Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Ostgermanen

Unveränderter Nachdruck 1969 von "Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Ostgerma

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Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Ostgermanen

Table of contents :
Einleitung 1
1. Quellen 1
2. Der Name Germanen 40
3. Allgemeine staatliche, soziale und wirtschaftliche Zustände der Germanen seit dem Beginn der geschichtlichen Zeit 45
4. Germanische Stammesbildungen 80
I. Die Bastarnen, Skiren und Turkilingen 86
II. Die Wandalen 100
III. Die Rugier 117
IV. Die Ostwarnen 127
V. Die Burgunder 129
VI. Die Goten 195
A. Die Goten vor dem Einbruch der Hunnen 195
B. Die Ostgoten vom Einbruch der Hunnen bis zur Eroberung Italiens 249
C. Die Begründung des germanischen Königtums in Italien 301
D. Das Reich Theoderichs in Italien 337
Anhang : Die Krimgoten 398
E. Die Westgoten bis zur Begründung des tolosanischen Reiches 400
F. Das tolosanische Reich der Westgoten 462
VII. Die Gepiden, Taifalen, Heruler 529
VIII. Die Langobarden 565
Nachträge und Berichtigungen 627
Register 649
Die Karten: "Römische Provinzeinteilung am Ende des 4. Jahrhunderts" und "Umgebung von Ravenna" sind am Schlüsse eingeheftet.

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GESCHICHTE DER DEUTSCHEN STÄMME BIS ZUM AUSGANG DER VÖLKERWANDERUNG

DIE OSTGERMANEN VON

LUDWIG SCHMIDT

VERLAG C.H.BECK MÜNCHEN

Unveränderter Nachdruck 1969 von Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Ostgermanen. Von Ludwig Schmidt. Verbesserter Neudruck der zweiten, völlig neu bearbeiteten Auflage. München 1941

Umschiagentwurf von Rudolf Huber-Wilkoff, München © C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck) München 1933 Druck: Pera-Druck Hanns Haug, München-Gräfelfing 02213. Printed in Germany

VORWORT Die Geschichte der Ostgermanen war seit einiger Zeit vergriffen. Da eine Neubearbeitung augenblicklich unmöglich ist, hat sich der Verlag entschlossen, einen photomechanischen Neudruck herzustellen, der abge­ sehen von den Umgestaltungen auf S. 35 f. und 39 f. nur geringfügige Text­ änderungen bringt. Die Darstellung auf den Stand der heutigen Forschung zu bringen, insbesondere das neueste einschlägige Schrifttum zu Worte kommen zu lassen, sind die Nachträge bestimmt, zu denen auch die Neu­ bearbeitung meiner 1901 in 1. Aufl. veröffentlichten „Geschichte der Wan­ dalen“ zu rechnen ist. Sie muß wegen ihres größeren Umfanges ein Buch für sich bleiben und wird im gleichen Verlag erscheinen, sobald es die Verhältnisse gestatten. Herrn Prof. Zeiß, der die Neugestaltung des Textes der obengenannten Seiten vorgenommen und auch sonst die Arbeit durch seine wertvolle Mit­ wirkung gefördert hat, sei mein besonderer Dank ausgesprochen. Dresden, im Juli 1941 Ludwig Schmidt

VORWORT ZUM NACHDRUCK 1969 Die im Vorwort erwähnte Neubearbeitung der „Geschichte der Wandalen“ erschien 1942 als „zweite, umgearbeitete Auflage“ . Sie ist lieferbar. München, September 1969 C . H . B e c k ’ sehe V e r l a g s b u c h h a n d l u n g

INHALT E in le it u n g

.................

1

1. Q u e l l e n ..................................................................................................................

1

2. Der Name G e r m a n e n ...............................................................................................40 3. Allgemeine staatliche, soziale und wirtschaftliche Zustände der Germanen seit dem Beginn der geschichtlichen Z e i t ..........................................................45 4. Germanische Stammesbildungen

80

I. D ie B a s t a r n e n , S k ir e n u n d T u r k ilin g e n II.

86

D ie W a n d a l e n ....................................................................................................... 100

III. D ie

R u g i e r ................................................................................................................. 117

IV. D ie

O stw a rn en

.................................................................................................... 127

D ie B u r g u n d e r

129

V. VI.

D ie G o t e n ................................................................................................................. 195 A. Die Goten vor dem Einbruch der H u n n e n ................................................. 195 B. Die Ostgoten vom Einbruch der Hunnen bis zur Eroberung Italiens C. DieBegründung

. 249

desgermanischen Königtums in I t a lie n ............................. 301

D. Das Reich Theoderichs in Italien

. 337

Anhang : Die K r i m g o t e n .....................................................................................398 E. Die Westgoten bis zur Begründung des tolosanischen R eich es................ 400 F. Das tolosanische Reich der W e s t g o t e n ............................................................462 V II. D ie

G e p id e n , T a if a le n , H e r u le r

................................................................529

V III. D ie L a n g o b a r d e n ................................................................................................ 565 N a c h t r ä g e u n d B e r ic h t ig u n g e n R e g is t e r

627

.................................................................................................................................. 649

D ie K arten : ,,Römische Provinzeinteilung am Ende des 4. Jahrhunderts" und „ Umgebung von Ravenna “ sind am Schlüsse eingeheftet

EINLEITUNG 1. QUELLEN Wohl kaum eine Kulturnation ist in der Lage, ihre Entwicklung an der Hand schriftlicher Aufzeichnungen so weit zurückverfolgen zu kön­ nen wie die germanische; wir verdanken das dem glücklichen Umstande, daß sich diese unter den Augen und, was noch wichtiger, unter steter unmittelbarer Bedrohung der griechisch-römischen Welt vollzog. Die hier­ durch veranlaßten Beobachtungen sind um so wertvoller, als eie im all­ gemeinen sich durch Nüchternheit und Objektivität der Auffassung aus­ zeichnen. Dies gilt vor allem von den römischen Berichterstattern, wäh­ rend die griechische Literatur his in die Spätzeit hinein unter dem Banne einer idealisierenden Anschauung von den Lebensgewohnheiten der nörd­ lichen Völker, eines festen ethnographischen Schemas steht, das mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht im Einklang sich befindet.1 Leider sind wichtige Überlieferungen, die viele Punkte der ältesten deutschen Ge­ schichte in helles Licht setzen würden, zugrunde gegangen; aber schon das Erhaltene bietet einen reichen Stoff und ist geeignet, unsere Kennt­ nis nicht unwesentlich zu fördern und zu bereichern.1 2 Die ältesten Nachrichten3 über den germanischen Norden sind den antiken Kulturvölkern durch den Handel zugegangen. Dieser erstreckte sich vor allem auf den Austausch von Bernstein (aus der Nordsee) gegen die im Süden gewonnenen Metalle. Aber er war zunächst in der Haupt­ sache nur ein indirekter, bewegte sich von Volk zu Volk, entlang den Läufen der großen Ströme, und konnte so keine Quelle zuverlässigen geo­ graphischen Wissens bilden. Ob schon in den h o m e r i s c h e n G e d i c h ­ t e n , der Erzählung von dem Lästrygonenland mit den kurzen Sommer­ nächten, von der Insel Aiaie, die im Bereich des fortwährenden Tages liege, und von den Kimmeriern, die beständig in Nacht und Nebel le­ ben, auf eine Kenntnis der Polargegenden hinweisen, ist streitig, auch 1 Vgl. E. N o r d e n , Die germanische Urgeschichte in Tacitus’ Germania (1920— 22), passim. E. M a y e r , Das antike Idealbild von den Naturvölkern, in Zeitschrift f. deutsches Altertum 62 (1925) S. 226 ff. F r a h m in Klio 23 (1929) S. 182 ff. 2 Vgl. im allgemeinen Ch ri st , Geschichte der griechischen Litteratur (1912 ff.). Sc h an z , Geschichte der römischen Literatur (1907 ff.). K r u m b a c h e r , Gesch. d. byzantin. Literatur (2. Aufl. 1897). M a n i t i u s , Geschichte d. latein. Literatur des Mittelalters I (1911). W a t t e n b a c h , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter I (7. Aufl. 1904). C a pe l l e , Das alte Germanien. Die Nachrichten der griech. u. röm. Schriftsteller (1929). 8 Vgl. die Zusammenstellung von H o f f , Die Kenntnis Germaniens im Altertum (1890) nud von H. P h i l i p p in dessen Buch Tacitus’ Germania (1926).

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Einleitung

recht wenig wahrscheinlich; die Annahme,1 daß hier der Bericht eines phönizischen Seefahrers, der bis ins Eismeer vorgedrungen sei, zugrunde liege, muß entschieden abgelehnt werden. Dagegen weist auf eine wenn auch nur dunkle Kunde des Nordens die schon bei H e s i o d (um 700 V . Chr.) erscheinende Sage von den in Pappeln verwandelten Schwestern Phaetons, deren Tränen als Bernstein in den Eridanus1 2 fließen; die Er­ kenntnis der Natur des Bernsteins als eines Baumharzes kann nur auf einer Kunde aus dem Ursprungsgebiete beruhen. Die ersten Importeure des Bernsteins waren die Phönizier, die ihn zufolge der Odyssee nach Sy­ rien brachten; aber als kluge Kaufleute haben sie, was sie etwa über die Lage und die Beschaffenheit der Heimat dieses Produktes erfuhren, mit dem Schleier des Geheimnisses umgeben. Die Aufhellung des herrschenden Dunkels wurde vorbereitet durch die Gründung der griechischen Kolo­ nialstädte am Mittelmeere, besonders von Massalia (um 600 v. Chr.). Dem bisher fast ausschließlich betriebenen Handel über Land trat in immer steigendem Maße zur Seite die Benutzung des Seeweges, der auch der An­ knüpfung direkter Beziehungen zu den nordischen Völkern den Boden be­ reitete. Aus der Zeit um 540 v. Chr. stammt der Periplus eines unbekannten Massaliensers, der die Fahrt von Britannien über die französisch-spa­ nische Küste bis nach Massalia, mit Abstechern ins Innere, für die Strecke Tartessus— Massalia auf Grund eigener Anschauung, für die anderen Ge­ biete nach den Aussagen der Tartessier und der Bewohner der Bretagne beschrieb. Dieses Werk wurde benutzt von dem griechischen Historiker E p h o r u s (4. Jahrh.) und (durch dessen Vermittlung?) von dem rö­ mischen Dichter Rufius Festus A v i e n u s (Ende des 4. Jahrh. n. Chr.), dessen Ora maritima zum Teil noch erhalten ist. Es würde die ältesten ge­ naueren literarischen Zeugnisse über Germanien enthalten, wenn die Vermutungen Schultens und Muchs richtig wären: ersterer nimmt an, daß hier von der Vertreibung der Ligurer von der friesischen Küste durch die Kelten die Rede sei;3 letzterer glaubt in den an der oberen Rhone auf­ geführten Tylangi und Daliterni Völker germanischer Nationalität nachweisen zu können.4 Ebenfalls von einem Massalienser, E u t h y m e n e s , 1 H e r k e n r a t h , Die Polarfahrt des Odysseus, in: Stimmen derZ eit Bd. 110 (1926) S. 442 ff. 2 Der Eridanus : die Elbe oder ein anderer östlicherer Fluß, später auf die Rhone über­ tragen. Vgl. V a s m e r in der Zeitschrift für slavische Philologie VI (1929) S. 150. 3 Avieni Ora maritima ed. Schulten 1922 S. 82 f. E. Norden, Urgesch. S. 391 zeigt aber, daß es sich vielmehr um die spanische Ozeanküste handelt, über die Quelle Aviens auch A ly in Hermes 62 (1927) S. 301 ff. Die bei Avien. als Bewohner des westlichen spanischen Hochlandes genannten C e m p s i sollen nach Schulten, Forschungen u. Fortschritte V III (1932) S. 122 ausgegangen sein von den germanischen Kampsianoi an der Nordsee (Strabo), was aber ebenfalls abzulehnen ist. 4 Germanistische Forschungen (Wien 1925) S. 1 ff. Vgl. dagegen L. S c h m i d t , Philol.

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wurde wenige Jahre später ein Periplus des äußeren Meeres geschrieben, der aber, eoviel aus den geringen bekannten Fragmenten erkennbar, im wesentUchen nur die afrikanische Küste behandelte.1 Kurz darauf (um 510) schrieb H e k a t a e u s von Milet*1 2 seine ebenfalls verlorengegangene Periegesis, in der sich Andeutungen über den Norden Europas, haupt­ sächlich bekannt durch die dagegen gerichtete Polemik Herodots finden: außer dem Volke der Hyperboräer und dem Gebirge der Rhipäen,3 die reine Phantasiegebilde sind, waren erwähnt der Eridanus, der sich in das Nordmeer ergieße, wo der Bernstein herkomme, also anscheinend auf den Rhein bezogen ist,4 der Borysthenes (Dnjepr), die Donau (Istros) und deren Ursprung bei der Stadt Pyrene (jetzt Cadagnes) und das Volk der Kelten im äußersten Westen, Angaben, die auf die Kenntnis der alten Handelswege Rhein— Rhone, Weichsel— Dnjepr und entlang der Donau hinweisen. Hekataeus bildete eine Hauptquelle, wie bemerkt, für H e r o d o t (um 440 v. Chr.), der aber die Richtigkeit seiner Angaben über den Norden bestreitet und von der realen Existenz des Bernsteinflusses Eri­ danus nichts wissen will, ohne freilich etwas Sichereres an die Stelle setzen zu können, sowie für E p h o r u s . Dieser behandelte im 4. Buche seiner untergegangenen Universalgeschichte die Geographie Europas, darunter die Kelten am westlichen, die Skythen am östlichen Rande der Oekumene; vielleicht erwähnte er auch ein nordeuropäisches Mischvolk, die Keltoskythen. Daß hier der Keltenname wie noch später auch für die Germanen gilt, zeigt ein durch Strabo überliefertes Fragment, dessen Schilderung nur auf die Nordseeküste bezogen werden kann.5 Genaueres, wenn auch immer noch sehr unvollkommenes Wissen von Germanien gibt sich kund in den Schriften des A r i s t o t e l e s (384— 322). Auch hier kehrt die Ephorische Erzählung von den „keltischen“ Anwohnern der Nordsee wieder; als erster erwähnt er den „herkynischen Wald“ , von dem viele Ströme aus­ gingen und nach Norden flössen (die Alpen). Kenntnis der Karpathen nehst den Sudeten scheint seine Ansetzung der Rhipäischen Berge im Wochenschr. 47 (1927) S. 147 ff. J a c o b s o h n , Zeitschr. f. deutsches Altertum 66 (1929) S. 217 ff. S t ä h e l i n , Die Schweiz in röm. Zeit2 (1931) S. 7. 1 J a c o b y bei Pauly-Wissowa, RE. V I 1, 1509 ff. Aly a. O. S. 307. 3 Vgl. F. J a c o b y , Die Fragmente der griech. Historiker (Berlin 1923ff.) I 16ff., 329 ff. Aly a. O. S. 307 ff. * Über die Rhipäen vgl: ausführlich K i e s e l i n g bei Pauly-Wissowa, RE. Reihe II Bd. 1, 846 ff. Der Name ist wohl griechisch, schwerlich germanisch und nicht auf Kenntnis der skandinavischen Gebirge (so Much, Deutsche Stammeskunde, 3. Aufl. [1920] S. 58) zurückzuführen. 4 Nach R. H e n n i g , dessen Beweisführung aber sehr mangelhaft ist (Von rätselhaften Ländern [München 1925] S. 82 ff.), die Elbe. 4 Jacoby II A S.81,11 C S. 35. B e r g e r , Geschichte der wies. Erdkunde der Griechen, 2. Aufl. (Leipzig 1903) S. 236 f. M ü l l e n h o f f , Deutsche Altertumskunde I (Berlin 1870) S. 232 f. Norden, Urgesch. S. 468. X*

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Einleitung

äußersten Skythien zu verraten. Kein Fortschritt zeigt sich dagegen in der Lokalisierung der Donauquellen auf dem „Berge“ Pyrene d. h. in den Pyrenäen. (Die dem Aristoteles zugeschriebene Schrift Περί θαυμάσιων ακουσμάτων, welche den „an den Germanen vorbeifließenden Rhein“ erwähnt, gehört der nachchristlichen Zeit an.) Den Eridanus scheint auch der in der alexandrinischen Zeit lebende Dichter C h o i r il o s auf den Rhein bezogen zu haben nach Servius Georg. I 482: Chaerilus Eridanum in Germania esse putat. Die Sperrung der Straße von Gibraltar durch die Karthager hatte die Massalienser nach dem 6. Jahrhundert von weiteren Fahrten in den Ozean abgehalten. Daß nach wie vor der Handel über Land ging, zeigt das Pytheasfragment bei Diodor V 23. Eine vorübergehende Schwächung der Macht der Punier vor 344 v. Chr. gab den Anlaß zu der berühmten Entdeckungsfahrt des P y t h e a s , die die ersten zuverlässigen auf Autopsie gegründeten Nachrichten über West- und Nordeuropa brachte. Durch die Straße von Gibraltar segelte Pythea6 die West- und Nordküste der Pyrenäischen Halbinsel entlang nach der Küste Galliens und von da an der Westküste Britanniens, wo er den Zinnbergbau studierte,1 nordwärts bis zur Insel Thule, unter der man nach den neuesten Untersuchungen1 2 wohl Norwegen in der Gegend des 65. Breitengrades zu verstehen hat, sicher nicht Island, das damals unbewohnt war. Hier lernte er die hellen Nächte des Nordens kennen. Über die Bewohner erfuhr er, daß sie Ackerbau trieben, daß die Ernte nicht im Freien, sondern wegen des Überflusses an Regen in Scheunen ausgedroschen wurde, und daß man aus Korn und Honig ein Getränk herstellte. Unweit von Thule lag nach seinem Bericht das „g e­ ronnene“ Meer, d. h. die Grenze der damals bekannten Welt, nicht das Eis­ meer.3 Er kehrte darauf, die Oetküste Britanniens entlang fahrend nach Süden zurück und unternahm nun die geplante Fahrt nach dem Bernsteingebiete. Er gelangte bis zu einer Bucht der Nordsee in einer Ausdehnung von 6000 Stadien = 150 Meilen, d. h. dem von der holsteinischen und hanno­ verischen Küste gebildeten Meerbusen, der nach der besten Überlieferung Metuonis, nach anderen Handschriften Mentonomon u. ä. hieß;4 er be­ schrieb auch eine hier ( ?) vorkommende Erscheinung, die einer Meer1 Ganz abzulehnen ist die neuerliche Ansicht R. H e n n i g s , Hist. Zeitschr. 139 (1928) S. 24, Klio 25 (1932) S. 15 f., daß Pytheas auf dem Säone-Seine-Weg zum Englischen Kanal und von da nach Britannien gelangt sei. 2 Vgl. Much, Germanist. Forschungen S. 52. R. Hennig a. O. S. 95 ff. 3 Vgl. M ü l l e n h o f f , Deutsche Altertumskunde I (Berlin 1870) S. 410. H e n n i g in der Geograph. Zeitschrift 32 (1926) S. 62 ff. 4 Nach D e t l e f s e n , Die Entdeckung des germanischen Nordens (Berlin 1904) S. 9 ff. = Marschland, fries, mede. B e c k e r s in der Geograph. Zeitschrift 17 (1911) S. 672 liest Mentonomon und nimmt an, daß darin ein Volksname, der der Teutonen stecke (!).

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lunge (Qualle) ähnelte, von einigen Forschern auf das mit Wasseradern durchsetzte Wattengebiet, von anderen auf das in Norwegen beobachtete Nordlicht bezogen. Als Anwohner lernte er das Volk der „Guionen“ und eine von dem Baunonia benannten Küstenstrich um eine Tages­ fahrt (ca. 90 km) entfernte Insel Abalus (Basilia, Balcia) kennen, deren Be­ wohner den von den Fluten angeschwemmten Bernstein an die zunächst wohnenden Teutonen verkauften.1 Die vielerörterte Frage, was für ein Volk unter den sonst unbekannten Guionen zu verstehen sei (völlig aus­ geschlossen ist die Besserung in Gutonen; aber auch die Gleichsetzung mit den Inguäonen [Inguionen] hat wenig für sich), möchte ich in dem Sinne entscheiden, daß der Name für den der Teutonen steht, wie auch schon früher angenommen worden ist. In der griechischen Aufzeichnung, in der das Exzerpt aus Pytheas dem Plinius vorlag, stand das Wort Τουτωνες, das undeutlich geschrieben, leicht als Γουιωνες gelesen werden konnte. P linius hat bei der nochmaligen Erwähnung des Namens diesen in der den Römern seiner Zeit geläufigen Form Teutoni wiedergegeben. Die Bprnsteininsel kann wohl nur Helgoland sein; von den dafür überlieferten Namen sind Basilia, Balcia wahrscheinlich nur Verstümmelungen von Abalus;1 2 der Teil der Teutonen, in dessen Gebiet der Stapelplatz für den Helgoländer, vielleicht auch für den gesamten, an der jütischen Küste gewonnenen Bernstein sich befand, wird in der heutigen Landschaft Eiderstedt zu suchen sein. Nach seiner Rückkehr in die Heimat veröffent­ lichte Pytheas einen Bericht über seine Reise unter dem Titel Περί ωκε­ ανού, der das größte Aufsehen erregte.3 Aber seine Fahrt fand keine Nach­ folge. 339 sperrten die Karthager wieder die Durchfahrt durch die Meer­ enge von Gibraltar. Polybius bemerkt, daß seit geraumer Zeit kein Ver­ kehr über Gades h i n aus in den Ozean stattfinde. Und auch nach dem Falle Karthagos lebte der Handel nicht wieder auf. Die Blüte Massalias welkte seit der Ausbreitung der römischen Macht dahin. Die Zinn- und Bemsteinländer gerieten in Vergessenheit, und erst seit dem 1. Jahrh. n. Chr. haben die Kriegszüge der Römer wieder Licht in das Dunkel gebracht. Was bis zu jener Zeit nach Pytheas in der geographischen Literatur über den

1 Plin. hist. nat. IV 94, 95. X X X V I I 35. Diodor V 23. Die Beziehung von Baunonia auf die Bernsteininsel (Detlefsen S. 18 f.) halte ich für unmöglich. Über die Bedeutung des Namens Baunonia H o o p s , Waldbäume u. Kulturpflanzen (1905) S. 465 (Bohnenland, aber nicht nach der Saubohne, sondern nach einer Erbsenart). — Daß Pytheas, indem er das Teutonenland zu Skythien rechnete, sich der ethnischen Verschiedenheit der Kelten und Germanen bewußt gewesen sei, ist ganz unwahrscheinlich. 2 Nach W e s s e l y , Wiener Studien 47 (1929) S.1641T. wäre Basilia die richtige, ursprüng­ liche Form. 3 Vgl. Müllenhoff, D. A. I 364 ff. Berger a. O. S. 333 ff. Beckers a. O. und die daselbst zitierte Literatur. Hennig, Von rätselhaften Ländern S. 95 ff. Philipp a. O. S. 42 ff.

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Einleitung

Norden zu finden ist, geht daher nicht auf neue Erkundung zurück. Ganz auf Pytheas fußen noch der Historiker T i m a e u s v o n T a u r o m e n i u m (352— 256 V . Chr.), dessen Werk uns nur noch in Bruchstücken, besonders bei Diodor und Plinius, vorliegt, sowie die Geographen E r a t o s t h e n e s (275— 194)1 und H i p p a r c h (190— 125),1 2 die ihre Karten auf seinen Grad­ messungen aufbauten. Ferner wurde er benutzt von X e n o p h o n v o n L a m p s a k u s (um 146 v. Chr.), aus dessen Periplus durch Plinius die An­ gabe von einer großen Insel Balcia, die drei Tagereisen von der skythischen Küste entfernt sei, erhalten ist (es liegt hier weiter nichts als eine über­ triebene Entstellung der Nachricht des Pytheas von der Bemsteininsel Abalus, keine neuerlich erworbene Kenntnis Südschwedens vor, wie Detleffsen S. 21 ff. will), von Posidonius von Apamea (s. unten) und direkt oder indirekt (durch Timäus) ? von M e t r o d o r u s v o n S ke ps is ( f 70 v. Chr.), aus dessen Schrift Περί ιστορίας ein ebenfalls durch Plinius über­ liefertes Bruchstück mit Erwähnung der Insel Basilia vorliegt. Ein jün­ gerer Zeitgenosse des Pytheas war H e k a t a e u s v o n A b d e r a , dessen (verlorener) Reiseroman die Hyperboräer auf einer Insel im Qceanus Amalcius, dem imgefrorenen Meere, gegenüber dem Keltenlande schilderte ; aber es läßt sich nicht erweisen, daß er das Werk des Massaliensers ge­ kannt hat.3 Dagegen scheinen die Argonautica des A p o l l o n i u s v o n R h o d u s (ca. 295—215), wo die Bernsteininsel vor die Mündung des Eridanus (hier dem Po gleichgesetzt) verlegt wird, von Pytheas beein­ flußt zu sein, und dasselbe gilt noch von dem aus dem 2. Jahrh. n a c h Chr. stammenden, nur auszugsweise erhaltenen Roman des A n t o n i u s D i o ­ genes Τα περί Θούλην άπιστα.4 Es fehlte aber auch nicht an Gelehrten, die die Richtigkeit der Mitteilungen des Pytheas bezweifelten: so schon D i k a e a r c h v o n M ess in a um 320 v. Chr., dann vor allem der berühmte Geschichtschreiber Polybius, der den Massalienser geradezu als Schwindler erklärte und dem sich später auch Strabo anschloß. Diesen herabsetzenden Beurteilungen ist es nicht zum geringen Teile zuzuschreiben, daß von seinen Aufzeichnungen nur geringe Reste auf uns gekommen sind. Ist so P o l y b i u s (ca. 205— 123) einer Erweiterung der Kenntnis Germaniens nicht förderlich gewesen, so bringt er zuverlässige Nachrichten über die Kämpfe der Römer mit den oberitalienischen Keltenstämmen und deren Hilfsvolk, den Gaesaten (256— 222), die Much als Germanen an­ sprechen will, sowie über die sicher germanischen Bastarnen an der un­ teren Donau. Von den letzteren hatte auch der von Plutarch indirekt be1 * 3 4

B e r g e r , Die geographischen Fragmente des Eratosthenes (1880) S. 361 ff. B e r g e r , die geograph. Fragmente des Hipparch (1869) S. 67 ff. Vgl. J a c o b y in Pauly-Wissowa, RE. V II 2750 ff. Berger, Erdkunde der Griechen S. 349.

Quell en

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nutzte Geschichtschreiber P o s i d o n i u s v o n O l b i a , ein Zeitgenosse des Königs Perseus von Makedonien (179— 168), berichtet.1 Die dem S k y m n u s fälschlich zugeschriebene Periegese aus der Zeit um 110 beruht wesentlich auf Ephorus und Eratosthenes und zeigt sich unberührt von den Ergebnissen der seitdem gemachten Entdeckungen.1 2 Wert besitzt sie nur durch die Mitteilungen einer aus dem Geographen D e ­ m e tr iu s v o n K a l l a t i s (Anfang des 2. Jahrh. v. Chr.) stammenden Notiz über die Ankunft der Bastarnen am Pontus. 103/2 schrieb A r t e m i d o r u s v o n E p h e s u s eine (aue dem von Marcia­ nus von Ephesus um 400 n. Chr. verfaßten, nur fragmentarisch erhaltenen Auszug sowie aus Anführungen bei Strabo und Plinius bekannten) Peri­ egese des Mittelmeeres und eines Teiles der atlantischen Küste aus eigener Anschauung unter lebhafter Polemik gegen Pytheas und Eratosthenes. Er erwähnte zuerst die Kimbern, die er mit dem aus Ephorus entnommenen Verlegenheitsnamen Keltoskythen bezeichnete. Als Ursache ihres Aus­ zuges hatte er eine Meereserscheinung angegeben, die er mit den Gezeiten in Verbindung brachte.3 Zeitgenossen des Kimbernkrieges waren ferner Q. Lutatius Catulus, L. Cornelius Sulla, P. Rutilius Rufus, A. Licinius Archias, Furius Antias, Posidonius, von denen die drei erstgenannten auch persönlich an den Kämp­ fen teilgenommen haben. Ca tu lu s, Konsul 102, verfaßte Denkwürdig­ keiten, die (indirekt) von Plutarch (Marius) benutzt worden sind.4 Die Memoiren Sullas (Legat 104— 101)5 waren eine Hauptquelle für Sallust, die livianische Überlieferung, Diodor, Plutarch, Appian. R u f u s , Konsul 105, schrieb eine Selbstbiographie in lateinischer und eine Zeitgeschichte in griechischer Sprache und war ein Gewährsmann für den ihm befreun­ deten, sogleich zu erwähnenden Geschichtschreiber Posidonius.6 Poetisch bearbeiteten den Kimbernkrieg A r c h i a s aus Antiochia zur Verherrlichung des Marius in griechischer Sprache und F ur iu s A n t i a s , ein Freund des Catulus.7 P o s i d o n i u s v o n A p a m e a (ca. 135— 51)8 verfaßte einige Jahre nach 101 ein geographisches Werk Περί ωκεανού und um 80 ein Geschichtswerk (ίστορίαι) in 52 Büchern, das die Zeit 145/4 bis ca. 86 be­ handelte. In der Schrift Περί ωκεανού besprach er die Meeresflut, die die 1 Vgl. F i e b i g e r in den Jahresheften des öst. arch. Instituts IV 1911 Beibl. S. 62 f. 2 Vgl. G i s i n g e r bei Pauly-Wiss. II A S. 672 ff. H öf e r im Rhein. Mus. f. Philol. N. F. 77 (1928) S. 127 ff. 3 Vgl. bes. Norden, Urgesch. S. 68 f., 467 ff. L. S c h m i d t in Klio 22 (1928) S. 100. 4 Vgl. M ü n z e r bei Pauly-Wiss. X I I I 2075. Müllenhoff II 125. 5 Vgl. S c h a n z , Geschichte der röm. Literatur I 3 (1909) S. 119. * Norden a. a. O. S. 69, 3. 7 S k u t s c h bei Pauly-Wiss. V II 1, 328. 8 Vgl. Jacoby, Fraem. II A S. 222ff., C S. 154ff. Norden S. 63 ff. Dazu A ly in den Gott, gel. Anz. 1927 S. 271 ff.

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Einleitung

Auswanderung der Kimbern hervorgerufen hatte, als Beleg für große Erdveränderungen, unter Polemik gegen die Auffassung Artemidors. In den Historien gab er eine ausführliche Darstellung des Kimbernkrieges auf Grund von Erkundigungen, die er teils in Rom, teils in Massalia ein­ gezogen hatte, und des Geschichtswerkes des Rutilius Rufus (siehe ohen). Er ist es, der die erste sichere Erwähnung des Namens Germanen bringt: er versteht darunter nicht die Kimbern, sondern „eine am rechten Rhein­ ufer siedelnde Gruppe, deren Sitten er von denen der Kelten nur durch kleine Unterschiede zu sondern vermochte“ .1 Posidonius galt als der größte griechische Geschichtschreiber seiner Zeit; er wurde stark benutzt von Cäsar, Diodor, Timagenes und durch dessen Vermittlung von Livius, ferner von Strabo, Athenäus, Plutarch, indirekt auch von Dionysius periegeta und Appian. Seine Geschichte des Kimbernkrieges bildete mittelbar und unmittelbar die Grundlage für alle späteren Darstellungen. Von den damaligen römischen Annalisten ist besonders V a l e r i u s A n ­ ti as zu nennen, der von Livius stark benutzt wurde und diesem auch mit als Quelle für den Kimbernkrieg gedient hat, namentlich für die stark übertriebenen Verlustziffern. In den Werken C ic e r o s (106— 43) wird der Germanen nur beiläufig und in sehr unbestimmter Form gedacht.1 2 Die erste umfassendere Kenntnis von Land und Volk der Germanen ward der Welt durch die Kriegszüge Cäsars vermittelt: dieser besiegte i. J. 58 den Germanenkönig Ariovist und ist zweimal, 55 und 53, über den Rhein in Deutschland eingedrungen. Seine von scharfer Beobachtungsgabe zeugenden, wenn auch, wie natür­ lich, nicht immer objektiven Schilderungen hat er in den im Winter 52/51 veröffentlichten Kommentarien über den gallischen Krieg niedergelegt. Diese bildeten das literarische Gegenstück zu den an den Senat eingereich­ ten Dienstberichten; sie waren in erster Linie bestimmt, „den denkwür­ digen Kampf, in dem von Cäsar und seinen Legionen die Herrschaft Roms um die Macht und den Horizont einer neuen Welt erweitert wurde, dem Gedächtnis und der Bewunderung der Mit- und Nachwelt zu erhalten“ , sollten aber auch dem Zweck der Rechtfertigung der Cäsarischen Politik und des Werbens um die Gunst des römischen Publikums dienen.3 Seine 1 Mit Recht betont E. Norden S. 81 ff, daß die Kenntnisse des Posidonius von den Germanen sich nicht weiter als über die an den Rhein angrenzenden Germanen erstreckt haben. Man muß also mit der Zuteilung von Nachrichten bei den Späteren sehr vorsichtig sein. N e e k e l , Germanen u. Kelten (1929) S. 23 will sogar den berühmten Namensatz bei Tac. Germ. c. 2 auf Pos. zurückführen. 2 Vgl. Müllenhoff II 160. Norden S. 93. 3 Vgl. B e c k m a n n , Geographie u. Ethnographie in Caesars Bellum Gallicum (1930) S. 177 ff. Die Annahme von K l o t z (Cäsarstudien [1910]. S. 26 ff.), daß einige Abschnitte (so besonders IV 10 über die Maas u. den Rhein; VI 25— 28 über den hercynischen Wald u. seine Tierwelt) später interpoliert seien, wird von Beckmann mit guten Gründen bestritten.

Quellen

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Quellen waren außer den eigenen Erlebnissen die Berichte von Kund­ schaftern, der Offiziere usw. sowie Werke wie die des Eratosthenes und Posidonius. Was er über den Kimbernkrieg erzählt, ist aus der lebendigen Erinnerung von Zeitgenossen geschöpft. „Cäsars Darstellung ist rheto­ rischer Kunstgriffe vielfach verdächtig; was er selbst beobachtet hat, gibt er aber sonst unmittelbar wieder, wenn seine Darstellung auch unseren Ansprüchen an Klarheit der Terminologie nicht genügt“ .1 Eine nicht mehr erhaltene poetische Bearbeitung von Cäsars Schil­ derung der Ariovist-Schlacht lieferte P. T e r e n t i u s V a r r o aus Atax (82— 37) unter dem Titel Bellum Sequanicum. S al lu s t (86— 34) hat an einigen Stellen seiner Historien, die die Zeit 78— 67 behandelten, der Germanen gedacht; doch ist es zweifelhaft, ob er eine ausführliche Be­ schreibung Germaniens und seiner Bewohner gegeben hat, wie vielfach behauptet worden ist (vgl. fragm. lib. I l l No. 36, 104, 105, und dazu Mau­ renbrecher S. 154 f.). Die zwischen 60 und 30 verfaßte historische Bibliothek des D i o d o r u s v o n A g y r i o n i s t eine unselbständige Kompilation, aber wertvoll durch die Benutzung verlorener Quellen, besonders des Ephorus, Timäus, Posidonius. Aus der Geographie des C or ne liu s N e p o s (zwischen 94— 24), in der vielleicht Eratosthenes und durch diesen Pytheas benutzt war, ist eine Notiz über den Swebenkönig Ariovist durch Mela und Plinius erhalten. Der nachcäsarischen Zeit gehört an A s in i u s P o l l i o , Verfasser eines ver­ lorenen, die Zeit von 60 bis 42 behandelnden Geschichtswerkes. Seine aus Plutarch (Cäsar) und Appian erkennbare Darstellung der gallischen Kriege Cäsars geht im wesentlichen auf diesen zurück; die Abweichungen, die er bringt, sind nicht bemerkenswert und gehören mehr „ins Gebiet des historischen Romans“ .1 2 Nach Asinius wiederum, den er benutzt hat,3 schrieb T i m a g e n e s v o n A l e x a n d r i a sein Βασιλείς betiteltes Ge­ schichtswerk, das von der Urzeit bis Cäsar reichte und eine Haupt­ quelle für Strabo (4. Buch der Geographie) und Livius (Beschreibung von Gallien und Germanien im 103. und 104. Buch) bildete, auch noch von Ammianus Marcellinus benutzt worden iet.4 Die schwere Niederlage eines römischen Heeres unter Lollius 16 v. Chr. durch die Sugambrer, Usipier usw. bildet den Gegenstand zweier Epigramme des (zwischen 70 und 65 geb.) griechischen Dichters K r i n a g o r a s (Anthol. pal. V II 741; IX 291).5 Eine wesentliche Vermehrung der Kenntnis von Germanien brachten die Feldzüge unter Augustus: auf dem Lande drangen die Römer bis zur 1 F r a h m in der hist. Vierteljahrsschrift 24 (1928) S. 181. 2 Vgl. S c h w a r t z bei P.-W . III 1706. 3 Klotz a. O. S. 118. 4 Jacoby II A S. 318 ff. C S. 220 ff. 5 Vgl. C i c h o r i u s , Römische Studien (Leipzig 1922) S.309ff.

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Einleitung

Elbe, zur See durch das Kattegat bis in die Ostsee vor. Unter den zur Zeit des Augustus entstandenen geographischen Werken ist zunächst die große Karte des römischen Reiches zu nennen, die von M. V i p s a n i u s A g r i p p a begonnen und nach dessen Tode (12 v. Chr.) auf Anordnung des Kaisers vollendet und in der Säulenhalle auf dem Marsfelde (porticus Vipsania) aufgetragen worden ist (zwischen 7 vor und 14 nach Chr., wahr­ scheinlich erst am Ende der Regierungszeit des Augustus). Sie enthielt auch ein Bild von Deutschland und gab zum ersten Male den Namen der Weichsel als östlichen Grenzfluß an. Die Grundlage bildeten Abmessungen der römischen Straßen und der Küstenlinien nach der Zahl der Tagund Nachtfahrten. Wenn auch in vieler Hinsicht noch unvollkommen, stellte die Karte doch ohne Zweifel eine wesentliche Bereicherung der geo­ graphischen Wissenschaft dar. Über ihre Ausführung und ihre Form, ob sie rund oder viereckig, nach Norden oder nach Osten orientiert war, läßt sich nichts Genaueres sagen. Sie wurde frühzeitig in verkleinertem Maßstabe vervielfältigt und mit zeitentsprechenden Nachträgen versehen, um dem Handgebrauche des Publikums und Unterrichtszwecken in der Schule zu dienen. „Man muß mit der Möglichkeit oder vielmehr hohen Wahrscheinlichkeit rechnen, daß, wie ja jeder neue Kartenversuch auf die vorausgehende Entwicklung sich stützt, ein so hervorragendes Werk wie die Karte Agrippas die Erdkarte der nächstfolgenden Zeit direkt, die späteren wenigstens indirekt mit beeinflußt hat“ (Kubitschek). Mehr läßt sich aber über ihre Nachwirkungen nicht sagen; es ist unzulässig, von einer durch sie begründeten, einheitlich redigierten römischen Weltkarte zu sprechen, deren Bild in den späteren geographischen Darstellungen noch erkennbar sei (Miller). Mehrfach sind Karten des römischen Reiches nachgewiesen, ohne daß wir sagen können, ob sie aus der Agrippakarte hervorgegangen sind: so u. a. die auf das 2. Jahrhundert n. Chr. hinweisende Karte, die Cassiodor in seiner Gotengeschichte benutzte· die aus dem 4. ( ?) Jahrhundert stammende Vorlage der Beatuskarte von 776 (hier er­ scheinen noch die Goten in Dacia und als deren Nachbarn die Wandalen, Francia auf dem rechten Rheinufer), die der Kosmographie des Julius Honorius zugrunde liegende Karte ebenfalls aus dem 4. Jahrhundert( ?). (Über die Straßenkarten siehe weiter unten.) Neben den Ausgaben der Karte liefen Beischriften her, die die dort wegen Raummangels nicht vollständig unterzubringenden Textangaben brachten. Hierauf, nicht auf die Karte selbst gehen wohl die ausführlichen Mitteilungen des Plinius zurück, ferner die bei den kleineren geographischen Schriften des 4. bzw. 5. Jahrhunderts, die Dimensuratio provinciarum und die Divisio orbis.1 1 Vgl. besonders K u b i t s c h e k bei P.-W. X 2100 ff., wo auch die übrige Literatur. K l o t z in Klio 24 (1930) S. 38 ff.

Quel l en

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Die einmal von Plinius erwähnten commentarii des Agrippa waren kein selbständiges Werk, sondern Vorarbeiten, Zeichnungen, Maßangaben und sonstige Notizen, nach denen die Karte ausgeführt werden sollte. Von der Autobiographie des Agrippa, der selbst mit den Germanen zu tun hatte, ist leider nichts auf uns gekommen. Dagegen ist glücklicherweise erhalten der kurz vor seinem Tode (13 n. Chr.) aufgezeichnete Bericht des A u g u s t u s über seine Taten (Monumentum Ancyranum), worin der Kaiser auch seiner Siege über die deutschen Völker kurz gedenkt.1 T i t u s L i v i u s , der bedeutendste Geschichtschreiber jener Epoche (59 vor— 17 nach Chr.) hat nach den allein erhaltenen Inhaltsangaben in Buch 45, 47, 48 seiner römischen Geschichte die Kimbern- und Teutonen­ kriege (nach Posidonius besonders durch Vermittlung des Timagenes, und römischen Quellen; siehe oben), in Buch 104, 105, 107 „situm Ger­ maniae moresque“ sowie die germanischen Expeditionen Cäsars (nach Timagenes), im 138.— 142. Buche die Feldzüge des Drusus, die letzteren als Zeitgenosse, geschildert. Er hat den späteren Historikern vielfach als Quelle gedient, und so ist uns der Inhalt der verlorenen Bücher noch teil­ weise bei Florus, Orosius, Cassius Dio u. a. erhalten.1 2 Wohl ebenfalls zum Teil aus Timagenes schöpfte P o m p e i u s T r o g u s , von dessen, einige bemerkenswerte Angaben über die ältere Geschichte der Bastarnen enthaltenden Weltgeschichte (Historiae Philippicae) nur Inhaltsangaben und der Auszug des J u s t i n u s noch vorhanden sind. Der Bericht eines Teilnehmers an der Varusschlacht ist noch besonders in der Erzählung des Cassius Dio zu erkennen. Ein hervorragender Vertreter der Geographie in der augusteischen Zeit war I s i d o r v o n Charax. Was Mela (III 31 f. 54) und Plinius (hist, nat. IV 104) über Skandinavien, den sinus Codanus usw. berichten, geht vielleicht zum Teil auf seine verlorene Erdbeschreibung zurück.3 Einzelne Notizen über die Germanen verdanken wir ferner der nur in den Auszügen des Festus bzw. Paulus Diaconus erhaltenen Schrift des V e r r iu s F l a c c u s De verborum significatu sowie den Dichtern P r o p e r z , H o r a z , O v i d und der dem Ovid zugeschriebenen C o n s o l a t i o ad L i v i a m über den Tod des Drusus. Unter der Regierung des Tiberius gelangte neue Kunde über Deutschland nach Rom durch die Feldzüge des Germanicus. Es sind damals folgende hierher gehörige Werke entstanden. An erster Stelle sind zu nennen die 1 Vgl. dazu D e s s a u , Geschichte der röm. Kaiserzeit I 478 ff. 2 Vgl. Norden, Urgesch. S. 148 ff. und K lio N. F. IV (1928) S. 261 ff. 3 Vgl. Müllenhoff, D. A. I 361 f. D e t l e f s e n , Die Anordnung der geographischen Bücher des Plinius u. ihre Quellen (Berlin 1909) S. 66 f. 162 f. Philipp, Tacitus Germania S. 137. 147. W e i ß b a c h bei Pauly-Wissowa X 2064 ff.

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Einleitung

im Jahre 18 n. Chr. vollendeten Γεωγραφικά des S t r a b o , die auf einem reichen Quellenmaterial fußen: besonders auf Pytheas (durch Vermitt­ lung des Timäus und Polybius), Eratosthenes, Posidonius, Timagenes, aber auch auf Primärberichten, Erzählungen von Kaufleuten, Kriegs­ teilnehmern, z. B. über die Flottenfahrt des Jahres 5 n. Chr. Aber noch steht seine Schilderung der germanischen Zustände unter dem Einflüsse des von den älteren Griechen gebrauchten ethnographischen Schemas, von dem die Römer sich längst frei gemacht hatten. Von einem Epos des A l b i n o v a n u s P e d o ist durch den Rhetor Seneca (suas. 1, 12) ein Bruch­ stück erhalten, das die lebendige Beschreibung einer Seefahrt, wahrschein­ lich der Flottenfahrt des Germanicus im Jahre 16, gibt. Die Feldzüge des Germanicus am Rhein besingt ein von L o l l i u s Bassus verfaßtes, früher dem Krinagoras zugeschriebenes, griechisches Epigramm Anth. pal. IX 283.1 V e l l e i u s P a t e r c u l u s bietet in seinem um 30 verfaßten Geschichts­ abriß einige schätzbare Nachrichten über die Feldzüge des Tiberius in Germanien und Pannonien, an denen er als Offizier teilgenommen hatte; ganz zuverlässig sind freilich seine Angaben nicht, da er als unbedingter Bewunderer seines Herrn manches Ereignis nicht im rechten Lichte er­ scheinen läßt. Ein Begleiter und Freund des Germanicus schrieb dessen Biographie, die von Plinius direkt, von Caesius Dio, Sueton und Tacitus durch eine Mittelquelle benutzt worden ist.1 2 Ob die ebenfalls verlorenen libri belli Germanici des A u f i d i u s Bassus dieser Zeit angehören oder nicht vielmehr erst unter Caligula geschrieben sina, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Das älteste uns erhaltene geographische Werk der römischen Literatur, die unter der Regierung des Claudius um 43 verfaßte Chorographie des P o m p o n i u s Mela enthält auch wertvolle Angaben über Germanien, die im wesentlichen aus älteren Quellen, Isidor von Charax und Cornelius Nepos, durch deren Vermittelung wieder aus Pytheas, Eratosthenes u. a. geflossen sind.3 Die Ostseegebiete waren bisher den Römern fast unbekannt geblieben. Neues Licht über diese Gegenden und den skandinavischen Norden, mit dem jetzt direkte Handelsbeziehungen angeknüpft wurden, brachte die unter Nero (54— 68) unternommene Reise eines römischen Ritters von Carnuntum nach den bisher unbekannten Fundorten des Bernsteins an der samländischen Küste; die damals erworbenen geographischen Kennt­ nisse wurden zuerst verwertet in dem nur durch einige Zitate bei Plinius 1 Vgl. 2 Vgl. 3 Vgl. nutzung

Cichorius, Römische Studien S. 307 f. K e ß l e r , Die Tradition über Germanicus (1905). R a u in Klio 10 (1923) S. 314 ff. Detlefsen, Entdeckung S. 29. Philipp, Tac. Germ. S. 66 ff., 134 ff. Direkte Be­ des Pytheas durch Mela ist ausgeschlossen.

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bekannten Werke des Griechen P h i l e m o n . Dieser erwähnte, daß der Bernstein in „Skythien“ an zwei Stellen gegraben werde, und nannte den schon durch die Flottenfahrt des Jahres 5 n. Chr. bekannt gewordenen Namen Morimarusa für das Meer zwischen dem Kimhernlande und dem Vorgebirge Rusbeä (Nordspitze der Shetlandinseln), über das hinaus das Mare Cronium, das Meer des äußersten Nordens, lag. Auf ihn gehen wohl auch die Angaben Plin. IV, 103 von den im Germanischen Meere liegenden Bernsteininseln „Glaesiae, quas Electridas Graeci recentiores appellavere“ und die genaueren Nachrichten desselben IV, 96 f. über den skandinavischen Norden zurück.1 Der Zeit Neros gehören ferner an das Gedicht des L u c a n u s , bellum civile (Pharsalia), dem auch einiges wenige für germanische Verhältnisse zu entnehmen ist, z.B. über die Tracht der Wangionen (die Verse I, 463— 65 über die Chauken sind interpoliert), und die um 50 n. Chr. verfaßte Schrift des S en ec a iun. de ira mit einer interessanten Charakteristik der Germanen. Wesentlich ergänzt wurden auf Grund neuerer Quellen die Mitteilungen des Philemon durch den trefflichen Kenner germanischer Verhältnisse, den älteren P lin iu s . Dieser ist nach den sorgfältigen Untersuchungen Fr. Münzers1 2 in den Jahren 47 in Untergermanien, 50/51 in Obergerma­ nien, 57 wieder in Untergermanien als Offizier gewesen. An dem Feldzuge des Corbulo (47) gegen die Chauken und Friesen hat er persönlich teilge­ nommen. Vom Jahre 70 ab war e r ’ nacheinander in verschiedenen Pro­ vinzen als Prokurator tätig: in Gallia Narbonensis, Afrika, Spanien und zuletzt (74) in Belgica. Er starb 79 als Präfekt der misenatischen Flotte. Seine bella Germanica behandelten in 20 Büchern die Zeit von den Kimbemkriegen bis zur obenerwähnten Expedition des Corbulo ; sein Annalen­ werk a fine Aufidii Bassi erzählte in 31 Büchern die römische Geschichte von Nero bis zu den Anfängen Vespasiane. Beide Werke, deren Verlust ganz besonders zu bedauern ist, fußten auf einem zuverlässigen Quellen­ material, persönlichen Erlebnissen und Erkundungen sowie auf Berichten von Feldzugsteilnehmern; im ersten war von schriftlichen Quellen beson­ ders Livius benutzt. Erhalten ist nur die Naturgeschichte, die auch für Germanien von Bedeutung ist und (z. T. indirekt) auf verlorenen Quellen als Pytheas, Timäus, Xenophon von Lampsakus, Metrodorus von Skepsis, Cornelius Nepos, Isidor von Charax, Philemon beruht, aber auch die Er­ gebnisse eigener Informationen bringt. Unter Vespasian lebten auch der jüdische Geschichtschreiber J o s e p h u s , der in seiner Archäologie und 1 Philemon wird zu Unrecht von Detlefsen S. 25 um 100 v. Chr., von E. N o r d e n in Janus, Arbeiten z. alten u. byz. Geschichte I (1921) S. 182 ff. frühestens als Zeitgenosse strabos angesetzt. Vgl. Philipp S. 152 ff. 2 Bonner Jahrbücher 104 (1899) S. 67 ff., dazu Norden, Urgesch. S. 207 ff.

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Einleitung

im Jüdischen Krieg Angaben bringt über den Aufstand der germanischen Leibwächter nach dem Tode Caligulas und (panegyrisch entstellend) über den angeblichen Anteil des jungen Domitian an der Beendigung des Bataverkrieges, sowie der Dichter V e r r iu s F l a c c u s , in dessen Argo­ nautica Angaben über die Bastarnen enthalten sind. Der Zeit Domitians (81— 96) gehören an die Dichter M a r t i a l i s und S t a t i u s , deren Anspielungen auf damalige Germanenkriege mangels anderer Zeugnisse nicht ohne Wert sind. Manche wichtige, von bekannten Quellen unabhängige Aufschlüsse über die germanischen Feldzüge von Cäsar bis Domitian verdanken wir ferner den nach 84 verfaßten Stratege­ mata des Sextus Julius F r o n t i n u s . Die reichhaltigste Quelle des Altertums für die Geschichte unserer Vor­ fahren sind die Werke des P. C o r n e li u s T a c i t u s (etwa 50— 120). Von seinen Annalen und Historien, die die Geschichte der Jahre 14— 68 und 69— 96 darstellen, sind leider nur Teile (über die Jahre 14— 37, 47— 66, 69 und 70) erhalten. Seine Hauptquelle für die Darstellung der germanischen Beziehungen waren die Annalen a fine Aufidii Bassi und die bella Germa­ nica des Plinius, erstere namentlich für die Geschichte des Bataverauf­ standes, letztere für die Zeit des Claudius, während er für die Feldzüge unter Tiberius als führenden Gewährsmann einen unbekannten Anna­ listen benutzte (der ebenso wie Plinius die schon erwähnte Germanicusbiographie verwertet hatte), den· ausführlichen Bericht des Plinius aber zur Ergänzung heianzog.1 Die im Jahre 98 verfaßte Germania ist keine politische Tendenzschrift mit dem Zwecke, dem Reiche die von den Ger­ manen drohende Gefahr vor Augen zu führen (wie noch neuerdings Fehrle in seiner Ausgabe behauptet),*2 sondern eine wesentlich ethnographischen Interessen entsprungene Studie, die unter dem Einflüsse der Anschauung von den vermeintlich glücklichen Zuständen eines Naturvolkes steht. Die Darstellung beruht hier mehrfach auf mündlichen Auskünften von Kaufleuten (so über die Völker des Ostens),3 Offizieren, Kriegsgefangenen, germanischen Gesandten (wie über die Semnonen) usw.; unter den lite­ rarischen Quellen kommen besondere Posidonius, Cäsar, Livius, vor allem aber wieder die bella Germanica des Plinius in Betracht. Auch eine Nach­ bildung der Agrippakarte scheint Tacitus Vorgelegen zu haben. Aus per­ sönlicher Anschauung schöpft er nicht, da er niemals selbst in Deutsch­ land gewesen ist. Unzweifelhaft ist Tacitus ein Historiker von ganz her­ vorragender Bedeutung, weitem Blick und scharfer Beobachtungsgabe. Bei der Beurteilung seiner Arbeitsweise darf aber nicht außer acht ge­ * Norden S. 213. 2 Vgl. G u d e m a n , Philol. Wochenschrift 50 (1930) S. 473 f. 3 A u f griechische Vermittelung deutet die Namensform Lygii hin.

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lassen werden, daß nicht die peinliche Feststellung des Tatsächlichen, sondern die psychologische Betrachtung, die Erforschung der Motive der menschlichen Handlungen sowie die Kunst der Darstellung bei ihm im Vordergrund stehen. Wenn er auch voneinander abweichende Angaben seiner Gewährsmänner über bestimmte Vorgänge verzeichnet und gegen­ einander abwägt, so entspricht doch seine Quellenkritik nicht immer modernen Anforderungen. So bei der Erzählung der Germanicusfeldzüge, in der eine arge Verwirrung herrscht. Nicht selten sind aus den Vorlagen Gegenwartsbezeichnungen übernommen, die für die taciteische Zeit keine Geltung mehr besaßen: so an der berühmten Stelle Ann. II, 88 über die Arminiuslieder, Germ. 41 über den Grenzverkehr der Hermunduren mit der Provinz Rätien u. a. (Norden S. 264 ff.). Allzu mißgünstig und parteiisch ist das Bild, das er, ein Gegner der a b s o l u t e n Monarchie, von Tiberius entworfen hat. Andererseits muß hervorgehoben werden, daß seine Schil­ derung der germanischen Zustände in der Germania sich fast durchweg als zutreffend erwiesen hat, namentlich seitdem durch die Bodenfunde die Möglichkeit einer schärferen Kontrolle gegeben ist. Es wird daran nichts geändert, daß die taciteische Ethnographie griechische Farben trägt und nach dem Muster der herodoteischen gestaltet ist.1 Ein Zeitgenosse des Tacitus war P l u t a r c h v o n C h ä r o n e a , dessen Biographie des Marius, weil aus Posidonius geschöpft, für uns eine Haupt­ quelle für die Geschichte des Kimbernkrieges ist. Von den unter Hadrian (117— 38) lebenden Historikern gewähren einige Ausbeute für die deutsche Geschichte S u e t o n i u s in seinen Kaiser­ biographien (Cäsar bis einschließlich Domitian) und F l o r u s , dessen haupt­ sächlich aus Livius geschöpfter Geschichtsabriß besonders für die unter Augustus geführten germanischen Kriege in Betracht kommt. Die derselben Zeit angehörige Περιήγησις της οικουμένης des D i o n y s i u s in Hexa­ metern nennt den nördlichen Ozean, „an dem die blonden Scharen der tapferen Germanen wohnen“ , den herkynischen Wald, die Bastarnen, die Bernsteinfunde an der skythischen Küste u. a. Als Quelle wird an­ genommen (Crusius bei PW . V, 915 ff.) das geographische Gedicht des Alexander von Ephesus (Zeit Ciceros), das wiederum auf Posidonius und Metrodorus von Skepsis sich stützte. Doch dürften auch zeitgenössische Nachrichten zugrunde liegen. Daß die Verse 281 ff. die für uns älteste Er­ wähnung der Germanen als aus Posidonius stammend enthalten, ist jedenfalls nicht zutreffend. 1 Sehr abfällig urteilt über Tacitus F r a h m , hist. Vierteljahrsschr. 24,181. Vgl. denselben Klio 23 (1929) über den Suebenbegriff (Strabo und Tac. Germ, im 2. Teil schöpfen aus älterer Quelle, die Germanien unter Rheingermanen u. Sueben aufteilte). Aber was Tac. sonst über das caput Sueborum berichtet, ist, wie schon bemerkt, von besonderem Wert.

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Einleitung

Wohl unter Antoninus Pius (138— 61) schrieb A p p i a n seine römische Geschichte, deren Quellen noch nicht einwandfrei festgestellt sind; er scheint durch eine Zwischenquelle u. a. Posidonius, Asinius Pollio, Li­ vius benutzt zu haben. Als sein Zeitgenosse darf gelten Gr an iu s L i c i ­ ni a n u s , der Verfasser eines aus Livius geschöpften Abrisses der Geschichte der römischen Republik. In die Zeit Mark Aurels (161— 80) fällt die Abfassung der Geographie des P t o l e m ä u s , in der auch das alte Germanien ausführlich behandelt ist. Die ptolemäische Darstellung ist der begleitende Text zu einem karto­ graphischen Werke; die in unseren Handschriften besonders im Cod. Urbinas erhaltenen Karten gehen nach J. F i s c h e r auf die Originale zurück.1 Über den Wert sind die Ansichten noch heute geteilt; sicher darf er nicht zu hoch eingeschätzt werden. So reich das zugrunde liegende Ma­ terial auch ist — es sind benutzt Itinerarien,1 2 Feldzugsberichte, Legions­ kataloge, auch kartographische Darstellungen,3 besonders aus der διώρθωσις τοϋ γεωγραφικού πίνακο; des Marinu s v o n T y r u s (Zeit Hadrians) — so läßt doch die Verarbeitung sehr zu wünschen übrig. Dies zeigen schon die doppelten, ja dreifachen Anführungen eines und desselben Volks­ namens, die argen Versehen bei der Benutzung des Tacitus (der berüch­ tigte Ort Siatutanda aus ad sua tutanda ist nicht aus der Welt zu schaffen). Astronomische Messungen kommen für Innerdeutschland überhaupt nicht in Betracht; die Lagenbestimmungen der einzelnen Orte beruhen hier z. T. auf ganz willkürlichen Schätzungen. Es geht nicht an, einfach durch Reduktion der Längen- und Breitenangaben das ptolemäische Kartenbild mit dem tatsächlichen in Einklang zu bringen.4 — Das ebenfalls unter Mark Aurel geschriebene medizinische Werk des G al en u s ist hier zu nennen wegen der Schilderung der während der Markomannenkrieges ausgebrochenen Pest. Das „Sophistenmahl“ des A t h e n ä u s , verfaßt um 190, ist wertvoll

1 Hauptwerk O. C u n t z , Die Geographie des Ptolemäus. Galliae, Germania, Raetia, Noricum usw. (Berlin 1923). J. F i s c h e r , Ptolemaei Geographiae Cod. Urbinas p. 82 (1932). Vgl. K u b i t s c h e k bei PW. X (1919), 2065 ff. 2 Das von Ptol. benutzte Itinerarmaterial für die r ö m i s c h e n Straßen stammte aus der Zeit des Antoninus Pius, vgl. Cuntz S. 126. 3 Daß die ptol. Karte von Deutschland aus zwei in verschiedenem Maßstabe gehaltenen Karten, von denen die eine das westliche, die andere das östliche Gebiet darstellte, zu­ sammengesetzt ist, habe ich hist. Vierteljahrsschr. 1902 S. 79 ff. (vgl. 1903 S. 579 ff.) ge­ zeigt. Vgl. dazu S c h ü t t e in den Beiträgen zur Gesch. d. deutsch. Sprache 41 (1916) S. 13. A. Gni rs in: Charistcria. Λ. Rzach z. 80. Geburtstag dargebracht (1930) S. 41 ff. 4 K. M i ll e r, Die Erdmessung im Altertum und ihr Schicksal. (Stuttgart 1919). S. 50: Es bleibt festzustellen, daß die Ortsbestimmungen des Ptol. keinen absoluten, nur rela­ tiven Wert haben und daß der Spezialforscher jeweils zu untersuchen hat, wie weit den­ selben gute und brauchbare Überlieferungen zugrunde liegen.

Quellen

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wegen der Benutzung des Posidonius, aus dem die älteste sichere Erwäh­ nung des Namens Germanen stammt. Im Aufträge des Kaisers Caracalla (211— 17) wurde als Seitenstück zu dem damals hergestellten kapitolinischen Stadtplan eine Weltkarte mit der Darstellung des römischen Straßennetzes angefertigt. Diese bildete die Vorlage der Tabula Peutingeriana sowie der Karten, aus denen das Itinerarium Antonini und die Geographie des sog. Anonymus Ravennas geflossen sind.1 A uf dieselbe Karte geht vielleicht zurück die auch ger­ manische Stämme erwähnende Völkertafel in der Chronik des Bischofs H i p p o l y t u s von Porto (geschrieben spätestens Anfang 235 in griechischer Sprache), die die Vorlage des sog. Liber generationis und des Barbarus Scaligeri bildete.1 2 Aus dem Anfang des 3. Jahrhunderts stammt sodann die bis 229 n. Chr. reichende römische Geschichte des Cassius D i o (etwa 235), von der uns leider nur die Bücher über die Jahre 68 vor — 47 nach Chr. einigermaßen vollständig erhalten sind, während der übrige Inhalt, also auch die vom Ver­ fasser selbsterlebte Zeit nur in Fragmenten und Auszügen (Xiphilinus, Zonaras) uns vorliegt. Über die Quellen ist etwas Abschließendes nicht zu sagen ; sein Hauptgewährsmann für die ältere Zeit war wohl Livius, ferner ist Cäsar benutzt, in der früheren Kaiserzeit folgt er der Annalistik dieser Epoche, darunter einer Quelle, die auch Tacitus verwertet hat. Das Geschichtswerk des H e r o d i a n über die Zeit 180— 238 kommt mehr für die Ereignisse im Orient in Betracht. Dagegen scheint der Abriß der römischen Geschichte bis Alexander Severus (Χιλιέτηρις) des A s i n i u s Q u a d r a t u s auch der germanischen Verhältnisse ausführlich gedacht zu haben.3 Der wichtigste Historiker des dritten Jahrhunderts ist der Athener P. H e r e n n i u s D e x i p p u s , Verfasser von Χρονικά (Hauptwerk: Urzeit bis auf Claudius II) und von Σκυθ-ικά (die Germaneneinfälle von etwa 238— 71). Seine Darstellung beruht zum großen Teile auf eigenen Erleb­ nissen und ist daher von besonderem W ert; sie liegt uns außer in größeren Fragmenten vor besonders bei den Scriptores historiae Augustae, bei Zosimus, Petrus Patricius (dem sog. Anonymus post Dionem) und Georgius Syncellus, bei dem letztgenannten durch Vermittelung des verlorenen alexandrinischen Chronographen Panodorus.4 1 Vgl. K u b i t s c h e k in den Jahresbeften des österr. Archäol. Inst. V (1902) S. 80 ff., sowie bei PW . RE . X , 2113 ff. Cuntz, Ptolemäus S. 137. 2 A. B a u e r , Die Chronik des Hippolytus im Matritensis Graecus 121 (Texte u. Unter­ suchungen z. Gesch. d. altchristl. Lit. 29 [1905]). Mommsen, Chron. min. I. 78 ff. F r i c k , Chronica minora I (1892) S. 1 ff. Hippolytus, Werke Bd. II. Chronik hergestellt von A. Bauer, hrsg. von R. Helm 1929 § 221. S. 87, 492 (D. griech. christl. Schriftsteller Bd. 36). 2 Vgl. Jacoby, Fragm. II A 447 ff., C 300 ff. ' 4 Jacoby II A 452 ff., C 304 ff. S c h m i d t , Ostgermanen 2

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Einleitung

Ein Fragment der am Ende des 3. Jahrhundert geschriebenen Historien des E u s e b i u s s c h o l a s t i c u s bietet eine Erzählung von der Belagerung Thessalonikes durch die Goten (Skythen) im Jahre 254.1,2 Der Zeit Diokletians und Konstantins wurde früher zugeschrieben die H i s t o r i a A u g u s t a , die Geschichte der Kaiser von Hadrian bis Numerian (117— 284) mit einer Lücke von 244 bis 260, die sich als das Werk ver­ schiedener Verfasser bezeichnet. Nach den neuesten Untersuchungen von Baynes1 *3 ist dieselbe aber die Arbeit eines Schwindlers, der unter Julian lebte (um 362/63). Immerhin ist sie nicht wertlos, da sie verlorene gute Quellen, u. a. den Dexippus und die Kaiserbiographien (von Nerva bis Elagabal) des Marius M a x im u s (der etwa 165— 233 lebte) benutzt hat. Eine wichtige Quelle ist der sog. L a t e r c u l u s V e r o n e n s i s , ein Provin­ zialverzeichnis aus der Zeit Diokletians oder wenig später4 mit einem Anhang über die barbarischen Völker, die die Grenzen des römischen Reiches bedrohten. Manch wertvolle Notiz verdanken wir den in der Sammlung der X II P a n e g y r i c i ve t e re s vereinigten Lobreden auf Maximian, Diokletians Mitregenten, Constantius, Konstantin d. Gr. (aus den Jahren 289— 321), auf Julian (362) und Theodosius I. (389),5 sodann dem Lobgedichte des O p t a t i a n u s P o r f y r i u s auf Konstantin (325)6 und der um 313 verfaßten, dem L a c t a n t i u s zugeschriebenen Schrift de mortibus persecutorum. Wenig zuverlässig sind die Angaben des E u s e b i u s v o n C äsarea, dessen Leben Konstantins und die Kirchengeschichte (bis 324) hier zu erwähnen sind. Eine verlorene römische Kaisergeschichte, die etwa bis zur Schlacht bei Straßburg (357) reichte, liegt uns in mehreren Ableitungen vor. Zunächst in dem A n o n y m u s V a l e s i a n u s pars I, der eine Geschichte der Jahre 305— 37 bietet und unser bester Gewährsmann für die Gotenkriege der konstantinischen Zeit ist;7 ferner in den Abrissen der römischen Geschichte von A u r e li u s V i c t o r (Caesares, bis gegen das Ende des Constantius, verfaßt 360, und Epitome bis zum Tode des Theodosius), F es tu s (Bre­ viarium bis 369), E u t r o p i u s (Breviarium bis 364), die für die ältere Zeit aus einer Liviusepitome schöpften, in der Chronik des Hieronymus,8 mit 1 Jacoby II A 452 ff., C 304 ff. 2 Jacoby II A 480, C 311 f. 3 The Historia Augusta, its date and purpose (1926). 4 Nach B u r y im Journal of Roman studies 13 (1923) S. 127 ff. stammt der den Osten betr. Teil aus der Zeit 308 — 25, der westliche aus 306 — 15. 5 Über die Datierung vgl. O. S c h ä f e r , Die beiden Paneg. des Mamertinus usw. Diss. (Straßburg 1914) S. 11 ff. 6 Vgl. E. K l u g e im hist. Jahrbuch 42 (1922) S. 101. L. S c h m i d t in d. Ungar. Jahr­ büchern V (1925) S. 114. 7 Vgl. R a p p a p o r t , Die Einfälle der Goten (1899) S. 8. 8 Vgl. H e l m im Rhein. Mus. 76 (1927) S. 138 ff., 254 ff.

Quellen

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späteren Fortsetzungen auch bei dem Kirchenhistoriker Sokrates und bei Zonaras. Die ursprünglich in Italien zusammengestellten K o n s u l l i s t e n wurden unter Konstantin d. Gr. in Byzanz fortgeführt und mit wichtigen Zusätzen versehen. Benutzt wurden dieselben von Hieronymus für seine Chronik 326— 78; ein bis 395 geführtes Exemplar liegt uns mit einer spanischen Fortsetzung bis 468 in den sog. Fasti Hydatiani vor; andere Redaktionen bis ins 6. Jahrhundert hinein bieten namentlich das Chronicon paschale und der oströmische Chronist Marcellinus Comes. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts dürfte entstanden sein die T a b u l a P e u t i n g e r i a n a . Sie geht, wie schon bemerkt, zurück auf eine unter Cara­ calla hergestellte Weltkarte mit Angabe der Straßen, die, um das Wegenetz in Buch- d. h. Rollenform abzubilden, von Nord nach Süd zusammenge­ drückt, von West noch Ost auseinandergereckt wurde (Cuntz, Ptolemäus S. 137). Von den germanischen Völkern, die die Tabula verzeichnet, haben gewiß nicht alle in der Vorlage gestanden; die Bezeichnung der Chamaven als Franken dürfte auf die Zeit Julians hinweisen. Von den Schriften des Kaisers J u l i a n (331— 63) kommen besonders die Reden und Briefe sowie die Schrift Καίσαρες als geschichtliche Quellen in Betracht; verloren ist seine Denkschrift über die Schlacht bei Straß­ burg, die von Ammian und Libanius benutzt wurde. Wertvolles Material enthalten auch die Reden und Briefe des L i b a n i u s (314— 93),1 des T h e m i s t i u s (etwa 330— 90), der bei dem Friedensschluß zwischen dem Kaiser Valens und dem Westgotenführer Athanarich im Jahre 369 selbst zugegen war, des Bischofs A m b r o s i u s von Mailand (etwa 340— 97), des S yn es iu s v o n K y r e n e (etwa 370— 413), besonders die Rede Περί βασιλείας und die romanhafte Schrift Περί προνοίας1 2 des Q. A u r e li u s S y m m a c h u s (f 405), ferner die Gedichte (an Bissula; Mosella verfaßt 371) und die Danksagungsrede an Gratian (379) des A u s o n i u s , der an dem Alamannen­ feldzug des Jahres 368 teilgenommen hatte. Nicht mehr erhalten ist die Bearbeitung und Fortsetzung der Eusebianischen C h r o n i k durch einen anonymen Arianer aus Antiochien in griechischer Sprache am Ende des 4. Jahrhunderts; sie bildete eine Haupt­ quelle für Hieronymus, Sokrates, Sozomenus, Theodoret, Philoetorgius, das Chronicon paschale, Theophanes, Zonaras, einige syrische Chronisten.3 Eine Arbeit gleicher Art ist die Chronik des H i e r o n y m u s v o n S t r i d o n 1 Vgl. zusammenfassend F ö r s t e r bei PW. X II, 2485 ff. 2 Vgl. S i e v e r s Studien zur Geschichte der röm. Kaiser (1870) S. 379 ff. M o m m s e n im Hermes 36, 210. C r a w f o r d , Synesius the Hellene (1901). G r ü t z m a c h e r , S. v. K. (1913). 3 Vgl. B i d e z in seiner Ausgabe des Philoetorgius Leipz. 1913. S. CLI ff., 203 ff. und in "Mélanges d’histoire off. à H. Pirenne (1926) S. 23 ff. a*

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Einleitung

(j· 420) bis 378, die auf dem Werke des Antiochiers, den Konsularfasten, einer römischen Kaisergeschichte u. a. beruht; wichtig sind ferner des­ selben Briefe. Eine Fortsetzung (und Ergänzung) der Eusebianischen K i r c h e n g e g e s c h i c h t e lieferte Ge la s iu s v o n Cäsarea (j· 395), die von Constan­ tius I. bis Theodosius I. reichte; sie wurde ausgeschrieben von dem Kir­ chenhistoriker Gelasius von Cyzicus (Syntagma, verfaßt um 475), in dem Chronicon des Georgius Monachus und besonders (mit einigen Änderungen) in den beiden letzten Büchern der lateinischen Kirchengeschichte des Rufinus von Aquileja.1 Für die Geschichte der Verbreitung des Christentums unter den Goten sind außer den noch zu erwähnenden allgemeinen kirchengeschichtlichen Werken wichtig das Schreiben des arianischen Bischofs von Durostorum A u x e n t i u s , der gotische F e s t k a l e n d e r , 2 1 die P a s s io s. S aba e (f 372),3 die P assio ss. I n n a e , R i m a e et P i n a e , 4 die Akten über das M a r t y ­ r iu m der 26.5 die Briefe des B a s il iu s v o n Cäsarea (f 379), die Kate­ chesen des C yr ill us von Jerusalem (350), das zwischen 374 und 77 verfaßte Panarion des E p i p h a n i u s von Salamis (lib. I ll, tom. 1. haer. 70 cap. 14. 15). Die 402 verfaßte Fortsetzung der Eusebianischen Kirchengeschichte des R u f i n u s ist, wie soeben bemerkt, im wesentlichen aus Gelasius von Cäsarea geschöpft. Um 390 ist das Geschichte werk des A m m i a n u s M a r c e l l i n u s ent­ standen, das die Zeit von 96— 378 behandelte und von dem die Bücher 14— 31 (Jahre 353— 78) noch erhalten sind, eine wertvolle Quelle für diese Zeit, da der Verfasser selbst den Ereignissen vielfach nahegestanden hat und aufrichtig bemüht gewesen ist, die Wahrheit zu sagen. Die Frage nach den benutzten Quellen ist schwer zu beantworten; wir können von diesen u. a. Timagenes und die Denkschrift Julians über den Alamannen­ krieg nennen. Die geschichtlichen Gedichte des C la ud iu s C l a u d i a n u s (f etwa 405) auf Vorgänge der Zeit von 395— 404 sind mangels anderer Zeugnisse wichtig für die Geschichte Stilichos, der hier über Gebühr verherrlicht 1 Vgl. G l a s, die Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia, Byzant. Archiv VI (1914). Gelasius (v. Cyzicus), Kirchengeschichte, hrsg. von Löschke u. Heinemann. Leipz. 1918 S. X X V I I I ff. 2 A c h e l i s in der Zeitschrift f. neutest. Wissenschaft I (1900) S. 309 ff. Vgl. D e l e h a y e , Analecta Bollandiana 31 (1912) S. 275 ff. L ö w e , Zeitschr. f. deutsch. Altertum 59 (1922) S. 248 ff. 3 Anal. Boli. a. O. S. 216 ff. 4 Ebenda S. 215 f. 5 Achelis a. a. O. S. 318 ff.

Que l l e n

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•wird, und dessen Beziehungen zu den germanischen Völkern, besonders zu den Westgoten. Von den Gedichten des P a u l in u s aus Burdigala (f 431) (seit 394 in Nola, 409 Bischof daselbst) ist das 26. bemerkenswert als Ausdruck der Stimmung der italienischen Bevölkerung nach dem Siege über Radagais (406). Episoden aus der Zeit der Eroberung Roms durch Alarich 410 bringt in anschaulicher Darstellung das Leben der heil. Melania (f 439) von G e r o n t i u s , dem Nachfolger der Melania in der Ver­ waltung der Klöster zu Jerusalem. Ein Zeitgenosse des Kaisers Theodosius I. (oder II. ?) im Westreiche war V e g e t i u s , Verfasser der Epitoma rei militaris für die Geschichte des spätrömischen Kriegswesens und der Mulomedicina; in letzterer Schrift wird zum ersten Male der Name der Thüringer erwähnt. Ein sonst imbekanntes Werk eines gewissen P a r t h e n i u s aus Phokäa (4. Jahrhundert ?) hatte nach Anführungen bei Stephanus von Byzanz der Goten und Franken gedacht. Eine wertvolle Geschichtsquelle, die seit dem 5. Jahrhundert in immer steigendem Maße an Bedeutung gewinnt und auch noch für das 6. Jahr­ hundert von Wichtigkeit ist, sind die mit historischen Daten versehenen i t a l i e n i s c h e n K o n s u l a r f a s t e n (Consularia Italica), die einer ganzen Reihe ost- und weströmischer Chronisten als Grundlage gedient haben. Ob es sich hierbei um eine amtliche Veröffentlichung handelt, ist zweifel­ haft; man hat wohl richtiger an eine Privatarbeit zu denken. Verloren sind die von dem Kirchenhistoriker Sokrates Scholasticus be­ nutzten dichterischen Bearbeitungen des Aufstandes des Gainas (400) durch dessen Zeitgenossen E u s e b i u s S c h o l a s t i c u s (Γαϊνία) und A m m o n i u s (438). Aus derselben Zeit stammt die in 3 Rezensionen erhaltene Kosmographie des Ju li u s H o n o r i u s , die den Text einer im 4. Jahr­ hundert ( ?) verfaßten Weltkarte bietet. Die dritte Fassung, nicht älter als aus dem 5. Jahrhundert, die außer Zusätzen aus Orosius auch eigene Zutaten ohne besonderen Wert bringt, geht in jüngeren Handschriften unter dem Namen des A eth icu s·.1 Das im Jahre 416 verfaßte Gedicht des R u t i l i u s N a m a t i a n u s de reditu suo enthält manche brauchbare Notiz zur Zeitgeschichte, über Stilicho, dessen Politik scharf kritisiert wird,1 2 und über die Zustände Galliens, das unter den damaligen Kriegs­ zügen der Westgoten so schwer zu leiden hatte. Der Abriß der Weltgeschichte des Spaniers Paulus Or os iu s bis 417 ist trotz des einseitigen (christlich-orthodoxen) Standpunktes des Verfassers 1 Vgl. bes. K u b it s c h e k bei PW. X , 614 ff. 2 Vgl. O. S c h is e e l-F le s c h e n b e r g , Cl. Rut. Nam. gegen Stilicho (1920), der aber dem (Gedichte hinsichtlich Stilichos zuviel Glauben beimißt. Vgl. auch E. S te in , Geschichte les spätrömischen Reiches I (1928), 382.

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Einleitung

von etwa 378 ab eine gute Quelle. Der zu Anfang des Werkes stehende kosmographische Abschnitt ist aus der Dimensuratio provinciarum (oben S. 10) und anderen geographischen Quellen, die auf den Stand des 4. Jahrhunderts hinweisen (Dacia ubi et Gothia), geschöpft. Die älteren Partien der rö­ mischen Geschichte beruhen zum großen Teile auf dem epitomierten Livius und haben, insoweit sie aus den verlorenen Büchern geschöpft sind, selbständigen Wert. Orosius verfaßte sein Werk auf Veranlassung des heil. A u g u s t i n u s (f 430), unter dessen Schriften die Abhandlung De civitate Dei und die Briefe einiges für unsere Zwecke Brauchbares bieten. Das Leben Augustins behandelte kurz nach dessen Tode P o s s i d i u s , der hier­ bei auch den Einfall der Wandalen in Afrika schildert, das des Ambrosius P a u l in u s v o n M a il a n d mit einer wichtigen Notiz über die Bekehrung der Markomannen. P r o s p e r T i r o geh. um 400, lebte bis etwa 440 in seiner Heimat in Aqui­ tanien, von da ab am päpstlichen Hofe, wo er auch seine Chronik, die in erster Fassung bis 445, in zweiter bis 455 geführt ist, als Fortsetzung des Hieronymus verfaßte. Seine Mitteilungen über das 5. Jahrhundert sind von großem Werte, wenn auch wegen vieler Flüchtigkeiten mit Vorsicht zu benutzen; bis etwa 425 liegen denselben die Konsularfasten zugrunde, von da ab berichtet er als Zeitgenosse. Die Prosperhandschriften wurden schon frühzeitig in Afrika mit Fortsetzungen und mit Zusätzen versehen, die namentlich aus den italienischen Fasten geschöpft sind. Irrtümlicherweise wurde früher dem Prosper zugeschrieben die bis 452 reichende südgallische Chronik (Chronicon imperiale), eine wichtige Quelle (von 395 ab) für die Geschichte Galliens, trotz zahlreicher chronologischer Fehler. Aus einer ausführlicheren Fassung derselben Quelle stammt auch die Narratio de imperatoribus domus Valentinianae et Theodosianae (bei Mommsen, Chron. min. I, 629 f.), verfaßt von einem Zeitgenossen des Kaisers Theodosius II. Eine Episode aus der Geschichte der Westgoten in Gallien (414) schildert auf Grund eigener Erlebnisse P a u l i n u s v o n Pell a in seiner erst 459 niedergeschriebenen poetischen Lebensbeschreibung „Eucharisticon“ . Von einem anderen P a u l in u s (von P é r i g u e u x ) besitzen wir eine poetische vita Martini, mit einem wichtigen Zeugnisse für die Kämpfe der Römer mit den Westgoten 459. Aus Gallien stammen ferner die beiden geschichtlich nicht unwichtigen Gedichte: Carmen de providentia divina (von Prosper?, geschr. 417) und des O r i e n t i u s Commonitorium (Anfang des 5. Jahrhunderts) sowie das um das Jahr 450 entstandene Werk des Presbyters S a l v i a n u s v o n M a r se i ll e De gubernatione Dei, eine Fundgrube für die Kenntnis der sozialen, wirtschaftlichen und sittlichen Zustände im sinkenden Römer­

Qu e l l e n

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reiche, aber auch für die Geschichte der germanischen Völker nicht ohne Bedeutung. Nur in Fragmenten besitzen wir geschichtliche Gedichte des Spaniers M e r o b a u d e s , unter denen besonders ein Panegyrikus auf das 3. Kon­ sulat des Aetius (446) bemerkenswert ist.1 Die Heldentaten des Aetius hat auch ein Dichter Q u i n t i a n u s , der von Ligurien nach Gallien über­ gesiedelt war, besungen (nur bekannt aus Apoll. Sid. carm. IX , 289). Wichtig ist das Verzeichnis der römischen Provinzen des P o l e m i u s S i l ­ viu s vom Jahre 449, nach Bury1 2 Kopie eines älteren, um 394 zusammen­ gestellten Laterculus; es wurde am Ende des 6. Jahrhunderts interpoliert und bildete in dieser Gestalt die Quelle des in der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus ausgeschriebenen Provinzialkataloges. Zu derselben Gattung gehört die N o t i t i a G a l l i a r u m mit Angabe der Städte und Bischofssitze, geschrieben zwischen 390 und 413. Um 480 verfaßte C o n s t a n t i u s das Leben des Bischofs Germanus von Auxerre (etwa 418— 48), das einige nicht unwichtige Angaben zur Geschichte Galliens und Britanniens bringt.3 Eine Hauptquelle für die Geschichte der in Gallien gegründeten Reiche, insbesondere der Westgoten, sind die Briefe und Gedichte des A p o l l i ­ naris S i d o n i u s (f um 483), der als Gegner des Königs Eurich auch eine politische Rolle gespielt hat. In diesem Zusammenhang ist ferner zu nennen die rhythmische Epistel des Bischofs A u s p i c i u s v o n T o u l von etwa 475 an den Grafen Arbogast von Trier, die über die Geschichte der ripuarischen Franken neues Licht verbreitet. Besonders für die Geschichte der spanischen Sweben ist von Bedeutung die zuverlässige Chronik des Bischofs H y d a t i u s von Lamego in Galicien, in der ab 427 Selbsterlebtes berichtet wird. Leider verloren eind die, wie es scheint, ausführlichen und wertvollen Geschichtswerke des S u l p i c i u s A l e x a n d e r und R e n a t u s P r o f u ­ t ur us F r i g e r i d u s , 4 die beide nur aus Anführungen Gregors von Tours (Hist. Franc. II, 8. 9) bekannt sind. Alexander behandelte, vermutlich als Fortsetzer Ammians, im dritten Buche das Jahr 388, in vierten das Jahr 389; weiter wird er noch für Ereignisse der Jahre 392 und 393 zitiert. Die früheste Anführung des Frigeridus bezieht sich auf das Jahr 406; im zwölf­ ten Buche erzählte er die Geschichte der Jahre 423— 25. Wahrscheinlich schrieb Frigeridus zu Lebzeiten des Aetius, den er über Gebühr verherrlicht ;5 1 Nicht auf das z w e ite Konsulat 437. Vgl. meine Ausführungen Byzant. Zeitschrift (1903) S. 602 f. 2 Journal o f Roman studies 13 (1923/25) S. 149 ff. 2 Vgl. L e v is o n im Neuen Archiv 29 (1904) S. 95 ff. M. G. SS. Merov. V II 225 ff. 4 Frigeridus ist die richtige, auch inschriftlich bezeugte Form. 5 Vgl. Mommsen im Hermes 36 (1901) S. 516 N. 6.

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sein Geschichtswerk reichte vielleicht bis zum Tode des Kaisers Theodo­ sius II (450,28. Juli). Für die Geschichte des Wandalenreiches in Afrika ist eine Hauptquelle die um 486 geschriebene Historia persecutionis Afri­ canae provinciae des V i k t o r v o n V it a. Dazu gesellen sich die Pa s s io s e p t e m m o n a c h o r u m , ein Bericht über das Martyrium von 7 Mönchen eines Klosters in der Byzacena unter Hunerich, die N o t i t i a p r o v i n ­ c i a r u m et c i v i t a t u m A f r i c a e , eine in der kgl. Kanzlei aufgestellte Liste der an dem Religionsgespräch zu Karthago 484 teilnehmenden orthodoxen Bischöfe,1 die Satisfactio ad Gunthamundum regem des D r a c o n t i u s (um 491). Reicheren StofF als die abendländischen Geschichtschreiber des 5. Jahr­ hunderts bieten die oströmischen in griechischer Sprache verfaßten Quellen. Einige nur unbedeutende Notizen enthält das geographische Lexikon des S t e p h a n u s v o n B y z a n z , während desselben Verfassers verlorene Byzantiaka ausführlicher über die Goten gehandelt zu haben scheinen. E u n a p i u s schrieb als Fortsetzer des Dexippus eine Geschichte derZeit bis 404 (ιστορικά υπομνήματα), wobei er u. a. das Geschichtswerk Ammians benutzte; O l y m p i o d o r behandelte die Jahre 407— 25. Während diese beiden Autoren nur noch in Fragmenten vorliegen, ist die bis zum Jahre 410 reichende römische Kaisergeschichte des Z o simus zum größten Teile noch erhalten. Zosimus schöpfte bis 270 aus Dexippus, bis 404 aus Euna­ pius, sodann aus Olympiodor. Nur Bruchstücke besitzen wir dagegen wiederum von den trefflichen Darstellungen des P ri s k u s (über die Zeit etwa 440— 72), des M a lc h u s (473— 80) und des C an d id u s (457— 91). Wichtiges Material verdanken wir auch den Kirchenhistorikern jener Zeit, die das Werk des Eusebius fortsetzten. Leider nur auszugsweise er­ halten ist das um 430 vollendete, durch Zuverlässigkeit ausgezeichnete Werk des Eunomianers P h i l o s t o r g i u s 2 aus Kappadokien für die Zeit 300— 425, das auf einem reichen Quellenmaterial fußt : Eunap, Olympiodor, den oströmischen Konsularfasten, gemeinsamen Vorlagen mit Ammian, Orosius, Prokop, ferner dem arianischen Fortsetzer Eusebs und eigenen Kenntnissen. Die nicht minder wertvolle Kirchengeschichte des S o k r a t e s S c h o l a s t i c u s 3 aus Konstantinopel für die Zeit 305— 439 beruht auf den schon erwähnten Kaiserbiographien, Rufin, den Fasten, den Gainia des Eueebius Scholasticus und Ammonius sowie auf selbständigen Ermitte­ lungen. S o z o m e n u s für die Zeit 324— 439 (erhalten nur bis 425) beruht in der Hauptsache auf Sokrates, Olympiodor, Rufin, vereinzelt auch auf Eunap, Philostorgius, Eutrop, ferner auf urkundlichem Material und münd-*8 1 Vgl. H e u b e r g e r in den Mitteilungen des öst. Instituts f. Gescb. Erg.-Bd. 11 (1929) S. 109. 2 Vgl. Bidez in der Einleitung zu seiner Ausgabe. 8 Vgl. E l t e s t e r bei PW. II 3, 893 ff.

Quellen

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liehen Quellen. T h e o d o r e t v o n K y r r h o e 1 (bis 428; schrieb 449/50) be­ nutzte Rufin, Philostorgius, Sokrates, Sozomenus, aber auch deren Quel­ len und ist deshalb nicht obne Wert, der nur durch den einseitigen ortho­ doxen Standpunkt des Verfassers gemindert wird. Auch aus dem s e c h s t e n Jahrhundert ist eine große Zahl wichtiger Quellen zu verzeichnen, die jedoch leider ebenfalls zum großen Teile nur in Bruchstücken erhalten sind. Wertvolle Nachrichten, besonders für die Geschichte der Westgoten, bietet die Chronik des sog. Severus Sulpicius (C h ro n ica G a l l i c a ad a. 511), die auf einer in Arles hergestellten Redaktion der Konsularfasten beruht, derselben Quelle, die bis 450 in dem sog. Chronicon imperiale vorliegt. Diese südgallischen Annalen sind ferner auch von Gregor v. Tours, Marius von Aventicum, dem Kopenhagener Fortsetzer des Prosper benutzt worden. Unter den in jener Zeit in Gallien verfaßten Schriften von geschicht­ licher Bedeutung sind weiter zu nennen die besonders für die burgundische Geschichte 495— 518 wichtigen Briefe des A l c i m u s A v i t u s , Bischofs von Vienne (f um 518), die vita patrum Iurensium (Romani, Lupicini, Eugendi), wohl aus dem Anfang des 6. (nicht wie Krusch will, erst aus dem 9. Jahrhundert), die treffliche Chronik des Bischofs Marius v o n A v e n ­ t i c u m (f 594) von 455— 581, die soweit sie nicht Selbsterlebtes schildert, auf gleichzeitigen annalistischen Aufzeichnungen beruht, die Lebensbe­ schreibung des Bischofs Cäsarius von Arles (f 542), die von einem Zeit­ genossen herrührt, die Gedichte und Heiligenleben den V e n a n t i u s F o r ­ t u n a t u s , Bischofs von Poitiers (f 600); an erster Stelle aber steht die bis 591 reichende fränkische Geschichte G r e g o r s v o n T o u r s (f 594). Ihr Hauptwert liegt in der Darstellung der vom Verfasser selbst erlebten Zeit; die älteren Abschnitte beruhen nur zum kleinsten Teile auf historischen Aufzeichnungen, in der Hauptsache aber auf Volksüberlieferungen und kirchlichen Legenden und lassen Genauigkeit und Zuverlässigkeit sehr vermissen; insbesondere die Geschichte Chlodowechs ist nur mit äußer­ ster Vorsicht zu benutzen, da sie ganz von der Anschauung abhängig ist, die in dem Könige in erster Linie den Vorkämpfer des orthodoxen Glaubens sieht.1 2 Aus Spanien stammen die Chroniken des M a x i m u s v o n Z a r a g o z a (leider nur in Fragmenten über die Zeit 450— 568 erhalten) und des J o ­ hannes v o n B i c l a r o (für 567— 90); Erwähnung verdienen auch die Schriften des M a r t i n v o n B r a c a r a ( f 580): Formula vitae honestae 1 Vgl. P a r m e n t ie r in der Einl. zu seiner Ausgabe (Leipzig 1911) S. L X X III. 2 Vgl. zuletzt K u r t h , Etudes franques II (Paris 1919) S. 116 ff. H a lp h e n in Mé­ langes d’histoire du moyen âge off. à F. Lot (1925) S. 235 ff.

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Einleitung

und De correctione rusticorum für die Geschichte des Swebenreiches. In Afrika schrieben der Bischof F u l g e n t i u s v o n R u s p e (f 533; besonders zu nennen die Mythologia, die drei Bücher gegen Thrasamund, der Liber unus contra Arianos, Briefe), die in der Anthologie des C o d e x S a lm a s ianus (6. Jahrhundert) vereinigten Dichter, wichtig für die Kenntnis des Kulturlebens im Wandalenreiche, der Laterculus regum Vandalorum et Alanorum (Chron. min. III, 458 ff.), geschrieben nach dem Sturze des Wandalenreiches auf Grund guter älterer Quellen, der Chronist V i k t o r v o n T o n n e n a (f 569; für die Zeit 444— 566). Für die Kenntnis der Zu­ stände in den Donauländern zur Zeit der Völkerwanderung ist von un­ schätzbarem Werte die 511 verfaßte Lebensbeschreibung des heil. Severi­ nus ( f 482) von E u g i p p i u s . Die Geschichte der angelsächsischen Er­ oberung Britanniens erzählt als erster britischer Schriftsteller G i l d a s in seinem Werk De excidio Britanniae, verfaßt kurz vor 547. Was aus Italien an geschichtlicher Literatur auf uns gekommen ist, stammt in der Hauptsache aus der Regierungszeit des Ostgotenkönigs Theoderich. Eine Hauptrolle spielen die Konsularfasten. Von E n n o d i u s , Bischof von Pavia (f 521), sind besonders die vita Epifanii ep. Ticinensis (verfaßt um 503), der Panegyrikus auf Theoderich (um 506) und die Briefe1 zu erwähnen. Der 525 hingerichtete Q. A u r e l i u s S y m m a c h u s (cons. 485) verfaßte eine römische Geschichte in sieben Büchern, von der nur ein Stück bei Jordanes (Getica c. 15) über den Kaiser Maximinus erhalten ist. Besonders sind zu erwähnen die Schriften des M ag nu s A u r e l i u s C a s s i o d o r u s S e n a t o r , des Ministers Theoderichs, unter denen die auf Befehl des Königs verfaßte, zwischen 526— 33 vollendete Geschichte der Goten in 12 Büchern das größte Interesse beansprucht; dieselbe liegt uns leider nur in dem oberflächlichen Auszuge vor, den Jordanes im Jahre 551 in Konstantinopel verfertigte. Wieviel von dem Werke Cassiodors bei Jordanes noch vorliegt, ist eine vielerörterte Streitfrage; die Mehrzahl der Forscher ist jedoch der Ansicht, daß letzterer außer den Chroniken des Orosius und Marcellinus Comes, vielleicht auch der Kirchengeschichte des Sokrates im wesentlichen nur den Cassiodor benutzt hat. Als Quellen des Cassiodorischen Werkes haben verschiedene griechische und römische Schriftsteller u. a. Dio Chrysostomus, Trogus, Ammian, Priskus, Ablabius, geographische Quellen (auch Karten),1 2 besonders aber ost- und 1 Vgl. besonders S u n d w a ll, Abhandlungen zur Geschichte des ausgehenden Römerturns (1919) S. 1 ff. 2 Die Beschreibung von Scandzia Get. 16 ff. geht nicht auf einen Bericht des Königs Rod wulf von Norwegen zurück, sondern beruht teils auf einer auch von Prokop benutzten, aus verschiedenen, auch älteren Elementen kompilierten literarischen Quelle teils auf Itinerarien, die miteinander vereinigt und m it anderswoher entlehnten Charakteristiken ausgeschmückt wurden. Vgl. W e ib u ll im Arkiv f. nord, filol. NF. 37 (1925) S. 215 ff.

Quellen

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westgotische Volksüberlieferungen gedient.1 Aus diesen Grundlagen hat Cassiodor eine Darstellung zusammengearbeitet, die sich von wirklicher Geschichte weit entfernt und von Entstellungen, Widersprüchen und Un­ möglichkeiten wimmelt. Seine offenkundige Tendenz, die er namentlich in den Varien (IX 25; X I 1, vgl. dazu v. Sybel, Entstehung des deutschen Königtums. 2. Aufl. S. 184 ff.) dargelegt hat, war die, den Goten eine möglichst alte und ruhmvolle Geschichte zuzuweisen und das zu seiner Zeit regierende Geschlecht der Amaler zu verherrlichen, insbesondere den König Athalarich als Sprößling uralter Ahnen zu legitimieren; demgemäß hat er nicht nur die Geschichte der Skythen und Geten der der Goten hinzugefügt, sondern auch die Herrschaft der Amaler, und zwar bis zum Hunnen-Einfall über alle Goten, seitdem bloß über die Ostgoten, 16 Ge­ nerationen oder etwa 500 Jahre vor Athalarich beginnen lassen, diesem 16 amalische Vorgänger auf dem gotischen Königsthrone zugeschrieben. Die zugrunde liegende amalische Geschlechtstafel ist zwar auch in ihren älteren Bestandteilen imzweifelhaft zum größten Teile nationalgotischen Ursprungs, nicht wie Schirren und Sybel behaupten, völlig eine Erfin­ dung Cassiodors — das letztere gilt nur von dem Teile der Genealogie, der die Vorfahren Eutharichs behandelt, wie später zu zeigen sein wird — ; ganz Cassiodorisch ist aber ihre geschichtliche Verwertung, und diese ist willkürlich und kritiklos genug durchgeführt worden. Dem Grundgedanken des Werkes zuwider hat Cassiodor an Stelle einzelner Amaler, über deren Taten nichts zu erzählen war, bekannte nichtamalische Helden aus der griechisch-römischen Literatur oder der gotischen Tradition als Könige auf den Thron Athalarichs eingesetzt (Ariarich, Geberich usw.). Ferner heißt es Jord. § 80, daß Ostrogotha die Ost- und Westgoten beherrschte, § 130 wird die Trennung beider gotischer Stämme in die Zeit kurz vor dem Hunnensturm verlegt. Dagegen steht § 82 unter Berufung auf Ablabius, daß am Schwarzen Meere der eine Teil der Goten, über den Ostrogotha herrschte, Ostrogoten, der andere Wesegoten genannt worden sei; § 42 wird gesagt, daß die Goten nach der Ankunft am Pontus sich unter zwei Geschlechter verteilt, die Ostrogoten den Amalern, die Wesegoten den Balthen gedient hätten. Diese Widersprüche und Inkonsequenzen dem Jordanes beizumessen, geht nicht an; denn diesem standen westgotische Überlieferungen schwerlich zu Gebote, und eine solche liegt z. B. offenbar der Erzählung über Geberich und dessen Wandalenkrieg zugrunde (§ 113 ff.).1 2 1 Auf solche wird an mehreren Stellen Bezug genommen. Vgl. z. B. Jord. 162. Charak­ teristisch ist der häufig in ihnen zum Ausdruck gelangende Haß der Goten gegen die Wandalen, der auf eine uralte Zeit zurückgeht und nicht etwa erst von Jordanes herein­ gebracht worden ist, wie man wohl angenommen hat. 2 A uf w e s t g o t is c h e Tradition ist auch § 43 deutlich Bezug genommen ; die hier genann­ ten Helden sind ohne Zweifel, wie die Erwähnung Frithigerns zeigt, sämtlich Westgoten.

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Einleitung

Das Werk Cassiodors hat daher nur geringen Wert und steht tief unter der ihr entsprechenden Langobardengeschichte des Paulus Diaconus. Dieselbe geschichtsfälschende Tendenz tritt schon in der früher, 519, anläßlich des Konsulatsantritts Eutharichs herausgegebenen Chronik hervor, einem kläglichen Machwerk, das nur wegen der Benutzung ver­ lorener Quellen (Liviusepitome, Aufidius Bassus, Konsularfasten) einigen Wert besitzt. Ein Produkt seiner Eitelkeit ist die Herausgabe der von ihm konzipierten königlichen Briefe, Erlasse, Bestallungen, der Variae,1 von deren zwölf Büchern die ersten sieben hier in Betracht kommen; sie waren bestimmt, der Welt die Gelehrsamkeit und stilistische Gewandtheit ihres Verfassers vor Augen zu führen und als Musterbeispiele zu dienen. Un­ beabsichtigt hat er damit der Geschichtsforschung einen großen Dienst erwiesen, obwohl er manche Stücke, die ihn zur Zeit der Herausgabe des Ganzen (537) kompromittieren konnten, weggelassen oder geändert hat. Als Quelle Cassiodors in der Gotengeschichte wurde oben A b l a b i u s (oder Ablavius) genannt, nach Jordanes § 28 „descriptor Gothorum gentis egregius“ . Über diesen Historiker schwebt ein nicht zu enthüllendes Dunkel; sicher ist aber die Annahme, daß derselbe aus gotischen Helden­ liedern und dergl. geschöpft habe, nicht aufrechtzuerhalten.1 2 Vermut­ lich ist er eine Person mit dem gleichnamigen Rhetor, der zu Ende des 4. und Anfang des 5. Jahrhunderts lebte, und hat eine römische Geschichte in griechischer Sprache, nicht eine Spezialgeschichte der Goten geschrie­ ben.3 Seine Angaben verdienen Beachtung, da er, wie sich aus den An­ führungen bei Jordanes ergibt, den Dexippus, also gute Quellen benutzt hat. Eine wichtige, auf den Konsularfasten beruhende Quelle für die Ge­ schichte Odowakars und Theoderichs ist der A n o n y m u s V a l e s i a n u s p o s t e r i o r , dessen erster um 520 geschriebener Teil (bis § 78) die Ge­ schichte jener Könige in einem für Theoderich günstigen Sinne darstellt und der Gotengeschichte Cassiodors nahesteht, während der zweite nach Theoderichs Tode zwischen 527— 34 geschriebene Abschnitt die Arbeit eines die Regierung des Königs herabsetzenden katholischen Klerikers ist.4 Eine ravennatische Chronik des 6. Jahrhunderts, die später als das Werk des Bischofs Maximian (546— 556) galt, aber auch dem Orosius zugeschrieben wurde, wertvoll durch die Benutzung gleichzeitiger Quellen, 1 Daß einige Stücke entgegen der herrschenden Ansicht früher als 507 zu datieren sind, glaube ich Mitteilungen des österr. Institute für Geschichtsforschung 41 (1926) S. 321 f. gezeigt zu haben. Vgl. auch weiter unten. 2 Vgl. S c h ir r e n in der deutschen Literaturzeitung 1882 Sp. 1422. v. G u t s c h m id , Kleine Schriften V 301 ff. Sybel a. O. S. 193 N. Die Änderung Ablabi für abavi bei Cass. var. X 22 kann ich nicht für richtig halten. 3 Vgl. PW . RE . s. v. Ablabius. * Vgl. C essi bei Muratori Script, rer. Ita l.2 X X I V 4.

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insbesondere der Konsularfasten, liegt dem Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis des A g n e l l u s (um 850) zugrunde1. Aus der Zeit um 535 stammt die älteste Redaktion des L i b e r p o n t i f i c a l i s der römischen Kirche, der in den ältesten Partien ungenau, seit Anaetasius II (496) zuverlässig zu werden beginnt und mehr und mehr zeitgenössischen Charakter trägt. Dazu gesellen sich die Briefe der Päpste, insbesondere die G r e g o r s I., von dem auch die Dialoge als Geschichtsquelle in Betracht kommen. Für die Kenntnis der Lebensweise der Franken zu Anfang des 6. Jahr­ hunderts ist von Wichtigkeit die Diätetik des Arztes A n t h i m u s (De obser­ vatione ciborum), der 511 als Gesandter des Ostgotenkönigs Theoderich an den fränkischen H of ging. Wertvollen Stoff zur Geschichte des 6. Jahrhunderts verdanken wir wiederum oströmischen Geschichtschreibern. In lateinischer Sprache schrieben: M a r c e l l i n u s C om es , dessen treffliche, hauptsächlich auf den oströmischen Konsularfasten beruhende Chronik im Anschluß an Hieronymus bis 518 bzw. 534 reicht und von einem anderen bis 548 fort­ gesetzt ist. J o r d a n e s , ein Ostgote, der zu dem in Mösien unter oströ­ mischer Herrschaft verbliebenen Volksteile gehörte, gab im Jahre 551 seine schon erwähnte Bearbeitung der Gotengeschichte Cassiodors heraus mit einer bis zur Gegenwart reichenden Fortsetzung, kurz darauf auch seine Summa temporum, eine römische Geschichte bis zu demselben Zeit­ punkt, fast nur aus bekannten Quellen, von Theodosius ab aus Marcel­ linus Comes und dessen Fortsetzer sowie seiner eigenen Gotengeschichte; er sieht das Heil der Goten in ihrer gutwilligen Vereinigung mit Byzanz. Von den beiden poetischen Werken des C o r i p p u s kommt hier das Lob­ gedicht auf den Kaiser Justinus II. (verfaßt 565/66) in Betracht. G r i e ­ c h i s c h e A u t o r e n : Verloren ist das bis 502 geführte Geschichtswerk des E u s t h a t i u s , in dem gute Quellen, besonders Priskus, benutzt waren. Die ebenfalls zum größten Teile untergegangenen 'Ιστορίαι des P e t r u s Patricius2 1 ( f etwa 575) behandelten wahrscheinlich nur die Zeit von Au­ gustus bis Julian und waren hauptsächlich aus Cassius Dio, Herodian und Dexippus geschöpft. Der bedeutendste Geschichtschreiber jener Epoche ist P r o k o p v o n C ä s a r e a , der getreue Begleiter und Sekretär Beiisars. Von seinen Schriften sind in erster Linie zu nennen die Beschreibungen der Kriege gegen die Wandalen und Goten (veröffentlicht 550 oder 551 bzw. um 554), in denen auch der Vorgeschichte dieser und anderer germanischer Völker gedacht wird. Aber auch die Geheimgeschichte (550) und das Werk über die Bauwerke Justinians (um 560) enthalten manche für unsere Zwecke brauchbare Notiz. Insoweit Prokop zeitgenössische Ereignisse oder 1 Vgl. L ie t z m a n n bei PW . X X V 81. 2 Ein Bruchstück daraus ist der sog. Anonymus post Dionem.

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Einleitung

Land und Leute schildert, ist er ein ausgezeichneter Gewährsmann, wenn auch seine Darstellung vielfach durch seine unbegrenzte Verehrung für Beiisar und das Bestreben, dessen Tätigkeit in recht hellem Lichte er­ scheinen zu lassen, beeinflußt ist; was er dagegen über weiter zurück­ liegende Epochen berichtet, ist vielfach sehr imzuverlässig und anekdoten­ haften Charakters (vielleicht z. T. aus Eusthatius stammend), daher nur mit Vorsicht benutzbar. Wesentlich geringer an Wert ist die Fortsetzung der Kriegsgeschichten Prokops durch A g a t h i a s (bis 558).1 An Agathias schloß sich wiederum an M e n a n d e r P r o t e c t o r , dessen treffliches, leider nur fragmentarisch erhaltenes Geschichtswerk die Zeit von 558 bis 582 behandelte. Romanhaft, aber in Einzelheiten nicht unbrauchbar ist die bis 563 reichende Weltchronik des J o h a n n e s M a la la s , von der die ersten 17 Bücher zwischen 528 und 540, das 18. bald nach 565 oder 573 verfaßt sind. Für Einzelheiten verdienen auch Erwähnung die Schrift des J o h a n n e s L y d u s De magistratibus (verfaßt um 554) und das Strategikon des M a u r i c i u s mit wertvollen Angaben über die Gefechtsweise der Franken und Langobarden. Von den Kirchenhistorikem kommen in Betracht T h e o d o r u s L e c t o r ( A n a g n o s t e s ) (um 530), der die Zeit 323— 527 behandelte (nur auszugsweise erhalten) und E u a g r i u s aus dem Ende des Jahrhunderts, dessen Werk die Jahre 431— 593 umfaßt und im 2. und 3. Buche vornehmlich auf Eusthatius, im 4. auf Prokop, im 5. auf Menander fußt. Den von dem Humanisten Petrus Alcyonius angeführten, ungenannten und sonst unbekannten Verfasser einer Geschichte der Goten in Italien in griechischer Sprache, der von einer die Ersetzung der lateinischen durch die gotische Sprache anordnenden Verfügung König Attilas (Badwilas ?) gesprochen haben soll,1 23 hat es wohl nicht gegeben. Einige Ergänzungen zu diesen Überlieferungen bieten auch die orienta­ lischen Chroniken, darunter besonders die um 570 entstandene syrische Weltchronik bis 568/69, in welche die griechische Kirchengeschichte (450— 91) des Z a c h a r i a s v o n M y t i l e n e ( f um 550) aufgenommen ist; die Chronik des Styliten J o su a (Anfang des 6. Jahrhunderts) sowie die nur teilweise erhaltene Kirchengeschichte des J o h a n n e s v o n E p h e s u s ( f nach 585), die bis Kaiser Mauricius reichte.8 Von abendländischen Quellen des 7. Jahrhunderts kommen folgende in Betracht. Die nur aus Anführungen bei Paulus Diaconus bekannte treffliche Langobardengeschichte des Abtes S e c u n d u s v o n N a n o bei Trient ( f 612); die O r i g o gentis Langobardorum (um 670); die histo­ rischen Schriften des I s i d o r v o n S e v i l l a ( f 636) (die Chronik in zwei 1 Vgl. Ite e in Byzant. Zeitschrift 26 (1926) S. 27$ ff. 3 S. R e in a c h , Cultes, mythes et religions V (1923) S. 293 ff. 3 Vgl. L. S c h m id t in Beiträge z. Geschichte d. Sprache 48 (1923) S. 109 ff.

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Rezensionen von 615 und 624, die Volksgeschichten der Goten, Wan­ dalen und Sweben, ebenfalls in zwei Fassungen von 624, zum größten Teile aus bekannten Quellen, doch auch mit einigen selbständigen und aus verlorenen Vorlagen stammenden Nachrichten); die sog. K o p e n h a g e n e r F o r t s e t z u n g des P r o s p e r bis 641, eine wüste Kompilation, die aber sehr gute, meist aus den Konsularfasten stammende Nachrichten enthält;1 das den Namen des F r e d e g a r tragende Sammelwerk zur fränkischen Ge­ schichte. Von diesem interessiert hier nur das 2. und 3. Buch, die, in Bur­ gund zu Anfang des 7. Jahrhunderts von einem oder zwei Verfassern ge­ schrieben, zu Auszügen aus Hieronymus, Hydatius und Gregor von Tours zahlreiche Zusätze bringen, die zum Teil Fabeln gelehrten Ursprungs (wie zuerst die Trojanersage der Franken), zum Teil aber auch echte Sage und beachtenswerte geschichtliche Zeugnisse aus mündlicher Quelle ent­ halten.1 2 Ans Ende des Jahrhunderts gehören wohl die früher ins Jahr 520 gesetzte sog. F r ä n k i s c h e V ö l k e r t a f e l , die mit einem Verzeichnis der „römischen Könige“ in Gallien beginnt und sonst auf der germanischen Ethnogonie des Tacitus beruht,3 der R h y t h m u s de Asia et de u n i ­ v er s i m u n d i r o t a , eine in Westfranken entstandene poetische Welt­ beschreibung auf Grund von Isidors Etymologien mit einigen selbstän­ digen Zutaten (v. 23 ff. über die Franken) und die H i s t o r i a D a r e t i s F r i g i i de o r i g i n e F r a n c o r u m . Im oströmischen Reiche schrieb J o h a n n e s A n t i o c h e n u s eine nur in Bruchstücken erhaltene Weltchronik bis zum Jahre 610 auf Grund des Julius Africanus, Eusebius, Petrus Patricius, Ammian, Prokop, Malalas. Zu unterscheiden ist hiervon der sog. u n e c h t e J o h a n n e s (vgl. Krumbacher S. 335), eine spätere Kompilation aus Cassius Dio, Herodian, Eunapius, Zosimus, Sokrates, Priskus, Candidus u. a. Dieser gehören auch die von Mommsen4 kommentierten wertvollen Mitteilungen zur Geschichte des Ostgotenkönigs Theoderich an. Unter Kaiser Heraklius (610— 41) lebte T h e o p h y l a k t u s S i m o k a t t a , der Verfasser einer trefflichen Ge­ schichte des Kaisers Mauricius (582— 602), in der auch auf weiter zurück­ liegende Ereignisse (Zerstörung des Gepidenreiches usw.) Bezug genommen ist. Das C h r o n i c o n p a s c h a l e (bis 627) beruht auf den oströmischen Konsularfasten, der von Malalas benutzten Chronographie und besonders der früher erwähnten arianischen Fortsetzung der Eusebianischen Chronik. Aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts stammt ferner die für die Geschichte der spanischen Westgoten und der Langobarden wichtige Beschreibung 1 Vgl. Cessi in Archivio Muratoriano II. fase. 22 (1922) S. 587 ff. (2 Redaktionen, die eine bald nach 523, die andere 641 verfaßt.) 2 Vgl. zuletzt K r u sch in den Nachrichten der Göttinger Ges. d. Wiss. (1926) S. 237 ff. 3 Vgl. darüber zuletzt K r u s c h im Neuen Archiv 47 (1927) S. 65 ff. * Hermes VI (1872) S. 332 f.

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Ei nl eitung

des oströmischen Reiches von G e o r g i u s C yp riu s. Aus späteren Jahr­ hunderten sind von abendländischen Schriftwerken noch zu nennen: Der L i b e r h i s t o r i a e F r a n c o r u m (verfaßt 727), für die ältere Zeit nur wegen der Sagenüberlieferung wichtig; die wüste Kosmographie des sog. A e t h i cus I s t e r , die aus Isidor und dem Liber hist. Franc, schöpfte (bes. für die Trojanersage der Franken); die Historia ecclesiastica gentis Anglorum des B e d a (731); von P a u l u s D i a c o n u s die Historia Romana (um 774; von Wert wegen der Benutzung der Konsularfasten) und die imschätz­ bare Historia Langobardorum (um 790). Aus dem 9. Jahrhundert die Geo­ graphie des a n o n y m e n R a v e n n a t e n , 1 das Werk eines Schwindlers, das aber nicht wertlos ist, weil es auf einer römischen Straßenkarte, die auch die Vorlage der Tabula Peutingeriana bildete (vgl. oben), und guten alten Überlieferungen beruht; die H i s t o r i a L a n g o b a r d o r u m c o d i ­ cis G o t h a n i , Bearbeitung der Origo g. L. mit wertvollen aus der Volks­ überlieferung geschöpften Zusätzen; die Bistumsgeschichte von Ravenna von A g n e l l u s (vgl. oben); für die Geschichte der alten Sachsen die ältere V i t a L e b u i n i (verfaßt zwischen 840— 64), die Translatio s. Alexandri des R u d o l f v o n F u l d a (851) und weiterhin die Res gestae Saxonicae des W i d u k i n d v o n C o r v e y (967); für die Angelsachsen die ursprüng­ lich 679 verfaßte, später von Nennius bearbeitete1 2 Historia Brittonum (der Wert der angelsächsischen Annalen ist umstritten). Auch von den späteren byzantinischen Geschichtschreibern sind mehrere wegen der Benutzung älterer Quellen von Wichtigkeit. Von G e o r g i u s S y n c e l l u s (f nach 810) besitzen wir eine bis 284 reichende Εκλογή ιστοριών, wert­ voll wegen der (indirekten) Benutzung der Chronik des Dexippus. Sein Fortsetzer T h e o p h a n e s C o n f e s s o r für die Jahre 284— 813 schöpfte u. a. aus den oströmischen Konsularfasten, Priskus, dem arianischen Fort­ setzer der Eusebianischen Chronik. Von besonderer Bedeutung ist das Kompendium des J o h a n n e s Z o n a r a s (12. Jahrhundert). Als Vorlagen dienten diesem vornehmlich Cassius Dio, Eusebius, Petrus Patricius, Theophanes und Spätere; der Anfang des 13. Buches (Jahr 322— 450) ist einer Sammlung von Kaiserbiographien entlehnt, die auch von Sokrates und dem Anonymus Valesianus benutzt worden ist. Für die Jahre 457— 565 schöpfte Zonaras aus einer sehr guten Quelle, die wahrscheinlich auf Pris­ kus, Malchus, Candidus und andere zuverlässige Autoren zurückgeht. Manch wichtige Notiz verdanken wir ferner den aus dem 10. Jahrhundert stam­ menden lexikalischen Werken: dem Lexikon des S ui d as und dem E t y m o lo g iu m magnum. 1 Über die Zeit K r u s c h im Neuen Archiv 47 (1927) S. 31 ff. 2 Über die Zeit (9. Jahrhundert) L ie b e r m a n n in Essays in medieval history pres, to Tout (1925) S. 25 ff.

Que l l e n

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Von geringerer Bedeutung sind die Chronisten G e o r g iu s M o n a c h u s (9. Jahrhundert), L eo G r a m m a t i c u s (10. Jahrhundert), M ic h a e l G l y k a s , C ed r en u s, Manasses (12. Jahrhundert), der Verfasser der S y n o p s i s S a t h a s , einer Weltchronik bis 1261, die z. T. aus einer mit Zonaras gemeinsamen Quelle schöpfte, die bis 610 geführte Kirchenge­ schichte des N i c e p h o r u s Cal lis tus X a n t h o p u l u s (14. Jahrhundert). Geschichtliche Aufzeichnungen in der heimischen Sprache liegen von den germanischen Völkern aus der hier in Frage kommenden Zeit nicht vor. Das Andenken an die Vergangenheit wurde bewahrt und fortgepflanzt in mündlicher Überlieferung in der Form der Heldendichtung, die für die geschichtliche Kenntnis nicht ohne Gewinn zu verwerten ist. Außer den bei griechischen und lateinischen Chronisten enthaltenen Zeug­ nissen kommen vor allem die beiden angelsächsischen Dichtungen: S c o ­ pes W i d s i d h (6. Jahrhundert) und B e o w u l f (7. Jahrhundert) in Be­ tracht, sodann die isländisch-altnordische Literatur: die E d d a l i e d e r und die Saga s.1 Letztere, kunstvolle Prosaerzählungen geschichtlicher Ereignisse, gewähren einen Einblick in das Volksleben und gestatten dann auch mit Vorsicht Rückschlüsse auf die politischen und kulturellen Verhältnisse der germanischen Urzeit, da bei den nordischen Völkern sich vielfach die ursprünglichen Zustände besser erhalten haben als bei den Südgermanen. Der Hervarareaga liegt zugrunde ein altes westgo­ tisches Lied auf die Hunnenschlacht auf den Katalaunischen Feldern, in dem auch Erinnerungen an die südrussische Herrschaft der Goten ent­ halten sind.1 2 Zu den schriftstellerischen Zeugnissen gesellen sich als wich­ tige Hilfsmittel M ü n z e n , I n s c h r i f t e n und D e n k m ä l e r (besonders die Trajanssäule in Rom und das Tropäum von Adamklissi mit Dar­ stellungen von Bastarnen sowie die Markussäule, die bildliche Darstel­ lung des Markomannenkrieges), ferner die Sammlungen der G e s e t z e und Verordnungen aus dem Römerreiche und den germanischen Volksstaaten, die amtlichen Korrespondenzen der Kaiser und merowingischen Könige und das offizielle Staatshandbuch des ost- und weströmischen Reiches, die sog. N o t i t i a d i g n i t a t u m , deren östlicher Abschnitt um 426, deren westlicher Teil (mit Ausnahme Britanniens) 427/28 mit einzelnen Nach­ trägen für 428— 37 aufgezeichnet worden sind.3 1 Vgl. G o lt h e r , Nordische Literaturgeschichte. I. Leipzig 1905. N e c k e l, Die altnor­ dische Literatur. Leipzig 1923. H eu s 1er bei N o lla u , Germanische Wiedererstehung. Heidelberg 1926. S. 156 ff. 2 Vgl. H e in z e i, Über die Hervararsaga. Sitzungsberichte der Wiener Akad. 114 (1887) S. 417 ff. Hrsg, von H e u sle r und R a n is c h , Eddica minora (1903) S. 1 ff. Übers, von 0 . Bremer, Germanische Heldenlieder (1925) S. 8 ff. 3 Vgl. B u ry im Journal o f Roman studies 10 (1920) S. 131 ff. L. S c h m i d t im Hist. Jahrbuch 51 (1931) S. 213 f. S c h m i d t , Ostgermanen

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Einleitung

Neben der soeben besprochenen Überlieferung können zur Aufhellung der germanischen Urgeschichte, für die ethnographische Stellung der ein­ zelnen Völker zueinander und die Ausbreitung derselben die Sprach­ forschung, die einzelnen Zweige der Volkskunde (insbesondere die Haus­ formen), die Rechtsgeschichte, die Siedlungsarchäologie, die historische Geographie (Ortsnamenkunde), die vergleichende Ethnographie, natur­ wissenschaftliche Fächer wie Geologie, Pflanzengeographie, Klimatologie, Anthropologie mehr oder weniger mit Nutzen herangezogen werden, wenn auch vor Überschätzung des Wertes dieser Disziplinen nicht genug ge­ warnt werden kann. Es ist in Anbetracht der gewaltigen politischen Um­ wälzungen, denen die germanische Welt unterworfen war, ganz unstatt­ haft, aus späteren Erscheinungen ohne weiteres Rückschlüsse auf frühere Zustände zu ziehen. Dies gilt vor allem von der Spr ache. Abgesehen von den Goten sind von den germanischen Völkern nur ganz dürftige Reste überliefert, die ein sicheres Urteil kaum ermöglichen. Die historische Grammatik hat eine schon in frühe Zeit zurückreichende Gruppierung in West-, Ost- und Nordgermanen einwandfrei festgestellt. Es ist ihr aber nicht gelungen, die im Gebiet des heutigen Deutschlands bestehenden mund­ artlichen Verschiedenheiten mit den älteren ethnographischen Verhält­ nissen in Beziehung zu bringen. Die westgermanischen Stämme haben wahrscheinlich, von einigen lokalen Unterschieden abgesehen, noch lange eine Spracheinheit gebildet, die sich erst allmählich unter verschiedenen äußeren Einflüssen differenziert hat.1 „V on den Sprachräumen und Grenz­ zonen, die heute feststellbar sind, kann keine einzige Erscheinung mit einiger Sicherheit auf einen germanischen Stamm bezogen werden; sie lassen sich vielmehr zwangloser durch natürliche, politische oder kirch­ liche Verkehrsräume und Verkehrsströmungen erklären.“ Und noch weniger vermag für die urgeschichtlichen Zeiten die Linguistik positive Resultate in bezug auf Gliederung von Rassen, Völkern und Kulturen zu erzielen.1 23 Ferner lassen auch die später auftretenden verschiedenen H a u s f o r m e n sichere Schlüsse auf frühere Stammesgruppierungen nicht zu. „Auch in bezug auf den Hausbau hat es im frühen Mittelalter keine ausgesprochenen Stammesunterschiede gegeben. Die wichtigsten Gegensätze : Längshaus — Gehöft — Querhaus hängen nicht mit der germanischen Stammesglie­ derung zusammen. Sie sind überhaupt keine deutschen, sondern euro­ 1 W r e d e , historische Zeitschrift 88 (1901) S. 22 ff. Zeitschrift für deutsche Mund­ arten 19 (1924) S. 270 ff. S t e in b a c h , Studien zur westdeutschen Stammes- u. Volks­ geschichte (Jena 1922) S. 28 ff. 3 J a c o b - F r ie s e n , Grundfragen der Urgeschichtsforschung (Veröffentlichungen der urgeschichtl. Abteilung des Provinzialmuseums zu Hannover I). Hannover 1928. S. 72.

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päische Gegensätze, die sich im mitteleuropäischen Raume kreuzen . . . Autochthone Entwicklung kommt nur für das Gebiet von Niedersachsen in Betracht, das in der Tat unbeeinflußt von fremden Einwirkungen stehengeblieben zu sein scheint und darum die konsequente Weiterbil­ dung der nordwesteuropäischen Bauweise in seinen Bauernhausformen widerspiegelt.“ 1 Für die Unterscheidung der Ost- und Westgermanen ist dagegen wichtig das Zeugnis des Tacitus (Germ. c. 43), der als ethno­ graphisches Merkmal einer Anzahl ostgermanischer Völker „rotunda scuta, breves gladii“ aufführt. Auch in den R e c h t s v e r h ä l t n i s s e n ist nach Ficker1 2 eine alte Schei­ dung in Ost- und Westgermanen zu erkennen: zu den ersteren werden gerechnet die nordischen Germanen, die Goten, Burgunder, Warnen, Friesen, Langobarden. Ist die Richtigkeit dieser Beobachtung wohl nicht zu bestreiten, so ist es zweifelhaft, ob man alte ethnische Unterschiede auch bei den westgermanischen Einzelstämmen mit den sog. Volksrechten begründen darf. „Denn diese sind Schöpfungen einzelner, Sammlungen von Gesetzen, die dann Volksgut geworden sind. Die Eigenprägungen der ripuarischen, salischen, chamavischen, alamannischen und anderer Leges bezeugen nur die kürzer oder länger andauernde politische Sonderstellung der betr. Bevölkerung innerhalb des fränkischen Reiches.“ 3 Aus dem Arbeitsgebiet der Vorgeschichtswissenschaft, die sich erst in den letzten Jahrzehnten voll entwickelt hat, ist für die germanische Urgeschichte die S i e d l u n g s a r c h ä o l o g i e von besonderer Bedeutung. Ihr Begründer ist G. Kossinna, der seine Ziele erstmals 1895 in einem Vor­ trag in Kassel4 dargelegt und in einer Reihe von Werken weiter verfolgt hat. Der leitende Grundsatz lautet: „Streng umrissene, scharf sich heraus­ hebende, geschlossene archäologische Kulturprovinzen fallen unbedingt mit bestimmten Völker- oder Stammesgebieten zusammen.“ 5 Gegen die All­ gemeingültigkeit dieses Grundsatzes haben Vorgeschichtsforscher wie Historiker6 Einwände erhoben; insbesondere sind zahlreiche Auseinander­ setzungen darüber entstanden, ob in bestimmten Fällen hinreichende Voraussetzungen für die Anwendung gegeben sind. Daß z. B. das Aus­ breitungsgebiet der Avaren im Donauraum dank ihrer von den germani­ schen Nachbarn völlig verschiedenen Ausrüstung auf Grund der Boden­ funde abgegrenzt werden kann, hat ein Forscher gezeigt, der sonst mit seiner Kritik an den Ansichten Kossinnas nicht zurückgehalten hat. Der 1 Steinbach S. 71 ff. 2 Untersuchungen zur Rechtsgeschichte I— IV. Innsbruck 1891 ff. 3 Steinbach S. 121. 4 Gedruckt in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 6, 1896. 6 Ursprung u. Verbreitung der Germanen in vor- u. frühgeschichtl. Zeit (2 1934) S. 15. ® J a c o b - F r ie s e n a. O. S. 85 ff. S t e in b a c h a. O. S. 10 ff. 3*

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Einleitung

Nachweis des engen Zusammenhanges zwischen angelsächsischen Grab­ funden in Britannien und solchen in der Heimat der Auswanderer ist allgemein anerkannt. Umstritten ist dagegen schon die Scheidung ale­ mannischer und fränkischer Funde in dem von W. Veeck vertretenen Maß. Wenn sich also bereits im frühgeschichtlichen Zeitabschnitt, für den historische Nachrichten bestimmte Völkernamen nennen, Schwierigkeiten bei der Volkeszuweisung von Bodenfunden ergeben, so ist im Bereich der Vorgeschichte noch größere Vorsicht angebracht. Die Meinungsverschie­ denheiten in der Frage der Wanderungen zeigen dies zur Genüge. Voraussetzung jeder geschichtlichen Ausdeutung ist die Sammlung und Bearbeitung der Funde und Bodendenkmäler, welche die erste Aufgabe der Vorgeschichtsforschung bildet, in einer geschichtlichen Darstellung aber nicht näher zu erörtern ist.1 Hingewiesen sei nur noch auf die große Bedeutung der Funde für die Kulturgeschichte.2 Von größerer Bedeutung sind auch die g e o g r a p h i s c h e n N a m e n , die unsere Kenntnis früherer ethnographischer Verhältnisse nicht selten in dankenswerter Weise ergänzen. So ist die ehemalige Ausbreitung der Kel­ ten wesentlich aus ihnen (namentlich aus den Flußnamen) zu erschließen, wenn auch die Deutung teilweise streitig ist. Die späteren Gaue lassen uns vielfach noch den Gebietsumfang der dem Frankenreiche einverleib­ ten Einzelstämme erkennen. Wie die Germanen keltische, so haben die Slawen germanische Namen in ihren Sprachschatz aufgenommen und da­ durch die Erinnerung an weit zurückliegende Zeiten bewahrt. Wichtig sind die Ortsnamen ferner zur Ermittelung der Gegenden, die früher mit Wald bestanden waren. Das zeigen an die mit rode, reut, reit, gschwand, schlag, lohe, loch, wald, brand usw. zusammengesetzten Formen. Sehr vorsichtig muß man aber in bezug auf die Verwertung der Ortsnamen für die Stammeskunde sein. Den allzu optimistischen Aufstellungen Wilh. Arnolds steht man jetzt mit Recht sehr skeptisch gegenüber. Man hat zu scheiden zwischen Namen, die gemeingermanisch, und solchen, die bestimm­ ten Stämmen eigentümlich sind; in allen Fällen ist die Namengebung von verschiedenen Zeitläuften, den einzelnen Siedelungsperioden abhängig. Gemeingermanisch und der Zeit der ersten Landnahme angehörig sind die Namen auf ingen (ungen). Je nach den Zeitpunkten, zu welchen die ein­ zelnen Stämme ihre Niederlassungen gründeten, kann das absolute Alter der ingen ganz verschieden sein. Während z. B. die altbairischen ingen als die letzten am Beginn des 6. Jahrhunderts stehen, hatten andere Stämme um diese Zeit längst zu anderen Ortsnamen gegriffen. Gemeingermanisch

1 Zum Schrifttum vgl. die Nachträge. - „Urgeschichte ist in allererster Linie Kulturgeschichte“ , J a c o b - F r i e s e n a. O. S. 231.

Quellen

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sind ferner die Ortsnamen auf heim (sicher nicht spezifisch fränkisch,1 wenn auch im Norden besonders beliebt), ingheim (Kontaminationsform von ingen und heim, entstanden durch das Eindringen der heim- in die ingen-Orte), inghofen, inghausen u. ä., hausen, hofen, beuren (buren), dorf, statt u. a., die wenigstens auf alamannisch-fränkischem Gebiete den verschiedenen Stufen des späteren Ausbaues alten Kulturlandes ent­ sprechen. Im wesentlichen auf die Alamannen und Franken beschränkt sind die Orte auf weil und weder, aus lat. villa, villare. Diese sind keines­ wegs auf ehemals römisches Gebiet beschränkt und knüpfen nicht durchweg an ehemals römische Siedelungsstätten an; sie sind großenteils Neuanlagen aus der Zeit nach der Völkerwanderung. „Die Weilernamen sind der un­ mittelbare Niederschlag des Einflusses der Kultursprache des fränkischen Staates (des Latein) auf die Ortsnamengebung“ (Steinbach). Das Zurück­ bleiben größerer Mengen von Romanen beweisen sie nicht unbedingt, mehr schon die Walchen-Orte, wenn auch diese auf Bildung mit einem deutschen Personennamen zurückgehen können, sowie die Namen auf ach (lat. äcum). Spezifisch langobardisch sind wohl die Namen auf wedel (wohl nordischen Ursprungs, entsprechend den sonst in Deutschland vor­ kommenden Namen auf furt), sächsisch auf büttel, tun, niederfränkisch auf sala (sei, sele, zele), friesisch auf um, om, werp(en), brecht, schote, muide, hessisch auf lar, mar, die z. T. in sehr alte Zeit zurückgehen. Ob man berechtigt ist, die thüringischen leben mit den Angeln und Warnen in Beziehung zu bringen, ist sehr ungewiß ; wahrscheinlich ist ihr Ursprung in den nordischen Ländern zu suchen ; ihr hohes Alter steht außer Zweifel. Erst dem späteren Mittelalter gehören die schon erwähnten, auf Rodungen und Meliorationen hinweisenden Namen auf ried, rode usw. an. Die Or­ ganisation der Siedelungen ist aus den Ortsnamen nicht zu erschließen. Die ältere Ansicht, daß die ingen durchweg Sippensiedelungen, die heim Herrensiedelungen bezeichneten, ist verfehlt. Vielfach streitig ist die Volkszugehörigkeit gewisser in den westlichen Grenzgebieten anzutreflender Namen. Unentschieden muß das bleiben bei denjenigen, die aus einem germanischen Personennamen und einem romanischen Wort (villa, villare, curtis, mesnil, mons u. a.) zusammenge­ setzt sind, überhaupt bei allen Ausbauorten. Diese Bildungen wider­ streiten den Regeln der romanischen Wortzusammensetzung, können aber trotzdem von einer romanischen Bevölkerung herrühren, die bei der Namen­ gebung dem sprachlichen Einflüsse des politisch herrschenden Germanen­ tums unterlag. Der germanische Personenname beweist nichts, da die Ro1 Dies hat zuletzt V e e c k im 16. Bericht der röm.-germ. Kommission (1925/26) S. 37 nachgewiesen. Vgl. d e n s e l b e n , Die Alamannen in Württemberg (Germ. Denkmäler der Völkerwanderungszeit I) (1931) S. 114 ff.

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E i nl e i t un g

manen im fränkischen Reiche sich häufig germanische Namen zugelegt haben. Wird man bei Neugründungen auch zunächst an Germanen zu denken haben, so sind doch gewiß auch nicht wenige Romanen, die aus dem Osten geflohen waren, an dem Siedelungswerke beteiligt gewesen. Unzweifelhaft deutsch sind hier die Orte auf ingen, heim, tun usw., fran­ zösisch die vorgermanischen auf äcum, dunum, durum, magus, ittum, atum usw., später auf y, ey, ay, oy, un, eil, euil, ich, ach, on, om usw. Ganz sichere Ergebnisse über die einstige Ausdehnung der germanischen Siedelungen in Gallien liefern aber sonst nur die archäologischen Funde.1 Die neuere k l i m a t o l o g i s c h e Forschung ist, gestützt auf geologische und botanische Erscheinungen, zu dem Ergebnis gelangt, daß in Nordund Mitteleuropa zur neolithischen und Bronzezeit ein trockenes, warmes, den Ackerbau begünstigendes Klima herrschte, das zu Beginn der Eisen­ zeit durch ein feuchtes und besonders zu Anfang kaltes Wetter abgelöst wurde, gekennzeichnet durch ein Vorrücken der Gletscher, Anschwellen der Flüsse und Seen, Ausbreitung gewisser Baumarten (Buche, Fichte, Tanne).1 2 Es ist naheliegend, diese Vorgänge als Ursache damals stattge­ fundener Völkerverschiebungen, insbesondere der Übersiedelung skandi­ navischer Germanen nach dem Festlande, aufzufassen, was auch durch die Fundarmut im Norden in derZeit um 500— 150 v. Chr. bestätigt wird. Da­ gegen fehlt es an sicheren Beweisen für die Annahme einer durchgreifenden Klimaänderung im Laufe der historischen Z eit;3 es scheint nur, daß seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Winter milder, die Sommer kühler geworden sind.4 Daß K li m a s c h w a n k u n g e n in dieser Epoche mehrfach stattgefun­ den haben, wird nicht zu leugnen sein; aber die Versuche, die großen welt­ geschichtlichen Ereignisse damit in Beziehung zu bringen, müssen als reine Phantasien auf das schärfste zurückgewiesen werden.5 Es ändert daran 1 Aus der ungeheuer angeschwollenen Literatur seien hier nur hervorgehoben: E b e r l , Die bayrischen Ortsnamen I. II (1925/26). S c h u m a c h e r , Siedelungs- und Kulturge­ schichte der Rheinlande III (1925) S. 61 ff. D o p sc h, Wirtschaftliche u. soziale Grund­ lagen der europäischen Kulturentwicklung I 2 (1923) S. 238 ff. und in Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Geschichts-u. Altertumsvereine (1927) S. 180 ff. Gr ad m a nn in Zeit­ schrift f. bayr. Landesgeschichte I (1929) S. 323 ff. Stähelin, Die Schweiz,2 391 ff. 2 Vgl. u. a. G am s u. N o r d h a g e n , Postglaziale Klimaänderungen in Mitteilungen d. geogr. Gesellsch. in München 16 (1923) S. 13 ff. G r a d m a n n , Die postglazialen Klima­ schwankungen, Geogr. Zeitschrift 30 (1924) S. 241 ff. G a ms in Tagungsberichte d. deutsch, anthropol. Gesellschaft 45/47 (1926) S. 20 ff. S e r n an d e r in Eberts Reallex. d. Urgeschichte V II (1926) S. 6 ff. S c h l ü t e r in Deutschland, die natürl. Grundlagen s. Kultur (1928) S. 292 ff. B e r t s c h in 18. Bericht d. röm.-germ. Komm. (1929) S. 1 ff. Vgl. auch Jacob-Friesen, Grundfragen S. 130 ff. Es wird angenommen, daß jene Klimaver­ schlechterung früher im Süden als im Norden eingetreten sei. Die Abwanderung der Skandinavier nach dem Kontinent läßt aber das gerade Gegenteil vermuten. 3 Vgl. W a h l e im 12. Bericht der röm.-germ. Kommission (1920) S. 28. 4 Vgl. das vorsichtige Urteil von Julius H a n n , Handbuch der Klimatologie I (1908) S. 345 ff. 6 Gradmann a. O. S. 261.

Quellen

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nichts, daß einzelne katastrophale Naturereignisse Völkerbewegungen von großer geschichtlicher Bedeutung hervorrufen konnten, wie Sturmfluten der Nordsee die Abwanderung der Kimbern und Teutonen bewirkt haben. Die v e r g l e i c h e n d e E t h n o g r a p h i e ist für Einzelfragen der germani­ schen Vor- und Frühgeschichte mit Nutzen herangezogen worden, so zur Deutung der viel erörterten Hausurnen1 und zur Erläuterung von Bau­ formen (Rund- und Viereckhütten) oder Bestattungssitten.1 2 Bei der Ver­ wendung solchen Vergleichsmaterials müssen freilich stets die Unterschiede hinsichtlich der Lebensbedingungen und des Entwicklungsstandes beachtet werden. Wieweit es berechtigt ist, etwa auch die Glaubensüberlieferung rassisch stark verschiedener Völker in Vergleich zu stellen, bedarf ganz besonders sorgfältiger Prüfung.3 Zu den Hilfswissenschaften, deren Ergebnisse für die germanische Ur­ geschichte von Bedeutung sind, zählt endlich die A n t h r o p o l o g i e ( R a s ­ s e nk un d e) , deren wichtigste Quellen die Skelettfunde und die antike Überlieferung, seien es Denkmäler (Beispiele oben S. 33) oder Berichte, bilden. Nach dem Zeugnis der Schriftsteller empfanden die Südländer die Germanen als ein von ihnen stark verschiedenes Volk von vorwiegend nordischem Rassentypus (hoher Wuchs, blonde Haare, blaue Augen). Neben den leiblichen Eigenschaften werden geistige hervorgehoben, welche später auch in der deutschen Geschichte immer wieder hervortreten: Tapferkeit, Treue, Ehrlichkeit, Schwerfälligkeit, Beständigkeit, Freiheits­ liebe, Individualismus. Mag auch das bekannte Rassenbild des Tacitus (Germ. c. 4) von literarischer Tradition geformt sein,4 so erfährt es doch von seiten der Denkmäler wie der Moorfunde eine wertvolle Bestätigung.5 Leider mangelt es infolge des jahrhundertelangen Vorherrschens der Ver­ brennungssitte in weiten Gebieten an Skeletten,6 und es ist ein merk­ würdiger Zufall, daß sich gerade zur Zeit der Aufgabe der Verbrennung fremde rassische Einschläge bemerkbar machen.7 Während die Grabfelder des 4. und 5. Jahrhunderts geringen Umfang aufweisen und dementspre­ 1 Vgl. O e l m a n n in Bonn. Jahrb. 134 (1929) S. 1 ff. 2 Vgl. K o e p p und W o l f f , Römisch-German. Forschung (1922) S. 115 f. W o l f f , Prähistorie und Ethnologie im Bunde, in Mainz. Zeitschr. 22 (1927) S. 1 ff. 3 Vgl. die Kritik der Erörterung der Semnonenreligion durch C l o ß, Wien. Beiträge z. Kulturgeschichte u. Linguistik IV (1936) S. 549 ff. von T r a t h n i g g , Arch. f. RelWiss. 34 (1937) S. 226 ff. 4 Vgl. N o r d e n , Die germanische Urgeschichte in Tacitus’ Germania (31923) S. 105ff. 5 S c h u m a c h e r - K l u m b a c h , Germanendarstellungen I (41935) S. 53 f. ® Eine der seltenen Fundgruppen des 1./2. Jahrh. bei A s m u s , Die vorgeschichtlichen rassischen Verhältnisse in Schleswig-Holstein und Mecklenburg (1939) S. 70 ff. sowie Offa IV (1939) S. 136 ff. 7 Beispiele: Funde aus Mecklenburg bei A s m u s a. O. S. 73 ff. und aus Thüringen: hier Bd. II 22 S. 123 f. (mit Lit.).

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Einleitung

chend nur wenig Material ergeben,1nimmt der Stoff mit den großen Reihen­ gräberfeldern des 6. und 7. Jahrhunderts bedeutend zu. Der von A. E c k e r 2 1 erstmals herausgearbeitete ,,Reihengräbertypus46 (oder nordische Typus) herrscht in diesen so ausgesprochen vor, daß ein fremdländischer Be­ obachter dieser Zeit sich wohl ähnlich wie der Gewährsmann des Tacitus geäußert hätte. Der auffallende Gegensatz gegenüber den heutigen Ver­ hältnissen ist auf verschiedene Weise erklärt worden.3 Wie schon angedeutet, schließt die Vorherrschaft der Verbrennungssitte, die im germanischen Kreis in der Mitte der Bronzezeit beginnt, die Er­ haltung größerer Bestände an Skeletten aus. Für die ältere Bronzezeit ist das Material nicht allzu reichlich, aber dank der besonderen Erhaltungs­ bedingungen der Baumsärge aufschlußreich. Der jüngeren Steinzeit ge­ hören namentlich die Funde des Megalithgräbergebietes an, die in Schwe­ den besonders gut bearbeitet worden sind.4 Weiter zurück werden die Funde immer spärlicher, und bei kritischer Nachprüfung schmilzt der gesicherte Bestand mehr und mehr zusammen.5 Die bisherigen Versuche einer Rassengeschichte der Germanen6 beschränken sich darauf, einen Überblick über das veröffentlichte Material zu geben; der Zusammenhang der Rassenentwicklung wird erschlossen, aber nicht bewiesen. Um so be­ deutsamer sind neue Untersuchungen, welche diese Lücken ausfüllen.7

2. DER NAME GERMANEN8 Die Frage nach dem Ursprung und Bedeutung des Germanennamens ge­ hört zu den Problemen der Geschichte, deren Lösung fortlaufend versucht, aber immer noch nicht in allseitig befriedigender Weise gefunden worden ist. Daß der Name den Römern durch die Vermittlung der Gallier be­ kannt geworden ist, die damit ihre Ostnachbarn bezeichneten, wird von keiner Seite bestritten. Bei jenen erscheint er zuerst9in den Kapitolinischen 1 Daß zudem Skelette nicht in jedem Boden erhalten bleiben und die erhaltenen häufig, namentlich bei zufälliger Aufdeckung, zerstört werden, sind weitere Gründe für den be­ stehenden Mangel. 2 Crania Germaniae occidentalis meridionalis (1865). Überblick über diese und die spä­ teren Arbeiten zum Reihengräbert>pus bei K r a m p , Anthropol. Anzeiger 15 (1939) S.162 ff. 3 Vgl. dazu K r a m p a. O. und die kurzen Bemerkungen von F i s c h e r , Mannus Erg.Bd. VI (1928) S. 284 ff. sowie die Nachträge. 4 R e t z i u s , Crania Suecica antiqua (1900). F ü r s t , Zur Kraniologie der schwedischen Steinzeit (1912). 6 Vgl. B r o n d s t e d , Danmarks Oldtid I (1938) S. 122 f . ; A s m u s , Schleswig-Holstein u. Mecklenburg S. 6 ff. 6 Z. B. G ü n t h e r , Herkunft und Rassengeschichte der Germanen (1935). 7 Beispiele in den Nachträgen. 8 Vgl. die Literatur in Bursians Jahresbericht Suppl. 224 (1929) S. 322 ff. 9 Ganz außer Betracht müssen bleiben die Germanioi in Persien bei Herodot I 124, vgl. N e ck e l , Germanen und Kelten (1929) S. 30 ff. Auch die angeblich aus älterer Quelle

D e r N a m e G e r ma n e n

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Triumphalakten zum Jahre 222 v. Chr., wo es heißt, daß M. Claudius Marcellus „de Galleis Insubribus et Ger[man(eis)]44 triumphiert habe. Daß die „Germanen44 hier nicht auf Grund einer gleichzeitigen Überlie­ ferung genannt werden, sondern bei der in der augusteischen Zeit erfolg­ ten Redaktion der Fasten an Stelle des von Polybius II, 22 u. a. erwähnten Alpen Volkes der G a e s a t e n eingesetzt sind, ist bisher allgemein mit Recht angenommen worden. Dagegen glaubt jetzt R. Much die Echtheit dieser Angabe verteidigen zu können, da die Gaesaten in der Tat deutschen Ur­ sprungs gewesen seien.*1 Sicher beruht die Angabe des Livius 21, 38 zur Geschichte des hannibalischen Krieges, daß damals am Großen St. Bern­ hard S e m i g e r m a n a e gentes gewohnt hätten, nicht auf dem hier sonst stark benutzten, wiederum auf dem Augenzeugen Silenos beruhenden Annalisten Coelius Antipater (um 120 v. Chr.), sondern auf der Kenntnis, die durch die Feldzüge des Augustus gegen die Alpenvölker in den Jahren 25— 15 v. Chr. gewonnen worden war. Sodann begegnet uns der Name in einem durch Athenäus überlieferten Fragment des Geschichtswerkes des Posidonius von Apamea, wo es heißt: die „Germanen44 nehmen mittags Fleischstücke zu sich, die gliedweise gebraten sind, dazu trinken sie Milch und ungemischten Wein. Wie schon bemerkt, hat Posidonius hierunter nicht die Kimbern, wie man früher annahm, sondern ein rheingermanisches Volk verstanden. Auf Posidonius gehen auch zurück die Angaben Stra­ bos III 4, 2 und VII 1, 2 über die Unterschiede zwischen Germanen und Kelten, während IV 3, 4 (die Nervier ein Γερμανικόν έ&νος) sicher nicht daher stammt, da Posidonius den Rhein als Grenze zwischen den beiden Völkern bezeichnete.2 — Nicht lange nach Posidonius ist dann auch die Nationalität der Kimbern als eines „germanischen44 Teilvolkes erkannt worden, und zwar durch die zahlreichen nach Rom gebrachten Kriegsge­ fangenen, besonders durch den Sklavenkrieg 73— 71, in dem die Banden als ethnisch gesonderte Gruppen auftraten. In den Quellen (Sallust,

stammenden Oretani qui et Germani in Spanien bei Plin. hist. nat. III 25 dürften nicht in jene frühe Zeit gehören, sondern werden dort zurückgebliebene Teile der Kimbern sein, deren germanische Herkunft später erkannt wurde. Als schon um 600 v. Chr. eingewander­ te Germanen will sie Schulten, Forsch, u. Fortschr. V III (1932) S. 212 f. ansprechen, schwerlich mit Recht, da der Germanenname erst viel später umfassende Bedeutung ge­ wann. Höchstens könnte man annehmen, daß die Oretaner von den Germani cisrhenani (siehe unten) ausgegangen seien. 1 Dagegen mit Recht jetzt J a c o b s o h n in der Zschr. f. deutsch. Altertum 66 (1929) S. 220. F r a h m , Klio 23 (1929) S. 192. Stähelin, Die Schweiz 2 S. 30. Die Gaesaten müssen als ein echt keltisches Volk angesehen werden; höchstens könnten auch sie als Abzweigung der Germani cisrhenani gelten. Die Einwendungen von Ne e k el , Zschr. f. deutsch. Alter­ tum 67 (1930) S. 81 ff. (vgl. jetzt auch M u c h ebenda 69 [1932] S. 17 ff.) sind gegen­ standslos. ' 2 Vgl. Norden a. O. S. 81. 371. Falsch Neckel S. 24.

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Einleitung

Historien; Plutarch; vgl. dazu Müllenhoff II, 155)1 werden demgemäß auch „Germanen“ genannt. Die volle Erkenhtnis der Differenzierung beider Nationen ist jedoch der antiken Kulturwelt erst seit dem Auftreten Ariovists aufgegangen und durch Cäsar sowie besonders durch Timagenes in die Literatur eingeführt worden. Daß bei der Unterscheidung nicht, wie Feist1 2 behauptet, in erster Linie das kulturelle Moment, der Gegensatz der noch unberührten Völker rechts des Rheins zu den zivilisierten Gal­ liern, sondern die Sprache, die ethnische Zusammengehörigkeit maß­ gebend war, zeigen die Ethnogonien bei Plinius und Tacitus (s. weiter unten), die Bemerkung Tac. Germ. c. 2 über die Rassenreinheit und Autochthonie der Germanen, sowie die Stellen Tac. Germ. c. 43 : Marsigni et Buri s e r m o n e cultuque Suebos referunt: Cotinos Gallica, Osos Pan­ nonica l i n g u a coarguit non esse Germanos; c. 45 von den Aestiern (ritus habitusque Sueborum, l i n g u a Britannicae proprior); c. 46: Peucini s e r ­ m o n e cultu sede ac domiciliis ut Germani agunt. Und schon Cäsar hebt hervor, daß der Germane Ariovist als F r e m d s p r a c h e die lingua Gal­ lica beherrschte.3 Die Hauptmasse der Schriftsteller in griechischer Sprache ist allerdings von diesem Wissen unberührt geblieben und steht weiter im Banne der alten Tradition. „Sie fahren fort, Germanien als einen Teil der Κελτική zu behandeln, ,Kelten1 da zu nennen, wo sie von Germanen hätten sprechen müssen, indem sie sich den ganzen Norden und Westen Europas von Kelten und Skythen besetzt denken“ (Norden S. 101 f.). Es wäre verkehrt, hieraus auf die keltische Nationalität der rechtsrhei­ nischen Völker zu schließen, wie dies Feist getan hat. Das wichtigste Quellenzeugnis für den Ursprung des Germanennamens ist bekanntlich die vielbesprochene Stelle des Tacitus Germania c. 2. Nachdem dieser von alten Liedern auf die Gottheiten Tuisto, Mannus und dessen drei Söhne, nach denen die drei Hauptstämme der Ingävonen, Istävonen und Herminonen benannt seien, gesprochen, führt er die Mei­ nung einiger Forscher an, wonach es noch mehr solche alte, auf göttlichen Ursprung zurückgehende Völkernamen gegeben habe: ceterum Germa­ niae vocabulum recens et nuper additum, quoniam qui primi Rhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri [vocarentur], tunc Germani vocati sint. Ita nationis nomen, non gentis, evaluisse paulatim, ut 1 Die Kimbern scheint noch Livius als Gallier angesehen zu haben, vgl. L. Schmidt in Klio 22 (1928) S. 102. 2 Germanen und Kelten in der antiken Überlieferung, Halle 1927 (I). D e r s e l b e inZeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF. 44 (1930) S. 377 ff. (II). 3 b. G. I 47. Der Versuch Feists, I 29. II 391, 1 auf Grund der Lesart einiger (schlech­ ter) Handschriften die Kenntnis des Gallischen auf die beiden Gesandten Cäsars zu be­ ziehen, ist sehr leichtfertig; quorum hat in dem Satz C. Valerium Procillum . . ., quorum amicitia A . . . utebatur keinen Sinn. Vgl. auch Meusel zu dieser Stelle.

Der Name Germanen

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omnes primum a victore ob metum, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur. Nach E. Norden schöpfte Tacitus diese Angabe durch Vermittelung des Plinius oder Livius aus dem Geschichtswerke des Tima­ genes. Er übersetzt unter Berücksichtigung des griechischen Sprachge­ brauchs folgendermaßen: Der (Landes-)Name Germania jedoch sei jung und unlängst hinzugefügt, da diejenigen, die zuerst den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben hätten, die jetzigen Tungrer, damals Germani genannt worden seien. So sei der Name (Germani), der (nur) ein Stammes­ name, kein Volksname war, allmählich zu einer derart umfassenden Be­ deutung gelangt, daß das Gesamtvolk zuerst (von den Galliern) nach (a = άπό) dem Sieger aus Furcht, dann auch von (a = ύπο) sich selbst mit dem Namen Germani, den es bekommen hatte, benannt wurde. Gegen diese Deutung bestehen aber schwerwiegende Bedenken, namentlich gegen den Gebrauch der Präposition a in verschiedenem Sinne. Der durch das Wort etiam noch besonders betonte Parallelismus erfordert, daß a victore ebenso übersetzt wird wie a se ipsis, was nur „von sich selbst“ bedeuten kann.1 Für a = άτ:ό verwendet Tacitus sonst nur ex oder e. Ebenso hat die Ergänzung „von den Galliern“ als Namengebern ihre Bedenken. Die Motivierung, daß die Gallier „aus Furcht“ die Übertragung vorgenommen hätten, ist unmöglich. Philologisch erscheint daher die Übersetzung Knokes2 1 durchaus richtig: Übrigens sei der Name Germanien neueren Ursprungs und erst unlängst dem Lande beigelegt, da ja nur die, welche zuerst über den Rhein gingen und die Gallier vertrieben, die heutigen Tungrer, damals Germanen geheißen hätten. So sei nur der Name eines Stammes und nicht eines Volkes allmählich durchgedrungen, jedoch der­ art, daß sie alle zuerst von dem Sieger um Furcht zu erregen, später auch von sich selbst, nachdem diese einmal den Namen vorgefunden hätten, Germanen genannt worden seien. Sicher ist, daß unter dem „Sieger“ nur die gegen die Gallier siegreichen Tungrer, nicht, wie neuerdings wieder K ö p p 3 zu begründen versucht hat, die Römer, von denen doch hier sonst nicht die Rede ist, zu verstehen sind. Ob metum heißt hier nicht „aus Furcht“ , sondern um Furcht zu erregen, da der Sieger nicht aus Furcht handelt. Die Tungrer sind die Nachfolger der Eburonen, des Hauptvolkes der von Cäsar genannten Germani cisrhenani in den Ardennen, und, wie die erhaltenen Namen zeigen, sehr wahrscheinlich deutschen Ursprungs; nach der Auflösung dieser Völkergruppe durch die Feldzüge Cäsars trat 1 Vgl. K a l i n k a , Anzeiger der Wiener Akademie 1928 Nr. V S. 23 ff. 2 Bemerkungen zu dem Sprachgebrauch des Tac. (1925) S. 33 ff. und Mannus 17 (1926) S. 336 ff. , 3 Aus Vergangenheit und Gegenwart. Festgabe für Philipp. (Münster 1923) S. 1 ff. Vgl. Kalinka S. 19.

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Einleitung

die Bezeichnung Tungri als des jetzt mächtigsten Teilstammes an die Stelle des alten Germanennamens. Man wird aber daran festhalten müssen, daß nicht die Tungrer-Germanen, wie Tacitus sagt, ihren Namen auf die rechtsrheinischen Stammesgenossen übertragen haben, sondern die Gallier, die ihn wiederum den Römern übermittelten. Denn dies würde dem ge­ wöhnlichen Gebrauch bei der Entstehung derartiger Namen entsprechen und Seitenstücke haben in der Bezeichnung der Deutschen als Allemands durch die Franzosen nach dem ihnen benachbarten Einzelvolke der Ala­ mannen, der Kelten und deren germanischen Nachfolgern als Walchen, Welsche, nach dem keltischen Grenzvolke der Volcae durch die Deutschen u. a. Daß Tacitus bzw. sein Gewährsmann sich hier geirrt hat, wird um so wahrscheinlicher, als auch seine weitere Angabe, daß das Gesamtvolk nachmals auch s el b s t den neuen Namen angenommen habe, nachweislich falsch ist.1 Den Galliern war die von den Germanen überhaupt drohende Gefahr längst geläufig; es hätte eines so plumpen Täuschungsversuches nicht bedurft, um jenen das Bestehen einer solchen vor Augen zu führen. Ob man den Namen Germanen als deutsch ansprechen darf (so u. a. F. Kluge, R. Much, Kossinna, Knoke), ist heute noch nicht entschieden. Denn wenn auch die Germani cisrhenani deutschen Ursprungs waren, so kann doch schon ihr Name von den keltischen Nachbarn gegeben und von ihnen selbst angenommen worden sein, wofür es ja an Beispielen nicht fehlt.1 2 Die Entstehung reicht jedenfalls in eine sehr frühe Zeit zurück und es ist, wie bei allen solchen Volksnamen, eine zuverlässige Deutung kaum möglich.3 Die Germanen selbst haben keine für ihre Gesamtheit geltende heimische Bezeichnung geführt, wenn ihnen auch, wenigstens vor der Völkerwande­ rung, die ja eine weitgehende Entfremdung der einzelnen Teile von­ einander zur Folge hatte, das Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht ganz gefehlt hat, wie die erwähnten, aus germanischer Quelle stam­ menden Ethnogonien zeigen. Wie schon bemerkt, beruht die Angabe des Tacitus, daß sie auch sich selbst so genannt hätten, auf einem Irrtum. ,, Germani haben sie sich nur genannt, soweit sie im römischen Reiche als römische Soldaten lebten . . . und nur soweit sie römisch von sich sprachen, sich gewissermaßen mit den Augen des Römers ansahen“ 1 Feist I S. 46 ff. meint, daß kein Irrtum vorliege, da Germanus als Personenname mehr­ fach vorkomme. Aber Tacitus spricht von der Annahme des Namens durch die G e s a m t ­ h e it (omnes). Übrigens sind diese Personennamen wohl rein keltische Bildungen und haben mit dem Volksnamen nichts zu tun. Vgl. S c h n e t z in den Beiträgen zur Gesch. d. deutsch. Sprache 47 (1923) S. 470 ff. 2 Vgl. S c h n e t z in der Zeitschrift f. Ortsnamenforschung II (1926) S. 226 ff. 3 Vgl. Fürst I S. 49 II 384 ff. L. S c h m i d t Philol. Wochenschrift 1927 S. 62. Neckel, Germanen u. Kelten S. 34 ff.

A l l ge m ei ne Zustände

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(Norden S. 425). Das Fehlen eines nationalen Gesamtnamens wird be­ sonders deutlich durch den Gebrauch des aus dem Codex Theodosianus entlehnten Wortes barbari in den Volksrechten als Bezeichnung der ger­ manischen Bevölkerung gegenüber der römischen. Und auch bei den R ö­ mern hat jener Name bald seine umfassende Bedeutung verloren. Die Ost- und Nordgermanen, die noch Plinius, Tacitus, Ptolemäus als Be­ standteile der großen Nation bezeichneten, erscheinen später nur noch unter ihren Sondernamen. Der Germanenname bleibt wesentlich auf den Franken haften, eine Beschränkung, die sich bis ins Mittelalter hinein auswirkte. Erst in neuerer Zeit ist er wieder, und zwar auf gelehrtem Wege, zur Anwendung in dem früheren ausgedehnten Sinne gelangt. Als volks­ tümliche zusammenfassende Bezeichnung erscheint für ein enger begrenztes Gebiet das Wort „deutsch“ , das anfänglich nur für die Sprache im Gegen­ satz zum gelehrten Lateinisch verwendet, seit dem 11. Jahrhundert auch politische Bedeutung erlangte. 3. ALLGEMEINE STAATLICHE, SOZIALE UND W IRTSCHAFT­ LICHE ZUSTÄNDE DER GERMANEN SEIT DEM BEGINN DER GESCHICHTLICHEN ZEIT Für die Erforschung der Siedelungsgeschichte Deutschlands ist die Kenntnis des ehemaligen L a n d s c h a f t s b i l d e s von großer Bedeutung.1 Dieses ist in seiner heutigen Gestalt im wesentlichen ein Werk der Menschen­ hand. Unter dem Einflüsse der in der sog. atlantischen Klima-Periode (die dem Frühneolithikum entspricht) herrschenden feuchtwarmen W itte­ rung war Mitteleuropa fast ganz von dichten Forsten und Sümpfen bedeckt. Ein darauf eingetretener Wechsel zu trocken-warmem Klima (subboreale Zeit = Vollneolithikum; Bronzezeit) lichtete die Wälder und schuf offene Stellen, die Ackerbau und Viehzucht ermöglichten. Solche Gebiete waren in Mittel- und Süddeutschland besonders die Oberrheinische Tiefebene nebst dem Rheinischen Hügelland und der Wetterau, das Lothringische Hügelland, das Maifeld mit dem Neuwieder Becken, die Hessische Senke, 1 Vgl. u. a. G r a d m a n n in der Geograph. Zeitschrift V II (1901) S. 361 ff. 435 ff. 12 (1906) S. 305 ff.; in der Festgabe d. phil. Fak. d. Univ. Erlangen (1925) S. 1 ff. und in der Zeitschrift f. bayer. Landesgeschichte I (1929) S. 316 ff. W a h l e , Die Besiedelung Südwestdeutschlands in vorröm. Zeit (12. Bericht d. röm.-germ. Kommiss. 1920) u. in Eberts Reallex. d. Vorgesch. I, 183 ff., S c h u m a c h e r , Siedclungs- u. Kulturgeschichte der Rheinlande I (1921) S. 175 ff. S c h l ü t e r , Deutsches Siedelungswesen in Hoops’ Reallex. I, 402 ff. ; bei W. Volz, d. ostdeutsche Volksboden (1926) S. 52 ff. ; und in Deutsch­ land, die natürl. Grundlagen seiner Kultur (1928) S. 286 ff. C z a j k a in Nachrichtenblatt f. deutsche Vorzeit IV (1928) S. 65 ff. G u s m a n n , Wald- u. Siedelungsfläche Südhan­ novers (Quellen u. Darstellungen z. Gesch. Niedersachsens Bd. 36. 1928). W a h l e , Deutsche Vorzeit (1932) S. 2 ff.

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Einleitung

das Thüringer Hügelland, das Vorland des Harzes, die Niederungen der Elbe bis Magdeburg, der Saale und Werra, Schlesien zwischen dem Gebirge und der Oder, das Main- und Neckarbecken, aber auch die Höhen der Schwäbischen und Fränkischen Alb, das untere Alpenvorland, das nörd­ liche und mittlere Böhmen, Mähren, Marchfeld und Wiener Becken, Wachau, in den Alpen Wallis, Rheintal, Inntal. Sie decken sich mit dem Verbreitungsgebiete des Löß und einer eigentümlichen Flora, der Steppen­ heide. Die Lößzone am Rande der Mittelgebirge wurde nach Norden zu abgeschlossen durch einen großen Waldgürtel, der von Schlesien rechts der Oder über das rechte Ufer der mittleren Elbe durch das Gebiet der Aller nach den Weserbergen und dann wieder von der westfälischen Senne über den Niederrhein nach Südholland zu verfolgen ist. In dem nördlich davon gelegenen Tiefland sowie in Skandinavien fehlen Löß und Steppen­ heide ; doch muß es auch hier nicht wenige offene Stellen gegeben haben. Westlich der Elbe sind es die schon in atlantischer Zeit waldfreien Heide­ bezirke und die Küstensäume, die Marschen und Geeste, östlich davon das regenarme Gebiet, das sich von Posen längs der unteren Weichsel bis zur Ostsee erstreckte, ferner kleinere Bezirke in Brandenburg und an der unteren Oder. Außerdem gaben die zahlreichen Binnenseen des Ostens wegen ihres Fischreichtums Anlaß zu Ansiedelungen auch im Waldlande selbst. Als dann wieder, seit Beginn der Eisenzeit, ein feuchtes Klima zur Herrschaft gelangte, hat die Bewirtschaftung des Bodens durch den Men­ schen, der immer wieder auf dieselben Bezirke zurückgriff, welche bereits die vorhergehende Bevölkerung genutzt hatte, ein Uberhandnehmen des Waldwuchses, schon durch das Beweiden seitens des Viehs usw., wenn auch unbewußt, verhindert.1 Die Sohlen der Stromtäler haben im allge­ meinen keinen günstigen Raum für Ansiedelungen gegeben; das Bild, das noch heute namentlich die Alpenflüsse zeigen, gilt allgemein für die Urzeit. Die Täler waren mit Geröll überschüttet, mit dichten Auenwäldern, Weidengestrüpp und Schilf, nur vorübergehend auch mit Gras bewachsen. Nicht die Höhenlage, der gebirgige Charakter des Landes, sondern das Fehlen von Wald war in erster Linie für die Wahl der Wohnplätze maß­ gebend; dies zeigt deutlich das Beispiel der Schwäbischen Alb, deren steinige, wasserarme Hochfläche ein uraltes Besiedelungsgebiet bildete. An ein u m f a s s e n d e s Roden der Wälder oder gar Austrocknen der Sümpfe hat man in jenen frühen Zeiten nicht denken können, da man einer solchen schwierigen Aufgabe mangels geeigneter Werkzeuge nicht im entferntesten gewachsen war; erst spät, im eigentlichen Mittelalter, hat man sich der­ selben notgedrungen unterzogen. Denn durch Abbrennen allein läßt sich 1 Dies wird allerdings von Schlüter S. 292 bestritten, der eine damals durch den Wald­ wuchs eingetretene Beeinträchtigung des Kulturlandes annimmt.

Allgemeine Zustände

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ein wirklicher Urwald nicht in nutzbares Land verwandeln. Wie Inseln hoben sich die verhältnismäßig beschränkten Gebiete anbaufähigen Landes aus einem gewaltigen Waldmeere heraus. Die trübseligen Schilderungen der Griechen und Römer von den landschaftlichen Zuständen Deutsch­ lands sind daher, wenn auch übertrieben, doch nicht ganz unzutreffend; übrigens wird auch von ihnen das Vorhandensein größerer Fruchtländer nicht geleugnet. „D ie Bevölkerung war gebunden an die engen Kammern, in die sich der natürliche Lebensraum gliederte. Die Zersplitterung in Stämme wurde dadurch unterstützt, die Einigung erschwert.“ 1 — Was die B a u m a r t e n anbetrifft, so waren die Laubhölzer früher weiter ver­ breitet als jetzt. Reine Laubholzgebiete (besonders Buche, Eiche, Erle) waren Nord Westdeutschland, Mittel- und Oberrheingebiet, das Hessische Bergland, Spessart, Odenwald, Schwäbische Alb, Schleswig-Holstein, Pommern, nördliches Sachsen, Niederschlesien, während Nadelholz über­ wiegend vertreten war in den Alpen, Schwarzwald, höheren Lagen des Wasgenwaldes, Fichtelgebirge und der Fränkischen Hochebene, Oberpfalz, Teilen des Harzes und Thüringer Waldes, im nördlichen Bayrischen Wald, Frankenwald, in der Norddeutschen Tiefebene östlich der Elbe. Die Kiefer herrschte vor in der Ebene, die Fichte (und Tanne) im Gebirge. Die Eibe war weiter verbreitet als jetzt.2 Natürliche Veränderungen in größerem Ausmaße hat die deutsche Land­ schaft in historischer Zeit hauptsächlich an den Küsten der Nordsee unter dem Zusammenwirken von Sturmfluten und Gezeiten erfahren. An der schleswig-holsteinischen Küste waren die Inseln und Halligen umfang­ reicher als heute, dagegen das Marschland vielfach kleiner. Die Landschaft Eiderstedt zerfiel in drei Inseln; nördlich davon reihten sich daran der sog. Strand, einst ein stark besiedeltes Gebiet, von dem nur Nordstrand, Pellworm und die Halligen übrig geblieben sind. Föhr und Amrum bildeten eine Insel, hingen vielleicht mit dem Festlande zusammen. Große Land­ verluste müssen zu Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. im nördlichen Jütland eingetreten sein; sie waren die Ursache der Abwanderung der Kimbern und Teutonen. Dagegen ist die oft wiederholte Behauptung, daß Helgoland früher viel größer gewesen sei als jetzt, sicher falsch. Die heutige Zuidersee (Lacus Flevo) war ein durch den Vliestrom mit der Nordsee verbundener Süßwasser-Binnensee. Die Entstehung des Jadebusens datiert erst vom Anfang des 13., die des Dollart vom 15. Jahrhundert. Die Westund Ostfriesischen Inseln waren schon vorhanden, aber ebenfalls viel größer* 1 Schlüter a. O. S. 296. * Vgl. H o o p s , Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum (1905). H a u s r a t h , Pflanzengeographische Wandlungen der deutschen Landschaft (Leipzig 1911) 'S. 164 ff. R. M u c h in Sudeta II (1926) S. 57 ff.

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Einleitung

als jetzt, waren zum Teil miteinander und mit dem Festland verbunden. Texel und Vlieland einerseits, Terschelling und Ameland andererseits wurden erst im 13. bzw. 15. Jahrhundert voneinander getrennt. Die Insel Burcana (Βυρχανίς) nahm den größten Teil des heutigen Emstrichters ein; Borkum, Juist, Norderney sind nur geringe Überbleibsel. Im allge­ meinen waren die Landverluste größer als die Landgewinne. Die Mün­ dungen der sämtlichen größeren festländischen Nordseezuflüsse von der Schelde bis zur Eider haben sich nach links verschoben. Der Hauptmün­ dungsarm des Rheins war in römischer Zeit der sog. Alte Rhein, während die Waal noch keine bedeutende Rolle spielte. Aber auch im Binnenlande sind naturgemäß mancherléi Verschiebungen in den Flußläufen eingetreten. Die Lippe floß wahrscheinlich damals nicht in den Rhein, sondern im jetzigen Ysselbett zur Zuidersee und durch sie hindurch in die Nordsee.1 Die durch den Waldreichtum bedingte Beschränkung des Siedelungs­ raumes verbietet von vornherein die Annahme, daß wir mit einer großen Volkszahl zu tun hätten. Und auch in den Kulturlandschaften kann bei der extensiven Wirtschaft keine sehr dichte Bevölkerung gesessen haben. Dazu kommt, daß schon seit früher Zeit ein nicht geringer Prozentsatz des Geburtenüberschusses der Heimat durch den fremden Kriegsdienst verlorenging. Die in die Hunderttausende gehenden Ziffern, die die klassischen Autoren von der Stärke der germanischen Heere überliefern und die bis in die neueste Zeit die Gelehrten irregeführt haben,1 2 entbehren jeder positiven Grundlage, sind erfunden — hauptsächlich mit der Tendenz, einen Sieg über die Germanen durch deren angebliche Überlegenheit größer erscheinen zu lassen oder eine erlittene Niederlage mit der Überzahl der Gegner zu entschuldigen. Solche übertriebene Schätzungen finden wir auch bei sonst als zuverlässig bekannten Historikern wie Polybius und Cäsar;3 sie sind bei den späteren Schriftstellern, besonders natürlich bei den Panegyrikern ins Groteske gesteigert. Wenn glaubwürdige Angaben von größeren Zahlen vorliegen, so beziehen sie sich in der Regel nicht auf Einzelvölker, sondern auf Vereinigungen mehrerer Völkerschaften,4 und nicht auf die deutsche Urheimat, sondern auf die durch die Völkerwan­ derung gewonnenen, wirtschaftlich günstigeren Siedelungsländer. Für das 1 Vgl. u. a. Schlüter bei Hoops, Reallex. I 411 ff. O. J e s s e n , Die Verlegung der Fluß­ mündungen u. Gezeitentiefs an der festländ. Nordseeküste. Stuttgart 1922. R. H e n n i g , Die Stromverlagerungen des Niederrheins, Bonner Jahrbücher 129 (1924) S. 166 ff. L o r e n t z e n , Schleswig-Holstein im Mittelalter (Hamburg 1925) S. 18. 2 Vgl. z. B. D a h n , Die Landnot der Germanen. S. d. aus der Festschrift für W ind­ scheid (1888). Dagegen D e l b r ü c k , Geschichte der Kriegskunst I I 3 (1921) S. 300 ff. 3 Vgl. R. M u c h in Germanistische Forschungen (1925) S. 24 (von den Gaesaten); S. 54 (von den Helvetiern), v. S c h w e r i n , D. altgerman. Hundertschaft (1907) S. 90. 4 S c h m o l l e r , Grundriß der Volkswirtschaftslehre I 3 (1919) S. 172.

Allgemeine Zustände

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Einzelvolk der Bataver am Unterrhein liegt uns aus der Zeit um 70 n. Chr. die Angabe vor, daß es zehn Kohorten und eine Ala zu 500 Mann, also 5500 Mann zum römischen Heere stellte; dazu kam das nationale Aufgebot, so daß wir den Bestand an waffenfähigen Männern auf etwa 10000 Mann, das Gesamtvolk auf 50000 Köpfe zu schätzen haben werden. Auf einen Völker­ bund bezieht sich die Nachricht, daß der Markomannenkönig Marbod über ein Heer von 74000 Mann verfügte; sie ist glaubwürdig, weil zu seiner Bezwingung ein römisches Heer von etwa 100000 Mann ausrückte. Auf die die Vorherrschaft ausübenden Markomannen muß man davon einen be­ trächtlichen Teil, sicher mindestens etwa 25000 rechnen. Nach den aller­ dings nicht recht durchsichtigen und schwer miteinander zu vereinenden Mitteilungen Cäsars über die Zahl der Truppen Ariovists werden diese etwa 25000 Mann, gezählt haben, die sich aber auf sieben Völkerschaften ver­ teilten. Gehen wir zur Zeit der Völkerwanderung über, so können wir die Stärke der Alamannen aus einer Betrachtung der Zahlenverhältnisse in der Schlacht bei Straßburg 357 errechnen. Das römische Heer zählte 13000 Mann, das alamannische war anscheinend überlegen, aber nicht allzusehr; eine Streitmacht von 35000 Mann, wie angegeben wird, würde Julian nicht anzugreifen gewagt haben; mit der Annahme von höchstens 20000 Mann wird man annähernd wohl das Richtige treffen. Das Gesamt­ aufgebot, von dem nur ein, wenn auch der größte Teil bei Straßburg kämpfte, wird hiernach auf etwa 25 000 Mann zu schätzen sein. Und auch hier handelt es sich nicht um ein Einzelvolk, sondern um einen Völkerbund. — Das Barbarenheer, das 378 die Schlacht bei Adrianopel schlug, bestand zum größten Teile aus Westgoten, zum kleineren aus Ostgoten, Hunnen und Alanen. Es wurde von den römischen Kundschaftern zuerst auf 10000 Mann geschätzt, war aber tatsächlich stärker, wenn auch gewiß nicht viel zahl­ reicher als 18 000 Mann. Davon dürften auf die Westgoten etwa 10000 ent­ fallen; vgl. unten. — Was über die Volkszahl der Burgunder aus älterer Zeit überliefert wird, ist ganz unglaubwürdig. Auch die von Delbrück a. O. S. 305 für zuverlässig erklärte Angabe des Kirchenhistorikers Sokrates, daß sie nur 3000 Mann gezählt hätten, kommt für die Schätzung des Hauptvolkes nicht in Betracht, da sie sich auf den auf dem rechten Rheinufer zurück­ gebliebenen Volksteil bezieht; ihr Wert ist sehr zweifelhaft, weil die An­ nahme einer tendenziösen Minderung naheliegt. Daß von dem Volk nach der Niederlage durch die hunnischen Söldner des Aetius in der Tat, wie die Quellen angeben, nur dürftige Reste übriggeblieben waren, ergibt sich daraus, daß die Landschaft Sapaudia (in der Hauptsache das Stadtgebiet von Genf) zur Unterbringung aller ausreichte (443). Durch Geburtenüber­ schuß und Zuwanderung haben sich die Burgunder rasch vermehrt. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung umfaßte ihr Reich in Gallien 32 GrafS c h m i d t , Ostgermanen

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E inleitung

schäften, die sich mit den römischen Stadtgebieten deckten. Da sie aber nur mit den römischen Großbesitzern geteilt hatten, kann die Zahl der Bewohner eines Bezirkes nicht groß gewesen sein, durchschnittlich nicht mehr als einige Hundert Familien, die Gesamtzahl also kaum mehr als 10000 Krieger betragen haben. — Die Ostgoten stellten zur Zeit ihres Aufenthaltes in der Balkanhalbinsel für das römische Heer einen Teil der 13000 Mann starken Truppen unter Theoderich Strabo, während das nationale Aufgebot (unter dem Amaler Theoderich) ca. 10000 Krie­ ger (6000 Mann werden als Kerntruppen angegeben) betrug; das Volk verfügte also im ganzen über etwa 20000 Krieger oder 100000 Seelen. In derselben Stärke werden die Ostgoten in Italien eingezogen sein, da zwar einige Volksteile zurückblieben, dafür aber wieder andere Ele­ mente, besonders Rugier, hinzukamen; vgl. unten. — Daß die Gepiden im Jahre 547 mindestens 20000 Mann ins Feld stellen konnten, ist daraus zu schließen, daß der Kaiser gegen sie den Langobarden ein Heer von 11500 Mann zu Hilfe schickte. Sie hatten aber wahrscheinlich nach der Besetzung Dakiens mehrere fremde Volksteile in sich aufge­ nommen. — Besonders wichtig, weil auf einer genauen Zählung beruhend, ist das, was wir über die Stärke der Wandalen erfahren. Als Gesamtsumme ergab sich nach dem anläßlich des Überganges nach Afrika 429 von Geiserich angeordneten Zensus, wie Victor von Vita glaubwürdig angibt, eine Gesamtsumme von 80000 Seelen, d. s. etwa 16000 Krieger.1 Davon werden etwa 2/ 3’ 10000 Mann oder 50000 Seelen auf die asdingischen Wandalen entfallen, während der Rest sich auf Silingen, Alanen, Goten und andere Mitläufer verteilte. Unter Berücksichtigung der starken, un­ terwegs erlittenen Verluste und des Umstandes, daß ein Teil in den Sitzen an der Theiß zurückblieb, wird man annehmen dürfen, daß die Asdingen allein vor dem Verlassen Ungarns um 400 etwa 80000 Köpfe zählten. Wie stark sie in der schlesischen Heimat gewesen sind, läßt sich nicht sagen. Das Heer, das Gelimer den 15000 Mann starken Byzantinern entgegenstellte, wird von Zacharias Rhetor als „klein und winzig“ bezeich­ net, d. h. es war diesen unterlegen. 5000 Mann wraren Kerntruppen; im ganzen mögen also die Wandalen, die nach Victor von Vita im Laufe der Zeit starke Einbußen erlitten hatten, am Ende ihrer Herrschaft noch etwa 12000 Krieger ins Feld gestellt haben. Die Zahl der Wandalen zur Zeit des Überganges nach Afrika läßt wiederum Rückschlüsse auf die der West­ goten zu Anfang des 5. Jahrhunderts zu. Die alanischen Wandergenossen der Wandalen waren diesen nach Hydatius bis zum Jahre 418 numerisch überlegen, werden also auf wenigstens 80— 100000 Seelen zu schätzen sein, 1 Vgl. meine Darlegungen Byzantin. Zeitschrift 15 (1906) S. 628 ff.

Allge mein e Zustände

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und ebenso stark, wenn nicht stärker, müssen dann auch ihre Bezwinger, die Westgoten, gewesen sein.1 Delbrück hat, allerdings auf sehr unsicheren Grundlagen fußend,1 2 die Bevölkerung Germaniens im 1. Jahrhundert n. Chr. auf durchschnittlich etwa 250 Seelen für die Quadratmeile, 4— 5 auf den Quadratkilometer, be­ rechnet und behauptet, daß eine Völkerschaft in der Regel nicht mehr als ein Gebiet von 100 Quadratmeilen und 25000 Seelen gehabt habe, weil bei einem größeren Umfange der Apparat der Volksversammlung nicht mehr habe funktionieren können. Wir haben gesehen, daß, wenn diese Ansetzung als Regel gelten soll, es Ausnahmen gegeben hat. Ausnahmen müssen auch bei der Behauptung Delbrücks, daß ein wanderndes Volks­ heer nicht mehr als 15000 Krieger = 70000 Köpfe gezählt haben könne, festgestellt werden. Schmoller (Grundriß I 3 186) nimmt 5— 6, Schlüter (Reallex. I 413) nur 2 auf den Quadratkilometer im ganzen (9 auf den Quadratkilometer Siedelungsfläche) an. Etwas höher geht Hoops,3 der für Germanien ungefähr die gleichen Verhältnisse wie in Belgien (angeblich 6— 7 auf den Quadratkilometer) annimmt. Ein einigermaßen sicheres Er­ gebnis ist nicht zu gewinnen. Aber selbst Delbrück muß zugeben, daß die kriegerischen Leistungen gegen das römische Weltreich und seine erprobten Legionen so groß waren, daß sie ohne eine größere Menge nicht denkbar erscheinen. Nicht ohne Berechtigung wird man die Gesamtzahl aller Ger­ manen einschließlich der nordischen im 1. Jahrhundert n. Chr. auf min­ destens 3— 4 Millionen veranschlagen dürfen.4 Der germanische Staat ist auf der Grundlage der Geschlechterverfassung entstanden. Diese war auch zur Römerzeit noch wirksam, jedoch schon überall gegenüber der vordringenden öffentlichen Gewalt im Zurück­ weichen begriffen. Die römischen Schriftsteller bezeichnen den staat­ lichen Verband, die Völkerschaft, mit dem Worte civitas. Der deutsche Name hierfür ist nicht überliefert; es wird vermutet, „daß das ger­ manische Staatsgebiet ,Land‘ und, wenn es unter einem Herrscher stand, ,Reich4 hieß. Müllenhoff deutet civitas als Volk (thiuda)“ .5 Völker­ schaftsgrenzen waren in erster Linie die natürlichen Verkehrshindernisse 1 Vgl. meine Besprechung von Delbrücks Kriegskunst in der hist. Vierteljahrsschrift 1904 S . 66 ff. 2 a. O. S. 14 f. 310 f. Denn wir wissen durchaus nicht genau, wie viele germanische Ein­ zelvölker zu einer bestimmten Zeit auf dem von Delbrück bezeichneten Gebiete gewohnt haben. Zu streichen sind jedenfalls die ptolemäischen Innerionen u. Intwergen, die wohl mit anderen besser bekannten Völkern zusammenfallen, wenn sie nicht überhaupt er­ funden sind. 3 Waldbäume und Kulturpflanzen im germ. Altertum (1905) S. 496. * Nach Schmoller S. 173 in Deutschland zu Cäsars Zeit 2— 3 Millionen, nach der Völ­ kerwanderung große Zunahme. 5 V. B e l o w , Der deutsche Staat des Mittelalters I 2 (1925) S. 129. 4*

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namentlich Wälder und Sümpfe,1 weshalb denn auch das Wort für Grenze (marka) zur Bedeutung von Wald gelangte.1 2 Die Sweben schied von den Cheruskern der Wald Bacenis „wie eine natürliche Mauer“ (Cäsar b. G. 6, 10). An ein mauergleiches G e b i r g e braucht hier nicht gedacht zu werden. Dazu kommen ferner Wasserläufe: die großen und kleinen Chauken waren durch die Weser, die großen und kleinen Friesen durch das Vlie, die großen und kleinen Brukterer durch die Ems geschieden; die Elbe war zur Zeit des germanischen Feldzuges des Tiberius (5 n. Chr.) die Ostgrenze der Semnonen und Hermunduren.3 Von den Reudingern, Avionen, Angeln usw. bemerkt Tacitus (Germ. c. 40), daß sie „alle durch Flüsse und Wälder geschützt seien“ . Boten sich keine natürlichen Grenzen, so wurde häufig künstlich ein Wüstenei als neutrale Zone zwischen den einzelnen Stammesgebieten geschaffen (Cäs. b. G. 4, 3; 6, 23; Mela 3, 3, 27; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte2 I, [1906] S. 157,3); auch suchte man sich durch Anlegung von Wällen gegeneinander zu schützen (Tac. ann. 2, 19; vgl. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte I 3 [1881] S. 414). Als Unterabteilung der civitas wird von den Römern der pagus genannt. Wie Dopsch4 ausführt, „batte pagus bei den Römern eine ganz bestimmte rechtliche und politische Bedeutung. Er besaß nicht nur seine festen Grenzen und Territorium, sondern auch eigenen Kult und die Flurver­ waltung, eigene Vorsteher (magistri pagorum), die jährlich gewählt wurden, sowie Versammlungen (conventus) der Gaugenossen, auf welchen die Flurverwaltung ausgeübt wurde . . . Die räumliche Ausdehnung war ganz variabel“ . Als deutsche Bezeichnungen für die Unterabteilungen des Staates werden aus späterer Zeit genannt Gau (gavi, go), del, bant, Hundertschaft (huntari) u. a. Aber die Gleichsetzung des Gaues mit der Hundertschaft erscheint mir nicht angängig, auch wenn wir annehmen, daß die letztere nicht genau oder annähernd 100 bzw. 120 Einheiten um­ faßte, sondern eine größere Menge von unbestimmter Stärke bezeichnete. Wenn bei den Germanen der pagus huntari geheißen hätte, so würde doch wohl Tacitus dafür das Wort centena gebraucht haben, wie er ja auch den ihm übermittelten Namen der von den einzelnen Gauen gestellten Sonder­ truppe mit centeni wiedergibt. Und wenn eben diese Truppe den Namen „Die Hundert“ führte, so konnte doch der Gau nicht gut ebenso benannt gewesen sein. Die Hundertschaft erscheint als B e z i r k erst später und 1 Erst später wurdeu aus diesen ,,Grenzsäumen'* feste Grenzlinien. 3 Vgl. Mela 3, 3, 29: terra ipsa multis i n p e d i t a fluminibus, multis montibus aspera et magna ex parte silvis ac paludibus invia. 3 L. S c h m i d t , Hist. Vierteljahrsschrift 1902 S. 83. 4 Wirtschaftliche u. soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung I I 3 (1924) S. 9.

A ll g e m e i n e Zustände

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nicht bei allen germanischen Völkern; die Annahme dagegen, daß sie all­ gemein zunächst als p e r s ö n l i c h e r Verband für die Zwecke des Heer­ wesens und der Rechtsprechung existiert habe, läßt sich nicht begründen. Zeugnisse für die Hundertschaft im höheren Altertum konnte man nur durch die Annahme von Mißverständnissen (bei Cäsar und Tacitus) ge­ winnen.1 Daß der Gau mehrere hundert waffenfähige Männer umfaßte, ergibt sich vor allem aus Tacitus Germ. c. 6, wo es heißt, daß jeder Gau (außer dem gewöhnlichen Aufgebot) eine größere Zahl1 2 zu der schon er­ wähnten Sondertruppe stellte. Dagegen ist die Angabe Cäsars, nach der von den 100 swebischen Gauen jeder 2000 Mann habe stellen können, in das Reich der Fabel zu verweisen.3 Eine bestimmte Zahl für die Insassen des Gaues anzugeben, ist aber unmöglich. Eine nur einigermaßen fest ab­ gegrenzte numerische Gliederung haben die Germanen der Urzeit nicht gekannt. Besonders wichtig ist das Zeugnis des byzantinischen Kriegs­ schriftstellers Mauricius, strateg. 11, 4: τάσσονται . . . ού μέτρω τινί ώρισμένω καί τάξει, ή έν μοίραις ή έν μέρεσιν, άλλά κατά φυλάς καί τη προς άλλήλους συγγένεια τε καί προσπάθεια. Dasselbe stammt aus dem Ende des 6. Jahrhunderts und bezieht sich offenbar in der Hauptsache auf die Langobarden, die wie die Sachsen und Friesen am längsten und zähe­ sten an ihren hergebrachten Einrichtungen festgehalten haben, gilt also auch für die Zustände vor der Wanderung. Die verschiedene Größe der einzelnen Abteilungen war bedingt durch die Zusammensetzung nach Sippen, die zu keiner Zeit gleich groß waren.4 Auf eine höhere Zahl als etwa 1000 Mann wird man aber nicht zukommen dürfen. Als Abteilung des germanischen Heeres, das begrifflich mit dem Volke zusammenfiel, wird besonders von Tacitus der cuneus genannt. Das Wort steht hier im Sinne von Kolonne, Heerhaufen, während es sonst auch zur Bezeichnung der keilförmigen Schlachtordnung (siehe weiter unten) verwendet wird: Tac. Germ. c. 6 : acies per cuneos componitur, hist. 4, 16: Canninefates, Frisios, Batavos propriis cuneis componit. 5, 16: Civilis haud porrecto agmine (d. h. nicht in gleichgroßen Kolonnen wie die Römer) sed cuneis adstitit. Germ. c. 7 : non casus nec fortuita conglobatio turmam aut cu­ neum facit, sed familiae et propinquitates. Daß ein Volk mehrere cunei stellte, ergibt sich besonders deutlich aus Tac. hist. 4, 20, wo nur von den Batavern die Rede ist: in cuneos congregantur. Vgl. Ammian 16, 12, 20: (Germanos) iam prope densantes in cuneos. Kleinere Völker oder Volks­ 1 So W a it z , Deutsche Verfassungsgeschichte I3 (Kiel 1880) S. 218 ff. 2 Centeni ex singulis pagis sunt, idque ipsum inter suos vocantur, et quod prius nu­ merus fuit, iam nomen et honor est. Ursprünglich, wie Tacitus sagt, 100, müssen es später mit dem Anwachsen der Bevölkerung mehr geworden sein. 3 Vgl. V. S c h w e r i n , Die altgermanische Hundertschaft (1907) S. 85. ^ V. S c h w e r i n in der Zeitschrift der Savignystiftung 37 (1916) 689.

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teile stellten nur je einen cuneus, vgl. Tac. hist. 5,18: Bructerorum cuneus tranatavit. Der cuneus erscheint aber auch als eine Abteilung des rö­ mischen Heeres, als ein besonders aus Germanen bestehender Heerhaufen nationaler Formation von wechselnder Stärke. Er gehörte zu der Gattung der numeri, für die Zahlen von 300, 500, 600, 700, 800, 900 Mann überliefert sind,1 und es liegt nahe, auch die cunei des germanischen Aufgebotes, welche für die des römischen Heeres das Vorbild waren, als Kontingente von verschiedener, der Größe der einzelnen Völkerschaften entsprechender, in den Grenzen von 300 bis 900 Mann sich bewegender Stärke aufzufassen. Waren die Gaubewohner über die Maximalzahl hinausgewachsen, so ward ein neuer Bezirk gebildet, ebenso wie die Sippen, wenn sie zu groß geworden waren, sich teilten. — Hierher gehört auch Dio Cass. 71, 11: (Die Marko­ mannen und andere Völker) οί μεν κατά γένη, οί δε κατά έθνη έπρεσβεύσαντο, wo γένος die Unterabteilung der Völkerschaft (έθνος) bezeichnet1 2 (ebenso wie Zosimus 1,37: ΣκύΟαι έκ παντός έθνους τε καί γένους εις εν συνελθόντες). In demselben Sinne wie γένος steht φυλή,3 zu scheiden von φυλον (Volk). Eunap. fr. 55 von dem Donauübergang der Goten: φυλαί μέν γάρ των πολεμίων τήν αρχήν διεβεβήκεσαν άπειροι . . . . είχε δέ έκάστη φυλή ιερά τε οίκοθεν τά πάτρια συνεφελκομένη καί ιερέα; τούτων καί ίερείας, also Kultverbände. Daß diese Unterabteilungen auf den Geschlechts­ verbänden beruhten, ist in den Worten γένος und φυλή angedeutet, durch Tacitus und Mauricius (s. oben) ausdrücklich bezeugt.4 Aber nicht der ge­ ringste Grund liegt vor, der Annahme zu folgen, daß sie den einzelnen Sip­ pen gleichzusetzen seien. S c h m o l l e r 5 schätzt die Sippe auf 50 bis 500 Personen, D e l b r ü c k 6 auf 400 bis 1000, vielleicht auch manchmal bis zu 2000 Seelen oder auf hundert bis mehrere hundert Krieger oder Familien. Die Ansichten gehen also weit auseinander. Es fallen wohl vielfach Ge­ schlecht und Dorf zusammen; häufig aber setzte sich eine Dorfgemeinde aus mehreren Sippen zusammen.7 Es ist also unmöglich, aus dem Umfange eines D o r f e s einen sicheren Schluß auf die Zahl der Geschlechtsgenossen zu ziehen. Die ingentes vici des Sulpicius Alexander bei Gregor von Tours hist. Franc. II 9, die Delbrück als Beweis für seine Theorie von der Iden­ tität von Gau (Hundertschaft), Geschlecht, Dorf anführt, können solche 1 M o m m s e n im Hermes 19 (1884) S. 228 ff. 2 Vgl. die ausführlichen Nachweise von D o v e , Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens (1916) S. 34. 3 Dove S. 35, 2. 4 Dagegen bedeutet Cäs. b. G. I, 51 (von der Aufstellung der Leute Ariovists) generatim nicht geschlechterweise, wie v. Sy b ei , Entstehung des deutschen Königtums2 (1881) S. 42 u. v. Schwerin a. O. S. 19 wollen, sondern völkerschaftsweise. 6 Grundriß der Volkswirtschaftslehre I 3 (1919) S. 237. 6 Geschichte der Kriegskunst II 3 (1921) S. 4. 7 Vgl. K a u f f m a n n , Deutsche Altertumskunde I (1913) S. 428.

Allgemeine Zustände

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zusammengesetzten Dörfer gewesen sein; man muß aber auch berück­ sichtigen, daß den Römern jedes germanische Dorf bei seiner weitläufigen Anlage im Gegensatz zu den ihrigen als ungeheuer groß erscheinen mußte. Der Umfang des Geschlechtsverbandes hat bestimmte Grenzen, die durch das Bewußtsein der Blutsfreundschaft gezogen sind; dieses aber mußte schon bei einer verhältnismäßig geringen Zahl der Angehörigen erlöschen.1 Aus Paul. Diac. Lang. II 9 ersehen wir, daß die Unterabteilung des langobardischen Staates in Italien, das Herzogtum, das unmittelbar an die alte Gauverfassung anknüpfte, nicht bloß eine sondern mehrere Sippen um­ faßte: Gisulfus non prius se regimen eiusdem civitatis et populi (Friaul) suscepturum edixit, nisi ei quas ipse eligere voluisset Langohardorum faras h. e. generationes vel lineas tribueret. Und da das Territorium eines langobardischen Dukats sich mit dem einer römischen civitas deckte, also verhältnismäßig kleinen Umfanges war, und in diesem Gebiete auch noch zahlreiche Römer wohnten, kann die Einzelsippe nicht sehr groß gewesen sein. Dagegen müssen die erwähnten γένη bei Dio a. O. eine nicht un­ ansehnliche Macht dargestellt haben, da der Kaiser sonst sich schwerlich mit ihnen in Verhandlungen eingelassen haben würde. Und noch deut­ licher ist dies bei den „Phylen“ der Goten, von denen jede ihre eigenen Priester und Heiligtümer hatte. (Wenn Eunap von den „unzähligen“ Phylen der Goten spricht, so ist das eine der bekannten Übertreibungen; Folgerungen irgendwelcher Art sind da raus nicht zu ziehen.) Es handelt sich also um Verbände mehrerer Sippen, die sich aus nachbarlichen oder verwandtschaftlichen Gründen zusammengeschlossen hatten.1 2 Die Ent­ stehung einer einigermaßen festen, zahlenmäßig begrenzten Einteilung von Heer und Volk bei den Germanen,3 insbesondere der Hundertschaft, fällt in eine Epoche, nachdem die Macht der Sippen völlig gebrochen war, in die Wanderzeit. Spuren einer Gruppierung nach dem Dezimalsystem finden wir schon frühzeitig bei der Heeresverfassung der Ostgermanen. Bei den Wandalen wird im Jahre 270, also in einer Zeit, wo von engerer Berührung mit den Römern noch keine Rede war, eine Abteilung von 500 Mann unter einem besonderen Anführer erwähnt ;4 eine gleich große 1 Vgl. F i c k e r , Untersuchungen zur Re "htsgeschichte I (1891) S. 234 ff. „Sobald die Blutsfreundschaft eine gewisse Grenze erreicht, endet die rechtswirksame Sippe.“ Schwe­ rin S. 78, 2. 2 Cäs. b. G. VI 22 sind die gentes cognationesque hominum wohl tautologisch zu verstehen, als Sippen überhaupt. Daß Cäsar zwischen einem größeren Verband (gens) und der Einzelsippe unterschieden habe, ist bei seiner mangelhaften Kenntnis von den germanischen Zuständen höchst zweifelhaft. 3 Das Zusammendrängen der Leute Ariovists in Abteilungen von je etwa 300 Mann (Dio 38, 49) erscheint, wenn überhaupt glaubhaft, als eine Folge der allgemeinen Auf­ lösung des Heeres. 4 L. S c h m i d t , Geschichte der Wandalen (1901) S. 40.

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E i nl e i t un g

Gruppe von Taifalen erscheint im Jahre 332.1 Die wandalische Tausend­ schaft ist ebenfalls hinreichend bezeugt.1 2 Die Westgoten hatten, als sie 376 die Donau überschritten, noch ihre alte Phylenverfassung (s. oben); nach der Niederlassung im römischen Reiche erscheinen sie gegliedert in Abteilungen von 1000, 500, 100, 10 Mann. Ebenso ist bei den Ostgoten der millenarius als oberster Truppenführer bezeugt.3 Für die West- und Nordgermanen in späterer Zeit hat E. Mayer in mehreren Aufsätzen analoge Verhältnisse nachgewiesen. Während aber bei den Ostgermanen jene Gruppen überwiegend sich als persönliche Verbände erhalten haben, sind sie bei den anderen Germanen zu landschaftlicher Bedeutung ge­ langt, teils als Gerichtsbezirke teils als Ansiedelungs- oder Steuerbezirke mit besonderer Hufenzahl.4* Es ist deutlich, daß es sich um eine gemein­ germanische Einrichtung handelt und die Annahme, daß die spätrömische Heeresverfassung als Vorbild gedient habe, abzulehnen ist. Nur bei den Langobarden, bei denen ja die Sippen noch lange von Bedeutung waren, ist weder ein persönlicher Hundertschaftsverband noch ein Hundertschafts­ bezirk nachzuweisen. ,,Das langobardische Herzogtum kennt keinen Untei*gerichtsbezirk ; die civitas ist die einzige Gerichtsstätte für das Terri­ t o r i u m . „ W e n n langobardische centenarii und decani erwähnt wurden, so handelt es sich um die Organisation der auf fiskalischem Boden nach byzantinischem Vorbild angesiedelten Grenztruppen (Arimannen). Der Anführer der einzelnen Gruppe heißt langobardisch Sculdahis; die Römer nannten ihn als Haupt einer größeren Kriegerschar Centenarius, wie den Vorstand der Untergruppe, dessen langobardischen Titel wir nicht kennen, Decanus“ .6 — Die Unterabteilung des Gaues bildete das Dorf (vicus), die Niederlassung eines oder mehrerer Geschlechter.7 Die Einheit der civitas findet ihren vollendetsten Ausdruck in der Landesgemeinde (Landesding, concilium civitatis), der Versammlung aller freien und wehrhaften Angehörigen des Volkes. Sie übt die höchste Ge­ walt im Staate aus. In ihr wurden Wahlen (des Königs, Herzogs, des Landespriesters, der Gaubeamten) vorgenommen, Beschlüsse über Rechts­ 1 Zosimus II 31. 2 Gesch. d. Wandalen S. 41. 3 L. S c h m i d t in Mitteilungen des Österr. Instituts für Geschichtsforschung 41 (1926) S. 321 f. 4 Man darf hier zum Vergleich die ältesten griechischen Zustände heranziehen: in Athen wurden durch Kleisthenes die vier alten gentilizischen Phylen beseitigt und durch zehn neue, rein territoriale Phylen, die nur den Namen „Phylen“ mit den alten gemeinsam hatten, ersetzt (ähnlich in Sparta). Vgl. W i l c k e n , Griechische Geschichte (1924) S. 76, 84. 6 F. S c h n e i d e r , Die Entstehung von Burg und Landgemeinde in Italien (1923) S. 119. 6 Schneider a. O. S. 127. 7 V. Schwerin S. 101. Kauffmann D. A. I 428.

Allgemeine Zustände

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angelegenheiten von politischer Bedeutung sowie über Krieg und Frieden gefaßt; hier fand auch die Wehrhaftmachung der jungen Männer, die Freilassung von Unfreien und ihre Aufnahme in den Verband der Volks­ genossen statt. Die Berufung ging bei monarchisch regierten Völkern vom Könige, in königslosen Staaten von der Gesamtheit der Gaufürsten, dem Fürstenrate, aus. Die feierliche Hegung erfolgte durch den Oberpriester (sacerdos civitatis), dem auch die Bestrafung wegen Verletzung des Ding­ friedens zustand. Den Vorsitz führte der König, in Staaten ohne monar­ chische Spitze wohl der älteste der Gaufürsten.1 An der Spitze eines jeden Gaues stand ein Fürst,1 2 Häuptling (princeps, iudex, regulus), der von der Landesgemeinde, vorzugsweise aus dem Adel gewählt wurde.3 Der Gau­ fürst war Anführer der Gaumannschaft im Kriege, leitete in Verbindung mit den Sippenältesten die agrarischen Angelegenheiten des Bezirks4 und handhabte die Rechtspflege im Gau. Für die letztere Tätigkeit waren ihm nach Tacitus beigegeben centeni ex plebe comites, worunter man nicht, wie früher angenommen, die Heeresverbände, die der princeps der Reihe noch zum Ding auf bot, zu verstehen hat, sondern eine aus der Gaumann­ schaft von der Landesgemeinde gewählte Schar von 100 Mann, die ihn bei der Ausübung seines Amtes zu begleiten und ihm zur Geltendmachung der staatlichen Autorität gegenüber den Sippen beratend und helfend (consilium et auctoritas) zur Seite zu stehen hatten.5 Man darf annehmen, daß das Urteil in dieser Periode, wie später bei den Langobarden, vom Richter allein, nach vorheriger Beratung mit den comites, gefällt worden ist. Die Unterordnung der Sippen unter Beamte, die von der Landesge­ meinde bestellt waren und außerhalb ihrer eigenen Sippen standen, ist die erste Stufe des Vordringens der staatlichen Gewalt gegenüber der ein­ stigen Allmacht der Geschlechtsverbände. Die Gaue genossen eine nicht 1 Der Tac. Germ. 10 erwähnte princeps civitatis ist nicht ein an der Spitze der Republik stehender Fürst; das würde schon der Angabe Cäsars, daß im Frieden kein communis magi­ stratus bestand, widersprechen; sondern ein Fürst des Gaues, in dem die dort geschilderte heilige Handlung stattfand. 2 Vgl. E. S c h r ö d e r , Herzog und Fürst: Zeitschrift d. Savignystift. Germ. Abt. 44 (1924) S. 1 ff. Tacitus gebraucht das W ort in verschiedenem Sinne, teils für die Beamten, insbesondere die Gauvorsteher, teils für die Adligen. Vgl. K e u t g e n , Der Deutsche Staat des Mittelalters (1918) S. 81. 3 Vgl. E r h a r d t , Älteste german. Staatenbildung (1879) S. 50 ff. Dafür das wichtige Zeugnis Eunap. fr. 60 von den Westgoten: των φυλών ήγεμόνες άςιωματι καί γένει προήκοντες. 4 So ist wohl Caes. b. G. VI 22: ,«magistratus ac principes weisen den Sippen Land zu“ zu deuten. Da die magistratus nur die eingesetzten öffentlichen Beamten sein können, muß man unter den principes hier die Sippenältesten verstehen, falls nicht Tautologie anzunehmen ist. Schwerin S. 75 hält die mag. für die Markvorsteher, die princ. für die Gaufürsten. , 6 Vgl. L. S c h m i d t in Vierteljahrsschrift f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 21 (1928) S. 234 ff.

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unerhebliche politische Selbständigkeit, die häufig dahin führte, daß ein­ zelne aus dem Verbände der civitas austraten und sich als selbständige Völkerschaften konstituierten.1 Das Vorhandensein eines besonderen Priesterstandes auch in ältester Zeit darf nicht allgemein in Abrede gestellt werden. Sicher bestand ein solcher mit einem Oberpriester an der Spitze, wenn auch nicht überall, für die den Gesamtstaat angehenden religiösen Angelegenheiten, die Wahrung des Friedens in der Volksversammlung und im versammelten Heere, die daraus sich ergebende Strafgewalt, die Leitung der großen Opfer und die Pflege der Heiligtümer, während kleinere Opferhandlungen vom Haus­ vater für die Familie, vom Ältesten für die Sippe, vom princeps für das Gauvolk vorgenommen wurden. Besondere Priester bezeugt Eunapius sogar für die einzelnen Phylen der Goten (vgl. oben). Vereinzelt waren Königtum und Priestertum miteinander verbunden, so bei den Friesen und Nordgermanen, während sonst bei den deutschen und den burgundischen Königen priesterliche Funktionen nachweisbar fehlen.1 2 Da das Amt des Priesters in das Rechtsleben eingriff und die Frauen von diesem ganz ausgeschlossen waren, so können, wenn bei den antiken Schrift­ stellern auch w e i b l i c h e Priester erwähnt werden, darunter nur sog. weise Frauen verstanden sein, die wegen ihrer prophetischen Gabe beson­ deres Ansehen genossen und so auf die Politik nicht geringen Einfluß aus­ übten, wie die Weleda bei den Brukterern, die Gambara bei den Lango­ barden usw.3 Vorwiegend bei den ostgermanischen (besonders den Goten) und nord­ germanischen Völkern erscheint an der Spitze des Staates über den Gau­ fürsten ein König (rex, got. thindans). Doch hat auch bei den Westger­ manen die Monarchie schon in früher Zeit nicht gefehlt (Friesen, Hermun­ duren) und sich im Laufe der Zeit immer mehr eingebürgert; das König­ tum bei den Brukterern und Cheruskern war dagegen nicht nationalen Ur­ sprungs, sondern von den Römern eingeführt. (Wenn bei den Batavern, wo es niemals Könige gegeben, eine stirps regia erwähnt wird, so ist damit nur das politisch führende Adelsgeschlecht gemeint.)4 Die Entstehung der Monarchie bei den Nord- und Ostgermanen entzieht sich unserer Kenntnis. Eine wesentliche innere Verschiedenheit zwischen dem Prinzipat und dem 1 Anderer Ansicht Schwerin S. 81 ff. Vgl. dagegen R. Schröder, Rechtsgeschichte I * (1919) S. 21. 2 Vgl. bes. Dopsch II 2, 3 0 ff„ S t e i n h a u s e n , German. Kultur in der Urzeit 4 (1927) S. 106 ff. Unrichtig N e c k e l , Altgerman. Kultur (1925) S. 70. 3 Vgl. M o g k , Germanische Religionsgeschichte und Mythologie. 3. Aufl. (1927) S. 123. 4 Erhardt a. O. S. 52 ff. Fr ahm in der Hist. Vierteljahrsschrift 24 (1928) S. 175. Stirps regia heißt auch das führende Geschlecht der Cherusker bei Tacitus in rückwirkender Beziehung auf das Königtum des Italicus.

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Königtum bestand nicht. Aber die Königewahl war an ein bestimmtes Ge­ schlecht der civitas gebunden, so daß ein gewisses Erbrecht bestand, und nur im äußersten Notfälle ging man davon ab. Äußerlich unterschied sich der König, wie dies auch bei einzelnen Stämmen bei den Fürsten der Fall war, von den übrigen Freien durch eine besondere Haartracht. Könige und Fürsten erhalten Ehrengeschenke, die ihnen von Dingleuten freiwillig, aber nach Herkommen dargebracht werden. Der König ist (in der Regel) Heerführer für das ganze Volk, ist Richter in der Landesge­ meinde, der Fürst dasselbe für die Gauleute. Beider Gewalt ist aber durch­ aus von dem Willen der Volksversammlung abhängig, wenn auch der Fürstenrat, der z. T. unter Hinzuziehung der „Ältesten“ , de minoribus rebus selbständig entschied, die wichtigeren Angelegenheiten vorberiet, wie der Adel überhaupt als Machtfaktor im Staatsleben nicht unterschätzt werden darf. Es wird immer wieder betont, daß jene nicht aus eigener Macht sondern nur durch Überredung, Empfehlung, beim Volke zu wirken imstande gewesen seien. Der allgemeine Friede ist nicht Königsfriede, sondern Volksfriede, der gesamte Grund und Boden Volksland, nicht K ö­ nigsland. Mißliebige Herrscher sind nicht selten abgesetzt, vertrieben oder getötet worden. Mehrfach begegnen uns zwei Könige mit gleichen Be­ fugnissen nebeneinander an der Spitze des Volkes. Die militärische Straf­ gewalt, der Einfluß der Persönlichkeit einzelner kraftvoller Herrscher, ferner die Einwirkungen römischer Verhältnisse (namentlich der Eintritt in einen Dienstvertrag mit dem Kaiser) haben nicht selten eine Macht­ steigerung des Königtums herbeigeführt, die besonders in den auf römi­ schem Boden gegründeten Reichen zur Erscheinung gelangte. Aber auch unter einem erstarkten Königtum haben sich Reste der einstigen souve­ ränen Volksgewalt noch lange erhalten. Die Volksversammlung konnte allerdings unter den durch die Völkerwanderung veränderten Verhält­ nissen nicht mehr in der alten Form weiterbestehen, aber sie lebte fort in den Stammes- und Heeresversammlungen, in der fränkischen Gerichts­ verfassung, in der nicht immer bloß formelhaften Mitwirkung der „O p ­ timalen“ bei der königlichen Gesetzgebung u. a. In Staaten mit Prinzipatsverfassung, mitunter aber auch in Monarchien, versah das Amt eines gemeinschaftlichen Anführers der Herzog (dux),1 der aus der Reihe der Fürsten, jedoch nur für den Kriegsfall gewählt wurde und nach Beendigung der Heerfahrt sofort zurückzutreten hatte. Er besaß während seiner Amtsdauer Gewalt über Leben und Tod des*S . 1 Altgermanisch * harjatogan, vgl. M u c h in der Zeitschrift der Savignystiftung 45 (1925) S. 1 ff. — Die Bedenken, die Z e i ß in der Wiener prähist. Zeitschrift 19 (1932) S. 145 ff. gegen die herrschende Anschauung von der germanischen Herzogsgewalt geltend macht, scheinen mir nicht begründet.

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einzelnen; doch war der Vollzug der verhängten Strafen den Priestern Vorbehalten.1 Die Befehls- und Strafgewalt des Herzogs hat bei andauern­ dem Kriegszustand vielfach den Ausgangspunkt zur Entstehung einer starken Monarchie gebildet. Verfassungsrechtlich nicht näher zu charakterisieren ist die führende Stellung, die in königslosen Staaten auch im Frieden einzelne Gaufürsten lediglich durch die Macht ihrer Persönlichkeit im Staate einnahmen, wie Armin bei den Cheruskern, Athanarich bei den Westgoten. „Das Heer- und Kriegswesen bildete den eigentlichen Brennpunkt im öffentlichen Leben der Germanen. Verfassung, Recht und Religion sind in wesentlich kriegerischem Sinne gestaltet.“ 1 2 Wie der antike Staat, so ist auch der altgermanische nicht ein Schutzvertrag aus Selbsterhaltungs­ trieb sondern ein Zusammenschluß zur Unterdrückung anderer; der Krieg ist das Mittel sich auf Kosten Schwächerer zu bereichern.3 Daher heißt es bei Tacitus, Germ. 14: Es dünkt den Germanen als Faulheit mit Schweiß zu erwerben, was eie mit Blut erkaufen können. Das Heer war das Volk in Waffen, jeder Freie zu unentgeltlichem Kriegs­ dienst verpflichtet. Das Aufgebot war nach Gauen und Sippschaften, später, vor allem bei den Ostgermanen, nachTausendschaften, Fünf hundertschaften, Hundertschaften, Zehntschaften gegliedert. Die Gauleute wurden von ihren Fürsten, die Sippschaften von den Sippenältesten befehligt. Eine eigent­ liche militärische Disziplin ging den Germanen ab; dieser Mangel wurde nur notdürftig ersetzt durch den natürlichen Zusammenhang der Mit­ glieder der einzelnen Sippen untereinander und durch die herzogliche Strafgewalt. Disziplinlosigkeit hebt noch der Byzantiner Mauricius als Eigentümlichkeit der „blonden Völker“ , besonders der Franken und Lango­ barden, hervor. Nur bei den Chatten, deren Kriegswesen überhaupt dem römischen ähnelte, stellt Tacitus eine Abweichung von der allgemeinen Regel fest.4 Die Hauptkraft des germanischen Heeres ruhte zunächst im Fußvolk. Doch zeichneten sich einzelne Völker schon frühzeitig auch als Reiter aus. Beritten waren wohl allenthalben die Fürsten und die Gefolgs­ leute ; die sogleich zu erwähnenden „Hundert“ bestanden zur Hälfte aus Reitern. Als vorzügliche Reiter lernen wir die Bataver und Tenkterer aus Tacitus kennen; nach demselben spielte auch im Heere der Chauken die 1 Vgl. Dopsch II 2, 28 ff. Auffallend ist es, daß Cäsar b. G. 4,13 bei den Verhandlungen mit den Usipiern und Tenkterern ein dux nicht erwähnt wird; doch sind die von Frahm a. O. S. 172 daraus gezogenen Schlüsse nicht berechtigt. 2 Brunner, Rechtsgeschichte I *, 180. 3 Vgl. H a s e b r o e k , Staat u. Handel im alten Griechenland (1928) S. 140. 4 Ob die Angabe des Tacitus, daß in der Schlacht zwischen Armin und Marbod die beiden gegnerischen Heere nach römischer Art geordnet gewesen seien und gekämpft hätten, richtig ist, muß in Zweifel gezogen werden.

Allgemeine Zustände

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Kavallerie eine wichtige Rolle. Im Laufe der Völkerwanderung hat die Reiterei immer mehr an Bedeutung gewonnen. Sogleich nach ihrer An­ kunft in den Maingegenden treten die Alamannen als vorzügliche Reiter auf, während im 6. Jahrhundert allerdings ihr Heer wieder vorwiegend aus Fußtruppen bestand. Am Ende des 4. Jahrhunderts wird die Pferde­ zucht der Thüringer und Burgunder gerühmt. Als ausgesprochenes Reiter­ volk haben die Wandalen die ungarische Ebene verlassen. Ebenso haben die Ostgoten in den südrussischen Steppen ihre treffliche Kavallerie aus­ gebildet, die in der Schlacht bei Adrianopel die Entscheidung herbei­ führte und später bei Tadinae die Hauptrolle spielte. Beritten war sodann zum großen Teile das Heer der Westgoten; die Langobarden treten beim Einzug in Italien als Reitervolk auf. Auch die Franken haben nicht nur Reiterei schlechthin, sondern gerade auch eine schwere Reitertruppe be­ sessen, wenn auch das Fußvolk die Hauptmasse des Heeres bildete. Da­ gegen setzten sich nach Prokop (b. G. IV 20) die Truppen der britischen Angeln und der niederrheinischen Warnen ausschließlich aus Fußkämpfern zusammen. Die Reiterei erlangt schließlich, namentlich in den germanisch­ romanischen Staaten, das völlige Übergewicht. Im 8. Jahrhundert be­ steht das fränkische Heer nur noch aus wenigen, mangelhaft bewaffneten Fußkämpfern, dem letzten Rest des alten Aufgebotes der Gemeinfreien, in der Hauptsache aus Berittenen, die von den Großen aus dem Kreise ihrer abhängigen Leute gestellt und mit schweren Waffen ausgerüstet wurden.1 Die Ansicht der Schlachtordnung1 2 wurde von den Germanen selbst mit einem Eberkopf verglichen und so benannt; sie hatte nach Vegetius (Epit. rei mil. I l l 19) und Agathias ( I I 8) die Gestalt eines Δ (ebenso Ammian 17, 3, 9: einer vorn spitz zulaufenden Linie). Aus den lateinischen und grie­ chischen Bezeichnungen cuneus, εμβολον ist ein Schluß auf die Form der Aufstellung nicht zu ziehen, noch weniger aus dem Worte phalanx, das Cäsar b. G. I 52 auf das Heer Ariovists anwendet. Es ist daher die An­ sicht Delbrücks abzulehnen, wonach die Schlachtordnung die Form eines Rechteckes gehakt habe, dessen schmälere Seite die Front bildete. Dies trifft nur für die einzelnen Heereskörper zu. Im Vortreffen einer jeden Gaumannschaft focht eine von der Jugend gestellte Elitetruppe, die sog. „Hundert“ , gebildet aus Reitern und einem jeden derselben beigesellten Fußkämpfer. Anfänglich auf die Hundertzahl beschränkt war ihr nume­ rischer Bestand schon zur Zeit des Tacitus wesentlich geändert, nur der Name geblieben. Sie wird schon 168 v. Chr. bei den Bastarnen, dann wieder 1 Vgl. zuletzt Dopsch II 2, 294 ff. 2 Vgl. L. S c h m i d t iu der Vierteljahrsschrift für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 21 (1928) S. 234.

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bei den Leuten Arioviste erwähnt (die für diese von Plutarch und von Cäsar angegebenen Zahlen 20 000 und 6 000 sind sicher übertrieben). Der Gerichtszenturie entsprechend hatte sie den Zweck, die Macht der Sippe auch auf militärischem Gebiete zu brechen, die staatliche Autorität zur Geltung zu bringen. Von den Chatten berichtet Tacitus, daß bei ihnen eine Klasse von Männern bestand, die sich fortdauernd aus der Jungmann­ schaft ergänzte, sich für das ganze Leben, jeder friedlichen Tätigkeit ent­ sagend, dem Kriege geweiht hatte und in der Schlacht in der vordersten Reihe stand.1 Ob und inwieweit diese Truppe mit der Hundertschaft in Beziehung stand, wird sich schwer entscheiden lassen. Über die Bewaffnung sind wir namentlich durch die Bodenfunde ge­ nauer unterrichtet.1 2 Die Hauptwaffe war die Lanze. Die in der Latènezeit übliche Form mit großer, breitblattiger (Eisen-) Spitze ist im 1. Jahr­ hundert n. Chr. umgewandelt in eine Form mit schmaler, kurzer Spitze, die framea des Tacitus, eine Waffe, die sowohl im Nah- wie im Fernkampf, zum Stoß und W urf gebraucht werden konnte. Sie wird von den Befehls­ habern wie von der Masse der Krieger, von den Reitern wie von den Fuß­ truppen geführt. Daneben erscheinen kleine Wurfspieße mit Widerhaken, die zuerst bei den Burgundern Vorkommen, sich dann aber über ganz Germanien verbreiten. Weniger häufig sind die Streitaxt (zunächst wesent­ lich auf die Westgermanen beschränkt) sowie das Schwert, das in der Form des einschneidigen (ostgermanischen, speziell burgundischen) und zweischneidigen (dem römischen gladius nachgebildeten) Kurz- (Stoß·) Schwertes auftritt, während in der Latènezeit neben dem ostgermanischen Kurzschwert das zweischneidige, keltische Lang- (Hieb-) Schwert üblich war. Das Kurzschwert verschwindet wieder in der späteren Kaiserzeit, um von neuem dem langen Hiebschwert Platz zu machen. Pfeil und Bogen waren nach dem Ende der Bronzezeit nicht mehr in Gebrauch und treten erst zu Beginn des 3. Jahrhundert n. Chr. wieder auf. Die einzige Schutz­ waffe war der Schild, bestehend aus dünnen Brettern mit metallenem Randbeschlag und einem spitzen Buckel versehen, häufig mit Leder über­ zogen, bemalt, in den meisten Fällen von kreisrunder und ovaler, seltener von eckiger Form. Ganz selten waren zunächst Helm und Panzer; in der 1 Vgl. Lily W e i s e r , Altgermanische Jünglingsweihen und Männerbünde (1927). Die An­ nahme der Verf., daß es sich hier und anderwärts (wandalische Harier, langobardische Kynokophalen, nordische Berserker) um einen Männerbund auf religiöser Grundlage han­ delte, der der kriegerischen Ausbildung der Jungmannschaft nach erfolgter Wehrhaftmachung analog den Gefolgschaften diente, bedarf sehr der Einschränkung. Vgl. J a r a u s c h in Mannus 20 (1928) S. 438 ff. 2 Vgl. bes. M. J a h n , Die Bewaffnung der Germanen in der älteren Eisenzeit (Mannusbibl. [16 1916]); K o s s i n n a , Mannus 50, 31 ff.; J a c o b - F r i e s e n , Einführung in Nieder­ sachsens Urgeschichte (1931) S. 135 ff.

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Regel gingen die Kämpfer nackt, nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Die geringe Rolle, die die Schutzwaffen spielten, erklärt sich aus der den Germanen eigentümlichen Kampfesweise. Im Angriff sahen diese die beste Abwehr des Gegners; eine schwere Ausrüstung würde sie beim An­ sturm gegen die feindlichen Linien nur gehindert, ihre Beweglichkeit be­ einträchtigt haben. Waren sie freilich in die Verteidigung gedrängt, so mußte ihnen der Mangel an Schutzwaffen verderblich werden. In der Völkerwanderungszeit treten, der wachsenden Bedeutung der Reiterei entsprechend, die spezifischen Reiterwaffen in den Vordergrund: Stoß­ lanze, Kurzschwert, Schild, Helm, Panzer. Als Infanteriewaffen sind ge­ bräuchlich die Streitaxt (bei den Franken in der Form des Wurfbeiles, francisca), Lanze zu W urf und Stoß (vornehmlich bei den Franken der Ango, eine Wurflanze mit Widerhaken), der Sachs (Messer), Langsachs, Spatha (zweischneidiges Langschwert), seltener Bogen und Pfeile. Die Gepflogenheit der Römer, auf dem Marsche jedesmal ein verschanz­ tes Lager zu beziehen, war den Germanen, wieder mit Ausnahme der Chatten, unbekannt; sie suchten sich durch die zusammengestellten Wagen während des Lagems zu decken. Das Befestigungswesen knüpfte an das der vorgeschichtlichen Zeit an und ist z. T. von der vorgermanischen Bevölkerung (Kelten, Illyriern) übernommen worden. Man hat zu scheiden zwischen Landwehren, Volks­ burgen, Herrenburgen.1 Die Landwehren sind Grenzsperren, bestehend aus fortlaufendem Wall und Graben oder einer zusammenhängenden Kette von Ringwällen. Gegen die Cherusker schlossen sich die Angrivarier durch einen Wall, latus agger, ab.2 Die Westgrenze der Ubier war durch Befesti­ gungen geschützt. Ebenso werden Landwehren bei den Nerviem und Treverern erwähnt. Der Kamm des Taunus war von einer Kette von Ringwällen begleitet, teils um das Vordringen der Römer in das Chattenland zu ver­ hindern, teils um als Stützpunkte für Einfälle in das römische Gebiet zu dienen. Die Volksburgen lagen im Innern des Landes und bestanden aus großen Ringwällen, die zumeist als sog. Fliehburgen, als Zufluchtstätten der umwohnenden Bevölkerung im Falle der Kriegsgefahr dienten, zum Teil aber auch dauernd bewohnt waren. Von solchen sind hervorzuheben die Altenburg bei Niedenstein in Hessen, die Teutoburg im Cheruskerland, das neben dem Königssitz Marbods gelegene ,,castellum“ in Böhmen, Stillfried an der March im Quadenlande. Eine Herrenburg war die Burg, in der Segest von Armin belagert wurde. — Sonst dienten zu Verteidi-* 1 Vgl. S c h u c h h a r d t in Hoops Reallex. IV 434 ff. W i l k e , Archäologische Erläute­ rungen zur Germania des Tacitus (1921) S. 37 ff. S c h u m a c h e r , Siedelungsgesch. I 152 ff. III 141 ff. * Rekonstruktion durch A n d r a e , Prähist. Zeitschr. 17 (1926) S. 130.

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gungszwecken die natürlichen Hindernisse, besonders die großen Urwälder. Immerhin spielte der Festungskrieg nur eine untergeordnete Rolle; im allgemeinen war die Kampfesart mehr auf die offene Feldschlacht gerich­ tet. Namentlich in der Belagerungskunst blieben die Leistungen der Ger­ manen sehr zurück; man mußte sich meist damit begnügen, die festen Plätze einzuschließen und durch Hunger zu bezwingen. Die Kenntnis des römischen Systems blieb nicht ohne Einfluß, änderte jedoch nicht allzu­ viel; nur einzelne Völker, wie die Ostgoten und Langobarden haben größeres Gewicht auf den Festungskrieg gelegt, die Vorgefundenen rö­ mischen Anlagen übernommen und weiter ausgebaut. Daß die Germanen schon in vorgeschichtlicher Zeit mit dem Meere ver­ traut waren, lehren die aus den Funden zu erschließenden Seewege, auf denen Handel und Völkerzüge sich bewegten, die zahlreichen auf die See bezüglichen urgermanischen Worte und die mindestens der Bronzezeit angehörenden nordischen Felsenzeichnungen mit Schiffsdarstellungen (Hällristningar). An erster Stelle standen zunächst die skandinavischen Germanen. Zu den seefahrenden Völkern gehörten ferner die Anwohner der Nordsee, die Chauken, die schon im Jahre 47 Galliens Küsten heim­ suchten, die Bataver und Kanninefaten, deren Flotten unter Julius Civilis eine Rolle spielten, die Friesen, Angeln, Warnen, Euten, Sachsen, salischen Franken. Unter den Völkern, die um die Mitte des 3. Jahrhunderts am Schwarzen Meer sich niederließen, taten sich besonders die aus Skandi­ navien stammenden Heruler durch ihre weitausgedehnten Seeräuber­ fahrten hervor. Im 5. Jahrhundert beherrschten die Kriegsschiffe der Wan­ dalen das ganze Mittelmeer. Die von Eurich gegründete westgotische Flotte ist zu keiner besonderen Bedeutung gelangt ; der von dem Ostgoten­ könig Theoderich angeordnete Bau von 1000 Kriegsschiffen geriet nach seinem Tode ins Stocken. Was die Konstruktion der Schiffe anbelangt, so waren die der Chauken nach Plinius (hist. nat. 16, 17) ausgehöhlte Baum­ stämme, die 30— 40 Mann aufnehmen konnten. Aus solchen Einbäumen bestand auch, außer den weggenommenen römischen Fahrzeugen, die Flotte der Bataver. Doch waren den Germanen schon frühzeitig vorge­ schrittenere, aus Planken und Inhölzern kunstvoll zusammengesetzte Schiffe bekannt. Dies lehren die schon erwähnten Felsenzeichnungen und der Fund von Hj ortspring auf Alsen: eines etwa 14 m langen, 2 m breiten Bootes aus Planken von Ahorn, die an den Rändern mit dünnen Stricken aneinander „genäht“ sind, keine Spur einer Befestigung durch Metall­ stifte aufweisen. Von den Schiffen der Suionen, der Bewohner Schwedens, berichtet Tacitus Germ. 44, daß dieselben vorn und hinten gleich gebaut, zum sofortigen Vorwärts- und Rückwärtsfahren ohne Umwenden einge­ richtet, mit losen Ruderbänken versehen waren. Diesen Angaben ent-

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spricht das noch gut erhaltene, jetzt im Kieler Museum aufbewahrte Boot von Ny dam aus dem 3. oder 4. Jahrhundert, ein aus eichenen Rippen und Planken unter Verwendung von Eisennicten kunstvoll zusammen­ gesetzter Bau, vorn und hinten spitz mit beweglichen Ruderbänken, ohne Verdeck; bei einer Länge von 24 und einer größten Breite von 3,41 m hatte es 28 Ruder, von denen jedes wahrscheinlich von zwei Mann geführt wurde, während das Steuerruder (ein breites schaufelartiges Ruder, dessen Schaft durch eine Schlinge an der Reling befestigt war) ebenfalls von mindestens zwei Personen zu bedienen war; außerdem faßte es wohl gut 100 Personen, wenigstens bei kürzeren Seefahrten, so daß im ganzen etwa 160 Mann darin Platz hatten. Die Anwendung größerer Planken­ schiffe darf man auch bei den großen Piratenfahrten der Nordseegermanen nach Britannien und weiter voraussetzen. Ein solches aus dem 6/7. Jahr­ hundert (?) ist 1899 in Brügge ausgegraben worden. Es hat 14,5m Länge, 3,5 m Breite, ist aus Eiche klinkergebaut, besitzt gekrümmte, ziemlich ausfallende Steven, jedoch keinen Kiel, sondern einen vollständig flachen Boden, an dem die Seitenwände in stumpfem Winkel ansetzen. Dies ist die typische Form für Fahrzeuge der Wattenmeere . . .“ Darauf scheint auch Sid. Apoll, ep. V III 6, 13 zu deuten: contra Saxonum pandos myo­ parones, quorum quot remiges videris, totidem te cernere putes archipi­ ratas. Wenn derselbe carm. V II 369 ff. sagt, daß die Sachsen sich sog. Coracles, winziger, ovaler, häuteüberzogener Schiffe aus Flechtwerk be­ dient hätten, so kann es sich nur um eine aus nächster Nähe unternommene Expedition mit requirierten Fahrzeugen keltischer Herkunft handeln.1 Zum S eg eln waren weder die Hällristningar-Schiffe noch das Nydamer Boot eingerichtet; ebenso bemerkt Tacitus von den Suionen, daß sie ihre Schiffe nur durch Ruder fortbewegten. Von den britischen Angeln sagt Prokop b. G. IV 20, daß ihnen das Segel unbekannt war. Der Gebrauch des Segels (nach römischem Vorbild) erscheint zuerst bei den Batavern unter Civilis, die dazu ihre bunten Kriegsmäntel benutzten. Segelschiffe waren ferner die erwähnten Coracles; ebenso waren die größeren Fahr­ zeuge der Sachsen (Sid. ep. V III 6, 15: in patriam vela laxantes) (außer mit Rudern) - mit Segeln versehen. Von dem 1928 in Galtabäck (Halland, Südschweden) ausgegrabenen, angeblich dem 1. Jahrhundert n. Chr. angehörigen Segelboot berichtet Kossinna, Manusbibl. 50, 69 f. Von den seit dem 8. Jahrhundert im Norden gebräuchlichen Segelschiffen, die aber auch weiterhin gerudert werden konnten, gibt ein treffliches Bild das 1880 zu Gokstad in Norwegen ausgegrabene Wikingerschiff. 1 Die Stelle Claudian. laud. Stil. II 254: „A uch bei ungünstigem Winde ist der nahende Sachse zu fürchten“ , beweist nur, daß die sächsischen Schiffe mit Rudern ausgestattet waren; Kenntnis des Lavierens ist daraus nicht zu folgern. S c h m i d t , Ostgermanen 5

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Dieses zeigt in seiner Bauart große Ähnlichkeit mit dem Nydamer Boot, ist vorn und hinten spitz zulaufend, ohne Verdeck, ungefähr von derselben Länge, aber von größerer Breite (5 m), hat 16 Ruderbänke, also Platz für 32 Ruderer, einen Mast und ein Raasegel. Die Schiffe der Wandalen in Afrika waren kleine, leichtgebaute, schnellsegelnde Kreuzer (also keine Dromonen, die Ruderkriegsschiffe der Zeit), die etwa 40 Personen faßten. Die Germanen, die sich im 3. Jahrhundert am Schwarzen Meere nieder­ ließen, bedienten sich hauptsächlich der Schiffe der dortigen Bewohner. Die Heruler hatten auf ihrer Expedition im Jahre 267 größere Segelschiffe, auf denen sie sogar über das Ägäische Meer fuhren ; nachdem diese wegge­ nommen worden waren, verfügten sie auf dem zweiten Zuge unter Claudius nur über leichte, wahrscheinlich selbstgebaute Fahrzeuge.1 Es war Brauch, daß der junge Mann nach erfolgter Wehrhaftmachung durch die Landesgemeinde sich an einen älteren erprobten Krieger an­ schloß, um durch diesen in das Waffenhandwerk eingeführt zu werden, bis er durch eine hervorragende Tat seine Tüchtigkeit erwiesen hatte. Soweit aus den vorliegenden Zeugnissen erkennbar, handelte es sich dabei nur um Einzelverhältnisse, nicht um Veranstaltungen des Stammes oder eines Bundes, dem die Aufgabe der Jünglingsweihe obgelegen hätte.1 2 Den Zwecken einer höheren militärischen Ausbildung, zugleich auch einer intensiveren kriegerischen Betätigung, als sie der Dienst im Volksheere zu gewähren vermochte, diente der Eintritt in eine G e f o l g s c h a f t . Das Gefolgswesen war eine den Germanen (und Kelten) eigentümliche Einrichtung, die nachmals in veränderter Form auch bei den Römern Eingang gefunden hat.3 Meist junge und adelige Männer, aber auch ältere erprobte Krieger der Gemeinfreien schlossen sich an einzelne durch Ab­ stammung oder Besitz ausgezeichnete Persönlichkeiten, besonders Könige und Fürsten an, zu denen sie in einem wechselseitigen Schutz- und Treu­ verhältnisse standen. Im Kriege bildeten sie seine Leibwache und waren verpflichtet ihm bis in den Tod zu folgen; im Frieden wurden sie zu häus­ lichen, ihrer Standesehre entsprechenden Diensten verwendet. Dagegen hatte der Herr ihnen Schutz, Ausrüstung und Unterhalt zu gewähren. Sie waren durchweg beritten und bildeten neben dem auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Aufgebot einen wichtigen Bestandteil des Heeres. 1 Vgl. bes. M o n t e l i u s , Kulturgeschichte Schwedens (1906) S. 194 ff.. W . V o g e l , Geschichte der deutschen Seeschiffahrt I (1915) und in Hoops Reallex. IV (1918/19) S. 94 ff. 156 ff. 167 ff. K o s s i n n a , Altgerman. Kulturhöhe (1927) S. 36 ff. S t r a s s e r , Sachsen und Angelsachsen (1931). W a h l e , Deutsche Vorzeit (1932) S. 142. 2 Vgl. Ammian 31, 9, 5 von den Taifalen. Prokop b. Pers. II 25 von den Herulern. Was Tacitus von der Kriegerkaste der Chatten erzählt, läßt einen solchen Schluß nicht zu. 3 Vgl. Brunner, Rechtsgesch. I 2 60. Dopsch, Grundlagen I I 2 303. M u c h in Volk und Rasse III (1928) S. 195 f.

A l l g e me i n e Zustände

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Ein größeres Gefolge zu unterhalten war nur im Kriege möglich, weshalb die Gefolgsherren die meisten ihrer Leute bei länger andauerndem Friedens­ zustande beurlaubten, um ihnen Gelegenheit zu geben, bei auswärtigen kriegführenden Völkern Dienst zu nehmen. Die Zahl der Gefolgsleute kann, solange diese im Hause des Herrn lebten, der großen Kosten wegen, die ihr Unterhalt verursachte, keine sehr große gewesen sein und wird 200 in der Regel nicht überschritten haben. Die ältere Auffassung, die die ger­ manischen Wanderungen vielfach auf Beutezüge von Gefolgschaften zurückführen wollte, ist daher irrig. Doch steht fest, daß das altgermanische Gefolgswesen, indem es die Grundlage der späteren Vasallenschaft und des Hausbeamtentums bildete, für die deutsche Verfassungsentwickelung von der größten Bedeutung gewesen ist.1 Von den auswärtigen Unternehmungen der Gefolgschaften sind zu scheiden die Heerfahrten einzelner Fürsten, die in der Volksversammlung als Führer auftraten und die kriegslustige Mannschaft aufforderten, sich anzuschließen.2 Es handelte sich hierbei nicht um private Fehdezüge, sondern um Angelegenheiten von öffentlich-rechtlicher Bedeutung. Denn ihre Ankündigung und die Erklärung zur Teilnahme erfolgte in der Landes­ gemeinde, die ihre Zustimmung zu den gefaßten Entschlüssen erteilte; wer dem gegebenen Wort zuwider sich von der Fahrt ausschloß, verfiel wie bei Volkskriegen der Ächtung. Diese Unternehmungen waren ein weiteres Mittel zu dem Zweck, die Jungmannschaft für den Krieg zu er­ ziehen, ihren Tatendrang und ihre Beutelust zu befriedigen. Die freiwillige Unterordnung der Teilnehmer unter den Führer war mit dem Ende der Unternehmung gelöst. Diese Fahrten haben nicht selten dauernde Reichs­ gründungen im Auslande zur Folge gehabt: so die Wikingerzüge der nor­ dischen Seekönige, die Raubfahrten der Sachsen nach Nordfrankreich, der Zug Chlodowechs gegen das römische Gallien, auch die Unternehmung des Ostgotenkönigs Theoderich gegen Italien. Die Germanen kannten drei Stände : Freie, Halbfreie und Knechte. Die Gemeinfreien (liberi, ingenui, auch nobiles; Frilinge, Karle) bildeten die Hauptmasse des Volkes; sie füllten das Heer, auf ihnen ruhte in erster Linie Recht und Gesetz, indem sich aus ihnen die die höchste Regierungs­ gewalt ausübende Landesgemeinde zusammensetzte. Auch noch in der Karolingerzeit stellten sie wohl den Kern und die Mehrzahl der Bevölkerung trotz dem Vordringen der Grundherrschaft dar.3 Aber indem die Volks­ versammlung ihre Bedeutung verlor, büßten auch sie ihre Stellung im öffentlichen Leben ein, die teils auf den König, teils auf den Adel überging.* 1 Vgl. Brunner, Rechtsgesch. I 2 185 ff. Dopsch I I 2 43 ff. Neckel, Altgerman. Kultur S. 61. 2 Caesar bell. Gall. V I 23. * Vgl. zusammenfassend K u l i s c h e r , Allgemeine Wirtschaftsgeschichte I (1928) S. 49ff. 5

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Aus den Freien hob sich als eine höhere Klasse ein Adel (proceres, opti­ mates, priores, nobiles, principes u. a.; Edelinge, Jarle, Eorle) heraus: Geschlechter, die sich durch größeren, seit der Landnahme erworbenen, abgesonderten Besitz,1 vor allem aber durch eine kriegerische und poli­ tische Vergangenheit auszeichneten, deren Stammbaum unmittelbar an die Götter angeknüpft wurde; sie waren es, aus deren Kreise die Könige und Fürsten, wohl auch die Priester genommen zu werden pflegten. In monarchischen Staaten galt als das höchste Adelsgeschlecht das königliche (stirps regia); aber auch in Staaten mit Vielherrschaft pflegte man das angesehenste Geschlecht als das königliche zu bezeichnen. Im Gegensatz zu den selbst wirtschaftenden, in der Hauptsache in dörflicher Gemein­ schaft lebenden Gemeinfreien waren sie Grundherren (wenn auch nicht im späteren Sinne), die ihre Güter durch Hörige und Sklaven bearbeiten ließen.1 2 Zu einem bevorrechteten, von den übrigen Freien streng abge­ sonderten Stand ist der Adel erst im Laufe der Völkerwanderung geworden, am markantesten bei den Sachsen.3 In den monarchischen Staaten trat neben den Geburtsadel ein Dienstadel, in dem der erstere zum größten Teile aufging. Eine weitere Differenzierung der Freien nach unten hin begegnet uns in der Zeit nach der Völkerwanderung. Es erscheint eine Schicht, die als minores u. ä. bezeichnet wird und über einen geringeren Grundbesitz verfügt. Ob diese Verhältnisse ihre Wurzeln in der Urzeit haben, kann zweifelhaft sein. Tacitus sagt, daß die Verteilung des Acker­ landes secundum dignationem erfolgt sei. Dignatio bedeutet in seinem Sprachgebrauch „persönliches Ansehen“ , bezieht sich nicht auf Sachen, also auch nicht auf die Qualität des Bodens.4 An die Zuweisung größerer Ackerlose an die adligen Geschlechter kann hier nicht gedacht werden; es ist von der Verteilung des Landes durch die Sippen unter ihre Ange­ hörigen die Rede. Von den gewöhnlichen Freien erhielt jeder ein annähernd gleich großes Stück, da er mit seinen Kräften nicht mehr als der andere bebauen konnte. Die Stelle kann also wohl nur so verstanden werden, daß einzelne, durch Kriegsruhm u. a. ausgezeichnete Familienhäupter mit besser gelegenen, ertragsfähigeren Stücken bedacht wurden. 1 K ö t z s c h k e , AUg. Wirtschaftsgeschichte (1924) S. 75. 2 Die Ansicht, daß die Gemeinfreien Grundherren gewesen seien, darf jetzt als über· wunden betrachtet werden. Vgl. Kulischer S. 16 ff. 3 Die Ansicht Ph. H e c k s (in zahlreichen Schriften, zuletzt in dem Buche: Die Standes­ gliederung der Sachsen 1927), daß die nobiles der Sachsen nicht als Adel zu fassen, sondern darunter die Gemeinfreien zu verstehen seien, ist fast allgemein abgelehnt worden; vgl. zuletzt H a r s i n in der Revue Belge de phil. et d’hist. V I (1927) S. 147 ff.; K. B e y e r l e in der Zeitschrift der Savignystiftung 48 (1925) S. 491 ff. Mit Heck stimmt zum Teil überein G. N e c k e l i n den Beiträgen z. Geschichte d. deutschen Sprache 41 (1916) S .385ff. Vgl. denselben, Altgerman. Kultur S. 50. 4 So Dopsch I 2 73, der aber Privateigentum allgemein schon in der Urzeit annimmt.

Allgemeine Zustände

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Die Entstehung der Knechtschaft ist in der Hauptsache auf Kriegs­ gefangenschaft zurückzuführen. Der Knecht (servus, puer, Schalk) galt nicht als Person, sondern als Sache; der Herr konnte nach Belieben über ihn verfügen, ihn strafen, ja töten. Eine größere Zahl von unfreien Arbeits­ kräften besaßen nur die Adligen, die ihre Güter nicht seihst bewirtschaf­ teten. Jene waren hier nach Art der römischen Kolonen gegen Zins und Dienst angesiedelt, während sie sonst über die Erträgnisse ihrer Arbeit frei verfügen konnten; oder sie waren im Hause des Herrn in verschiedenen Funktionen beschäftigt. Im Gegensatz zu den römischen Sklaven erfreuten sie sich im allgemeinen einer guten Behandlung. Durch Beschluß der Landesgemeinde konnte der Unfreie in den Verband der Volksgenossen aufgenommen werden ; doch wurde diese Maßregel nur in Zeiten äußerster Not, bei Mangel an Kriegern angewendet: so haben die Langobarden auf ihrer Wanderung nach Süden das Heer durch Aufnahme von Sklaven verstärkt. Die private Freilassung erhob dagegen noch nicht in den Stand der Vollfreien; der Freigelassene blieb in Ahhängigkeit von seinem Herrn. Die Bildung des Standes der Halbfreien oder Hörigen (Liten, Aldien) geht teils auf freiwilligen Übertritt von Freien, teils auf private Freilassung von Knechten, teils auf kriegerische Unterwerfung zurück. Ein besiegtes Volk wurde in verschiedener Weise behandelt: es wurde vernichtet oder in Knechtschaft versetzt, zur Zahlung eines Tributs, zur Leistung von Kriegshilfe verpflichtet oder in Hörigkeit herabgedrückt. Der Grund und Boden ging im letzteren Falle ganz in den Besitz des siegreichen Staates über; die unterworfene Bevölkerung war an die Scholle gebunden, von Heer und Volksversammlung ausgeschlossen und hatte bestimmte Dienste und Abgaben zu leisten. Tacitus kennt den Stand nicht. Wenn er auch sicher in die Urzeit zurückreicht, so ist er doch wohl erst später durch die Völkerwanderung zu größerer Bedeutung gelangt. Dagegen fehlt er (abgesehen von den Langobarden) ganz bei den Ostgermanen, was wahr­ scheinlich mit der verschiedenen Gestaltung der wirtschaftlichen Ver­ hältnisse (siehe darüber weiter unten) in Zusammenhang zu bringen ist. Die Frau genoß keine rechtliche Selbständigkeit, sondern stand unter der Herrschaft des Vaters oder, wenn sie sich verheiratete, unter der des Ehegatten, der das Recht hatte, sie zu züchtigen, ja, wenigstens in der Theorie, zu töten. Harte Arbeit in der Hauswirtschaft und auf dem Felde war ihr Los. Dennoch haben die Germanen den Frauen hohe Achtung gezollt und ihnen einen weitgehenden Einfluß eingeräumt; insbesondere gilt dies von den sog. weisen Frauen, deren schon gedacht wurde. Der Glaube, daß ihnen, wie Tacitus sagt, etwas Heiliges und Prophetisches innewohne, wird aber mit Unrecht als Überrest einer vorgeschichtlichen mutterrechtlichen Kulturstufe angesehen.

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Die Beschränkung der Germanen auf bestimmte waldarme Kultur­ flächen nötigt zu der Annahme, daß schon frühzeitig in nicht unerheb­ lichem Maße Ackerbau getrieben worden ist. Bereits die Kimbern ver­ langten von den Römern Land zur Ansiedlung und Getreide zur Aussaat : Cimbrorum legatos pacem volentes et agros petentes frumentumque quod sererent, sagt Granius Licinianus p. 16 Bonn. Die ersten genaueren Nach­ richten über das germanische Agrarwesen bringt Cäsar b. G. IV 1 (speziell von den Sueben) und VI 22 (von den Germanen im allgemeinen). Es darf nicht behauptet werden, daß die zweite Stelle im wesentlichen nur eine Wiederholung der ersten sei, da Cäsar doch auch andere Germanen als die Sweben kennen gelernt hat, z. B. die Tenkterer und Usipier, die Sugambrer, außerdem noch Söldner aus verschiedenen Stämmen. Wir erfahren hieraus, daß Ackerbau getrieben wurde, wenn auch nur in untergeordnetem Maße (so sind die Worte agriculturae non student zu verstehen), daß Vieh­ zucht und Jagd die wichtigsten Ernährungsquellen bildeten. Der Grund und Boden war nicht in privatem Besitz, sondern Volksland; die Behörden und Vorstände (magistratus ac principes; siehe oben) wiesen alljährlich den Sippen so viel Ackerland zu, als ihnen gut dünkte, und zwangen sie, ein Jahr später anderswohin überzusiedeln (also auch die Wohnhäuser an anderer Stelle aufzubauen). Die Gründe dieses Verfahrens hat Cäsar an­ geblich von den Germanen selbst erfahren: der entscheidende sei die Erhaltung der Kriegslust und Kriegsbereitschaft; daher solle der einzelne nicht fest am Boden haften, sich nicht behaglich einrichten und keine Reichtümer sammeln. Gegen diese Angaben lassen sich aber gewichtige Bedenken geltend machen. Ein alljährlicher Wechsel der Wohnungen läßt sich mit der archäologisch nachweisbaren Kontinuität der Siedelungen von der Steinzeit bis in die historische Zeit, der andauernden Belegung der Friedhöfe usw. schwer in Einklang bringen. Die Begründung dürfte auf Cäsar selbst, nicht auf einheimische Quellen zurückgehen; denn es ist wenig wahrscheinlich, daß ein Naturvolk sich in dieser Weise das Wesen seiner Einrichtungen klarmacht.1 Man hat die Schwierigkeiten durch die Annahme zu lösen versucht, daß Cäsar nicht normale Zustände, sondern einen durch die damaligen Völkerbewegungen gegen den Rhein bedingten kriegerischen Ausnahmezustand schildere. Aber auch die Sweben, die er besonders im Auge hat, hatten bereits seit geraumer Zeit feste Sitze am Main und trieben geregelten Ackerbau. Und selbst bei Kriegszustand würden die Germanen bei ihrer bekannten Disziplinlosigkeit und ihrem schrankenlosen Freiheitsdrang solche mit großen Unbequemlichkeiten ver­ 1 K ü h n e , Die Streitfragen über den Agrarkommunismus der germanischen Urzeit (Schriften d. hist. Gesellschaft zu Berlin, H. 3 (1928) S. 20. Die Begründung: ne qua oriatur pecuniae cupiditas ist zu vergleichen mit Strabo: διά τό μή . . . θησαυρίζειν.

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bundene Zwangsmaßregeln kaum geduldet haben. Eine Parallelisierung mit den Griechen und Römern (Hoops, Reallex. I 44) ist ganz unange­ bracht. Allerdings ist Cäsar nicht frei von dem Einfluß des hergebrachten ethnographischen Schemas der Naturvölker, wie es uns noch bei Strabo V II 1, 3 in vollem Umfange entgegentritt (Nomadenleben, kein Ackerbau, nur Viehzucht, Pelzkleidung, Wohnen in leichtgebauten Hütten); aber seine Mitteilungen zeigen doch in den meisten Punkten ein abweichendes Bild, was auf eigene Informationen hinweist.1 Zu diesen gehören: geregel­ ter Ackerbau, bestätigt auch durch bell. Gall. IV 1, 2 von Tenkterern und Usipiern: agriculturae prohibebantur, IV 19, 1: frumentis succisis der Sugambrer; Eigentum des Staates bzw. des Gaues am Grund und Boden, Verteilung des Ackerlandes an die Geschlechtsverbände zur Nutzung, jährliche Inangriffnahme neuer Ackerfluren. Die Angabe von der jährlichen Änderung der W o h n u n g e n beruht wohl auf einem durch den jährlichen Wechsel der Saatfelder hervorgerufenen Mißverständnis, wobei auch die Nomadentheorie noch mit hineinspielen mag. Wir dürfen nicht daran zweifeln, daß es damals, von einigen Ausnahmen abgesehen, noch kein Privateigentum am Grund und Boden gab. Es fällt doch sehr ins Gewicht, daß wir analoge Verhältnisse nicht bloß bei anderen primitiven außer­ europäischen Völkern, sondern auch noch viel später bei den Ostgermanen antreffen. Prokop, bell. Vand. I 22 erzählt, ein Teil der Wandalen sei zu Anfang des 5. Jahrhunderts wegen Landmangels ausgewandert; ein an­ derer Teil blieb zurück, dem nun der Boden reichlich Nahrung zu bieten vermochte; doch behielten die ausziehenden Wandalen sich das Eigentums­ recht an den bisher von ihnen bewirtschafteten Ländereien vor und weigerten sich auch nach der Niederlassung in Afrika in einer von Geiserich berufenen Volksversammlung, ihre Besitzrechte aufzugeben. Wenn die V o l k s v e r s a m m l u n g sich mit der Angelegenheit befaßte, so kann es sich m. E. nicht um Entscheidung privatrechtlicher Verhältnisse han­ deln.1 2 Wir dürfen annehmen, daß es schon zu Cäsars Zeit bleibende Dörfer gegeben hat, die sich mit den Siedelungen der Sippen deckten und in deren Umkreis die Ackerstücke in wilder Feldgraswirtschaft von den einzelnen Sippenangehörigen gemeinschaftlich bestellt und abgeerntet wurden. Doch waren die Dorfmarken noch nicht fest abgegrenzt; um Kollisionen mit dcu Nachbargemeinden zu vermeiden, bestimmten die Fürsten in Gemein­ schaft mit den Sippenältesten, welche neuen Landstücke jährlich in Anbau zu nehmen waren. In Privateigentum standen Vieh und Fahrnis, wozu 1 Vgl. E . M a y e r in der Zeitschr. f. deutsches Altertum 62 (1925) S. 226 ff. Ganz verfehlt, wenn auch sehr bequem ist es, wenn Köhne den ganzen Bericht Cäsars für wertlos erklärt. 2 Die Erzählung als sagenhaft beiseite zu schieben ist ganz unstatthaft. Die Einwen­ dungen von Dopsch II 2 75 kann ich nicht als stichhaltig anerkennen.

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auch das Wohnhaus nebst dem Grund und Boden, auf dem es stand, gehörte. Daß zur Zeit des Tacitus, namentlich infolge der Festlegung der römi­ schen Grenze bei den Westgermanen, Änderungen in der bisherigen Agrar­ verfassung eingetreten waren, ist schon an sich sehr wahrscheinlich. Man wird also den vielumstrittenen Satz Germania c. 26 von diesem Gesichts­ punkte aus zu betrachten haben. Agri pro numero cultorum ab universis in vices occupantur, quos mox inter se secundum dignationem partiuntur; facilitatem partiendi camporum spatia praebent : arva per annos mutant, et superest ager. Die Annahme Rachfahls,1 daß Tacitus seine Angaben lediglich aus Cäsar zusammengestoppelt habe, ist abzulehnen; dasselbe gilt von der Behauptung Frahms,1 2 daß beide Autoren ihre Mitteilungen über die germanische Verfassung aus einer gemeinsamen Quelle (also einer vorcäsarischen Schrift; welche sollte diese aber sein?) geschöpft habe.3 Unzweifelhaft ist hier nicht von der ereten Landnahme auf fremdem Grund und Boden die Rede ; denn damals waren die Germanen in der Hauptsache schon längst in den Besitz fest umgrenzter Gebiete gelangt, kamen Ver­ legungen von Sitzen kaum noch vor. Die agri, d. h. das anbaufähige Land, wurden nicht von den einzelnen cultores für sich, sondern von der Gesamt­ heit derselben, der Markgenossenschaft, aus der Dorfmark ausgeschieden und zum Anbau bestimmt. Die occupatio geschah in vices. Dieser Ausdruck, dessen gute Überlieferung wohl gesichert ist, kann bedeuten „abwech­ selnd“ , „im Turnue“ , oder „wechselseitig“ , „gegenseitig“ , „füreinander“ . Der occupatio folgte die Verteilung unter die einzelnen secundum di­ gnationem, was eine V e r l o s u n g der Anteile ausschließt. Die arva (Saat­ felder) wurden jährlich gewechselt. Nach Hoops u. a. handelt es sich um einen Wechsel der Saatfelder innerhalb der Ackeranteile der einzelnen Bebauer, während die Ackerfluren selbst in längeren Zwischenräumen (in vices) gewechselt wurden. Es fragt sich aber, ob man dies aus Tacitus herauslesen darf, ob man berechtigt ist, dessen vielleicht absichtlich dunkel gehaltene Worte so auf die Goldwaage zu legen. Der Sinn der Stelle scheint mir der zu sein, daß, wie noch zu Cäsars Zeit, eine wilde Feldgraswirtschaft betrieben, daß mit den Saatfeldern auch das ganze in vices, zu gegen­ seitigem Nutzen, okkupierte Land jährlich gewechselt und neu verteilt wurde. Um dieses den Römern verwunderliche System zu erklären, fügt Tacitus die Bemerkung hinzu: et superest ager, es sei trotz einem solchen extensiven Verfahren noch genug anbaufähiges Land in der Dorfmark 1 Jahrbücher für Nationalökonomie N. F. 19 (1900) S. 185 ff. 2 Hist. Vierteljahrsschrift 24 (1928) S. 145 ff. 3 Daß Tacitus sich von dem Einflüsse des ethnographischen Schemas völlig freigemacht, betont E. Mayer a. 0 . mit Recht.

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vorhanden. Der Hinweis auf das Unwirtschaftliche eines solchen Ver­ fahrens geht von modernen Anschauungen aus und kann kaum ins Gewicht fallen. Der Fortschritt gegenüber der älteren Periode besteht darin, daß der Grund und Boden nicht mehr im Eigentum des Staates, sondern der einzelnen Sippen stand, daß die Dorfmarken fest gegeneinander abgegrenzt waren, daß das Ackerland nicht mehr von den Sippenangehörigen gemein­ sam bewirtschaftet, sondern von den einzelnen Familien besonders genutzt wurde. Die gemeinsame Nutzung war auf Wald und Weide beschränkt. Wahrscheinlich geht die später genauer erkennhare Einteilung in Gewanne mit Gemengelage der Ackeranteile der einzelnen wenigstens in den An­ fängen auf jene Zeit zurück. Die Zustände, wie sie uns hier entgegentreten, bezeichnen offenbar einen Schritt auf dem Wege zur Individualwirtschaft.1 Angebaut wurden Weizen, verschiedene Spelzarten, Gerste (besonders zur Bierbereitung), Hirse, Hafer und Roggen, von Gemüsen, hauptsächlich feldmäßig, Erbsen, Bohnen, Lauch, Möhren, Rüben, Kürbisse, Mohn, und von Pflanzen der Technik Flachs, Hanf und Waid. Der feinere Gartenbau mit seinen heute gebräuchlichen Zierpflanzen und vielen Küchengewächsen war den Germanen ursprünglich unbekannt; ebenso ist, vom Apfel- und Birnbaum abgesehen, die Obst- und Weinkultur ihnen erst durch die Römer übermittelt worden.1 2 Zu der pflanzlichen Nahrung lieferten wilde Baumfrüchte und Beeren einen wichtigen Beitrag. Die Bestellung des Bodens erfolgte schon frühzeitig durch den mit Zugtieren (zunächst Ochsen) bespannten schweren Räderpflug, dessen breite eiserne zwei­ schneidige Schar den Acker nicht nur furcht, sondern die Scholle zugleich umwendet. Der Räderpflug ist wahrscheinlich eine den Germanen und Kelten gemeinsame Erfindung aus der Latènezeit.3 Zu den Ackergeräten 1 Aus der neueren Literatur seien hervorgehoben: H o o p s , Waldbäume und Kultur­ pflanzen (1905) S. 483 ff. und in dessenReallex. I (1911/13) S. 41 ff. ; R. S c h r ö d e r , Rechte­ geschichte I® (1919) S. 57ff.; K ö t z s c h k e , Wirtschaftsgeschichte (1924) S. 73 ff.; S c h u ­ m a c h e r , Siedelungs· und Kulturgeschichte II (1923) S. 119 ff.; D o p s c h , Grundlagen 2 I. II (1923/24) passim; L. S c h m i d t , Philol. Wochenschrift 1927 S. 62 f.; S t e i n h a u s e n , German. Kultur der Urzeit 4 (1927) S. 61 ff.; A m m o n , Die Germania des Tacitus2 (1927) S. 149 ff.; S t e i n b a c h in Hist. Aufsätze, A. Schulte zum 70. Geburtstage dargebr. (1927) S. 47 ff .; Ph. H a m m e r in Elsaß-lothr. Jahrbuch VI (1927) S. 47 ff.; K ö h n e , Streitfragen (1928); K u l i s c h e r , Wirtschaftsgesch. I (1928) S. 8 ff.; S t a c h in Staat und Persönlichkeit, E. Brandenburg z. 60. Geburtstage (1928) S. 1 ff. Auf die Phantasien H e l b o k s in Vierteljahrsschrift f. Sozial· u. Wirtschaftsgesch. 22 (1930) S. 257 ff. einzu­ gehen, kann man sich wohl ersparen. — Gegen die Anschauung von ursprünglichem Privateigentum am Ackerlande wendet sich mit Recht A p e l d o o r n in De vrije Fries 27 (1924) unter Hinweis auf die in späteren Verhältnissen noch erkennbaren Spuren. Vgl. E. Mayer a. O. S. 230; H a f f in Zeitschr. d. Savignystift. 49 (1929) S. 433 ff., 478 ff.; K a l i n k a in Bursians Jahresber. Suppl. 224, 201 ff. 2 Vgl. N e t o l i t z k y im 20. Bericht der röm.-germ. Kommission (1931) S. 14ff. 3 Vgl. L e s e r , Entstehung und Verbreitung des Pflugs (1931) S. 234 ff., 529 f., 566 f. Zuletzt H. G r o s s e r , Die Herkunft der französischen Gewannfluren, Berliner Diss. 1932 S. 24 ff.

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gehörte ferner die Egge. Das Getreide wurde mit Sicheln geschnitten,· mit Dreschflegeln oder Knütteln auf der Tenne ausgedroschen. „D ie germa­ nische Landwirtschaft stammt, was diese Geräte angeht, nicht aus Rom, sondern ist Rom gegenüber selbständig; sie stand in bezug auf die Boden­ bearbeitung vor Eindringen des römischen Einflusses auf mindestens der gleichen Höhe wie die römische.“ — Die Hauptnahrungsquelle aber bildete noch zu Tacitus’ Zeit die Viehzucht: Rind, Schwein, Schaf, Ziege, Gans, Huhn. Das Pferd wurde gezüchtet zunächst in der Hauptsache für die Zwecke des Krieges, später auch um als Zugtier in der Landwirtschaft verwendet zu werden, nicht um als Nahrung zu dienen. Dazu kamen die Erträgnisse der Jagd und des Fischfangs. Wie bei allen Naturvölkern war die Beschaffung der animalischen Nahrung Aufgabe der Männer, während die Besorgung des Feldbaues und der häuslichen Geschäfte den Frauen und schwächeren Familienangehörigen ohlag. Sklavenarbeit spielte in der Wirtschaft des Gemeinfreien keine oder eine nur ganz untergeordnete Rolle ; bloß die Adligen haben sich, wie schon bemerkt, in größerem Maße unfreier Arbeitskräfte bedient, und auf jene ist die auf Tacitus Germ. 15 sich stützende Anschauung zu beschränken, daß die Germanen überhaupt von ihren Renten lebende Landjunker gewesen seien.1 Die Verhältnisse änderten sich bei den Westgermanen, als die römische Grenzsperre zur vollen Auswirkung kam, die sich in dem Übergang zu intensiverer Boden­ nutzung und in der allmählichen Ausbildung des allgemeinen Privateigen­ tums auch am Ackerlande äußerte. Die damit verbundene vermehrte Arbeitslast haben die Germanen zunächst zum großen Teile nicht selbst getragen, sondern Unfreien aufzubürden versucht. Jetzt werden auch die Gemeinfreien in den Besitz einer größeren Zahl von abhängigen Leuten gelangt sein. Unter Mark Aurel hatten die Markomannen und Quaden Tausende von Menschen aus dem Reichsgebiete geraubt, um sie als Arbeits­ kräfte zu verwenden, und entschlossen sich nur schwer, sie wieder heraus­ zugeben. Die Kriege, die die Germanen in der Folgezeit unter sich und mit anderen Nationen führten, haben nicht zum geringsten Teile den Zweck gehabt, Sklaven oder Hörige zu agrarischer Verwendung zu ge­ winnen. Menschenraub spielte auch später bei den Einfällen der Ala­ mannen eine wichtige Rolle, und so konnte Kaiser Probus diesen erheb­ liche Abgaben an Getreide und Vieh auferlegen, was unter den früheren wirtschaftlichen Verhältnissen nicht möglich gewesen wäre. Bei den Ostgermanen, die ein weniger beengtes Gebiet zur Verfügung hatten, herrschten dagegen noch dieselben agrarischen Zustände, wie sie Cäsar schildert. Und als schließlich auch hier Landmangel eintrat, haben 1 Vgl. Brunner, Rechtsgeschichte I 2 135; Kulischer I 16 ff. ; Schumacher, Siedelungs­ geschichte I 148 ff., II 119 ff.

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sich diese Völker der Notwendigkeit des Überganges zu einer höheren Wirtschaftsstufe durch Abschieben einzelner Gaue in andere Gegenden entzogen; sie sind daher die Träger der großen, .jahrhundertelang andau­ ernden Bewegung gewesen, deren Wirkungen die Römer zunächst im Markomannenkriege zu spüren hatten. Die Siedelungen zerfielen in Dörfer und Einzelhöfe. Die für die Ger­ manen charakteristische Form der Dorfanlage ist das Haufendorf. „Die Gehöfte stehen ohne bestimmten Plan, oft in größter Unregelmäßigkeit beieinander, doch so, daß sie immer durch Gärten oder unbebaute Flächen etwas voneinander getrennt sind und die Gebäude sich nicht etwa wie in Städten berühren. Die Wege laufen willkürlich nach verschiedenen Rich­ tungen und das Ganze bildet ein Netz von krummen und winkligen Gassen und Zugängen.“ Der zum Haufendorf gehörige Grundbesitz ist in eine Anzahl von Abschnitten (Gewanne) zerlegt, innerhalb deren jedem Hofe ein Stück oder Streifen zugeteilt ist. Durch die daraus entstehende Gemenglage ist Flurzwang bedingt. Die Gewanndörfer gehen nicht auf römische Anlagen zurück, sind eine allgemein germanische Einrichtung und stellen eine sehr alte Form der germanischen Flur Verfassung dar.1 — Die Einzelhofsiedelung ist wesentlich durch die Bodenverhältnisse bedingt; die Annahme, daß sie keltischen Ursprungs sei, kann wohl als abgetan angesehen werden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, „daß das zu den ein­ zelnen, verstreut liegenden Höfen gehörige Land in mehr oder weniger geschlossenen Blöcken (Kämpen) um den H of gelagert ist“ .1 2 Das Wohnen in Städten haben die Germanen anfänglich verabscheut. Es hat also in jener Zeit in Deutschland Städte im eigentlichen Sinne nicht gegeben. Ansätze hierzu aber waren schon vorhanden in den Vororten der Gau­ gemeinden, Kultmittelpunkten usw., wo auch schon ständig Händler, Handwerker usw. in größerer Zahl sich aufhielten. Die vielbesprochenen „Städte“ (πόλεις) auf der Ptolemäischen Karte bezeichnen nur ansehn­ lichere Siedelungen in wichtiger Verkehrslage, an Flußübergängen, Straßen­ kreuzungen u. a. Wo das Einzelhofsystem herrschte, mußte notwendig schon frühzeitig Sondereigentum nicht bloß an Haus und Hof, sondern auch am Acker­ lande sich ausbilden. Dasselbe gilt von den im Besitze der Adligen befind­ lichen Gütern, die von jeher aus dem Gemeineigentum ausgeschieden 1 Th. Mayer, Wirtschaftsgeschichte S. 27 ff. 2 Sehr zu Unrecht sagt B e h n , Das Haus in vorrömischer Zeit (Kulturgeschichtl. W eg­ weiser durch das röm.-germ. Zentralmuseum Nr. 2 [1928] S. 33 f.), daß die Einzelhof­ siedelung vorherrschte und nur ausnahmsweise mehrere Höfe zu einem Haufendorf zusam­ mengeschlossen waren. Dagegen sprechen schon die zahlreichen Friedhöfe. Vgl. auch Dopsch I 250, 289 ff. Tac. Germ. 16 werden die Einzelhofsiedelungen (colunt discreti ac diversi) den Dorfsiedelungen (vicos locant usw.) gegenübergestellt.

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waren. A uf diese ist die Stelle Tac. Germ. c. 25 zu beziehen: „D ie übrigen Sklaven verwenden sie nicht wie wir in bestimmter Verteilung der Aufgaben unter das gesamte Gesinde; jeder ist selbständig auf seinem Hof, in seinem Hause. Nur ein bestimmtes Maß Getreide oder Vieh oder Zeug macht ihm der Herr zur Auflage, wie wir einem Pächter, und nur soweit ist der Sklave dienstbar.“ Man darf in diesen Verhältnissen die Anfänge der Grund­ herrschaft erblicken. Das Haus war noch, wie in vorgeschichtlicher Zeit, einräumig, Wohnung und Stall unter einem Dache enthaltend, zuweilen mit einer Vorhalle versehen, in der Regel viereckig, aus Balken, deren Zwischenräume mit Lehm ausgefüllt wurden, erbaut, mit einem hohen Sparrendache ohne Decke versehen, vielfach bemalt und mit Schnitzwerk verziert. Minder solide Bauten waren die aus Flechtwerk hergestellten Rundhütten, wie sie aus der Rheingegend (Ladenburg: Suebi Nicretes), aus älteren Perioden durch Hausurnen auch für Mittel- und Norddeutschland sowie für Skan­ dinavien bezeugt sind (solche scheinen auch die Sweben Cäsars gehabt zu haben, wie aus dessen Äußerung: ne accuratius ad frigora atque aestus vitandos aedificent; die καλύβια der Sweben Strabos beruhen auf der Nomadentheorie). Die wandernden Völker schlugen auf der Rast Zelte auf oder suchten auf ihren Wagen Unterschlupf. Gruben, die durch auf­ geworfenen Dung vor Frost geschützt waren, dienten als Vorratskeller und im Winter als warmer Aufenthaltsort, auch als Weberaum für die Frauen. Bei den Vornehmeren gab es neben dem großen Hallenhaus noch mehrere Nebenhäuser, als Wohnräume für das Gesinde und als Vorrats­ häuser. Der Hausrat war sehr einfach: Bänke, Schemel (Stühle wohl nur für bevorzugte Persönlichkeiten) und Tische, Teller, Löffel, Messer, ver­ schiedene Gefäße aus Holz und Ton, Trinkhömer, seltener Schüsseln und Schalen aus Metall; als Arbeitsgeräte Spindel und Webstuhl, Nadel und Schere, Hammer, Amboß usw. Zur Beleuchtung dienten der Kienspan und irdene Näpfe mit Fett und Docht. Die Erzeugnisse des Handwerks wurden zum Teil im Haushalt, zum Teil gewerbsmäßig hergestellt. Der Hausbau ist noch lange Zeit Aufgabe des Hausvaters, der sich dabei der Hilfe der Nachbarn bedient. Neben dem Zimmermann haben sich der Holzschnitzer, Böttcher und Wagenbauer schon frühzeitig zu gewerbsmäßigen Hand­ werkern herangebildet. Das höchste Ansehen genoß der Schmied, dessen Arbeit ja auch eine besondere Kunstfertigkeit voraussetzt. Er lieferte neben den gewöhnlichen Werkzeugen für den Hausgebrauch (Beilen, Äxten, Hämmern, Meißeln, Messern, Scheren und dgl.) die Waffen, Schmuck- und Toilettengegenstände. Unter den letzteren ragen die Fibeln hervor, die sich durch verschiedenartige kunstvolle Formen auszeichnen. Der Waffenschmiedekunst, in der eich besonders die Ostgermanen, nament-

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lieh aber die Burgunder auszeichneten, wurde schon gedacht. Als ver­ arbeitetes Metall steht das Eisen im Vordergrund; doch wurden auch Gold- und Silberarbeiten geliefert. Hat sich auch römischer Einfluß geltend gemacht, so knüpfen die Formen doch in der Hauptsache, vor allem im Norden an die durch kunstvolle Technik ausgezeichnete vorhergehende Epoche, die Bronzezeit, an. Das gleiche gilt von den Erzeugnissen des Töpferhandwerks. Die Keramik gelangt zu einer vielfach noch nicht erreichten Höhe. Das äußert sich sowohl in der technischen Behandlung von Material und Oberfläche, als auch in der Formengebung und nament­ lich in der Ornamentik. Die Tongefäße gehören zu dem Schönsten, was die Prähistorie aufzuweisen hat. Ob man dagegen bei der Holzarchitektur von einer Betätigung in künstlerischem Sinne sprechen darf, ist sehr fraglich. Die Weberei war hauptsächlich Hausarbeit der Frauen; zahlreich sind die Funde von Spinn wirtein in den Gräbern. Das gewerbsmäßige Handwerk wurde besonders von Unfreien ausgeübt; doch galt die Schmiede­ kunst auch des freien Germanen für würdig. Eine Umwälzung in der ger­ manischen Kunstübung trat ein im Zusammenhang mit der Niederlassung der Goten am Schwarzen Meere. Von diesen nahm ein neuer Stil seinen Ausgang, gekennzeichnet durch die „Zellenverglasung“ und eine Ornamen­ tik, deren Hauptmotive Band- und Flechtwerk, sowie Darstellungen von Pflanzen und Tieren sind. Die Grundlage bilden anerkanntermaßen helle­ nistische, skythische und orientalische Elemente; ob aber die Flecht- und Tieromamente als germanische Schöpfung, hervorgegangen aus an den Gebäuden angebrachten Holzschnitzereien, angesehen werden dürfen, wird nicht ohne Grund bestritten. Ebenso wird angezweifelt, ob die späteren Steinbauten der germanischen Reiche in Südeuropa sich in ihrer Formen­ bildung an die heimischen Traditionen des Holzbaues anschließen.1 Das Eisen wurde in Deutschland selbst gewonnen, hauptsächlich als Rasenerz. Einen Teil dieses Metalls lieferten auch abhängige keltische Stämme, wie die den Quaden tributpflichtigen Kotiner in den Karpathen, wo man bergmäßigen Abbau anzunehmen hat. Silber und Gold stammten aus dem Auslande, wenn auch einiges von letzterem Metall aus den gold­ führenden Flüssen gewonnen wurde. Der Silberbergbau im Mattiakerlande wurde von den Römern eingerichtet. Um den Besitz der Salzquellen wurden häufig erbitterte Kämpfe zwischen den einzelnen Völkern ausgefochten. Obwohl die einzelnen Völkerschaften in strenger Absonderung von­ einander lebten und sich durch Ödlandstrecken und Befestigungsanlagen gegen die Nachbarn abschlossen, muß doch das Vorhandensein eines Netzes von durchlaufenden Straßen in Deutschland angenommen werden. Denn 1 Vgl. Steinhausen S. 121.

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wenn auch ein großer Teil der ein- und ausgeführten Waren durch den Handel von Volk zu Volk in den Verkehr gebracht worden ist, so besteht doch kein Zweifel, daß auch fremde Kaufleute das Land nach verschiedenen Richtungen hin durchzogen haben. Aus Plinius erfahren wir von der Reise eines römischen Kaufmanns von Carnuntum nach der Ostsee (um 60 n. Chr.). Die Mitteilungen des Tacitus über den deutschen Osten und Skandinavien sind nach E. Norden auf die Berichte reisender Händler zurückzuführen und solche liegen ohne Zweifel, wenn auch stark ver­ schüttet, der ptolemäischen Darstellung von Germanien zugrunde. Dazu kommen die archäologischen Funde, insbesondere die sog. Depotfunde, die wenigstens zum großen Teile als Niederlagen wandernder Kaufleute anzusehen sind. Von besonderer Wichtigkeit ist die allerdings nicht immer einwandfrei zu ermittelnde Richtung der Wanderungen einzelner germani­ scher Völker und der römischen Heerzüge, die durch die Nachrichten über die fränkischen Heerfahrten gegen die Sachsen und Slawen, die Reisen des Bonifatius u. a. ergänzt und erläutert werden.1 Die Flüsse und ihre Täler kommen als Verkehrswege nur in untergeordnetem Maße in Betracht; die Binnenschiffahrt hatte nur lokale Bedeutung und die Täler wurden bis in die neuere Zeit hinein wegen der Überschwemmungsgefahr und der Versumpfung gemieden. Wohl aber hatten die Wasserläufe insofern Be­ deutung, als sie dem Verkehr die allgemeine Richtung wiesen. Uralt war die Straße, auf der der Bernstein von der jütischen Halbinsel nach Italien und umgekehrt Metalle von den südlichen Ländern nach dem Norden gebracht wurden: es war derselbe Weg, den die Kimbern und Teutonen einschlugen und der durch Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen über den Kulmer Paß nach Böhmen, auf dem Linzer Steig zur Donau, sodann weiter über die Alpen (den Brenner?) führte. Der Handel mit dem Nordsee­ bernstein ging allerdings zur Zeit der kimbrischen Wanderung schon einen anderen W eg: auf der See ( ?) zur Rheinmündung und von da durch Gallien nach der Rhone. Die Entdeckung des ostpreußischen Bernsteins erfolgte nach Montelius schon um 500 v. Chr., wurde aber zunächst geheimgehalten und erst in der Kaiserzeit unter Nero durch die erwähnte Reise jenes römischen Kaufmanns nach der Ostsee bekannt. Dieser neue Bernsteinweg lief von der Weichselmündung über Kalisch, wo eine Straße von der pommerschen Küste her einmündete,1 2 nach Oberschlesien, durch die Mährische Pforte das Marchtal ahwärts nach Carnuntum an der Donau und weiter zur Adria.3 Mittelpunkt des Bernsteinhandels war die jüngst 1 Vgl. S c h u m a c h e r , 5. Katalog des röm.-germ. Centralmuseums (1913) S. 187 ff. und Siedelungs- und Kulturgeschichte der Rheinlande I (1921) 175 ff., II (1923) S. 227 ff., III (1925) S. 117 ff.; B o l i n , 19. Bericht d. röm.-germ. Kommission (1929) S. 140 ff. 2 J u n g k l a u s , Römische Funde in Pommern (1924) S. 107 f. * Vgl. Norden, Urgesch. S. 445; R. Hennig, Von rätselhaften Ländern S. 82 ff.; d e r -

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ausgegrabene Faktorei Truso am Drausensee auf dem Boden des heutigen Dorfes Meislatein.1 Von hier aus bestand auch ein lebhafter Verkehr mit Skandinavien, teils in gerader Linie über das Meer teils auf dem Wege über Litauen und die Insel Gotland. Alte Handelsstraßen verbanden ferner die Weichselmündung und andere Punkte der Ostseeküste mit den griechi­ schen Kolonien an den Mündungen des Dnjestr, Bug, Dnjepr, Don (Tyras, Olbia, Tanais);*1 2 auf diesen sind die Bastarnen, Goten, Heruler nach dem Süden vorgedrungen. Von Carnuntum (ursprünglich keltische Ortschaft, römisches Legionslager seit 73 n. Chr.) lief ein von Tiberius im Jahre 6 n. Chr. benutzter Weg nach der Hauptstadt des Markomannenreiches (wahrscheinlich im nordöstlichen Böhmen), der sich wohl weiter nach Glatz oder über Zittau nach Görlitz usw. fortsetzte.3 Die meisten Angriffe der Römer erfolgten auf den Deutschland von West nach Ost durch­ querenden Straßenzügen. Ein wichtiger Verkehrsmittelpunkt war die Porta Westfalica (Minden). Hier liefen ein die Straßen von der Ems (Rheine) über Lübbecke und von der Lippe und Ruhr über Bielefeld— Her­ ford teils nach Verden— Bremen teils über Hildesheim— Braunschweig nach der Elbe bei Magdeburg.4 Die Lippestraße setzte sich fort über Paderborn— Höxter teils über Goslar nach der Gegend von Magdeburg teils südlich vom Harz nach Thüringen. Eine alte Völkerstraße war die Lahntalstraße von Ehrenbreitstein über Gießen, Hersfeld nach Thüringen ; auf ihr sind die Sweben um 100 v. Chr. nach dem Rheine zu vorgestoßen. Vom unteren Maintal gingen aus die sog. Weinstraße den Taunus entlang über Friedberg nach Butzbach und von da teils über Grüningen, Stein­ bach, Rüddingshausen, Mardorf, teils über Gießen, Lollar nach Amöne­ burg, Fritzlar; die Kinzigstraße Hanau— Gelnhausen— Fulda— Hersfeld nach dem nördlichen Thüringen; die Nidderstraße von Mainz nach Fulda und dem südlichen Thüringen; die Hohestraße von Höchst nach Fulda— Vacha und der Leipziger Gegend.5 Das obere Lippetal war mit dem oberen Lahntal durch eine Straße über Bredelar, Marburg, Gießen verbunden. Vom Mittelrhein führten Wege an den oberen Main, wo die von Leipzig s e l b e , Klio 25 (1932) S. 15 ff. Nach J a h n , Prähist. Zeitschrift 13/14 (1921/22) S. 144 ging dieser Weg nicht durch die erst später begangene Mährische Pforte, sondern durch Böhmen und das Glatzer Becken. Aber der dafür angegebene Grund, daß Oberschlesien anfänglich völlige Wildnis gewesen sei, ist hinfällig. Vgl. v. R i c h t h o f e n in Altschlesien I (1926) S. 186 ff. 1 M. E b e r t , Truso (Schriften der Königsberger gelehrten Gesellschaft; Geisteswiss. Kl. 3. Jahrg. [1926/27] 1927). 2 Vgl. E b e r t , Südrußland im Altertum (1921) S. 188; R o s t o v z e f f , Iranians and Greeks in South Russia (1922) S. 212 ff. ; Hennig, Klio 25, 19 ff. 3 Vgl. R. M ü l l e r im Neuen Lausitzer Magazin 103 (1927) S. 39 f. 4 Vgl. S c h u c h h a r d t , Prähist. Zeitschrift 17 (1926) S. 124 f. 5 Vgl. K. Th. Ch. M ü l le r in Germania 11 (1927) S. 9 .ff.

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über den Frankenwald laufende Straße einmündete, die schon von den Semnonen und Burgundern benutzt worden ist. Mehrere alte Völkerwege und Salzstraßen verbanden obere Donau mit Mittel- und Oberrhein: auf einer solchen sind bereits die Kimbern und Teutonen nach Gallien gezogen. Von den rechts und links des Rheins den Strom entlang laufenden vor­ römischen Straßen war die wichtigste diejenige, die ihre Fortsetzung durch die burgundische Pforte nach dem Rhonetale fand.1 Der Handel war teils Binnenhandel teils Handel mit dem Auslande. Stapelplätze in wichtiger Verkehrslage sowie die Kultstätten, Königshöfe, Versammlungsorte usw. bildeten die Mittelpunkte des Verkehrs, an denen regelmäßige Märkte abgehalten wurden und die Händler zusammen­ strömten. Unter den ausländischen Beziehungen spielte naturgemäß die größte Rolle der Handel mit den Römern. Die Unternehmer waren zunächst die Römer selbst; doch scheinen diese vorerst nicht weit ins Innere vor­ gedrungen zu sein. Das änderte sich erst, nachdem der Bernsteinweg von der Donau nach der Ostsee erschlossen worden war; aber noch Tacitus fand es ungehörig, daß römische Kaufleute sich bis zu dem Hofe des Markomannenkönigs Marbod vorgewagt hatten (Tac. ann. II 62).1 2 Wohl mehr noch als gewöhnlich angenommen, waren auch Germanen als Kauf­ leute tätig: z. B. die Friesen, besonders die Hermunduren, die in lebhaftem Verkehr mit den Provinzialen Rätiens standen und die Waren dann weiter bei den anderen Germanen absetzten. Die wichtigsten Ausgangspunkte waren Carnuntum an der Donau, Mainz, der Hafen Fectio (Vechten) am Niederrhein für den Nordseeverkehr. Im wesentlichen war der Handel Tauschhandel. Ausgeführt wurden Sklaven, Salz, Felle, Fleisch, Gänse­ federn, Bernstein, Laugenseife zum Färben der Haare u. a., eingeführt Edelmetalle, Wein, Erzeugnisse der römischen Industrie wie Metall- und Tongefäße, Schmucksachen, Fibeln, Waffen u. dgl. Nur die Grenzvölker bedienten sich gern des römischen Geldes, das sie auch in eigenen bar­ barischen Prägungen nachahmten, oder sie setzten die alte keltische Münzprägung fort. Über den Handel der Germanen unter sich und mit anderen barbarischen Völkern wissen wir so gut wie nichts.3 4. GERMANISCHE STAMMESBILDUNGEN Wir werden nach den Ergebnissen der archäologischen Forschung nicht daran zweifeln, daß die Germanen aus den Trägem der nordischen Kultur 1 Vgl. die Übersicht in Hoops Reallex. IV 390 ff. Dazu S p r o c k h o f f , Zur Handels­ geschichte der germ. Bronzezeit mit Karten (1930). 2 Sonst wird die Anwesenheit von mercatores erwähnt bei den Sweben, Ubiern (Cäsar), Batavern (Tacitus) Vgl. V e r g e s , Der deutsche Handel S. 28. 3 Vgl. im allgemeinen bes. W . S t e i n in Hoops Reallex. II, 373 ff.

Germanische S t ammesbildungen

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hervorgegangen, daß Südskandinavien, Dänemark, Schleswig-Holstein, Norddeutschland zwischen unterer Weser ( ?) und Oder die Gebiete gewesen sind, in denen sich zur ältesten Bronzezeit die Bildung einer gesonderten germanischen Nation vollzog.1 Mit der weiteren Ausbreitung über diese Grenzen hinaus seit der mittleren Bronzezeit darf man die Anfänge einer Stammesgliederung in Zusammenhang bringen. Tacitus Germ. c. 2 er­ wähnt eine alte Sage von einer erdgeborenen Gottheit Tuisto, deren Sohn Mannus (d. i. Mensch) und dessen drei Söhnen, nach denen die drei Haupt­ stämme der Ingävonen (Ingväonen), Istävonen (Istväonen) und (H e r m i­ nonen benannt seien. Der poetische Ursprung dieser Überlieferung ist aus dem alliterierenden Anlaut der drei Völkernamen ersichtlich; sie fällt in die Zeit nach dem Eintritt der ersten Lautverschiebung, „weil erst nach derselben die germanische Akzentregelung, welche Vorbedingung der Alli­ teration ist, eintrat“ . Die Götternamen * Ingvaz, * Istvaz, * Erminaz,2 die hier vorausgesetzt werden, sind offenbar Abstraktionen aus den Volks­ namen, wie der Vergleich mit anderen Ethnogonien beweist: so haben die Dänen ihren Namen auf einen Stammesgott Dan, die Angeln auf einen Angul, die Goten auf einen Gaut, die Hellenen auf einen Hellen, die Aioler auf einen Aiolos zurückgeführt. Die Sage umfaßte anscheinend a ll e Ger­ manen, Nord- und Südgermanen, weist also auf eine sehr alte Zeit, als die Abspaltung der Ost- und Nordgermanen noch nicht eingetreten war, während die Überlieferung bei Plinius (hist. nat. IV 99), die neben den Ingväonen, Istväonen und Herminonen noch die Bastarnen, Wandilier und Hillevionen (Nordgermanen) als Hauptgruppen aufführt, jüngeren Ursprungs ist. Das gleiche gilt von der ebenfalls von Tacitus angeführten Version, wonach die Germanen in mehr als drei Urstämme zerfielen und diesen auch die Marser, Gambrivier, Sweben und Wandilier zuzuzählen seien. Die Ingväonen sind die in der Urheimat zurückgebliebenen Volks­ teile, während die Istväonen und Erminonen neue Bildungen darstellen, die der Ausbreitung der Germanen auf Neuland im Westen und Süden ihre Entstehung verdanken.3 Auch Plinius lokalisiert an anderer Stelle (IV 96) die Ingväonen in Jütland und Skandinavien und bezeichnet sie als „das erste Volk in Germanien“ (gens Ingvaeonum, quae est prima in Germania). Dazu stimmt, daß im Norden der Gott Freyr den Beinamen Ingvi führte, daß die Dänen in der poetischen Sprache auch Ingwine, die Schweden Ynglinger hießen. Die nächsten größeren Sonderbildungen fanden statt zu Beginn der Eisenzeit, indem die Ostgermanen sich ab­ 1 Vgl. u. a. N e r m a n , Die Herkunft und die frühesten Auswanderungen der Germanen (Stockholm 1924). Jacob-Friesen a. O. S. 194 ff. 'Wahle, Deutsche Vorzeit S. 119 ff. a Vgl. H e l m , Altgermanische Religionsgeschichte I (1913) S. 333. , 8 So auch Kauffmann D. A. I 250 f. S c h m i d t , Ostgermanen

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trennten, während gleichzeitig die nordischen Germanen zu einer selb­ ständigen Gruppe erwuchsen. Die Entstehung der Ostgermanen wurde eingeleitet durch das schon in der jüngsten Bronzezeit begonnene Vorrücken der Altgermanen über ihre ursprüngliche Ostgrenze, die Oder. Es bildete sich unter diesen, zunächst vor allem in Pommerellen, eine eigenartige Kultur heraus, deren besondere Merkmale sind: Beisetzung der verbrannten Leichenreste in Urnen, die die Darstellung menschlicher Gesichter (Gesichtsurnen)1 und vereinzelt viereckiger Pfahlhäuser (Hausurnen) zeigen und in Steinkisten gestellt sind, auch in sog. Glockengräbern, nebst spärlichen Metallbeigaben; als Hauptgefäßtypen bauchige, weitmündige Urnen, Henkelnäpfe, Kannen und Kännchen. Die Gesichtsurnenkultur hat sich allmählich hesonders nach Süden und Südosten ausgebreitet; die östliche Hälfte Hinterpom­ merns, Westpreußen, das westliche Ostpreußen von Neidenburg bis zur Pregelmündung,1 2 das ehemals preußische Polen, Mittelschlesien gehörten zu ihrem Bereich. Sie erlischt im Norden um 500 v. Chr., im Süden um 300 v. Chr. ; an ihre Stelle treten Urnengräber mit typischen Eisenbeigaben : Waffen, Fibeln und anderem Gerät. Dieser Kulturwechsel wird wohl mit Recht mit einem Bevölkerungswechsel in Verbindung gebracht.3 A uf die Gesichtsurnenleute gehen wohl in der Hauptsache die der Zeit vor der ersten germanischen Lautverschiebung angehörenden altgermanischen Lehnworte im Slawischen und Baltischen zurück.4 Zu Beginn der Eisenzeit erfolgte die erste Übersiedelung skandinavischer Germanen nach dem Festlande. Ist diese auf eine damals im Norden ein­ getretene Klimaverschlechterung zurückzuführen,5 so sind die späteren Abwanderungen aus jenen Gegenden wohl aus denselben Motiven zu er­ klären wie die historischen Wikingerzüge: sie sind zunächst Handels- und Plünderungsfahrten zugleich, die schließlich zu festen Ansiedelungen führten. Daher war auch das erste Ziel die als Handelsplatz so wichtige 1 Es ist bemerkenswert, daß Gesichtsurnen in Skandinavien nicht Vorkommen. Vgl. Nerman S. 26. 2 Das Auftreten der Gesichtsurnen in Ostpreußen ist zu erklären aus Kulturübertra­ gung auf die dort schon seit der Bronzezeit ansässigen Ästen (Preußen). 3 Vgl. u. a. J a h n in Mannusbibl. Nr. 22 (1922) S. 78 ff. und in Schlesiens Vorzeit NF. VIII (1924) S. 29 ff. T a c k e n b e r g , . Die Wandalen in Niederschlesien (Vorgeschichtl. Forschungen I 2 [1925]) S. 124. Tackenberg in Altschlesien I (1926) S. 121 ff. Se ge r in Vergangenheit und Gegenwart. Zeitschr. f. d. Geschichtsunterricht. 6. Erg.-Bd. (1927) S. 13 ff. und in Eberts Reallexikon der Vorgeschichte IV 295 ff. (Vgl. ebenda I X 280.) P e t e r s e n in Volk u. Rasse IV (1929) S. 34 ff. und in Vorgeschichtl. Forschungen II 2 (1929) . J a h n in Mannus Erg.-Bd. V I (1928) S. 271 ff. v. R i c h t h o f e n in Altschlesien III (1930) S. 27 ff. D e r s e l b e in Archaeol. Ertesitö 44 (1930) S. 232 ff. T a c k e n b e r g in Mannus 22 (1930) S. 269 ff. 4 Vgl. Vasmer bei Volz, Volksboden S. 121 ff. 5 Vgl. Nerman a. O. S. 18 ff.

G e r m a n i s c h e St amm es b il dun g en

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Weichselmündung. Die zuerst eingewanderten Skandinavier waren die Wandalen,1 älter Wandilen, deren Name auf Herkunft aus Vendil im schwedischen Uppland hinweist.1 2 Im 2. Jahrhundert v. Chr. setzten sich neue Schwärme nordischer Germanen auf ostdeutschem Boden fest: die Rugier aus Norwegen und (Ost-) Warnen ebendaher ( ?), die Burgunder aus Bornholm, um 100 v. Chr. ( ?) die Silingen aus Seeland ( ?), um die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. ( ?) die Goten3 aus Götaland, end­ lich im 3. Jahrhundert n a c h Chr. die Heruler aus Südschweden. Durch die nordischen Zuwanderer der älteren Zeit wurden die Altgermanen teils verdrängt teils unterworfen, wie diese wiederum die vor ihnen in Ost­ deutschland herrschende illyrische Grundbevölkerung und die vorüber­ gehend in Schlesien eingedrungenen Kelten vertrieben oder in sich aufge­ nommen hatten. Namentlich in dem von den Burgundern besetzten Gebiete scheinen ansehnliche Teile altgermanischer Bevölkerung sich erhalten zu haben.4 Der überwiegend nordische Einschlag der Ostgermanen ist ge­ sichert durch geschichtliche Überlieferungen, durch Übereinstimmungen alter nordischer Landschaftsnamen mit ostgermanischen Völkernamen sowie durch sprachliche5 und archäologische6 Berührungen. Wenn auch Plinius die skandinavischen Germanen nur unter dem Namen Hilleviones aufführt, so haben doch diese sicher zu seiner Zeit keine poli­ 1 Nac hW. Schulz, Germania 13 (1929) S. 141 ff. (vgl. Mannus 24,226), v. Richthofen a. 0 . und Wiener prähist. Zeitschr. 19(1932) S. 131,Kossinna Mannusbibl. 5 0 ,182ff., J a h n , Mannus 24 (1932) S. 150 ff. erst im 2. Jahrh., und zwar aus Nordjütland (Vendyssel, Wendilskagi; die Wen(d)las des Widsidh und Beowulf sind die ostdeutschen Wandalen), was ich nicht für richtig halten kann, vgl. Germania 15 (1931) S. 265 f. und weiter unten. Dagegen spricht vor allem die Wandersage der Langobarden, die sicher nicht nach Däne­ mark gekommen sind. A uf die Herkunft aus Skandinavien weisen auch die Beziehungen des Götterdienstes der Lugier zum nordischen Kult hin ( K a r s t e n , Die Germanen [1928] S. 220). Vgl. die südnorwegischen Haddingjar = Hasdingen. Archäologische Übereinstim­ mungen vgl. P e t e r s e n im Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit V (1929) S. 122. — Es ist hier wie bei den meisten anderen Zuwanderungen an Splitter verschiedener benachbarter Stämme zu denken, von denen einer die führende Rolle spielte und den Namen hergab. 2 Kossinna, Mannus 11/12 (1919/20) S. 408. Nerman S. 25. 3 Der baltische Name Gudai, der angeblich den Namen der Goten in noch unverschobener Form bewahrt hat, würde auf eine viel frühere Einwanderung der Goten hinweisen, wenn man nicht die Lautverschiebung wesentlich später ansetzt, als es gewöhn­ lich geschieht. Vgl. Karsten, Die Germanen S. 75 und in der Zeitschr. f. deutsch. Alter­ tum 67 (1930) S. 53 ff. Aber es ist durchaus nicht ausgemacht, daß jener mit dem der Goten zusammenhängt. Vgl. auch Kossinna in Mannus 21 (1929) S. 108. 4 Vgl. K o s t r z e w s k i , Die ostgermanische Kultur der Spât-La-Tène-Z I (Mannusbibl. Nr. 18) (1919) S. 218. 225 f. 6 Vgl. J e l l i n e k , Geschichte der gotischen Sprache (1926) S. 11 ff. N e c k e l in Bei­ träge z. Gesch. d. deutsch. Sprache 51 (1927) S. 5. 6 Burgundische Brandgruben, Gotische Körperbestattung usw. Vgl. Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte 3 S. 146. Die in Pommerellen bei den Gesichtsurnenleuten und in Skandinavien erscheinenden Pfahlurnen dürften wandalischen Ursprungs sein, vgl. Qehn, Hausurnen (1924) S. 45. 103. 6

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tische Einheit mehr gebildet. Das wichtigste Einzelvolk waren die dem Tacitus allein bekannten Suiones, um den Mälarsee ansässig, die Vor­ fahren der späteren Schweden, deren Könige als Vorsteher einer weit über die Grenzen ihres Landes hinausreichenden Kultgenossenschaft noch lange großes Ansehen genossen. Ihre Südnachbarn waren die Gauten in Götaland, an die sich wiederum die Heruler, wohl in Smaland, Hailand, Blekinge anschlossen; in Norwegen die Rygir (Rugier) und Hordar (Haruden); auf den Inseln der Ostsee die Vorfahren der Burgunder, Silingen, Langobarden (Gotland). Die jüngste in historischer Zeit erfolgte Abspaltung stellen die Dänen dar, die nach Jordanes von den Schweden ausgegangen sind.1 Bei den Westgermanen hat der mit der Absonderung der Istväonen und Erminonen begonnene Prozeß der Bildung von Einzelstämmen sich weiter fortgesetzt. Spätestens im 3. Jahrhundert v. Chr. reichte das germanische Gebiet im Süden bis über Thüringen, Sachsen und die westliche Nieder­ lausitz, im Westen bis an den Mittel- und Niederrhein. Von hier brachen germanische Scharen im 2. Jahrhundert v. Chr. in Gallien ein, wo sie aber bald unter dem Einfluß der zahlenmäßig überlegenen keltischen Bevölke­ rung ihre Nationalität einbüßten: die Beigen, Nervier, die sog. Germani cisrbenani, die Treverer. (Die von Much behauptete germanische Herkunft der um 530 v. Chr. und 222 v. Chr. erwähnten Tylangi, Daliterni, Gaesaten in den Schweizer Alpen ist sehr zweifelhaft; vgl. oben.) Süddeutschland war dagegen noch im 2. Jahrhundert in keltischen Händen. Welche von den später geschichtlich hervortretenden einzelnen Völkerschaften ihre Entstehung in ein höheres Altertum hinaufführen dürfen, bleibt ungewiß und der Vermutung überlassen. Zu den ältesten Sonderbildungen innerhalb des i n g w ä o n i s c h e n Stammes zählen die Kimbern, Teutonen, Ambronen, Euten; der die Göttin Nerthus verehrende Stamm, aus dem die historischen Einzelvölker der Reudinger, Avionen, Angeln, Suardonen, Nuithonen hervorgegangen sind: Bewohner der jütischen Halbinsel. Ferner die Chauken an der Nordsee von der Elbe bis gegen die Ems hin. Von den I s t w ä o n e n haben sich abgesondert das Volk, dessen Kultus der Göttin Tanfana ge­ weiht war und das nachmals in die Sugambrer (rechtsrheinisch zwischen Lippe und Westerwald), die Usipeter (Usipier) und Tenkterer in Ober­ hessen, die Brukterer im unteren Emsgebiet, die Chasuarier an der Hase zerfiel (die Ursitze desselben werden mit denen der Sugambrer, des Mutter­ volkes, zusammenfallen); die Ubier zwischen Westerwald und Taunus, die Chamaven zwischen Vecht und Yssel. Zu den ältesten Bildungen e r m i n o n i s c h e n Ursprungs gehörten die Angrivarier (zu beiden Seiten der mitt­ leren Weser), die Cherusker (zwischen Teutoburger Wald, Diemel, Harz und Elbe), die Chatten (an der oberen und mittleren Ruhr), die Sweben 1 Vgl. Neckel a. O. S. 5.

Germanische St ammesbildungen

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(in Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen und Thüringen). Diese Völker­ gruppen mögen noch lange Zeit als sakrale Verbände fortbestanden haben, bis sich diese in kleinere Kultverbände auflösten. Nordischer Einschlag hat auch bei den Westgermanen nicht gefehlt. Daß die Friesen ursprüng­ lich in Skandinavien beheimatet waren, wird aus dem Charakter ihres Rechts und aus dem Wege ihrer Siedelung, der auf Ankunft zur See hin­ weist, wahrscheinlich. Die Langobarden stammten nach ihrer Wandersage ebendaher, wahrscheinlich aus Gotland, die Haruden in Jütland und Warnen in Schleswig aus Norwegen. Noch in historischer Zeit, nach dem Abzüge der Kimbern, haben sich Wendeln (Wandalen) aus Schweden an der Nordspitze Jütlands niedergelassen.1 Natürlich sind diese fremden Elemente dem kulturellen Einflüsse der Nachbarvölker erlegen, zu West­ germanen geworden. Auch die großen Umwälzungen, die das Zeitalter der germanischen Eroberungskriege gegen das römische Reich, die sog. Völkerwanderung, mit sich brachte, haben die ethnischen Zusammenhänge nicht zerstört. Die Stämme, die uns jetzt, vielfach unter neuen Namen, entgegentreten, knüpfen trotz gegenteiliger Behauptung1 2 an die Verhältnisse der Urzeit an. Die Struktur der ostgermanischen Einzelvölker hat sich überhaupt nicht wesentlich geändert; dasselbe gilt bei den Westgermanen in erster Linie von den Chatten-Hessen und Friesen, sodann auch von den Markomannen-Baiern. Die Sachsen sind zwar aus dem Zusammen­ schluß verschiedener Völker erwachsen, doch überwog der ingwäonische Charakter. Bei der Bildung der Alamannen war entscheidend die ge­ meinsame swebische Abkunft. Nur bei den Franken ist vielleicht eine größere Mischung heterogener Elemente anzunehmen, wenn auch hier der Kern auf istwäonischen Ursprung zurückgeführt werden darf. Erst die spätere Entwickelung der dynastischen Gewalten hat zerstörend gewirkt und neue staatliche Gebilde auf veränderter Grundlage geschaffen. 1 L. S c h m i d t in Klio 22 (1928) S. 102. 2 Steinbach a. O. S. 123.

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DIE BASTARNEN, SKIREN UND TURKILINGEN Die ethnographische Einheit der Ostgermanen tritt schon in der ältesten literarischen Überlieferung hervor und wird durch sprachliche und archäo­ logische Beobachtungen bestätigt. Plinius hist. nat. IV 99 führt, wie schon bemerkt, neben den Ingwäonen usw. die Gruppe der Vandili auf, zu der die Burgundionen, Varini (Ostwarnen), Charini [ = die taciteischen Harii, die später unter dem Namen ihres Herrschergeschlechts, der Hasdingen, auftreten], Goten gehörten. Auch bei Tacitus Germ. c. 2, wo die Vandilii erwähnt werden, sind diese nicht als ein Einzelvolk, sondern als eine größere Stammesgruppe zu verstehen. Wie später unter dem Namen des geschichtlich bedeutendsten Volkes der Goten, so wurden in ältester Zeit die Ostgermanen unter dem Namen der Vandili, von denen die Stammesbildung ihren Ausgang genommen hatte, zusammengefaßt. Als gemeinsames ethnographisches Merkmal der Goten, Rugier, Lemovier gibt Tacitus Germ. 43 rotunda scuta, breves gladii et erga reges obsequium an. Dazu stimmen auch die aus dem 6. Jahrhundert stammenden Angaben byzantinischer Geschichtsschreiber. Prokop (b. Vand. I 2) bemerkt, daß die O st- und W e s tg o te n , W a n d a le n und G e p id e n in bezug auf Recht, Körperhau und Sprache miteinander übereinstimmten, und rechnet an anderer Stelle (b. Goth. III 2; I 1) die R u g ie r , S k ire n und A la n e n (vgl. b. Vand. I 3; unter dem letztgenannten, einem ursprünglich un­ germanischen Volke, versteht Prokop die zu seiner Zeit völlig germani­ sierten Wandergenossen der Wandalen) zu den gotischen Völkern. Agathias (I 3) nennt die B u r g u n d i o n e n ein γένος Γοτθικόν. Die enge Verwandt­ schaft der Gepiden mit den Goten ist durch die nationale Überlieferung bei Jordanes, nach der jene aus in der Heimat zurückgebliebenen gotischen Volksteilen sich gebildet hätten, gesichert. Das Vorhandensein einer alten ostgermanischen Sprachgemeinschaft ist aus den erhaltenen dürftigen Resten nicht mit absoluter Zuverlässigkeit zu erkennen, da wir Sprach­ denkmäler größeren Umfanges ja nur von den Goten besitzen. Ein wich­ tiges Merkmal ist aber der schon für das erste nachchristliche Jahrhundert bezeugte schwache maskuline Nominativ auf — a, dem westgermanisch die entsprechende Form auf — o gegenübersteht.1 A r c h ä o l o g i s c h e Eigentümlichkeiten der Ostgermanen sind u. a. im Grabritus die rechteckigen Steinkistengräber mit Gesichtsurnen, Glocken1 Vgl. B r e m e r , Ethnographie (1899) S. 76 (810), 87 (821). Anders Jellinek, Got. Sprache S. 14. Kauifmann, D. A. I 249.

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gräber, Brandgrubengräber, Skelettgräber, einschneidige Schwerter, ver­ zierte Eisenwaffen, geknickte Fibeln, Fibeln mit zweilappiger Rollenkappe und „Sehnenhülse“ , mehrgliedrige Gürtelhaken, Halsringe mit recht­ winklig umgebogenen Knöpfenden, kronenartige Scharnierhalsringe, Urnen mit in Linien ausgeführter, eingeritzter Mäanderverzierung, Gefäße mit einem ausladenden, verdickten, häufig fazettierten Rand und am Rande ansetzenden Bandhenkel, dreihenkelige Töpfe, Knopfsporen, während als westgermanische Kennzeichen angesehen werden: Die Beisetzung des von allen fremden Bestandteilen befreiten Leichenbrandes in Urnengräbern, schalenförmige Urnen mit weiter Mündung, in Rädchentechnik ausge­ führte, punktierte Mäanderverzierung, Segelohrringe, eingliedrige Arm­ brustfibeln, Fibeln mit zweilappiger Rollenkappe und „Sehnenhaken“ u. a. m. Das Verschwinden der Gesichtsurnenkultur und das ungefähr gleich­ zeitige Auftreten der Bastarnen und Skiren in denselben Gegenden legt die Annahme nahe, daß diese östlichsten der germanischen Völker aus den besonders von den Wandalen verdrängten Trägern jener Kultur hervor­ gegangen sind. Es stimmt hierzu, daß Plinius die Bastarnen als eine selb­ ständige, den Wandilen, Ingwäonen, Istwäonen und Erminonen koordi­ nierte Abteilung der Germanen aufführt: quinta pars Peucini Basternae. Die geschichtliche Heimat der Bastarnen (oder Basternen)1 war das Land an den Nord- und Ostabhängen der noch später nach ihnen benannten Beskiden und Karpathen (Alpes Bastarnicae): Galizien und das angrenzende Podolien; dort gemachte Funde ostgermanischen Charakters der jüngeren La-Tène-Zeit (kronenartige Scharnierhalsringe) dürften auf sie zurück­ gehen. 1 2Als Wandergenossen der Bastarnen werden die Skiren in deren Nach­ barschaft, nach Plinius hist. nat. IV 97 (aus Philemon ?), rechts der oberen Weichsel ansässig gewesen sein. Um 230 v. Chr. haben sich die Bastarnen zwischen Karpathen und Dnjestr weiter nach Süden bis zur Küste des Schwarzen Meeres ausgebreitet. Pompeius Trogus hatte zufolge prol. 28, einem bisher meist übersehenen Zeugnis, nach der Ermordung der Deida­ mia von Epirus (etwa 233) und vor dem Tode des makedonischen Königs Demetrius (etwa 230)3 von „Bastarnici motus“ erzählt. Und in dem Peri­ plus des Pseudo-Skymnus v. 797 (aus Demetrius v. Kallatis etwa 200 V . Chr.) werden die Bastamen „Ankömmlinge“ (έπήλυδες) am Pontus 1 Bastarnen ist die ältere, Basternen die jüngere Form. V g l.F ie b ig e r und L. S c h m id t , Inschriftensammlung zur Geschichte der Ostgermanen (1917) S. 13. 2 Vgl. K o s t r z e w s k i, Die ostgermanische Kultur der Spât-La-Tène-Zeit I (1919) S. 77 f. 3 Vgl. N ie s e , Geschichte der griechischen und makedonischen Staaten II (1899) S. 266, 276, 286.

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genannt.1 „Demetrius muß also ihre Ankunft an der Donaumündung selbst erlebt und bei der Nähe seiner Vaterstadt [jetzt Mangalia] gewissermaßen selbst mit angesehen haben oder von älteren Zeitgenossen darüber unter­ richtet gewesen sein.“ 1 2 Sie zerfielen in mehrere Unterstämme, von denen die Atmonen, Sidonen (an der Weichselquelle) und besonders die Peukinen (die Bewohner der Insel Peuke im Donaudelta, jetzt Georgsinsel)3 genannt werden.4 Die letzteren, mit denen die Römer zumeist in Berührung kamen, werden häufig mit dem ganzen Stamme identifiziert.5 Über ihre germanische Abkunft kann kein Zweifel bestehen, wenn sie auch anfänglich von den Griechen für Kelten gehalten wurden.6 Das unerwartete Erscheinen der gewaltigen nordischen Krieger im Schwarzmeergebiet erregte bei den dort wohnenden thrakischen und sarmatisch-skythischen Völkern das größte Entsetzen. Die Wucht des ger­ manischen Angriffs traf zunächst die Daker (Geten) an der unteren Donau, die, in ihrer Widerstandskraft gelähmt, unter ihrem König Oroles eine schwere Niederlage erlitten.7 Hierauf nach Osten sich wendend trieben sie die zwischen Bug und Dnjestr hausenden Sarmaten und Skythen vor sich her, die wiederum die griechische Handelsstadt Olbia bedrohten, wo sie, um Schutz zu finden, sich festzusetzen gedachten. Daß diese Stadt nicht in feindliche Hände geriet, war der Freigebigkeit eines dortigen reichen Bürgers, Protogenes, zu danken, der die schleunigste Wiederherstellung der Stadtmauern betrieb und die dazu nötigen Mittel hergab. Wir erfahren hiervon durch das berühmte, inschriftlich erhaltene Psephisma der Bürger­ schaft von Olbia zu Ehren des Protogenes.8 1 Müller, Geographi Graeci minores I 229. 2 Müllenhoff, D. A. II 104. 3 Vgl. J. W e iß , Die Dobrudscha im Altertum (Zur Kunde der Balkanhalbinsel H. 12) (1911) S. 15. 4 Strabo V II 3, 17. Valer. Flacc. Argon. V I 95 ff. Ptol. II 11, 21. M u ch bei Hoops, Reallex. I 177 möchte auch die ptolemäischen Ombrones, Phrugundiones, Igylliones zu den Bastarnen rechnen, aber schwerlich mit Recht. 5 So Ptol. III 5, 15: Πεύκη βρος = Alpes Bastarnicae. Tac. Germ. 46. Plin. IV 99. 6 So noch A. B a u e r , Die Herkunft der Bastarnen (Wiener Sitzungsberichte, Phil.hist. Kl. 185,2 [1918]). Dagegen L .S c h m id t in der Philol. Wochenschrift (1919) S p .l0 6 ff.; M u ch , Germanist. Forsch. S. 18 ff. Für germanische Abkunft schon Müllenhoff, D. A. II 108 ff. Die Deutung des Namens durch Much als „Bastarde“ im Hinblick auf die durch Tacitus bezeugte Mischung mit Sarmaten ist durchaus abzulehnen, da zu der Zeit, als der Name zuerst auftritt, von einer Degeneration keine Rede sein konnte. — Den Namen sucht aus dem Iranischen zu erklären J a c o b s o h n in Zeitschr. f. deutsch. Alter­ tum 66 (1929) S. 232 ff. 7 Justin. 32, 3, 16: Daci, qui cum Orole rege adversus Bastarnas male pugnassent usw. Vgl. dazu B r a n d i s bei PW. IV 1955 ff. Ferner jetzt hierzu und zum Folgenden P a t s c h , Beiträge zur Völkerkunde von Südosteuropa V (Wiener Sitzungsber. 214, 1) (1932) S. 7 ff. Der Name Oroles ist wohl derselbe, wie der des späteren Getenkönigs Roles. 8 Vgl. darüber zuletzt Fiebiger-Schmidt. Inschriftensammlung S. 1 ff. E b e r t , Süd-

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Im Jahre 194 schloß der syrische Großkönig Antiochus III. zur Siche­ rung seiner Eroberungen in Thrakien ein Bündnis mit „Galatern“ , unter denen man wohl Bastarnen zu verstehen hat.1 Weiterhin suchte die Bastar­ nen auch der König Philipp V. von Makedonien zur Rückendeckung gegen Rom zu gewinnen. Im Jahre 184 schickte er eine Gesandtschaft an die Barbaren, die Anwohner der Donau waren.*1 2 Im Jahre 182 kehrte eine andere Gesandtschaft an den makedonischen H of zurück, begleitet von einigen bastarnischen Edlen, deren einer seine Schwester mit dem Könige verloben wollte.3 Nach Philipps Plan sollten die Bastarnen zunächst die Dardaner vernichten und deren Land einnehmen, dann aber weiter im Bunde mit den keltischen Skordiskern Oberitalien angreifen.4 Im Jahre 179 überschritt ein starker bastarnischer Haufe, begleitet von einem make­ donischen Gesandten, die Donau; aber der inzwischen eingetretene Tod Philipps brachte in das Unternehmen eine vollständige Störung. Die Thraker machten Schwierigkeiten bei der Proviantlieferung an die durch­ ziehenden Barbaren, die sich nun die nötigen Lebensmittel durch Gewalt zu verschaffen suchten. Es kam zum Kampfe; doch erlitten die Bastarnen bei der Verfolgung der sich ins Gebirge zurückziehenden Thraker durch einen Hagelsturm schwere Verluste. Ein Teil kehrte hierauf über die Donau zu­ rück; ein anderer, 30000 (? ) Menschen, unter Clondicus setzte sich im Lande der Dardaner fest.5 Diese wandten sich in ihrer Bedrängnis an den römi­ schen Senat, indem sie Philipps Nachfolger, den König Perseus, als An­ stifter des bastamisehen Angriffes bezeichneten. Perseus, darüber zur Rede gestellt, leugnete aber jeden Anteil an der Sache ab (175), und die Römer verhielten sich zunächst neutral. Als im Winter die Bundesgenossen der Bastarnen, die Thraker und Skordisker, nach Hause zurückkehrten, griffen die Dardaner in zwei Abteilungen an; während die eine geschlagen wurde, gelang es der anderen, das feindliche Lager wegzunehmen. Die Bastarnen, die dadurch ihre Vorräte und Waffen einbüßten, sahen sich veranlaßt, wieder über die Donau zurückzugehen; aber das den Strom bedeckende Eis brach und ein großer Teil des Volkes fand in den Wellen den Tod6 (174). rußland im Altertum (1921) S. 224 f., 356. R o s t o v t z e f f , Iranians and Greeks in South Russia (1922) S. 87. Letzterer will, ohne Zweifel zu Unrecht, die Inschrift schon um 290 ansetzen, wenn diese auch wohl in eine etwas frühere Zeit gehört (um 220 v. Chr.) als gewöhnlich angenommen wird. 1 Appian. Syr. 6. Vgl. Patsch a. O. S. 8. 2 Liv. 39, 35, 4. N i e s e , Geschichte der griech. und makedon. Staaten III (1903) S. 30. Patsch S. 10 ff. 3 Liv. 40, 5, 10. 4 Liv. 40, 57. Plutarch, Aemil. Pauli. 9. Pomp. Trog. prol. 32. 8 Liv. 40, 58. * Polyb. 25, 6. Liv. 41,19. 23, 12. Oros. IV 20, 34. Vgl. S t ä h e l i n , Der Eintritt der Germanen in die Geschichte (1905) S. 12 ff. Patsch S. 15.

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A uf damals in Gefangenschaft geratene Bastarnen dürften sich zwei in­ schriftlich erhaltene delphische Freilassungsurkunden von 160/159 und 144/143 V . Chr. beziehen: Fiebiger-Schmidt Nr. 5 : σώμα γυναικεΐον άι ονομα Ά ρ ι σ τ ώ το γένος Βαστάρναν und Nr. 6: σώμα άνδρεΐον ώι ονομα Πυρρί ας το γένος Βαστάρνας. Die Anschuldigung, daß Perseus mit den Bastarnen in Bündnis gestanden hätte, bildete ein wichtiges Argument für die Römer, die Griechen gegen die Makedonier einzunehmen, wie wir aus der inschriftlich erhaltenen Kundgebung des Senats an die Amphiktyonen von Delphi um 170 (FiebigerSchmidt Nr. 4) ersehen. Noch während des letzten makedonisch-römischen Krieges war Clondicus bereit, den Makedoniern zu Hilfe zu kommen. Im Jahre 168 stellten sich 20000 (?) Krieger, halb Reiter, halb Fußvolk, an der Grenze ein; aber Perseus war zu geizig, den von ihnen verlangten Lohn, 10 Goldstücke für den Reiter, 5 für den Fußgänger, 1000 für die Führer, zu zahlen; er erklärte zunächst, daß 5000 Reiter genügend seien, konnte sich jedoch nicht ent­ schließen, wenigstens diesen den Sold zu bewilligen. Infolge dieses törichten Verhaltens des Königs kehrten die Barbaren unter Verwüstungen wieder in ihre Heimat zurück.1 Nicht lange darauf suchten sie die durch keinerlei Befestigungen geschützte Stadt Istros (zwischen der Donaumündung und Konstantza) 1 2 heim und schleppten einen Teil der Bürger mit fort; ein angesehener Bürger Aristagoras schützte, wie eine Inschrift erzählt, die Stadt vor neuen Angriffen durch einen Mauerbau und ermöglichte durch geschickte Verhandlungen mit den Feinden die Rückkehr der Gefangenen.3 Für geraume Zeit verschwinden nun die Bastarnen aus der Geschichte, bis sie wieder unter den Soldtruppen des pontischen Königs Mithradates auftreten.4 Der unglückliche römische Prokonsul M. Aquillius wurde vor seiner Hinrichtung eine Zeitlang von einem fünf Ellen langen berittenen Bastarnen, mit dem er zusammengeschmiedet war, herumgeschleppt (88 V . Chr.).5 Besonders bei der Belagerung des M. Aurelius Cotta in Chalkedon (74) zeichneten sich die Bastarnen durch hervorragende Tapferkeit aus.6 Der „keltische“ Häuptling Bitoitus, der dem Mithradates auf dessen Ver­ langen den Todesstoß gab (63), war wahrscheinlich ein Bastarne.7 Der 1 Liv. 44, 26. Plutarch, Aemil. Pauli. 12. Diodor, 30, 19. 31, 14. Appian. Mac. 18 (nennt sie Geten). Vgl. Polyb. 29, 9, 13. Patsch S. 17ff. 2 Vgl. J. W e i ß , Die Dobrudscha im Altertum (1911) S. 57 ff. 3 F i e b i g e r in Jahreshefte desÖst. Arch. Instituts 14 (1911) Beibl. 70 f. und Inschriftensamml. Nr. 7. Patsch S. 24 ff. 4 Appian. Mithr. 15, 69, 71. Justin. 38, 3. 5 Posidon. fr. 36 Jacoby. 6 Appian. Mithr. 71. Memnon v. Herakleia c. 39 (Müller, fragm. hist. Graec. III, 545) mit starker Übertreibung der bastarnischen Verluste. Vgl. O b e r h u m m e r bei PW . X 1557. 7 Appian. Mithr. 111. Liv. per. 102. Aurel. Vict. vir. ill. 76, 8. Patsch S. 33.

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bedeutenden Rolle, die sie im mithradatischen Heere gespielt hatten, ent­ spricht es, wenn sie unter den Völkern aufgeführt werden, über die der schließliche Besieger des Königs, Pompejus, im Jahre 61 triumphierte.1 Aber noch in dem Jahre des Triumphes brachten die Bastarnen dem Pro­ konsul von Makedonien C. Antonius, gegen den sie von den arg bedrückten Griechenstädten am Schwarzen Meere zu Hilfe gerufen worden waren, bei Istros eine schmähliche Niederlage bei und erbeuteten einige römische Feldzeichen.1 2 Die Konsolidierung der Macht der Daker unter Boirebistas wurde nicht nur für die Keltenstämme in den Donauländern, sondern auch für die Bastarnen verhängnisvoll; daß diese wenigstens zum Teil unter dakischer Botmäßigkeit gestanden haben, ergibt sich mit großer Wahr­ scheinlichkeit aus der Tatsache, daß um 55 v. Chr. die griechischen Städte am Pontus, insbesondere Olbia, unter die Herrschaft des Boirebistas kamen.3 Nach dem Tode des gewaltigen Königs (45 v. Chr.) wieder unab­ hängig geworden,4 breiteten sich die Bastarnen südlich der Donau aus und setzten sich im Gebiete der südlich vom heutigen Sofia sitzenden, mit Rom verbündeten Dentheleten fest. Oktavian beschloß daher ihre Unterwerfung. Der schon im Jahre 35 geplante56 Feldzug kam im Jahre 29 v. Chr. zur Ausführung. Der Prokonsul von Makedonien M. Licinius Crassus rückte gegen sie vor, worauf sie sich ohne Widerstand über den Balkan zurück­ zogen. Beim weiteren Vormarsch stießen die Römer mit ihnen am Einflüsse des Ciabrus (jetzt Cibrica) in die Donäu (östlich von Widin) zusammen. Die Bastarnen schickten an Crassus Gesandte und forderten ihn auf, sie unbehelligt zu lassen, da sie mit Rom nichts zu tun hätten. Crassus hielt aber die Gesandten zurück und machte sie betrunken, so daß er alle ihre Pläne erfuhr. In der Nacht rückte er in einen Wald vor und sandte Reko­ gnoszierungstruppen voraus, die mit den Bastarnen ins Gefecht gerieten und diese hinter sich herzogen, bis sie auf die römische Hauptmacht stießen. Die Germanen wurden fast völlig aufgerieben; der Führer Deldo fiel durch Crassus’ eigene Hand. Eine Schar, die sich in einen festen Platz flüchtete und dort längere Zeit erfolgreich verteidigte, ward schließlich von Crassus mit Hilfe des Getenkönigs Roles ausgehoben. Im folgenden Jahre erschienen neue bastarnische Schwärme an der makedonischen 1 Plin. hist. nat. V II 98. 2 Cass. Dio 38, 10; 51, 26. 3 Dagegen nimmt Patsch S. 44 an, daß Boirebistas im Jahre 61 einen Dienstvertrag mit den Bastarnen geschlossen habe. 4 v. P r e m e r s t e i n , Jahreshefte des österr. Archäolog. Instituts I (1898) Beibl. S. 152 schließt sehr mit Unrecht daraus, daß die dem C. Antonius abgenommenen Feldzeichen im Jahre 29 in einer Festung der Daker (angeblich) aufbewahrt wurden, daß damals ein Teil der Bastarnen noch unter dakischer Herrschaft gestanden hätte. 6 Appian. Illyr. 22 (Besetzung von Sissek, vgl. Strabo V II 5, 2). Patsch S. 58.

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Grenze; aber der in Eilmärschen herbeigeeilte Crassus besiegte sie zum zweiten Male und zwang sie zu einem Vertrag (wahrscheinlich mußten sie sich verpflichten, die Donau niemals wieder zu überschreiten). Auch die früher von den Bastarnen erbeuteten, in der dem Getenkönig Zyraxes gehörigen Feste Genukla an der Donaumündung aufbewahrten Feldzeichen wurden wiedergewonnen.1 Ob die von den Römern 16 und 14/13 v. Chr. abgewiesenen Einfälle von „Sarmaten“ über die Donau auf die Bastarnen zu beziehen sind, wie Patsch S. 83, 92 annimmt, scheint mir zweifelhaft. Jedenfalls ist damals die Donaustrecke der späteren Provinz Moesia zur Reichsgrenze gemacht und befestigt worden. Im Jahre 10 v. Chr. gingen die Daker verheerend über die Donau, wurden aber von einem römischen Heere unter M. Vinicius geschlagen, bis in das Innere ihres Landes, bis nach Siebenbürgen verfolgt und unschädlich gemacht. Den Dakern hatten auch die Bastarnen militärische Hilfe geleistet ; doch verzichtete der Kaiser, als diese nach der Niederlage Gesandte an ihn schickten, auf ihre Unter­ werfung und begnügte sich mit Freundschaftsversicherungen.1 2 Die durch jene Kriege gewonnene Kenntnis hat ihren Niederschlag in der genaueren Angabe Strabos V II 3, 17 gefunden: έν δέ τη μεσογαία Βαστάρναι μέν τοΐς Τυρεγέταις όμοροι καί Γερμανοΐς, σχεδόν τι καί αύτοί τοϋ Γερμανικού γένους οντες, εις πλείω φϋλα διηρημένοι. Καί γάρ ’Άτμονοι λέγονται τινες καί Σιδόνες, οί δέ τήν Πεύκην κατασχόντες την έν τω "Ιστρω νήσον Πεύκινοι. Vielleicht sind die Bastarnen neben den Dakern an dem großen Aufstand der Illyrier 6— 9 n. Chr. beteiligt gewesen; döch sind die Römer rasch mit ihnen fertig geworden.3 Als Anwohner des Schwarzen Meeres bei Tomis nennt die Bastarnen der Dichter Ovid im 2. Buche der Tristien v. 198 (geschrieben 9 n. Chr.).45 Schon unter Tiberius bedrohten Bastarnen und „Skythen“ wieder die Grenze;6 aber als gefährlichere Feinde der Römer traten jetzt 1 Dio 51, 23 ff. Liv. periochae 134. Viet, epitome I 7. Vgl. besonders M ü l l e n h o f f , D. A. III 153 ff. B e n n d o r f , Jahreshefte des öst. Arch. Inst. I 131 ff. S e h m s d o r f , Die Ger­ manen in den Balkanländern (1899) S. 26 ff. C i c h o r i u s , Die röm. Denkmäler in der Dobrudscha (1904) S. 13 ff. G a r d t h a u s e n , Augustus und seine Zeit I 3 (1904) S. 1052 ff. F i l o w , Die Legionen der Provinz Moesia (1906) S. 1 f. G r o a g bei PW. 13 (1926) S. 275 ff. Patsch S. 69 ff. Über die noch nicht gelöste Streitfrage, ob die bildlichen Darstellungen auf dem Monument von Adamklissi auf den Feldzug des Crassus zu beziehen sind, siehe weiter unten. 2 Fiebiger-Schmidt Nr. 8. Mon. Ancyr. V 52. Vgl. besonders Patsch S. 101 ff., der gegen v. P r e m e r s t e i n (österr. Jahreshefte V II [1904] S. 215 ff.) mit Recht die Aktion der Bastarnen mit dem dakischen Feldzuge des Jahres 10 v. Chr. in Verbindung bringt und die Annahme von einer damaligen Ausdehnung der bastarnischen Herrschaft über die Slowakei bekämpft. 3 Patsch S. 113, 115. 4 Der neueste Herausgeber O w en (Oxon. 1889) hat in Vers 199 verkehrterweise die Sidonen hineinkonjiziert. 5 Tac. ann. II 65.

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die sarmatischen Jazygen hervor. Dieses ursprünglich im Nordosten des Schwarzen Meeres ansässige Reitervolk rückte westwärts vor und brachte die Roxolanen, Daker und Bastarnen sowie die Griechenstädte am Pontus in große Gefahr. Der Statthalter von Mösien Tiberius Plautius Silvanus Aelianus (seit 57 n. Chr.) stellte die Bedrängten unter seinen Schutz und trieb die Jazygen zurück; in dem noch erhaltenen Bericht über seine Tätig­ keit heißt es: „D en Königen der Bastarnen und der Roxolanen sandte er die gefangenen oder den Feinden wiederabgenommenen Söhne, denen der Daker die gefangenen Brüder zurück“ 1 (zwischen 63— 66 n. Chr.). Gleich­ wohl ist es den Jazygen bald darauf gelungen, sich in den ungarischen Pußten festzusetzen.1 2 Plinius kennt die Bastamen im Rücken des Vannianischen Swebenreiches hist. nat. IV 81. Des Plinius Zeitgenosse, der Dichter Valerius Flaccus, erwähnt die Sidonen als eine Abteilung der Bastarnen und nennt als einen ihrer Führer den Teutagonus.3 Aus der Zeit Trajans stammt ihre Erwähnung bei Tac. Germ. 46: Peucini, quos quidem Bastarnas vocant, sermone, cultu, sede ac domiciliis ut Germani agunt. Daß sie damals auch im römischen Heere als Söldner dienten, ersehen wir aus einer Inschrift vom Jahre 98, auf der ein L. Vale­ rius Basterna erscheint.4 Ferner treten sie auch während der Dakerkriege hervor. A uf der Trajanssäule finden wir zweimal Gestalten von Barbaren, die unverkennbar germanisches Gepräge tragen und die allgemein für Bastarnen, die einzigen in Betracht kommenden Geimanen, gehalten werden. Dieselben verhandeln mit den Römern durch Gesandte, kämpfen aber nicht auf ihrer Seite, haben sich also vermutlich neutral verhalten.5 Man hat nun auch auf dem Monument von Adamklissi Bastarnen erkennen wollen. Dieses Denkmal ist nach der zum größten Teile erhaltenen Inschrift im Jahre 109 von Trajan errichtet und dem Mars Ultor geweiht worden. Die darauf angebrachten Reliefs können aber nicht auf die Dakerkriege dieses Kaisers bezogen werden, da sie mit den Darstellungen der Trajans­ säule nicht in Einklang zu bringen sind; so erscheinen dort die als Ger­ manen angesehenen Barbaren6 als Feinde der Römer. Die besonders von 1 Fiebiger-Schmidt Nr. 11. Patsch S. 164 ff. 8 Vgl. Sehmsdorf S. 36. 3 Der Name ist nach Müllenhoff, D. A. II 109 und Much, Germanist. Forsch. S. 19 frei erfunden. 4 Fiebiger-Schmidt Nr. 12. Aus früherer Zeit ein Peukine Nereus unter den corpore custodes des Germanicus und Nero (Fiebiger-Schmidt Nr. 10), aus späterer Dassius, Bastami fil., in der coh. I Belgarum (ebenda Nr. 13). 6 Mit Sicherheit nur Bild C. CL. Vgl. C i c h o r i u s in Philolog.-hist. Beiträge C. Wachsmuth gewidmet (1897) S. 10 f. und Die Reliefs der Trajanssäule. Textband III (1900) S. 148, 384. S c h u m a c h e r , Verzeichnis der Abgüsse usw. mit Germanendarstellungen, 3. Aufl. (1912) S. 46 ff. , 6 Sind Körperbeschalfenheit und Tracht wohl als germanisch anzusprechen, so weist

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Furtwängler ausgesprochene Beziehung auf die Feldzüge des Crassus ver­ bietet sich vor allem deswegen, weil das Monument die Weihung Trajans trägt und die vorgeschlagene Ergänzung der Inschrift restituit, wonach der Kaiser nur ein älteres Denkmal wiederhergestellt hätte, epigraphisch unmöglich ist.1 Nach der ansprechenden Vermutung von Cichorius ist das Monument ein Sühnedenkmal Trajans für die vernichtenden Niederlagen, die unter Domitian 86/87 der Gardepräfekt Cornelius Fuscus durch die Daker in jener Gegend erlitten hatte; es ist möglich, wenn auch nicht bezeugt, daß damals auch Bastarnen gegen die Römer gekämpft haben. Dagegen ist die zur Erklärung der Unstimmigkeiten ausgesprochene An­ nahme desselben Forschers, daß Konstantin d. Gr. die von den Goten beschädigten Reliefs durch neue ersetzt habe, bei denen als Modell Bar­ barentypen seiner Zeit gedient hätten, mit guten Gründen bekämpft worden.*1 2 Unter Hadrian schrieb der Perieget Dionysius, der v. 304 die Bastamen erwähnt: Γερμανοί Σαμάται τε Γέται δ’ άμα Βαστάρναι τε (Müller, Geogr. Graeci min. II 119). Zu derselben Zeit sammelte Marinus von Tyrus sein Material, auf dem das Werk des Ptolemäus beruht. Dieser führt II 11, 21 an der Weichselquelle die Sidonen, III 5, 19 υπέρ τήν Δακίαν Πεύκινοι τε καί Βαστέρναι auf; die Beskiden und Karpathen nennt er auch Πεύκη βρος (III 5, 15). Die Südwanderung der Goten um die Mitte des 2. Jahr­ hunderts berührte auch die Bastarnen, die in dem Verzeichnis der das römische Reich bedrohenden Völker Hist. Aug. vita Marci 22, 1 aufgeführt werden; wahrscheinlich wurden sie durch ihre Ostnachbarn, die Kostoboken, die im Jahre 170 über die Karpathen bis nach Thrakien, Makedonien und Griechenland vordrangen und ihr Gebiet durchquert haben müssen, in Bewegung gesetzt.3 Bastarnische Scharen sind damals (um 170) in Kleinasien aufgetreten, zu deren Abwehr in der Stadt Thyatira in Lydien eine außerordentliche Kriegssteuer ausgeschrieben wurde.4 Unmittelbar von den Goten wurden betroffen die Volksteile, die sich, wie es scheint, um Christi Geburt am Dnjepr niedergelassen hatten und deren Gebiet nun die Goten besetzten: wir erfahren dies aus einigen dort aufgedeckten Gräbern ostgermanischen Charakters, die der vorgotischen Zeit angehören.5 das lange Sichelschwert, das sie führen, auf Sarmaten hin, vgl. B i e n k o w s k i , De simu­ lacris barbararum gentium apud Romanos (1900) S. 70. 1 Vgl. Cichorius, Dobrudscha S. 16. 2 Übersicht über den Stand der Frage bei Groag, PW . X 280 ff. Vgl. auch Schumacher a. O. S. 23 ff. Kossinna, Mannusbibl. 50 (1932) S. 76 ff. 3 Vgl. v. P r e m e r s t e i n , K lio 12 (1912) S. 146ff. S c h w e n d e m a n n , Der historische W ert der vita Marci (1923) S. 84 ff. 4 Fiebiger-Schmidt Nr. 15. 5 R e i n e c k e , Mainzer Zeitschrift I (1906) S. 42ff. E b e r t , Prähist. Zeitschrift V (1913) S. 80 ff. S c h l i z ebenda S. 148 ff. E b e r t , Baltische Studien zur Archäologie und Ge-

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Die Befriedung der Bastarnen erfolgte wohl im Zusammenhänge mit der Unterwerfung der Kostoboken (174); daß damals römische Truppen in Ostgalizien eingedrungen sind, ersehen wir aus dem Funde einer Votivhand mit der Inschrift cohors I Flavia Ulpia Hispanorum miliaria c. R. equitata bei Zalesczyki.1 — Wohl auf die Weltkarte des Kaisers Caracalla geht zurück die Erwähnung der Bastarnen in der Tabula Peutingeriana (Alpes Bastarnice; Blastarni). Ferner finden wir sie (aus derselben Quelle ?) aufge­ führt in der Chronik des Hippolytus c. 80, 22 und 84, 15 (Βαστάρνοι; Βαστάρνις). Im Jahre 248 werden sie (die Peukinen) unter den Teilnehmern an dem gotischen Raubzuge gegen Mösien genannt (Jord. Get. 91); ebenso haben sie sich an der großen Heerfahrt unter Claudius II. im Jahre 269 beteiligt (Hist. Aug. Claud. 6, 2: Peuci; unter den gleichzeitig genannten Celtae werden die übrigen Bastarnen zu verstehen sein). A uf die Dauer aber vermochten sie ihre Selbständigkeit den mächtig um sich greifenden Goten gegenüber nicht behaupten. Von diesen vertrieben fanden sie, an­ geblich 100000 Köpfe stark, Aufnahme in Thrakien durch den Kaiser Probus (280).*1 2 Ein letzter Rest des Volkes trat 295 auf römisches Gebiet über.3 Von diesen thrakischen Bastarnen hören wir noch einmal 100 Jahre später: der Heermeister Promotus ward von ihnen ermordet; der Dichter Claudian preist als eine der ersten Taten Stilichos, daß dieser die Übeltäter bestraft habe (391).4 A uf solche bastarnische Ansiedelungen weisen noch im 6. Jahrhundert das von Justinian angelegte Kastell Βαστέρναι bei Odessos (Warna) sowie zwei im 12. Jahrhundert erwähnte Ortschaften hin.5 Dagegen sind die Anführungen des Volksnamens bei Claudian IV cons. Hon. 451, bei Sidon. Apoll, und bei dem Geographen Julius Honorius nichts als wertlose Reminiszenzen. Nach Sitte und Brauch erscheinen die Bastarnen in der Überlieferung als echte Germanen. Sie waren von gewaltiger Größe, streitlustig, ver­ wegen, in den Waffen wohlgeübt, großsprecherisch in den Drohungen gegen ihre Feinde, geeignet, den Römern Schrecken einzuflößen,6 trunk­ süchtig.7 Doch hat die Nachbarschaft der Sarmaten und Geten im Laufe schichte (Berlin 1914) S .90ff. B r e n n e r , 7. Bericht d. Röm.-Germ. Komm. (1912) S. 262. Rostovtzeff a. O. S. 216. Ebert, Südrußland 364. B r i a n - C h a n i n o v , Revue des quest, hist. 102 (1925) S. 41 f. E b e r t , Reallexikon der Vorgeschichte 13 (1928) S. 112. 1 Jahreshefte des öst. Arch. Instituts V II (1904) Beibl. S. 150 ff. Schwendemann S. 89. 2 Hist. Aug. Prob. 18, 1. Zosimus I 71, 1. 3 Eutropius I X 25. Orosius V II 25, 12. Vgl. P a t s c h , Wiener Sitzungsberichte 208, 2 (1928) S.7. 4 Zosimus IV 51. Claudian, Stil. I 96. Vgl. dazu Birt S. X X V I . Seeck, Untergang V 269, 271. 5 Vgl. T o m a s c h e k bei PW . III 113. * Polyb. 26, 9. Plutarch, Aemil. Pauli. 12. Vgl. Posidon. fr. 36. , 7 Dio 51, 24.

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der Zeit den Volkscharakter in mancher Hinsicht erheblich beeinflußt.1 Tacitus bezeugt, daß sie cultu, sede et domiciliis wie die übrigen Germanen lebten; sie waren also seßhaft, keine Nomaden. Die Angabe Plutarchs, sie hätten sich weder um Ackerbau noch um Viehzucht gekümmert, bezieht sich natürlich nur auf die fremde Kriegsdienste suchenden Volksgenossen.1 2 An der Spitze stand eine Mehrzahl dem Adelsstände angehöriger Fürsten (Kleinkönige: Liv. 40, 5: nobiles iuvenes et regii quidam generis; 40, 57: Cotto nobilis; 40, 58; 44, 26: principes; 40, 58: Clondicus dux; 44, 26: Clondicus regulus; Dio 51, 24: Δέλδων βασιλεύς; Fiebiger-Schmidt Nr. 11: reges Bastarnarum). Zuerst bei ihnen wird die bekannte Elitetruppe, mit Fußvolk gemischte Reiterei erwähnt.3 Die Wagenburg erscheint bei Dio 51, 24. Über die Bewaffnung vermögen wir nichts Sicheres zu sagen, da die Reliefs von Adamklissi keine unbedingt zuverlässige Quelle sind. Ihre Tracht ist aus der Trajanssäule ersichtlich. Sie trugen Halbschuhe und lange faltige Hosen, die unten in die Schuhe gesteckt und in der Taille durch einen vorn mit einer Schnalle versehenen Riemen gegürtet waren. Um den nackten Oberkörper legten sie einen langen, auf der rechten Schul­ ter durch eine Rundfibel gehefteten und am Rande mit Fransen geschmück­ ten Mantel. Das Haar wurde schräg nach der rechten Seite gekämmt und dort über dem Ohr in einen Knoten geschlungen.4 Ihre archäologische Hinterlassenschaft ist sehr dürftig: es sind die schon erwähnten älteren Funde aus Ostgalizien und Podolien sowie die späteren vom Dnjepr. Am wichtigsten sind die spât-la-Tène-zeitliche Nekropole von Sarubinetz (Kr. Kanew) (Brandgräber. „Die Keramik besteht aus den charakteristischen schlanken Ossuarien mit abgesetztem, ausladendem Hals, aus Schalen und Henkeltöpfchen, die Metallbeigaben aus bronzenen Spät-La-TeneFibeln, Hirtenstab-, Vasen- und Scheibenkopfnadeln u. a.“ ),5 sowie Urnen· 1 Strabo V II 3, 2. Tac. Germ. 46. 2 Auffällig ist, daß auch Seneca, De providentia c. 4 von Germanen spricht, die nicht einmal von Viehzucht, sondern allein von der Jagd lebten, und bei denen nur an die Bastarnen gedacht werden kann. Vgl. Forschungen z. deutsch. Geschichte 23 (1883) S. 634. 3 Plutarch a. O. Liv. 44, 26. Val. Flacc. Argon. V I 95 ff. Vgl. Müllenhoff, D. A. II 105; oben S. 61. 4 Vgl. Cichorius, Trajanssäule. Text III 144, 148. K a u f f m a n n i n Zeitschr. f. deutsch. Altertum 40 (1908) S. 402. Schumacher, Abgüsse S. 46 ff. und in Mainzer Zeitschrift IV (1909) S. 1 f. 12. Über den Haarknoten Salis in Bonner Jahrbücher 118 (1909) S. 69. E. F i s c h e r im Archiv f. Anthropologie NF. V II (1909) S. 12 ff. 3 Ebert, Balt. Studien S. 92. Nach Tackenberg, Mannus 22, 280 ff. westgermanisch? — Daß der K opf der Sammlung Somzée-Brüssel (Fiebiger-Schmidt S. 13) einen Bastamen darstelle, läßt sich keinesfalls beweisen. — Wahrscheinlich den Bastamen, nicht den Wandalen, zuzuweisen ist auch das Gräberfeld von Przeworskin Nordgalizien (2.— 3. Jahr­ hundert), wovon P e t e r s e n Volk und Rasse IV (1929) 40 f. zwei Abbildungen gibt. Vgl. ferner T a c k e n b e r g , Volk und Rasse IV 244; Mannus 22 (1930) S. 269 ff. P e t e r s e n , Forschungen und Fortschritte V II (1931) S. 33 f. — Über die Kultur der Gesichtsumen-

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gräber mit Glasperlen, eisernen Schnallen, handgemachten und gedrehten Gefäßen aus dem Kreis Romny (3. Jahrhundert). Daß das Volk zahlreich gewesen, unterliegt hei d