W. Vogt

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Seite

Aetiologie

der Ruhr

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I. Atmosphärischer Ursprung II. Der endemische, tellorische oder miasmatische Ursprung III. Mephitischer Ursprung IV. Contagiöser Ursprung V. Ursachen der Ruhr bei einzelnen Individuen . . . VI. Pathogenie der Buhr

Pathologische I.

II.

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A n a t o m i e der R u h r

Die Schleimhaut des Dickdarms . . . A. Katarrhalische Buhr B. Croupöse oder diphtherische Buhr . . a) Der geringere Grad b) Intensivere croupöse Buhr In der Entzündungsperiode Die Periode der Geschwürbildung . . Die Periode der Vernarbung C. Brandige oder faulige Buhr a) Die brandige Erweichung und Zerfliersung b) Die sphacelöse Zerstörung c) Der trockene Brand Pathologische Veränderungen in anderen Organen 1) Dünndarm

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1 8 13 17 . 2 4 30

33 . 3 3 38 43 43 47 47 49 52 55 57 58 59 61 61

VI 2) 8) 4) 6) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13)

Schlund, Magen und Duodenum . . . . 61 Bauchfell und Nets 62 Leber 63 Milz 66 Harnorgane 65 Geschlechtsorgane 65 Kreialaufsorgane 66 Athmungsorgane 66 Gehirn und seine Häute 66 Haut und äoisere Theile 67 Allgemeine Körperbeschaffenheit . . . . 6 8 Chemische und mikroscopische Untersuchung der BuhrstQhle 68

B e s c h r e i b u n g der R u h r A. B. C.

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Die catarrhalische und oberflächlich croupöse Ruhr . 81 Die intensiv-croupöse Ruhr . . . 8 8 Die faulige oder brandige Ruhr . . . . . 102 a) Die typhoide oder faulige Ruhr . . . . 102 b) Die brandige Ruhr 106 D. Verbindungen der Ruhr mit endemischen und epidemischen Fiebern 108 E. Verschiedene Gestaltungen der Ruhr durch gleichzeitiges Leiden anderer Organe 116 a) Anderweitige Leiden der Digestionsorgane .116 1) Die Mundhöhle 116 2) Der Magen 116 3) Der Dünndarm .118 4) Leber 119 5) Milz 125 6) Nieren und Blase 126 7) Weibliche Sexualorgane 126 8) Kreislaufsorgane 128 9) Athmungsorgane ISO 10) Gehirnaffectionen 131 11) Rheumatismus .132

TO

F.

12) Augenentzündnng 13) Aenfsere Haut Ausgänge und Nachkrankheiten der Bohr

.

.

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136 136 137

W e s e n der Ruhr

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P r o g n o s e der Rohr

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Behandlung

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I.

II. III. IV. V.

der R u h r

A. Prophylaxe der Ruhr B. Hygieinische Behandlang C. Abschneidungskur D. Pharm&ceutische Behandlung Behandlung der intensiv - croupösen Ruhr . A. Blutentleerungen B. Brechmittel C. Abführmittel D. Refrigerantia E. Mercurialmittel F. Narcotica G. Klystiere H. Aenfsere Mittel überhaupt I. Das essigsaure Blei K. Wismuthoxyd L. Bittere Mittel a) Die Brechnuß b) Rhabarber c) Andere bittere Mittel M. Adstringentien N. Das schwefelsaure Chinin Behandlung der katarrhalischen Ruhr Behandlung der typhoiden Ruhr O. Die Säuren Behandlung der brandigen Ruhr Behandlung der Complicationen der Ruhr . 1) Behandlung der Magenaffectionen . 2) Behandlung der Bauchfellentzündung 3) Behandlung der Leberaffectionen .

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158 161 163 167 .168 171 174 176 179 180 183 188 194 199 201 201 204 204 205 206 206 208 209 211 . 213 214 214 . 217 .217

vm 4) 6) 6) 7) 8) 9) 10)

Behandlung Behandlung Behandlung Behandlung Behandlung Behandlung Behandlung Darmleiden

der Mfliaffection der Blasenleiden der Endocarditis der hämorrhagischen Ruhr . der Gehiraaffectionen . . . . des Rheumatismus dysentericue der nach der Bubr zurückbleibenden . . . . . . . .

219 219 220 220 222 222 228

Berichtigung : S. 62 in der Ueberschrift mufs es heißen : Bauchfell nnd N e t z statt H i l t .

Aetiologie der Ruhr. Wir kennen die Ruhr schon so lange, als etwas von medicinischer Wissenschaft besteht, können aber doch nicht so evident von bestimmten Ursachen sie ableiten, wie die Hiebwunde von dem Säbel. Es ist dies der gleiche Fall mit den meisten inneren spontanen Krankheiten. Wir können da nur aus vielfältiger Vergleichung der Verhältnisse und Umstände, unter welchen die Krankheit beobachtet wurde, diejenigen ausmitteln, welche gewöhnlich bei ihrer Entstehung obwalten, und auf diesem Wege bis zu einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit bestimmte Einflüsse als Ursachen der Krankheit annehmen. Gehen wir diesen Weg bei der Ruhr und nehmen wir zuerst ihr Auftreten als Epidemie, so mufs uns zunächst ihr

I. Atmosphärischer Ursprung einleuchten. Obgleich sie fast auf allen Punkten der Erde vorkommt, wo ärztliche Forschiingen hingedrungen sind, sehen wir sie doch um so häufiger, je weiter wir von Norden gegen Süden gehen. Sie ist eine Geifsel der Tropenländer, in welchem Welttheil sie auch liegen mögen, und die wärmeren Gegenden Europa's werden ebenfalls weit öfter von ihr heimgesucht, als die kälteren. In den gemäfsigten Zonen Europa's erscheinen in gewissen Jahren die Ruhrepidemieen und verschwinden dann wieder auf kürzere 1

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Aetiologie der Rnbr.

oder längere Zeit. Fragen wir nach den Witterungsverhältnissen in solchen Ruhrjaliren, so finden wir gewöhnlich, dafs ein heifser Sommer war, an dessen Ende und im Herbste, im August, September und October, die Epidemieen anfingen und dann im Winter erloschen. So war es, um nur besondere Ruhrjahre dieses Jahrhunderts zu erwähnen, im Jahr 1800, 1811, 1814, 1822, 1825, 1834 und 1855. Es kann darum wohl keinem Zweifel unterliegen, dafs gröfsere Wärme der Atmosphäre eine gewisse Zeit hindurch auf die Menschen wirkend zum Auftreten der Ruhr Veranlassung geben mufs. Ob dabei gleichzeitig Feuchtigkeit der Atmosphäre mitwirke und ein n o t w e n diges Moment für die Ruhrerzeugung sei, oder nur sie begünstige, wie mehrfach behauptet wurde, ist ganz unermittelt. Geradezu Air unwahr mufs ich aber den Ausspruch N a u m a n n ' s erklären, dafs die Ruhr in kalten und nassen Sommern häufiger sei. In den Tropengegenden sehen wir weiter zwei bemerkenswerthe Umstände. Die Ruhr kommt gewöhnlich bei grellen Witterungswechseln und Temperatursprüngen vor, und nicht akklimatisirte Personen werden am häufigsten und stärksten von ihr ergriffen. Im gemäfsigten Europa war gewöhnlich in den Ruhrjahren der Frühling kalt, rauh und länger, als gewöhnlich, andauernd, worauf dann ein mehr plötzlicher Uebergang zur stärkeren Sommerhitze statt fand. So im Jahr 1800, 1815, zum Theil auch im Jahr 1834, besonders aber 1855. Ungewöhnliche und ungewohnte Hitze nach vorgängiger Gewöhnung an eine gewisse Kälte wirken also mit bei der Entstehung der Ruhr. In den Ländern mit regelmäfsiger Abwechselung der Temperatur von Sommer und Winter machen die Menschen einen ganz analogen Procefs durch, wie die Auswanderer nach einem Orte mit anderem Klima. Es ist bekannt, dafs der Südländer, wenn er nach Norden auswandert, viel weniger von

Atmosphärischer Ursprung.

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einer Auswanderungskrankheit gefährdet ist, als umgekehrt der Nordländer, wenn er gen Süden zieht. In den gemäfsigten Gegenden Europa's sehen wir den geringsten Krankenstand bei einer andauernden gewissen Gleichförmigkeit der Temperatur, besonders in den schlechteren Sommern, wo die Hitze nicht hoch steigt, und in den feuchten Wintern, wo es nicht zu grofser Kälte kommt. Im Herbste mehren sich die Kranken und zwar um so stärker, je mehr die Witterung wechselt. Im Frühling aber ist immer die Krankenzahl am gröfsten, zumal bei öfteren Wechseln. Immer kommen Krankheiten überhaupt häufiger und heftiger, je plötzlicher der Auswanderer in ein anderes Klima kommt, je greller die Temperaturwechsel der Atmosphäre eintreten, besonders wenn die Uebergänge von einer Temperaturperiode in die andere nicht allmählig, sondern schnell erfolgen. Ruhren aber kommen überall am leichtesten, wenn zuerst der Uebergang von der Kälte zur Wärme mehr grell eintritt und dann nach einiger Dauer der gröfseren Wärme wieder plötzliche Temperaturwechsel vorkommen. Man hat die Ruhr oft für eine Erkältungskrankheit gehalten, weil sie bei uns gewöhnlich eintritt in der Jahreszeit, wo die Tage heifs, aber die Nächte bereits kühl sind, weil sie in den südlichen Gegenden auch auf Erhebungen über die Meeresfläche von ziemlichem Belang vorkommt, wo ebenfalls ein grofser Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht obwaltet, uud weil auch öfter gerade bei plötzlichen Temperaturschwankungen gerade die Epidemieen ausbrechen oder neuen Aufschwung gewinnen. Man findet aber in den gemäfsigten Gegenden keine Ruhrepidemieen im Frühling, wo doch die meisten Erkältungskrankheiten vorkommen, und bei genauer Nachforschung weifs selten ein Ruhrkranker anzugeben, dafs er nach einer Erkältung befallen worden sei. Das oben Gesagte führt 1*

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Aetiologie der Bahr.

vielmehr zum Schiasse, dafs Einwirkung von Hitze erst vorhergehen, erst die Anlage zur Ruhr begründen müsse, bevor allenfalls durch eine Erkältung sie hervorgerufen werden kann. Will man die Umstände, dafs in Folge heifser Sommer auch überall die Ruhr ausbrechen müsse, wenn die Hitze eine Ursache derselben wäre, und dafs in der That mancher heifse Sommer doch ohne Nachfolge der Ruhr bleibt und endlich selbst auch die ausgebrochenen Epidemieen niemals ganz allgemeine Verbreitung finden, sondern gewöhnlich auf einzelne Orte und Gegenden sich beschränken, etwa benutzen, um überhaupt den atmosphärischen Ursprung der Ruhr und Einwirkung der Hitze bei demselben zu läugnen, so wäre damit auch der atmosphärische Ursprung aller Krankheiten negirt. W i r sehen nämlich bei allen Krankheiten atmosphärischen Ursprungs ganz die analogen Umstände, wie bei der Ruhr. Wir wissen, dafs Pneumonieen im Frühling auftauchen bei hohem Barometerstand, rauhem Nordostwind etc., und darum doch nicht an allen Orten vorkommen, wo dieselbe Witterung herrschte; — dafs Epidemieen von Typhoidfiebern in kühler, regnichter Herbstzeit an Orten ausbrechen, wo sich keine andere Ursache als der Witterungseinflufs auffinden läfst, und dagegen andere Orte verschont bleiben u. s. w. E s ist eben die Witterung gröfserer Gegenden von gleichem Klima doch nicht an allen Orten die gleiche, es wirkt dieselbe Witterung nicht gleich auf alle Individuen und es wirken zur Entstehung und Ausbreitung von Epidemieen immer auch noch andere Umstände mit, die nicht an allen Orten dieselben sind. Noch viel weniger stichhaltig wäre es aber, wenn man darum den atmosphärischen Ursprung der Ruhr läugnen wollte, weil wir ihn nicht sattsam erklären können. Einige Thatsachen haben wir wohl dazu, aber wir müssen lieber

Atmosphärischer Ursprung.

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anerkennen, dafs diese bei weitem nicht ausreichen, als die Lücke unseres Wissens mit einer glänzenden Hypothese vertünchen. Es ist nämlich thatsächlich, dafs bei fortgesetzter gewohnter Ernährung und Lebensweise die Einwirkung anhaltender Hitze nach vorgängiger Kälte den Verbrauch der kohlenstoftigen Substanzen im Körper mindert und darum einen gröfseren Vorrath, einen gewissen Ueberflufs derselben hervorbringt. Der Körper sucht auf verschiedenen W e g e n , und besonders auch durch die Unterleibsorgane, durch die reichlichere Gallenabsonderung und durch die Darmschleimhaut vermittelst der Diarrhöen, diesen Ueberschufs an Kohlenstoff zu entfernen. Polycholie und Darmkatarrhe sind bekanntlich die leichteren Krankheiten der Einwanderer in die Tropengegenden und sind auch häufiger bei uns in warmen Sommern, als in anderen Jahreszeiten und in anderen Jahren. Bei den tropischen Ruhren sind die Leberaffectionen ungemein häufig (die Dysenteria hepatica der Autoren), und auch in den gemäfsigten Zonen finden sich sehr häufig im Anfang der Ruhr reichliche Gallenabgänge und bei den Sectionen solcher Fälle Anfüllungen der Gallenblase und Gallengänge mit saturirter Galle. Diarrhöen gehen sehr oft den Ruhren allwärts voraus, verbinden sich oft mit derselben, ersetzen sie, indem das eigentliche Ruhrleiden sich gar nicht ausbildet u. s. w., so dafs die indischen Aerzte zur Behauptung kamen, Diarrhöe und Ruhr flössen dergestalt ineinander, dafs sie weder in symptomatologischer noch in anatomisch - pathologischer Beziehung sich trennen liefsen. Bei den Einwanderern in die Tropengegenden macht sich die Einwirkung der ungewohnten Hitze ungleich mehr geltend, als bei u n s , und das kirschrothe, wenig gerinnbare Blut, welches man bei denselben manchmal wahrgenommen hat, mag andeuten, dafs man dort vielleicht eine chemisch nachweisbare Veränderung des Bluts in Folge der Hitze

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Aetiologie der Bahr.

finden könnte. Bei ans aber ist diese Veränderung nicht so grois, dafs man sie bis jetzt durch chemische Untersuchungen hätte constatiren können. Indem wir Act nehmen von diesen beiden Thatsachen, nämlich von einer wahrscheinlichen Blutveränderung durch Kohlenstoffanhäufung im Blute, welche ihren Beitrag liefert zur Entstehung der Ruhrdisposition, und von der Neigung der Organismen, durch Ausscheidungen der Leber und der Darmschleimhaut die Kohlenstoffmenge im Körper zu vermindern und dadurch die Localisation der Krankheitsprocesse auf diese Organe hinzulenken, müssen wir uns fiirerst gegen die Meinung verwahren, als wollten wir daraus einen sogenannten gallichten oder gastrischen Ursprung der Ruhr ableiten. Wir werden bei den verschiedenen Arten derselben auf diese Ansicht zurückkommen und uns näher darüber aussprechen. Eben so wenig läfst sich auB diesen Thatsachen schon die Ruhrdisposition selbst und ihre Entstehung hinlänglich erklären. Wir dürfen selbst nicht in der Wissenschaft diejenigen Thatsachen fallen lassen, welche gerade nicht für den angegebenen atmosphärischen Ursprung der Ruhr sprechen, wie z. B. dafs Ruhrepidemieen vermifst wurden, wo ein schlechtes Frühjahr und heifser Sommer sie vermuthen liefsen, und wieder zum Vorschein kamen, wo die vorhergegangene Witterung nicht zu ihrer Erwartung berechtigte. Es kann dies nicht beweisen, dafs die Sommerhitze keinen Antheil an der Entstehung der Ruhr habe, wohl aber darthun, dafs noch andere Momente dazu mitwirken und unter gewissen unbekannten Umständen auch schon von sich aus zur Ruhr fuhren können. Noch mehr werden wir auf solche, uns noch unbekannte Momente zur Ruhrbildung hingewiesen durch den Umstand, dafs wir zur Zeit der Herrschaft einer Epidemie immer noch viele Individuen finden, die unter denselben Witterungs- und sonstigen Verhältnissen an anderen unzweifel-

Atmosphärischer Ursprung.

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haften Witterungskrankheiten, wie z. B. an Brustkatarrhen, Rheumatismen u. s. w. leiden. Selbst bei der grofsen, weitverbreiteten Epidemie der Ruhr von 1834 war dies in Würtemberg der Fall. Wenn einmal Ruhrepidemieen Wurzel gefafst und gehörige Ausbreitung gewonnen haben, so setzen sie sich gerne in den nachfolgenden Jahren fort, seltener an demselben, als vielmehr an anderen Orten. Die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts und die erste Hälfte des jetzigen, namentlich die Jahre 1762, 63, 68, 69, 70, 78, 79, 84, 85, 86, 92 , 93, 94 , 95 etc., 1810, 11, 12, 13, 17, 18, 19 etc. zeigen uns solche fortgesetzte Ruhrepidemieen an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern. Bei diesen Fortsetzungen der Epidemieen läfst sich keine miasmatisohe oder contagiöse erste Entstehung nachweisen. Nachdem die Epidemie an einem Orte im Winter ganz erloschen war, tauchte sie im folgenden Herbst auf ganz gleiche Weise an einem anderen Orte auf, und zwar oft in so grofser Entfernung, dafs an eine Fortsetzung durch irgend eine Infection nicht zu denken war. Die grofse Epidemie von 1834 herrschte auch an vielen Orten der Schweiz, besonders an den Ufern des Genfersees, aber in Bern kam sie erst im Jahr 1835 und 36 zur Entstehung und Ausbreitung. Nimmt man noch hinzu, dafs auch primitive Ruhrepidemieen bisweilen erst ein Jahr nach einem heiisen Sommer zum Ausbruch kamen, so fuhrt dies uns zum Schlüsse, dafs nicht allein die einmal gepflanzte Disposition zur Ruhr nicht sofort bald wieder erlischt, sondern auch wohl eine gewisse Zeit schlummern k a n n , bis sie durch andere hinzutretende Momente erweckt wird. Wenn die Ruhr hauptsächlich durch atmosphärische Einflüsse entsteht und sich verbreitet, so geschieht dies oft auf eine Weise wie bei der Grippe. Nachdem erst vereinzelte Fälle sich zeigten, gewinnt sie plötzlich eine Aus-

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Aetiologie der Bahr.

breitang an vielen Punkten des Ortes, ohne dafs sich irgend eine Infection nachweisen oder auch nur denken läfst. Bei der Epidemie des Jahres 1855 in Bern, an diesem trocken und luftig gelegenen Orte, kamen zuerst im Anfang Juli vereinzelte Fälle bei Proletariern vor. Vom 9ten bis löten Juli aber entstand die Krankheit nun plötzlich an allen Punkten der Stadt, wohin unmöglich eine Uebertragung von den ersten einzelnen Fällen gelangt sein konnte, bei Individuen des verschiedensten Alters, der verschiedensten Constitution, der verschiedensten Lebensweise, die alle wieder verschiedene Gelegenheitsursachen der Krankheit angaben. Bei solcher Verbreitung läfst sich nur an einen atmosphärischen Einflufs denken, der eine allgemeine, jedoch bei den einzelnen Individuen ihrem Grade nach sehr ungleiche Disposition begründet hatte, welche sofort durch Gelegenheitsursachen zum Ausbruch gebracht wurde.

II. Der endemische, tellurische oder miasmatische Ursprung. Wir beschränken den Ausdruck Miasma auf diejenigen flüchtigen Stoffe, welche von Boden- oder Sumpf-Ausdünstung der Luft mitgetheilt werden und Krankheiten erzeugen. Die sogenannte Malaria gehört in diese Kategorie. Untersuchungen über deren Natur und Entstehung gehören nicht hierher, sondern nur die Frage, ob und wie etwa aus den Beobachtungen eine Wirkung derselben auf Erzeugung der Ruhr sich ergiebt. Betrachten wir nun in dieser Beziehung die Malariagegenden verschiedener Himmelsstriche, so findet sich der Ausspruch B a m b e r g e r ' s : »Auffallend und durch zahlreiche Beobachtungen sichergestellt ist der Umstand, dafs alle Gegenden, in denen auch das Wechselfieber endemisch

Der endemische, teilarische oder miasmatische Ursprung.

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ist, von der Ruhr besonders heimgesucht werden, was wohl auf eine gewisse Gleichheit der ursächlichen Momente schliefsen läfst«, durchaus nicht bestätigt. Die Wechselfiebergegenden Mitteleuropa's haben nur zu gewissen Zeiten und namentlich nach solchen Witterungsvorgängen , wie sie oben auseinandergesetzt wurden, Ruhrepidemieen. Die Ruhr ist also daselbst durchaus nicht eine so stationäre Krankheit, wie das Wechselfieber. Die medicinische Geographie und Statistik haben bis jetzt nicht herausgestellt, dafs dort die Ruhrepidemieen verhältnifsmäfsig häufiger vorkommen, wie an andern von der Malaria ganz freien Orten. Man nehme nur Holland, dieses eigentliche Vaterland der Wechselfieber, zum Beispiel, und man wird finden, dafs dort die Ruhrepidemieen nicht häufiger sind, als anderwärts. Sie treten hingegen schon öfter auf in den nördlichen Fieberregionen, wo die Winter kalt, die Sommer sehr heifs sind, wie z. B. in Dorpat, an mehreren Orten Nordamerika's etc. Gehen wir in die Regionen der sogenannten Remittirfieber, in die wärmeren Gegenden Europa's, wie namentlich in die Küstenländer des Mittelmeers, Ungarn, Italien, südliches Frankreich, Spanien u. s. w., so kommen hier allerdings schon viel häufiger Ruhren vor, als in allen nördlichen Gegenden und gefährden daselbst am meisten die noch nicht akklimatisirten Einwanderer. Ganz gleich verhalten sich die nicht gerade tropischen Gegenden Amerika's, Asiens und Afrika's, so wie alle wirkliche aufsereuropäische Tropengegenden — nämlich je weiter südlich, desto mehr Ruhren. Aus dem Vorkommen der Ruhr in diesen Ländern schlofs man hauptsächlich, dafs die Malaria wenn auch nicht die alleinige, so doch die hauptsächlichste Ursache der Ruhr sei. H i r s c h suchte dies in einer vortrefflichen Abhandlung nachzuweisen, worin mit umfassender Belesenheit

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•etiologie der Bahr.

alle bis jetzt ans bekannt gewordenen Nachrichten über die endemische Verbreitung der Ruhr zusammengestellt sind *). Wenn wir denselben mit Aufmerksamkeit und ohne vorgefafste Meinung folgen, so ergiebt sich Folgendes : Nur durch europäische Aerzte, besonders durch englische und französische Militärärzte, sind wir von den in jenen Gegenden herrschenden Krankheiten unterrichtet. Sie haben ihre Beobachtungen hauptsächlich in den Küstengegenden gemacht und nur die Minderzahl derselben drang in einzelnen Ländern tiefer in das Innere derselben ein, so dafs unsere Nachrichten immer dürftiger werden, je weiter man von den Küsten landeinwärts geht. Diese Küsten bestehen nun grofsentheils aus sumpfigen Niederungen, wo die Malaria herrschend ist und die meisten fieberhaften Krankheiten erzeugt. Die Malariafieber theilen dort die Herrschaft mit der Ruhr und verbinden sich mit derselben in ganz ähnlicher Weise, wie unsere Typhen und Wechselfieber , am häufigsten so, dafs die Ruhr diesen Fiebern nachfolgt oder die davon Reconvalescirenden befällt Am häufigsten werden die nicht akklimatisirten Ankömmlinge aus nördlichen Ländern sporadisch von ihr befallen, jedoch durchaus nicht aysschliefsend, indem auch immer einzelne Eingeborene daran leiden. Gröfstenthcils ist die Ruhr bei den Nichtakklimatisirten auch mehr bösartig, nämlich die von einzelnen Autoren speciell Malariaruhr genannte Art, im Gegensatz zu der sogenannten entzündlichen und weniger gefahrlichen Ruhr, die hauptsächlich bei den Eingeborenen und in den nicht von der Malaria beherrschten Gegenden vorkommt. Wenn jedoch die Ruhr zur epidemischen Verbreitung gelangt, trifft sie Einheimische und Fremde in *) Die Ruhr nach ihrem endemischen und epidemischen Vorkommen vom ätiologisch - pathologischen Standpunkte. Prager Vierteljahrsachrift, S i l . Jahrg. 1856, Bd. II, S. 73.

Der endemische, tellnrische oder miasmatische Ursprung.

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eben so verschiedenen Gradationen, wie sie auch bei unsern Ruhrepidemieen stattfinden. Bleiben wir fürerst einmal bei diesen Thatsachen stehen, so ergiebt sich : a) Die Ruhr verhält sich dort nicht zn den Einheimischen und Fremden, wie die Malariafieber. Diese letzteren befallen hauptsächlich nur die Fremden, und wenn sie auch in manchen Jahren in epidemischer Verbreitung auf die Einheimischen übergehen, werden sie bei denselben niemals so bösartig und gefahrlich. Am deutlichsten zeigt sich dieses z. B. auf Cuba, wo Europäer und Nordamerikaner fast immer von dem äufserst bösartigen gelben Fieber befallen werden, während die Einheimischen nur an leichten sog. gallichten Remittirfiebern leiden *). b) Die häufigeren und bösartigeren Erkrankungen der Fremden erklären sich ohne die Hinzunahme der Malaria aus zwei andern Umständen. Jeder nach dem Süden versetzte Nordländer kommt in dieselben Verhältnisse, wie unsere Bevölkerung durch einen heifsen Sommer nach vorausgegangenem hartem Winter und rauhem Frühling, wo die Disposition zur Ruhr sich ausbildet. Die ungewohnte und anhaltende Hitze in den südlichen Gegenden macht bei den dorthin gelangten und ihre sonst gewohnte Lebensweise beibehaltenden Fremden stets jene oben berührte Blutveränderung, welche neben der Disposition zur Ruhr auch durch die Tendenz zur Zersetzung zugleich noch die gröfsere Bösartigkeit der aenten Krankheiten überhaupt bedingt. Trifft dazu noch den Fremden die Einwirkung von fauligem Sumpfmiasma, so wird die Tendenz zur Zersetzung der Blutmasse noch vermehrt und die aus anderen Ursachen auf solchem Boden erzeugte R u h r um so bösartiger. *) J ö r g , über die Krankheiten der Tropenländer.

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Aeäologie der Bahr.

c) Auf Jamaica und mehreren anderen Antillen findet sich die Ruhr gerade in Regionen, wo keine Fieber herrschen , und wo hingegen diese vorwalten keine Ruhr. M c M u 11 i n kommt darum schon zur Bemerkung, dafs die Sumpfausdünstungen Fieber erzeugten, häufige und starke Temperaturwechsel hingegen die Ruhr, weshalb diese an den malariafreien Orten sich vorfinde. d) Auch in anderen Tropengegenden beschränkt sich die Ruhr durchaus nicht auf den sogenannten Malariaboden, sondern geht auch auf die sonst gesunden und trockenen Gegenden über, welches namentlich in Ostindien deutlich beobachtet worden ist. e) Abgesehen davon, dafs schon viele Beobachter der Ruhr in Tropengegenden sie von grellen Temperaturschwankungen ableiten, berichten doch schier fast alle anderen, die sie vom Einwirken der Malaria entstehen lassen, dafs sie auch in den Sumpfgegenden hauptsächlich nur beim Eintritt der kühleren Jahreszeit, bei kühlen Nächten nach sehr heifsen Tagen und überhaupt nach bedeutenden Temperaturschwankungen aufzutreten pflege. f) Selbst an den verrufenen Westküsten von Afrika, in Senegambien, Sierra Leona u. s. w., wo fast alle Europäer an bösartiger Ruhr zu Grunde gehen, kommt dieselbe nur vor bei starken Schwankungen der Temperatur. Aus diesen Thatsachen geht also hervor, dafs die Ruhr in wärmeren Gegenden zwar häufig neben und mit den Malariafiebern vorkommt, aber nicht von der Malaria, sondern von Witterungseinflüssen, besonders von grellen Veränderungen in der Temperatur der Atmosphäre erzeugt wird. Von einer eigentlichen Malariaruhr kann darum auch keine Rede sein und nach »genauer Prüfung der Beschreibungen, welche von der entzündlichen und der Malariaruhr als zwei verschiedenen Formen gegeben werden, kommt man zur Ueberzeugung, dafs die Natur solche scharf ge-

Mephitischer Ursprang.

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sonderte Krankheitsbilder nicht aufstellt«. Auch hat sich die Bemerkung von B i r d durchaus nicht bestätigt, dafs die Malariaruhr vorzüglich die Darmfollikel, die entzündliche Ruhr hingegen die Schleimhautfläche ergreife. Eine andere Frage ist es aber, ob die Ruhr mit den Krankheitszuständen sich verbinde, welche aus der Einwirkung der Malaria hervorgehen, und dadurch besondere Gestaltungen erleide? Bei der grofsen Combinationsfähigkeit derselben kann dieses keinem Zweifel unterliegen. Wir sehen sie in allen Malariagegenden bei Individuen, auf welche die Sumpfausdünstung bereits in verschiedenem Grade und in verschiedener Dauer eingewirkt und gewisse Veränderungen im Organismus, besonders in der Blutmasse gemacht hat. Die Beschaffenheit der Individuen wird sich auch in der Gestaltung der Ruhr immer geltend machen. Man kann darum wohl als Malariaruhr jene Fälle bezeichn e n , wo sich die Ruhr mit einer wirklichen Malariakrankheit auf irgend eine Weise verbindet oder im Individuum schon die Anlage zu einer solchen ausgebildet ist. Diese Malariaruhr ist aber niemals die gleiche, weil eben die Malariakrankheiten verschieden sind, je nachdem ein verschiedener Grad von Wärme dabei mitwirkte, je nachdem mehr oder weniger faule Emanationen des Bodens und des Wassers bei dem Miasma waren, je nachdem dasselbe länger oder stärker eingewirkt hatte u. s. w. (S. unten.)

III. Mephitischer Ursprung. Vielfaltig hat man in Kriegszeiten, besonders bei den gröfseren Heeren und in den L a g e r n , eben so in Gefängnissen, in Spitälern, Gebärhäusern, auf Schiffen etc., kurz an solchen Orten, wo eine durch Anhäufung von Menschen in verhältnifsmäfsig engem Raum und durch Unreinlichkeit aller A r t verdorbene Luft herrscht, Ruhren beobachtet, die

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Aetiologie der Bohr.

sich durch eine gewisse Gestaltung von den andern unterschieden und gewöhnlich von der Mephitis hergeleitet wurden. Die marschirenden oder bivouakirenden Truppen sind zu viel an freier Luft, als dafs sich bei ihnen eine Mephitis bilden könnte. So lange sie nicht in ein viel wärmeres Klima kommen, findet sich bei ihnen die gewöhnliche atmosphärische Ruhr von denselben Ursachen und Gestaltungen , wie bei andern Menschen. Wirkt K ä l t e , Nässe( schlechte, unregelmäfsige und unvollständige Ernährung längere Zeit bei ihnen ein, so ist bei ihnen öfter eine Diarrhöe fast epidemisch, die sich mit einigen Ruhrsymptomen gerne verbindet, Fieber, Abmagerung und Follikularverschwärung nach sich zieht und wegen ihrer Aehnlichkeit mit der chronischen Ruhr dieser gleichgestellt wird. Von dieser Art war die sogenannte Ruhr bei der grofsen französischen Armee auf ihrem Rückzug aus Rufsland und der gefangenen und zersprengten, von den Kosaken gehetzten Franzosen nach der Schlacht bei Leipzig. Wenn sich aber die Soldaten in Lagern, in den Kasematten belagerter Festungen, auf Schiffen, in überfüllten Quartieren etc. zusammendrängen und nicht für reine Luft und Reinlichkeit überhaupt gesorgt wird, dann athmen sie eine mephitische Luft und bekommen gern Ruhr auf mephitischem Boden. Das Aehnliche ist der Fall in überfüllten, überhaupt in nicht gut eingerichteten und gehaltenen Spitälern und Gebärhäusern, in den schlechten, überfüllten und unreinen Wohnungen der Armen und Proletarier, in engen Strafsen grofser Städte u. s. w. Die Einathmung mephitischer Luft wirkt in doppelter Beziehung schädlich auf die Menschen. Sie enthält bekanntlich zu wenig Sauerstoff und zu viel Kohlensäure, so dafs die normale Blutumwandlung in den Lungen, die Decarbonisation des Blutes, nicht gehörig vor sich g e h t , anderntheils aber enthält sie

Mephitischer ünpning.

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viele faulige Emanationen, welche aufgesaugt von den Lungen den Keim zu weiterer Verderbnifs ins Blut bringen. Die Folgerungen hieraus liegen auf der Hand. Es giebt eben auch auf diesem Wege in erster Linie eine Anhäufung von Kohlenstoff im Blute, analog wie bei der Einwirkung der Hitze, und in zweiter Linie die Neigung zu fauliger Verderbnifs in demselben, und somit die Disposition zu fauliger Ruhr. Allein die Erfahrung rechtfertigt nicht ganz diese Schlufsfolge. Das kirschrothe Blut der Tropenländer und das schwärzliche scorbutische des Nordens deuten schon einen Unterschied an, der noch nicht durch vergleichende chemische Untersuchungen nachgewiesen ist, und es sind weit mehr die T y p h e n , besonders der exanthematische T y p h u s , welche auf diesem letzteren Boden aufsprossen, als die Kuhren. Das gleichzeitige Vorkommen beider unter diesen Umständen, die häufige gegenseitige Verbindung beider etc. zeigen wohl, dafs ihre ursächliche Begründung nahe aneinander streift und gewifs nur kleinere Vorgänge den Ausschlag fiir die eine oder andere Krankheit geben. Wenn wir auf die Epidemieen unserer Abdominaltyphoide den Blick werfen, begegnen wir wieder ganz ähnlichen Thatsachen. Es haben viele Beobachter mit mir im Herbste im einen Dorf Ruhrepidemie, im nahe gelegenen andern Typhoidepidemie wahrgenommen, ohne dafs man im Stande gewesen w ä r e , die bestimmteren Ursachen für die eine oder für die andere zu ermitteln. W i r wollen sehen, ob nicht die bis jetzt vorliegenden Beobachtungen einiges Licht in diese Verhältnisse werfen. Sie zeigen uns fürerst, dafs zur Entstehung der Typhoidepidemieen gröfstentheils eine Mephitis, oder ein Contag mitwirkt, was weiter auszuführen hier nicht der Ort ist, die Ruhrepidemieen aber häufiger ohne Mephitis aus der Wärmeeinwirkung hervorgehen. Wir haben darum die Ruhr auf dem mephitischen Boden, wenn dieser an mehr südlich gelegenen

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Aetiologie der Bäht.

Orten oder in heifsen Sommern sich bildet, und auch nur nach wärmeren Sommern sehen wir das Abdominaltyphoïd und Ruhr gleichzeitig. Obschon die Ruhr aus jeder Quelle unter gewissen Umständen contagios werden kann (s. unten), so geschieht dies doch am häufigsten bei den Ruhren auf mephitischem Boden, und die Epidemieen in Kasernen, Spitälern u. s. w. beginnen daher oft damit, dafs einzelne Ruhrfalle hereinkommen, von welchen aus sich dann durch Infection die Krankheit weiter verbreitet. Beim Abdominaltyphoïd auf dem Lande habe ich beobachtet, dafs Personen aus dem benachbarten Ruhrdorf in das Typhoïddorf die Krankheit herüberbrachten, hier ihre Familie inficirten, die dann wieder ihren Nachbarn und Verwandten sie mittheilte. Dieser contagiösen Verbreitung ist auch der Umstand beizumessen, dafs die Epidemieen noch im Winter und Frühjahr sich fortsetzen, während die Epidemieen atmosphärischen Ursprungs im Winter aufhören. Endlich müssen aber bei der nahen Verwandtschaft der Grundursachen der Ruhr und der Typhoïde kleine, noch unerforschte Dinge Veranlassung geben, dafs sich bei der durch diese Grundursachen erzéugten Disposition im einen Falle Ruhr, im andern Typhoid ausbildet. Ich habe auf dem Lande Epidemieen gesehen, wo in dem einen Hause Ruhr, im andern Abdominaltyphoïd war und sich durchaus nicht ermitteln liefs, dafs besondere Ursachen bei den Einen oder Andern eingewirkt hätten. Vielleicht hatten die Ruhrkranken eine stärkere Empfänglichkeit für atmosphärische Eindrücke, oder wirkte etwas mehr Wärme auf sie, oder genossen sie Speisen und Getränke, die mehr auf den Dickdarm wirkten u. s. w. Mit der Gestaltung der Ruhr auf dem mephitischen oder Typhoïdboden geht es übrigens ganz analog, wie mit derjenigen auf dem Malariaboden. Wenn eine wenig intensive, nicht bösartige Mephitis nicht lange auf sonst gesunde

Cootagiöaer Unprang.

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Constitutionen gewirkt bat und nun die Rohr zum Ausbruch kommt, so unterscheidet sie sich gar nicht von der Ruhr atmosphärischen Ursprungs. Ist aber die Blutmasse, sei es durch die Mephitis allein, sei es durch ein schon ausgebrochenes Typhoid, bereits verändert, so wird sich dies auch in der Gestalt der Ruhr geltend machen. (S. unter Arten der Ruhr.)

IV.

Contagiöser Ursprung.

Hier begegnen wir einer grofsen Verschiedenheit der Meinungen und vielen scheinbaren Widersprüchen in den vorliegenden Beobachtungen. Die Beobachtungen zeigen eine Reihe von Thatsachen, die eine unmittelbare Uebertragung der Krankheit auf Gesunde nicht bezweifeln lassen, und jede andere Erklärung, um nur nicht eine Contagion anzuerkennen, ganz unstatthaft machen ; denn eine Uebertragung ist nur durch ein Contag möglich. Bei manchen Epidemieen der Ruhr konnte nachgewiesen werden, dafs sich die Krankheit zuerst in einer Familie zeigte, dann auf diejenigen Personen überging, welche mit diesen ersten Kranken in Berührung kamen und so zweite und folgende Herde bildete, bis zur epidemischen Verbreitung. Alltäglich schier sind die Fälle, wo die Krankheit erst ein Familienglied ergreift, dann auch andere, und oft alle Glieder der Familie. Ein sehr schlagendes Beispiel von Uebertragung der Ruhr beobachteten wir im Jahr 1853 hier im Inselspital. Während in Bern und der weiteren Umgegend gar keine Ruhren sich zeigten, wurde eine im Elend herumziehende Mutter mit zwei Kindern an Ruhr leidend hereingebracht. Die Kinder wurden in ein Zimmer gelegt, wo noch 10 andere an chirurgischen Krankheiten und Skrofeln leidende Kinder sich befanden. 7 von diesen letzteren und eine Wärterin 2

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Attiolagie der Bahr.

bekämen die Ruhr. Von der in ein anderes Zimmer mit inneren Krankheiten verlegten Mutter verbreitete sich hingegen die Ruhr nicht weiter. Anderen Theils fehlt es aber auch wieder nicht an einer grofeen Menge von Fällen, in welchen sich die Krankheit durchaus nicht übertragbar zeigte. Nicht allein war dieses der Fall bei der sporadischen Ruhr, sondern auch bei Epidemieen zeigte sich die Verbreitung im Ganzen in einer Weise, dafs sie nicht auf Uebertragung zurückgeführt werden konnte. Bei solchen Epidemieen war es aber doch selten, dafs man einaelne Uebertragungen ebenfalls läugnen konnte. Die Epidemie in Bern im Jahr 1855 verbreitete sich mit einer so rapiden Schnelligkeit, dafs man offenbar ihre allgemeine Verbreitung atmosphärischen Einwirkungen Buschreiben mufste. Doch kamen anch in einzelnen Familien und Häusern Fälle genug vor, wo eine Uebertragung unverkennbar war. Es erkrankten fremde Personen mehrfach in Bern, die von Orten kamen, wo keine Ruhr existirte, aber hier in Krankenlooalen gewesen waren. Von vielen Familien erkrankte aber anch nur ein Glied and die anderen blieben alle gesund, obschon sie Tag und Nacht dieselbe Stube, ja sogar das Bett mit dem Kranken theilten. Wir stofsen hier also auf die zwei scheinbar sich widersprechenden Reihen von Thatsachen, welche auch bei der Cholera zum Theil vorliegen und hier wie dort die Aerzte in die streitenden Heere der Contagionisten und Nichtcontagionisten gespalten haben. Nehmen wir den Satz für ausgemacht an, dafs es überhaupt kein absolutes Contag gebe, d. h. ein solchcs, welches stets und unfehlbar den Körper ansteckt, dem es einverleibt wurde, wie sich dies bei allen unläugbar ansteckenden Krankheiten, bei den Pocken, Masern u. s. w. leicht nachweisen läfst, so fallen eine Menge von Einwürfen

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Coattgiöter Onprang.

zusammen, welche man gegen die Contagiosität der Rohr erhoben hat. Wir müssen dann anerkennen, dafs ein Fall von constatirter Uehertragung derselben schier mehr beweist, als hundert Fälle von nicht erfolgter Ansteckung, und also eine relative, von gewissen Umständen abhängige Ansteckungsfähigkeit derselben zugestanden werden mufs. Damit fällt der schöne, mit so gewichtiger Miene ausgesprochene Satz zusammen, dafs eine Krankheit doch nicht zugleich ansteckend und nicht ansteckend sein könne. Diese relative Contagiosität mufs auch hier, wie überall bei ansteckenden Krankheiten, von der Stärke des Contags, von der Quantität und Dauer seiner Einwirkung, von der Empfänglichkeit der Menschen u. s. w. abhängen. Die Kraft des Ruhrcontags können wir nur aus seinen Wirkungen beurtheilen und diese auch nur ermitteln aus der relativen Zahl der spontanen Ansteckungen; — denn wir kennen dieses Contag noch nicht an sich, noch nicht seinen vorzugsweisen Träger oder den Absonderungsstoff, welcher es hauptsächlich enthält etc., und sind daher nicht im Stande, durch Experimente über seine Natur uns zu unterrichten. Lächerlich ist es aber darum, das Contag zu läugnen, weil wir es nicht als einen besonderen Stoff nachweisen können. Offenbar ist das Ruhrcontag bei unseren gewöhnlichen Ruhrepidemieen im Allgemeinen schwächer, als bei vielen anderen Krankheiten, wie z. B. bei den acuten Hautausschlägen, bei der Pest u. s. w., weil nicht so viele Menschen davon ergriffen werden und überhaupt die Zahl der beobachteten directen Uebertragungen gewöhnlich nicht grofs ist. Bei den Epidemieen in wärmeren Ländern ist die Zahl der Erkrankungen bei den Nichtakklimatisirten immer sehr viel gröfser. Dies hat aber seinen Grund in der bereits begründeten Disposition, und die Uebertragungen beruhen mehr auf der Empfänglichkeit dieser Individuen, als auf einer stärkeren Kraft des Con2*

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Aetiologie der Bahr.

tags; — denn man sieht die Uebertragangen bei Akklimatisirten doch nicht in gröiserer Zahl, als bei unseren Epidemieen. Bei jeder Uebertragung haben wir übrigens immer zwei Factoren, nämlich die Kraft des Contags und die Empfänglichkeit des Individuums, und es läfst sich nicht ermitteln, was wir dabei dem Einen oder dem Anderen zuschreiben dürfen. Am häufigsten sehen wir die Uebertragungen der Ruhr in sogenannten Krankheitsnestern oder Krankheitsherden, wo mehrere Kranke in einem engen, ungelüfiteten, unreinen Raum zusammenliegen und die Emanationen ihres Athems und ihrer Se- und Excremente zusammengehalten werden, sowie überhaupt in mephitischen Räumen. Es ist hier das Contag hauptsächlich in der Luft enthalten; — denn es werden in solchen Räumen auch Personen angesteckt, die mit den Kranken selbst nicht in unmittelbare Berührung kamen. Dies schliefst jedoch nicht aus, dafs fixe Secrete durch unmittelbare und mittelbare Berührung und ebenso aufserhalb des Krankenraums durch ihre Emanation anstecken. Immerhin aber sind die mittelbaren Ansteckungen in der Entfernung von den Kranken selten, und man klagt in dieser Beziehung hauptsächlich die Ausdünstung der Abtritte an, in welchen sich die Stuhlabgänge Ruhrkranker befinden. Es sprechen manche Beobachtungen sehr für die Schädlichkeit der Abtritte, Nachtstühle etc., und sie werden unterstüzt durch die Thatsache, dafs überhaupt bei ansteckenden Krankheiten diejenigen Secrete am meisten Contag enthalten, welche aus dem Organ kommen, in welchem sich die Krankheit localisirt und ihre Producte gemacht hat. Aufserdem aber geht aus diesen Vorgängen hervor, dafs das flüchtige Contag nur wirksam sich zeigt, wenn es in einer gewissen Menge in der Luft enthalten ist. Durch Verdünnung verliert ein jedes flüchtige wie fixe Contag seine Kraft, wie z. B. die mit Wasser ver-

Contagiöser Ursprung.

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dünnte Blatternlymphe, und obwohl Contagien sich denken lassen, welche gleichsam als Atome in einer Flüssigkeit oder der Luft vertheilt noch ansteckend sein sollen, so wird doch nicht diese Hypothese von der Erfahrung unterstützt Bei der Ruhr haben wir noch Beispiele der Uebertragung aus der Krankenstube auf andere Räume des Hauses, auch wohl noch von einem H a u s auf das andere in engen, schlecht gelüfteten Strafsen; allein es ist sehr zu bezweifeln, dafs ihr Contag, der freien Atmosphäre übergeben , noch in einiger Entfernung ansteckend sein soll. Die wenigen dafür angeführten Fälle sind nicht beweisend, weil sie auch auf andere Weise erklärt werden können. Die Dauer der Einwirkung einer L u f t , die Contag in gewisser Menge enthält, ist ebenfalls bei der Ansteckung von grofser Wichtigkeit. In den Krankheitsnestern, Spitälern u. s. w. werden gewöhnlich diejenigen Personen angesteckt, welche stets, T a g und Nacht, um die Kranken sind und mit der Pflege derselben sich beschäftigen, hingegen nur ausnahmsweise solche, die kürzere Zeit in der Atmosphäre der Kranken sich befanden, nur momentan sie berührten und dann wieder in der freien Luft sich bewegten. Wahrscheinlich wird aber auch bei den Wartpersonen eine gröfsere Empfänglichkeit für das Contag bewirkt durch das Nachtwachen und die sonstigen Anstrengungen. Es läfst sich denken, dafs durch die längere Einathmung einer L u f t , die viel weniger Contag enthält, dasselbe Resultat erzielt wird, wie durch kürzere Einathmung einer mit viel mehr Contag geschwängerten Luft. Man sieht wenigstens Uebertragung auf Personen, die in demselben Hause wohnen , aber nicht auf solche, die nur vorübergehend ein Ruhrhaus besuchen. Die Ruhr gehört nicht zu den Krankheiten, die, wie die Pocken und ähnliche, durch das einmal vorhandene Contag sich immer fortpflanzen. Ihre Contagion erlischt

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¿Ätiologie der Bahr.

gewöhnlich bei kaltem Wstter and taucht wieder auf bei netien Epidemieen. Die spontane Genese des Contags mufs unter den Umständen gesucht werden, wo wir am öftesten die Contagion wahrnehmen, und auch bei anderen ursprünglich atmosphärischen (Grippe), paludischen (Cholera) und mephitischen (typhoiden) Krankheiten die Entstehung eines Contags beobachtet wird. Die Kranken erzeugen um sich eine Mephitis, die nicht allein ihre Krankheit verschlimmert, sondern aus welcher auch das Contag gebildet wird. Da£s dies vorzugsweise bei bösartigen und stark ausgebildeten Ruhren der Fall sei, ist oft behauptet worden und hat auch viel Wahrscheinlichkeit. Gewifs aber auch bildet sich bei gewöhnlichen Ruhreji ein Contag unter Umständen, welche die Ruhrmephitis begünstigen, steigern und condensiren. t Die Ansteckung bei der Ruhr wird am meisten relativ durch den verschiedenen Grad der Empfänglichkeit der Individuen für das Contag, welche, abgesehen von den constitutionellen Verhältnissen, durch allgemein wirkende Einflüsse bei der ganzen Bevölkerung gesteigert oder vermindert , also die epidemische Verbreitung der Krankheit dadurch erleichtert oder beschränkt werden kann, aber auch bei einzelnen Individuen durch gewisse Schädlichkeiten erhöht wird. Die Contagionen anderer, ursprünglich aus atmosphärischen, paludischen oder mephitischen Ursachen entsprossener Krankheiten finden immer einen empfänglicheren Boden unter den Bedingnissen ihres ersten Ursprungs. So z. B. die Krippe bei rauher Witterung, die Cholera an sumpfigen Orten, die Typhoide in mephitischen Räumen. Bei der Ruhr sehen wir auch die allgemein gröfsere Empfänglichkeit für das Contag bei der Hitze und an Orten, wo die Lufit durch Athmung vieler Menschen schon zum Theil verbraucht ist, namentlich in den schlecht gelüfteten

Conttgiöser Ursprung.

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Wohnungen and Quartieren gröfserer Städte. Viele andere Contagionen pflanzen sich aber selbstständig fort auch bei atmosphärischen Verhältnissen und in Localitäten, die nicht zur Bedingung ihres ersten Ursprungs gehören. Dies ist aber bei der Ruhr nur ausnahmsweise der Fall. Wir sehen die Epidemieen derselben, selbst wenn viele Ansteckungen bei ihrer Dauer vorkamen, oder ihre ganze Verbreitung durch fortgesetzte Uebertragung sich nachweisen liefs, doch in der kühleren Jahreszeit allmälig erlöschen und nur in Spitälern und mephitischen Orten bisweilen auch in den kälteren Jahreszeiten sich fortpflanzen. Wir müssen daraus schliefsen, dais das Ruhrcontag zur Ansteckung immer einer Disposition bedarf und nicht mächtig genug ist, um auch ohne diese die Krankheit zu Stande zu bringen. Es liegt auf der Hand, dafs durch diesen Umstand der Beweis ihrer Ansteckung sehr erschwert wird, und darum die Meinungen der Aerzte über dieselbe sehr divergiren können, weil eben viele Fälle von Uebertragung doch noch die Erklärung aus der Beschaffenheit der Witterung etc. zulassen. Dafs die Witterung auf den Gang aller Epidemieen, welchen Ursprung sie auch haben mögen, und besonders auch auf die rein contagiösen Epidemieen, wie z. B. der Blattern, einen grofsen Einflufs ausübt und wir dadurch eine Verstärkung und Verminderung ihrer Verbreitung beobachten, ist bekannt. Bei Ruhrepidemieen ist dies ebenfalls bemerkt worden, dafs ihre Verbreitung durch die ursprünglichen Ursachen sowohl, als durch die Contagion sich nach der Witterung richtete. Schwüles, trübes, windstilles Wetter ist der Entwickelung aller Epidemieen und auch der Ruhrepidemieen günstiger, als trockenes, luftiges, heiteres Wetter. Es ist leicht möglich, dafs dieses lediglich seinen Grund in der stärkeren Luftströmung hat, wo-

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Aetiologie der Bahr.

darch die Wohnungen, Strafsen und Orte besser gelüftet werden. Die Schwäche der Ruhrcontagion nnd die za ihrer Fortpflanzung nöthige Empfänglichkeit und Disposition zeigt sich noch in mehreren Umständen. Sie bleibt und wiederholt sich nicht an einem Orte, bis gleichsam die ganze Bevölkerung durchgeseucht ist; — sie schreitet nicht von Ort zu Ort den Bewegungen der Volksmasse durch den Verkehr folgend, den Handelsstrafsen nnd Handelsplätzen vorzüglich nachgehend, die Truppenzüge begleitend u. s. w. Obschon es zu den grofsen Seltenheiten gehört, dafs ein Individuum bei einer Ruhrepidemie zum zweitenmal von der Krankheit ergriffen wird, so besitzen doch die von einer Epidemie einmal ergriffen gewesenen keineswegs eine vollständige Immunität bei folgenden Epidemieen. Ich selbst habe mehrere Beispiele einer solchen Wiederholung der Krankheit gesehen. Allein es ist noch nicht ermittelt, ob nicht durch die einmalige Krankheit ein gewisser Grad von Immunität erzeugt wird und diese sich durch Jahre hindurch wieder mindert, wie dies bei den Blattern der Fall ist. Die individuelle Empfänglichkeit für das Ruhrcontag, sei sie Constitutionen oder temporär ausgebildet, verhält sich ganz gleich mit der Empfänglichkeit für die Ruhr aus anderem Ursprung. Auch findet das Contag besseren Boden, wenn bereits andere Dinge, die gemeinhin die Contagionen unterstützen, wie Furcht, Excedenzen in der Lebensweise u. dgl., vorher einwirkten, und besonders wenn Darmfunctionsstörungen bereits vorhanden sind.

V.

Ursachen der Ruhr bei einzelnen Individuen.

Die Ruhr verschont kein Alter, kein Geschlecht, keine Klasse der Menschen. Wenn Einige behaupten, Kinder in

Ursachen der Rohr bei einzelnen Individuen.

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den ersten Lebensjahren würden ohne Vergleich seltener befallen, als ältere Kinder nnd Erwachsene, so sprechen Andere wieder gerade das Entgegengesetzte aus. Unseren Beobachtungen zufolge müssen wir uns entschieden dahin aussprechen, dafs Kinder überhaupt häufiger als Erwachsene von der Ruhr befallen werden und auch eine gröfsere Empfänglichkeit für das Ruhrcontag haben. Das oben angeführte Beispiel von Ruhrübertragung im hiesigen Spital spricht deutlich für das Letztere. Aufserdem sah ich aber auch mehrfach, dafs in einer Familie zuerst ein oder mehrere Kinder erkrankten und dann erst die Erwachsenen ergriffen wurden. Dr. B e l l m o n t sagt in seinen Bemerkungen über die Ruhrepidemie in Bern 1855 : „Die Prädisposition der Kinder für die Ruhr war in dieser Epidemie eine schreckenerregende. Unter den 430 Personen, welche laut den Todtenregistern der Stadt während der Epidemie an der Ruhr gestorben sind, befinden sich 249 Kinder unter 17 Jahren. Von den 64 Ruhrpatienten des Herrn S c h ü p p a c h in Belp in der Nähe der Stadt waren 24 Kinder unter 10 Jahren.« (Schweizerische Monatsschrift für praktische Medicin, Jan. 1856, S. 9.) Die Todtenzahl der Kinder in Bern entspricht zwar nicht der Krankenzahl derselben im Verhältnifs zu den Erwachsenen, weil eben verhältnifsmäfsig bei den Kindern die Todesfalle viel häufiger waren; allein immerhin war doch auch die Zahl der Erkrankungen bei ihnen viel gröfser, als bei den Erwachsenen. Es wird übrigens auch theoretisch die Ansicht der gröfseren Empfänglichkeit der Kinder noch unterstützt durch den Umstand, dafs sie überhaupt mehr Neigung zu Durchfallen haben und auch häufiger an croupösen Krankheitsprocessen in anderen Organen leiden. Das weibliche Geschlecht soll häufiger befallen werden, als das männliche, und wieder wurde das Umgekehrte angegeben. Man kann darum nur sagen, es hat keine Altersperiode eine Exemtion,

Aetiolegle der Bnhr. kein Geschlecht einen besonderen Vorzog, und wenn statistische Zahlen bei manchen Epidemieen aufgenommen worden, so zeigen eben die Widersprüche in denselben, dafs nur eine noch fehlende grofse und aligemeine Statistik hier Wahrheit geben kann, aber eine Wahrheit, womit nichts für die bessere Kenntnifs der Krankheit gewonnen wäre. Dafs in der Regel die Proletarier am häufigsten und heftigsten ergriffen werden, und somit hier wie in vielen andern Dingen gleichsam die Zeche bezahlen müssen, ist bei der Ruhr wie bei allen anderen epidemischen Krankheiten gleich. Nur ausnahmsweise findet sich auch das Entgegengesetzte, nämlich dafs die meisten und heftigsten Ruhrfälle in der reicheren nnd höheren Menschenklasse vorkommen. Aus den wärmeren Sclavenstaaten erschallt öfter die Klage, dafs die Neger so häufig ergriffen und hingerafft würden, während man von Cuba, Afrika nnd andern von der schwarzen Rafe bewohnten Ländern nichts von häufigen und mörderischen Ruhrseuchen vernimmt Es scheint mir darum bei den Negersclaven nicht die Ra