Gesamtausgabe (TG). Band 9 1911–1915: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie. Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung. Schriften. Rezensionen [Reprint 2022 ed.] 9783110802887, 9783110158427

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Gesamtausgabe (TG). Band 9 1911–1915: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie. Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung. Schriften. Rezensionen [Reprint 2022 ed.]
 9783110802887, 9783110158427

Table of contents :
Inhalt nach Abteilungen
Inhalt nach Sachgebieten
Abkürzungen und Siglen
Vorwort
I. Monographien
Leitfaden Vorlesung über theoretische Nationalökonomie
Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung
II. Schriften
Rudolf Euckens „Grundbegriffe der Gegenwart" in neuer Fassung
Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert
Hobbes' Naturrecht
Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre
Neutralität und Politik
Der erste allgemeine Rassen-Kongreß
Vorurteile gegen den Rassenkongreß
Die Akademie der Zukunft
Science and Art, Literature and the Press
Soziologie und Rechtsphilosophie
[Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1843 bis 1907]
Soziologie als Wissenschaft und die deutsche soziologische Gesellschaft
Der erste internationale Rassenkongreß in London
Wege und Ziele der Soziologie
[Schutz der Schwachen]
[Das stoisch-christliche Naturrecht]
Das Charakterbild eines Königs
Vom Keplerbunde
„Die Front gegen Rechts!"
[Klassenjustiz]
Bürgerliche und politische Freiheit
Die neuesten Angriffe gegen den Verein für Sozialpolitik
[Judentaufen]
[Populäre „Statistik"]
Nachreden des Rassenkongresses
Rousseau und wir
Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert
Soziologie und Universitätsstudien
Der Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche
Die Zukunft der sozialen Frage
Nemesis
Individuum und Welt in der Neuzeit
[Der statistische Hochschulunterricht]
[Der Rückgang der Geburten und Sterbefälle]
Harald Höffding
Geld und Genossenschaft
Atheismus im Wandel der Zeiten
John Lubbock
[August Bebel]
Professor Friedrich Reuter
[Nation und Nationalitäten]
[Die moderne Nation]
[Der Begriff der Nation]
Geläuterter Sozialismus
Der Staatsmann und das Leben
Mann und Weib
Der Staatsmann und die Ethik
Die Soziologie und ihre Aussichten in Europa
Nationalgefühl
Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat
Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung
Soziologie und Geschichte
Eindrücke von Dänemark
Der Friede
Eine Freidenker-Hochschule
Aus einem Kriegs-Briefwechsel
Der letzte Sprung des alten Löwen
[Englische Weltpolitik]
Adolf Wagner
Wie viele Einwohner hatte das Deutsche Reich am 1. Januar 1915, wie viele wird es am Ende des zweiten Kriegsjahres zählen?
An die Eheleute Webb
Gemeinschaft und Individuum
[Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit]
Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht
Vor hundert Jahren
Die historisch-geographischen Richtungen der Neuzeit
Deutschlands Platz an der Sonne Ein Briefwechsel englischer Politiker aus dem Jahre 1915
Die Sozialpolitik nach dem Kriege
Marokko und der Weltkrieg
Das Recht auf Kolonialbesitz
III. Rezensionen
Havelock Ellis, Geschlecht und Gesellschaft. Grundzüge der Soziologie des Geschlechtslebens
Rudolf Goldscheid, Höberentwicklung und Menschenökonomie
Past. Johs. Forberger, Moralstatistik u. Konfession Moralstatistik des Königr. Sachsen
Hans W. Gruhle, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität
Ernst Troeltscb, Gesammelte Schriften
Richard M. Davis, Psychological Interpretations of society
Dr. O. Kürten, Statistik des Selbstmordes im Königr. Sachsen
Vladimir G. Simkhovitch, Marxismus gegen Sozialismus
Charles A. Ellwood, Sociology in its psychological aspects
Franz Klein, Das Organisationswesen der Gegenwart
Henri F. Secretan, La population et les mceurs
Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung
Geza von Hoffmann, Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika
Emil Sidler-Brunner, Englische Politik in neutraler Beleuchtung
Adolf Menzel, Naturrecht und Soziologie
Publications of the American Sociological Society
Apparat
Editorischer Bericht
Bibliographie
Register der Publikationsorgane
Personenregister
Sachregister
Plan der Tönnies-Gesamtausgabe

Citation preview

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 9

w

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe

der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V.

herausgegeben von Lars Clausen • Alexander Deichsel Cornelius Bickel • Rolf Fechner Carsten Schlüter - Knauer

Walter de Gruyter • Berlin • New York

2000

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 9 1911-1915 Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung Schriften Rezensionen herausgegeben von Arno Mohr in Zusammenarbeit mit Rolf Fechner

Walter de Gruyter • Berlin • New York

2000

Die „Stiftung welche

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von ihr im Mai

dieses 1996

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200 Jahre

Jubiläums Band

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Schleswig-Holsteins

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T ö n n i e s , Ferdinand: G e s a m t a u s g a b e : T G / Ferdinand Tönnies. Im Auftr. der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V. hrsg. von Lars Clausen . . . — Berlin ; N e w York : de Gruyter ISBN 3-11-015348-3 Bd. 9 . 1 9 1 1 — 1 9 1 5 : Leitfaden einer Vorlesung über theoretische N a t i o n a l ö k o n o m i e , englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung, Schriften, Rezensionen / hrsg. von A r n o M o h r . In Z u s a m m e n a r b e i t mit R o l f Fechner. — 2 0 0 0 ISBN 3-11-015842-6

©

Copyright 1 9 9 9 by "Walter de G r u y t e r G m b H Sc C o . K G , D - 1 0 7 8 5 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

Übersetzungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Satz und D r u c k : Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz Sc Bauer G m b H , Berlin Schutzumschlag: R a i n e r Engel, Berlin

Inhalt nach Abteilungen Verzeichnisse Inhalt nach Abteilungen Inhalt nach Sachgebieten Abkürzungen und Siglen

V IX XIII

Vorwort Arno Mohr I. Monographien Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung Vorwort Inhaltsverzeichnis Einleitung [Text] II. Schriften Rudolf Euckens „Grundbegriffe der Gegenwart" in neuerer Fassung Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert Hobbes Naturrecht Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre Zweite Nachlese Neutralität und Politik Der erste allgemeine Rassen-Kongreß Vorurteile gegen den Rassenkongreß Die Akademie der Zukunft Science and Art, Literature and the Press Soziologie und Rechtsphilosophie. Leitsätze [Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1843 bis 1907] Soziologie als Wissenschaft und die deutsche soziologische Gesellschaft

XVII 1 3 11 13 15 17 29 111 113 119 142 143 144 154 157 160 163 176 177 184

VI

Inhalt nach Abteilungen

Der erste internationale Rassenkongreß in London Eine Umschau Wege und Ziele der Soziologie [Schutz der Schwachen] [Das stoisch-christliche Naturrecht] Das Charakterbild eines Königs Vom Keplerbunde „Die Front gegen Rechts!" [Klassenjustiz] Bürgerliche und politische Freiheit Die neuesten Angriffe gegen den Verein für Sozialpolitik. Brief an Gustav Schmoller [Judentaufen] [Populäre „Statistik"] Nachreden des Rassenkongresses Rousseau und wir Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert Soziologie und Universitätsstudien Der Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche Die Zukunft der sozialen Frage Nemesis Individuum und Welt in der Neuzeit [Der statistische Hochschulunterricht] [Der Rückgang der Geburten und Sterbefälle] Harald Höffding zum 11. März Geld und Genossenschaft Atheismus im Wandel der Zeiten John Lubbock [August Bebel] Professor Friedrich Reuter. Zu seinem 70. Geburtstage . . . [Nation und Nationalitäten] [Die moderne Nation] [Der Begriff der Nation] Geläuterter Sozialismus Der Staatsmann und das Leben Mann und Weib Der Staatsmann und die Ethik Die Soziologie und ihre Aussichten in Europa Nationalgefühl

185 196 197 200 206 210 216 221 223 237 242 245 247 251 259 287 288 294 295 299 333 337 339 347 355 359 361 369 372 374 375 376 377 393 394 403 404

Inhalt nach Abteilungen

Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat Referat, erstattet auf dem III. Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie . . . Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung . . . Soziologie und Geschichte Eindrücke von Dänemark Der Friede Eine Freidenker-Hochschule Aus einem Kriegs-Briefwechsel Der letzte Sprung des alten Löwen [Englische Weltpolitik] Adolf Wagner Zum 80. Geburtstag (25. März 1915) Wieviele Einwohner hatte das Deutsche Reich am 1. Januar 1915, wie viele wird es am Ende des zweiten Kriegsjahres zählen? An die Eheleute Webb Offener Brief an die Herausgeber des „New Statesman" . Gemeinschaft und Individuum [Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit] Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht Vor hundert Jahren Die historisch-geographischen Richtungen der Neuzeit . . . Deutschlands Platz an der Sonne Ein Briefwechsel englischer Politiker aus dem Jahre 1915. Vorwort Die Sozialpolitik nach dem Kriege Marokko und der Weltkrieg Das Recht auf Kolonialbesitz Eine Diskussion englischer Kolonialpolitiker über die Zukunft der deutschen Kolonien III. Rezensionen Havelock Ellis, Geschlecht und Gesellschaft Rudolf Goldscheid, Höherentwicklung und Menschenökonomie Past. Johs. Forberger, Moralstatistik u. Konfession Moralstatistik des Königr. Sachsen

VII

413 419 479 480 485 492 497 507 511 514

519 526 533 534 538 543 560

561 564 577

585 591 593 600 601

Vili

Inhalt nach Abteilungen

Hans W. Gruhle, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften. Band 1, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen Richard M. Davis, Psychological Interprétations of society . Dr. O. Kürten, Statistik des Selbstmordes im Königr. Sachsen Vladimir G. Simkhovitch, Marxismus gegen Sozialismus . . Charles A. Ellwood, Sociology in its psychological aspects . der Gegenwart . . . . Franz Klein, Das Organisationswesen Henri F. Sécrétan, La population et les mœurs Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung Géza von Hoffmann, Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Friedrich Ludwig Gerngroß, Sterilisation und Kastration als Hilfsmittel im Kampfe gegen das Verbrechen Emil Sidler-Brunner, Englische Politik in neutraler Beleuchtung Adolf Menzel, Naturrecht und Soziologie Publications of the American Sociological Society Apparat Editorischer Bericht Bibliographie (auch: Drucknachweise der edierten Texte) . . Register der Publikationsorgane Personenregister Sachregister Plan der Tönnies-Gesamtausgabe

605 611 612 616 617 618 622 623 627

628 638 641 642 647 649 719 761 765 789 807

Inhalt nach Sachgebieten Der Wissenschaftler Soziologie und Nationalökonomie Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie Nemesis Individuum und Welt in der Neuzeit [Nation und Nationalitäten] [Die moderne Nation] [Der Begriff der Nation] Richard M. Davis, Psychological Interpretations of society Charles A. Ellwood, Sociology in its psychological aspects Publications of the American Sociological Society Statistik [Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1843 bis 1907] [Populäre „Statistik"] Der Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche . . . . [Der statistische Hochschulunterricht] [Der Rückgang der Geburten und Sterbefälle] Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung . . Wieviele Einwohner hatte das Deutsche Reich am 1. Januar 1915, wie viele wird es am Ende des zweiten Kriegsjahres zählen? Havelock Ellis, Geschlecht und Gesellschaft Past. Johs. Forberger, Moralstatistik u. Konfession Moralstatistik des Königr. Sachsen Hans W. Gruhle, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität Dr. O. Kürten, Statistik des Selbstmordes im Königr. Sachsen Henri F. Sécrétan, La population et les mœurs

3 295 299 372 374 375 612 618 642 177 245 288 333 337 419

519 593 601 605 616 623

Philosophie Rudolf Euckens „Grundbegriffe der Gegenwart" in neuerer Fassung 113

X

Inhalt nach Sachgebieten

[Das stoisch-christliche Naturrecht] Bürgerliche und politische Freiheit Rousseau und wir Atheismus im Wandel der Zeiten Der Staatsmann und die Ethik

200 223 251 355 394

Geschichte Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert Das Charakterbild eines Königs Vor hundert Jahren

119 259 206 543

Eugenik Der erste allgemeine Rassen-Kongreß Vorurteile gegen den Rassenkongreß Der erste internationale Rassenkongreß in London Eine Umschau [Schutz der Schwachen] Nachreden des Rassenkongresses Geza von Hoffmann, Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Friedrich Ludwig Gerngroß, Sterilisation und Kastration als Hilfsmittel im Kampfe gegen das Verbrechen

154 157 185 197 247

628

Homo Politicus Allgemeine Politik „Die Front gegen Rechts!" [Klassenjustiz] [Judentaufen] Der Staatsmann und das Leben Nationalgefühl Krieg Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung Eindrücke von Dänemark Der Friede Aus einem Kriegs-Briefwechsel Der letzte Sprung des alten Löwen [Englische Weltpolitik]

216 221 242 377 404 11 480 485 497 507 511

Inhalt nach Sachgebieten

XI

An die Eheleute Webb Offener Brief an die Herausgeber des „New Statesman" [Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit] Emil Sidler-Brunner, Englische Politik in neutraler Beleuchtung Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht . . . . Deutschlands Platz an der Sonne Ein Briefwechsel englischer Politiker aus dem Jahre 1915. Vorwort Marokko und der Weltkrieg Das Recht auf Kolonialbesitz Eine Diskussion englischer Kolonialpolitiker über die Zukunft der deutschen Kolonien

526 534 638 538

561 577

585

Wirtschafts- und Sozialpolitik, Genossenschaftswesen Neutralität und Politik Geld und Genossenschaft Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat Referat, erstattet auf dem III. Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie . . . Die Sozialpolitik nach dem Kriege

144 347

413 564

Kultur- und Bildungsfragen Die Akademie der Zukunft 160 Science and Art, Literature and the Press 163 Vom Keplerbunde 210 Die neuesten Angriffe gegen den Verein für Sozialpolitik. Brief an Gustav Schmoller 237 Eine Freidenker-Hochschule 492 Über einzelne Persönlichkeiten Harald Höffding zum 11. März John Lubbock [August Bebel] Professor Friedrich Reuter. Zu seinem 70. Geburtstage Adolf Wagner Zum 80. Geburtstag (25. März 1915)

339 359 361 . . 369 514

Abkürzungen und Siglen Aufgenommen wurden sämtliche in Text oder Anmerkungen vorkommende Abkürzungen und Siglen, bis auf die häufig abgekürzten Vornamen und gel. auch Nachnamen; denn diese erscheinen in Tönnies' Text selbst oder in den Anmerkungen dazu, sonst im Personenregister (s. S. 767 — 790). Ebenfalls nicht aufgelöst werden von Tönnies abgekürzte bibliographische Angaben, siehe dazu die Bibliographie (S. 719 — 761). Kursive Abkürzungen bezeichnen Siglen tönniesscher Werke. Kursiviertes in den Erläuterungen zeigt nichtdeutsche Wörter an (fehlt ein Hinweis, so entstammt es dem Englischen). Abkürzungen zu Satzbeginn haben eine Majuskel, diese Form wird hier nicht aufgeführt.

A. a. a. O. Abh. Abs. Abschn. Abt., Abtl. a.d. a. D. ADB afgh. ägypt. a. M. A. M . amerik.

angl. Anm. ao. App. arab. Art. a. T. Aufl. Aug. Ausg. Az.

Auflage am angegebenen Orte Abhandlung(en) Absatz Abschnitt Abteilung aus dem ausser Diensten Allgemeine Deutsche Biographie afghanisch ägyptischer am Main Arno Mohr amerikanisch amicitia [lat.: Freundschaft, -bündnis] anglikanisch Anmerkung ausserordentlicher Appendix arabisch Artikel aufs Tausend Auflage August Ausgabe Aktenzeichen

brit. bzw.

Baccalaureus, Bachelor Band, Bände bearbeitet belgisch Berlin besonders Bürgerliches Gesetzbuch blühte (hist.-fachsprachlich svw. „wirkte") britisch beziehungsweise

ca. Cd. Ceylon, ch. chin., chines. Chr. christl. Cic. Cie. Col.

capitel circa Correspondence ceylonesisch Chapter, chapter chinesisch Christus christlicher Cicero Compagnie Colonel

d. d dän.

der, die, das; des pence dänisch

B. Bd.(e.) bearb. belg. Berl. bes. BGB. bl.

XIV Darstellgn. das. Dec. ders. Dez. DGS d. Gr. d. h. d.i. Diet. Nat. Biogr. Dir. d. J. d. M. DNB Dr. D. R. d. Rh. DRP dt. e. eB ebd. ed., ed. ED Edinb. Rev. E. K. Enc. (Encycl.) Brit. engl. Engl. Hist. Rev. erklär. etc.

und Siglen Darstellungen daselbst December derselbe Dezember Deutsche Gesellschaft für Soziologie der Grosse das heisst das ist Directory of National Biography Direktor des Jahres, des Jüngeren des Monats Directory of National Biography Doktor Deutsches Reich des Rheins Deutsche Reichspartei deutsch eine editorischer Bericht ebenda ediert, edited, edition, édition Erstdruck Edinburgh Review Ethische Kultur Encyclopedia Britannica

Exz.

englisch English Historical Review erklärenden et cetera [lat.: und so weiter] Evangelisch Ehrwürdige Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung, 1915 Exzellenz

f. F. Feb. ff.

folgende (Seite); für Folge Februar folgende (Seiten)

Ev., ev. Ew. EWpo

fr. Fr. frz. Frhr. Fs. FTG

Fragment Franken, Francs französisch Freiherr Fürst Ferdinand-TönniesGesellschaft

CBB

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung, 1914 gebunden, geboren Gegenwart Geheimer Rat gelegentlich gesamt Geschichte gestorben gegebenenfalls Gewerbeordnung griechisch Grossherzog Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887

geb. Geg. Geh. Rat gel. ges. Gesch. gest. ggfGO gr., griech. Großhzg. GuG

Heft H. Hektar ha Herausgeber Hg. herausgegeben hgghist., histor. historisch(en) Hist. History hl. heilig(es) holl., holländ. holländisch Hon. Honorable (Ehrenwerter) Herr Hr. Hw. Hauptwerk HW, HWB Handwörterbuch [der Staatswissenschaften] i. ib. id. i. H. III. ILP ind. inkl. ital.

im, in ibidem [lat.: ebenda] idem [lat.: der-, dasselbe] in Holstein Illinois Independent Labour Party indisch inklusive italienisch

XV

Abkürzungen und Siglen i. V.

in Verbindung

Jahrb. Jan. jamaik. jap.

Jahrbuch Januar jamaikanisch japanisch

JgJhs. jun.

Jahrgang Jahrhunderts junior

Nov. Nr. N. St. nouv. Oct.

K. K., Kap.

Königlichen Kapitel

K. d. B. kath. kg Kg. Kgl., Königl. Königr.

Kreis der Bezogenen katholisch Kilogramm König Königlich

Kirchengesch. krit.

Königreich Kirchengeschichte kritischen

£

Pfund Sterling

Lael.

Laelius

lat.

lateinisch

1. c.

locum citato [lat.: am angeführten Ort] Uber [lat.: Buch, Schrift]

lib.

Nordd. Norddeutscher Nordd. Allgem. Norddeutsche Allgemeine [Zeitung] November Nummer New Statesman nouvelle [frz.]

October

österr.

österreichisch

o. J . Okt. ord.

ohne Jahrgang, ohne Jahr Oktober ordentlicher

Orig.

Original

o. V.

ohne Verfasser

PPari.

page part [engl.]

Pari. Reg. Past.

Parliamentary Pastor

p. c. PD

post christum

Pf., Pfg.

Pfennig

Pfd. Ster.

Pfund Sterling

Philos.

Philosophie

pol.

polnisch

port.

portugiesisch

Pr., Preuß.

Preußen

Parliamentary

Liberaler Literaturverzeichnis

preuß.

preußisch

lt.

laut

Prof.

Professor

Proz.

Prozent

q.

questio

mit, Mit

m.

männlich

M . , Mk. M . A.

Mark Master of Arts, Magister Artium [lat.] Magnif. Magnifizenz m. a .W. mit anderen Worten MdR, M . d. R. Mitglied des Reichstags

[lat.]

Privatdozent

Lib. Lit.verz.

m., M .

Register

[lat.: Frage]

rec.

recensuit [(lat.: er hat es

Red.

durchgesehe[n] Redaktion

reg.

regiert (e)

Reichsfrhr.

Reichsfreiherr

resp. RGE

Mitgl. M . P.

Mitglied Member of

n.

nächste

röm.

respektive Entscheidung des Reichsgerichts römisch

neuseeld.

neuseeländisch

rum.

rumänisch

NL

Nachlass

russ.

russisch

No.

Number, Nummer

RV

Reichsverfassung

Parliament

XVI

Abkürzungen und Siglen

siehe Seite; Sankt schematische schottisch Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie schwed. schwedisch Schweiz. schweizerisch S-D Sozialdemokratische Partei Deutschlands sen. senior Sept. September Sess. Session SHAgr. Studie zur schleswigholsteinischen Agrarstatistik SHLB Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Societas Jesu s. J. s. n. siehe nächste [Seite] s. 0. siehe oben sog, sogen.. sogenannte soz. sozialen Sozialdemokrat, sozialdemokratisch Sp. Spalte span. spanisch spätröm. spätrömischer SPD, S-D Sozialdemokratische Partei Deutschlands SSK Soziologische Studien und Kritiken, 1 9 2 5 - 1 9 2 9 St. Sankt Stat., Statist. Statistisches St.W. B. Deutsches Staatswörterbuch s. u. siehe unten südafrik. südafrikanisch s. v. sub verbo [lat.: bei dem Wort] svw. soviel wie

Tübing. türk.

Tübingen türkisch

u. u. a.

und unter anderem, und andere, unter anderem Universitätsbibliothek und die und dergleichen (mehr) und eine über Übersetzer(s) unter dem Titel umgearbeitete University, Universität Vereinigte Staaten von Amerika und so weiter

t., tom. T. Tab. Tauchn. TG Thl. Tl., Tie. Trin. College

Wirkl. Geh. wiss.

weiblich Wörterbuch [der Volkswirtschaft] Wirklicher Geheimrat wissenschaftlich

z. Z. z. B. zit. z. T.

zur Zeitschrift zum Beispiel zitiert zum Teil

s. S. schemat. schott. SchrDGS

tome [frz. ] Tausend Tabelle Tauchnitz Tönnies-Gesamtausgabe Theil Teil, Teile Trinity College

UB u. d. u. dgl.(m.) u. e. üb. Übers. u. d. T. umgearb. Univ. USA usw. v. v. a. v. Chr. verb. Verf. v. H. VerhSoz Verl. Verw. vgl. vmtl. Völkerr. vol., Voll. Volksw. vorm. Vorw. w. WB

von vor allem vor Christus verbesserte Verfasser vom Hundert Verhandlungen des deutschen Soziologentages Verlag Verwaltungsvergleiche vermutlich Völkerrecht Volume(s) Volkswirtschaft vormals Vorwort

Vorwort Ferdinand Tönnies wird noch heute — 1999 — nur als Soziologe und einer ihrer Begründer in Deutschland wahrgenommen. „Gemeinschaft und Gesellschaft", das große Hauptwerk aus der Frühzeit der Schaffenskraft stammend, ist Maßstab dieser Einschätzung geblieben. Die weitere Beurteilung der geistigen Situation des Gelehrten geht von dieser Schrift aus und führt auf diese zurück. In ihr spiegelt sich der Ruhm Tönnies'. Ein Werk, in dem die Elemente des Gesellschaftlichen als einer objektiven Tatsache und des Soziologischen als einer geistigen Tätigkeit, sich wissenschaftlich auf diese Tatsachen zu beziehen, zwar nicht neu entdeckt, doch neu systematisiert und durchdacht worden sind. Alles andere verblasste dabei und verschwand im Nebel der Geschichte, mitsamt den wenigen Erinnerungsfetzen, die davon noch übrig geblieben waren und die von Zeit zu Zeit hier und da noch auftauchten. Wer den Textkorpus des hiermit vorgelegten Bandes 9 der T G in Augenschein nimmt, der das Tönniessche Schaffen zwischen 1911 und 1915 dokumentiert, wird dies bestätigt finden. Keine der hier abgedruckten Schriften dürfte noch hinlänglich bekannt sein. So wird der noch unkundige Leser, aber auch der Fachmann erstaunt sein, mit welchen Themen sich Tönnies in dieser Zeitspanne befasst hat. Man wird als Leser seinen Horizont erweitern müssen! Gewiss, auch in dieser Phase seines Wirkens hat Tönnies der Soziologie gedient und durch verschiedene Aufsätze, Rede- und Diskussionsbeiträge zu ihrem Nutzen und Fortkommen zu verhelfen gesucht. Aber das war nur eine Seite seines Schaffens. Die Texte dieses Bandes werden der Vergessenheit entreißen, dass Tönnies Statistiker, Nationalökonom, Rechtsgelehrter, Historiker, Philosoph, Essayist und politischer Schriftsteller in einem war. Seine Arbeiten mit dem größten wissenschaftlichen Anspruch, die in Band 9 vorgelegt werden, sind statistische, keine soziologischen. Tönnies war seit dem 31. 12. 1908 als Professor verpflichtet, die wirtschaftlichen Staatswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Statistik zu vertreten, im Hauptberuf also eher Nationalökonom und Statistiker als Soziologe. Uberhaupt muss man indes festhalten, dass die Anzahl der rein wissenschaftlich-systematischen

Arbeiten,

auf deren Förderung

Tönnies

XVIII

Vorwort

stets so großen Wert gelegt hat, durchaus in diesem Zeitraum spärlich ausfällt. Tönnies überzeugt eher als Essayist. Mit dieser literarischen Form bewaffnet, reiht er sich in die großen intellektuellen und politischen Debatten der Zeit ein und bringt seine Ansichten höchst vernehmlich zum Ausdruck. Der Ausstoß an größeren und kleineren Beiträgen ist enorm; diese Tatsache wird auch nicht dadurch erschüttert, dass manche Artikel in anderen Organen nachgedruckt worden sind bzw. im Vorabdruck erschienen. Das hebt sogar das Ansehen des Autors. Im Editorischen Bericht ist festgehalten, dass Tönnies ein gesuchter Autor war. Mancher Zeitschrift hat er die Treue gehalten und auf Einladung immer wieder Beiträge abgeliefert. Das Spektrum der Themen ist, wie gesagt, weit gespannt. Tönnies nimmt kritisch Stellung zu den Paradigmen der die Gemüter erhitzenden Rassentheorien, wonach es eine rassische Determiniertheit individueller Fähigkeiten und Schwächen gebe. Seine Einlassungen sind hauptsächlich ethisch gestimmt. Tönnies' Vortrag auf dem internationalen Rassenkongress 1911 in London weist ihn zudem als entschiedenen Kosmopoliten aus. Die Bestimmung menschlichen Handelns aus naturwissenschaftlichen Bestimmungen heraus, wie es um die Jahrhundertwende fühlbar war und wie es radikal vor allem der Monismus forderte, ist immer wieder Gegenstand seiner Gedankengänge. Stets kommt der Kieler Gelehrte auf ethische Grundsatzfragen und auf die ethischen Konsequenzen individuellen, wissenschaftlichen und politischen Handelns zu sprechen. Seine Mitgliedschaft in der Gesellschaft für ethische Kultur und seine Veröffentlichungen in deren Blatt ist äußeres Zeichen einer Haltung, die davon geprägt ist, in der Begründung und Beachtung ethischer Regeln eine zumindest geistige Vervollkommnung menschlicher Existenz anzustreben. In vielerlei Hinsicht erscheint Tönnies als Repräsentant einer „Aristokratie des Geistes", der seine Vorstellungen und Ideale einem breiten Kreis nahezubringen sucht. Aber er erscheint keineswegs als jemand, der nicht wüßte, dass die gesellschaftlichen, geschichtlichen und politischen Prozesse und Einflussfaktoren mit bedacht und untersucht werden müssen. So engagierte sich Tönnies sehr stark in der Genossenschaftsbewegung und verschreibt sich sozialethischen Problemen. In allen strittigen Fragen vertritt Tönnies einen festen, unzweideutigen Standpunkt, Halbheiten sind seine Sache nicht, und Halbwahrheiten verabscheut er. Doch selten ist die Sprache radikalisiert, ins Marktschreierische abgleitend (wie bei manch einem seiner Kollegen); irgendwie ist Tönnies immer um Sachlichkeit bemüht.

Vorwort

XIX

Doch Tönnies versteht auch glänzend zu polemisieren, und das vorzugsweise auf dem Gebiet der Politik. Seine geistige Unabhängigkeit wie seine soziale Ader bringen es mit sich, dass sich seine Polemiken zunächst gegen konservatives und reaktionäres Gedankengut und Gehabe richten. Dies alles wird aber dann überlagert und überragt durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, das Schlüsselereignis der Epoche. Die Kriegsjahre 1 9 1 4 / 1 5 nehmen Tönnies' Energien derart in Beschlag, dass seine Beschäftigung mit anderen Problemen, vor allem wissenschaftlichen, brachzuliegen scheinen. In den diesbezüglichen Texten ist es vor allem die Rolle Englands, die Tönnies in seinen Bann schlägt und ihn zu Zornesausbrüchen verleitet. Hierbei offenbart Tönnies sein wahres Können als streitbarer Zeitgenosse, weil seine schneidenden Invektiven gegen das „perfide Albion" stets mit einem immensen historischen Wissen gepaart sind. Seine beiden überragenden Themen sind dabei die historische Stellung Englands in der Welt seit dem 16. Jahrhundert sowie seine Rolle in Bezug auf die belgische Neutralität bzw. deren Verletzung durch das Deutsche Reich. Beides stellt er an den Pranger, ihnen hat er seine einzige Monographie in diesem Zeitraum gewidmet. Insoweit bleibt Tönnies Sohn seiner Zeit und den „Ideen von 1 9 1 4 " , gewissermaßen die „Rechtfertigungslehre" des deutschen Kriegseintritts und des Durchmarschs deutscher Truppenteile durch Belgien, wie ganz selbstverständlich verhaftet. Das gehörte zum guten Ton, nicht nur eines bürgerlichen Intellektuellen. Wir wissen heute unvergleichlich mehr über Schuld und Unschuld am Ausbruch des Weltkrieges, über Wahrnehmungen und Fehlwahrnehmungen der Beteiligten. Tönnies konnte sich lediglich durch Zeitungslektüre informieren oder aus den amtlichen Dokumenten, die freilich die eigene Politik beschönigend wiedergaben, schöpfen. Er war, wie viele andere auch, von der Unschuld Deutschlands zutiefst überzeugt. Das verdeutlichen die entsprechenden Texte recht plastisch. Wir müssen an dieser Stelle jedoch schweigen, denn wir wollen ja nicht interpretieren, sondern lediglich auf die Lektüre hinführen. Aber wenigstens dürfen wir hier festhalten, dass auch bei der Verteidigung des eigenen Vaterlandes die Grenze zur Maßlosigkeit nie überschritten wird. Tönnies schwadroniert nicht wild drauf los, wie viele Annexionisten und Militaristen, die die Amtsstuben, die Katheder, die Redaktionen und die Stammtische bevölkern. Sein Urteil, mit dem er, auch gegenüber Freunden und Bekannten aus dem Ausland, nicht hinterm Berg hält, ist stets an den geschichtlichen Tatsachen orien-

XX

Vorwort

tiert, wenn auch diese gelegentlich recht willkürlich ausgewählt worden sind. Nicht nur die philosophische Hermeneutik, auch die Editionsphilologie lehrt, dass bei jeder Edition, und wenn diese noch so objektivistisch angelegt zu sein scheint, ein Moment der Auslegung einhergeht. Es ist eine Illusion zu meinen, man könne das „reine" Material präsentieren und nichts als dieses. Editionsarbeit ist prinzipiell von interpretatorischer Art. Trotzdem war der Herausgeber sehr darauf bedacht gewesen, über die Prinzipien der T G hinaus der Präsentation keine bestimmte Richtung zu geben. Der Leser mag das an den Stellen, wo dies möglich gewesen wäre, nachprüfen, nämlich im Editorischen Bericht und in den Anmerkungen zu den einzelnen Texten. Der Herausgeber hat sich bemüht, von urteilenden Wendungen hier gänzlich Abstand zu nehmen, um dies den eigentlichen Interpreten von Tönnies' Schriften zu überlassen. Wo dies der Leser nicht zu erkennen vermag, so möge er dies dem Herausgeber zur Last legen, auch wenn bei diesem kein Vorsatz vorgelegen hat. Das Zustandekommen dieses Bandes lastete auf vielen Schultern. Der Herausgeber ist zahlreichen Personen und Institutionen zu großer Dankbarkeit verpflichtet. In erster Linie dankt der Autor Lars Clausen und Carsten SchlüterKnauer, die ihm einmal überhaupt den Zugang zur T G ermöglicht haben und die zweitens aufmerksame Leser des Editorischen Berichts waren. Beide haben dem Herausgeber zahlreiche Hinweise und Verbesserungsvorschläge an die Hand gegeben. Zu danken ist Rolf Fechner, zu dem der Herausgeber mit seinen vielfältigen großen und kleinen Problemen kommen konnte. Sein unerbittliches Korrekturlesen, Redigieren

und

seine Hilfestellung bei der Beseitigung vieler formaler Hürden haben den Herausgeber sicherlich vor mancher Blamage verschont. Unterstützung beim Korrekturlesen fand er auch dankbar bei Susanne Langbein, Angela Leifeld, Swana Boydine Runge und Stephan Müller. Jürgen Zander, der Nachlassverwalter des tönniesschen Werkes in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek zu Kiel, und seine Mitarbeiterin Margit Konrad haben sich große Verdienste um diese Ausgabe erworben. Beide haben mich bestens vor Ort betreut und mir umfängliches Material in Kopien zur Verfügung gestellt. Jürgen Zander hat darüber hinaus, als wohl der beste Kenner des tönniesschen Schriftzuges, wertvolle Entzifferungsarbeit geleistet. Dieter Haselbach hat mir in Deutschland nicht greifbare Literatur aus England besorgt. Günther Meckenstock von der Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel, Susanne Weigelin-Schwiedrzik

Vorwort

XXI

vom Sinologischen Seminar der Universität Heidelberg sowie Frank Osterkamp (Kiel) dankt der Herausgeber für spezielle Sachhinweise. Weiterhin möchte der Herausgeber den folgenden Institutionen und ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen seinen Dank aussprechen: dem Stadtarchiv Krefeld; der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (dort insbesondere dem Standortkatalog der deutschen Presse-Mikrofilmsammlung; dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn; dem Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung in Göttingen; dem Institut für Zeitungsforschung in Dortmund; dem Statistischen Amt des Kantons Zürich; der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt a m Main. Immer wieder zu danken ist dem Land Schleswig-Holstein, ohne dessen Förderung die Tönnies-Gesamtausgabe nicht zu realisieren wäre; ebenfalls der Familie Tönnies, die der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e. V. in Kiel die Rechte anvertraute. Wenn der Satz stimmt, dass alle Helferinnen und Helfer ihre Sache richtig gemacht haben, der Herausgeber dagegen für alle Fehler geradezustehen hat, dann entspricht dies kollegialer Selbstverständlichkeit. In jedem Falle erhofft sich der Herausgeber eine geneigte Öffentlichkeit — im Sinne Ferdinand Tönnies'. Heidelberg, im Juli 1999

Arno Mohr

I. Monographien

Leitfaden Vorlesung über theoretische Nationalökonomie

I. Die Tatsachen und ihre Zusammenhänge A. Die Tatsachen des

Konsums

1. Allgemeinheit und Notwendigkeit — das Leben — Funktion und Ernährung — Bedürfnisse und Begierden — Güter und Uebel — Befriedigung — Sättigung — Unersättlichkeit — Vorrat — Besitz — Notwendiges — Nützliches — Angenehmes — Schönes — und die Gegenteile. 2. Arten — Einteilung a) nach Gegenständen — materieller und immaterieller Konsum — Sachen und Leistungen — Raum und Zeit — b) nach Wirkungen auf die Gegenstände — Verzehren — Verbrauchen — Gebrauchen — Genießen — Abnutzen — Opfern — Veränderungen der Qualität — Verschwenden — Vergeuden — Zerstören — Meinungskonsumtion — Geldkonsumtion — Zinskonsumtion — Ueber- und Unterkonsumtion. 3. Konsum als Tätigkeit — Genuß des Spieles, der Jagd und anderer okkupatorischer Tätigkeiten — der Arbeit — des Müßiggangs — Anstrengung — Verhältnis von Mühe und Genuß — der Gegensatz — die Verneinung — Wildheit und Kultur — Kosten und Berechnung. 4. Konsum und Eigentum — Nützlichkeit und Seltenheit — Ueberfluß und Mangel — Reichtum und Armut — Luxus und Not — Einkommen — Naturalien und Geld — Renten — Zinsen — Handelsgewinn — Arbeitslohn — Verteilung — in der Haushaltung — in der Volkswirtschaft — Verteilung und Eigentumsrecht — gemeinsame Güter — Geschenke — Gastfreundschaft — Gegenseitigkeit — Abgaben — Wohltätigkeit — Almosen — Stiftungen — Bestechung — Reklame — Trinkgeld — Leihen 1 Die Tatsachen

und ihre Zusammenhänge:

Veröffentlicht als S e p a r a t d r u c k unter d e m

Titel „Leitfaden einer Vorlesung über theoretische N a t i o n a l ö k o n o m i e " (als M a n u s k r i p t g e d r u c k t ) , Eutin (Struve Buchdruckerei) 1911. Tönnies hielt die Vorlesung „Theoretische N a t i o n a l ö k o n o m i e " im Wintersemester 1911/12 „ p r i v a t i m " , dienstags bis freitags jeweils 15 — 16 Uhr. D a n e b e n las er über „ E i n f ü h r u n g in d a s S t u d i u m der Statistik", ebenfalls „ p r i v a t i m "

(mittwochs

12—13 Uhr); im Staatswissenschaftlichen

Institut

(III. Abteilung: Statistik) veranstaltete Tönnies „ Ü b u n g e n ü b e r Bevölkerungs- und M o ralstatistik", „publice", freitags 16 — 18 U h r n a c h m i t t a g s (lt. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königl. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im W i n t e r h a l b j a h r 1911/12 v o m 16. O k t o b e r 1911 bis 15. M ä r z 1912. Kiel 1911. D r u c k von Schmidt & Klaunig, S. 25.

6

Monographien

— Mieten — Pachten — Stehlen — Rauben — Bitten — Betteln — freie Güter und freie Dienste — Tendenzen der Entwicklung. 5. Haushaltung — Wirtschaft — Tätigkeit — männliche und weibliche — Einkommen und Auskommen — die vernünftige Wirtschaft — das ökonomische Prinzip — Sparen und Schonen — Erwerben — Haushaltung von Körperschaften — von Gemeinden und Staaten — Staatswirtschaft — Volkswirtschaft — Weltwirtschaft — Naturalwirtschaft und Geldwirtschaft — Kreditwirtschaft — Tausch zwischen Einzelwirtschaften — zwischen Volkswirtschaften — Nationalreichtum und Nationalökonomie — Weltreichtum und Weltökonomie. 6. Die produktive Haushaltung — Oekonomie — Landwirtschaft — der Oikos — die Gemeinde — Verhältnis zum Austausch — Kauf — Teilung der Arbeit — die sterile (unproduktive) Haushaltung — Entwicklung von Hauswirtschaft zu Tauschwirtschaft — von Gemeinschaft zu Gesellschaft. 7. Produktiver und unproduktiver Konsum — Stoffe — Halbfabrikate — Relativität — Instrumente — Werkzeuge — Maschinen — Arbeit als Konsum — Technik — das Veralten — Destruktiver Konsum — destruktive Geräte — Kriegstechnik. 8. Konsum und Markt — Angebot und Nachfrage — Preis — Wert — subjektiver und objektiver Wert — Gebrauchswert und Tauschwert — Affektionswert und Marktwert — Austausch von Aequivalenten — das Wertproblem — der Grenznutzen — Handel und Konsum — Konkurrenz und Monopol — der richtige Preis — Preistaxen — Wohlfeilheit und Teurung — Geld und Ware — Geldwert und Warenwert — Münze und Währung — Geldsurrogate — Wesen der Ware — materielle und immaterielle Waren — Arbeitskraft als Ware — mobile und immobile Waren — Transport von Waren — von Arbeitskräften — Eigentum und Vertrag — der Arbeitsvertrag — der Arbeitsmarkt — Sklaven — Gesinde und freie Arbeiter — Konsum der Arbeitskräfte. 9. Der Umlauf — Vermittlung — Aufschlag — Gewinn — Geschäft — Großhandel und Kleinhandel — Warenhandel und Geldhandel — Terminhandel und Differenzhandel — Banken — Börsen — Handel und Verkehr — Schiffahrt und Landfahrt — Verkehrsmittel — Posten — Eisenbahnen — Segelschiffe und Dampfschiffe — Verkehr als Arbeit — Markt und Verkehr — Wochenmärkte, Jahrmärkte, Messen — Dauermärkte — Weltmarkt — Personen-, Güter-, Nachrichtenverkehr — Handel und Reichtum — Privatinteresse und Gemeininteresse — Konsum, Umlauf, Verkehr als private und als öffentliche Angelegenheiten.

7

Leitfaden

10. Gemeinschaftliche — gesonderte — gesellschaftliche Konsumtion — Bedingtheit durch Sitte und Religion, Mode, Gesetz, öffentliche Meinung — Verbindung und Scheidung von Konsumtion und Produktion — Konsumvereine — genossenschaftliche Konsumtion und Produktion — Gesamtansicht der Konsumtion im Verhältnis zur Produktion — die Geldform und der „Zwischenhandel" — die scheinbaren und die wirklichen Vorgänge — Austausch und Profit — Rentabilität und Produktivität. 11. Konsum und Bevölkerung — Nahrungsspielraum — Dichtigkeit — Expansion — fortschreitende, stationäre, rückschreitende Bevölkerung — Untervölkerung und Uebervölkerung — Stadt und Land — Landflucht — die Großstädte — städtische Nationen — Kolonisation — Auswanderung und Einwanderung — Ab- und Zuwanderung — fluktuirende und flottierende Bevölkerung — Pauperismus — Vagabondage — Kriminalität.

B. Die Tatsachen der

Produktion

1. Produktion als Tätigkeit — Naturprodukte und Kunstprodukte — Jagd, Fischerei, Tierpflege, Hackbau, Ackerbau, Speisebereitung, Verfertigung von Häusern, Kleidern, Geräten, Waffen, Schmuckgegenständen — Wegebau und Wasserbau — besondere Bedeutung von Spinnen und Weben — von Kohle und Eisen — die Produktionsfaktoren. 2. Arbeit — Handarbeit und Hirnarbeit — materielle und immaterielle Produktion — Handwerke und Künste — mechanische und chemische Tätigkeit — Werkzeuge und Maschinen — die produktive Technik — Landwirtschaft und Stadtwirtschaft — Verhältnis der Produktion zum Handel — Handel und Industrie — die Produktionsfaktoren — Produktionswege und Produktionsstufen — Produktionsertrag — Produktivität der Arbeit — der abnehmende Bodenertrag — der Betrieb — die Kooperation — Größe der Betriebe — gemeinschaftliche und gesellschaftliche Arbeit — Eigentum und Arbeit — Arbeit und Arbeitsmittel. 3. Waren-Produktion — Geld — Kredit — Wechsel — Wechselkurse — Wechsel als Waren — die Warenqualität — die relative und die absolute Ware — der Absatz — der entfernte Markt — der internationale Austausch — Export und Import — Handelsbilanz — Zahlungsbilanz — Handelskrisen — Ueberproduktion — Unterkonsumtion — Geldkrisen — gebundener Handel und Freihandel — Finanzzölle und Schutzzölle —

8

Monographien

Ausfuhrprämien und Ausfuhrzölle — Handelspolitik und Verkehrspolitik — Produktion als private und als öffentliche Angelegenheit — Regiebetriebe — Zwangsgemeinwirtschaften. 4. Kapitalistische Produktion — kapitalistische Warenproduktion — Wesen des Kapitals — Leihkapital und Unternehmungskapital — Produktionskapital — die Produktivität des Kapitals — die Produktion des Kapitals — stehendes und umlaufendes Kapital — Produktionskosten und Preise — Kapitalismus in Industrie, Handel, Verkehr, Landwirtschaft — Kapital und Unternehmergewinn — Umschlag des Kapitals — Vergesellschaftung des Kapitals — Handelsgesellschaften — Aktiengesellschaften — Kartelle — Trusts — Kapitalherrschaft — Produktivgenossenschaften. 5. Kapital und Boden — Ackerboden — Waldboden — Bergwerksboden — Boden als Kapital — die Mobilisierung des Grundeigentums — Steuer und Rente — die Grundrente — die Waldrente — die Bergwerksrente — Rente und Kapitalgewinn. 6. Kapital und Arbeit — Arbeitsertrag und Arbeitslohn — Arbeitslohn und Arbeitszeit — Gegensätze und Kämpfe — Strikes und Aussperrungen — Genossenschaften und Unternehmerverbände — Ursachen und Wirkungen der Lohnhöhe — Lohnhöhe in verschiedenen Zweigen der Produktion — der Gesamt-Lohn — Zeitlohn und Stücklohn — Truck — Tarifverträge — die Gewinnbeteiligung. 7. Produktive und unproduktive Arbeit — Teilung der Arbeit — soziale und technische — Arbeit in Landwirtschaft, Industrie, Handel, Verkehr und in freien Künsten — Hausfleiß — Lohnwerk — Handwerk — Heimarbeit — Manufaktur und Fabrik — Unternehmer und technische Beamte — Frauenarbeit und Kinderarbeit — jugendliche Arbeiter — gelernte und ungelernte Arbeit — feste und Gelegenheitsarbeit — Saisonarbeit — Arbeit mit Werkzeugen — mit Maschinen — Kosten der Arbeitskraft — Arbeitsvertrag und Arbeiterschutz — freiwillige und Zwangsversicherung — Nominallohn und Reallohn — Minimallohn und Lohntaxen — Normalarbeitstag — Ueberstunden und Nachtarbeit — Extension und Intensität der Arbeit — Arbeitslosigkeit. 8. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise — Privatkapital und Sozialkapital — Agrarstaat und Industriestaat — Kommunismus und Sozialismus.

II. Die Lehren und ihre Zusammenhänge A. Die Nationalökonomie

der mittelalterlichen

Kultur

1. Kanonische Jurisprudenz und Nationalökonomie — antike Ursprünge und Anregungen — Xenophon und Plato über Arbeitsteilung — Aristoteles über Gebrauchswert, Tauschwert, Geld — das mosaische Gesetz und das Evangelium — die Sterilität des Geldes — das Wucherverbot und seine Geschichte — das interesse — lucrum cessans und damnum emergens — die Reformatoren — römisches Recht und deutsches Recht. 2. Münzwesen und Münzpolitik — Regentenspiegel — Lehren von Steuern — vom Armenwesen — vom Handel — das Wechselrecht — die Monti — der Getreidehandel — die Finanz.

B. Die Nationalökonomie

der modernen

Kultur

1. Merkantilismus — Politik und Theorie — das Monetarsystem — die Handelsbilance — Colbertismus — Bevölkerung — italienische Autoren — Baco — Hobbes — Mun — Petty — Child — Locke — Berkeley — Hume — Lehren von Geld und Geldwert — Stewart — die Nationalökonomie in Deutschland — Becher — Justi — Sonnenfels u. a. Kameralisten — die Statistik — die Nationalökonomie des Handelsgewinns. 3. Die Physiokraten — Cantillon — Quesnay — Turgot — das laisser faire — die Gewerbefreiheit — Zusammenhang mit dem Naturrecht — die Menschenrechte und die Revolution — die rationelle Landwirtschaft — die Nationalökonomie der Rente. 7 interesse — lucrum cessans, damnum emergens: Begriffe aus dem Römischen Recht (als „Gemeines Recht" bis 1899 in Teilen des Deutschen Reichs noch gültig): interesse: das, was das Interesse des Klägers ausmacht; lucrum cessans: entgangener Gewinn; damnum emergens: aufgetretener Schaden (der objektive Nachteil des Geschädigten). Ii Monti: Dabei handelt es sich um italienische Leih- bzw. Pfandhäuser. Am bekanntesten ist das im Jahre 1472 gegründete „Monte Pio". 17 Becher: Im Original fälschlich: Becker. 19 3. Die Physiokraten: Falsche Zählung im ED.

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Monographien

4. Adam Smith und die klassische Nationalökonomie — Ricardo und seine Schule — Entwicklung der Wertlehre — Malthus' Bevölkerungslehre — die deutsche Freihandelsschule — Bastiat — der Lohnfonds — die Rententheorie — orthodoxe Nationalökonomie des reinen Mehrwerts. 5. Die Reactionen — besondere und allgemeine — die Romantik und der Sozialismus — der christliche Sozialismus — der utopische Sozialismus — der kritische und der liberale Sozialismus — die Revolution und der Sozialismus — Saint Simon — Owen — Fourier — Proudhon — Blanc — Mario — Rodbertus — Lassalle — die Nationalökonomie des Arbeitslohns. 6. Karl Marx — Zusammenhang mit der deutschen Philosophie — mit der politischen Entwicklung — Lehre vom Wert und vom Mehrwert — Anarchie der Produktion — gesellschaftliche Produktion und kapitalistische Aneignung — Krisen und industrielle Reservearmee — Lehre vom Klassenkampf — Entwicklungslehre und historischer Materialismus — Engels. 7. Der Marxismus — andere neuere Doktrinen — Anarchismus — Henry George und die Bodenreform — das Genossenschaftswesen und der Liberalismus — syndikalistische Lehren — Politik und Nationalökonomie überhaupt. 8. Die akademische Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts — insbesondere in Deutschland — Rau — Roscher — Einteilung der Nationalökonomie — die historische Schule — ethische Richtung — Einflüsse des Sozialismus — Kathedersozialismus — Staatssozialismus — Sozialpolitik. 9. Die gegenwärtige Krise in der Wissenschaft — der Methodenstreit — Deduktion und Induktion — Richtung Wagners — Richtung Schmollers — die österreichische Schule — marxistische Einflüsse — Zusammenhänge mit Soziologie — mit Statistik — mit Ethnologie — mit Geschichte — Wirtschaftsgeschichte und politische Geschichte — Religions- und Kirchengeschichte — Zusammenhänge mit Moral und Politik — Ablösung von Werturteilen und praktischen Tendenzen — abstrakte und konkrete — reine und angewandte Wissenschaft — die Stellung über den Parteien.

Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung

Seiner Exzellenz Herrn Prof. Dr. Adolf Wagner Wirkl. Geh. Regierungsrat, Mitglied des Herrenhauses zum 80. Geburtstage (25. März 1915) dargebracht von seinem getreuen Schüler und Verehrer

Vorwort And from hence shall proceed a general diffidence in mankind, and mutual fear one of another. (Und von da wird ein allgemeines Mißtrauen in der Menschheit ausgehen und gegenseitige Furcht vor einander.) Thomas Hobbes. The Elements of Law ed. Tönnies. Ch. XIV, 3.

Dies Büchlein ist verfaßt worden um der Wahrheit willen. Die Zeugnisse der angesehensten englischen Autoren können nicht widerlegt werden. Sie werfen das beste Licht auf die gegenwärtige europäische Krisis. Das Büchlein ist nicht verfaßt worden, um den Nationalhaß zu schüren. Der Verfasser unterscheidet streng zwischen dem englischen Volke und der englischen Weltpolitik. Sogar die jeweiligen Leiter dieser Politik kennen zumeist die treibenden Kräfte dieser Politik nur unzulänglich. 1 Vorwort: Veröffentlichung aus dem Jahre 1915 im Verlag von Julius Springer, Berlin, unter dem Titel „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" von Ferdinand Tönnies, ord. Professor der Staatswissenschaften an der Universität Kiel. Anscheinend hat Tönnies das Manuskript wohl im Spätjahr 1914 fertiggestellt. Einer Eintragung in seinem Notizheft vom 4. Februar 1915 entnehmen wir, daß ,,[E]rste Exemplare 'Engl. Weltpolitik' „eingetroffen seien" (vgl. NL Tönnies: Cb 54.41:54). Die Schrift stellt eine vom Auswärtigen Amt protegierte und finanzierte Propagandaschrift dar, die dem Zweck dienen sollte, der englischen Außenpolitik seit dem 16. Jahrhundert ein auf Aggression, Unterdrückung und Ausbeutung beruhendes Prinzip zu unterstellen und sie mittels breiter Zitierung englischer kritischer Stimmen zu verurteilen. Das geht jedenfalls aus diesbezüglichen Akten des Auswärtigen Amtes hervor (vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes: R 20788, 20831, 2 0 8 3 4 - 3 5 , 20841, 20843, 20859; R 21291, 21293; NL Brockdorff-Rantzau [Band 3/1]; ein Tönnies betreffender Spezialband (s. Gesandtschaft Kopenhagen: Az.: D II 1: PresseAufklärung-Propaganda) ist nicht erhalten geblieben, er ist wahrscheinlich bei Kriegsende vernichtet worden. Aus Platzgründen berichtet ein gesonderter Aufsatz des Herausgebers über die näheren Umstände dieser Schrift (Mohr 1999). Beachte auch Tönnies' Replik auf eine Besprechung seines Buches hier auf den S. 511—513 ([„Englische Weltpolitik"]). — Weiteres im Editorischen Bericht, S. 653 — 658. 7 The Elements of Law: Vgl. Thomas Hobbes: The Elements of Law and Politic, ed. with a preface and critical notes by Ferdinand Tönnies, London 1889; erneut Cambridge 1928. Die deutsche Fassung erschien 1926 in Berlin. Beachte auch T G , Band 1.

14

Vorwort

Das englische Volk besteht aus sehr verschieden gearteten Teilen. Neben den wirklichen Engländern sind Schotten, Walliser, Iren und die mannigfachen Mischungen dieser Volksstämme vorhanden; dazu Abkömmlinge von Deutschen, Vlamen, Franzosen, Skandinaviern u. a. Außerdem sind Charakter und Denkungsart verschieden nach Tätigkeit oder Müßiggang, Beruf und Stand und sozialer Klasse; also überaus mannigfach und verwikkelt. Freilich werden, noch mehr als in anderen Ländern, die oberen Schichten von den unteren bewundert und nachgeahmt. Die wirkliche Herrschaft in Großbritannien und Irland ruht seit Jahrhunderten in den Händen einer Oligarchie von Grundherren; diese läßt die Spitzen der Handels- und Geldaristokratie neben sich gedeihen und nimmt sie sogar in sich auf; das Verhältnis zwischen beiden Herrschergruppen beruht auf dem stillschweigenden Einverständnis, daß Englands Bestimmung ist, die Erde zu beherrschen und auszubeuten zu beider Bereicherung. Seit 50 Jahren hat die eigentliche Volksmenge, besonders die Arbeiterschaft, auf diese ihre geborenen Herren durch Presse und parlamentarische Vertretung einen wachsenden Einfluß gewonnen in Sachen der inneren Politik. Die auswärtige Politik ist Domäne der Oligarchie geblieben. Das Volk hat nur Recht und Gelegenheit, zuzusehen, Beifall zu spenden — und zu zischen, wenn das Schauspiel vorüber ist. Immer von neuem läßt das Volk sich erzählen und zum Beifall bewegen durch die Behauptung, daß sittliche Gründe maßgebend sind für die Leitung dieser Politik. Wir wollen erwägen und prüfen, wie unbefangene und wissende Engländer, deren Autorität unter ihnen selber nicht angefochten ist, über diese Behauptung sittlicher Gründe der englischen Weltpolitik denken. Ein ausgesprochener Freund der englischen Nation und der englischen Literatur schrieb um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert: „Die englische Nation . . . . ist das schätzbarste Ganze von Menschen, im Verhältnis gegen einander betrachtet. Aber als Staat gegen andere Staaten das verderblichste, gewaltsamste, herrschsüchtigste und kriegserregendste unter allen." Der so schrieb, war der Philosoph Immanuel Kant. (Lose Blätter aus Kants Nachlaß, herausgegeben von Reicke, I, S. 129.) O b ihm die von uns zu befragenden englischen Kritiker Recht geben? — Universität Kiel, Weihnacht 1914. Der Verfasser.

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

I. Die englische Weltpolitik bis zum Falle Napoleons Erster Abschnitt Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, s

vom 16. bis zum 18. Jahrhundert 1.

Die Expansion. Elisabeth, Cromwell, Karl II

31

Bukaniere

34

2.

Handel und Krieg. — Die sittlichen Beweggründe

35

3.

Die Glorie des älteren Pitt — Triumph über Frankreich . . . .

40

io 4.

Der Abfall der nordamerikanischen Kolonien

41

5.

Der Sklavenhandel als Säule des Reiches

43

6.

Die Eroberung Indiens

45

Clive 46. — Warren Hastings 47. — Die Zurückdrängung Frankreichs 49. — Eroberung und Geschäft 50.

Kampf gegen die französische Republik und gegen Napoleon 7.

Angriff gegen die französische Republik — Das europäische Gleichgewicht

8.

Der Raubzug gegen Dänemark

53 55

16

Inhaltsverzeichnis

II. Die englische Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert Dritter Abschnitt Händel in drei Weltteilen

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Allgemeine Betrachtung Afghanistan Der Opiumkrieg und fernere Händel mit China Der Krim-Krieg Die jonischen Inseln Jamaika Der Krieg der Sklavenhalter in Amerika Der indische Aufstand

65 66 5 71 76 78 80 82 10 84

Vierter Abschnitt Der neuere Imperialismus 16. Ägypten Das Bombardement von Alexandria wai 92. — Der Sudan 93. 17. Der Burenkrieg 18. Persien 19. Der Weltkrieg 1914

Eine Parabel

87 88. — Densha-

15 94 99 102 109

Einleitung Warum hat England dem Deutschen Reiche Krieg angesagt? Der König und seine Minister, Schriftsteller aller Art, in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern geben darauf eine helltönende Antwort: Es ist geschehen aus sittlichen Beweggründen! „Wir bekämpfen Preußen im Namen der vornehmsten Sache, für die Menschen kämpfen können. Diese Sache ist das europäische Völkerrecht als der sichere Schirm und Schild aller Nationen, der großen und kleinen, ganz besonders aber der kleinen. Der Lehre von der Allmacht des Staates, der Lehre, daß alle Mittel gerechtfertigt sind, die zu seiner Selbsterhaltung notwendig sind oder scheinen, setzen wir die Theorie einer europäischen Gesellschaft oder wenigstens eines europäischen Vereins von Nationen entgegen; wir setzen entgegen die Lehre von einem europäischen öffentlichen Recht, durch das alle Staaten verbunden sind, die Verträge zu achten, die sie geschlossen haben. Wir wollen und können nicht die Ansicht dulden, daß Nationen ,in der Haltung von Gladiatoren' einander gegenüberstehen; wir setzen uns ein für die Herrschaft des Rechts... Wir sind ein Volk, in dessen Blut die Sache des Rechts das Lebenselement ist." So die 6 Mitglieder der Oxforder Fakultät für neuere Geschichte 1 , die in Anspruch nehmen dürfen, daß ihre Stimme gehört werde. Sie sind die Wortführer einer öffentlichen Meinung, die in Großbritannien weite Verbreitung gefunden hat. Ob auch in Irlandf Wird auch in Irland geglaubt, daß die Sache des Rechts das Lebenselement im Blute des Engländers ist? daß England aus Edelmut, mit Wohlwollen sich der kleinen Nationen annimmt? für sie streitet wider den „Militarismus" um der Humanität und Gerechtigkeit willen? „England tat sein Bestes, um den irischen Handel zu vernichten und den irischen Ackerbau zu ruinieren. Gesetze, von der Eifersucht engli1

Why we are at war. Great Britains Case. 2. ed. revised. Oxford, Clarendon Press 1914, p. 115, 116.

20 6 Mitglieder: Bei den sechs Unterzeichneten handelt es sich um Ernest Barker, Henry William Charles Davis, Charles Robert Leslie Fletcher, Arthur Hassall, L. G. Wickham und Frank Morgan.

18

Einleitung

scher Grundherren eingegeben, verboten die Ausfuhr irischer Rinder und Schafe nach englischen Häfen. Die Ausfuhr von Wolle wurde verboten, damit sie nicht die Profite englischer Wollproduzenten vermindere. So wurde Verarmung dem Fluch der Mißregierung hinzugesetzt, und die Armut vertiefte sich mit dem raschen Anwachsen der eingeborenen Bevölkerung, bis Hungersnot das Land in eine Hölle verwandelte." ... „Die Mordtaten und Tumulte, die von Zeit zu Zeit aus dem allgemeinen Elend und der allgemeinen Unzufriedenheit entsprangen, wurden in rauher Weise unterdrückt durch die herrschende Klasse..." „Eine Weile hielten die protestantischen Landeigentümer, in Oranier-Vereinen zusammengeschweißt, das Land nieder durch schieren Terror und Blutvergießen," „Irland wurde tatsächlich in die Rebellion hineingetrieben durch die gesetzlose Grausamkeit der Oranier-Landmiliz und der englischen Truppen." Dies bezieht sich auf die Zeit, die der Union (1800) vorausgingSind es etwa Zitate, einem Handbuch für irische Agitatoren entlehnt? Nein, es sind die Ausdrücke, welche ein englischer Historiker von allgemeinem Ansehen gebraucht, J. R. Green, M. A., ehemals Examinator in der Schule für moderne Geschichte zu Oxford 2 . Es sind historische Tatsachen. Und die Union? „Kein Ire hat nötig, dem Akte der Union eine moralische Autorität zuzugestehen ... Nach meiner Meinung hat der Engländer viel mehr Ursache, wegen der Mittel zu erröten, wodurch jener Akt erreicht wurde." So der „große alte Herr", William Ewart Gladstone3, vor einem Parlaments-Komitee 1890. Jene Mittel waren Drohungen und Bestechungen größten Stils. Und Irland nach der Union? Irland im 19. und 20. Jahrhundert? — Die Geschichte seiner Bevölkerung redet eine deutliche Sprache. Irland 2

3

A short history of the English People, 19. Thousand. London 1875, p. 786, 88. Das Buch ist in England in mehr als Vi Million Exemplaren verbreitet. Morley, Life of W. E. Gladstone III, 409.

10 Oranier-Vereinen: Im Jahre 1795 wurde die „Orange Society" als protestantischer Geheimbund in Irland gegründet (in Anlehnung an Wilhelm von Oranien bzw. der von diesem gewonnenen Schlacht gegen den 1688 gestürzten katholischen König Jakob II. am 12. Juli 1690 am Ufer des Flusses Boyne, nahe der irischen Stadt Drogheda). 14 Union: Betrifft den „Act of Union"(1800, in Kraft getreten am 1. Jan. 1801), der die Annexion Irlands durch England sanktionierte. 24 Gladstone: Der liberale Politiker setzte sich für die irische „home-rule" ein.

Einleitung

19

besaß 1841 ca. 8,2 Millionen Einwohner oder ca. 97 auf den Quadratkilometer: keine sehr dichte Bevölkerung für die fruchtbare grüne Insel — dieselbe Dichtigkeit etwa, die jetzt Österreich besitzt —. Im Jahre 1911 aber, nach 70 Jahren, war die Bevölkerung von Irland auf ca. 4,4 Millionen oder beinahe auf die Hälfte zusammengeschmolzen. In diesen 70 Jahren hat die Volksmenge aller anderen europäischen Länder fortwährend zugenommen; sie hat sich in manchen verdoppelt und mehr als verdoppelt. In Irland ist sie halbiert worden. Die Dichtigkeit ist von 97 auf 52 gesunken. Will England etwa mit seinem „Verein der Nationen" ebenso auf die übrigen europäischen Nationen wirken, wie es durch seinen Verein mit dem benachbarten Irland auf Irland gewirkt hat? Wie denken die übrigen Nationen über den Segen dieser „europäischen Gesellschaft", deren Vorsitz als Anwalt der Gerechtigkeit England führen will? „Gerechtigkeit für Irland" forderte das Pathos Gladstones. Dreißig Jahre lang mußte gekämpft werden, um eine sichere Mehrheit für ein Gesetz zu gewinnen, das der irischen Nation das Recht, sich selbst zu regieren, zurückgeben wollte. Das Gesetz war endlich beschlossen — und der König von Großbritannien und Irland mußte erklären (im Juni 1914), daß man an der Schwelle des Bürgerkrieges stehe. Die Regierung mußte zusehen, wie die Rebellion planmäßig vorbereitet wurde, wie die Empörung gegen ein Reichsgesetz von englischen Politikern genährt, gerüstet, geleitet wurde, des Beifalls und der Unterstützung einer Partei sich erfreute, deren Stimmenzahl in Großbritannien derjenigen der regierenden Partei ungefähr gleich i s t . . . . „Wir setzen uns ein für die Herrschaft des Gesetzes," sagen die 6 Gelehrten, die vermutlich alle dieser Partei angehören. Und der Sinn dieser Empörung? Der Sinn war und ist, daß Irland nicht sein Recht haben solle, daß es ferner seufzen solle unter der Knechtschaft, die es seit Jahrhunderten gequetscht und erstickt hat, daß ihm die Freiheit der Selbstbestimmung verweigert wird. 16 Pathos Gladstones: Morley, 1905: I, 874 (in einem Brief an François Guizot vom Jahre 1872). 21 Bürgerkrieges: Die „Home-Rule-Bill" von 1912 stieß sowohl auf den Widerstand der (protestantischen) nordirischen „Ulster Volunteers" als auch auf den der nationalistischen irischen „Sinn Fein"; der eskalierende Konflikt wurde durch die Juli-Ereignisse 1914 und den Kriegsausbruch vertagt. 27 sagen die 6 Gelehrten: in: „Why we are at War", 1914: 115. Siehe auch „Englische Weltpolitik" (hier S. 511 ff.).

20

Einleitung

Ob das moralische Argument — so mögen wir die Behauptung sittlicher und rechtlicher Beweggründe für die englische Weltpolitik nennen — auf irische Seelen überzeugend wirke, darf man billig bezweifeln. Wo man diese Politik nicht aus so unmittelbarer Nähe kennen gelernt, oder aber die Eindrücke vergessen hat, da wird jenes Argument immer Glauben finden. Es wird geglaubt, eben weil es gut ist: wenn Menschen nicht zornig oder erbittert sind, glauben sie lieber an gute als an gemeine und böse Beweggründe der anderen; wie sie auch sich selber jene lieber als diese zutrauen. So ist das moralische Argument vorzugsweise auf weibliche Gemüter berechnet und findet in diesen am ehesten Widerhall, teils weil sie sich gern für edle Motive erwärmen und begeistern, teils weil auch gebildete Damen selten eine genaue Kenntnis von diplomatischen Tatsachen, noch seltener eine tiefere Erkenntnis der Geschichte besitzen. Beide Arten des Wissens sind aber notwendig, um das moralische Argument richtig zu beurteilen. Die Volksseele ist der weiblichen Seele ähnlich. Es ist immer schwierig und mühsam, mit dem Verstände die Oberfläche der Dinge zu durchdringen. Es gehören Werkzeuge und Apparate dazu, die nicht jedem zur Verfügung stehen. Hamlet wundert sich, daß einer lächeln kann und immer lächeln und — ein Schurke sein. Aber Hamlets Oheim und Stiefvater lächelt nicht nur. Nein, er führt auch edle, feierliche Reden. Er spricht mit Kummer von seinem verewigten Bruder, den er vergiftet hat, aber mit „weisem Kummer". Sein Denken habe mit seinen Gefühlen gestritten. Staatsklugheit gebot, daß er die verwitwete Königin zum Weibe nahm: „mit einem frohen, einem nassen Auge" . . . . Shakespeare hat mehr als einmal den Heuchler in klassischen Zügen geschildert, der niederträchtige Absichten im Herzen, Honigseim sittlicher Beweggründe und frommer Gesinnung auf den Lippen trägt. Man hat die Heuchelei das Nationallaster der Engländer genannt. Ein berühmter englischer Schriftsteller der neuesten Zeit, Bernard Shaw, bemerkt in seinen Erörterungen über den gegenwärtigen Krieg 4 : 4

„Common sense about the war". London, „The New Statesman" 1914.

21 Hamlet: Vgl. Hamlet, I, 5, 108; „weisem Kummer": ebd., I, 2, 6; „mit einem frohen, einem nassen Auge": ebd., I, 2, 11 (Shakespeare, ed. Delius, 1854: 43, 21).

Einleitung

21

„Wir wissen, daß selbst in Kreisen, die dem englischen Volke am meisten freundlich gesinnt sind, eine Meinung im Umlaufe ist, die dahin geht, daß unsere ausgezeichneten Eigenschaften entstellt werden durch eine unverbesserliche Heuchelei." Er meint, dieser Ruf könne nicht ganz von ungefähr entstanden sein. Insbesondere sei er begründet durch das Verhalten englischer Staatsmänner. Als einen Typus in dieser Beziehung nennt er Sir Edward Grey. In Wahrheit ist der bewußte, absichtlich und fortwährend Komödie spielende — unverschämte — Heuchler eine verhältnismäßig seltene Erscheinung. Die Rolle des Ehrenmannes ist für den Niederträchtigen, die des Sittenstrengen für den Tartüff so schwer durchzuführen, daß er im Leben wie auf der Bühne ziemlich bald entlarvt zu werden pflegt. Viel häufiger, weil viel leichter, ist die halb- oder gar nur viertelbewußte Heuchelei, das Betragen des Mannes, der vielleicht nicht durch sehr böse, aber durch mittelmäßige, gewöhnliche, unschöne Beweggründe geleitet wird, und es versteht, diesen einen schimmernden Aufputz zu geben, sie mit frommen und tugendhaften Reden zu verzieren. Dabei liegt sehr oft eine Mischung der gelobten Schamhaftigkeit mit der getadelten Verstellung zugrunde; denn, wie Lord Bacon in einem seiner Essays treffend bemerkt, Nacktheit des Geistes ist unziemlich wie die des Körpers; man darf hinzufügen: auch bei Kleidern, die den Sinn verhüllen sollen, wird mehr Wert darauf gelegt, daß sie anderen gefallen, als daß sie echt und gediegen sind. Auch wird der Kluge sein Antlitz, das so leicht die wahre Denkungsart verrät, lieber in heilige und scheinbar natürliche Falten legen, als eine unbequeme und nur aus der Ferne täuschende Maske davorbinden. Übung macht auch darin den Meister, und Gewohnheit wird zur zweiten Natur. Diese sonderbare Mischung von Schamhaftigkeit und Heuchelei ist kaum einem Individuum, sicherlich keinem Volke gänzlich fremd. Aber es ist eine merkwürdige Tatsache, daß gerade in der englischen Nation, die im Bösen wie im Guten Stärke und Größe nicht verleugnet, eine ausgeprägte Neigung und eine offenbare Begabung dafür sich findet, und daß englische Politiker, die im Privatleben vielleicht lauter und ehrlich 4 „... Heuchelei":

Vgl. Shaw, 1914a: 6. Der von Tönnies gesperrt gesetzte A u s d r u c k steht

im engl. Original recte [„incorrigible hypocrisy"]. 7 Grey: Vgl. Shaw, 1914a: 7. 21 unziemlich

wie die des Körpers:

„Über Verstellung u n d H e u c h e l e i " (Of Simulation and

Dissimulation, in: Essayes or counsels, civill and m o r a l l , L o n d o n 1625), zit. nach: Bacon, 1861: VI, 388.

22

Einleitung

sind, in Staatsangelegenheiten als Meister in der Kunst sich bewähren, die Sokrates als die besondere Kunst der Sophisten gebrandmarkt hat: der Kunst, durch krumme, gewundene Reden die schlechtere Sache zur „besseren" zu machen. Es ist kaum zufällig, daß die englische Sprache ein besonderes unübersetzbares Wort für diese eigentümliche Haltung des Geistes gefunden hat, die in schrägen, verstohlenen, aber hochtönenden Worten, zur Verschleierung von Beweggründen bestimmt, ihren reinsten Ausdruck findet. Es ist das Wort „cant", das die Sprachgelehrten vom lateinischen cantus herleiten, als ob ein singender Vortrag diese innerlich tief unaufrichtige und doch halbwegs selbstgeglaubte Redeweise erleichtere und begünstige. Denn zum Sonderbaren des cant gehört auch dies. Je öfter er wiederholt, oder je lauter er verkündet wird, um so mehr wird er nicht nur gläubig, ja enthusiastisch aufgenommen, sondern sogar von denen, die ihn ursprünglich erfanden, selbst geglaubt, und um so zuversichtlicher, daher auch um so wirkungsvoller immer von neuem geltend gemacht. Es fehlt den Engländern, unter denen der Wahrheit liebende Mensch keineswegs eine seltene Erscheinung ist, nicht an Selbsterkenntnis in bezug auf die verschämte Heuchelei (wie man das Wort cant vielleicht übersetzen darf). Lord Byron hat sich immer aufs neue mit Widerwillen und Bitterkeit darüber ausgelassen 5 . Eine besondere Schrift, die im Jahre 1887 Sidney Whitman6 über den cant publizierte, gab zu vielen Kommentaren Anlaß. Auch die eifrigsten Anwälte der englischen Ansprüche darauf, die erste Nation der Welt zu sein, müssen eingestehen, daß es 5

Vgl. Countess of Blessington,

k

Conventional

cant,

Gonversations with Lord Byron, passim.

its results

and remedy.

London 1887. Verfasser und Titel waren

meinem Gedächtnis entschwunden. Nach Abschluß dieser Schrift fand ich beide wieder in Moritz

Busch,

Tagebuchblätter

III, S. 221. Busch schrieb — wie immer, im Auftrage

des Fürsten Bismarck — 2 Artikel in den Grenzboten: „Ein böser Geist im heutigen England", Grenzboten 1888, S. 377 ff., 533 ff. Ganz in Übereinstimmung mit meiner eigenen Auffassung finde ich darin die Sätze (S. 534): „Der Ausdruck Cant bezeichnet also Unwahrhaftigkeit mit dem Gefühle, wahr zu reden oder zu sein, Täuschung ande4 der Kunst

...zu

machen-.

Vgl. Protagoras (fr. 6 b): „Es gilt, die schwächere Meinung

zur stärkeren zu machen.", in: Diels, 1903: 518 — 520. 2i Byron: Vgl. Byron, 1893: 12 [„says it (cant — A. M.)] will banish from England all that is pure and good . . . " ; 14: „... in this age of cant and hypocrisy."; vgl. auch S. 34, 124, 274: „In his hatred of what he calls cant and hypocrisy, he is apt to denounce as such all that has the air of severity . . . " .

23

Einleitung

mit dem cant eine eigentümliche Bewandtnis habe. Aber niemand glaubt, daß der cant ausgerottet werden könne. In der auswärtigen Politik und in Kriegen hat er immer gewuchert. Lord Cromer, einer der angesehensten Männer des Landes (obgleich von deutscher Abstammung aus der Familie Baring) nannte noch vor kurzem die Redewendung vom „britischen Geist des anständigen Spieles" (fair play) die cant-Phrase

des

Tages1.

Daß auch die Stürme des gegenwärtigen Krieges (1914/15) ganze Sandberge von cant an den Strand der Tagesliteratur werfen, kann nicht im geringsten Wunder nehmen. Von dem Büchlein der 6 Oxforder Gelehrten ist schon die Rede gewesen. Selbst eine so ernsthafte und geistvolle Wochenschrift wie der New Statesman (geleitet von Herrn Sidney Webb und Frau Beatrice WebbPotter) brachte noch am 24. Oktober einen langen Artikel über die Frage: „Warum gingen wir in den Krieg?" Und die Antwort war: „wegen rer, die zugleich Selbsttäuschung ist." Und ich lerne, daß schon Carlyle

den Cant als

die Kunst, die Dinge scheinen zu lassen, was sie nicht sind, beschrieben hat, „eine Kunst so tödlicher Art, daß sie die, welche sie üben, bis in die Seele hinein ertötet, indem sie über das Stadium bewußter Lüge hinaus zu einem Glauben an ihre eigenen Wahnvorstellungen führt, und sie zu dem denkbar elendesten Zustande herunterbringt, dem, wo man aufrichtig unaufrichtig ist." Carlyle

habe irgendwo ausgerufen (Stellen werden

nicht zitiert): „Cant, du Fluch unserer Nation!" — Das Whitmansche

Buch selber habe

ich bisher nicht kennen gelernt. 7

Lord Cromer,

5 Baring:

Essays p. 9.

Eine evangelische Theologenfamilie der Söhne Franz Barings (gest. 1589). Tei-

lung in eine hannoversche und eine bremische Linie; aus letzterer gingen die englischen Barings hervor. 15 Webb-Potter:

Sidney und Beatrice Webb, führende Mitglieder der sogenannten „Fabian

Society", einer Gruppe sozialistischer Intellektueller; sie plädierten für einen Sozialismus unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Ihr Organ war der „New Statesman", der seit 1911 erschien. 15 Artikel:

„Why did we go to War?", 1914: 53 („.. that Great Britain went to war in

defence of Belgian neutrality"). 17 Carlyle:

Die missfälligen Äußerungen Thomas Carlyles zum Cant sind nicht selten und

relativ weit verstreut. Im folgenden einige Beispiele: „ ... the poisonous atmospheres of universal Cant, could believe such a thing. Cant moral, Cant religious, Cant political ... „ (Oliver Cromwell [1850], in: Carlyle, 1897: 2); „ ... when Cant had first decisively opened her poison-breathing lips to proclaim that God-worship and Mammon-worship were one and the same ... „ (Boswell's Life of Johnson [1832], in: ders., 1899: 74; „'Clear your mind of cant' ... „ (ebd., S. 125).

24

Einleitung

Belgiens" — worauf ein Korrespondent (Herr Sadler) in der folgenden Wochennummer Einwände erhob und bemerkte: „Die Antwort schmeckt nach Heuchelei." — Allerdings: der cant schmeckt immer nach Heuchelei, auch wenn er nicht schiere und schamlose Heuchelei sein sollte. Aber jener Artikel hatte ganz recht, sofern er sagen wollte: der cant Sir Edward Greys über den Bruch der belgischen Neutralität und die heilige Pflicht Englands, für Belgien einzutreten, habe die öffentliche Meinung zugunsten des Krieges gewonnen. Die öffentliche Meinung Englands ist in einer wundervollen Weise dem cant zugänglich. Sie ist wie ein automatisches Musikwerk: es braucht nur eine cant-Münze hineingeworfen zu werden — sogleich leiert sie ihre moralisch klingende Weise mechanisch ab. „In der politischen Literatur Europas werden England 4 Eigenschaften zugeschrieben. Es wird behauptet, England sei in den höchsten Fragen der auswärtigen Politik unzuverlässig, stolz, selbstisch und streitsüchtig." So ein neuerer englischer Autor, der einer berühmten politischen Familie entstammt 8 . Er hätte die fünfte Eigenschaft nicht vergessen sollen, die das Charakterbild der englischen Weltpolitik ausfüllt: den gewohnheitsmäßigen cant, die eigentümliche Würze der übrigen so treffend bezeichneten Eigenschaften. Ein einziger Affekt liegt aber allen diesen Eigenschaften zugrunde. Es ist die Furcht — englische Staatsmänner nennen sie Vorsicht und Wachsamkeit —, es ist die Furcht vor Dieben und Bettlern, die eine psychologische Schwäche vieler reicher Leute ist; die Furcht, von dem Konkurrenten geschlagen zu werden, die jeder Geschäftsmann nur allzu gut kennt. Die Furcht kann begründet sein; sie kann aber auch leicht in eine nervöse Ängstlichkeit, in ein melancholisches Gespenstersehen entarten, und in einen Zustand versetzen, worin der Mensch aus lauter Angst „zu jeder Schandtat fähig" ist. Dieser pathologische Zustand ist oft durch das englische Wort spieen bezeichnet worden. Aber sind unsere Urteile nicht durch Parteilichkeit bestimmt? Ist es nicht Feindseligkeit, was die englische Politik in ein solches Licht stellt? Spricht nicht die Geschichte dafür, daß England für Gerechtigkeit und Freiheit gestritten, daß es mit der Großmut des Löwen der kleinen und schwachen Staaten des Erdballs sich angenommen hat? — daß also seine Weltpolitik durch sittliche Beweggründe bestimmt wurde? 8

Hon. George

1 Sadler:

Peel, The enemies of England. London 1902, p. 89.

Vgl. Sadler, 1914: 85.

Einleitung

25

Um diese Fragen zu beantworten, wollen wir die Bücher der Geschichte öffnen. Wir werden nicht Historiker als Zeugen verhören, die der Parteilichkeit irgendwie verdächtig sein können, nicht ausländische Historiker, die vielleicht von dem H a ß gegen das politische England angesteckt sind, sondern englische Historiker, und zwar vorzugsweise solche, deren Autorität in England selber nicht bestritten wird, ja, die als Forscher und Denker den ersten Rang einnehmen. Darum stellen wir an die Spitze dieser Zeugen den Verfasser der Werke über „die Expansion von England" und über „das Wachstum der britischen Politik", Sir J . R . Seeley. Die erste dieser Schriften soll uns als Fundament für die Beurteilung der Beweggründe englischer Weltpolitik dienen 9 . Seeley, Professor der Geschichte in Cambridge, wurde für seine Verdienste als Gelehrter geadelt und erfuhr auch sonst die höchsten Auszeichnungen. Auch hat er nicht etwa den vorherrschenden militaristischen — vulgär als Jingotum bezeichneten — Strömungen der letzten Jahrzehnte sich entgegengeworfen. Im Gegenteil. Ein hervorragender schwedischer Historiker (Harald Hjärne) nennt ihn den Herold des Imperialismus und meint, er könne als ein englischer Treitschke betrachtet werden. Im eigenen Lande ist seine Geltung viel höher als die Geltung Treitschkes in deutschen Landen. So wird von Lord Cromer, dem „Ägypter", Seeley mit Gibbon, Guizot, Mommsen als einer der bedeutendsten Schriftsteller und Denker genannt, die die Welt hervorgebracht habe. So rühmte schon Joseph Chamberlain in einer seiner Parlamentsreden, „unsere größten Denker und Schriftsteller haben dies — (imperialistische) — Problem uns vor Augen gestellt" und nennt als solche Seeley, Froude, Lecky. Die erste Ausgabe der „Expansion" erschien 1883, wurde 7 mal neu aufgelegt, die

9

Alle Stellen, bei denen keine Quelle besonders genannt wird, sind diesem Buche entnommen; die Ziffern in Parenthese bezeichnen die Seitenzahlen der Ausgabe von 1906.

19 Hjärne:

Der Hinweis entstammt keiner allgemein zugänglichen Quelle, sondern einem

Brief Hjärnes an Tönnies vom 8. Dezember 1914 (NL Tönnies: Cb 54.56: 3 8 7 - 0 1 - 0 4 ) . 22 Cromer:

Vgl. Cromer, 1913: 7.

2S Chamberlain:

Das Zitat entstammt einer Rede Joseph Chamberlains vom 19. Jan. 1904,

zit. nach: The life of Joseph Chamberlain, vol. VI, London 1969: 539. 27 Froude:

Der Historiker James A. Froude scheiterte 1874/75 bei dem Versuch, eine Föde-

ration zwischen der Kapprovinz und dem Oranje-Freistaat herzustellen, am Einspruch des Parlaments der Kapprovinz.

26

Einleitung

zweite von 1895 ist später noch mindestens 6 mal neugedruckt worden 1 0 . Wo sind ähnliche Erfolge Treitschkes? In englischen Schriften und Zeitungen werden Aussprüche Treitschkes breitgetreten und in abgeschmackter Weise mit solchen von Nietzsche und Bernhardi verbunden, um daraus zu beweisen, wie kriegerisch („chauvinistisch", „militaristisch") die Gesinnung der heutigen Deutschen sei. Nicht in diesem Sinne wollen wir Äußerungen Seeleys und anderer ausgezeichneter Autoren zusammen- und entgegenstellen. Die Gesinnungen unserer Gewährsmänner sind uns gleichgültig. Nur um dem Verdachte zu wehren, daß solche ausgesucht würden, die England und seiner Politik unfreundlich gegenüberstehen, wird es erwähnt, daß Seeley ein imperialistischer Historiker ist. Von W. H. Lecky, den wir mehrmals herangezogen haben, dürfte das gleiche gelten. Als einer der gelehrtesten und bedeutendsten Schriftsteller ist er auch im deutschen Sprachgebiet wie sonst im Auslande rühmlich bekannt. Etwas anders ist die Bedeutung Gustin Mc. Carthys, der nächst Seeley am häufigsten als Zeuge aufgerufen wird. Für die Regierungszeit der Königin Victoria (1837—1900) war dies geboten, weil es kein anderes Werk darüber gibt, das in England eine solche Popularität und ein solches Ansehen genösse, wie die „Geschichte unserer Zeit" in ihren 3 Abschnitten: 1. bis 1880, 2. 1880-1897, 3. 1897-1903. „Leicht und geschmackvoll geschrieben, und im ganzen in hervorragender Weise verständig und gemäßigt, enthalten diese Bände eine glänzende Erzählung vom liberalen Standpunkte aus." So wird dies Werk charakterisiert in der neuesten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica (Vol. XVII p. 201). Von J. R. Green ist schon Erwähnung getan worden. Die übrigen Zeugen sprechen für sich selber. Neben Historikern (zu denen hier auch die Verfasser von Lebensbeschreibungen gerechnet werden) werden hin und wieder auch andere Gewährsmänner aufgerufen, weil sie dazu dienen können, Urteile zu charakterisieren, die entweder durch die Weite ihrer Verbreitung oder durch das Gewicht ihrer Träger hervorgehoben zu werden verdienen. ,0

Die „ E x p a n s i o n of E n g l a n d " ist a u c h in der Tauchnitz-Edition erschienen.

5 Bernhardi:

G e m e i n t ist hier Friedrich Bernhardis Schrift „ D e u t s c h l a n d u n d der nächste

Krieg", 1913, das diesen als einen f ü h r e n d e n R e p r ä s e n t a n t e n des aggressiven deutschen N a t i o n a l i s m u s ausweist. 17 Carthys:

Vgl. Art. „ M c C a r t h y , J u s t i n " , in: Enc. Brit., 1910, 11. ed., vol. 17, S. 201.

Einleitung

27

Es genüge hier, die Namen Edmund Burke, Richard Price, Herbert Spencer, Gladstone, John Morley (Gladstones Biograph), John Bright, G. M . Trevelyan {Brights Biograph), Lord Cromer, W. S. Blunt, von Historikern noch James Mill (auch als Philosoph berühmt), Kaye, Malleson, s Holland Rose zu nennen. Alle diese Gewährsmänner gehören zu den Zierden der englischen Nation oder Literatur und Gelehrsamkeit. An einigen Stellen ist noch vom Dictionary of National Biography und von der neuesten Ausgabe der „Encyclopaedia Britannica" Ge10 brauch gemacht worden, deren Artikel von den besten Kennern der Sachen verfaßt worden sind. Endlich sind auch einzelne Äußerungen von Zeitschriften angezogen worden, deren Ansehen unbestritten ist.

2 Spencer:

Im Original irrtümlich: Sencer

I. Die englische Weltpolitik bis zum Falle Napoleons

Erster

Abschnitt

Kriege gegen Spanien, gegen H o l l a n d , gegen Frankreich, v o m 1 6 . bis z u m 1 8 . J a h r h u n d e r t 1. Die Expansion. Elisabeth, Cromwell, Karl II. „Zwischen der Revolution (von 1688) und der Schlacht bei Waterloo kann man rechnen, daß wir 7 große Kriege geführt haben, von denen der kürzeste 7 Jahre, der längste ungefähr 12 Jahre dauerte. Von 126 Jahren wurden 64 Jahre, also mehr als die Hälfte, in Kriegen zugebracht" (24). Von den 7 Kriegen dieser Periode sind 5 „von Anfang an Kriege mit Frankreich, die beiden anderen, obschon in dem einen Spanien, im anderen Englands eigene Kolonien die kriegführende Macht waren, wurden binnen kurzem (und endeten als) Kriege mit Frankreich (28). Nach der 7jährigen Pause, die dem spanischen Erbfolgekrieg folgte, kann man die folgenden Kriege „fast als einen einzigen" betrachten, sie bedeuten „ein großes und entscheidendes Ringen zwischen England und Frankreich" (31). „Die Ausbreitung Englands in der Neuen Welt und in Asien ist die Formel, die für England die Geschichte des 18. Jahrhunderts ausdrückt ..." „Der große dreifache Krieg um die Mitte dieses Jahrhunderts (1744—1763) ist nicht mehr oder weniger als der große entscheidende Zweikampf zwischen England und Frankreich um den Besitz der Neuen Welt" (33). — „Wir hatten einen Mitbewerber in der Besiedelungsarbeit, einen Mitbewerber, der in einigen Beziehungen den Vorsprung vor uns hatte, nämlich Frankreich" (34). — „Die Feststellung, daß Ausbreitung das Hauptmerkmal der englischen Geschichte im 18. Jahrhundert war . . . . bedeutet, daß die europäische Politik und die Kolonialpolitik nur verschiedene Seiten der einen großen nationalen Entwicklung sind" (42). 20 Krieg: Gemeint sind der 2. Schlesische Krieg 1744/45; der brit.-frz. Kolonialkrieg 1754/ 55; der Siebenjährige Krieg 1756—1763.

32

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

Seeley wendet auch den Blick zurück auf die Vorgeschichte dieses Zeitraumes, auf das britische Ancien Régime. „Es scheint uns klar zu sein, daß wir die große wandernde, arbeitende, kolonisierende Rasse sind, abstammend von Seeräubern und Wikingern. Das Meer, so meinen wir, gehöre uns durch den Willen der Natur, und auf dieser Hochstraße arbeiten wir, die Erde zu unterjochen und zu bevölkern" (94). In Wahrheit ist die „maritime Größe Englands weit mehr neuzeitliches Wachstum, als die meisten von uns sich einbilden. Sie datiert von den Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts und von den Taten Robert Blakes ... Es gibt freilich Seehelden vor der Zeit Blakes. Da ist Francis Drake und Richard Grenville und John Hawkins. Aber die Flotte der Elisabeth war nur die englische Flotte in ihrer Kindheit, und die Helden selber sind nicht etwas viel anderes als Freibeuter (are not far removed from buccaneers)"' (96). „Von dem Gesichtspunkte gesehen, unter dem hier die englische Geschichte betrachtet wird, ist die große Begebenheit des 17. Jahrhunderts vor 1688 nicht der Bürgerkrieg oder die Hinrichtung des Königs, sondern die Einmischung Cromu/ells in den europäischen Krieg. Dieser Akt kann beinahe als Begründung des englischen Weltreichs betrachtet werden" (130). Die ersten Stuarts kehrten ihr Antlitz mehr nach der Alten Welt als nach der Neuen. „Aber diese Reaktion nimmt ein Ende, als die republikanische Partei zur Macht gelangt. Es beginnt nun eine Politik, die freilich ganz gewiß nicht sehr durch Gewissensbedenken gehemmt wird, die aber gescheit, entschlossen und erfolgreich ist. Sie ist ozeanisch und blickt nach Westen wie die Politik der letzten Jahre der Elisabeth" (131). Die Kolonialpolitik Cromwells interessiert hauptsächlich als das Muster, nach dem Karl II. sich richtet. „Moralische Vortrefflichkeit ist schwerlich eins ihrer Merkmale, und wenn sie religiös ist, so würde dies vielleicht, wenn das Protektorat länger gedauert hätte, sich als ihr gefährlichster Charakterzug erwiesen haben. Nichts ist gefährlicher als ein Imperialismus, der eine Idee auf sein Banner schreibt, und für diesen Imperator Oliver war der Protestantismus, was die Ideen der Revolution für Napoleon und für seinen Neffen waren" (133). „Wir mögen wohl schaudern bei der Vorstellung von der Gefahr, die durch den Sturz des Protektorats beseitigt wurde" (134). Diese imperialistische Politik entwickelte sich vorzugsweise in bezug auf die Neue Welt. „Cromwells Politik hat hier eine ausgesprochen unbeschränkte und skrupellose Färbung. Rein aus seiner eigenen Willkür, ohne mittelbar oder unmittelbar das Volk zu befragen, und der Opposition in seinem Rate zum Trotz, stürzt er das Land in einen Krieg mit

Die Expansion. Elisabeth, Cromwell, Karl II.

33

Spanien. Dieser Krieg wird begonnen nach Art der alten Elisabethanischen Seeräuber (sea-rovers) durch einen plötzlichen Landungseinfall, ohne vorausgegangenen Streit oder Kriegserklärung, in San Domingo" (134). Sir J. Stephen empfahl einmal seinen Zuhörern, „wenn sie Neigung hätten zum Bilderstürmen, diese anzuwenden auf den seeräuberischen Cromwell" (upon the buccaneering Cromwell) (ib.). Am meisten charakteristisch für diese Periode und ihre Fortsetzung ist aber nicht der Krieg mit Spanien, sondern der Krieg mit Holland. „Wenn Cromwells Bruch mit Spanien durch seine gewaltsame Plötzlichkeit am schlagendsten den Geist der neuen kommerziellen Politik verrät, so kann sie doch mißdeutet werden" (135). Man könnte meinen, sie sei gegen Spanien als die große katholische Macht gerichtet gewesen. „Das starke Beweisstück, daß ein anderer Grund rasch in den Vordergrund tritt, nämlich die große Handelseifersucht, die durch die Neue Welt hervorgerufen wird, liefert die Tatsache, daß durch das ganze mittlere 17. Jahrhundert England und Holland große Seekriege von einem Charakter, wie er niemals zuvor bekannt war, geführt haben" (ib.). Karl der Zweite wird oft wegen der schrankenlosen Unsittlichkeit seiner auswärtigen Politik getadelt. In Wahrheit folgte er aber nur den Beispielen, die von der Republik und von Cromwell gegeben waren. Daher wurde seine Regierung auch unterstützt von einigen Leuten, welche die Tradition der Republik geerbt hatten. „Anthony Ashley Cooper, ein Mann von Cromwellschen Ideen, unterstützte sie, indem er den alten Satz zitierte: Delenda est Carthago. Mit anderen Worten: „Holland ist unser großer Nebenbuhler im Geschäft, auf dem Ozean und in der Neuen Welt. Lasset uns also Holland zerstören mit Hilfe einer katholischen Macht" (136). Das waren die

3 San Domingo: Im Jahre 1655. 8 Spanien: Ausgelöst durch die Hinrichtung Maria Stuarts 1587, ohne dass er förmlich erklärt worden war. 8 Holland: hervorgerufen durch die Navigationsakte von 1651, einem vom Parlament verabschiedetes Schifffahrtsgesetz, nach dem alle nach England gehenden Güter auf englischen Schiffen zu transportieren waren. Damit sollte das holländische Transportmonopol gebrochen werden. Der Krieg brach 1652 aus und führte zu einer Schwächung der niederländischen Flotte. Dieser Wirtschaftskrieg wurde 1654 durch den Frieden von Westminster beendet. Der zweite engl.-holl. Seekrieg dauerte von 1664—1667, beendet durch den Frieden von Breda. Der dritte Krieg mit Holland wurde in dem Geheimvertrag von Dover mit Frankreich 1670 vorbereitet, in dem ein Angriffskrieg gegen Holland beschlossen wurde; dieser dauerte von 1672—1674. 23 Delenda est Carthago: (lat.) Karthago muss zerstört werden (hist. Zitat des älteren Cato).

34

Kriege gegen Spanien, gegen H o l l a n d , gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. J a h r h .

Grundsätze der Republik und des Protektors, die, obgleich Puritaner, erkannt hatten, ... daß die Rivalität der Seemächte um die Geschäfte und um die Herrschaft in der Neuen Welt die Stelle der kirchlichen Streitigkeiten einnahm als die Frage des Tages" (ib.). — Die Folge war: Eroberung. So wurde Jamaika unter Cromwell von Spanien, Bombay unter Karl von Portugal, New York ebenso unter Karl von Holland gewonnen.

Bukaniere" Es wird also von diesem Historiker, der seine Begeisterung für das „Größere Britannien", so sehr er des objektiven Urteils sich befleißigt, nicht verhehlt, die Begründung des Reiches Männern zugeschrieben, die er als „Buccaneers" bezeichnet. Diese Zusammenstellung tritt hier nicht zum ersten Male auf. So heißt es schon in einem Büchlein aus dem Jahre 1837, das der Verherrlichung kühner Seereisen gewidmet ist: Obgleich der Name Bukaniere, „verknüpft mit einer Tugend und mit 1000 Verbrechen" 1 , aus viel späterer Zeit stamme als die Ära Drakes und seines verwegenen Nachfolgers Oxenham, „so liegt doch keine Verletzung der Wahrheit darin, wenn man ihnen den Leumund zuschreibt, welchen jener Name anzeigt: den Leumund nämlich schonungslosen Plünderns zu Wasser und zu Lande, im Frieden und im Kriege" 2 . — Die eigentlichen Bukaniere — „ein Name, der nur allzubald mit jeder Art von Blutschuld und Ungeheuerlichkeit befleckt war" 3 — gehören dem 17. Jahrhundert an; sie sind auch unter dem Namen Flibustier bekannt, und nannten sich selber die „Brüder der Küste".

1 2

3

Der Urheber dieses Verses wird nicht genannt. Lives and voyages of Drake, Cavendish and Dampier, including a view of the History of the Buccaneers. London 1837, p. 183. a. a. O. S. 194, wo auch von der „vollkommenen Gewissenlosigkeit dieser Desperados" gesprochen wird.

5 Jamaika: Jamaika 1655, Bombay 1661, New York 1664. 14 „... 1000 Verbrechen": Vgl. Lives and voyages, 1832: 228, zit. nach Lord Byron: „The Corsair", Canto the Third, XXIV [1814], in: Lord Byron, o. J.: 108. 22 Flibustier: Westindische Seeräuber, die im 17. Jahrhundert z. T. eine bedeutende Macht ausübten. 23 „Brüder der Küste"-. Vgl. „Brethren of the Coast", Lives and voyages, 1832: 230 f.

Handel und Krieg — Die sittlichen Beweggründe

35

2. H a n d e l und Krieg — Die sittlichen Beweggründe Mehr und mehr tritt also an Stelle der Freibeuterzüge der Seekrieg, zuerst der Krieg gegen Holland, dann der große Zweikampf mit Frankreich um die Neue Welt. Die Darstellung Seeleys gipfelt im Herausheben der Bedeutung dieses Zweikampfes. Er soll das weithin sichtbare Beispiel geben, daß „die Ausbreitung Englands weder ein ruhiger Prozeß gewesen ist, noch bloß in jüngster Zeit vor sich gegangen ist: daß vielmehr das 18. Jahrhundert hindurch jene Ausbreitung ein aktives Prinzip der Frie-

densstörung war, eine Ursache von Kriegen, die sowohl an Größe als an Zahl nicht ihresgleichen haben" (125). Welcher Art waren die Ursachen und Beweggründe dieser Kriege? Hören wir auch darauf die Antwort des philosophischen Historikers. „Es scheint mir der Hauptcharakterzug dieser seiner Entwicklungsphase, daß England zugleich auf den Handel und auf den Krieg erpicht ist" (127). „Die Kriege des 18. Jahrhunderts waren unvergleichlich größer und belastender als diejenigen des Mittelalters. In geringerem Grade waren schon die Kriege des 17. Jahrhunderts bedeutend. Diese beiden sind aber genau die Jahrhunderte, in denen England mehr und mehr ein handeltreibendes Land wurde. In Wahrheit wurde England zu jener Zeit um so mehr kriegerisch, je mehr es dem Handel sich hingab. Und es ist nicht schwer zu zeigen, daß eine Ursache wirksam war, die Krieg und Handel gleichzeitig wachsen ließ. Diese Ursache ist das alte Kolonialsystem (128), dessen Wesen darin besteht, daß es „der Kolonie nicht sowohl die Stellung eines verbündeten Staates, als vielmehr die eines eroberten Landes gibt" (77). — Der Handel mag an und für sich den Frieden begünstigen; wenn er aber durch Anordnungen einer Regierung von einem verheißungsvollen Gebiete ausgeschlossen wird, dann begünstigt der Handel ganz ebenso natürlich den Krieg. Wir wissen dies durch unsere neuere Erfahrung mit China" (128) 4 . Das alte Kolonialsystem „zerlegte die neue Welt in Territorien, die wie Landgüter betrachtet wurden, deren Besitz und Genuß der jeweilig kolonisierenden Nation zustand. Die Hoffnung, solche prachtvollen Landgüter zu erwerben und die Vorteile zu genießen, die aus ihnen sich ziehen ließen, stellte den stärksten Stachel für den Handel dar, den man nur je gekannt hatte, und es war ein Stachel, der ohne Unterlaß Jahrhunderte hindurch gewirkt h a t . . . . Aber untrennbar vom kommerziellen Stimulus war der Stimulus

4

Anspielung auf den Opiumkrieg. Vgl. unter 10.

36

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

internationaler Rivalität. Das Ziel jeder Nation war nunmehr, ihr Geschäft zu vermehren, nicht dadurch, daß man wartete auf die Bedürfnisse der Menschen, sondern dadurch, daß man sich in ausschließenden Besitz irgendeines reichen Gebietes in der Neuen Welt setzte. Möge nun sonst ein natürlicher Gegensatz zwischen dem Geiste des Handelsgeschäftes und dem Geiste des Krieges bestehen oder nicht — Handel, der nach dieser Methode betrieben wird, ist fast identisch mit Krieg und muß beinahe notwendig Krieg im Gefolge haben. Was ist Eroberung, wenn nicht Aneignung von Territorium? Aneignung von Territorium aber wurde unter dem alten Kolonialsystem die oberste nationale Angelegenheit. Die 5 Nationen des Westens (Spanien, Portugal, Frankreich, Holland, England) waren in einem leidenschaftlichen Wettsegeln um Territorium begriffen, d. h. sie waren in ein Verhältnis zueinander gesetzt, worin das Trachten nach Reichtum ganz natürlich zu Streitigkeiten führte, ein Verhältnis, worin, wie gesagt, Handel und Krieg unlösbar miteinander verflochten waren, so daß Handel zu Krieg führte und Krieg den Handel förderte. Schon ganz frühzeitig zeigte sich der Charakter des also eröffneten neuen Zeitalters. Man erwäge die Beschaffenheit jenes langen, sprunghaft verlaufenden Krieges zwischen England und Spanien, worin die Expedition der Armada das auffallendste Ereignis bildete. Ich habe erklärt, daß die englischen Seekapitäne Seeräubern sehr ähnlich sahen, und wahrlich ist für England der Krieg durchweg eine Industrie, ein Weg zum Reichtum, das am meisten blühende Geschäft, die am meisten vorteilhafte Kapitalanlage jener Zeit. Jener spanische Krieg ist tatsächlich die Wiege des englischen auswärtigen Handels. Die erste Generation von Engländern, die Kapitalanlagen suchte, legte es in jenem Kriege an. Wie wir jetzt unser Geld in Eisenbahnen und was weiß ich wuchern lassen, so nahm damals der Privatmann von lebhafterem Geschäftssinne Parten in dem neuen Schiff, das John Oxenham oder Franz Drake ausrüsteten in Plymouth, bestimmt wie es war, der Silberflotte aufzulauern oder die spanischen Städte im Golf von Mexiko anzufallen. Und doch waren die beiden Länder nicht einmal in förmlichem Kriegszustande miteinander. So machte das Monopolsystem in der Neuen Welt

20 Armada: Die Flotte, die der spanische König Philipp II. 1588 gegen England in den Krieg schickte, die größte Streitmacht der damaligen Welt. Diese Armada, die im Mai 1588 von Lissabon aus los segelte, bestand aus 130 Schiffen, davon allerdings nur 24 größere Kriegsschiffe. Ende Juli 1588 wurde sie bei Plymouth von den Engländern geschlagen. Ein verheerendes Unwetter tat das Seinige.

37

Handel und Krieg — Die sittlichen Beweggründe

Handelsverkehr und Kriegsverkehr ununterscheidbar voneinander. Die Blüte Hollands war der nächste und noch auffallendere Beleg desselben Gesetzes. Was, sollte man denken, wäre verderblicher als ein langer Krieg, zumal für einen kleinen Staat? Und doch machte Holland sein Glück in der Welt durch einen Krieg von mehr als 80 Jahren mit Spanien. Wie kam das? Weil der Krieg die gesamten unbegrenzten Besitzungen seines Gegners in der Neuen Welt seinem Angriff bloßlegte, die ihm im Frieden verschlossen gewesen wären. Durch Eroberung machte Holland für sich ein Kolonialreich, und das Kolonialreich verschaffte ihm den Reichtum" (130). — In Hollands Fußtapfen trat England. Den Kriegen gegen Holland folgte das Bündnis. Gemeinsam wandten sich beide Länder gegen die neu emporkommende Kolonialmacht Frankreichs. Das Ministerium Colberts bedeutet den bewußten Eintritt Frankreichs in den Wettbewerb der westlichen Staaten um die neue Welt. Bei dem Bündnis der beiden Seemächte, das Wilhelm von Oranien zum König von England machte (1688), handelt es sich scheinbar um das gemeinsame protestantische Interesse gegen die katholische Reaktion, die in der Aufhebung des Edikts von Nantes ihren Ausdruck fand. Auch hat zunächst und unmittelbar dieser Beweggrund sicherlich mitgewirkt. Wenn man aber zurückblickt vom Utrechter Frieden (1713) auf die Ereignisse, die in ihm gipfelten, so gewinnt man die richtige Ansicht von den stärkeren und tiefer liegenden Beweggründen. Denn in den Punktationen dieses Friedensvertrages verrät der „spanische Erbfolgekrieg" seinen „intensiv kommerziellen Charakter" (151). „In Wirklichkeit ist es der geschäftsmäßigste (the most business-like) von allen unseren Kriegen, und er wurde geführt im Interesse englischer und holländischer Kaufleute, deren Geschäft und Lebensunterhalt auf dem Spiele stand." Die drohende Vereinigung des spanischen Reiches mit Frankreich hätte ihnen beinahe die ganze Neue Welt verschlossen gehabt; die Franzosen begannen eben, den 11 Bündnis:

Das 1677 geschlossene Bündnis mit Holland zielte darauf ab, Frankreich und

Spanien zum Frieden zu bringen. 13 Colberts:

Als

Generalkontrolleur

der

Finanzen

amtierte

Jean

Baptiste

Colbert

1665 —1683. Er entwickelte das System einer umfassenden wirtschaftlichen Staatstätigkeit (Merkantilismus). i« Edikts

von Nantes:

Vom frz. König Heinrich IV. 1598 erlassen, um die Hugenotten-

kriege zu beenden und die reformierten Hugenotten durch Toleranz für den katholischen frz. Staat zu gewinnen. Seine Aufhebung wurde 1685 durch Ludwig XIV. betrieben. 20 Utrechter

Frieden:

Dieser beendete den spanischen Erbfolgekrieg (1701 — 1714) und

sollte zur Begründung der englischen Hegemonie in Europa führen.

38

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

Mississippi zu erforschen und zu besiedeln. „Hinter all der höfischen Narretei des Grand Siècle stehen kommerzielle Interessen, die jetzt die Welt beherrschen wie niemals zuvor, und so blieb es während des größten Teils des prosaischen Jahrhunderts, das jener Krieg eröffnete" (132). In der Geschichte der Ausbreitung Englands bezeichnet der Utrechter Friede eine der bedeutendsten Epochen. England war nun der erste Staat in der Welt und blieb eine Reihe von Jahren ohne Rivalen. Hollands Abnahme machte sich bemerkbar. Frankreich war für eine Zeitlang gelähmt. Englands positiver Gewinn war außer Gibraltar, Minorka, Neuschottland, Neufundland, der berufene Assiento, jener Staatsvertrag, der dem englischen Kaufmann das Monopol des Sklavenhandels nach dem spanischen Amerika verlieh. — Englands Kolonialreich war dem Umfange nach noch unbedeutend im Vergleich mit dem spanischen und sogar mit demjenigen Portugals. Auch Frankreich war noch in mancher Hinsicht überlegen. Frankreichs Kolonialpolitik schien erfolgreicher zu sein. Gegen Spanien und Frankreich richtet sich jetzt die Rivalität Englands, aber der Hauptdruck fällt auf Frankreich als Englands Nachbar in Amerika und in Indien. Die entscheidende Begebenheit in dem großen Duell zwischen England und Frankreich ist der 7 jährige Krieg und die neue Stellung, die England einnimmt infolge des Pariser Friedens von 1762. „Hier ist der Gipfelpunkt der englischen Macht im 18. Jahrhundert; ja im Vergleich zu andern Staaten ist England seitdem niemals wieder so groß gewesen" (160). In dieser seiner kulminierenden Phase wird England zum Gegenstand der Eifersucht und Furcht für ganz Europa, wie Spanien und nach ihm Frankreich es im 17. Jahrhundert gewesen waren" (161). Der „kommerzielle Staat", dem Seeley das Schlußkapitel seines (posthumen) Werkes über das Wachstum der englischen Politik widmet, war etabliert: „ein Staat", heißt es darin, „trat in die Erscheinung, der dem antiken Karthago so sehr ähnlich war, wie die großen

i besiedeln:

1 6 8 2 erfolgte die Angliederung von Louisiana durch den frz. Entdecker und

Kolonisator Robert de L a Salle. 9 Minorka: 10 Assiento:

Gemeint ist die Balearen-Insel M e n o r c a . Der Assiento-Vertrag zwischen England und Spanien von 1713 bestimmte,

dass England auf 3 0 Jahre das M o n o p o l zur Einfuhr von Negersklaven in die spanischen Kolonien zugesprochen erhielt. 20 Pariser

Friedens:

Abgeschlossen am 10. Feb. 1 7 6 3 . Er bedeutete die Beendigung des

Siebenjährigen Krieges. Die Hauptergebnisse für Großbritannien waren: Frankreich verzichtete auf Neuschottland sowie auf Kanada; Spanien trat an England Florida sowie alles Land in Nordamerika westlich bzw. südwestlich des Mississippi ab.

Handel und Krieg — Die sittlichen Beweggründe

39

Staaten der heutigen Welt den kleinen Staaten des Altertums gleichen können5". Dieser Höhepunkt war also erreicht durch eine lange Reihe von Kriegen. Ihrem Wesen nach waren alle diese Kriege Angriffskriege. Welcher Art und wie verschieden auch die Vorwände oder unmittelbaren äußeren Anlässe sein mochten, die inneren und wahren Beweggründe, die England bewogen, diese Kriege zu führen, sind alle von einer Art: das materielle Interesse, das Trachten nach Handelsgewinn und infolge davon Handelseifersucht und Mißgunst gegenüber den Konkurrenten, die aus solchen Beweggründen mit Gewalt vertrieben oder niedergemacht werden. So belehrt uns das sachkundige und sicherlich nicht zuungunsten seines Vaterlandes gefärbte Urteil Sir J . R . Seeleys. Im großen und ganzen hält er sich von Werturteilen frei. Er will nicht preisen und nicht verurteilen, sondern verstehen. Weil er aber immer von Englands Macht und Größe redet, so verwahrt er sich ausdrücklich dagegen, daß er „die Eroberungen zu verherrlichen oder die Mittel, die von seinen Landsleuten dafür angewandt wurden, zu rechtfertigen meine" (155). Er zeigt, wie England seine 4 Rivalen im Wettbewerb um die Neue Welt geschlagen hat. Aber er hat nicht den leisesten Gedanken, deshalb für England eine überlegene Tüchtigkeit oder Tapferkeit in Anspruch zu nehmen. Er will seine Leser nicht ermuntern, Drake oder Hawkins, oder die Republik oder Cromwell oder gar die Regierung Karls des Zweiten zu loben. „Freilich, es ist nicht leicht, das sittliche Verhalten derer, die das größere Britannien aufgebaut haben, zu billigen, wenn es auch genug zu bewundern gibt in ihren Leistungen, und viel weniger zu tadeln oder darob zu schaudern, als in den Taten der spanischen Abenteurer" (156). Er betrachte die Sachen als Denker, „um die Gesetze zu entdecken, nach denen Staaten sich erheben, sich ausbreiten, blühen oder verfallen in dieser Welt" (ib.). Er will auch Licht auf die Frage werfen, ob das größere Britannien, da es nun vorhanden sei, voraussichtlich weiter blühen und dauern oder in Verfall geraten werde. „Vielleicht mag man fragen, ob wir erwarten oder wünschen sollen, daß es gedeihe, wenn Verbrechen an seiner Herstellung teilgehabt h a t " (ib.). Aber der Gott, der sich in der Geschichte offenbare, urteile gewöhnlich nicht auf diese Art. Aus gesetzwidriger Erwerbung von Staatsgebiet folge nicht die Wahrscheinlichkeit, daß es wieder verloren werde. „Wenn wir das britische Weltreich mit anderen Weltreichen vergleichen in bezug auf seinen Ursprung, so werden wir se-

5

Seeley, Growth of british policy II, p. 381.

40

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

hen, daß es in gleicher Weise wie diese entstanden ist; daß seine Gründer die gleichen Motive gehabt haben, und zwar nicht vorzugsweise anständige Motive; daß sie viel wilde Habgier, gemischt mit Heroismus, entfaltet haben; daß sie durch moralische Skrupel sich wenig haben beunruhigen lassen, wenigstens nicht in Behandlung ihrer Feinde und ihrer Rivalen, obwohl sie oft tugendhafte Selbstverleugnung im Verkehr miteinander geübt haben" (157). Verglichen mit anderen Reichen sei ihnen eher ein besseres als ein schlechteres Zeugnis zu geben; namentlich das spanische sei noch ungleich mehr mit Grausamkeit und Raubgier befleckt. Man begegne auch edlen Zügen in der Geschichte der britischen Konquistadoren. „Ihre Verbrechen andrerseits sind derart, wie sie beinahe allgemein gewesen sind in der Kolonialgeschichte" (157). Vermutlich werden Spanier, Franzosen, Holländer zu einem etwas anderen Ergebnis bei Abwägung dieser Verbrechen gegeneinander gelangen. Aber gewiß ist, daß sie alle um 1770 als Kolonialmächte England gegenüber in den Hintergrund gedrängt waren.

3. Die Glorie des älteren Pitt — Triumph über Frankreich Um diese Zeit stand der ältere Pitt, seit 1766 Earl of Chatham, auf der Höhe seiner Erfolge, seines Einflusses, wenngleich seine Popularität die Erhebung zum Peer nicht überlebte. Er hatte den Krieg gegen Frankreich durchgeführt, gegen fortwährenden heftigen Widerstand, trotz anfänglicher Mißerfolge in Amerika und in Deutschland, wo er den genialsten Feldherrn des Zeitalters für sich fechten ließ. Bekannt ist sein Ausspruch, er erobere Amerika in Deutschland. „Nicht zufrieden damit, Frankreichs 19 Pitt: William Pitt (der Earl of Chatham) war Leiter der engl. Außenpolitik während des Siebenjährigen Krieges (1756 sowie 1757—1761). 24 Zeitalters: Gemeint ist Friedrich der Große. Von William Pitt stammt der Ausspruch: „The King of Prussia, the only ally we had in the world, is now, I fear, hors de combat." (Lecky, 1892, II: 408). Tönnies spielt hier auf die Westminster-Konvention vom 16. Jan. 1756 zwischen Preußen und England an. Aus britischer Sicht war sie eine Folge des beginnenden Kolonialkrieges zwischen England und Frankreich. Pitt suchte damit die Bindung französischer Truppen in Europa zu erreichen. Als Folge davon schlössen Frankreich und Österreich am 1. Mai 1756 einen Neutralitäts- und Verteidigungsvertrag ab, dem sich auch Russland anschloss. Ein Jahr später wurde dieses Bündnis in ein Offensivbündnis umgewandelt. 25 Deutschland: Vgl. Lecky, 1880: II, 545.

41

D e r A b f a l l der n o r d a m e r i k a n i s c h e n K o l o n i e n

Flotten beinahe vernichtet zu haben, wünschte er, dieses Land seines ganzen Kolonialreiches zu berauben und ihm jeden Anteil an der Fischerei von Neufundland, die in seinen Augen die Brutstätte für Frankreichs Seeleute war, abzuschneiden. Vor einiger Zeit, sagte er inmitten seiner Triumphe, wäre ich noch zufrieden gewesen, Frankreich auf die Knie zu beugen; jetzt werde ich nicht ruhen, bis es auf dem Rücken liegt. Er bekannte einmal mit überraschender Offenheit, er liebe einen ehrenhaften Krieg; von dem Elend, das der Krieg hervorruft, scheint er sich niemals eine richtige Vorstellung gemacht zu haben 6 ." Lecky hebt hervor, daß er als Liebhaber des Krieges in voller Übereinstimmung mit den Wünschen des Volkes gewesen sei. Er hatte sich zum Ziele gesetzt, den Patriotismus im Sinne der Machtvermehrung gegenüber dem „unvermeidlichen und natürlichen Feinde" (Frankreich) anzufachen und der Schwäche, Anarchie und Korruption ein Ende zu machen, von der nach seiner Ansicht die neuere englische Politik erfüllt war. Die Selbstsucht, die Unfähigkeit, die Intrigen und die Eifersüchteleien der Großen des Landes betrachtete er als Hauptursachen jener Übel 7 . Sein Vaterland mit kriegerischem Ruhm zu krönen, war sein Ziel und sein Erfolg. Er machte mit vollem Bewußtsein seine Politik dem Handelsinteresse dienstbar.

4 . D e r A b f a l l der n o r d a m e r i k a n i s c h e n K o l o n i e n Aber die glänzende und siegreiche Entwicklung des britischen Kolonialreichs im 18. Jahrhundert setzte sich nicht ohne Unterbrechung fort. Es erfolgte ein Rückschlag, eine plötzliche Erschütterung, deren weitrei6

Lecky,

H i s t . o f t h e 1 8 . Century II, 5 1 2 .

7

Lecky

III, 1 1 1 . N a c h d e m Falle Pitts ließ sein N a c h f o l g e r , L o r d Bute,

P r e u ß e n im S t i c h e

( 1 7 6 2 ) . Pitt b e z e i c h n e t e dies als hinterlistig, b e t r ü g e r i s c h und v e r r ä t e r i s c h . Bute und sein K ö n i g b o t e n zugleich der Z a r i n O s t p r e u ß e n , d e r K a i s e r i n S c h l e s i e n an, u m den Frieden zu e r k a u f e n . J . R . Green

n e n n t dies „ s c h a m l o s e G l e i c h g ü l t i g k e i t gegen die n a t i o n a l e

E h r e " , nur d u r c h g l ü c k l i c h e Z u f ä l l e sei E n g l a n d v o r dieser E r n i e d r i g u n g b e w a h r t geblieben: Short History, p. 7 4 3 .

26 Stiche:

D e r E a r l o f B u t e , als G ü n s t l i n g K ö n i g G e o r g s III. P r e m i e r m i n i s t e r v o n M a i 1 7 6 2

bis April 1 7 6 3 , v e r f ü g t e 1 7 6 1 die S p e r r u n g der Subsidien an P r e u ß e n n a c h d e m S t u r z des p r e u ß e n f r e u n d l i c h e n Pitt, da E n g l a n d seine Z i e l e in Ü b e r s e e e r r e i c h t zu h a b e n g l a u b t e . 28 Zarin serin

... Kaiserin: 1740-1780).

K a t h a r i n a II. (russ. Z a r i n 1 7 6 2 — 1 7 9 6 ) ; M a r i a T h e r e s i a (österr. K a i -

42

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

chende Folgen man nicht ahnte, als sie sich ereignete: der Abfall der amerikanischen Kolonien, die beinahe das ganze damalige Kolonialreich ausmachten. „Wie eine Seifenblase breitete das größere Britannien rasch sich aus und platzte dann. Es hat seitdem aufs neue seine Ausbreitung vollzogen. Können wir die naheliegende Schlußfolgerung vermeiden?" (176). Seeley wehrt diese Schlußfolgerung ab, weil an der amerikanischen Revolution das alte Kolonialsystem schuld gewesen sei, das die Kolonien wie einen Sklaven behandelte. Noch sei kein klares und durchdachtes neues System an dessen Stelle getreten. Für das allein mögliche erklärt Seeley ein System, das die Kolonien zu Teilen von England mache, wie sie sonst für Besitzungen Englands gehalten und als solche behandelt wurden. Tatsächlich steht noch heute das alte Kolonialsystem in voller Kraft gegenüber Indien und allen kleineren Kronkolonien, gegenüber Ägypten, Persien und allen Gebieten der „Einflußsphären". In den Worten Edmund Burkes (in seiner berühmten Rede über amerikanische Steuern am 19. April 1774) war die Kolonialpolitik von Anfang an ausschließlich kommerziell, und das kommerzielle System war das System eines Monopols. „Kein Geschäft wurde von diesem Zwange frei gelassen, außer um die Kolonisten in den Stand zu setzen, über das zu verfügen, was wir im Verlaufe unseres Geschäftes nicht nehmen konnten; oder um sie in den Stand zu setzen, über die Artikel zu verfügen, die wir ihnen aufzwangen und wofür sie, ohne ein gewisses Maß von Freiheit, nicht bezahlen konnten . . . . Dies Prinzip des kommerziellen Monopols geht durch nicht weniger als 29 Parlamentsakte hindurch, von 1660 bis zur unseligen Periode von 1764." Burke nennt den Zustand Amerikas während dieses Zeitraums einen Zustand bürgerlicher Freiheit, kommerzieller Knechtschaft8. Um dieselbe Zeit schrieb Richard Price seine „Beobachtungen über das Wesen der bürgerlichen Freiheit, die Prinzipien der Regierung und die Gerechtigkeit und Politik des Krieges mit Amerika". Dies Büchlein 8

Speeches and Letters (in Morleys Universal Library), p. 38.

27 Periode:

Ab dem Jahre 1763 verfolgte Großbritannien eine straffere und einheitlichere

Kolonialpolitik auch in den nordamerikanischen Besitzungen, die bisher durch einen gewissen politischen Partikularismus geprägt waren. Das Steuermarkengesetz (Stamp Act) von 1765 wurde ohne Beteiligung der Assemblies der Kolonisten verabschiedet, was deren Protest hervorrief („no taxation without representation").

Der Sklavenhandel als Säule des Reiches

43

erschien in vielen Auflagen, wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und rief mehr als 60 Entgegnungen hervor. Es ist eine flammende Anklage gegen die damalige englische Weltpolitik. „Die Schande, der ein Reich sich unterwerfen muß dadurch, daß es Zugeständnisse macht, ist nichts im Vergleich zu der Schande, die Angreifer zu sein in einem unrechtmäßigen Streit." Eine Schande sei der Hader mit Amerika, weil unverträglich mit den eigenen Empfindungen der Engländer in ähnlichen Fällen; schandbar sei der Krieg ferner auf Grund der Überzeugung, die zu ihm führte und unter deren Eindruck er unternommen wurde (nämlich des allgemeinen Geschreis, das Volk von Neu-England sei ein Volk von Feiglingen); die Art und Weise aber, wie der Krieg geführt worden sei, mache ihn noch schandbarer. „Französische Papisten wurden aus Frankreich herangezogen. Die wilden Indianer und ihre eigenen Sklaven sind angestachelt worden, die Kolonisten anzugreifen; und Versuche sind gemacht worden, den Beistand einer großen Horde von Russen zu gewinnen. Mit gleichen Absichten sind deutsche Truppen gemietet worden; und die Verteidigung unserer Festungen und Garnisonen wurde deren Händen anvertraut." Durchaus in Übereinstimmung mit Price stellen auch die neueren englischen Historiker den Soldatenschacher, der deutschen Fürsten mit Recht zur Schande gerechnet wird, als eine Schmach hin, die nicht minder auf Großbritannien fiel und die Gefühle der Kolonisten stark verbittert habe 9 .

5 . D e r S k l a v e n h a n d e l als S ä u l e des R e i c h e s Des Sklavenhandels gedenkt Seeley im Zusammenhange seiner Bemerkungen über die „Verbrechen", mit denen das englische Kolonialreich (gleich dem spanischen und anderen) aufgebaut sei. Er nennt ihn „das größte dieser Verbrechen". „England hatte schon zur Zeit der Elisabeth einen Anteil am Sklavenhandel, als John Hawkins als der erste Engländer sich hervortat, der seine Hände mit den Greueln dieses Handels 9

Vgl. Lecky,

A Hist. of the eighteenth Century Ch. 12. Sir G. O. Trevelyan,

The american

revolution, P. II, Vol. I, p. 3 4 - 5 6 . 18 „... deren Händen 20 Soldatenschacher:

anvertraut":

Vgl. Price, 1776: 97, 104.

Die zwangsweise Abstellung vornehmlich deutscher Söldner für die

englische Armee im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.

44

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

befleckte. Man findet bei Hakluyt10 die eigene Erzählung des Hawkins, wie er 1567 an ein afrikanisches Dorf herankam, dessen Hütten mit trockenen Palmblättern bedeckt waren, wie er es in Brand steckte und das ,Glück' (!) hatte, von 8000 Einwohnern 250 Personen, Männer, Frauen und Kinder einzufangen" (158) „Wie unser Kolonialreich selber, so war unsere Teilnahme am Sklavenhandel das allmählich gewachsene Erzeugnis des 17. Jahrhunderts. Durch den Utrechter Frieden (1713) wurde der Sklavenhandel sozusagen aufgerichtet und wurde, nach dem Ausdruck Leckysn, ein zentrales Objekt der englischen Politik. Von diesem Zeitpunkt an, fürchte ich, hatten wir den Hauptanteil und besudelten uns mehr als andere Nationen mit den ungeheuerlichen und unsagbaren Greueln des Sklavenhandels" (ib.). Gemildert werde diese Schuld ein wenig dadurch, „daß wir unsere eigenen Vergehen bekannt machten, sie bereuten und schließlich Verzicht darauf leisteten" (159). Aber im ganzen habe diese Epoche (die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts) das englische Volk säkularisiert und materialisiert wie nichts zuvor, auch nicht die Restaurationszeit des leichtsinnigen Königs Karl II; niemals seien „schmutzige Motive" so auf der Höhe gewesen (Seeley meint: bis 1883). In der Tat wird man sich der Vermutung nicht entziehen können, daß die Wirkungen, die der Sklavenhandel — der immer mit Sklavenjagd und Sklavenraub verbunden war — auf die moralischen Qualitäten des dadurch bereicherten Teiles des englischen Großbürgertums geübt hat, nicht eben günstige gewesen sein können; und wenn in diesem Lande, mehr und früher als in anderen Ländern, bittere Klagen der Menschenfreunde und Philosophen über die Brutalitäten des Reichtums laut geworden sind, so wird man sich der Art, wie große Stücke dieses Reichtums erworben wurden, erinnern müssen, um die Gründe solcher Klagen zu verstehen. Im Jahre 1750 erließ das Parlament ein Gesetz gegen die Entführung von Negerkindern (Kidnapping); es erwies sich aber als „völlig wirkungslos 1 2 ". Zwanzig Jahre später rühmte sich der ältere Pitt (Graf von 10

Vgl. Hakluyt, The principal lish nation, made by sea or " Hist. of England in the 18. 12 Rose, Pitt and the national

i Hakluyt:

navigations, voyages, traffiques and discoveries of the Engon land. London 1598, 2 Vol. Century II, 13. revival, London 1909, S. 455.

Vgl. Hakluyt, 1907: VII, 54.

Die Eroberung Indiens

45

Chatham), seinen Eroberungen in Afrika während des 7 jährigen Krieges sei es zu danken, daß beinahe der ganze Sklavenhandel in britische Hände gekommen sei. Und so blickte die Menge auf diesen Handel als auf eine „Grundsäule des Reiches und verhöhnte die wenigen Menschen, die daran Anstoß nahmen, als Verrückte 1 3 ".

6. D i e E r o b e r u n g Indiens Über die Eroberung Indiens hören wir zuerst den Philosophen

James

Mill, der die erste große Geschichte Indiens schrieb, selber Beamter der Kompagnie, die den größten Teil dieser Eroberung vollzogen hat. Er sagt: „Die beiden wichtigen Entdeckungen, auf denen die Eroberung Indiens beruhte, waren: 1. die Schwäche der Eingeborenenheere gegen europäische Disziplin, 2. die Leichtigkeit, diese Disziplin Eingeborenen in europäischen Diensten beizubringen . . . . Diese beiden Entdeckungen haben die Franzosen gemacht." Seeley, der diese Stelle anführt (233), fügt hinzu, es sei völlig unrichtig, zu reden, als ob die englische Nation die Nationen Indiens erobert habe. Sie seien bezwungen durch eine Armee, von der durchschnittlich nur V5 aus Engländern bestand. Die übrigen 4A bestanden aus den Eingeborenen selbst, so daß man sagen könnte, Indien habe vielmehr sich selber erobert. In Wahrheit gab es nie einen nationalen Staat Indien. In Wahrheit handelte es sich nicht sowohl um eine Eroberung als um eine innere Revolution, das Ergebnis von Kämp13

Rose, 1. c. Der Hafen von Liverpool verdankt vorzugsweise dem Sklavenhandel sein Aufblühen. Denn von allen Geschäften, die hier ihren Sitz hatten, war dies Geschäft „bei weitem das gewinnreichste". „Es ist berechnet worden, daß von 1783 — 1793 Liverpooler Sklavenschiffe 878 Rundreisen (von Liverpool nach der Guineaküste, von da nach Westindien und zurück in die Mündung des Mersey) machten, 303 737 Sklaven an Bord hatten und diese für 15 186 850 £ ( = ca. 304 Millionen Mark) verkauften." Man kann sich demnach vorstellen, welche Empörung der Gedanke, diesen Handel zu verbieten, erregt hat. „Auch Bristol, obschon es nur 18 Schiffe in diesem Handel hatte, war in heller Entrüstung; denn es war in hohem Grade abhängig von der Zuckerraffinierung und der Rumfabrikation." . . . . „Personen von rednerischer Begabung schilderten in grellen Farben den Verfall von Großbritanniens Handelsmarine, die Abnahme des englischen Reichtums und das Elend einer Zucker-Hungersnot durch Aufhören des Sklavenhandels." Rose, S. 463.

1 in Afrika:

Die Einnahme der frz. Stützpunkte in Senegambien ("Westafrika) seit 1760.

M „... die Franzosen

gemacht":

Vgl. Mill, 1820: III, 67 (Book IV, ch. 1).

46

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

fen, die darauf gerichtet waren, der Anarchie ein Ziel zu setzen. Der Talisman, vermöge dessen die Kompagnie in die Lage kam, dem Reiche des Großmogul ein Ende zu machen, „war nicht eine physische oder moralische Überlegenheit, wie wir uns gerne einbilden, sondern eine überlegene Disziplin und ein militärisches System; diese konnten auf die Eingeborenen Indiens übertragen werden" (245). Ob es Eroberung zu nennen sei oder nicht, gewiß ist, daß ausschließlich Gewalt — „Blut und Eisen" — zuerst der ostindischen Kompagnie, sodann dem Staate Großbritannien die Herrschaft über den größten Teil Vorderindiens verliehen haben. Die Führer in den entscheidenden Kämpfen des 18. Jahrhunderts waren 2 Männer, die sich durch starken Willen und nicht geringe Intelligenz auszeichneten: Lord Clive und Warren Hastings. Clive (1725 — 1774) wird in der neuesten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica (Cambridge 1910) der erste in eines Jahrhunderts glänzender Folge von jenen „Soldaten-Politikern" (so sage man im Orient) genannt, denen Großbritannien die Eroberung und Befestigung seiner größten Dépendance verdanke. Nach seiner definitiven Heimkehr fällte das Haus der Gemeinen einen Spruch über ihn (mit 155 gegen 95 Stimmen), daß Lord Clive „erlangte und in seinen Besitz brachte 234 000 £ (etwa 43A Millionen Mark) während seiner ersten Verwaltung Bengalens"; einstimmig wurden dann aber seine großen Verdienste um das Vaterland anerkannt. Der Fall Omichand wurde nicht erwähnt. Omichand war ein landesverräterischer Hindu, der von Clive durch eine Urkundenfälschung gröblich betrogen wurde und infolgedessen dem Wahnsinn verfiel; der Biograph der Enzyklopädie nennt diesen Fall den einzigen von „fragwürdiger Ehrlichkeit". Die 234 000 £ waren offenbar nicht fragwürdig. Lord Clive machte, noch nicht 50 Jahre alt, seinem Leben freiwillig ein Ende.

s Kompagnie: Die 'Englische Ostindische Kompanie' wurde 1600 gegründet mit dem Zweck, die ausländische Handelskonkurrenz auszuschalten. Das alleinige Handelsmonopol erlangte sie aber erst im Jahre 1709. Sie bestand bis zum Jahre 1858, dem Jahre, in dem Indien britische Kronkolonie wurde. 18 Dependance: Vgl. Enc. Brit., 1910: VI, 532. 19 Spruch: Vgl. Parliamentary History, 1813: XVII, 882. Die Abstimmung fand am 19. Mai 1773 statt. 23 Omichand: Omichand (eigentlich: Amir Chand) war ein Sikh aus dem Pandschab, der als „Moderator" zwischen Einheimischen und Engländern in Kalkutta auftrat. Omichand verfiel nicht der Idiotie, wie Tönnies (nach Macaulay) geschrieben hatte. Nach den Zwischenfällen lebte er noch zehn Jahre.

47

Die Eroberung Indiens

D a ß Gewissensbisse ihn geplagt haben, ist nicht wahrscheinlich, wenn er auch wußte, „daß ein großer Teil seiner Landsleute einen grausamen und perfiden Tyrannen in ihm sah". Er litt an Anfällen von Schwermut und hatte schon als junger Bureauschreiber in Madras zweimal einen Selbstmordversuch gemacht. Später war er leidenschaftlich dem Opiumgenuß ergeben. Warren Hastings, als Jüngling Kontorschreiber in Kalkutta, wurde mit 39 Jahren (1771) Gouverneur von Bengalen, einige Jahre später GeneralGouverneur von Ostindien. Seine Handlungen in diesen amtlichen Stellungen veranlaßten den größten Staatsprozeß, von dem die Geschichte weiß. Der Prozeß, den das Haus der Gemeinen gegen ihn vor dem Hause der Lords führte, dauerte vom 13. Februar 1788 bis zum 23. April 1795. Hauptankläger war kein Geringerer als Edmund

Burke. Der Prozeß ver-

lief schleppend, es war aber auch ein ungeheures Material zu bewältigen. Er endete mit Freisprechung von den schweren Staatsverbrechen, deren Hastings bezichtigt war, aber mit Verurteilung in die Kosten ( 8 0 0 0 0 £). Das Urteil der Nachwelt — wenigstens in seinem Vaterlande — hat sich mehr und mehr zu seinen Gunsten gewandt. Selbst Macaulays

berühmter

Aufsatz, der die bedeutenden Eigenschaften des Mannes in helles Licht stellt, gilt heute als parteiisch und ungenau. Heute wird er als der Held verherrlicht, der zuerst ein System der bürgerlichen Verwaltung für Indien geplant und der schlimmsten Korruption unter den Beamten der Kompagnie, der systematischen und massenhaften Ausplünderung der Eingeborenen ein Ende gemacht habe. Immerhin wird zugestanden, daß er unregelmäßige Dinge getan, den Buchstaben des Gesetzes verletzt, Vertragstreue gebrochen, Witwen beraubt hat und alles andere als ein gewissenhafter Politiker war. Die Greuel, zu denen er sich berechtigt gehalten hatte, lagen damals in unendlich weiter räumlicher Entfernung. Heute ist die zeitliche Entfernung hinzugekommen. Unter den M o h a m medanern Bengalens dürfte das Gedächtnis dieser Zeit in etwas anderem Sinne lebendig geblieben sein als bei Warren

Hastings'

Landsleuten,

wenn auch von diesen versichert wird, daß die Eingeborenen seinen Namen „verehren" 1 4 . „Die Klugheit und der Ruhm seiner Herrschaft — 14

Vgl. Enc. Brit. 11. ed. s. v. Dict. Nat. Biogr. Warren

3 „...

Tyrannen

19 Aufsatz: 33 „verehren

Hastings.

in ihm sah": Vgl. Art. „Clive", in: DNB, 1887: IX.

Vgl. Macaulay, 1841. : Vgl. Enc. Brit., 1910: XIII, 58; DNB, 1891: X X V , 1 3 6 - 1 4 7 .

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Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

urteilt / . R. Green — konnte nicht deren schreckliche Ruchlosigkeit verbergen. Er nahm das Geld, wo er es kriegen konnte. Er verkaufte für eine wüste Summe die Dienste britischer Truppen, um die freien Stämme der Rohillas zu zermalmen. Er erpreßte eine halbe Million vom Rajah von Benares. Durch Folter und Hunger entwand er mehr als eine Million aus den Händen der Prinzessinnen von Oudh. Durch Maßregeln, die kaum weniger gewissenlos waren, hatte er von Anfang an seine Macht erlangt 1 5 ." Gewiß ein würdiger Nationalheld! Schon 6 Jahre, ehe der Prozeß begann, am 9. April 1782, legte Henry Dundas (damals neuernannter Schatzmeister der Marine, später als Viscount Melville erster Lord der Admiralität) dem House of Commons „die Ursachen und die Ausdehnung der nationalen Mißgeschicke im Orient dar. Er verbreitete sich über die schlechte Aufführung der indischen Präsidentschaften und des Hofes der Direktoren (der ostindischen Kompagnie): jener, weil sie die Nation um Eroberungen in Kriege stürzten, weil sie eingegangene Verträge verachteten und verletzten; weil sie das Volk von Indien plünderten und unterdrückten; dieser — der Direktoren — weil sie Vergehungen nur tadelten, wenn solche nicht mit Profit verknüpft wären, dagegen eine sehr beständige Nachsicht übten gegen die größten Missetaten, so oft daraus ein augenblicklicher Gewinn sich ergebe. Die dreistündige Rede mündete in einer Reihe von Resolutionen, die das Haus feierlich votierte 1 6 ". Der Dichter Cowper klagte damals: „England ist strenge und verkündet Tod Für kleine Räuber, doch wenn Unterschleif An öffentlichem Gold geschah, ist Leben sicher Und Freiheit auch; oft gibt's noch Ehren obendrein. 15 16

Green, Short history p. 766. James Mill, A Hist. of the British India. Book V. Ch. 9.

4 Rohillas: Bewohner der Provinz Rohilkund, zwischen Himalaja und Ganges gelegen. Der Name stammt von den Rohilla-Patan (Afghanen), die sich um 1720 hier ansiedelten. Die Rohilla-Konföderation wurde 1775 von britischen Truppen besiegt und dem britischen Vasallenstaat Oudh unterstellt. 6 Oudh: Auch Awadh, muslimisches Fürstentum in Nordostindien, britisch seit 1856. 10 Dundas: Vgl. Parliamentary History, 1814: XXII, 1 2 7 5 - 8 3 . Die fragliche Debatte fand am 15. April 1782 statt. Henry Dundas veranlasste, dass Hastings von Indien abberufen wurde (1782). 23 Cowper: Vgl. „The Task", 1783 (aus Cowper: „The Task, a Poem" [1783], Book I).

49

Die Eroberung Indiens

Heimische Diebe müssen hängen, aber wer In seine Taschen, überladen und geschwollen schon, Den Reichtum indischer Provinzen legt, Den läßt man laufen, dessen seid g e w i ß 1 7 . " Der Verlust der 13 Kolonien und die Aneignung Indiens wägen einander auf. In dem fortwährenden Wechsel der Geschicke, der den großen Wettstreit mit Frankreich bezeichnet, bedeutete jener Verlust eine Niederlage, dieser Gewinn einen Sieg. Das Ergebnis war mehr als ein Ausgleich. „In Indien hatten die Franzosen in weit entschiedenerer Weise als in Nordamerika den Vorsprung vor uns; wir hatten dort zunächst durchaus das Gefühl unserer geringeren Bedeutung im Vergleich mit ihnen und fochten im Geiste einer hoffnungslosen Selbstverteidigung" (Seeley 35). Furcht vor den Franzosen war der entscheidende Beweggrund. „Hinter jeder Bewegung der einheimischen Mächte sahen wir französische Intrige, französisches Gold, französischen Ehrgeiz, und niemals, bis wir Herren des ganzen Landes waren, wurden wir die Empfindung los, daß die Franzosen uns daraus

vertreiben

wollten . . . . (36). Auch hier also lag „der Wettbewerb der westlichen Nationen um den Reichtum der Regionen, die im 15. Jahrhundert entdeckt worden waren" ruhende Furcht

(305), zugrunde. Und es lag die niemals

der englischen Politik zugrunde. So war denn die

Zurückdrängung Frankreichs aus Indien die Vorbedingung der Herrschaft über die Hindus. „Diese Tatsache, verbunden mit der anderen ebenso schlagenden Tatsache des großen Handels, der jetzt zwischen England und Indien besteht, führt sehr natürlich zu der Theorie, daß unser indisches Reich von Anfang bis zu Ende aus dem Geiste des Geschäfts emporgewachsen ist. Nachdem wir unsere Ansiedlungen an der Küste sowohl gegen die eingeborenen Mächte als gegen den Neid der Franzosen verteidigt hatten — so ist der Gedankengang —, wurden wir von dem Ehrgeiz erfaßt, unsern Handel weiter ins Innere auszudehnen; wir stießen da von ungefähr auf neue Staaten, wie Mysore und den Mahratta-Bund, die anfangs abgeneigt waren, mit uns in Verkehr zu treten, aber im Eifer unserer Habsucht Gewalt, 17

ließen

Vgl. Trevelyan,

32 Mahratta-Bund:

unsere Heere los auf sie, brachen

brauchten ihre

wir

Zollhäuser

The american revolution II, 1, p. 27. Zusammenschluss hinduistischer Staaten in Zentralindien, der im

18. Jahrhundert zu bedeutender Machtentfaltung gelangte.

50

Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

nieder und überfluteten dagegen ihre Gebiete mit unseren Waren. Auf diese Weise hatten wir Schritt für Schritt unser indisches Geschäft gefördert, und schließlich, als wir jede große einheimische Regierung nicht allein eingeschüchtert, sondern schlechthin über den Haufen geworfen hatten . . . ., da wurde, nach Entfernung aller Hemmungen, unser Geschäft enorm" (305/6). Seeley will diese Ansicht nicht ohne weiteres gelten lassen. Die Zusammenhänge seien verwickelter. Die Fortschritte des Geschäfts seien unabhängig von den Fortschritten der Eroberung gewesen. Bis 1813 sei der Handel unbedeutend geblieben, trotz der vorausgegangenen ungeheuren Annexionen; er habe erst sich entfaltet, nachdem die Gesetzgebung die ostindische Kompagnie ihres Monopols beraubt und die Gesellschaft so gut wie aufgehoben hatte. Die Perioden der Fortschritte des Handels und die der Fortschritte der Eroberung entsprechen einander nicht. Von Schutz und Verteidigung der Faktoreien habe das Imperium seinen Ausgang genommen. „In der unmittelbar folgenden Periode freilich, der revolutionären und korrupten Periode von Britisch-Indien, ist es unleugbar, daß wir angestachelt waren durch nackte Kaubsucht. Die gewaltsamen Maßnahmen von Warren Hastings gegen Benares, in Oudh und Rohilcund hatten die Natur von pekuniären Spekulationen" (313). Die spätere Geschichte von Britisch-Indien sei von anderer Art gewesen. — Der Scharfsinn des Historikers versagt hier. Seine Ausführungen vermögen nur zu zeigen, daß der Zusammenhang zwischen Handel und Eroberung in späterer Zeit weniger offenbar gewesen ist. Den ungeheuerlichen Mißbräuchen der Verwaltung, wodurch die Kompagnie sich ein Denkmal bleibender Schande gesetzt hat, machte ein Gesetz Pitts von 1784 und im Anschluß daran die Reformen des Lord Cornwallis, der 1786 bis 1793 Generalgouverneur war, ein Ende. Von dieser Zeit ab bestand keine Personalunion mehr zwischen den Gouverneuren und den kaufmännischen Räuberhauptleuten. Wenn aber Lord Welles-

1« Maßnahmen: Vom Fürsten von Benares, Chait Singh, forderte William Hastings Geld und Truppen, um den Krieg gegen die Mahraten weiterzuführen. Oudh wurde um 1 Million Pfund Sterling erpresst, indem Hastings sich fingierter Dokumente bediente, um dem Fürstentum rebellische Aktivitäten gegen die englische Herrschaft vorzuwerfen. 26 Pitt: Gemeint ist William Pitt der Jüngere, der im Falle der Reformierung der Ostindischen Handelskompanie erreichte, daß die Kontrolle auf die Regierung überging. 27 Cornwallis: Charles Cornwallis reformierte nach den Missbräuchen von Robert Clive und William Hastings die englische Verwaltung in Indien.

Die Eroberung Indiens

51

ley 1798 als Generalgouverneur die Einmischung und Annexion zum Prinzip erhob und seine Nachfolger erst recht danach handelten, so werden sie nicht nur persönlich ihre Rechnung dabei gefunden haben; sie haben ohne Zweifel auch gewußt, daß sie die Quellen einer unermeßlichen Bereicherung durch den Handelsverkehr und die Besteuerung eröffneten. Die Taten des Lord Dalhousie, der 1847—1856 Indien regierte und ohne jeden Rechtstitel 1856 vom Königreich Oudh Besitz ergriff, wie er vorher (1851 — 52) Pegu den Birmanen gewaltsam abgenommen hatte, mögen nicht unmittelbar durch Habsucht bestimmt gewesen sein — Seeley meint: wenn Verbrechen, so seien es Verbrechen des Ehrgeizes gewesen (315) —; so war es doch nur das Handelsinteresse der Heimat und ihrer Regierung, was ihn gewähren ließ und ihn unterstützte. In der früheren Epoche war das kommerzielle Motiv teilweise durch die größere Lust und Bequemlichkeit des unmittelbaren Raubes, in der späteren durch die scheinbar rein militaristische Politik des Imperiums verhüllt. Denkt man aber die Beweggründe der Habgier weg, so wird die Eroberung Indiens durch England sinnlos. Denn sie hat nicht nur viel Blut — wenn auch zumeist nur das Blut eingeborener Söldner —, sondern auch sehr viel Geld gekostet. Es handelte sich auch hier um eine nationale Kapitalanlage im größten Stile. Als großes Verdienst wurde dem Warren Hastings angerechnet, daß er die öffentlichen Einkünfte — die zunächst der Kompagnie zuflössen — von 3 Millionen auf 5 Millionen £ gebracht habe. Noch ehe Hastings' Taten und Untaten im einzelnen bekannt waren, schrieb der schon genannte Richard Price (a. a. O. S. 103): „Wendet eure Augen nach Indien. Dort ist mehr getan worden, als jetzt (1778) in Amerika versucht wird. Dort haben Engländer, bewogen durch Lust am Plündern und den Geist der Eroberung, ganze Königreiche entvölkert und haben Millionen unschuldiger Menschen durch die schandbarste Unterdrückung und Raubsucht ruiniert. Die Gerechtigkeit der Nation hat ge-

i Wellesley:

Richard Colley, Marquess Wellesley, war Generalgouverneur von Indien

1797—1805. Unter ihm dehnte sich die britische Herrschaft in Indien nach Süden hin aus. 6 Dalhousie:

Der Marquis of Dalhousie, Generalgouverneur von Indien seit 1847, erklärte

1849 den Pandschab zur britischen Provinz, führte 1852 den zweiten Burmesischen Krieg, der zur Annexion des unteren Birma führte, ebenso von Nagpur, Jhansi und Oudh. Dalhousies Amtsführung war mit ausschlaggebend für den großen indischen Aufstand von 1857. s Pegu: Provinz in Südbirma, 1852 Britisch-Indien einverleibt.

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Kriege gegen Spanien, gegen Holland, gegen Frankreich, vom 16. bis zum 18. Jahrh.

schlafen über diesen Ungeheuerlichkeiten. Wird auch die Gerechtigkeit des Himmels schlafen? Werden wir nicht jetzt verflucht auf beiden Hälften des Erdballs?" Eine furchtbare Abrechnung vollzog sich in der sogen.

Meuterei

(1857—1858), die in Wahrheit eine soziale und religiöse Rebellion war. Vgl. 15.

3 „...

Hälften des Erdballs": Vgl. Price, 1776: 114.

5

Zweiter

Abschnitt

Kampf gegen die französische Republik und gegen Napoleon 7. Angriff gegen die f r a n z ö s i s c h e R e p u b l i k — D a s e u r o p ä i s c h e Gleichgewicht In einer Aufzählung der 7 großen europäischen Kriege, die England 1688 — 1815 unternommen habe, nennt Seeley die beiden letzten: Kriege gegen das revolutionäre Frankreich. In Wahrheit war es der eine große Krieg, wenn auch unterbrochen durch den Frieden von Amiens (1802), dessen Bedingungen England nicht einhielt. Dieser große Krieg wird von Seeley als Fortsetzung und Abschluß des Streites um die Neue Welt und um Indien dargestellt. „Wie im amerikanischen Kriege (dem Abfall der Kolonien) Frankreich an England Rache nimmt für die Austreibung aus der Neuen Welt (durch den Pariser Frieden 1763), so macht es unter Napoleon titanische Anstrengungen, seine verlorene Stellung dort wiederzugewinnen" (39). Die erste Veranlassung des Krieges gab eine kontinentale Frage. Der französische Nationalkonvent hatte am 16. November 1792 beschlossen, daß die Schiffahrt in der Scheide-Mündung frei sein solle. Er gab damit kund, daß er an die von England der alten Monarchie abgenötigten Verträge — es waren nicht weniger als 5 seit dem Utrechter Frieden — sich nicht gebunden halte. In diesen Verträgen war das im westfälischen Frieden den Holländern eingeräumte Recht, Ausländer von der Scheidemündung auszuschließen, von Frankreich anerkannt worden. Durch den Bündnis-Vertrag von 1788 hatte überdies England diese und andere Rechte den Niederlanden garantiert. „Es war lange ein Grundsatz in Whitehall (der Straße der englischen Regierung) gewesen, daß die Pays Bas niemals an Frankreich fallen dürften. Um solches Unheil zu verhüten, hatte England mehr als ein Jahrhundert lang 9 Friede von Amiens: Zwischen Frankreich und England: Regelung der Mittelmeerfragen, der überseeischen kolonialen Probleme, Regelung der deutschen Verhältnisse. Z u m Bruch durch England kam es, da es nicht gewillt war, verabredungsgemäß Malta an den Johanniterorden zurückzugeben.

54

Kampf gegen die französische Republik und gegen Napoleon

Gut und Blut daran gegeben 18 ." Scheinbar gab die Hinrichtung Ludwigs des Sechzehnten den Anstoß zum Kriegsausbruch. Man hatte scheinbar einen sittlichen Beweggrund, dem Treiben der Jakobiner Halt zu gebieten. Der jüngste englische Historiker der Epoche glaubt keineswegs an diesen Beweggrund. „In keinem Sinne war der Prozeß die Ursache des Krieges. Die Frage drehte sich wesentlich um das Verhalten der Franzosen gegen unsern holländischen Verbündeten" (Rose a. a. O. S. 117). „Für Pitt und Grenville war der Krieg nicht ein Krieg um Meinungen — Monarchie gegen Republik —; es war ein Kampf, um das Gleichgewicht der Macht zu bewahren, weil unsere Staatsmänner zu allen Zeiten erkannt haben, daß dies Gleichgewicht unverträglich sei mit der Herrschaft Frankreichs über die Niederlande" (ib. 100). Das europäische Gleichgewicht ist eine andere Formel für die unbedingte, unter beliebigen Vorwänden durchgeführte Bekämpfung jeder europäischen Macht, die dem englischen Weltreich gefährlich zu werden droht oder scheint; und die Verbündung mit jeder anderen europäischen Macht, die gerade, aus irgendwelchen anderen Ursachen, gleichfalls im Gegensatz zur rivalisierenden Großmacht sich befindet. Die „Erhaltung" des europäischen Gleichgewichts durch England bedeutet daher in der Wirkung immer Störung des europäischen Gleichgewichts und europäischen Krieg. Denn, wenn die anderen Mächte so gruppiert sind, daß sie einander das Gleichgewicht halten oder nach kurzem Kriege wieder ins Gleichgewicht kommen würden, so legt England jedesmal sein Gewicht in die Wagschale, die seinen, Englands, Gegner „in die Luft fliegen" lassen soll: dadurch erregt oder schürt und verlängert es die Kriege, um seinen Gegner zu demütigen, zu verkleinern, zu berauben. So hat die englische Weltpolitik den Nimbus gewonnen, Europa vom Tyrannen Bonaparte zu befreien. Man mag die Vorstellung ausbilden, wie sich das Schicksal Frankreichs und Europas gestaltet hätte, wenn es England nicht als notwendig erschienen wäre, die französische Republik zu bekämpfen; daß vielleicht Napoleons militärisches Genie niemals Gelegenheit gefunden hätte, gegen Osterreich und gegen Preußen sich zu entfalten. Aber solche Betrachtungen sind müßig. Die Bekämpfung Frankreichs (und des seit 1713 zur

18

Holland

2 Ludwigs

Rose, Pitt and the great war, p. 83.

des Sechzehnten:

Der König wurde am 21. Januar 1793 guillotiniert.

55

Der Raubzug gegen Dänemark

Dependance Frankreichs gewordenen Spanien) w a r das durchgehende und wesentliche M o t i v der englischen Weltpolitik. Wenn irgendwo, so stehen wir hier vor dem ungeheuren Schauspiel eines Zusammenprallens der Weltmächte, deren Bahnen so vorgezeichnet waren, daß sie einander treffen und aufeinander stoßen mußten;

denn eine Richtung auf Weltbe-

herrschung lag von ihren Anfängen her in der französischen Revolution, so gut wie sie der alten französischen M o n a r c h i e zu eigen gewesen war, und dadurch, daß er dieser Tendenz zum D u r c h b r u c h verhalf, wurde der „kleine K o r p o r a l " der Testamentsvollstrecker der Revolution. Es ist in hohem Grade fesselnd, den Wendungen und Wandlungen der englischen Politik in diesem endlich — mit Hilfe der deutschen Großmächte — siegreichen Ringen nachzugehen. Ein Hauptkampfmittel Englands war immer der Gebrauch des Kaperrechts und besonders auch die Durchsuchung neutraler Schiffe, die auf den „ C o n v o i "

(Geleit durch

Kriegsschiffe) nicht achtete. Dagegen richtete sich der Bund der „bewaffneten Neutralität", der, auf russische Anregung, 1779 geschlossen, fast alle Seemächte gegen England vereinigte und zu gleichem Z w e c k e 1 8 0 0 erneuert wurde. Daraus entsprang ein schwerer Konflikt und im folgenden J a h r e Krieg zwischen England und D ä n e m a r k . Der dänische Minister G r a f Bernstorff

meldete nach Petersburg: England versage jede Entschädi-

gung und treibe die Sache zum Äußersten; Englands Übermut und Gewaltsamkeit habe eine solche H ö h e erreicht, daß nur eine neue Übereinkunft der darunter leidenden M ä c h t e sie zu dämpfen vermögen werde 1 .

8. Der Raubzug gegen Dänemark Aber die willkürliche Auslegung des Völkerrechts, wodurch England von jeher die neutralen Seemächte gegen sich aufgebracht hatte, wurde bald 1

Nach dem neuesten dänischen Geschichtsschreiber Edvard Holm, Danmark-Norges Historie VII, 1 (1912), S. 10. Aus diesem vortrefflichen Werke ist viel neues über die ganze Zeit zu lernen.

I Spanien: Der Friedensschluß von Utrecht 1713 bestimmte u. a., daß Philipp V., Enkel Ludwigs XIV. und Herzog von Anjou, König von Spanien wurde und auf seine französischen Ratgeber angewiesen blieb. 19 1800 erneuert:

1780 kam es zur Erklärung der bewaffneten Seeneutralität durch Katha-

rina II., um den Handelsverkehr der Neutralen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu sichern.

56

Kampf gegen die französische Republik und gegen Napoleon

durch eine Handlung in den Schatten gestellt, die ganz Europa mit Unwillen und Entsetzen erfüllte. Diese Handlung war der Überfall des inzwischen durchaus neutralen und friedlichen dänischen Reiches — die Beschießung und Verbrennung Kopenhagens. Am 7. Juli 1807 war der Tilsiter Friede geschlossen worden. Am 21. Juli erhielt Canning einen geheimen Bericht über Napoleons Vorhaben in bezug auf Dänemark und die geheimen Artikel des Tilsiter Friedens. Weder Briefe noch Personen konnten damals von Tilsit nach London in 14 Tagen kommen. (In der Tat bezog sich der Bericht auf ein angebliches Gespräch zwischen Napoleon und dem Zaren vom 25. Juni2.) Am 26. Juli erhielt Admiral Gambier den Befehl seiner Regierung, in die Ostsee zu segeln. „Am 3. August erklärte der englische Gesandte Taylor dem Grafen Bernstor ff zu Kopenhagen in einer ministeriellen Konferenz, die englische Regierung habe die bestimmtesten und unzubezweifelndsten Nachrichten erhalten, daß Rußland durch die geheimen Artikel des Tilsiter Friedens sich mit Frankreich in eine gegen England gerichtete Verbindung eingelassen habe, welcher Dänemark bereits beigetreten sei. Und in der Mitte des Augusts erklärte der Staatssekretär Canning offiziell, die englische Regierung habe jetzt die authentische Anzeige erhalten, daß nunmehr die Herzogtümer Schleswig und Holstein von den französischen Truppen wirklich besetzt seien 3 ." 2 3

Engl. Hist. Rev. Oct. 1901, p. 717. So berichtet ein Kundiger in der anonymen deutschen Schrift, die noch im gleichen Jahre (1807) erschien: „Ist es England rechtfertigen?

gelungen,

seinen

Raubzug

gegen

Dänemark

zu

— Eine Untersuchung, veranlaßt durch die englische Deklaration vom

25. Sept. 1807." - Kiel, in der Akademischen Buchhandlung, 1807. 157 S. Verfasser ist der Legationsrat ]oh. Daniel Timotheus

Manthey.

Die Richtigkeit seiner Gesichtspunkte

(außer daß er Napoleon viel zu harmlos nahm) wird bestätigt durch die neueste gründliche Untersuchung von Erik Möller 5 Tilsiter

Friede:

in Dansk Historisk Tidskrift 1 9 1 0 / 1 2 , p. 3 0 9 - 4 2 2 .

Dieser wurde am 7. Juli 1807 zwischen Frankreich und Russland sowie

am 9. Juli 1807 zwischen Frankreich und Preußen nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon abgeschlossen. Dabei wurde Preußen auf seine Gebiete östlich der Elbe beschränkt. 7 Artikel:

U. a. sollte Dänemark mit den hanseatischen Städten entschädigt werden, falls

es seine Flotte Frankreich unterstellte. IO Gespräch:

Dieses Gespräch fand tatsächlich am 25. Juni 1807 auf einem Floß inmitten

des Memel statt; dabei ging es um eine frz.-russ. Allianz gegen England. 13 Taylor:

Bei Rose, 1901: 716, heißt es darüber: „In reality Canning desired to have an

ambassador at Copenhagen who knew his innermost mind in regard to the new and threatening situation.". 21 besetzt

seien: Vgl. Manthey, 1807: 37 f.

Der Raubzug gegen Dänemark

57

Die Herzogtümer sind niemals von französischen Truppen besetzt gewesen. Ein geheimer Traktat, der dem Tilsiter Frieden folgte, hatte allerdings unter gewissen Voraussetzungen einen Z w a n g gegen D ä n e m a r k in Aussicht genommen. Da Canning auch im Hause der Gemeinen den Überfall durch angebliche Kenntnis dieser Artikel rechtfertigen wollte und deswegen zur Rede gestellt wurde, mußte er. einräumen, „die Minister seien nicht im Besitze irgendeines geheimen Artikels, aber — behauptete er — der wesentliche Inhalt (the substance) eines solchen geheimen Artikels sei der Regierung vertraulich mitgeteilt worden, und zwar zu einer viel früheren Zeit" (es war darauf hingewiesen worden, daß erst am 8. August die Nachricht vom Friedensschluß und der Text des Vertrages Englands Küste erreicht habe): er sagt niemals, zu welcher Zeit. Auch in der „Declaration", gegeben Westminster, den 25. September 1807, behauptet die englische Regierung, die positivste Nachricht erhalten zu haben, daß „der gegenwärtige Beherrscher von Frankreich" beschlossen habe, das Gebiet von Holstein mit einer Kriegsmacht zu besetzen „zu dem Zwecke, Großbritannien von allen gewohnten Kanälen des Verkehrs mit dem Kontinent auszuschließen; den dänischen Hof zu veranlassen oder zu nötigen, den Sund gegen britischen Handel und britische Schiffahrt zu sperren; endlich sich der dänischen Marine für die Invasion von Großbritannien und Irland zu bedienen". Diesen (vermuteten) Plänen sollte vorgebeugt werden. Ein neuerer englischer Historiker 4 , der Cannings Genie feiert und ihm intuitive Geisteskräfte zuschreibt, m u ß zugleich einräumen: „Es kann jetzt als fest bewiesen angesehen werden, daß die Kenntnis, worauf er zuerst seinen Entschluß gründete, überaus mager war. Teilweise ... war sie schlechthin falsch; aber daß sie falsch war, wußte er erst am 10. August" (am 2. September begann das Bombardement!).

4

Möller beweist auch, daß der wirkliche Inhalt des geheimen Traktats völlig verschieden war von dem, was man in London vermutete. Wichtig ist auch die Darstellung bei Edvard Holm, a. a. O., S. 2 5 2 - 3 4 0 . Ungenannt in Edinb. Rev., April 1906, S. 345 — 361. Daß es ein Historiker ist, der hier redet, ist offenbar. Er ist in der Lage gewesen, aus den Staatsarchiven zu schöpfen.

8 Inhalt: Vgl. Möller, 1910/12: 418, Anm. 2, u. d. weiteren Hinweise. 2i „ . . . und Irland zu bedienen": Sie ist auf deutsch abgedruckt bei Manthey, 1807: 149-157. 27 „ . . . erst am 10. August": Vgl. Edinburgh Review, 1906: 357.

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Kampf gegen die französische Republik und gegen Napoleon

Die Aktion begann damit, daß der britische Gesandte in Kopenhagen instruiert wurde, dem dänischen Minister beruhigende Zusicherungen zu geben über die Anwesenheit der britischen Flotte in der Ostsee, da sie keine Bedrohung für Dänemark bedeute, sondern lediglich bestimmt sei, mit Schweden zusammenzuwirken und die britische Landarmee (die nach Stralsund gebracht war) zu schützen. Diese Instruktion datiert vom 16. Juli. Am 28. Juli wurde ein außerordentlicher Gesandter (Jackson) zum dänischen Kronprinzen (und Regenten) abgeordnet, der am 29. eine „spezielle und sehr geheime" Instruktion (von Canning

eigenhändig) er-

hielt, worin es heißt: „Sie werden sorgfältig beherzigen, daß die Besitznahme der dänischen Flotte der eine und unerläßliche Hauptzweck ist, auf den Ihre gesamten Unterhandlungen zu richten sind, und ohne welche keine andere Abmachung oder Einräumung als von irgendwelchem Werte oder Wichtigkeit betrachtet werden kann. Daher wird es sogar in dem Falle, daß die dänische Regierung den Bündnisvertrag einzugehen bereit sein sollte, wie er in dem Ihnen mitgeteilten Antrag vorgeschlagen ist, notwendig sein, daß diesem Vertrage ein geheimer Artikel hinzugefügt wird, wonach die Auslieferung der dänischen Flotte unverzüglich, und ohne daß die Formalität der Ratifikation des Vertrages abzuwarten ist, stattfinden s o l l 5 . " Jackson Minister Bernstorff,

brachte sein Ultimatum zuerst an den

dann (am 9. August) wurde er in Kiel vom däni-

schen Kronprinzen empfangen. Die Verhandlungen waren ohne Ergebnis. Am 16. August fand die Landung der britischen Soldaten statt zu Wibeck (zwischen Helsingör und Kopenhagen). Versuche wurden noch von den Admiralen gemacht, eine friedliche Auslieferung abzunötigen. Dann begann am 2. September das Bombardement von Kopenhagen, vom 5. September ab mit furchtbarer Wirkung. Die schöne Kathedrale (.Fruekirke),

mehrere zur Universität gehörige Gebäude und 3 0 5 Häuser

gingen in Flammen auf. Es folgte die Kapitulation und die gewaltsame Wegführung der ganzen dänischen Flotte.

5

Rose in Engl. Hist. Review, Jan. 1896, p. 86.

l der britische Gesandte: Benjamin Garlicke, der aber dann abberufen wurde. 7 Jackson: Francis James Jackson wurde 1807 nach Dänemark entsandt, s Kegenten: Friedrich VI. (1768 —1839), König seit dem 13. März 1808, der aber schon seit 1807 für seinen geisteskranken Vater Christian VII. (1749—1808) die Regentschaft übernommen hatte.

D e r R a u b z u g gegen D ä n e m a r k

59

Von der Tiefe der sittlichen Entrüstung, die dies Verfahren in Dänemark und in den Herzogtümern hervorrief, kann man sich eine Vorstellung bilden durch die Reihe von Flugschriften, die „Englands Tygerpolitik gegen das neutralitätfeste Dänemark" anklagten und die Rache des Himmels auf den Frevler herabbeschworen. Die wertvollste dieser Schriften ist die schon angezogene des Legationsrats Mantbey, von der noch der neueste dänische Bearbeiter jener Ereignisse (siehe oben) sagt, daß sie mit großer Kraft die hergebrachte dänische Auffassung geltend mache, und diese werde durch archivalische Forschungen aufs äußerste bekräftigt. Es heißt darin u. a. (S. 104): „Jetzt, wo der Schleier zerrissen ist, der den Fürsten und Nationen bisher Englands Selbstsucht und Ehrgeiz verbarg, jetzt erwäge man, ob so manche Krone gesunken und so manches blühende Land verheert sein würde, wenn nicht Englands Politik, Englands Gold und Englands geheime Verbrechen das große Gärungsmittel gewesen wären, durch welches in unserem merkwürdigen Zeitalter die empörte Masse in Aufruhr geriet, durch welches Auflösungen, Trennungen und neue Verbindungen bewirkt wurden, und das Ganze einer Formveränderung entgegenstrebte, deren dereinstige Vollendung der Menschheit vieles Blut und viele Tränen kostet." Die Schrift nennt (S. 8) den Charakter jener Deklaration „im Ganzen schwach, zuweilen boshaft, immer aber ein Gewebe von Heuchelei, Arglist und Unverstand". Es gab kein Land in Europa, das nicht in ähnlicher Weise der Empörung und dem Schauder Ausdruck gegeben hätte. In Amerika dürften diese Gefühle nicht minder laut geworden sein. Aber auch in England selbst fand das allgemeine Entsetzen einen kräftigen Widerhall. In der Political Review für September 1807 wird die Untat eine „Szene komplizierter Unbill" genannt, und nachdem alle Entrüstung über die Grundsätze, mit denen man sie verteidige (Macht allein gibt Recht u. dgl.) ausgegossen worden, heißt es: „Wenn irgend etwas den Ekel und den Schauder, den wir fühlen, so oft wir den Gegenstand erwägen, vermehren kann, so ist es die Sprache der Humanität und des Mitleids, die von unseren Höchstkommandierenden bei dieser Expedition geführt wurde. Diese kränkende Sprache (der cant) müsse noch 10 bekräftigt:

Vgl. Möller, 1910/12: 415.

28 „ S z e n e komplizierter 30 Macht

Unbill":

allein gibt Recht:

34 Expedition:

Vgl. Political Review, 1807: X X X V I I [37].

Vgl. Political Review, 1807: XLI [41].

Vgl. Political Review, 1807: XLI [41].

60

Kampf gegen die französische Republik und gegen Napoleon

mehr als die Sprache der Feindseligkeit die Gefühle der Dänen verwunden und reizen 6 . Die Adreßdebatten des im Januar 1808 zusammengetretenen Parlaments bezogen sich vorzugsweise auf diesen Gegenstand. Während die Adresse selber die glorreiche Tat rühmte, reichten 6 Lords einen Protest ein des Inhaltes: „Kein Beweis feindlicher Absicht von Seiten Dänemarks sei beigebracht worden und kein dringender Notfall bewiesen, um den Angriff auf Kopenhagen zu rechtfertigen, und so gereiche die Maßregel dem Charakter der Nation zur Unehre und ihren Interessen zum Nachteil." Stärker noch drückt ein einzelner Peer (Lord Erskine) sich aus (sein Protest füllt 4 Druckseiten des Berichtes, es heißt darin): Solange die Gerechtigkeit des Anfalles nicht erwiesen werde, habe Großbritannien seine moralische Stellung in der Welt verloren. ~ Auch im Unterhause machte die Opposition sich in schärfster Weise geltend. William Windham, der noch vor kurzem Kriegsminister in Pitts zweitem Ministerium gewesen war, erklärte, der einzige Weg, die Flecken zu tilgen, von denen das Land besudelt wurde, bestehe darin, daß man die Greuel öffentlich eingestehe; er klagte die Minister an, daß sie das Ansehen der Nation geopfert hätten. „Die Ruinen Kopenhagens sind das Denkmal ihrer Schande." Ein andermal meinte derselbe berühmte Redner, die Regierung habe den Grundsatz, daß Ehrlichkeit die beste Politik sei, offen verleugnet, und wenn Leute anfingen, ihre Theorie ihrer üblen Praxis anzupassen, so sei das ein Zustand der hoffnungslosesten Verderbnis; dies neue System der Sittlichkeit werde sich als ein dauerndes Unrecht gegen die Welt erweisen. Mehrere andere Abgeordnete nannten die Versuche der Rechtfertigung widerspruchsvolles und verlegenes Hinundhergerede; man wisse nicht, welche von den Geschichten, die die Regierung auftische, man glauben solle. Es sei zwar ein grober Ausdruck, aber 6

Reflections on the war with Denmark, extracted from Flowers Political Review. Die Benutzung des äußerst seltenen Sonderdrucks verdanke ich dem gütigen Entgegenkommen der K. Bibliothek zu Kopenhagen.

l Gefühle der Dänen: Vgl. Political Review, 1807: XLVII [47]. 3 Adreßdebatten: Vgl. Parliamentary Debates, 1808: X, 32 („Protest against the Seizure of the Danish Fleet"; vorgelegt am 21. Jan. 1808). Den Protest haben lt. Protokoll sieben Lords unterzeichnet. io Erskine: Vgl. Parliamentary Debates, 1808: X, 36 (am 21. Jan. 1808). 15 Windham: Vgl. Parliamentary Debates, 1808: X, 295 (am 3. Feb. 1808). 28 man glauben solle: Vgl. Pari. Reg., 1808: 199.

Der Raubzug gegen Dänemark

61

durchaus zutreffend, wenn man sage, daß sie das Haus um seine Meinung beschwindeln wolle. Ein Mitglied nannte die Wegführung der Flotte schlechthin „Diebstahl". In London wurde es sprichwörtlich: „Ehrlos wie der Zug nach Kopenhagen." Noch im Jahre 1822 sprach der Dichter Thomas Campbell in Versen, die er einem dänischen Freunde widmete, von der „skandalösen Geschichte"; wenn England zu Gericht gesessen hätte über diese herzlosen Tories, so hätten sie dafür „baumeln" müssen usw. Neuere englische Historiker betrachten die Sache kalt. H. W. Wilson (Trin. College, Oxford) sagt: „Daß der Angriff notwendig war, wird niemand heute leugnen. England kämpfte um sein Dasein; und, wie unangenehm auch die Aufgabe war, einen schwachen Neutralen niederzuschlagen, England riskierte seine eigene Sicherheit, wenn es in Napoleons Hand eine Flotte von solcher Bedeutung ließ 7 ." Etwas anders im gleichen Bande der Cambridge Modern History ]. Holland Rose (Cambridge): „Großbritannien erlitt einen Verlust seiner moralischen Reputation, der teilweise den Gewinn aufwog, der durch den Zuwachs an materieller Stärke zu seiner Flotte und das vermehrte Gefühl der Sicherheit erzielt war. Die Völker des Kontinents, unkundig der Gründe, die das Handeln Englands bestimmten, erklärten es für wenig besser als eine Seeräuberei. Erst sehr allmählich verflüchtigte sich dieser üble Eindruck ... 8 ." Eine äußere Ähnlichkeit besteht zwischen dieser Tat und dem Verfahren des Deutschen Reiches gegen Belgien 1914. In beiden Fällen handelte es sich darum, dem Feinde zuvorzukommen; in beiden war die Meinung, daß dieser seinerseits die Neutralität nicht achten werde. Aber man be7 8

Cambridge Modern History, Vol. IX, p. 236. a. a. O., S. 299.

3 Diebstahl: Vgl. Pari. Reg., 1808: 427. 5 Campbell: Das Gedicht ist — ohne Titel — abgedruckt in: Danske Samlinger 1868 — 69: IV, 191 f. Der Hinweis entstammt Holm 1875: 306, Anm. 2. Im engl. Original lauten die entsprechenden Zeilen: „In that deed — 'twas a deed of our merciless Tories,| Whom we hate though they rule us, and I can assure ye,| They had swung f o r ' t if England had sat as their jury.". Der dänische Freund Campbells, den Tönnies hier erwähnt, war Andreas Andersen Feldborg, Schriftsteller und Lehrer für englische Sprachen in Göttingen. Er übersetzte im Jahre 1809 ein Werk über den englischen Überfall auf Dänemark ins Dänische. Von Campbell liegt übrigens ein Gedicht vor mit dem ursprünglichen Titel „The Battle of Copenhagen" (später unter dem Titel „The Battle of the Baltic" veröffentlicht), das eher zu einer gegensätzlichen Interpretation einlädt (vgl. Beattie, 1849: II, 4 2 - 4 6 ; Campbell, o. J.: 6 6 - 6 7 ) .

62

K a m p f gegen die französische Republik und gegen Napoleon

achte die ungeheuren Unterschiede: 1. 1807 war diese Meinung eine bloße auf Gerüchten beruhende Vermutung; 1914 war sie in Tatsachen begründet. 2. 1807 hatte Dänemark selber die Neutralität peinlich beobachtet, der Regent des Landes neigte sogar stark zu England; 1914 hatte Belgien seine Neutralität gröblich verletzt durch eine Militärkonvention, die es mit England eingegangen war. 3. Das angegriffene Dänemark hatte keine Verbündeten, und selbst wenn Napoleon ihm hätte helfen wollen, so wäre er durchaus außerstande dazu gewesen. Überdies lag die Hauptmasse der dänischen Landarmee in Holstein, und die Regierung war so ahnungslos, daß sie nicht einmal diese nach Seeland kommen ließ. Hingegen das angegriffene Belgien hatte die mit ihm heimlich verbündeten Großmächte, England und Frankreich, hinter sich; beide waren in der Lage, ihm Hilfe zu leisten. 4. England stellte Dänemark die Wahl zwischen Krieg und einem Bündnis; als Pfand für dies Bündnis forderte es die Auslieferung der dänischen Flotte, um die es ihm allein zu tun war! Das Deutsche Reich stellte die Wahl zwischen Krieg und einer Neutralität, die nur den Durchmarsch gestatten sollte, wofür vollkommene Entschädigung feierlich versprochen wurde. Es ist von manchen Lehrern des Völkerrechts ein Recht des Durchzuges durch neutrales Gebiet behauptet worden, besonders für die Fälle, wo die eine Kriegspartei ohne den Durchzug durch das neutrale Gebiet der anderen Partei gar nicht beikommen kann. Dieser Fall lag, infolge der französischen Maasbefestigungen, in offenbarer Weise vor.

II. Die englische Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert

Dritter

Abschnitt

Händel in drei Weltteilen Allgemeine Betrachtung Die Reihe großer Kriege — meint Seeley — beginnt nicht nur mit dieser Periode (1688 — 1815), sondern scheint auch mit ihr zu enden. „Seit 1815 haben wir lokale Kriege in Indien und einigen unserer Kolonien [und in China! und in Persien!] gehabt, aber von Kämpfen gegen europäische Großmächte, wie die genannte Periode sie 7 mal gesehen hat, haben wir in einer mehr als halb so langen Periode (1816—1882) nur einen [den Krim-Krieg] erlebt, und der dauerte nur 2 Jahre" (25). Keine Ahnung tritt hier entgegen von dem, was das 20. Jahrhundert uns offenbar gemacht hat. Ferner vergißt der geistreiche Gelehrte, daß auch der Krieg gegen Frankreich im 18. Jahrhundert zum guten Teil auf kolonialem Boden — in Nordamerika — geführt wurde; und daß, in Analogie dazu, die meisten Kämpfe, die in Asien während des 19. Jahrhunderts entbrannten, ein latenter Krieg gegen Rußland gewesen sind; zu schweigen von Kriegen der Türken und der Japaner, hinter denen die britische Weltmacht stand. Denn die englische Weltpolitik hat in diesem ganzen Zeitraum niemals geruht und in ihrem Wesen sich nicht verändert. Ihr Feld und Ziel liegt aber nicht mehr hauptsächlich in der Neuen, sondern in der Alten Welt, nicht mehr in Amerika, sondern in Asien, zu welchem Weltteil Afrika die Brücke bildet. Das ist die Richtung, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angebahnt wurde. Den Besitz Indiens zu erweitern, zu halten und zu sichern, erscheint als die wichtigste unter den großen Aufgaben, die durch endliche Verdrängung Frankreichs aus dem Wettbewerb um die Seeherrschaft gestellt waren. War die Furcht vor Frankreich bisher — über 100 Jahre lang — ein immer von neuem reizender Stachel, so tritt die Furcht vor Rußland nunmehr an dessen Stelle. Zugleich wirkt natürlich das direkte Handelsinteresse, das die Interessensphären und Herrschaften auszudehnen gebietet. Mit ihm geht das fiskalische Interesse Hand in Hand. So ziehen sich die Unruhen und kriegerischen Bewegungen, in denen der Ware der Großindustrie auf jenen Gebieten uralter Kultur die Wege

66

Händel in drei Weltteilen

geebnet und die Tore gesprengt werden, fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Mit der allmählichen Beseitigung der Herrschaft der Kompagnie, die schon seit 1784 stark eingeschränkt war, zuerst ihres Monopols (1815: nur für China blieb es bis 1833), dann ihrer Handelsfunktionen, endlich ihres Daseins (1858), läuft nicht nur die durchgreifende und wohlgelungene Reform der Verwaltung, sondern auch die planmäßige Eroberung parallel: sie gipfelt in der Etablierung des sog. Kaiserreichs Indien (1876). Auch die neueren Wege der englischen Weltpolitik sind durch Felsen und Dickichte mit eisernen Beilen und Äxten gehauen worden, und Blut ist dabei in unendlichen Mengen geflossen.

9. Afghanistan Der erste größere Konflikt, in den Großbritannien durch diese, mit gewohnter Energie und Rücksichtslosigkeit verfolgten Ziele hineingerissen wurde, war der Krieg mit Afghanistan. Fehden zwischen diesem Reiche, den indischen Sikhs, und dem Afghanistan benachbarten Persien, lagen zugrunde. Überall stritten englische und russische Einflüsse wider einander. So wetteiferten beide lange um die Gunst des in Kabul residierenden Herrschers über das östliche Gebiet, Dost Mohammed. Die Russen hatten die Vorhand. Sie griffen gleichzeitig, im Verein mit Persien, Herat, den Hauptort des westlichen Gebietes, an. Der im Jahre 1836 ernannte General-Gouverneur von Indien, Lord Auckland, hielt den Augenblick für gekommen, einzugreifen. Er verband sich mit den Skihs und setzte Dost Mohammed ab. Einen unfähigen und unbeliebten Prätendenten, der trotz besseren Rechtstitels in Verbannung lebte, setzte er an die Stelle (7. August 1839). Die englische Regierung billigte und unterstützte diesen Staatsstreich. Eine Zeitlang schien alles zu gedeihen, man jubelte in London über den herrlichen Erfolg. Im November 1841 erhoben sich die Afghanen gegen den aufgedrungenen Fürsten. Das Ergebnis war eine vollkommene und als schmachvoll empfundene Niederlage der englischen Schutztruppe. Sie 22 Hauptort des westlichen Gebietes: Der Angriff erfolgte 1837 und wurde im Verein mit den Briten zurückgeschlagen. 23 Auckland: Dieser begann den afghanischen Feldzug 1838 — 1842. Nach der Katastrophe vom 2. Nov. 1841 wurde er abberufen. 25 Vrätentenden: Schah Schudsa, der von 1839—1842 regierte.

67

Afghanistan

mußte schließlich zu schleuniger Räumung des Gebietes mit Auslieferung aller Kanonen, bis auf 6, die ihr für den Rückmarsch gelassen wurden, sich bequemen. Dost

Mohammed,

der als Gefangener nach Indien ge-

bracht war, kehrte heim. Sein Sohn Akbar

Khan

hatte den Aufstand

geleitet. Der Rückzug der Engländer durch den Koord-Kabul-Paß erinnert an die große Retirade von 1812, endete aber weit schlimmer. Es war ein ebenso strenger Winter; die Lage war übler dadurch, daß viele Frauen und Kinder mitgeführt wurden. Akbar

Khan,

der dem Zuge

folgte, nahm nach einiger Zeit die überlebenden Frauen und Kinder in seinen Schutz. Auch der General Elphinstone,

der Höchstkommandie-

rende, mußte sich ihm ergeben. Die Armee selbst wurde fortwährend von den fanatischen Gebirgsstämmen angegriffen. Nachdem schon Tausende gefallen waren, fand sich der Rest im Jugdulluk-Paß gefangen. Es folgte eine schonungslose Niedermetzelung. Von dem ganzen Heere, das noch beim Antritt des Marsches mehr als 16 0 0 0 Mann gezählt hatte, blieb zuletzt ein einziger

Mann übrig, der unter die Mauern von Djellala-

bad sich rettete, welche Stadt noch von einer englischen Besatzung gehalten wurde. Die Festung wurde von Akbar

Khan belagert, aber vergebens.

Englische Hilfstruppen nahten unter General Pollock.

Die Belagerung

wurde aufgegeben. Die Engländer drangen nach Kabul vor, befreiten die Frauen und Kinder, hielten aber trotz dieses Erfolges für geraten, das Land zu räumen und Dost Mohammed Der Nachfolger Aucklands,

wieder einzusetzen.

Lord Ellenborough,

erließ am 1. Oktober

1842 eine Proklamation, worin er erklärte: Die Regierung Indiens werde von nun an zufrieden sein mit den Grenzen, welche die Natur ihrem Reiche angewiesen zu haben scheine. Und: einem widerstrebenden Volke einen Herrscher aufzwingen zu wollen, wäre ebenso unverträglich mit der Politik wie mit den Grundsätzen der britischen Regierung. Der edle Lord scheint die bisherigen Eroberungen in Indien für „natürlich" und die englische Herrschaft dort für den Gegenstand der Sehnsucht auf Seiten der Inder gehalten zu haben. Von der Bestürzung und Erbitterung, die das furchtbare Fiasko im „Mutterlande" hervorrief, kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man in die Tagesliteratur einen Blick wirft. Ein Schriftsteller, der damals mit ungemeiner Schärfe die britische Weltpolitik kritisch beleuchtete,

6 Retirade: 10 Elphinstone:

Der Rückzug der napoleonischen Armee aus Rußland. Dieser starb 1842 bei der Niederschlagung des afghanischen Aufstandes.

68

Händel in drei Weltteilen

war der Schotte David Urqubart. Im Verlaufe seiner Polemik gegen die Edinburgh Review, die als Organ der gerade am Ruder befindlichen Whig-Partei den Krieg zu verteidigen wagte, sucht er den Wahnsinn der Unternehmung durch ein erdichtetes Gespräch zwischen Lord Palmerston — der damals, und später noch oft, der Geist der britischen Weltpolitik war — und einem Mitgliede des Geheimen Rats (Privy Councillor) klarzustellen: Lord Palmerston: Wir müssen nach Kabul marschieren, seinen Herrscher entthronen und einen anderen einsetzen. Geheimer Rat: Sind wir angegriffen von den Afghanen, sind Verträge verletzt worden oder dergleichen? Lord P.: Nein, nichts von alledem. Aber Dost Mohammed ist freundlich für Persien, und Persien ist freundlich für Rußland. Darum müssen wir Mohammed vernichten. Geh. Rat: Was sollen wir denn machen mit Persien? Lord P.: Oh, Persien ist zurückgeschlagen, die Belagerung von Herat ist aufgehoben, wir haben da nichts zu fürchten. Geh. Rat: Was sollen wir denn machen mit Rußland? Lord P.: Oh, Rußland hat uns die befriedigendsten Versicherungen gegeben, und wir haben nichts von ihm zu fürchten. Ganz im Gegenteil: Rußland kann überhaupt nichts machen, denn seine Missionen und Feldzüge sind völlig gescheitert. Geh. Rat: Die Gefahr ist vorüber, die Macht, aus der sie entsprang, stellt euch zufrieden, und dennoch geht ihr und sendet Armeen in das Gebiet eines befreundeten Volkes! — Die Geheimen Räte und der Monarch — meint dann lIrquhart — müssen sofort gesagt haben: „Das ist ein Fall für Bedlam (das Irrenhaus)." An einer anderen Stelle kontrastiert er das Verhalten Englands mit dem der Mongolen, von denen ein arabischer Historiker sage, daß sie planmäßig verwüsteten und mordeten, aber „ohne H a ß und ohne Rachsucht". „Wir schaffen ein Heer nach Zentral-Asien in die Mitte eines Volkes, so freundlich gesinnt, daß es sogar bereit war, unsere Herrschaft auf sich zu nehmen — wir setzen einen Prätendenten ein — wir unterstüti Urquhart: Vgl. Urquhart, 1843: 34; es handelt sich hier um einen Brief (Nr. 4) an den „Morning Herald" den afghanischen Krieg betreffend: „The War ordered frome home, and after the pretexts for it has ceased to exist". 29 arabischer Historiker: Vgl. Urquhart, 1843: 53; aus dem „Newcastle Journal" vom Januar 1843 unter dem Titel „Lord Ellenborough's Proclamation".

Afghanistan

69

zen Torheiten und Verbrechen im Innern — wir tun alles, was ein uns schon durch Neigung und Achtung untertanes Volk zu Haß und Verachtung aufreizen kann. Unser Heer wird vernichtet. Wir entschließen uns, daß wir nichts mehr mit dem Lande zu tun haben wollen, und doch senden wir wiederum ein Heer hin, um zu plündern und zu zerstören, ohne auch nur daran zu denken, das Land in Besitz zu nehmen; im Gegensatz zu den Mongolen, die aus Berechnung, ohne Haß und Rachsucht, plünderten und zerstörten, kommen unsere Truppen, gebildet aus sogenannten Bürgern und Christen, um zu verwüsten und zu zerstören, ohne irgendwelchen Zweck, bewogen ausschließlich durch Haß und Rachsucht." Der Vorwand, daß der Zweck gewesen, die Gefangenen zu befreien, sei zu hohl und sinnlos, um Beachtung zu verdienen. „Durch die neuen Verbrechen konnten sie nur gefährdet werden, so wie dadurch, daß wir den von uns auf so verbrecherische Weise entthronten Fürsten in Knechtschaft hielten." Ein tragisches Schicksal fiel durch diese Greuel auf einen trefflichen und hochbegabten jungen Mann, Kapitän Burnes, der, ein Kenner Afghanistans, mit einer amtlichen Mission betraut, vergebens vor den falschen Maßnahmen gewarnt hatte. „Man sollte nie vergessen — bemerkt Sir / . W. Kaye, dem die beste Geschichte dieses Krieges verdankt wird —, wenn man ein richtiges Urteil über Burnes' Charakter und Handlungsweise gewinnen will, daß beide gröblich entstellt worden sind in jenen Sammlungen offizieller Urkunden, die angeblich das beste Material für die Geschichtsschreibung darbieten, in Wirklichkeit aber oft nichts als einseitige Zusammenstoppelungen entstellter Dokumente sind, die der ministerielle Stempel in Umlauf bringt, die Zeitgenossen betrügend, der Nachwelt eine Kette gefährlicher Lügen überliefernd." Justin Mc. Carthy, der diese Stelle anführt, sagt, erst Jahre nachdem Burnes sein schreckliches Ende gefunden hatte (er wurde bei dem Tumult am 2. November 1841 ermordet), sei es an den Tag gekommen, daß die englische Regierung dem Hause der Gemeinen die von Burnes eingesandten Berichte in so verstümmelter und veränderter Form mitgeteilt hatte, daß

15 „ . . . in Knechtschaft hielten": Vgl. Urquhart, 1843: 54. 17 Burnes: Die angesprochene Mission fand im Jahre 1837 statt; am 20. Sept. kam Sir Alexander Burnes in Kabul an, um mit Dost Mohammed über die Aufnahme von Handelsbeziehungen zu beraten. 27 „ . . . Lügen überliefernd: Vgl. Kaye, 1857: II, 174; zit. bei McCarthy, 1879: I, 168.

70

Händel in drei Weltteilen

es aussah, als ob er die Politik gebilligt und empfohlen hätte, vor der eindringlich zu warnen er sich angelegen sein ließ. M c . Carthy nennt die Geschichte dieser 4 Jahre (1839/42) eine Folge von solchen Mißgeschicken, Fehlern und Demütigungen, wie die englische Geschichte keine zweite aufzuweisen habe. „Fehler, die übler waren als Verbrechen, und eine Handlungsweise, die zu decken für jeden Herrscher ein Verbrechen wäre, brachten es dahin, daß wenige Jahre nach dem Regierungsantritt der Königin Victoria wir in Afghanistan Soldaten hatten, die sich tatsächlich fürchteten zu fechten, und englische Beamte, die sich nicht des Versuches schämten, durch erkauften Meuchelmord unsere meistgefürchteten Feinde beiseite zu schaffen . . . ." „Dies Kapitel unserer Geschichte wird uns lehren, wie eitel eine Politik ist, die auf schlechten und unedlen Grundsätzen beruht ... Wir waren von unserm Wege abgeirrt, um eingebildeten Gefahren zu begegnen 1 ." Immer die Furcht als der stärkste Beweggrund wahnwitziger Unternehmungen! — Durch Schaden klüger geworden, hat sich England in der Tat 4 Jahrzehnte lang der Einmischung in die Angelegenheiten Afghanistans enthalten. Inzwischen rückte die russische Gefahr näher. Es kam zu neuen bitteren Kämpfen. Es kam nochmals zu einem Aufruhr in Kabul. Das gesamte Personal der britischen Gesandtschaft wurde getötet (3. September 1879). Im vorhergehenden Jahre war ihr der Zutritt ins Land verwehrt worden. Der Gewalt nachgebend, hatten die Afghanen sie zugelassen. Nach erneuten Kämpfen mußte England den Anspruch, eine ständige Gesandtschaft zu unterhalten, wieder aufgeben und versprach abermals, das Land zu räumen. Seitdem hat sich das Foreign Office um die Gunst des Emirs bemüht. In der anglo-russischen Konvention vom 31. August 1907 verzichtete England auf jede Absicht, den politischen Zustand von Afghanistan zu verändern, sich in die Verwaltung einzumischen, Gebiet zu annektieren, und verpflichtete sich, seinen Einfluß in keiner für Rußland bedrohlichen Weise zu gebrauchen. Rußland anerkannte Afghanistan als außerhalb seiner Einflußsphäre liegend. — Zugeständnisse an Rußland waren ein integrierendes Glied der Vorbereitungen zum gemeinsamen Angriff auf Deutschland 2 . —

1

Justin Mc. Carthy, A History of our own times, I, Ch. II, Tauchnitz ed., p. 171, 1 7 4 / 5 .

2

Vgl. 18. „Persien".

2 angelegen

sein ließ: Vgl. McCarthy, 1879: I, 167 f.

Der Opiumkrieg und fernere Händel mit China

71

10. Der Opiumkrieg und fernere Händel mit China Den Afghanen wollte die englische Politik einen verhaßten Herrscher aufnötigen, den Chinesen ungefähr um dieselbe Zeit eine verhaßte Ware. Bekanntlich hat China sich lange gegen den Zutritt aller europäischen Händler und ihrer Waren gewehrt. Nachdem die Bahn gebrochen, hatte John Company — wie man in England die ostindische Kompagnie nannte — am meisten Erfolg. Der Hauptartikel war das Opium, aus Mohnpflanzen gewonnen, die in Indien angebaut werden; der Anbau geschieht ausschließlich in Regie. Nachdem das Monopol der Kompagnie gefallen, nahm der Handel um so größere Ausdehnung an. Es war ausschließlich Schmuggel; denn aller Verkehr mit Opium war durch chinesische Gesetze streng verboten. Der furchtbare Schade für Gesundheit und Moral, Leib und Seele, den der Opiumgenuß bekanntlich zur Folge hat, war der ausgesprochene Grund des Verbotes. Aber die chinesischen Behörden waren außerstande, dem Schmuggel zu wehren; zumal da die englische Regierung diesen planmäßig förderte. „Das Recht oder Unrecht der Frage scheint niemals vom Ministerium irgendwelcher Erwägung wert gehalten worden zu sein." Die Schmuggler wurden dreister und rücksichtsloser, die Klagen der chinesischen Behörden lauter. Die englische Regierung erklärte, daß sie nicht gesonnen sei, britische Untertanen in die Lage zu versetzen, die Gesetze des Landes zu übertreten, mit dem sie Handel treiben. Niemand nahm diese Erklärung ernst. Aber der Kaiser Suan-Tsung glaubte nunmehr, einen entscheidenden Schritt wagen zu können. Durch den Gouverneur Lin ließ er in Kanton die Auslieferung der gesamten Konterbande von Opium verlangen. Zwanzigtausend Kisten des kostbaren Produkts wurden durch Feuer vernichtet. Der englische Agent „zur Beaufsichtigung des Handels 6 John

Company:

Seit 1770 begann die East India Company in Kanton mit dem regulären

britischen Handel in China. io gefallen: 12 verboten:

Seit dem 22. April 1834, insbesondere auf Druck der USA. Ein erstes Anti-Opium-Edikt wurde im Jahre 1729 erlassen, ein weiteres im

Jahre 1796, der eine Erneuerung des ersteren bedeutete. 18 „... wert gehalten 22 Handel

treiben:

worden

zu sein": Vgl. McCarthy, 1879: I, 133.

Vgl. die Depesche Lord Palmerstones vom 15. April 1839, zit. in:

Morse, 1910: I, 199. 27 vernichtet:

Tatsächlich waren es (nach Morse, 1910: I, 225) 19.760 Kisten. Laut den

Frachtpapieren wurden aber 20.291 Kisten beschlagnahmt. 27 Agent: Sir Charles Elliot wurde 1837 zum Chief Superintendent und Bevollmächtigten der China Trade Commission berufen.

72

Händel in drei Weltteilen

mit China" wandte sich an den Generalgouverneur von Indien um Beistand. Leben und Eigentum britischer Untertanen sei angegriffen und in Gefahr. Er möge so viele Kriegsschiffe senden, als er entbehren könne. Der Opium-Krieg war entfesselt. Die Feindseligkeiten zu Wasser und zu Lande setzten sich vom Februar 1840 bis zum August 1841 fort. England und das Opium trugen einen „glorreichen" Sieg davon. China mußte 5 Häfen öffnen, Hongkong abtreten, 4V4 Mill. £ (90 Millionen Mark) Kriegsentschädigung und außerdem l'A Millionen £ (25 Millionen Mark) für das vernichtete Opium zahlen. Das Gewissen der Nation blieb nicht stumm. Eine Flut von Schriften, die der Scham und sittlichen Entrüstung Ausdruck gaben, ergoß sich über das Land. Im Hause der Gemeinen hielt William Ewart Gladstone eine seiner ersten bedeutenderen Reden 3 . „Ich kann nicht beurteilen, wie lange dieser Krieg noch dauern mag — heißt es darin —; aber soviel kann ich sagen: einen ungerechteren Krieg seinem Ursprünge nach, einen Krieg, der mehr darauf angelegt ist, in seinem Fortgange unser Land mit Schande zu bedecken, kenne ich nicht und habe nie davon gelesen 4 ." Nach Abschluß des Verfahrens hatte der greise Herzog von Wellington die Aufgabe, ein Dankesvotum für Heer und Flotte im Oberhause zu beantragen. „Der Sieger von Waterloo — bemerkt dazu Mc Carthy (I S. 139, Tauchnitz ed.) — für die Truppen, die über unbewaffnete, hilflose, kindliche Chinesen triumphierten!" Die Opiumfrage war damit nicht aus der Welt geschafft. Der Import von Opium aus Indien nach China, der 1810/11 wenig mehr als 4000 3 4

Hansards Pari. Debates 35, vol. 53, p. 819. J. Morley, der Biograph Gladstones, bemerkt dazu (The Life of W. E. G. I, 226): „Die Sache regte ihn auf, wie von jedem erwartet werden mußte, der den Grundsatz vertrat, daß der Staat ein Gewissen haben müsse." Morley ist derselbe, der jahrelang als Viscount Morley die gegenwärtige Regierung im Oberhause vertreten hat. Er schied aus dem Kabinett aus wegen der Einmischung in den Krieg 1914.

6 Sieg davon: Im Vertrag von Nanking vom 29. Aug. 1842. Die fünf Häfen, die China dem europäischen Handel öffnen mußte, waren Kanton, Amoy, Foochow, Ningpo und Schanghai. 19 „Ich ... habe nie davon gelesen": Vgl. Parliamentary Debates, 1840: 818. Die Debatte fand am 8. April 1840 statt. 26 1810/11: Dies ist eine falsche Datierung, korrekt: 1800/11.

73

Der Opiumkrieg und fernere Händel mit China

Kisten (sog. piculs = 6O'/i kg) jährlich betragen hatte, war 1 8 3 5 / 3 9 auf einen Jahresdurchschnitt von ca. 35V2 Tausend Kisten angewachsen. Er nahm, allen Protesten zum Trotz, weiter zu, so daß er 1855 mehr als 78 0 0 0 Kisten über die Grenzen brachte. Die englische Regierung drängte China, den Handel, den sie doch zu unterdrücken unfähig sei, zu legalisieren und zu einer regulären fiskalischen Einnahmequelle zu machen. So geschah es endlich durch einen Handelsvertrag des Jahres

1858.

„Gleichzeitig aber gab es in England eine erneute Bewegung gegen die Politik, den Chinesen Opium aufzunötigen. Schon vor 1833 waren solche Stimmen laut geworden; auch außerhalb der Opposition gegen die jeweilige Regierung hatte sich ein gewaltiger Komplex öffentlicher Meinung gebildet und zog die Führer religiöser und philanthropischer Arbeit in die Bewegung. Ermutigt wurde die Stimmung, gestärkt ihre Kundgebung durch die fast einstimmige Meinungsäußerung

protestantischer

Missionare, englischer und amerikanischer, die auf dem chinesischen Felde arbeiteten: dahingehend, daß das Opiumrauchen ein großes moralisches Übel sei, das ihre Bemühungen, die Chinesen zur Erkenntnis der christlichen Wahrheit zu bringen, ernstlich behindere; daß es allen christlichen Nationen obliege, sich loszusagen von einem Handel, der den Namen des Ausländers und des Christen in Verruf bringe. Die Bewegung gipfelte in einer Denkschrift, die im August 1855 von Lord dem Parlament überreicht wurde; Lord Shaftesbury

Shaftesbury

war der Vorsitzende

eines Komitees, das sich gebildet hatte, um alle Verbindung des englischen Volkes und seiner Regierung mit dem Opiumhandel aufzulösen 5 ." In Amerika war der Widerwille gegen die Sache stärker als in England. Auch war der Vertreter der Vereinigten Staaten der einzige, der bei den Verhandlungen der Jahre 1 8 4 2 / 4 4 das chinesische Verbot des Opiumhandels ausdrücklich unterstützte, und viele amerikanische Kaufleute in China sollen aus sittlichen Bedenken von jeher der Teilnahme daran sich enthalten haben. Auch hat die amerikanische Regierung der Philippinen eine internationale Opium-Konferenz zu Schanghai veranlaßt, die am 1. Februar 1909 zusammentrat und es für die Pflicht der Regierungen erklärte, die Ausfuhr von Opium nach jedem Lande zu verhindern, das die Einfuhr verbiete. 5

Morse,

The international relations of the Chinese Empire. London 1910, p. 550 f.

2 angewachsen:

Vgl. Morse, 1910: I, 556.

26 Vereinigten Staaten: Es handelte sich um William Bradford Reed, der 1857 nach China entsandt wurde und der 1858 den Frieden von Tientsin aushandelte.

74

Händel in drei Weltteilen

Das Gedeihen des Handels blieb ununterbrochen (1880 betrug die Einfuhr gegen 97 000 Piculs = ca. 6 Millionen kg), bis in neuester Zeit, unter dem Einflüsse der revolutionären Bewegung in China, erneute Versuche gemacht worden sind, ihn zu unterdrücken. Auch der Anbau des Opiummohns, der in China selbst fortwährend zugenommen hatte, ist verboten worden. Im englischen Selbstbewußtsein, ob es mehr religiös oder philosophisch-ethisch gefärbt, ist der Opiumhandel als eine schwere Last wirksam geblieben. Endlich hat im Jahre 1907 die britische Regierung sich erboten, die Ausfuhr aus Indien nach China allmählich einzuschränken, so daß sie binnen 10 Jahren aufhören sollte. Man darf gespannt sein, ob sich dies verwirklichen wird. Inzwischen hat bekanntlich China unter tiefen und schweren Erschütterungen gelitten. Mit der sonderbaren Taiping-Rebellion, die mehr als ein Jahrzehnt (1855 — 1866) sich hinzog, verwickelte sich zeitweilig ein Angriff von seiten Englands, das, wie schon zuvor im Krimkriege und wie in allen Fragen des näheren und ferneren Orients, Frankreich

in

seinem Gefolge hatte. Veranlassung zu diesem Kriege gab der Fall der Lorcha (Stromboots) „Pfeil". Der „Pfeil" war ein chinesisches Fahrzeug, das gelegentlich unter britischer Flagge fuhr, auf die es kein Recht hatte. Eine chinesische Wache hatte, am 8. Oktober 1856, 12 Mann von diesem Boote verhaftet wegen Seeräuberei. Der englische Konsul in Kanton verlangte die Auslieferung der Leute, indem er behauptete, es sei ein britisches Fahrzeug (es war eine Zeitlang als solches geführt worden, die Registrierung war aber erloschen). Auf die Weigerung der Chinesen wandte sich der Konsul an den Bevollmächtigten in Hongkong. Dieser verlangte nicht nur die Auslieferung, sondern überdies eine Entschuldigung und das Versprechen der chinesischen Behörde, solchen Akt niemals zu wiederholen. Da die

ii aufhören

sollte: Der entsprechende Beschluß der englischen Regierung datiert vom Dez.

1906 und sollte ab 1908 in Geltung sein. 14 Taiping-Rebellion:

Die chin. Geheimgesellschaft T'ai-p'ing führte 1850 einen Aufstand

gegen das Kaiserreich durch und gründete 1851 einen eigenen Staat mit theokratischen Zügen. Der Aufstand wurde 1866 niedergeschlagen. 23 Konsul:

Sir Harry Smith Parkes war 1858 Kommissar zur Regierungskontrolle in Kan-

ton. 27 Bevollmächtigten:

Sir John Bowring war 1854—1859 Gouverneur in Hongkong.

Der Opiumkrieg und fernere Händel mit China

75

Chinesen noch Einwände erhoben, wurde alsbald Kanton bombardiert. Die Operationen zu Wasser und zu Lande dauerten 2 2 Tage. In England war man nicht durchaus damit zufrieden. Die Ungesetzlichkeit des Verfahrens lag allzu klar zutage. Im Oberhause erklärte der greise Lord Lyndhurst, weder Gesetz noch Vernunft könne es rechtfertigen. Unmöglich könne man ein chinesisches Boot in chinesischem Gewässer außerhalb des chinesischen Gesetzes stellen. „Wird eine Lorcha, die einem Chinesen gehört, dadurch, daß sie eine britische Flagge kauft, ein britisches Fahrzeug?" hatte der chinesische Gouverneur gefragt. „Freilich" — bemerkte Lord Lyndhurst — „wenn wir von Verträgen mit orientalischen Nationen reden, so haben wir einen eigentümlich lockeren Begriff von Recht und einen ebenso lockeren Begriff von Moral in bezug auf sie." Der Antrag, das Verfahren zu verurteilen, blieb in den Lords mit 110 gegen 146 Stimmen in der Minderheit. Dagegen setzte im Unterhause Cobden ein Tadelsvotum mit schwacher Mehrheit durch. Es war ein Schlag gegen Lord Palmerstons Kabinett, den zum Teil dessen bisherige Anhänger führten. Dreist und zuversichtlich wie immer, löste Palmerston das Parlament auf. Er gab die Parole aus, ein unverschämter Barbar habe die britische Flagge verletzt, Verträge gebrochen usw. Die Parole zündete. Palmerston gewann einen glänzenden Wahlsieg. Hatte auch die Sache des Piratenbootes und das Bombardement von Kanton gesiegt? Mc. Carthy urteilt: „Die Wahrheit ist, daß es selten ein so flagrantes und unentschuldbares Beispiel von hochfahrender Gesetzwidrigkeit im Verhalten einer starken gegen eine schwache Nation gegeben hat." Und G. M. Trevelyan meint noch 1913: „Es ist wahrscheinlich, daß jeder Mann, und wäre es der entschiedenste Imperialist, der heute die Behandlung von China durch Palmerston in der Pfeil-Affäre studiert, zu dem Schlüsse kommen wird, daß der Minister die Stärke Großbritanniens gemißbraucht und einen Krieg zuwege gebracht hat, der in einer unwürdigen Streitsache seinen Ursprung h a t t e 6 . " Langwierig genug war der so begonnene, von Louis Napoleon freudig unterstützte Krieg. Erst im Herbst 1860 kam er zum Abschluß, nachdem 6

The Life of John

5 Lyndhurst: 13 Antrag:

Bright, p. 258.

Vgl. McCarthy, 1879: II, 276.

Dieser wurde am 24. Feb. 1857 von Lord Derby im Oberhaus eingebracht.

15 Tadelsvotum:

Dessen Antrag datiert vom 26. Feb. 1857; er ging mit 263 gegen 247

Stimmen durch. îa Parole:

An seine Wähler in Tiverton; vgl. McCarthy, 1879: II, 279.

25 „ . . . Nation

gegeben

hat: Vgl. McCarthy, 1880: III, 2.

76

Händel in drei Weltteilen

die Pekinger Sommerpaläste 3 Tage lang von englischen und französischen Offizieren geplündert waren. Daß ein tiefer H a ß der Europäer durch diese Methoden unter den Chinesen genährt worden ist, hat sich in späteren folgenreichen Ereignissen offenbart.

11. Der Krim-Krieg Nachdem Napoleon niedergeschlagen und damit der mehr als hundertjährige Kampf gegen Frankreichs Wettbewerb um die See- und Kolonialherrschaft beendet war, sind bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Augen der englischen Politik mit ängstlicher Spannung auf Rußland

gerichtet

gewesen. Aber nur ein europäischer Krieg, an dem England unmittelbar beteiligt gewesen ist, ging daraus hervor. Der Krim-Krieg war das Werk Lord Palmerstons,

der den Ehrgeiz hegte, für sein Vaterland das zu leisten,

was 100 Jahre vor ihm der ältere Pitt geleistet hatte. Was für diesen Frankreich, das war für Palmerston Rußland. Wie für Pitt, so war für Palmerston Krieg ein Gegenstand der Neigung, obschon beide nichts weniger als Feldherren waren. Bei beiden lag aber zugrunde die Furcht. Furcht vor dem Erstarken des Nebenbuhlers, und die Überzeugung, daß äußerste Wachsamkeit Pflicht des Staatsmannes sei, ließen ihnen Krieg als notwendig erscheinen, sobald sie glaubten, dadurch den Plänen des Feindes zuvorzukommen. Alsbald erschien ihnen der Krieg nicht weniger „liebenswürdig", wie er nur je dem großen Napoleon erschienen ist. „Er glaubte von Anfang an, daß den Ansprüchen Rußlands mit Waffengewalt begegnet werden müsse, und daß ihnen nicht auf andere Weise begegnet werden könne. Er glaubte, daß die Gefahr, welche für England aus der Vergrößerung Rußlands entspringe, eine Lebensgefahr sei, deren Abwehr nationale Opfer in jeder Ausdehnung erfordere. Er glaubte ferner, daß Krieg mit Rußland unvermeidlich sei, und er wollte ihn lieber früher als später . . . . Er verstand bei dieser Gelegenheit besser als irgendein anderer das vorwaltende Temperament des englischen Volkes 7 ." Es war also ein offenbarer Präventivkrieg, den er unternahm. Der Krieg wurde in Alliance mit Louis Napoleon zur Unterstützung der Türkei durch eine Invasion der Krimhalbinsel im September 1854 unternommen. Erst das Eingreifen des Königreichs Sardinien, dessen Po-

7

Mc. Cartby,

a. a. O., II, 208. Tauchnitz.

77

Der Krim-Krieg

litik Cavour leitete, verbesserte die Chancen der Verbündeten. Nachdem Sebastopol gefallen (9. Sept. 1855), Kaiser Nikolaus gestorben, erlahmte der Krieg durch allgemeine Unlust, ihn fortzuführen, und Napoleon III. begünstigte den Friedensschluß, der in seiner Hauptstadt im März 1856 geschah und seine Glorie erhöhte. — In England hat der Krimkrieg ein bitteres Andenken dadurch hinterlassen, daß er die schweren Mängel der Heeresorganisation, insbesondere des Sanitätswesens 8 , an den Tag brachte. Anfangs war der Krieg populär gewesen, auch als Reaktion gegen den Pazifismus, dem sonst die liberale Geistesrichtung jener Zeit anhing. Aber bald wurden Ungeduld und Enttäuschung allgemein; „jedermann" sagte, der Feldzug sei eine Schweinerei. Auch nach dem Friedensschluß blieb die öffentliche Meinung mit der Führung des Krieges wie mit seinen politischen Ergebnissen unzufrieden. Weisen Männern, die zuvor eindringlich gewarnt hatten, mußte nachträglich Recht gegeben werden. An deren Spitze stand ein Mann, dessen Geist und Charakter heute kein ernster Mensch in Großbritannien anzufechten wagt: John Bright. Den größten englischen Redner des Jahrhunderts nannte ihn sein Gegner Lord Salisbury. Gleich nach der Kriegserklärung griff er in einer Reihe glänzender Parlamentsreden das Prinzip an, um des Gleichgewichts der Macht willen Krieg anzuzetteln, und das System der Alliancen, das damit verknüpft war. Berühmt wurde, als die Friedensverhandlungen in Wien geführt wurden, seine Wendung von dem Todesengel, der durch das Land gehe, „fast könnt ihr seinen Flügelschlag vernehmen". Die Wiener Verhandlungen scheiterten an der Neutralisierung des 8

Im November 1854 waren 2000 Verwundete und Kranke im Lazarett zu Skutari, und in diesem ganzen Monat wurden nur 6 Hemden gewaschen: Trevelyan,

Life of John

Bright, p. 242. Ein Leitartikel der Times, die damals noch mit Geist und zuweilen auch mit sittlichem Ernst geschrieben wurde, verklagte am 23. Dez. 1854 die „Inkompetenz, Faulheit, den aristokratischen Hochmut, die amtliche Gleichgültigkeit, Gunstbuhlerei, Routine, Perversität und Dummheit, die im Lager vor Sebastopol wüsten und wirtschaften", ib. 236. 1 Cavour 2 Nikolaus: i« Salisbury:

leitete:

Vgl. Trevelyan, 1913: 383.

24 „ . . . Flügelschlag 25 Wiener

Camillo Graf Benso di Cavour leitete dessen Politik seit 1852.

Nikolaus I. regierte von 1825 — 1855. vernehmen":

Verhandlungen:

Vgl. Trevelyan, 1913: 244.

Das Wiener Vier-Punkte-Programm der Krimkriegskoalition

vom 8. Aug. 1854 bestimmte den Rückzug Russlands aus den Donaufürstentümern Walachei, Moldau und Serbien, die Gesamtgarantie der Mächte für sie, die Aufgabe der Schutzherrschaft Russlands über die orthodoxe Bevölkerung der Türkei sowie die Revision des Dardanellen-Vertrags von 1841.

78

Händel in drei Weltteilen

Schwarzen Meeres; um sie durchzusetzen, führte Palmerston den Krieg noch ein Jahr lang weiter. Vierzehn Jahre später (1870) erklärte Rußland sich nicht mehr an diese Bestimmung gebunden; es zerriß den Vertrag wie einen Fetzen Zeitungspapier 9 — nach dem Ausdruck Trevelyans, Life of John Bright, p. 247 — und England hatte das Nachsehen. Gladstone, der dem Kabinett angehörte, das für den Krieg verantwortlich war, meinte später: es sei mehr Gefühl als Überlegung gewesen, was den Krieg populär machte; es sei aber ebenso mehr Gefühl als Überlegung gewesen, das ihn in den „Abgrund des Odiums" stürzte 10 . Wir mögen es dahingestellt sein lassen. Jedenfalls war für eine Zeitlang Palmerstons Politik der Einmischung in die Angelegenheiten Europas zum Schweigen gebracht. Sie fand „einen demütigenden Abschluß im Juni 1864, als das Haus der Gemeinen, einem starken Ausdruck der öffentlichen Meinung sich fügend, ihm (Palmerston) und Russell untersagte, zugunsten Dänemarks Krieg mit den deutschen Großmächten anzufangen 1 1 ". Einige Monate später sprach John Bright zu seinen Wählern in Birmingham: „Die Theorie des Gleichgewichts der Macht ist beinahe tot und begraben . . . ., wir mögen uns freuen, daß dieser elende Götze endlich gestürzt wurde, und daß es einen Aberglauben weniger gibt, die Gedanken englischer Staatsmänner und des englischen Volkes zu beherrschen." Fünfzig Jahre später war der Aberglaube an die Zauberkräfte dieses Götzen lebendiger als je zuvor — wenigstens war er geeignet, die cantPhrasen des Tages zu weihen.

12. Die jonischen Inseln Eine seltsame Herrschaft hatte Großbritannien aus der Napoleonischen Konkursmasse sich angeeignet, immer beflissen, im Mittelmeer seinen schweren Fuß niederzusetzen. Unter dem Namen Vereinigte Staaten der 9

10 n

Eine Konferenz der Mächte in London (Jan. 1871) erklärte feierlich die Klausel für erledigt. Morley, Life of Gladstone, I, p. 495. Trevelyan, Life of John Bright, p. 333.

15 Russell: John Russell war Premierminister 1865/66. 2i „ . . . englischen Volkes zu beherrschen": Vgl. Trevelyan, 1913: 333f.

79

Die jonischen Inseln

jonischen Inseln waren Korfu, Kephalonia, Zakynthos, Paxos, Leukas, Ithaka und Kythera als „freier und unabhängiger Staat" durch einen besonderen Vertrag zwischen Großbritannien, Rußland, Österreich und Preußen eingerichtet — und unter den Schutz Großbritanniens gestellt worden. Ein Statthalter sollte die Gesetzgebung und Verwaltung überwachen. Dieser gab 1817 eine „Verfassung" — in Wirklichkeit wurde dadurch ein Regierungssystem gebildet, „das bald despotisch um selbst

einen

Metternich

zu befriedigen12".

genug

wurde,

Der Statthalter konnte

schlechthin tun, was er wollte — bis nach 1848 Wandlungen eintraten. An Unruhen fehlte es schon vorher nicht; in diesem bewegten Jahre fand ein Aufruhr auf Kephalonia statt, den der Statthalter „mit grausamer Strenge" unterdrückte. „Zweiundzwanzig Personen wurden

gehängt,

dreihundert oder mehr ausgepeitscht, die meisten ohne jedes gerichtliche Verfahren." — „Häuser wurden in Brand gesteckt, Gebäude und Weingärten zerstört mit wilder Brutalität." Ein Schreckensregiment folgte, das sich auf die anderen Inseln ausdehnte. Kraft seiner „hohen Polizeigew a l t " konnte der Statthalter wen immer er wollte aufheben, d. h. „seinem Heim, seiner Berufstätigkeit und seinem Erwerb entreißen. Diese hohe Polizeigewalt wurde hauptsächlich angewandt gegen Redakteure von Zeitungen. Ein unliebsamer Leitartikel wurde nicht selten geahndet durch Deportation nach einem öden Felseneiland, das ein Häuflein Fischer bewohnte". — Eine charakteristische Tatsache ist, daß

Gladstone,

der 1858 in besonderer Mission nach den Inseln entsandt wurde, um Reformen einzuleiten, einen ausführlichen Bericht über diese Methode der Regierung verfaßte, der noch im Jahre 1903 im Archiv des Kolonialamts ruhte. „Alle, die davon Kenntnis nahmen, hielten für unzweckmäßig, ihn zu veröffentlichen." 12

Morley,

Life of Gladstone, I, 598.

3 Vertrag:

Vom Jahre 1815; diesem voraus ging die Bildung der Republik der Sieben

Vereinigten Inseln im Jahre 1800 auf russische Veranlassung hin. 5 Statthalter:

Sir Thomas Maitland, genannt „King Tom", seit Dez. 1815 Lord High Com-

missioner auf den Ionischen Inseln und Oberbefehlshaber der mittelmeerischen Verbände. n Aufruhr:

Hochkommissar war damals (1843 — 1849) Lord Seaton.

15 „Zweiundzwanzig 23 Mission:

... Brutalität":

Vgl. Morley, 1903: I, 600.

Gladstone wurde im Nov. 1858 durch den Sekretär für die Kolonien auf die

Ionischen Inseln entsandt; er verließ Korfu am 19. Feb. 1859. 27 „ . . . ihn zu veröffentlichen":

Vgl. Morley, 1903: I, 620, Anm. 3.

80

Händel in drei Weltteilen

Unter den Ursachen der Unzufriedenheit stand in vorderster Linie der Wunsch, mit dem (seit 1832) neuen Königreich Griechenland vereinigt zu werden; demnächst die natürliche Auflehnung gegen die Tyrannei des britischen Gouverneurs — zugrunde lagen aber auch soziale Zustände des Bodenbesitzes und der Landwirtschaft, da auch die Grundherren zumeist Fremde (Italiener) waren. Der Konflikt zwischen der Volksvertretung (Assembly) und der Statthalterschaft wurde allmählich chronisch und für die Zentralregierung in London immer unerquicklicher. Obwohl noch im Mai 1861 Gladstone von der Abtretung als von einem „Verbrechen gegen die Sicherheit Europas" in lauterstem cant gesprochen hatte, geschah sie dennoch am 29. März 1864. Damit ging ein Stück britischen Protektorates zu Ende, das von allen Berichterstattern und Historikern als ein Stück härtester Despotie bezeichnet wird. England begnügte sich, die Insel Malta zu behalten, die es den Franzosen abgenommen hat; die Franzosen ihrerseits hatten ebensowenig einen Rechtstitel auf den Besitz dieser Insel als ihre Nachfolger.

13. J a m a i k a In noch auffallenderer "Weise als auf den jonischen Inseln machte sich englische Mißregierung bemerkbar in der wichtigsten Kronkolonie Westindiens. Auf Jamaika war zwar 1838 die Sklaverei aufgehoben, aber der Druck, der auf den Negern lastete, war nicht gelinder, sondern schwerer geworden. Im Oktober 1865 kamen Unruhen zum Ausbruch, die etwas ernster waren als alltägliche Ereignisse, in denen sehr begründete Beschwerden der Neger sich äußerten. Und doch war es kaum mehr als ein gewöhnlicher Straßentumult. „Es ist noch heute streitig, ob ein wirklicher Aufruhr vorgelegen h a t . . . ., ob etwas mehr als der unvorbereitete Putsch einer unzufriedenen und aufgeregten Menge." Der Gouverneur verkündete den Belagerungszustand über den ganzen Distrikt, mit Aus4 Gouverneurs:

Britischer Gouverneur war Sir Henry Knight Storks. Der Konflikt zwi-

schen dem Statthalter Storks und der Versammlung eskalierte ab 1859, als diese Reformen ablehnte. io „Europas":

Im Mai 1862 fällte William Gladstone den zit. Spruch (Enc Brit., 1911:

XIV, 729). M Malta:

Seit dem Frieden von Paris 1814 in britischem Besitz.

27 „ . . . und aufgeregten 27 Gouverneur:

Menge":

Vgl. McCarthy, 1880: IV, 117.

Seit 1865 Edward John Eyre.

Jamaika

81

nähme der Stadt Kingston. In Kingston wohnte ein Neger, der ein kleines Geschäft hatte und Mitglied des Abgeordnetenhauses der Kolonie war. Er hatte sich als Vorkämpfer der Negerrechte bemerklich gemacht innerhalb und außerhalb des Hauses in tatkräftiger, aber durchaus gesetzlicher Weise. Alsbald wurde er verhaftet, und weil er in Kingston hätte vor die ordentlichen Gerichte gebracht werden müssen, nach einem anderen Orte gebracht und vor ein Kriegsgericht gestellt, das aus zwei jungen Seeoffizieren und einem Fähnrich der Infanterie bestand. Gordon wurde des Hochverrats bezichtigt, schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Weil der folgende Tag ein Sonntag war, wurde das Urteil erst am Montag vollstreckt. „Der ganze Prozeß war schlechthin ungesetzlich, von Anfang bis zu Ende, jeder einzelne Schritt darin eine Verhöhnung des Rechts. Wenn der tragische Ausgang nicht wäre, so würde man das Ganze eher für eine Posse halten als für nüchterne Wirklichkeit." Mc. Carthy weist dies im einzelnen nach und beruft sich auf die Kritik des Oberrichters Cockburn, der von dem Zeugenbeweis gesagt hat, fast 9/io davon hätte nach allen Regeln, nicht nur des bürgerlichen, sondern auch des militärischen Rechtsverfahrens verworfen werden müssen. Inzwischen wurden die Racheakte weitergeführt. Der Putsch hatte den Tag des Ausbruchs nicht überlebt. „Kein Soldat hat einen bewaffneten Aufständischen mit Augen gesehen. Nichtsdestoweniger wurde wochenlang im Namen der englischen Regierung das Hängen, Peitschen, Brandstiften fortgesetzt. Männer wurden gehängt, Frauen ausgepeitscht, lediglich „weil sie verdächtig waren, verdächtig zu sein". 439 Personen sind getötet, über 600 gepeitscht worden; 1000 Häuser gingen in Flammen auf. Besonders wirksame Peitschen wurden aus Klavierdraht hergestellt: die später eingesetzte Kommission erklärte, es sei peinlich zu denken, daß irgendein Mensch ein solches Werkzeug für die Marterung von Mit8 Gordon: Die sogenannte „Morant Bay Rebellion" fand am 11. Okt. 1865 statt; am 13. Okt. verhängte der Gouverneur das Kriegsrecht. is „ . . . für nüchterne Wirklichkeit": Vgl. McCarthy, 1880: IV, 121. 16 Cockburn: Zit. McCarthy, 1880: IV, 122. 25 „ . . . verdächtig, zu sein": Vgl. McCarthy, 1880: III, 273. 28 Kommission: Dies geschah im Dez. 1865, darunter u. a. H. S. Storks, Russell Gurney (Stadtrichter von London, 1804—78), John B. Maule (Stadtrichter v. Leeds). Der Gouverneur Edward John Eyre wurde vorübergehend suspendiert, bezog aber seit 1874 auf Betreiben Benjamin Disraelis eine Pension im Range eines zurückgetretenen Kolonialgouverneurs.

82

Händel in drei Weltteilen

geschöpfen gebraucht haben sollte. Der Bericht der Kommission wurde im April 1866 bekanntgegeben. Die Abberufung des Gouverneurs erfolgte, obgleich die Meinungen des Publikums geteilt waren. Es bildeten sich Komitees für und wider die Härte des Verfahrens. Auf beiden Seiten Mid-Victorian begegnen die berühmtesten Namen des Zeitalters (der era): für den Gouverneur Disraeli, Tennyson, Kingsley, Carlyle, Dickens, Ruskin-, für die Neger John Bright, Herbert Spencer, Huxley, Goldwin Smith, und als Führer dieser Gruppe John Stuart Mill. Auch die Gouverneurpartei wollte die Greuel und den an Gordon begangenen Justizmord nicht rechtfertigen — wenigstens gingen nicht alle so weit —; aber sie machten alle Gründe geltend, die für schonungslose Unterdrückung eines Aufruhrs zu sprechen schienen. Die Ankläger betonten dagegen hauptsächlich, daß der Aufstand unbedeutend und völlig erstickt gewesen sei, als das Schreckensregiment eröffnet wurde. Von der Gegenseite wurden die moralischen Eigenschaften des Gouverneurs herausgestrichen, diejenigen Gordons herabgesetzt. Der berühmte Naturforscher Huxley bemerkte dazu trocken: kein Gesetz gebe einem Tugendhaften das Recht, einen minder Tugendhaften vom Leben zum Tode zu bringen.

14. D e r Krieg der Sklavenhalter in Amerika Um die Negerware, an der englische Reeder so viele Millionen „verdient" hatten, handelte es sich bekanntlich auch im nordamerikanischen Bürgerkriege, wenngleich erst allmählich dieser Gegenstand des Streites an die Oberfläche trat. Mehr als einmal war die englische Regierung nahe daran, tätig für die Sklavenhalter des Südens Partei zu ergreifen. Die öffentliche Meinung, wenigstens die der oberen Schichten, die immer am meisten in der Lage sind, ihre Meinung zur Geltung zu bringen, war entschieden auf Seite der Rebellen. Sie war es teils aus aristokratischen, teils aus liberalen und freihändlerischen „Gründen". Die ethischen Gefühle gegen die Sklaverei, deren beredter Anwalt der unerschrockene John Bright vor anderen war, fanden in diesen Kreisen schwachen oder gar keinen Widerhall. Die Times berief sich darauf, daß die Sklaverei in der Bibel nirgends ausdrücklich verboten sei. Man war vollkommen sicher, daß der Norden eine schwere Niederlage erleiden werde: „die einflußreichen Klassen waren 18 bringen:

Zit. McCarthy, 1880: III, 277.

Der Krieg der Sklavenhalter in A m e r i k a

83

Herz und Seele mit dem Süden 1 3 ". Ebenso hegte Napoleon der Dritte nicht den geringsten Zweifel, daß die Sache des Südens triumphieren und daß es mit der Union für immer vorbei sein werde. Er wünschte auch, im Verein mit der englischen Regierung, die Konföderation durch Anerkennung zu unterstützen. Es ist merkwürdig, daß es „in Europa nur zwei Staaten gab, welche diese Gesinnung hegten und sie überall zu erkennen gaben": England und Frankreich. Lincoln und seine Freunde hatten auf die Sympathie des englischen Volkes und der englischen Regierung gerechnet. Sie fanden sich bitter enttäuscht, als sie fanden, daß ihr zeitweiliges Mißgeschick von englischen Staatsmännern, Journalisten, Predigern und ganz allgemein von der „guten Gesellschaft" verhöhnt wurde, daß alle diese Kreise ganz offen den Erfolg ihrer Feinde wünschten. Ein schwerer Konflikt entstand durch den Zwischenfall des englischen Kauffahrers Trent, der von einem Kreuzer der Vereinigten Staaten durchsucht wurde; er hatte Abgesandte der Südstaaten an Bord, die der Kapitän zu Gefangenen machte. Große Empörung in London, weil der nordstaatliche Plebejer gewagt hatte, die Praxis nachzuahmen, die der englische Aristokrat seit Jahrhunderten geübt, die zum System der bewaffneten Neutralität in Europa und zum Kriege mit den Staaten 1812 geführt hatte. „Ja, Bauer, das ist ganz was andres —." Präsident Lincoln gab bald nach und ließ die Gefangenen frei. Aber der Fall hinterließ Erbitterung, hauptsächlich, nach Mc. Carthys Urteil, infolge der hochfahrenden Art, in der die englische Regierung sich dabei benommen hatte. Wenn hier England den Vertreter des Völkerrechts spielte, so kam bald ein noch ernsterer Fall, über den die Vereinigten Staaten Grund hatten, sich zu beschweren. Der Kreuzer Alabama kaperte unter der Flagge der Südstaaten ein Handelsschiff des Nordens nach dem andern; er benutzte dabei beständig die englische Flagge zur Täuschung. Das war sein Recht gemäß der Praxis des Seekriegs. Aber die Alabama war 13

Mc. Carthy,

7 „... überall

III, S. 255, 277. T a u c h n .

zu erkennen

gaben":

Vgl. M c C a r t h y , 1880: III, 143.

14 Trent: „Trent" w a r der N a m e des Schiffes, an dessen Bord sich die beiden SüdstaatenG e s a n d t e n M a s o n u n d Slidell b e f a n d e n , die d u r c h den N o r d s t a a t e n - C a p t a i n Wilkes im Nov. 1861 f e s t g e n o m m e n w o r d e n w a r e n . 19 Kriege: Bis 1814. Der Versuch der E r o b e r u n g K a n a d a s d u r c h die USA scheiterte. Washington w u r d e d u r c h britische T r u p p e n erobert. D e r Friede von G e n t im Dez. 1814 beendete den Krieg. 22 Urteil: Vgl. M c C a r t h y , 1880: III, 153.

84

Händel in drei Weltteilen

tatsächlich mehr ein englisches als ein amerikanisches Schiff; dasselbe galt von mehreren dieser „konföderierten" Kreuzer. Sie waren gebaut auf einer englischen Werft, die Mannschaft war fast ausschließlich englisch; die Kanonen und die Kanoniere waren englisch, viele der letzteren gehörten zur Königl. Marinereserve und waren im Solde der britischen Regierung. Diese stellte sich taub gegen die Vorstellungen des Gesandten der Union; so lange wenigstens, als an deren Niederlage geglaubt wurde. Und das war so lange, bis die Siege Grants und Meades sich nicht mehr verheimlichen ließen. Sie wurden sehr übel aufgenommen in London. „In einigen Klubs wurde geradezu sittliche Entrüstung laut, daß so etwas telegraphiert und in den Zeitungen gedruckt wurde." Als der Sieg des Nordens allzu offenbar wurde, schlug die Stimmung um. Die arbeitende Klasse war schon unter dem Einflüsse John Brights und einiger anderer Freunde des Nordens für dessen Sache gewonnen seit Verkündung der Sklavenemanzipation durch Lincoln

(22. Sept. 1862).

Die Alabamafrage blieb Jahre lang ein Gegenstand des Streites. Sie wurde schließlich einem in Genf tagenden Schiedsgerichte unterworfen. Dessen Spruch (vom 15. Sept. 1872) machte England haftbar für die durch Alabama und zwei andere Kaperschiffe verursachten Verluste. England mußte eine Entschädigungssumme (nebst Zinsen) in Höhe von 15/4 Millionen Dollar wegen Bruchs der Neutralität an die Vereinigten Staaten zahlen. So endete die mehr als ideelle Parteinahme — denn das war sie — der englischen Regierung für die Sache der Sklavenhalter von Amerika.

15. D e r indische Aufstand An unmittelbarer Bedeutung für das britische Weltreich wurden alle diese Angelegenheiten weit übertroffen durch die Rebellion in Indien 1857—1859, die unter dem Namen „indische Meuterei" als eine bloße ii „... Zeitungen

gedruckt

wurde":

Vgl. McCarthy, 1880: III, 164.

16 Alabamafrage:

Großbritannien handelte hier entschieden gegen seine eigenen Gesetze, denn der „Foreign Enlistment Act" vom 3. Juli 1819 untersagte es der Regierung, Kriegsschiffe an auswärtige Mächte zu liefern. Ein in Washington geschlossener britischamerikanischer Schiedsvertrag vom 8. Mai 1871 sah vor, dass eine neutrale Regierung angehalten sei, jedwede „due diligence" [gebührende Sorgfalt, bezieht sich auf das Verhalten eines neutralen Staates gegenüber kriegführenden Parteien] zu vermeiden, um einer anderen Nation, die bestrebt sei, einen Krieg zu führen, mit Kriegsmaterial zu unterstützen. Das Genfer Schiedsurteil datiert übrigens vom 14. Sept. 1872.

Der indische Aufstand

85

Söldnerrevolte bezeichnet wird, obgleich sie ohne Zweifel mehr war oder wenigstens wurde als das. Sie bedeutete den Zusammenbruch des Regiments der ostindischen Kompagnie. Es wird noch heute in England gestritten, ob die Annexionen Dalhousies und die Methode seines Regiments den Aufstand herbeigeführt haben oder nicht. Am auffallendsten war die Art, wie er das Königreich Oudh, aus dem sich die bengalische Armee vorzugsweise rekrutierte, vernichtet hat unter grober Verletzung feierlich geschlossener Verträge. Es gilt für sicher, daß dies wesentlich dazu beigetragen hat, die gesamte britische Herrschaft verhaßt zu machen. Überall hatten die Engländer die religiösen Gefühle sowohl der Hindu als der Mohammedaner mißhandelt und die Kastenvorurteile jener verletzt. Meuterei der eingeborenen Söldner waren so alt wie das Institut dieses Söldnerheeres. Die Besorgnis, außerhalb des Landes verwandt zu werden und dadurch Kaste zu verlieren, wirkte besonders stark auf die Gefühle. Der kleine Krieg, den England 1856 in Persien führte, gab dazu neuerdings Anlaß. Überdies war es ein verbreiteter Glaube, daß die britische Herrschaft in Indien 100 Jahre dauern werde: 1757 war die Schlacht bei Plassey geschlagen, der große Sieg, der Clive die Herrschaft über Bengalen gab. Die Geschichte des Aufstandes ist eine Geschichte der Heldentaten und Strapazen, aber auch der Grausamkeiten und Greuel von beiden Seiten. Die endliche Unterdrückung hat in den Gefühlen Europas einen besonders tiefen und schrecklichen Eindruck hinterlassen durch die englische Methode, die Todesstrafe durch Binden der Opfer an den Mund von Kanonen zu vollstrecken, die dann entladen wurden. Diese humane Hinrichtung ist schon 1764 an den Sipahi ausgeübt worden 1 4 . Nach der Unterdrückung wurde die Frage nach den Ursachen des Aufstandes brennend. Oberst Malleson, der (als Fortsetzer von Kaye) am eingehendsten die Begebenheiten historisch dargestellt hat, beantwortet die Frage dahin, daß die Hauptursache Treulosigkeit und Wortbruch der

14

„Schon 1764 war es notwendig, Meuterei auszurotten dadurch, daß man 30 Sepoys aus Kanonen wegblies." Enc. Brit. XIV, 446.

16 Persien:

Als Persien 1856/57 erneut versuchte, das afghanische Herat zu besetzen, gin-

gen die Briten zum Gegenangriff über und landeten in der Hafenstadt Busir. Im Frieden von Paris (1857) verzichtete Persien auf Herat (Beginn des zeitweiligen engl. Einflusses in Persien). 26 Sipahi:

Persisch „Soldat", von daher leitet sich 'Sepoy' ab.

86

Händel in drei Weltteilen

englischen Regierung gegen die Sepoys gewesen sei. „Die Soldaten wurden bestraft dafür, daß sie sich weigerten, einen Vertrag zu erfüllen, den die Regierung gebrochen hatte!" Dies geschah 1843; und 1853 „versuchte die Regierung in höchst übelberatener Weise einen neuen Kontraktbruch"; Lord Dalhousie war hier der Schuldige. Seine hochfahrenden 5 Maßregeln wurden gekrönt durch die Annexion von Oudh. „Von diesen Handlungen, von dem Versuch, das stumme Wachstum von Jahrtausenden außer acht zu lassen und okzidentalische Ideen einem orientalischen Volke aufzuzwingen und dabei Vorurteile mit Füßen zu treten, Verpflichtungen außer acht zu lassen, war die Meuterei die allzu sichere Folge 15 ." 10

15

Malleson,

1 Sepoys:

History of the Indian Mutiny, Vol. Ill, 4 7 2 - 4 7 6 u. preface p. VIII. Einheimische Regimenter in der britischen Kolonialarmee in Indien (fast alle

aus den Stämmen des Pandschab); vgl. Art. „Indian Mutiny", Enc. Brit., 1911: XIV, 446 - 451.

Vierter

Abschnitt

Der neuere Imperialismus „Bloßer cant, wie e r n s t h a f t er auch in offiziellen D a r stellungen v o r g e b r a c h t w e r d e n möge, m a c h t eine gebildete öffentliche M e i n u n g nicht länger blind gegen die Tatsachen in diesen A k t e n internationalen Brigantentums." W. Morgan

Skuster

(Ex-Schatzmeister von Persien) „The strangling of Persia". 1912. (Die E r d r o s s e l u n g Persiens) p. 222.

16. Ä g y p t e n Das Land der Pharaonen — Napoleon nannte es das wichtigste Land auf der Erde — ist seit der französischen Revolution ein Zankapfel zwischen englischen und französischen Eroberungsgelüsten gewesen. Und zwar standen diese hier unmittelbar im Dienste der ökonomischen und finanziellen Ausbeutung. Zu Kriegen der beiden Mächte wider einander ist es nach 1815 weder um diese noch um die wirklichen „Kolonien" mehr gekommen. Es gelang eben der englischen Politik, Frankreich ohne Krieg immer mehr von sich abhängig zu machen. Sie hatte den ehemals so gewaltigen und gefürchteten Rivalen gezähmt und warf ihm soviel Futter in den Rachen, als zu genügen schien, um seinen Blutdurst zu dämpfen. Nachdem in der Seele eines österreichischen Ingenieurs die Idee gereift war, haben französischer Geist und französische Technik den Suezkanal unternommen und gebaut. Als Ferdinand de Lesseps sich 1864 an Lord Palmerston wandte, um den Widerstand, den die britische Diplomatie in Konstantinopel gegen das Projekt organisiert hatte, zu brechen, erklärte der Minister: „Nach Ansicht der britischen Regierung sei der Ka12 Napoleon:

Vgl. N a p o l e o n , 1911: III, 62: „Ägypten ist eins der schönsten u n d interessan-

testen L ä n d e r der Welt . . . " . 22 Ingenieurs:

Die Pläne s t a m m t e n von Alois Negrelli, Ritter von M o l d e l b e , der 1857 v o m

ägyptischen Vizekönig z u m G e n e r a l i n s p e k t o r f ü r den K a n a l b a u bestellt w u r d e .

88

Der neuere Imperialismus

nal eine physische Unmöglichkeit; wenn er gebaut würde, so werde er die britische Suprematie schädigen; und der Plan sei lediglich ausgeheckt, um die Einmischung Frankreichs im Orient zu befördern." Gewiß ein Musterbeispiel für die Weitsichtigkeit und Weitherzigkeit britischer Staatskunst, die überhaupt in Palmerston immer ihren typischen Vertreter findet. — Die Bestätigung der Kommission durch den Sultan wurde erst 1866 erreicht. Inzwischen hatte Lesseps eine Aktiengesellschaft für den Bau des Kanals gegründet, der im November 1869 eröffnet wurde. 1875 kaufte Disraeli, in dessen Person der Finanzmann und der Staatsmann eine schöne Mischung eingingen, für die britische Regierung die 176 602 Suezkanal-Aktien des Khediven. Damit beginnt die finanzielle und im Anschluß daran die territoriale Eroberung Ägyptens durch England. Der Staatsbankerott stand vor der Tür. Um ihm zu wehren, legt sich der Inkubus englisch-französischer Finanzkontrolle auf das Land. Im Jahre 1881 setzte eine Empörung, die sich zugleich gegen die Türken wandte, unter dem ägyptischen Offizier Ahmed Arabi dagegen ein; in den Worten Lord Cromersder schon 1878 Mitglied einer Finanzkommission, später (1884) Generalkonsul und (tatsächlicher) Gouverneur wurde, war es eine „echte Revolte gegen Mißregierung"; die Bewegung hatte Erfolg, Arabi wurde Kriegsminister. Dem Inkubus gefiel das nicht. Um die Interessen der Staatsgläubiger zu wahren, erschienen englische und französische Schiffe vor Alexandria; ein Aufstand in dieser Hafenstadt, bei dem britische Untertanen umkamen, gab den Anlaß zum Bombardement der schwachen Außenforts am 11. Juli 1882; das Bombardement hatte eine Vermehrung der Anarchie zur Folge. Der englische Admirai hatte nicht gänzlich auf eigene Faust gehandelt. Nach Völkerrecht fragte er nicht. Aber hinter ihm stand seine Regierung, die nunmehr für ihre Aufgabe hielt, die „Rebellion" niederzuzwingen. Es folgte die 1

Cromer, Modern Egypt., I, 2.

3 „ . . . im Orient zu befördern": Zit. nach dem Art. „Suez Canal", in: Enc. Brit., 1911: XXVI, 23. 14 Finanzkontrolle: Die sog. „Dual Controll" begann im Jahre 1879. Vertreter Englands war der spätere Lord Cromer. 16 Arabi: Dieser wurde 1882 Kriegsminister. 19 „echte Revolte gegen Mißregierung": Zit. nach Enc. Brit., 1910: IX, 114, Anm. 1 (nach der Zeitschrift „Egypt", Nr. 4, 1905, S. 2). 26 Admiral: Frederick Beauchamp Paget Seymour, 1. Baron of Alcester. 28 niederzuzwingen: Arabi wurde in der Schlacht von Tell-el-Kebir am 13. Sept. 1882 durch englische Truppen unter Wolseley geschlagen.

89

Ägypten

Besetzung des Nillandes, die bald, obgleich es erst viel später (1898) gelang, den Sudan zu unterjochen, der politischen Annexion gleichkam. Frankreich,

daß

Ägypten

geräumt werden müsse, wurde ausgeschaltet durch die Entente

dessen

Regierungen

jahrelang

drängten,

und den

Vertrag von 1904, der einer Teilung Nordafrikas gleichkam. „Wir behalten Ägypten, ihr legt die Hand auf M a r o k k o ; andere M ä c h t e haben dort wie hier nichts zu suchen. Will etwa Deutschland in M a r o k k o seine kommerziellen Interessen wahrnehmen, so wird England euch schützen." Das der wahre Sinn jenes Abkommens. D a ß ein Schatten von „Recht" dabei in Frage kam, hat keiner der Kontrahenten zu behaupten gewagt. Es wäre denn das Recht, welches Shylock

für sich in Anspruch

nimmt. Der Staatsmann Gladstone

hatte schon 1877 geschrieben:

„Unsere erste Baustelle in Ägypten, sei es, daß wir durch

Diebstahl

oder durch Kauf sie erwerben, wird fast todsicher das Ei eines nordafrikanischen Reiches sein, das wachsen und wachsen wird . . . ., bis wir schließlich jenseits des Äquators mit Natal und Kapstadt unsere Hände verbinden, um zu schweigen vom Transvaal- und dem Oranjefluß-Freistaat auf der Südseite, oder von Abessinien oder Sansibar, die etwa als Reisezehrung unterwegs mitzunehmen und zu schlucken w ä r e n 2 . " Derselbe Gladstone

hatte als Premier das Bombardement von Alex-

andria zu decken. John

Bright,

der Mitglied seines Kabinetts war, schied

aus dieser Ursache aus. Goldwin

Smith

(1858 —1866 Professor der neue-

ren Geschichte in Oxford, später nach Kanada übergesiedelt) schrieb an

Bright: „Dies ist ein Krieg der Staatsgläubiger", Brights

und das war auch

Auffassung. Er hatte noch mit dem Kabinett das Bombardement

autorisiert, und das bedrückte ihn schwer. Er erklärte im Parlament, das Vorgehen Englands verstoße gegen das Völkerrecht und gegen das 2

Gladstone,

s Vertrag:

Gleanings IV, p. 357.

„Entente cordiale" zwischen England und Frankreich vom 8. April 1904. Sie

brachte die Bereinigung aller Streitpunkte in kolonialen Fragen. England bekam freie Hand in Ägypten, Frankreich wurde seine Einflusszone in Marokko garantiert. Das sollte auch für den Fall gelten, wenn sich Änderungen in Marokko bzw. in Ägypten für die Signatarmächte ergeben sollten. Später wurde das Abkommen auch auf die europäische Politik insgesamt ausgedehnt. 9 „...

so wird

England

euch

schützen":

Wahrscheinlich eine Stilisierung von Tönnies

selbst. Eine ähnliche Version findet sich bei Cromer, 1908: II, 368. 25 „ . . . Krieg der Staatsgläubiger":

Vgl. Trevelyan, 1913: 434.

90

Der neuere Imperialismus

moralische Gesetz. Die Anstachelung war von Joseph Cbamberlain, der damals noch radikales Mitglied des Gladstonesehen Kabinetts war, ausgegangen. Unerschrocken und unermüdlich kämpfte dagegen für anständige und gerechte Behandlung der Ägypter Herr Wilfrid Scawen Blunt, der lange im Lande gelebt hat und mitten in den Begebenheiten von 1882 stand; er genoß das volle Vertrauen Arabis, den er als einen edlen Schwärmer und treugläubigen Moslem schildert. Bismarck nannte Arabi einen Machtfaktor, mit dem man rechnen müsse. An Blunt schrieb inmitten der publizistischen Erregungen des Jahres (3. 8. 1882) aus Kapstadt der General Gordon, dessen tragisches Geschick in Khartum aus den Verwicklungen entsprang, die im Sudan der Besetzung Ägyptens folgten, einen zustimmenden Brief: er spottet über die Heimlichtuerei des damaligen Staatssekretärs Sir Ch. Dilke. „Konnten die Dinge ein übleres Ende nehmen, wenn er alles gesagt hätte? Keine Kontrolle (der Finanzen) mehr — keine Beamten mehr, die jährlich 373 000 £ (= 61/2 Millionen Mark) herausziehen — kein Einfluß von Generalkonsuln mehr, eine Nation, die uns haßt — kein Tewfik mehr (der England ergebene Khedive) — keine Zinsen mehr — eine bombardierte Stadt, Alexandria, das sind die Ergebnisse der erhabenen geheimen Diplomatie" . . . . „Was Arabi angeht, was immer aus ihm persönlich werden mag, er wird für Jahrhunderte fortleben im Volke; sie werden niemals wieder „eure gehorsamen Diener" sein 3 . Blunt hat für notwendig gehalten, noch 25 Jahre nach den Begebenheiten die früheren Rechtfertigungen seines Verhaltens durch ein Buch vollständig zu machen, das in den Anhängen viele interessante Urkunden, darunter mehrere Briefe des Ahmed Arabi enthält. In einer Vorrede zu diesem Buche, die schon 1895 geschrieben ist, sagt er u. a.: „Es kann auch sehr wohl sich ereignen, daß die ägyptische Frage, wenngleich sie jetzt ruht, auf unerwartete Weise in einer dringenden Form sich wieder behaupten wird; sie wird dann von den Engländern eine neue Prüfung der Stellung erfordern, die sie dort einnehmen, der politischen wie der moralischen"; eben darum wolle er sein gesamtes Material zur Aufklärung beitragen. In dem späteren Vor3

Wilfrid Scawen Blunt, Secret history of the English occupation of Egypt (1907), p. 28.

7 Moslem: Siehe Blunt, 1907: 132. 8 man rechnen müsse: In einem Gespräch mit dem Journalisten Moritz Busch am 9. Juni 1882, in: Busch, 1899: III, 84. 10 Gordon: Charles G. Gordon wurde 1885 nach einem nicht autorisierten Feldzug gegen den Mahdi in Khartum ermordet.

Ägypten

91

wort (1907) erklärt er es zu eben diesem Zwecke für notwendig, daß man die Vergangenheit, wie sie wirklich war, sich vor Augen stelle, und nicht, wie sie so lange dargestellt worden sei durch die trügerischen Urkunden der amtlichen englischen Blaubücher. Er beruft sich darauf, daß Lord Cromer während keines Teils der revolutionären Periode in Kairo gewesen sei. Er stellt sich die Aufgabe, vollständig und im einzelnen „das ganze Drama finanzieller Intrige und politischer Schwäche" zu entrollen, wie es ihm offenbar geworden sei. Das Buch wiederholt zum Teil Eintragungen des Verfassers in sein Tagebuch. Sie sind sehr düster in bezug auf die Zukunft seines Landes. „Englands Verfall beruht auf Ursachen, die weit allgemeiner sind, als daß irgendein Einzelner oder eine Partei dafür verantwortlich sein könnte. Wir haben Unglück, weil wir nicht mehr ehrlich, nicht mehr gerecht, nicht mehr Leute sind, auf die man sich verlassen kann." Herr Blunt glaubt also, daß es mit der Ehrlichkeit und Gerechtigkeit der englischen Politik ehemals wenn nicht gut, so doch viel besser bestellt gewesen sei. Seine Darstellung ist natürlich hart angefochten worden. Die anerkannte Autorität über das neue Ägypten und die englische Eroberung ist das zweibändige Werk von Lord Cromer, Modern Egypt4, geworden. Bei aller Anerkennung für diese ausgezeichnete Schrift muß man doch Blunt recht geben, daß Cromer im Nachteil ist, sofern er eben während der kritischen Zeit nicht in Ägypten gelebt hat. Lord Cromer führt die Worte des berühmten Kenners der semitischen Sprachen, Prof. Sayce, ins Gefecht: „Leute, die im Orient gelebt und versucht haben, mit den Eingeborenen zu verkehren, wissen, wie vollständig unmöglich es für den Europäer ist, die Welt vom Gesichtspunkt des Orientalen zu betrachten. Eine Zeitlang mag der Europäer wohl glauben, daß er und der Orientale einander verstehen, aber früher oder später tritt der Moment ein, wo er plötzlich aus seinem Traum erwacht und sich in Gesellschaft einer Seele befindet, die ihm so fremd ist, wie es die Seele eines Saturn-Bewohners sein würde." Vielleicht wird es auch für die Beobachtung bestimmter Vorgänge gelten, daß gerade im Orient man sie erlebt haben muß, um sie richtig zu 4

Deutsche Übersetzung von Admiral

14 Englands

Verfall ... verlassen

32 „ . . . Saturn-Bewohners

l'lüddemann.

kann: Blunt, 1907: 92.

sein würde":

Vgl. Cromer, 1908, I, 7. Zit. in Sayce, „The 'Higher

Criticism' and the verdicts of the Monuments", 1894: 558.

92

Der neuere Imperialismus

verstehen. Überdies lebte Blunt als reicher Privatmann in Ägypten. Cromer (vormals Sir Evelyn Baring) ist nur im Auftrage der englischen Regierung dort gewesen. Indessen werden wir lieber unser Urteil zurückhalten. Für sicher darf aber gelten, worin Cromer und Blunt übereinstimmen. Auch Cromer bestätigt am Schlüsse seines Werkes in bezug auf Ägypten, was bald nach der Annexion des Pandschab von Indien gesagt wurde: „W/r sind nirgends beliebt." — „Mangel an Dankbarkeit einer Nation gegenüber ihren fremden Wohltätern" nennt er es, meint aber, dieser Mangel sei beinahe ebenso alt wie die Geschichte. An anderer Stelle 5 beruft sich Cromer selber auf Seeleys Ausspruch: „Es wäre sehr voreilig anzunehmen, daß irgendwelche Dankbarkeit, die hier und da durch unsere Verwaltung wachgerufen sein mag, mehr als genügend sein kann, um die Unzufriedenheit aufzuwägen, die wir unter denen erregt haben, welche wir aus Ansehen und Einfluß hinausgeworfen haben." Aber Unzufriedenheit erfüllt nicht nur die ehemaligen Herrscher, sondern auch die Beherrschten. Fremdherrschaft ist als solche drückend. Sie wird als Last empfunden, selbst wenn sie willkommene Reformen gebracht hat. Die Unzufriedenheit wird erhöht und verschärft durch Zwischenfälle, bei denen sich zeigt, daß die Fremdherrschaft Mangel an Verständnis für heimische Sitten und Härte gegen Vergehen, in denen sich diese wahren, miteinander verbindet. Ein solcher Zwischenfall war in Ägypten die Begebenheit von Denshawai. Das Schießen von Tauben darf im Nillande nur mit Erlaubnis der Dorfschulzen geschehen; denn die Landleute betrachten ihre halbzahmen Tauben als ein wertvolles Eigentum und behandeln sie mit zärtlicher Sorgfalt. Die englischen Offiziere schießen Tauben nach Herzenslust. So geschah es auf einem Marsche durchs Nildelta, daß ein Trupp von 5 Offizieren beim Taubenschießen betroffen und angehalten wurden. Man nahm ihnen ihre Gewehre ab. Eine Flinte ging los und verwundete mehrere, darunter eine Frau. Eine 5

Edinb. Review, Jan. 1908, abgedruckt in Political and Literary Essays (1913), p. 13.

8 „Wir sind nirgends beliebt": Vgl. Cromer, 1908: II, 570. Das Wort stammt von Sir Herbert Edwards nach der Annexion des Pandschab (in „Life of Lord Lawrence", Bd. 2, S. 20). 15 „ . . . und Einfluß hinausgeworfen haben": Vgl. Seeley, 1884: 287. 23 Denshawai: Dinshaway, im Juni 1906. Am 8. Jan. 1908, dem Jahrestag der Thronbesteigung des Khedive (Abbas II. Hilmi, regierte vom 7. Jan. 1892 bis zum 20. Dez. 1914), wurden alle Gefangenen begnadigt.

Ägypten

93

Panik entstand, die Engländer wurden arg verprügelt, einer starb nachher am Sonnenstich, sein Tod wurde aber empfangenen Wunden zugeschrieben. Ein besonderer Gerichtshof, der für solche Fälle besteht, verurteilte alsbald 4 Ägypter zum Tode, mehrere zu längeren Gefängnisstrafen, 7 zu je 50 Peitschenhieben. Die Hinrichtungen und Auspeitschungen wurden sogleich vollzogen. Sir Edward Grey war eben Minister der auswärtigen Angelegenheiten in der neuen liberalen Regierung geworden. Er verteidigte nicht nur das harte Urteil, sondern warnte am 6. Juli vor ferneren Ausbrüchen des Fanatismus in Ägypten, die möglicherweise extreme Maßregeln notwendig machen würden. — Darauf antwortete Mustafa Paska Kamel, der neue Führer der ägyptischen Nationalpartei, er glaube mit seinen Landsleuten, daß Sir Edward Grey im Parlamente zu keinem anderen Zwecke gesprochen habe, als um die Diskussion der grausigen Tatsachen von Denshawai zu ersticken. „Aber ist es Englands würdig, des Landes, das Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Zivilisation vertreten will, die Taten derer zu billigen und sich zu eigen zu machen, die der Welt das melancholische und furchtbare Schauspiel von Barbarei — die Exekutionen von Denshawai — gaben?!" Auf diese Frage wird vielleicht die fernere Geschichte der englischen Usurpation in Ägypten eine scharfe Antwort geben. An heftiger Opposition und rücksichtsloser Kritik hat es Sir Edward Grey innerhalb des Hauses der Gemeinen und innerhalb seiner eigenen Partei nicht gefehlt. Mit einem Worte möge hier noch der Kämpfe um den Sudan gedacht werden, die sich an die Eroberung Ägyptens anschlössen. Das tragische Schicksal des berühmten Generals Gordon machte auf die Zeitgenossen, auch außerhalb seines Landes, einen tiefen Eindruck. Wiefern seine Regierung daran unmittelbar Schuld hatte, geht unsere Betrachtung nichts an. Übrigens aber genüge es, einen lapidaren Satz des großen Philosophen Herbert Spencer anzuführen, den er nicht lange vor seinem Tode (1903) geschrieben hat. „Die Liebe zu meinem Vaterlande wird bei mir

11 notwendig machen würden: Vgl. Parliamentary Debates, 1906: Bd. 160, 288 f. Erklärung vom 5. Juli 1906 im House of Commons, is Aber ist es Englands würdig: Diese Antwort von Mustafa Pasha Kamel war nicht nachweisbar. 19 Exekutionen von Denshawai: Vgl. Parliamentary Debates, 1906: CLX, 289 (5. Juli 1906).

94

Der neuere Imperialismus

nicht gefördert, wenn ich mir den Tatbestand in die Erinnerung zurückrufe: unser Premierminister hatte erklärt, daß wir ehrenhalber verpflichtet seien, den Sudan für den Khediven zurückzuerobern — nach der Rückeroberung begannen wir flugs, den Sudan im Namen der Königin und des Khediven zu verwalten — d. h. (wenn auch nicht dem Namen nach) wir annektierten

ihn." In demselben kleinen Aufsatz begegnet der

allgemeine Satz: „Betrachtung der Taten, durch welche England über 80 Besitzungen, Ansiedlungen, Kolonien, Protektorate usw. erworben hat . . . . erregt keine Gefühle der Befriedigung" 6 .

17. Der Burenkrieg Die Eroberung des Transvaal und des Orange-Freistaats war, nach der Auffassung der Buren, die dadurch der letzten Stätten ihrer politischen Unabhängigkeit beraubt wurden, der Abschluß eines „Jahrhunderts voller Unrecht". (So lautete der Titel einer Schrift, die der frühere Staatssekretär Reitz herausgab.) Die „Kap-Kolonie", der Kern britischer Herrschaft in Südafrika, war eins der Beutestücke, das bei Gelegenheit der Kämpfe gegen die französische Republik, dann gegen Napoleon, eingeheimst wurde. Zuerst 1795, dann 1806, endlich 1814 legte Großbritannien seine Hand auf die alte holländische Ansiedlung. „Der britische Rechtstitel auf die Kapkolonie ist begründet auf Eroberung, Vertrag und Kauf. Die Wünsche der Einwohner wurden nicht gefragt, und es herrschte Entrüstung unter diesen über die Art, wie man über ihre Zukunft verfügte" berichtet der Engländer Frank R . Cana7. Er weiß wohl, daß nur die Eroberung einen reellen „Rechtstitel" begründet hat. Der Unwille über die englische Herrschaft, die in diesem Falle nicht Asiaten, auch nicht Neger, und nicht Kolonisten von englischer Abstammung, sondern Abkömmlinge eines europäischen Nachbarlandes zu ihren Füßen sieht, hat sich vertieft, je mehr diese Herrschaft ausgebreitet wurde. Die Ereignisse, die dazu geführt haben, sind noch in frischem Andenken. Die Niederlage der Engländer bei Majuba Hill (1881), die 6 7

Patriotism in: „Facts and Comments", p. 88, 89. Encycl. Bot., 2, 11. ed. South Africa (XXV, 470).

31 Majuba

Hill: Am 27. Feb. 1881 besiegten die Buren hier ein britisches Korps.

Der Burenkrieg

95

Gründung des Afrikanderbundes (1882); die Entdeckung der Diamantenfelder und der Goldminen; das planmäßige Vorgehen von Cecil Rhodes und seiner privilegierten Handelsgesellschaft; die Politik des Präsidenten Krüger, die Klagen der Uitlander im Staate Transvaal; der gewaltsame Einbruch Dr. Jamesons (Jameson raid), den Cecil Rbodes, damals Minister in der Kapkolonie, veranlaßt hatte; die nachhaltigen furchtbaren Wirkungen dieses Verbrechens: „Es kann nicht geleugnet werden, daß die Umstände, die mit dem Einbruch verbunden waren, das holländische Element in der Kapkolonie stark erbitterten, und dessen folgendes Verhalten gegen die Transvaal-Buren beeinflußten" 8 . Im Jahre 1897 wurde Sir Alfred Milner, ein leidenschaftlich rücksichtsloser Imperialist, zum Statthalter für Südafrika und Gouverneur der Kapkolonie ernannt. Dies bedeutete, daß die Gewaltpolitik wieder aufgenommen werden sollte, die eine Zeitlang geruht hatte. Denn hinter ihm stand als Kolonialsekretär Joseph Chamberlain. Er behandelte schon im voraus die Transvaal-Republik als einen zu Gehorsam verpflichteten Staat, obgleich dieser (durch Vertrag von 1884) nur völkerrechtlich in einer gewissen Abhängigkeit geblieben war, nachdem er aus der 1877 erfolgten Einverleibung ins britische Reich sich befreit hatte. Es folgte der 3jährige Krieg (1899 — 1902), die endliche Unterwerfung, die Ordnung der neuen Kolonien, die Einführung chinesischer Minenarbeiter unter Bedingungen, die 8

Encycl. Brit., a. a. O.

1 Afrikanderbundes:

Der „Afrikander Bond", der die Partei des burischen Nationalismus

in Südafrika werden sollte, wurde 1881 durch den holländischen Reverend S. J. du Toit (genannt „De Patriot") gegründet. Der erste Kongress fand 1882 statt. 2 Diamantenfelder:

Der erste Diamantenfund erfolgte im April 1867 in der Nähe der

Stadt Hope-Town am Orange-River; wenig später wurden die großen Diamantenfelder um Kimberley entdeckt. 3 Rhodes:

Die privilegierte Handelsgesellschaft war die „De Beers Company", die Mono-

polgesellschaft für die Diamanten-Konzessionen. 4 Krüger: 4 Uitlander:

Paulus „Ohm" Krüger war 1883 — 1904 Präsident der Republik Transvaal. Burenfremde, durch Goldfunde im Burenstaat Transvaal angelockte Einwan-

derer aus der britischen Kapkolonie, denen jedoch die vollen Bürgerrechte nicht verliehen wurden. 5 Jameson

raid: Durch den Arzt Leander Starr Jameson am Abend des 29. Dez. 1895,

unter Billigung Cecil Rhodes, auf Transvaal. Er scheiterte, da die „uitlanders" sich nicht gegen die Buren erhoben. 21 Minenarbeiter:

Zwischen 1904 und 1907 wurden ca. 64.000 chinesische Minenarbeiter

nach Südafrika verbracht. Die ersten Chinesen kamen im Juli 1904, nachdem der Staatssekretär für die Kolonien, Alfred Lyttelton, am 16. Jan. 1904 zugestimmt hatte; vgl. die „Ordinance", No. 17 von 1904.

96

Der neuere Imperialismus

sie in der Wirkung zu Sklaven machten; endlich die Gewährung der Eigenregierung und die Bildung der südafrikanischen Union als eines der Glieder des Britischen Reiches. Der Krieg selber brachte anfangs schwere Niederlagen des britischen Heeres. Nachher hatte es auch Erfolge zu verzeichnen. „England sandte im ganzen Verlaufe des Krieges nach Südafrika fast 450 000 Mann. Von diesen kamen annähernd 340 000 aus dem Mutterlande, der Rest aus Indien, aus den Kolonien und aus Südafrika selber. Die gesamte Streitmacht, die von den Buren ins Feld geführt worden ist, war erheblich weniger als 75 000 M a n n " 9 . Mc. Carthy meint, es sei bei einem solchen Stärkeverhältnis ( 6 : 1 ) unmöglich gewesen, daß eine Dichterseele sich für den Sieg begeistert hätte, und wenn es sich um den Kampf zwischen 2 fremden Staaten gehandelt hätte, so wäre ganz sicher die Sympathie des englischen Volkes auf Seite des schwächeren Streiters gewesen. Die Sympathie der gesamten nichtenglischen Kulturwelt war es in einer Weise, die eine schwere moralische Niederlage der englischen Weltpolitik bedeutete. Die cawi-Phrasen, mit denen der Eroberungskrieg in Umlauf gebracht wurde, waren diesmal nur Scheidemünzen; außerhalb der Landesgrenzen wollte niemand sie annehmen; sie wurden den Chamberlain, Milner und Genossen ins Gesicht geworfen. Wenn schon im Jahre 1850 die Königin Victoria ihrem damaligen Premierminister gegenüber bemerkte, sie könne nicht ohne Kummer wahrnehmen, daß England allgemein verabscheut werde, so hätte sie 50 Jahre später, nachdem sie ihr Diamant-Jubiläum gefeiert hatte, noch viel mehr Ursache zu diesem Kummer gefunden. An ihrer Statt sprachen die Großen des Landes: sowohl der Regierung als der Opposition angehörende, wenngleich die Opposition gegen den Krieg nur schwach hervorzutreten wagte und gewaltsam erstickt wurde. Am 31. Oktober 1900 bezeichnete der Earl of Kimberley

es als eine

Tatsache, daß die Engländer in sehr allgemeiner Weise gehaßt würden von den Ausländern.

9

]. Mc. Carthy, A Hist. of our own times, Orig.-Ausg. Vol. VII, p. 126.

2 Eigenregierung:

Sie wurde Transvaal am 12. Dez. 1906, der Oranje-Kolonie 1907 ge-

währt. 22 Premierminister: 29 Kimberley:

Premierminister war damals der Whig John Russell; vgl. Peel, 1902: 3.

Vgl. Peel, 1902: 1.

97

Der Burenkrieg

Am 16. Dezember 1901 ließ der Earl of Rosebery,

Ministerpräsident

1894 bis 1895, sich dahin vernehmen: „Es gibt keine Parallele zu dem H a ß und Übelwollen, womit wir fast einstimmig von den Völkern Europas betrachtet werden." Und Lord Salisbury

selber, Haupt der damaligen Regierung, erklärte

am 9. Mai 1900: dieses Land wird fast in jeder europäischen Literatur mit Vorwürfen vor die Tür gesetzt. Und in einer späteren Staatsrede (am 5. Juni 1902) warf er die Frage auf: ob die Wurzel der Bitterkeit gegen England, die zu erklären er sich ganz außerstande sehe, nicht auf eine tiefgelegene Stimmung hinweisen möchte, „mit der wir bei einer späteren Gelegenheit zu rechnen haben werden." Im Jahre 1902 erschien auch die (früher erwähnte) interessante Schrift des Hon. George

Peel „Die Feinde Englands", der diese Aussprüche ent-

lehnt sind. Er meint, daß jene feindlichen Stimmungen schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ein allgemeiner Faktor in Europa vorwalten. Er hat gewiß recht, denn ihren Herd haben sie immer in Frankreich gehabt: von dem Ausspruch des Minister-Kardinals

Bernis

(um 1750): „England wird der Despot der Welt werden", bis zu der Schrift des Jean (.Le colosse

de la Poulaine

(1902) „der Koloß auf tönernen Füßen"

aux pieds d'argile),

— welche Register von Äußerungen fran-

zösischen Unwillens über die „Insolenz" der englischen Politik ließen sich ziehen! — Peel erkennt ganz richtig die Ursache und den Kern der „tiefen, weitverbreiteten und althergebrachten" feindlichen Gesinnung, die England auf dem Kontinent sich zugezogen habe, darin, daß seine Politik regelmäßig jeder Macht, die „nach dem Primat in der Welt strebte" 1 0 , „auf einer gewissen Stufe ihres Fortschritts" sich widersetzt habe. „Nach Ausscheidung aller Bitterkeit bleibt dies der wirkliche Gegenstand zwischen uns und unseren kontinentalen Kritikern, und gemäß der Antwort auf die Frage, ob dieser unser Widerstand gerechtfertigt war, müssen wir uns bescheiden, in der Anschauung unparteiischer Geister zu stehen oder zu fallen." Wenn er dann antwortet: „Unsere Staatsmänner haben fortwährend unsere 10

Sicherheit

gesucht, welche in jeder wichtigen Epoche der europäi-

Lies: die auf ihren eigenen Füßen stehen wollte.

1 Rosebery:

Vgl. Peel, 1902: 1.

5 Salisbury.

Vgl. Peel, 1902: 1.

17 Bernis:

Vgl. Peel, 1902: 166.

98

D e r neuere Imperialismus

sehen Angelegenheiten zusammengefallen ist mit der Sicherheit von Europa", so ist das nicht cant (der diesem Autor fernliegt), sondern eine unzulässige Verallgemeinerung der Fälle Louis XIV. und Napoleons, von denen der zweite in Wahrheit mehr gegen die Übermacht Englands als für die Übermacht Frankreichs gekämpft hat. Um auf den Burenkrieg zurückzukommen, so war er ausschließlich durch das imperialistische Interesse Englands bestimmt, und hinter diesem stand wie immer das kommerzielle Interesse. W. H. Lecky, der Historiker, politisch konservativ und Unionist, hat im Jahre 1900 eine Flugschrift verfaßt, die in deutscher Übersetzung heißt „Moralische Ansichten über den Krieg in Südafrika". Sie ist durchaus eine Verteidigung der englischen Politik und ein heftiger Angriff auf die Politik der Regierung des Transvaal. Und doch muß Lecky sich zu folgender Einräumung bequemen: „Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, daß unser Benehmen in anderen Beziehungen (natürlich meint Lecky, Englands Politik sei ungemein friedfertig gewesen) fehlerlos war. Es gibt manche Seiten in der Geschichte ehemaligen englischen Vorgehens in Transvaal, die uns keineswegs zur Ehre gereichen. Eine Bevölkerung von Goldgräbern, wie diejenige, die ihren Mittelpunkt in Johannisburg hat, gehört niemals zu den musterhaften, und in der gegenwärtigen Generation ist finanzielle Spekulation viel zu sehr, sowohl in England als in Afrika, mit der südafrikanischen Politik vermengt worden. Der Parteigeist ist wild im Kaplande, und wenn dort eine holländische Partei war, die auf vollständige Oberherrlichkeit abzielte, so gab es auch eine englische Partei, die gewaltsam, anmaßend und gewissenlos war. Der Einbruch (Jameson raid), obschon ihm ohne Zweifel grobe Mißregierung vorausging, war sowohl eine große Torheit als ein großes Verbrechen. Unsere Regierung hatte nichts damit zu schaffen, und die Leute, die daran teilnahmen, wurden vor Gericht gestellt und bestraft, aber ein Teil des englischen Publikums — in schamloser Weise irregeführt durch einen sehr einflußreichen Flügel der englischen Presse — nahm eine Haltung in bezug auf jenen Einbruch an, welche in weitem Umfange und sehr natürlicher Weise das tiefe Mißtrauen gegen England vermehrte, das im Transvaal vorwaltete." Lecky bezeichnet dann als unzweifelhaft wahr, daß Herr Rhodes den Einbruch vorbereitet und geplant habe. 2 „ . . . Sicherheit 34 „... vorwaltete": 36 geplant

von Europa":

Vgl. Peel, 1902: 1 2 f .

Vgl. Lecky, 1900: 5.

habe: Vgl. Lecky, 1900: 5.

99

Persien

Die stärkste und in der Tat vollkommene Verleugnung wurde dem Kriege zuteil durch die Parlamentswahlen von 1906, die eine überwältigende Mehrheit für die bisherige Opposition ergaben. Die bitter geschmähten Pro-Boers und Little Englanders bildeten die starke Regierung, die sich durch 2 fernere Wahlen (1910) erhalten konnte. Freilich hatte diese Regierung einen imperialistischen Einschlag durch die Personen ehemaliger Tories, wie Sir Edward Grey und Winston Churchill.

18.

Persien

Die „Erdrosselung Persiens" — unter diesem Titel hat ein ausgezeichneter amerikanischer Politiker die neueste Geschichte dieses Landes dargestellt 1 1 . Herr Morgan

Shuster, im Jahre 1911 persischer Finanzminister,

war, wie kein anderer Mann, berufen, unparteiisch und getreu über die Ereignisse Bericht zu geben, die er durch diesen Ausdruck bündig charakterisiert. Die vereinigten russischen und englischen Einflüsse vertrieben ihn aus seinem Amte, nachdem er 8 Monate lang emsig und uneigennützig für eine solide Reform der persischen Finanzen gearbeitet hatte. In den Bestrebungen, Persien zu unterjochen und auszubeuten, es zu diesem Zwecke in Wirrsale und Anarchie zu stürzen, hat Rußland fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch die leitende Rolle gespielt. Großbritannien, durch die Gewaltherrschaft über Indien nach Afghanistan hingezogen, war von da aus wiederum genötigt, auch auf Persien seine Augen zu werfen. Nachdem schon 1839 heftige Reibungen stattgefun11

The strangling of Persia. A record of european diplomacy and oriental intrigue. By W. Morgan

Shuster,

Ex-Treasurer-general of Persia. London u. Leipzig 1912. Vgl. „Engli-

sche politische Moral in Persien", Ethische Kultur, Halbmonatsschrift für ethisch-soziale Reformen, 15. November 1914. 2 Parlamentswablen:

In den Parlamentswahlen vom Jan. 1906 konnte der Liberale Sir

Henry Campbell-Bannermann die konservative Regierung Balfour ablösen. 5 Regierung:

Seit

1908, nachdem Campbell-Bannermann

erkrankte, führte

Herbert

Henry, Earl of Oxford and Asquith, die liberale Regierung. 7 Churchill:

Winston Churchill war in den beiden liberalen Kabinetten Handelsminister

(1908/09), Innenminister (1909/11) und Marineminister ( 1 9 1 1 - 1 5 ) . 23 Reibungen:

Gemeint sind die Versuche Persiens, an Afghanistan verlorenes Gebiet zu-

rückzuerobern. So mußte Persien die 1838 eroberte Stadt Herat auf britischen Druck hin an Afghanistan zurückgeben.

100

D e r neuere Imperialismus

den, kam es am 1. November 1856 zur Kriegserklärung. Es handelte sich um den Besitz von Herat (in Afghanistan), den England dem Shah verwehrte. Vor allem aber nahm England von nun an — nach rasch errungenem Siege — die kommerzielle Herrschaft über den persischen Golf in Anspruch. Erst im neuen Jahrhundert nahm die Rivalität zwischen England und Rußland akute Formen an (1902 bis 1907); aber ein Ausgleich erfolgte mitten in den Wirren der persischen Revolution, die an den Erlaß einer modernen Verfassung unmittelbar sich anschloß. Am 31. August 1907 wurde die anglo-russische Konvention unterzeichnet, die in Wesen und Wirkung den Teilungen Polens vergleichbar ist. Sir Edward Grey vertrat diesen Schiedsvertrag im Hause der Gemeinen. Darüber sprach die Londoner Wochenschrift The Nation, die wegen ihres Geistes und Freimuts hohes Ansehen genießt, folgendermaßen sich aus: „Sir Edward Grey ist nicht nur über die Grenzen seiner Aufgabe hinausgegangen, um eine völlig überflüssige Verteidigung des neuerdings von Rußland unternommenen Verfahrens zu liefern; er hat ausdrücklich die verstohlene Ausdehnung der anglo-russischen Abmachung sanktioniert und angenommen, welche dem ganzen russischen Angriff zugrunde liegt . . . . Wir haben niemals geglaubt, daß jene Teilung Persiens in ökonomische Sphären mit der Integrität und Unabhängigkeit Persiens verträglich sei, und wir haben immer die Ansicht vertreten, daß sie gestreckt werden würde, gestreckt werden müsse, in eine politische Teilung. Schließlich ist das offene Eingeständnis erfolgt, und zwar anscheinend ohne jedes Bewußtsein davon, daß die Bedingungen der Abmachung einfach hintangesetzt worden sind. Das Wort ,politisch' ist von Sir Edward Grey auf feine Weise eingeführt worden, um den Charakter der besonderen Interessen zu beschreiben, welche jede Macht sich in ihrer eigenen Interessensphäre vorbehält. Wenn einmal das Wort gebraucht wird, so ist die Unabhängigkeit Persiens dahin und seine Teilung so gut wie vollendet." „Wenn aber ein kleines Land von einer Großmacht betreten und angegriffen werden darf, weil ein ausländischer Beamter (das war Herr Morgan Shuster) im Dienste des kleinen Landes gewagt hat, einen wohldurchdachten und durchaus gemäßigten Brief an die Times zu schreiben, um Angriffen halboffizieller britischer und russischer Zeitungen zu begegnen, so müssen wir alle unsere Begriffe von internationalem Verkehr einer Nachprüfung unterwerfen."

Persien

101

„Es ist ein Fall von Wolf und Lamm, so flagrant und so zynisch, daß man sieb kaum versucht fühlt, ihn fernerer Untersuchung für wert zu halten." — Und in einem zweiten Artikel stellt derselbe Publizist folgende Betrachtungen über den Fall an, die heute ein ganz besonderes Interesse in Anspruch nehmen: „Obschon wir glauben, daß diese Politik unselig und töricht ist, so nennen wir sie darum nicht unverständlich. Sie ist eine Folge, und zwar eine der übelsten Folgen, von Sir Edward Greys europäischer Politik. Ein einfaches und elementares Prinzip hat diese Politik von Anfang an beherrscht — die Furcht, daß die eine oder die andere Macht in das, was er den Dunstkreis der deutschen Diplomatie genannt hat, hineingezogen werden möchte. Jahrein, jahraus haben wir — freilich hauptsächlich in den Besitztümern anderer Leute — für die Genugtuung bezahlen müssen, gewisse Mächte davon abzuhalten, zu irgendeinem innigeren Verständnis mit Deutschland zu gelangen. Die französische Seite des Kontos wird durch die Verhandlungen über Marokko und ihre Folgen dargestellt. Rußland haben wir freie Hand über den größeren Teil von Persien gegeben. Es wäre immer ein hoher Preis gewesen, wofür auch immer er gezahlt wäre." Und der Autor resümiert seine Ansicht über die englische Politik in folgenden Sätzen. „Wir spielen eine kontinentale Rolle ohne kontinentale Hilfsmittel; und aus großem Ehrgeiz, der auf ungeeignete Kräfte sich stützt, muß schließlich entweder die Demütigung eines Verzichtes oder das Unheil einer Niederlage hervorgehen 12 ." Noch schärfer hat sich, wie ich der Halbmonatsschrift Ethische Kultur (15. November 1914) entnehme, der „Manchester Guardian" (die wohl am meisten mit Geist geleitete englische Zeitung) in Anknüpfung an Shusters Buch ausgesprochen. „Kein Engländer kann diese Erzählung ohne ein tiefes Gefühl von Scham und Verwunderung lesen — von Scham über die Schmach, mit der wir jeden Grundsatz geopfert haben, der 12

The Nation (London), 2. Dez. u. 9. Dez. 1911.

3 „ . . . für wert zu halten":

Vgl. „Nation" vom 2. Dez. 1911, abgedruckt in Shuster, 1912:

360—363 (die Hervorhebungen [im Original: Sperrungen] in den zit. Passagen stammen von Tönnies). Vgl. „The Nation" vom 9. Dez. 1911, in Shuster, 26 „... einer Niederlage hervorgehen": 1912: 363 — 367 (Hervorhebungen von Tönnies).

102

Der neuere Imperialismus

unser Land in Asien groß gemacht hat, und von Verwunderung über die Gründe, die einen liberalen Staatsmann zu dem Agenten dieser Erniedrigung gemacht haben Rußland stahl uns dort (in Persien) das Pferd, während wir mit Deutschland zankten, weil es nur über den Zaun hinüber gesehen hatte . . . . Schwerer wiegt die moralische Niederlage, die wir uns zugezogen haben, weil wir an einem großen Unrecht teilgenommen haben. Unsere Diplomatie ist ebenso erfolglos wie unmoralisch vorgegangen." Sogar die Times wollte den Persern zugute halten, wenn die finanziellen Transaktionen Englands und Rußlands sie an die Methoden eines armenischen Wucherers erinnern möchten, der mit einem Lebemann in Teheran seine Geschäfte mache.

19. Der Weltkrieg 1914 Am Abend des 2. August wurde die belgische Regierung vor die Wahl gestellt, für Deutschland oder für Frankreich sich zu entscheiden. Aber ihre Entscheidung war längst getroffen. Belgien war ein Glied der Entente cordiale zwischen Frankreich und Großbritannien. Diese Entente bedeutete scheinbar die Zusicherung englischer Hilfe für Frankreich. In Wirklichkeit bedeutete sie, daß Frankreich und Belgien Werkzeuge der englischen Politik geworden waren. Belgien war, wie ein schwedischer Militärschriftsteller sich ausdrückt 13 , „des Inselreichs strategischer Vorposten auf dem Kontinent". Es war dies in der Form eines selbständigen Staates, dessen Neutralität das europäische Konzert von 1839 garantiert hatte; in welchem Konzert Großbritannien die erste Geige spielte. 13

Svensice Dagbladet, 15. Okt. 1914.

s „ . . . unmoralisch

vorgegangen":

Vgl. Ethische Kultur, 1914, S. 173. Dieser Artikel er-

schien ohne Verfasserangabe. Er geht sowohl auf das Buch Shusters ein als auch auf dessen wohlwollende Besprechung im „bedeutendste^] englische[n] Provinzblatt", dem „Manchester Guardian", wie auf einen Artikel in der „Times" (im Anschluss an ein Buch des Engländers Lovat Fräser). 9 Times:

Vgl. Ethische Kultur, 1914: 173.

21 Militärschriftsteller: 23 Neutralität:

Der ungezeichnete Artikel trägt die Überschrift „Militärgeografi".

Garantiert durch die europäischen Großmächte im Londoner Protokoll von

1831, bekräftigt im Londoner Protokoll vom 19. April 1839. Belgien wurde für unabhängig und für immer neutral erklärt. Holland musste die belgische Souveränität anerkennen.

Der Weltkrieg 1914

103

Im Vertrauen auf englische und französische Unterstützung widersetzte sich die belgische Regierung dem Ansinnen der deutschen Regierung, eine dem Deutschen Reiche wohlwollende Neutralität einzunehmen und das Betreten belgischen Gebietes durch deutsche Truppen zuzulassen, obgleich volle Entschädigung fest versprochen wurde. Die Überschreitung der Grenze geschah am 4. August. Die deutsche Regierung war im Besitze zuverlässiger Nachrichten über den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte an der Maas — auf der Strecke Givet —Namur; Nachrichten, die keinen Zweifel über die Absicht Frankreichs ließen, durch belgisches Gebiet gegen Deutschland vorzugehen. Auch waren die geheimen Abmachungen Belgiens mit England, wodurch es seine Neutralität preisgegeben hatte, dem deutschen auswärtigen Amte nicht verborgen geblieben, wenn auch die dokumentarischen Beweise dafür erst später an den Tag getreten sind. Das Deutsche Reich stand im Kriege gegen Rußland und Frankreich. Sein Bundesgenosse Österreich-Ungarn hatte außerdem Serbien und Montenegro zum Gegner. In Petersburg war man — nach einem Berichte des belgischen Geschäftsträgers an den belgischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten — schon vor dem 30. Juli „fest davon überzeugt, ja man hatte sogar die Zusicherung, daß England Frankreich beistehen werde". „Dieser Beistand — schreibt in seinem geheimen Bericht der 5 Entschädigung:

So in einer Erklärung der Reichskanzler Theobald von Bethmann Holl-

weg am 4. Aug. 1914 vor dem Reichstag, die er aber am 2. Dez. 1914 widerrief, in: An das deutsche Volk, 1915: 4, 9. 11 gegen Deutschland

vorzugehen:

So in der vom deutschen Gesandten, Konrad A. Klaus

von Below-Saleske, am 2. Aug. 1914 im belgischen Außenministerium überreichten Note; vgl. Belgisches Graubuch Nr. 20, in: Bernstein, 1914: 16. 11 die geheimen

Abmachungen:

Tönnies bezieht sich hier auf Schriftstücke, die nach der

Besetzung Brüssels im belgischen Außenministerium gefunden wurden und — aus der Sicht der deutschen Politik — ein angeblich kalkuliertes Zusammenspiel zwischen Belgien und Großbritannien dokumentierten. Es handelte sich dabei um Gesandtschaftsberichte belgischer Botschafter oder anderer belgischer Diplomaten aus verschiedenen europäischen Hauptstädten. Eine Auswahl davon erschien zunächst in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" (Nr. 208, 210, 214, 218, 222, 232, 235 [Juli/August 1915]), abgedruckt in: Das deutsche Weißbuch II, in: Bernstein, 1916: 25 ff. 18 Geschäftsträgers:

Baron de Escaille an Julien Davignon vom 30. Juli 1914. Dieser Be-

richt war im offiziellen Belgischen Graubuch (s. Lit.verz.) nicht enthalten; er wurde den deutschen Behörden von geheimer Seite aus am 31. Juli 1914 zugespielt. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr davon erst am 12. September 1914 durch einen entsprechenden Hinweis der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung". Vgl. dazu Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, 1917: LV, Erste Hälfte, 3 9 8 c - 3 9 8 d .

104

D e r neuere Imperialismus

belgische Gesandte — fällt ganz außerordentlich ins Gewicht und hat nicht wenig dazu beigetragen, der Kriegspartei Oberwasser zu verschaffen." Von allen Dokumenten, die über den Ursprung des Weltkrieges bekannt geworden sind, ist dies Dokument dasjenige, wodurch die Situation am schärfsten beleuchtet wird. Englands Teilnahme am Weltkriege stand unter allen Umständen fest. Ja, sie verstand sich ganz von selbst, denn wenn England in der Folge der Ereignisse der letzte Faktor war — in der Verursachung der Ereignisse war es der erste Faktor. Kein Staat hatte ein so ungeheures materielles Interesse, wie England es hatte, die deutsche Macht durch eine europäische Koalition niederzuzwingen. Und die englische Diplomatie hatte viele Jahre lang unermüdlich ihre Fäden gesponnen, um den Hals des Deutschen Reiches einzuschnüren, hatte zu diesem Behufe ihren alten großen Gegnern, Frankreich und Rußland, alle Einräumungen gemacht, die diese als Preis der Verschwörung forderten. Darum war die Neutralität Englands durch kein Zugeständnis von Seiten des Deutschen Reiches zu erlangen, auch nicht durch das Zugeständnis, die belgische Neutralität nicht verletzen zu wollen. Einer Macht, deren Feindschaft gewiß ist, macht eine kriegführende Macht nur Zugeständnisse, wenn sie sich selber schaden will. Darum war es allerdings, wie es in der Depesche des Staatssekretärs vom 2. August heißt, „ein Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, einem Angriff Frankreichs zuvorzukommen". So sehr moralische Gründe dafür sprachen, Belgiens Neutralität nicht anzutasten, die Notwehr, in der sich das Deutsche Reich einer ungeheuren Koalition von Mächten gegenüber befand und noch befindet, rechtfertigte nicht nur, sondern heischte den Bruch eines völkerrechtlichen Vertrages, der nichts als eine Waffe in der Hand eines unbedingten Feindes war. Diesem Bruch folgte unmittelbar die englische Kriegserklärung. „Die Regierung Sr. Majestät fühlt sich verbunden, alle Schritte zu tun, die in ihrer Macht stehen, um die Neutralität Belgiens aufrecht zu erhalten und die Beobachtung eines Vertrages, an dem Deutschland ebensowohl Teilnehmer ist wie wir selber" (Correspondence respecting the European Crisis (Cd. 7467 Nr. 159). 3 „ . . . Oberwasser

zu verschaffen":

Vgl. Baron de l'Escaille an D a v i g n o n v o m 30. Juli

1914, zit. in: An d a s deutsche Volk, 1915: 8. 34 „ . . . Teilnehmer

ist wie wir selber":

Vgl. Sir E d w a r d Grey an den englischen Botschafter

in Berlin, Sir E d w a r d G o s c h e n , v o m 4. Aug. 1914, in: C o r r e s p o n d e n c e , 1914: 77.

105

Der Weltkrieg 1914

D a ß England der unbedingte Feind des Deutschen Reiches war, geht zur Evidenz aus dem Memorandum hervor, das Sir Edward

Grey

am

2. August, also vor aller Entscheidung über Belgien, dem französischen Botschafter überreichte ( C o r r e s p o n d e n c e respecting

the European

Crisis

Nr. 148). Darin heißt es: „Ich bin autorisiert (durch das Kabinett), die Versicherung zu geben: wenn die deutsche Flotte in den Kanal oder durch die Nordsee kommt, um feindliche Operationen gegen die französische Küste oder die französische Schiffahrt zu unternehmen, so wird die britische Flotte allen Schutz gewähren, der in ihrer Macht steht." In der Depesche, womit Sir E. Grey

diese Erklärung dem britischen

Botschafter in Paris mitteilt, heißt es weiter: „Ich legte dar, daß wir sehr breite Fragen und ungemein schwierige Streitpunkte zu erwägen hätten, und die Regierung fühle, daß sie sich nicht binden könne, Deutschland notwendigerweise den Krieg zu erklären, wenn morgen der Krieg ausbrechen würde zwischen Frankreich und Deutschland; aber es war notwendig für die französische Regierung, deren Flotte seit langem im Mittelmeer konzentriert gewesen war, zu wissen, wie sie ihre Anordnungen treffen solle bei dem völlig unverteidigten Zustand ihrer Nordküste. Wir hielten es daher für notwendig, ihnen diese Zusicherung zu geben. Sie verpflichtete uns nicht, mit Deutschland Krieg anzufangen, außer wenn die deutsche Flotte in der angezeigten Weise handeln würde; aber sie gab Frankreich eine Sicherheit, die sie in die Lage versetzen sollte, die Verfügung über ihre eigene Mittelmeerflotte zu erledigen." Ohne Zweifel wäre es Sir Edward

Grey

und seinen Hintermännern

bequemer gewesen, wenn sie, ohne ein britisches Schiff und eine britische Kanone aufs Spiel zu setzen, der deutschen Niederlage hätten gewiß sein können. Wenn es hätte gelingen können, dem Deutschen Reiche seine Kriegführung so vorzuschreiben, sie in solche Schranken zu bannen, daß das Mißlingen dieser Kriegführung sicher

war — dann allerdings hätte

England gern neutral bleiben wollen und hätte dann noch schönere cantPhrasen über seine durch und durch friedliche Gesinnung im Munde geführt, als sie es jetzt über Freiheit und Gerechtigkeit, über seine Mission, die kleinen Nationen zu beschützen, für diejenigen predigt, die einfältig genug sind, den verkleideten Wolf für ein frommes Schaf zu halten. 4 Botschafter:

Paul Cambon, Botschafter in London 1898 —1920. Correspondence, 1914:

74 (in einem Telegramm Edward Greys an Sir Francis Bertie vom 2. Aug. 1914).

106

Der neuere Imperialismus

Die Wahrheit der Tatsachen wird auch in England nicht dauernd verborgen bleiben. Sie war es niemals völlig. Vor dem entscheidenden Beschluß des Kabinetts wurden die gewichtigsten Stimmen laut wider den Krieg zur Unterstützung Serbiens und Rußlands gegen das Deutsche Reich und Österreich. Es werde nur erinnert an flammende Artikel des Manchester Guardian, des New Statesman, ja der ministeriellen Westminster Gazette. Es werde erinnert an die Erklärung der Oxforder Professoren, die einen solchen Krieg eine Versündigung an der Kultur nannten, erinnert vor allem an das Ausscheiden der 3 Mitglieder des Kabinetts Morley, Trevelyan, Bums, von denen jeder durch das Gewicht seines Namens ein Dutzend Churchills und Greys aufwiegen würde, wenn Geist und politischer Hochsinn wägbar wären. Es werde erinnert an das Manifest der ILP (Unabhängigen Arbeiterpartei), worin mit klaren und wahren Worten gesagt wurde: „England steht nicht im Kampf für unterdrückte Nationen oder für Belgiens Neutralität", und an das unerschrockene Auftreten des ehrlichen schottischen Arbeiterführers Keir Hardie im Hause der Gemeinen. Erinnert werde ferner an die Kundgebungen des bisherigen Hauptes der Labour Party, Ramsay Macdonald, und an das früher erwähnte Manifest Bernhard Shaws (Common Sense about the War). Endlich hat vor kurzem H. N. Brailsford darauf aufmerksam gemacht, daß der Bericht des belgischen Geschäftsträgers in Petersburg, von dem wir gesagt haben, daß er die Situation am schärfsten beleuchte, in England vollständig totgeschwiegen werde. Brailsford sagt: „Es gab ein Wort, das den Frieden gerettet hätte, das Wort Englands an Rußland: ,wenn ihr gegen Deutschland mobilisiert, ehe alle Hilfsmittel der Diplomatie ers> Versündigung: 10 Ausscheiden

Vgl. „Why we are at War", 1915: 122. der 3 Mitglieder:

Der Rücktritt Morleys in seiner Eigenschaft als Lordprä-

sident des geheimen Rates, Burns' als Handelsminister sowie Trevelyans als parlamentarischer Unterstaatsekretär im Unterrichtsministerium erfolgte am 6. Aug. 1914. 13 ILP: Independent Labour Party, neben der Fabian Society eine der wichtigsten Gründergruppierungen der Labour Party. Das fragliche Manifest datiert vom 11. Aug. 1914; es beinhaltete eine Solidarerklärung mit den Arbeitern der Mittelmächte. [Der Krieg in Europa. Manifest der Unabhängigen Arbeiterpartei, in: o.V., 1915: 17 Hardie:

56—59].

Seine Rede im House of Commons am 3. Aug. 1914: „A few years hence, and

if we are led into the war, we shall look back in wonder and amazement at the flimsy reasons which induced the Government to take part in it." (The Parliamentary Debates, 1914: vol. LXV, 1842). 19 Macdonald:

Als am 4. Aug. 1914 Labour für den Krieg votierte, stimmte James Ramsay

Macdonald als einziger prominenter Parteipolitiker dagegen.

107

Der Weltkrieg 1914

schöpft sind, dann werden wir euch als den Angreifer betrachten und keinen Mann und kein Schiff in Bewegung setzen, um euch zu helfen' — das Wort hat Sir Edward

Grey nicht

gesprochen."

Sir Edward Grey konnte dies Wort nicht sprechen, weil es sein geheimer Wunsch war, daß Deutschland zum Kriege gezwungen würde, wenn er auch lieber gesehen hätte, daß ohne britische Hilfe Deutschland eine schwere Niederlage erlitte. Weil er und seine Genossen glaubten, daß nur britische Hilfe diese Niederlage zur Gewißheit mache, darum versprach er sie und war außerstande, eine Bedingung anzugeben, unter der Deutschland der britischen Neutralität hätte sicher sein können. Unser Gang durch die neuere englische Geschichte lehrt uns das englische Volk als einen echten Epimetheus

kennen. Immer von neuem

mochte es sich sagen:

„Wie Nebel zerstiebte trübsinniger Wahn14 — " Scham und Reue traten an die Stelle. Mit Scham gedenkt der gebildete Engländer der Seeräuberei und Mordbrennerei, die sein begründet haben. Mit Scham und Reue gedenkt er des

Kolonialreich Sklavenhandels,

der einst als Säule des Reichs gepriesen wurde. Er weiß, daß die Eroberung Indiens

Wege ging, die mit Betrug und Wortbruch, mit scheußlichen

Gewalttaten aller Art gepflastert waren; weiß, daß planmäßige Mißhandlung die 13 Kolonien, die sich um das Sternenbanner scharten, zum Abfall

gebracht hat, und daß der gleiche enge Handelsgeist seine Vorfah-

ren die Partei der Emigranten

gegen die französische Republik ergreifen

ließ. Sogar die historisch nur schwach orientierten 6 Mitglieder der O x forder Fakultät für moderne Geschichte wissen, daß England

Dänemark

ein großes Unrecht zugefügt hat 1807. Nur mit bitterster Reue gedenkt ,4

Epimetheus

in Goethes Pandora.

3 das Wort: In der von Tönnies wiedergegebenen Form war die Aussage Brailsfords nicht auffindbar. Es gibt aber einen Leserbrief Brailsfords an die Redaktion der englischen Zeitschrift „Nation" vom 12. Dezember 1914 mit ausdrücklichem Bezug auf den Bericht des belgischen Geschäftsträgers in St. Petersburg. Nach einem Zitat daraus schrieb Brailsford: „If Britain and France, instead of pleading with M . Sazonoff [dem russichen Außenminister, A. M.] not to mobilize against Germany, had said bluntly that their support was conditional on his avoidance of all provocative steps, the war might have been averted." (p. 335). — Vgl. den Bericht des belgischen Geschäftsträgers in St. Petersburg an das Außenministerium vom 30. Juli 1914, abgedruckt in: Deutscher Geschichtskalender 1914: 2 2 1 - 2 2 2 . 12 Epimetheus:

Vgl. Goethe, 1 9 0 2 - 1 9 1 2 : XV, 166.

108

Der neuere Imperialismus

jeder Kundige in England der Katastrophe in Afghanistan 1837/41; an tiefe Scham und bleibenden Schimpf erinnert schon der Name des Opiumkrieges. Und der Krimkrieg? Wir hörten, daß ihn kein Einsichtiger mehr verteidigt, so sehr er in seinen Anfängen bejubelt worden ist, und daß er in einen Abgrund des Odiums gestürzt wurde. Von der Despotie, mit der die kleinen Staaten der jonischen Inseln und Jamaika niedergehalten, niedergeworfen wurden, werden nur wenige wissen; aber niemand, der die Tatsachen kennt, wird zu behaupten wagen, daß England dort für das Recht oder gar für die Freiheit eingetreten sei. Nur mit Widerwillen läßt sich das Selbstbewußtsein des heutigen Engländers daran erinnern, daß seine Väter und Großväter auf Seiten der Sklavenhalter gegen Lincoln gestanden, während ganz Deutschland (das damals noch Österreich einschloß) keinen Augenblick in seinen Sympathien geschwankt hat und in den Staaten selbst viele Tausende deutscher Männer und Jünglinge mit Begeisterung gegen die Institution der Sklaverei zu den Waffen griffen. — Daß der indische Aufruhr durch die schwere Schuld der ostindischen Kompagnie und des letzten für sie regierenden Gouverneurs verursacht war, ist als historische Tatsache auch durch die alsbald erfolgte Aufhebung dieser Kompagnie festgelegt worden. Hingegen über die Ereignisse der neuesten Zeit: über die Eroberung Ägyptens, das Bombardement von Alexandria, das Bluturteil gegen die Bauern von Denshawai, über den Burenkrieg und über die Erdrosselung Persiens, sind die Akten noch nicht geschlossen. Aber schon gehört eine dreiste Stirn dazu, um zu behaupten, daß die Tatsachen, soweit sie bekannt geworden, der englischen Weltpolitik zur Ehre gereichen. Man darf sagen, daß auch in bezug auf diese Machinationen und Feldzüge unter rechtschaffenen Leuten die Empfindungen von Scham und Reue schon fast allgemein geworden sind. Es ist daher zureichender Grund für die Vermutung vorhanden, daß sie auch in bezug auf die Ursprünge des gegenwärtigen Weltkrieges mächtig anwachsen und allmählich eine Höhe erreichen werden, die der furchtbaren Größe dieser Ereignisse angemessen ist. — Wir dürfen aus allem, was hier in unbefangener Weise, nach Zeugnissen bedeutender und berühmter englischer Autoren vorgeführt wurde, die Folgerung ziehen, daß das englische Volksgewissen, wenn es zum Urteil über die englische Weltpolitik und ihre Beweggründe aufgefordert wird, nicht umhin kann, sie der ewigen Verdammnis schuldig zu befinden.

Eine Parabel

109

Eine Parabel Als Theseus, der Athener, nach Kreta kam, ließ er sich das Ungeheuer, den Minotaurus, vorführen, um ein Verhör mit ihm anzustellen. Theseus sprach zu ihm: „Du bist überführt, unzählige Kinder und 5 Jünglinge gefressen zu haben. Warum hast du so übel getan?" Minotaurus antwortete: „Die Kinder habe ich alle aus Liebe aufgefressen." „Und die Jünglinge?" fragte Theseus. „Die Jünglinge aus sittlichen Beweggründen " antwortete Minotaurus. 10 Theseus nahm sein Schwert und schlug dem Scheusal den Kopf ab. —

Sehr merkwürdig ist es, daß ein vielgenannter englischer König der neuesten Zeit in seinem eigenen Lande auch unter dem Namen Minotaurus eines sonderbaren Rufes teilhaftig geworden ist. —

ii König:

E d u a r d VII.

II. Schriften

Rudolf Euckens „Grundbegriffe der Gegenwart" in neuer Fassung Wer die Entwicklung des mehr und mehr wirkungreich gewordenen Philosophen beobachtet hat, weiß, daß er als Aristoteliker der Trendelenburgischen Schule von methodologischen Fragen auf die Terminologie geführt wurde und durch Verfolgung einer Reihe von philosophischen Kunstworten aus ihrem Ursprünge bis zum heutigen Gebrauche eine wichtige, leider nicht erneuerte Arbeit geleistet hat. So waren auch die „Grundbegriffe der Gegenwart" zunächst eine Untersuchung zur Geschichte der Philosophie, die aber als solche auch zum Verständnisse unserer Zeit und der sie bewegenden Gedanken dienen wollte. Schon mit der zweiten Auflage wurde aber das Buch vom Geschichtlichen ins Philosophische verschoben, es unternahm nichts Geringeres als „die Zeit zu messen". Mit der dritten Auflage gelangte dann die sachliche Erörterung „zur vollen Herrschaft", und das Werk fand seinen neuen Titel, der Umfang ist allmählich und auch noch in der vierten Auflage 1 angewachsen. Die Schrift will als „Ausdruck einer eigentümlichen philosophischen Grundüberzeugung gewürdigt sein". Wenn noch in der zweiten Auflage an einzelne Begriffe, Begriff-Paare und Gegensätze die gesamte Darstellung anknüpfte, so ist diese Anlage deutlich in der ersten, weniger in der zweiten Hälfte erhalten geblieben, am stärksten im ersten der fünf Abschnitte, in die das Werk nunmehr eingeteilt wird, und dieser hat die besondere Überschrift „Zum Grundbegriff des Geisteslebens". Hier bleiben auch die früher in anderer Folge 1

Rudolf Eucken [ord. Prof. f. Philos. an der Univ. Jena], Geistige Strömungen der Gegenwart. 4. umgearb. Aufl. der Grundbegriffe der Gegenwart. Leipzig, Veit & Comp., 1909. XII u. 410 S. 8". M . 8.

i Rudolf Euckens „Grundbegriffe der Gegenwart" in neuer Fassung: Zuerst in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, 32. Jg. vom 14. 1. 1911, S. 6 9 - 7 5 , Berlin. Vgl. eB S. 658. j Trendelenburgische Schule: Nach dem Philosophen Friedrich Adolf Trendelenburg benannte philosophische „Schule", die sich gegen die nachkantische Philosophie, insbesondere die Hegels, gewandt hatte, und die die aristotelische Logik wieder zu Ehren zu bringen suchte.

114

Schriften

behandelten „Grundbegriffe": subjektiv-objektiv; theoretisch-praktisch; Idealismus-Realismus als Wegweiser. Im Abschnitte B „ Z u m Erkenntnisproblem" folgen die Paare: Denken und Erfahrung, Mechanisch-organisch und der einzelne Begriff „Gesetz"; in C „ Z u m Weltproblem": 1. Monismus und Dualismus, 2. Entwicklung. Der vierte, längste Abschnitt betrachtet „ Z u den Problemen des Menschenlebens" 1. Kultur, 2. Geschichte, 3. Gesellschaft und Individuum, 4. Probleme der Moral, 5. Persönlichkeit und Charakter, 6. Freiheit des Willens. Endlich E die letzten Probleme: 1. der Wert des Lebens, 2. das Problem der Religion — hierin stecken die früheren Grundbegriffe „Immanenz und Transzendenz". — Der ehemalige terminologische Kern überlebt auch in vorangestellten terminologischen Notizen, die fast immer anregend sind. Aus den Unterabschnitten und Paragraphen werde noch hervorgehoben, was hauptsächlich zur Grundlegung dient: das Verhältnis des Menschen zum Geistesleben und die Ergebnisse für den Wahrheitsbegriff; Zusammenhänge von Voluntarismus, Pragmatismus, Aktivismus (so bezeichnet Eucken sein eigenes System); die Überflutung des modernen Lebens durch den Intellektualismus; die Begründung des Erkennens im Lebensprozesse; die bewegende Kraft im Wahrheitsstreben; — der Realismus des 19. Jahrhunderts; Kritik der überkommenen Formen des Idealismus; Erörterung des Wirklichkeitsproblems; die Forderungen eines neuen Idealismus. Der Verfasser macht (im Vorworte) eine richtige Selbstkritik geltend. Mit dem Ausgehen von einzelnen Problemen sei der unvermeidliche Mangel verbunden, daß „das Ganze der Überzeugung" sich nicht in einem fortlaufenden Zusammenhange darlegen könne, und die größte Lücke liege im Fehlen einer genügenden erkenntnistheoretischen Fundamentierung. Ein neues Werk wird versprochen, das diese Lücke zu schließen bestimmt sei. In der Tat wird der Leser in einer Schwebe gehalten; er wird nicht — wenigstens nicht ohne Kenntnis anderer Werke des Verfassers — zur vollen Klarheit gelangen können, worauf dieser eigentlich hinauswolle; was in seinem Aktivismus und Idealismus rein theoretisch und prinzipiell enthalten sei. D a s Hauptinteresse liegt in den Kritiken oder Negationen anderer Denkrichtungen. Ich heiße besonders die des „Pragmatismus" willkommen. Seinen Gegensatz dagegen formuliert Eucken dahin: dem Pragmatismus werde die Wahrheit ein bloßes Mittel für ein höheres Ziel, ihm hingegen sei sie ein wesentlicher Bestandteil des Lebens selbst, dürfe daher nie ein bloßes Mittel werden. Er verweist auf seine „Grundlinien einer neuen Lebensanschauung" für die weitere Erörterung des Wahr-

R u d o l f Euckens „Grundbegriffe der G e g e n w a r t " in neuer Fassung

115

heitsbegriffes, die an dieser Stelle freilich schmerzlich vermißt wird. Hier wie sonst ist es persönliche Mitempfindung oder besser ein Mitstreben, an das der Verfasser zu appellieren scheint; und gewiß nicht vergeblich: viele muß das in reichem Wissen beruhende Suchen ansprechen und an sich ziehen, das so aus dem eigenen Wesen, aus einer Seele quillt, welche die „inneren Verwicklungen unserer Kultur, ja unserer gesamten geistigen Lage" nicht nur wahrnimmt, sondern darunter gelitten hat, und offenbar fortwährend damit ringt. Weil aber die Grundlegung das schwerste, so scheinen mir die Erwägungen gegen die Mitte des Buches hin fruchtbarer zu werden; so wird man mit vielem Gewinne lesen, was „zum Kampfe der Gegenwart" über das im Gegensatze der Begriffe mechanisch und organisch ausgeprägte weitreichende Problem ausgeführt wird „im Gebiete der Philosophie, in der Naturwissenschaft, auf gesellschaftlichem

Gebiet".

Ob

man

durch

diese Erwägungen

befriedigt

werde, ist eine andere Frage. Sie berühren sich im letzten Stücke mit den Ausführungen über Gesellschaft und Individuum. Da muß ich nun freilich bemerken, daß mir diese soziologische Studie zu sehr aus dem Gesichtspunkte literarischer, ästhetischer, ethischer Eindrücke, zu wenig aus dem „fruchtbaren Bathos" der Erfahrung des wirklichen sozialen, also insbesondere des ökonomischen „täglichen" Lebens geschöpft hat. So hoch es auch zu schätzen ist (umso höher wegen der Seltenheit), daß ein Philosoph, der die Höhen und Tiefen des Erkennbaren durchmißt, auch diese Erscheinungen — u. a. auch die Sozialdemokratie — nicht nur seiner Beschäftigung für wert hält, sondern sogar als seine Überzeugung kundgibt, daß „unser ganzes Kulturleben" auf unsicherem Boden stehe, daß es nicht nur einzelne Probleme in Hülle und Fülle enthalte, sondern daß es auch als Ganzes — vor allem also Gesellschaft und Staat — einer energischen Revision und einer gründlichen Erneuerung bedürfe. Solche Überzeugung durchdringt auch den genannten Abschnitt, der den Gegensatz einer bloß gesellschaftlichen und einer bloßen Individualitätskultur „innerlich" überwinden, beide als unzulänglich nachweisen will. „So ist eine schwere Krise nicht zu verkennen; es wird sich entscheiden müssen, ob die heutige Kultur und Gesellschaft die Kraft enthält, eine innere Zusammenfassung und geistige Erhöhung des Lebens zu vollziehen und damit der Auflösung Widerstand zu leisten, oder ob sie eine solche nicht aufzubringen vermag" heißt es gegen Ende der Anmerkungen über die sozialdemokratische Bewegung, in der unser Verfasser, nicht an den ba19 Bathos:

(gr.): die Fülle.

116

Schriften

nalen Auffassungen haftend, am meisten charakteristisch findet, daß sie drei verschiedene Strömungen zusammenfasse und zur Wirkung verbinde: die demokratische, die ökonomistische, die politistische. In allen dreien findet er „allgemeinere Probleme" wirkend, „die auch wir anderen nicht ablehnen können". Auch die Einheit der Gedankenwelt, die in der Bewegung wirke, will er nicht gering anschlagen. Von der „Fülle der Gesichte", die durch die Schrift ausgebreitet werden, vermag der Berichterstatter nur eine schwache Vorstellung zu geben. Aufmerksam möchte ich noch machen auf den in dieser Auflage neu hinzugekommenen Abschnitt „über den Wert des Lebens", worin der Verfasser seine praktische Philosophie auf einen ganz knappen Ausdruck bringt. Auf die Forderung „Selbständigwerden des Geisteslebens" führen alle einzelnen Punkte zurück; die Überzeugung davon soll alle Aufgaben verändern und ihre Lösung anbahnen. Mitzuwirken wird aufgefordert, von betrachtender und zerlegender Reflexion zu mehr schöpferischer Synthese, von überwiegender Hingabe an die Außenwelt zu mehr Leben bei uns selbst und mehr innerer Selbständigkeit zu gelangen. Gewiß kann das Buch zur Entbindung solcher Energien durch seinen Ernst, seine Besonnenheit, durch die Reinheit seiner Gesinnung, ja auch durch seine gründliche Gelehrsamkeit helfen. Denn mancher Leser wird, was über die Entwicklungen und wirklichen Gestalten der Probleme mitgeteilt wird, noch höher schätzen als die Lösungen, deren Typus vielleicht in der Kritik des „Determinismus" sich darstellt. Ich wenigstens sehe nicht ein, warum es für dessen Begriff wesentlich sein soll, die Welt als gegeben und geschlossen zu behandeln (S. 374); wenn aber auch geleugnet wird, daß er Recht habe, uns Menschen als ein bloßes Stück dieser Welt zu betrachten, so wird der Determinismus alle Ursache haben sich zu wehren, und nicht damit zufrieden zu sein, daß „viel Notwendigkeit" in unserem Leben walte, daß „zum guten Teil" das Schicksal es bereite. Eucken scheint in dieser Frage (und wohl in einigen anderen) dem leidigen „Pragmatismus" doch allzu nahe zu kommen, der nur Lehren für wahr hält, die „gut" für den Menschen seien, und das Grausen, mit dem jemand von einer Erkenntnis sich abwendet, für einen Beweis gegen sie erachtet; Schwächlichkeiten, die nicht einmal so ernst genommen zu werden verdienen, wie sie hier genommen wurden. Gewiß wird das „Leben" immer wieder seine Wege suchen, und Wahrheiten, die ihm zuwider sind, die es nicht verdauen und wohl nicht einmal kauen kann, schonungslos ausscheiden, dagegen mit Lust an Wahn und Irrtümern sich nähren oder sich berauschen. Aber sollen wir als Denker und For-

Rudolf Euckens „Grundbegriffe der Gegenwart" in neuer Fassung

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scher darum dem Leben uns anbequemen und unsere Erzeugnisse genießbar machen, oder von dem Anbau der Früchte Abstand nehmen, von denen kostend die Menschen mit Scham gewahr werden, daß sie splitternackend sind? Gewiß ist das nicht unseres Philosophen Meinung; aber er entzieht sich doch dem Scheine nicht, als wolle er es für ein Argument gegen den Determinismus ausgeben, daß sein „Verzicht auf Ursprünglichkeit" etwas ganz Entsetzliches, schlechterdings Unerträgliches sei, daß seine konsequente Durchführung alles zerstören müßte, was dem geistigen Leben des Menschen eigentümlich ist (S. 368 f.)? Ich meine, als Dienern der Wahrheit liegt uns ob, die Gifte der Erkenntnis zu bereiten, auch wenn wir wissen, daß sie tödlich wirken. Eine andere Frage ist, wem und in welchen Dosen wir sie eingeben; darüber möge Ethik und Pädagogik sich besinnen. Determinismus mag für viele Naturen unerträglich sein; er kann auch heilsam zersetzend wirken; die Einsicht z. B. in die zwingende verhängnisvolle Macht der Gewohnheit, in die sicheren seelischen Folgen des „ersten Schrittes" auf der Bahn des Lasters, Hinweisung überhaupt auf die psychologischen Gefahren des Lebens, und daß unter gegebenen Bedingungen der Absturz eben so gewiß erfolgt, wie unter gegebenen Bedingungen bei unvorsichtigem Bergsteigen, zumal ohne Begleitung eines Führers — diese deterministischen Erkenntnisse sind in der Tat wertvoller, weil tiefere Eindrücke machend, als die schönste Paränese über das „Hervorbrechen ursprünglichen Geisteslebens" im Menschen. Ohne zureichende Ursache wird es sicherlich ebensowenig hervorbrechen, wie aus einem Heideboden eine Weinrebe. Unvollkommen wird immer unser Wissen von der Kausalität geistiger Ereignisse bleiben; aber ist die Wissenschaft des einzelnen Geschehens in der physischen, insonders der organischen Welt viel weniger mangelhaft? — Die Grenzen der Wissenschaft überhaupt abzustecken, das wollen wir gern als Aufgabe der Philosophie gelten lassen. Das Werk liegt jetzt auch in französischer Übersetzung 2 vor. Ihr Hauptinteresse für Euckens deutsche Verehrer, und wohl auch für diejenigen anderer Länder, liegt in der Einleitung des geistesverwandten französischen Philosophen, dessen Vertrautheit mit Werken deutscher Zunge 2

Traduit de l'allemand Rudolf Eucken, Les grands courants de la pensée contemporaine. sur la quatrième édition par Henri Buriot et G.-H. Luquet. Avant-propos de M . E. Boutroux de l'Institut. [Bibliothèque de philosophie contemporaine.] Paris, Felix Alcan, 1911. XVIII u. 536 S. 8". Fr. 10.

33 Philosophen: Emile Boutroux; vgl. dessen Buch „Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus", autorisierte Übersetzung von S. Benrubi, Leipzig 1911.

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längst bekannt war. Er bietet ein kurzes Resume der Euckenschen Aktivitätsphilosophie dar. Er vergleicht Eucken mit Pascal: die Methode der Forschung, die dieser auf das Individuum anwandte, erstrecke jener auf die menschliche Gesellschaft; er suche das geheime Leben des Gemeinbewußtseins zu erfassen, die Richtung der allgemeinen Bewegung, die aus seinen verschiedenen Anläufen sich ergebe. Er finde den Gedanken unserer Zeit gequält durch die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Naturalismus und tastend nach einem neuen Idealismus, der die Ansprüche des dualistischen Idealismus aufrecht erhalten solle, unter voller Anerkennung der Unmöglichkeit, Metaphysik von Wissenschaft, Geist von Natur zu scheiden. Im Fichteschen Sinne konstituiere Eucken den konkreten Idealismus, den, seiner Ansicht nach, der Gedanke der Zeit suche. Dieser sei fern davon, außerhalb der Wissenschaft, der Kunst, der Religionen, der gegebenen Realitäten sich zu etablieren; er finde im Gegebenen selber die Materie, mit deren Hilfe er sich bemühe den Geist zu verwirklichen. Den Schwierigkeiten, die in diesen Gedanken liegen, scheint Boutroux, der mit offenbarer Sympathie und Bewunderung darüber berichtet, nicht zu begegnen. — Gleich der deutschen Ausgabe ist auch diese französische mit Sachregister versehen. Die Übersetzung, unter Mitwirkung des Verfassers entstanden, macht den Eindruck eines feinen und flüssigen Französisch.

Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert Der Adel, als ein auserlesener, hervorragender Stand, zieht immer die Blicke der großen Menge auf sich, ebenso wie er auf diese Menge gern mit dem Bewußtsein oder Dünkel des „Besserseins" hinabsieht. Er ist immer das Vorbild aller Gesellschaft, die man die gute nennt, und behält auch, wenn diese sich stark erweitert, auch innerhalb ihrer, besonders für das weibliche Geschlecht, einen blendenden und verführerischen Glanz. Wenn dieser besonders dem ,alten' Adel anhaftet, so wird doch auch der junge beneidet, zumal da sich zum guten Teile mit diesem mehr, als mit dem alten, der köstliche Schimmer des Reichtums und Luxus verbindet; und gerade diese Merkmale erregen leicht die Eifersucht des alten Adels, der es dem jungen und denen, die als Adelsaspiranten bezeichnet werden können,

„nicht gleichtun k a n n " . Dem

Beobachter

menschlicher Sitten und Leidenschaften, daher auch dem Lustspieldichter, bieten die mannigfachen Konflikte, die in und mit der guten Gesellschaft sich ergeben, unerschöpflichen Stoff. Im Mittelpunkt steht immer die Heiratsfrage; wie schon im alten R o m das Konnubium zwischen den „Vätern" und der „Plebs" eine heiß umstrittene Sache war. Das Dasein eines erblichen Herrenstandes bietet aber auch dem Versuche, das soziale Leben naturwissenschaftlich zu betrachten, ein sonderbares Interesse, weil eben ein solcher Stand innerhalb eines Volksganzen so etwas wie eine Untervarietät oder (in der Sprache der Tierzüchter) eine „verbesserte Rasse" darstellen will. Der Begriff und die Sitte der standesgemäßen Heirat haben in dieser Tendenz ihren eigentlichen Sinn. Man kann daher die Fragen der natürlichen Auslese, der Vererbung erworbener Eigenschaften, der Inzucht und Kreuzung an jeder Adelskaste gut studieren — wenn ausreichendes Material dafür vorhanden oder erreichbar ist. Bisher sind von solchen Untersuchungen nur schwache Anfänge vorhanden. Wenn aber das Ergebnis der Veredlung wirklich der Idee entspräche, die man innerhalb und außerhalb des Adels sich davon zu machen pflegt, so müßte jene vorzugsweise bei dem Teile des Adels, der als hoher Adel sich noch besonders abhebt, erkennbar sein. Um die Frage zu prüfen, i Deutscher

Adel im 18. Jahrhundert:

Zuerst in: Die neue Rundschau. Freie Bühne für

modernes Leben, 1911, 22. Jg., Heft 2, S. 1 4 5 - 1 6 3 . Berlin (Fischer).

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scheint es geboten, die Tatsachen aus einer objektivierenden Ferne zu betrachten, die aber noch hinlänglich nahe sein muß, ein deutliches Bild ins Auge fallen zu lassen; wie es wohl tunlich erscheint, die verschiedenen Schichten des deutschen Adels um die Mitte und in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sich vorzustellen, wobei wir uns aber hüten wollen, Zeugnisse heranzuziehen, die nach politischen Ansichten und Neigungen der Gewährsmänner als parteiisch gefärbt gelten können. Als Autoritäten der Kritik werden wir viel lieber diejenigen gelten lassen, von denen ein günstigeres Urteil nach ihren Voraussetzungen sich mit Grund erwarten ließe. — Der „hohe" Adel schloß schon im achtzehnten Jahrhundert weit schärfer durch Inzucht sich ab, d. h. er hielt noch strenger als der niedere auf standesgemäße Heiraten; er genoß auch in erhöhtem Grade die Vorteile einer privilegierten Stellung, einer glänzenden sozialen Lage. Er bestand aus den regierenden Familien, die zu jener Zeit im heiligen römischen Reiche deutscher Nation an der Spitze der zahlreichen reichsunmittelbaren Territorien (soweit diesen durch die Pax Westphalica die Landeshoheit garantiert war) standen. Sie hatten aber zum großen Teile, infolge der geringen und verfallenden Macht des Kaisers und Reichstages, die Natur unabhängiger Staaten gewonnen. Die Fürsten betrachteten sich als die Herren dieser Staaten und wurden von ihren Untertanen dafür angesehen. Ihre Beamten halfen ihnen, die Staatsnatur hervorzukehren, d. h. ein einheitliches, unumschränktes Regiment einzuführen, das sich regelmäßig zum Ziele setzte: Vermehrung der Population und Vermehrung der Nahrung, wobei man die Nahrung repräsentiert dachte durch das „Geld im Lande"; man wollte also so viel als möglich Geld ins Land ziehen, so wenig als möglich Geld aus dem Lande herausgehen lassen. Daher richtet sich diese Politik auf Entwicklung der „Kommerzen und Manufakturen"; sie wollte die städtischen und industriellen Interessen zusammenfassen, wenn auch daneben die Ansicht und Bestrebung aufgekommen war, den Ackerbau in diesem Sinne zu fördern und zu einer Export-Industrie, eben dadurch aber zu einer Finanzquelle zu machen. In jedem Falle gehörte eine erhebliche Größe des Gebietes dazu, um solche Ideen mit günstigem Erfolge geltend zu machen; denn sie erforderten einen kostspieligen Apparat, wovon nicht der geringste die Pracht und der Luxus des fürstlichen Hofes, welcher Luxus nicht durch17 Fax Westphalica:

Gemeint ist der Westfälische Friede zu Münster und Osnabrück von

1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete.

Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert

121

aus zwecklos war, da er dazu diente, die Herrlichkeit der fürstlichen unumschränkten Gewalt dem Volke ad oculos zu demonstrieren und soviele Personen als möglich in direkte Abhängigkeit von solcher üppigen Konsumtion zu bringen, wie sie denn auch den Handwerken und Künsten stete Anregungen gab. Aber die Betonung des Staatscharakters und die Kleinheit des Gebietes standen ihrem Wesen nach in einem inneren Widerspruch zu einander. Der moderne Staat erwuchs aus dem Bedürfnis eines einheitlichen Regimentes bei komplizierter werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere zur Ausgleichung der Interessen von Städten und Landgebiet, wie auch von Städten untereinander. Er brach die Selbständigkeit der einzelnen Städte wie der Feudalherren, um sie auf gemeinsame Ziele hinzulenken. Er hat einen fortschreitenden Verkehr, der die Elemente jener Sonderexistenzen in Fluß bringt, eine sich entwickelnde Geldwirtschaft, der er mit dem Bau von Straßen, mit Aufhebung von Binnenzöllen, mit einheitlicher Münze, Maß und Gewicht, mit Heranziehung von Gewerbetreibenden aus der Fremde, mit Etablierung stehender Heere und vielen anderen Maßregeln fördersam beisteht, zur Voraussetzung. Wo diese Voraussetzung fehlt, wird die „Kleinstaaterei" zur Lächerlichkeit, weil zur bloßen Nachahmung und Spielerei, wie wenn ein Kind die Schürze der Mutter umbindet und den Hut des Vaters aufsetzt. „Da die einfachen Zustände der Ackerbürger, Handwerker und Bauern in den Residenzstädtchen, den Marktflecken und Dörfern wenig zu regieren gaben, so entstand jene Einmischung in die Verhältnisse der einzelnen Familien und der Hauswirtschaft, welche in den kleinen Ländern bei den vielen unmittelbaren Berührungen zwischen Fürst und Volk besonders kleinlich und lächerlich hervortrat." (Perthes, Das deutsche Staatsleben vor der Revolution. S. 148.) Proskription der Hunde, Verbot des Kaffeetrinkens nebst Konfiskation des Kaffeegeschirrs, fürstlichhöchsteigenhändige Verbesserung' der Gesangbuchverse werden als Beispiele angeführt. Je weniger es vernünftige Regierungsgeschäfte gab, desto mehr hatte eben das Fürstlein Muße für seine vornehmen Passionen. Auch diese tragen, wie die klassische Schilderung von Perthes im einzelnen dartut, den Stempel der Nachahmung größerer Herren, und die größeren wiederum nahmen sich den Roi Soleil und seine Sukzesseurs vom Hofe zu Versailles zum Vorbilde. Finanzieller Ruin war hier wie dort die Folge einer grenzenlosen Großmannssucht und Verschwendung. Bedrückung und Ausbeutung der Untertanen wa-

34 Roi Soleil: Ludwig XIV.

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ren das beliebteste, weil bequemste Mittel, die ewige Geldnot zu lindern. Die Methoden dieser Ausbeutung gehen uns hier nicht an. Hervorgehoben muß aber werden, daß es unter kleinen und unter großen Fürsten einige rühmenswerte Ausnahmen gab: Männer, die teilweise zwar auch ihren Passionen nachgingen, aber doch zugleich ihren fürstlichen Beruf ernst und würdig auffaßten und sich nach freidenkenden, wohlgesinnten Ratgebern umsahen, um ökonomisch und sittlich fruchtbare Reformen einzuführen. Auf diese Weise fand Karl August Goethe. Viele Charakterzüge hatte aber jener ziemlich zahlreiche hohe Adel gemein mit seinem Bruder, dem niederen Adel. An dessen Spitze, so hoch, daß er von manchen Theoretikern zum hohen Adel gerechnet wurde, stand im damaligen Deutschland die Reichsritterschaft. Sie stellte, gleich den 51 freien Reichsstädten, einen sichtlich verfallenden Überrest der Vergangenheit dar. Sie war, obgleich an der Reichsstandschaft keinen Anteil habend und daher auch von allen seit deren Einrichtung gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts entstandenen Reichsinstitutionen und Gesetzen nur oberflächlich berührt, „im Besitze einer der vollen Landeshoheit sehr nahe stehenden gutsherrlichen Gewalt über ihre zahlreichen kleinen Gebiete"; im Durchschnitte kommen etwas über 1000 Seelen auf jede dieser mehr als 350 Familien, die vorzugsweise „in Franken, Schwaben und bei Rhein" ihre Erbsitze hatten und in diesen Landen je zu einer größeren Korporation verbunden waren; da aber viele Familien mehrere Gebiete beherrschten, so kam auf jedes Gebiet noch eine viel geringere Zahl von Menschen. Diese Gebiete lagen zerstreut in Territorien, deren Landeshoheit sie nichts anging; sie hemmten diese Landeshoheit, indem sie die Einheit des Finanz- und Militärsystems, der Polizei und Justiz unterbrachen; unablässige Streitigkeiten über Zollund Steuersachen, über öffentliche Lasten waren unvermeidlich, indem die Landesherren sich bemühen mußten, die Enklaven ihrer Gewalt zu unterwerfen. Wenn die Territorien zum Teil schon durch ihre Kleinheit Kuriosa waren, so stellten die reichsritterschaftlichen Güter Kuriosa innerhalb dieser kuriosen Staaten dar. Sie hatten mit den kleinen Territo8 Karl August: Dieser schuf Weimar zu einem der geistig und kulturell führenden Zentren in Deutschland, berief Goethe als Minister und gründete das Hoftheater und die Universität Jena. 19 „... kleinen Gebiete": Bei Perthes, 1854: 90, heißt es: „Die Reichsritter traten daher als Gutsherren auf, welche jeglicher Staatsgewalt entzogen waren [...] Die reichsritterlichen Gutsherren erschienen selbst als Landesherren und ihre Gebiete trugen den Schein des Staates; aber bei deren innerer und äußerer Unbedeutendheit".

D e u t s c h e r Adel im a c h t z e h n t e n J a h r h u n d e r t

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rien gemein, daß von dem persönlichen Werte der Herren das Wohl und Wehe von Land und Leuten in hohem Maße abhängig war. Auch unter den Rittern gab es manche ehrenwerte und geistig regsame Leute. Aus einer reichsritterschaftlichen Familie stammte der Reorganisator Preußens, der Freiherr vom Stein. Aber die große Mehrzahl war, wie Perthes, ein christlich-konservativer Autor, meint, von anderer Art. Nach notdürftiger Vorbildung „kehrten sie für immer der geistigen Beschäftigung den Rücken . . . ., bis sie mit des Vaters Tode das Gut übernahmen und nun den einen Tag mit Windreiten, den anderen mit Gäns- und Entvogelstellwerk zubrachten. Die viele unausgefüllte Zeit wurde bald mit Befriedigung kostbarer Liebhabereien, bald mit wilden Ausschweifungen getötet, Schmausereien und wüste Trinkgelage gingen unter den Nachbarn Reihe um. Wie arg der Zustand im großen und ganzen gewesen sein muß, läßt sich aus der Menge reichsgerichtlicher Erkenntnisse abnehmen, in welchen von ,einer sehr niederträchtigen, unanständigen und gefährlichen Art sich zu betragen', von ,einer so schlechten und ehrvergessenen Aufführung, daß, um ferneres Unglück zu verhüten, Verhaftung nötig sei', von ,einem geraume Zeit hindurch ärgerlich und ruchlos geführten Lebenswandel', von ,mörderischen Anfällen' usw. die Rede ist." Viele Güter gingen durch schlechte Wirtschaft, durch „Schwelgerei und Großtun", wie F. C. von Moser sich ausdrückt, verloren. Vielfach wurde auch der physische Untergang der Familien beobachtet. Ein gleichzeitiger Schriftsteller und ritterschaftlicher Beamter sucht dem auf den Grund zu kommen. „Die jungen Herren," so klagt er, „zumal wenn sie das Unglück haben, ihre Väter vorzeitig zu verlieren ... verschwenden ihre Kräfte zu bald, halten den Ehestand nicht heilig und erzielen entweder keine rechtmäßige, oder nur eine schwächliche Nachkommenschaft, welche von Generation zu Generation abnimmt und endlich gar verlöscht." Wenn es nun so um den Reichsadel stand, der einst, als echter Kriegerstand (nach Ulrich von Hutten, der ihm angehörte) „eine große Stärk und Macht der deutschen Nation" gewesen war, so werden wir von dem Landesadel, der in den werdenden Einzelstaaten die maßgebende Rolle spielte, schwerlich eine höhere Vorstellung gewinnen. Seine Besitzungen 1« „ . . . Verhaftung

nötig sei": Vgl. Perthes, 1854: 87.

19 die Rede ist: Vgl. Perthes, 1854: 87, der von M o s e r d o r t zitiert. 21 von Moser:

Zit. bei Häusser, 1854: I, 151.

28 und endlich

gar verlöscht:

30 Ulrich von Hutten:

Zit. bei Häusser, 1854: I, 151.

Vgl. H u t t e n , 1860: 205: „Das ist der R i t t e r s t a n d , auf d e m die kriege-

rische Stärke der D e u t s c h e n v o r n e h m l i c h b e r u h t . "

124

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— und dem Grundbesitze verdankte der größere Teil seine hervorragende Stellung — bildeten in den meisten Landschaften ebenso, wenn auch mit minderem Rechte, Enklaven, wie die reichsritterschaftlichen Gebiete. Die „Ritterbürtigen" wehrten sich mit Zähigkeit, teils direkt in den ständischen Korporationen, teils indirekt durch Ungehorsam und passiven Widerstand, gegen die Fürsten als die Vertreter der Einheit und des Staatsinteresses. Hier waren sie in ihrem Rechte, denn sie hatten das Herkommen und die überlieferte Freiheit auf ihrer Seite. Aber sie waren dabei selten auf das Landeswohl, dem auch Bürger und Bauern angehörten, immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Indem sie als Korpus dem Staate widerstrebten, wußten doch ihre Glieder sich bei Hofe eine, wie F. C. von Moser spottet, „glänzende Knechtschaft" zu sichern. Auf Ämter und Ehrenstellen nahmen sie ein ausschließliches Recht in Anspruch; den Pflichten und Lasten der neuen Zustände entzogen sie sich in schmählicher Weise. „Als die Anfänge des Volksheeres in der Kriegspflicht der Untertanen als solcher hervortraten, setzten die Nachkommen des Ritterstandes es durch, daß ihnen keine Verpflichtung zur Verteidigung des Staats zugemutet wurde, und erlangten dagegen mehr und mehr das Recht, daß diejenigen unter ihnen, welche aus eigener Neigung in das stehende Heer eintraten, den ausschließlichen Anspruch auf die Offizierstellen erhielten" (Perthes). Auch ein Historiker, den die eigene Herkunft zugunsten des Adels sich neigen macht, schreibt bündig, der Adel habe — in den neueren Jahrhunderten — die ihm vom Mittelalter her überkommene Machtstellung (insbesondere seine Stellung auf dem Landtag) dazu benutzt, um sich Privilegien zu verschaffen oder zu erhalten, die der inneren Berechtigung entbehrten. „Die Motive", fährt G. von Below fort, „welche den Adel bei der Forderung (alle wichtigeren Ämter nur mit Adeligen zu besetzen) leiteten, erkennt man daraus, daß in vielen Territorien der Adlige schließlich nur Ehre und Gehalt von dem Amte bezieht, während für die Arbeit ein besonderer Beamter angestellt ist." Unter den Vorrechten, die ehemals Berechtigung gehabt hatten, aber erst befestigt

wurden,

nachdem

sie abhanden

gekommen

waren,

steht

obenan die Freiheit von direkten Steuern. Denn, ebenso wie ihre Annexe: die Freiheit von Einquartierungslasten, von Landfronen und, soweit es sich um Hausbedarf handelte, von Zoll und Akzise, ja wie die Land12 Moser

spottet:

So Perthes, 1 8 5 4 : 87 f.

2i „ . . . auf die Offiziersstellen 26 G. von Below:

erhielten":

Vgl. Below, 1 9 0 9 : 4 4 .

Vgl. Perthes, 1 8 5 4 : 2 3 3 f.

Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert

125

standschaft selber, wurde sie immer gedacht als Korrelat der militärischen Stellung, als Entgelt für die Leistung des Reiterdienstes. Später wurden diese Rechte fixiert, „obwohl sie seit dem Fall der Reiterheere eine Ungerechtigkeit waren" (von Below). Mit anderm Worte: der Lohn wurde eingeheimst, ja eigenmächtig erhöht, obgleich die Arbeit nicht mehr geleistet wurde. Mit dem Unrecht stieg der Dünkel und die kastenmäßige Abschließung. „Nicht über Nacht ist der Ingrimm und der leidenschaftliche Hohn erwachsen, mit dem die Ritterbürtigen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts verfolgt wurden" (Perthes). Denn der Adel zeigte, wo er nur konnte, „die schnödeste Verachtung des Bürgerstandes; bei Bällen und solchen Gelegenheiten wurden bürgerliche Frauen von adligen oft auf die schimpflichste Weise behandelt; wenn die Stände in Badeorten zusammentrafen, so waren für die Adligen Alleen abgesondert, und Bürgerliche, welche in dieselben kamen, wurden insultiert, wie es im Werther nach dem Leben geschildert ist. Daraus mußte eine ungemeine Irritation entstehen." 1 Am schärfsten ausgeprägt erschien diese Scheidung und der Gegensatz der Stände im stehenden Heere, und nirgends in so krassen Formen, wie in dem ruhmreichen militärischen Staate Preußen, wo sich die feinen Herren und Herrchen in Z o p f und Puder als Werber und Zuchtmeister mit dem Abhub der Gesellschaft, dem Lumpenproletariat, woraus bald nach Friedrichs des Großen Abscheiden etwa die Hälfte seiner Armee bestand, begegneten. In diesem „bunt zusammengewürfelten Körper" (Häusser) herrschte keine auf gemeinsamer Abstammung oder auf gemeinsamem Geiste beruhende Eintracht, hier herrschte nichts als rigorose Strenge, Gewalt und Mißhandlung. Der Offizier verachtete die „Kerls" und trat sie mit Füßen; auch die Besseren waren ja nur „bürgerliches P a c k " . Die Gemeinen gaben diese Gefühle in Gestalt eines herzlichen Hasses zurück. Desertionen geschahen massenhaft und fast täglich. Daß solche Zustände auf die moralischen Eigenschaften der adligen Offiziere nicht günstig zurückwirkten, liegt auf der Hand. Ohnehin war 1

Worte B. G. Niebuhrs. Auf den Berliner Operbällen durften nur die Adligen in RosaDominos erscheinen; Bürgerliche waren zwar zugelassen, aber mußten sich hinter der durch eine Schnur gezogenen Schranke bewegen.

10 „Nicht

über Nacht...

17 „ . . . Irritation 24 (Häusser):

verfolgt

entstehen.""':

wurden":

Vgl. Perthes, 1854: 235.

Vgl. Niebuhr, 1845: 82.

Vgl. Häusser, 1854: I, 195.

126

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es keineswegs die Elite des Adels, die den Dienst im Heere suchte. „Die Zahl der Adligen, welche sich in jedem Lande dem Kriegshandwerk widmen", schreibt der große König, „ist beträchtlich, aber die Beweggründe, welche sie veranlassen, einen so rühmlichen Beruf zu erwählen, sind nicht die gleichen. Die einen, von Glücksgütern entblößt, betrachten den Militärdienst als einen Notbehelf, der ihnen einen wenn auch nur dürftigen, aber ehrenwerten Unterhalt verschafft ... Andere geben sich den Frivolitäten, an denen unser Zeitalter so reich ist, hin; sie stürzen sich in Vergnügungen und Zerstreuungen; sie sind alles, nur nicht Soldat, was ja doch ihr Beruf ist. — Endlich gibt es unter ihnen einige, aber immer nur in sehr kleiner Zahl, welche, von edlem Ehrgeiz beseelt, das Bestreben haben, sich durch ihren Mut, ihre Fähigkeit und Klugheit in der Welt vorwärts zu bringen..." Auch Boyen teilt die Offiziere der preußischen Armee im Jahre 1806 nach Alter und Wert in drei Klassen. Zuerst die alten: unwissend, aber brav, körperlich nicht mehr leistungsfähig. Die zweite Klasse litt, mit sehr ehrenwerten Ausnahmen, „an vernachlässigter Jugendbildung und einseitiger Weltansicht, sie waren vielmehr Trillmeister in einer einzelnen Waffe, als wirkliche Feldsoldaten", wenige „kriegeslustige Männer" darunter. Die jüngste Klasse „nicht so übel": „wenn auch bei vielen von ihnen, besonders denen, die in dem väterlichen Hause auf dem Lande erzogen waren, die Bildung noch sehr unvollständig geblieben war, so wurde im allgemeinen doch das Bedürfnis nach Kenntnis in dieser Klasse wohl gefühlt." Die furchtbare Niederlage jenes Jahres (1806) warf, „wie dies gewöhnlich der Fall ist, eine große Zahl von Menschen plötzlich aus dem Gefühl des Hochmuts in das der äußersten Schwäche". An den traurigen und entehrenden Vorgängen, die sich anschlössen, waren als die verantwortlichen Häupter Personen von gräflichen und fürstlichen Namen in erster Linie beteiligt. In ganz Deutschland wurde der Untergang des friderizianischen Heeres als eine Blamage des Adels, den der alte König allein für geeignet zum militärischen Befehlshabertum gehalten hatte, und als eine Katastrophe 13 vorwärts zu bringen: Vgl. Friedrich der Große: „Vorwort" (1771, zu einer anonymen Schrift über d. Belagerung fester Plätze, die Ende des 17. oder Anfang des 18. Jahrhunderts entstanden ist), in: Friedrich der Große, 1885: 315. 13 Boyen: Vgl. Boyen, 1889: 215 f. 24 furchtbare Niederlage: Gemeint sind die militärischen Niederlagen Preußens gegen die napoleonische Armee bei Jena und Auerstedt (Okt. 1806), der kampflose Einzug Napoleons in Berlin (27. Okt. 1806), die Auflösung der preußischen Heerestruppen, die Verlegung der preußischen Residenz nach Königsberg.

Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert

127

der Adelsherrschaft angesehen. Der große Reorganisator des preußischen Heeres, den sein engeres Vaterland, das Kurfürstentum Hannover, nicht zu halten gewußt hatte: Scharnhorst, war von kleinbäuerlicher Herkunft; seine Mutter, eines größeren Bauern Tochter, hatte, um den Vater zur Einwilligung in die Mißheirat zu zwingen, vor der Ehe ein Kind geboren. Scharnhorsts Mitarbeiter und Schüler sind meist von geringem und jungem Adel. Sicherlich hat er von ihnen keinen kränken wollen, wenn er im Jahre 1809 schrieb: „Sollten bloß adlige Kinder das Vorrecht haben, als Offiziere in ihrer krassen Unwissenheit und zarten Kindheit eingestellt zu werden, und Männer mit Kenntnis und Mut ihnen untergeordnet werden, ohne je eine Aussicht auf Beförderung zu haben, so wird den adligen Familien geholfen, die Armee aber schlecht werden und nie die Achtung der Nation sich erwerben und ein Gespött der übrigen gebildeten Stände bleiben." — Wilhelm von Humboldt, von dem man annehmen darf, daß er seine Standesgenossen kannte, schreibt viele Jahre später: „Der Adel hat, schon vor der Einwirkung der Revolutionen, durch eigene Lauigkeit und Schlaffheit, frivole Verschuldung, Veräußerung seiner Güter, wo ihm das Gesetz nicht geradezu in den Weg trat, Abweichen von der Einfachheit und Reinheit vorväterlicher Sitte, sich selbst die Grube gegraben." Ebenso schreibt Niebuhr,

der konservativ gesinnte

Mann, an den Reichsfreiherrn Stein, unter hundert adligen Gutsbesitzern sei schwerlich mehr als einer, der sein Gut nicht lieber einem Kerl, welcher im Zuchthause gesessen, verkaufe als einem Vetter, „wenn es ein hübsches Sümmchen Differenz gilt." Und Stein selber, der gern etwas günstiger von seinem Stande dachte und große Pläne zu dessen Reform entwarf, hat doch im J a h r e 1802 das bekannte Wort gesprochen von der Wohnung des Edelmannes, der seine Bauern legt, sie komme ihm vor wie die Höhle eines Raubtieres, das alles um sich verödet und sich mit der Stille des Grabes umgibt, und von den Gegenden, wo man den Menschen zum integrierenden Teil des Viehinventars eines Gutes herabgewürdigt habe. Bei alledem wäre es verfehlt, wenn man den deutschen Adel jener Zeit für durchaus verdorben und verdummt halten wollte. Über den Umfang

M „ ... gebildeten

Stände bleiben.":

„Vergleich der ehemaligen Geschäftsführung der militä-

rischen Oberbehörden mit der jetzigen" (Sommer 1809), in: Pertz, 1864: 536. 20 „ . . . selbst die Grube 20 Niebuhr:

gegraben":

Zit. in Pertz, 1854: V, 779.

Brief vom 2. Feb. 1825, in: Pertz, 1855: VI, 109.

24 Stein: Stein an Frau von Berg vom 22. April 1802, in: Pertz, 1849: I 192.

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der physischen und moralischen Degeneration, die ohne Zweifel in ihm vorhanden gewesen ist, wissen wir nichts; ob eine wissenschaftliche Forschung in dies dunkle Gebiet einzudringen vermöchte? ohne Zweifel vermöchte sie es, und es sind auch Anfänge dazu gemacht worden. Es wäre im eigensten Interesse des Adels als einer Klasse, solche Studien energisch zu befördern. Denn das Studium der Tatsachen muß dem der Ursachen voraufgehen, und das der Ursachen (die Aetiologie) ist der Weg zu den Heilmitteln (zur Therapie). Was auch immer sich herausstellen möge, wir wollen nicht vergessen, daß der Adel, speziell der preußische, auch im neunzehnten Jahrhundert, eine Reihe von Offizieren und Generalen hervorgebracht hat, die nicht nur ihren Platz ausgefüllt haben, sondern zum Teil von vorzüglicher Tüchtigkeit gewesen sind; daß die Erneuerer des preußischen Staates, die Freiherren von Stein und von Hardenberg, zwar nicht preußischen, aber deutschen altadligen Familien entsprungen waren; daß aber eine echte preußische Familie zu einer Zeit, die dem Anfange des Jahrhunderts nicht fern lag, den ersten Kanzler des neuen Deutschen Reiches erzeugt hat; seine Mutter freilich, der er seine besten Gaben zu verdanken scheint, war von bürgerlichem Stande, einer Gelehrtenfamilie entsprossen. Auch abgesehen von dieser außerordentlichen Persönlichkeit ist während des neunzehnten Jahrhunderts die politische Geschäftsführung der deutschen Staaten und Österreichs zumeist in den Händen adliger Personen verblieben. Sicherlich ist dies nicht die Folge einer unbefangenen Würdigung und Auswahl unter den dafür begabten Personen gewesen; sicherlich sind manche hohe Posten lediglich höfischer Gunst zu verdanken gewesen und von ihren Inhabern im besten Falle mit Anstand repräsentiert worden. Gleichwohl wird man zugeben müssen, daß auch ererbte, durch Familientradition befestigte Neigungen und Fähigkeiten für Staatsgeschäfte immer mitgespielt haben, daß tüchtige und charaktervolle Persönlichkeiten vorkommen, die ihrer Abstammung aus waffengeübtem Geschlechte Ehre machen, kurz, daß unter vielen Nullen auch manche achtungswerte Einser sich finden. Wenn der genannte berühmte Mann ein glänzendes Beispiel der günstigen Wirkung bürgerlicher Ehen für ein altes Geschlecht darstellt, so kann in gleichem Sinne, mütterlicherseits einer Hamburgischen Kaufmannsfamilie entstammend, wenngleich mit viel geringerer Bedeutung, auch der vierte Reichskanzler genannt werden, dessen Bild, noch von 17 seine Mutter: Bismarcks Mutter, Wilhelmine Louise, geb. Mencken, stammte aus bürgerlichem Hause. 36 vierte Reichskanzler: Bernhard Fürst von Bülow, Reichskanzler von 1900—1909.

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der Parteien Haß und Gunst verwirrt, doch als das eines geistreichen Mannes und geschickten Diplomaten seinen Rang behaupten wird. Auch muß anerkannt werden, daß an der glänzenden Epoche deutscher Dichtung, Philosophie und allgemeiner Kultur, die eben um jene Zeit — zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts — ungefähr auf ihrem Höhepunkte stand, der deutsche Adel, teils durch Interesse und Förderung, teils aber auch mittätig in bedeutenden Persönlichkeiten (die Gebrüder Stolberg, die beiden Kleist, die beiden Humboldt und andere) seinen Anteil genommen hat. Dieser Anteil war nicht sehr bedeutend, wenn er an der Tatsache gemessen wird, daß namentlich von den Bewohnern des platten Landes damals fast nur Adlige in der ökonomischen Lage waren, sich eine literarische Bildung zu verschaffen, ihre Söhne auf die Hochschulen zu schicken, durch in- und ausländische Reisen sich den Gesichtskreis zu erweitern; kurz: auf der Menschheit Höhen zu leben. Immerhin war auch die Zahl dieser Adligen nicht groß, und die Neigungen waren bei der großen Menge eigentlicher Krautjunker wenig nach dieser Richtung hin entwickelt. Die Literatur, mit allem was daran hing: Konversation, Theater, Musik und bildende Kunst, war doch im wesentlichen städtische Angelegenheit, durch das regere Leben der größeren Städte fast bedingt; daneben pflegten nur die Höfe, unabhängig von den kleinen Städten, in denen sie sich räumlich entfaltet hatten, ihren eigenen Geschmack, Luxus und einen Sinn für Kunst und Wissenschaft, der oft durch ökonomische Interessen der Fürsten angefeuert wurde. So steht denn auch die kleine Minderheit des Adels, die am literarischen und sonstigen geistigen Leben tätigen Anteil nimmt, regelmäßig in näheren Beziehungen zu regsamen Fürstenhöfen. Immer muß aber bei diesen Betrachtungen auch des Umstandes gedacht werden, daß historischer Träger der höheren Bildung und des davon untrennbaren Unterrichtswesens im ganzen neueren Europa der Klerus gewesen ist, eine Rolle, die um jene Zeit an Höfen, wie in Städten, besonders in den Universitätsstädten, noch mächtig nachwirkte. Es ist dem Adel eigentümlich und es zeichnet ihn aus, daß er in bewußter Weise auf die Züchtung eines besonderen und höheren Typus, einer,

8 Stolberg:

Graf zu Stolberg, Mitglied des Göttinger Hainbundes; Friedrich Leopold zu

Stolberg (1750 — 1819) ebenfalls dem Hainbund nahestehend. Die beiden Kleists: Neben Heinrich von Kleist ist Ewald Christian von Kleist gemeint, der 1740 in die preußische Armee eingetreten war und 1759 in der Schlacht bei Kunersdorf tödlich verwundet wurde.

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wie wir gesagt haben, menschlichen Varietät ausgeht. Hier aber möge allgemein bemerkt werden, daß diese Bewußtheit viel mehr durch Meinung, Schätzung, Bewunderung und, in Abhängigkeit von der Empfindungsweise, durch die Erziehung der Jugend bisher sich geltend gemacht hat, als in der direkt biologischen Weise, durch eigentliche und strenge Zuchtwahl. Denn die Ablehnung und Abstoßung von Mißheiraten und die Wertschätzung der guten Familie, der tadellosen Herkunft bei Wahl von Gatten und Gattinnen, gehört vielmehr zu den Gesinnungen, worin sich ganz oder halb unbewußte selektorische Bestrebungen ausdrücken. Ihr Wert wird stark dadurch beeinträchtigt, daß die Güte der Familie innerhalb des beschränkten Kreises oft an ihrem Reichtum gemessen wird, was zum mindesten sehr leicht irreführend ist; und sodann dadurch, daß mehr auf die Länge als auf die Qualität des Stammbaumes geachtet wird, was im achtzehnten Jahrhundert noch sonderlich begünstigt wurde durch die „Ahnenprobe", woran der Genuß von Stiftspräbenden gebunden war, und nach diesen waren besonders die herunterkommenden freiherrlichen und gräflichen Geschlechter lüstern. „Jetzt war es ökonomisch, bei der Verheiratung auf eine hohe Ahnenzahl zu sehen, denn ein im übrigen armes (und, fügen wir hinzu, vielleicht zur Nachzucht und Mutterschaft wenig geeignetes) Edelfräulein von sechzehn Ahnen repräsentierte mit Rücksicht auf die Stiftsstellen, auf welche ihre Nachkommen rechnen konnten, ein Kapital." Wenn dieser Gesichtspunkt — die Rücksicht auf das Alter der Familie — so oft dem anderen: dem Trachten nach Heiratsgut entgegenwirken konnte, so wurde er hier nur ein indirektes Mittel des gleichen Strebens nach arbeitlosem Einkommen. — Überdies sind aber, der ganzen historischen Stellung des Adels zufolge, seine Ideale und damit auch jene Tendenzen, immer in zwei entgegengesetzte Richtungen gegangen, die aus der ursprünglichen Einheit kriegerischer und regierender Funktionen entspringen. Jene erfordern in erster Linie körperliche Stärke, diese in erster Linie Intelligenz. Allgemein und notwendigerweise schließen beide sich keineswegs aus, aber tatsächlich gehen sie mehr und mehr — gerade beim männlichen Geschlecht — auseinander. Hierbei möge bemerkt werden, wie uneigentlich und unwahr wir von einem Gegensatze leiblicher und seelischer,

16 Stiftspräbenden:

Stelle in einem Stift wie auch Geldbezüge aus demselben (Pfründenstif-

tung). 20 sechzehn: 22 ein Kapital:

Im Original fälschlich „sechzahn". Vgl. Below, 1909: 44.

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körperlicher und geistiger Eigenschaften und Tüchtigkeiten reden. Alles ist leiblich und alles ist seelisch zugleich. Wir würden richtiger von Muskelstärke und Stärke der Gehirnsubstanz, oder aber von der Willensrichtung und dem geistigen Vermögen zu animalischen Tätigkeiten auf der einen Seite — wozu denn auch Schärfe der Sinne und des sinnlichen Verstandes gehört — zu spezifisch menschlich-mentalen Tätigkeiten — die mehr und mehr ein Überwiegen des intellektuellen Elementes und endlich ein abstraktes Denken erfordern — auf der andern Seite reden. Zu beiden bezeichneten Richtungen gehört menschlicher Verstand und menschlicher Wille, die wir, im Vergleiche zu den gleichen Seelenkräften der andern Säugetiere, an eine vermehrte und veredelte Gehirnmasse gebunden denken. Aber in der einen Richtung tritt das materielle Element — die wir eben als körperliche Stärke bezeichneten — in der anderen das geistige — bei dem wir zunächst an die Intelligenz zu denken gewohnt sind — mehr hervor. In Wahrheit handelt es sich bei der anderen Richtung mindestens ebensosehr um eine veränderte Art, als um eine vermehrte Menge von Intelligenz. Auch der Kämpfer und Krieger bedarf des Verstandes, der Urteilskraft, ja des Scharfsinns; aber der Richter, der Lehrer und gar der Gesetzgeber ist fast ausschließlich auf diese Kräfte und ihre besondere Ausbildung angewiesen. Nun liegt es in der menschlichen Natur begründet, daß sie, wie alles Bewegte, den Weg des kleinsten Kraftmaßes sucht. Dies bewährt sich vorzugsweise darin, daß sie nach dem Sein strebend, mit der Nachahmung des Seins, dem Schein fürlieb nimmt, ja um so begieriger nach dem Schein trachtet, je mehr er leichter erreichbar ist als das Wirkliche, und andererseits, je mehr er diesem ähnlich ist (je echter er scheint). Am meisten natürlich und echt ist aber der Schein, der als etwas Wirkliches den Dingen anhaftet, mit ihnen regelmäßig verbunden, aber auch von ihnen trennbar ist. Dazu gehört in bezug auf das, was wir hier Intelligenz genannt haben, die Verfeinerung des äußeren Betragens („der Sitten") und der äußeren Person, vollends aber die Fähigkeit des lebhaften und gewandten Sprechens, der Unterhaltung. Alle diese Vorzüge können leicht angeeignet werden, ohne daß die Intelligenz selber erheblich verbessert und ausgebildet wird; ja es bildet sich sogar ein neuer Gegensatz zwischen deren Wesen und diesem Zubehör, ein Gegensatz, der auch mit dem geistlich-religiösen Charakter der sozial wirksamen Intelligenz zusammenhängt. Obgleich auch diese, auch in den Formen ihrer Erscheinung, oft völlig „verweltlicht", so ist doch ihr natürlicher Zubehör von anderer Art: es ist mehr der Schein von Ernst und Würde, als von Eleganz und Gewandtheit, der ihr anhaf-

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tet. Diese Finesse aber, wie sie auch mit der Entwicklung des höheren städtischen Lebens gegeben ist, so bildet sie sich vorzugsweise aus in den Regierungen, daher in der Umgebung der Fürsten; und der Hofmann und Politikus wird zum krummen Gegensatz des geraden, offenen und ehrlichen, oft auch groben und derben Landedelmannes. Wenn dieser von W. H. Riehl ein potenzierter Bauer genannt wird, so kann jener füglich ein potenzierter Städter heißen. Nach beiden Richtungen führt die Ausbildung in häßliche und nichts weniger als edle Extreme. Eine dritte Richtung, worin die beiden Ideen sich zusammenfinden, scheint den menschlichen Typus auf schöne Weise zu erhöhen: als das Streben nach Gleichmaß und Harmonie von Leib und Seele, von Verschmelzung der Gegensätze des mannhaften Rittertums und des frauenhaften Kavalierwesens, der Härte und der Zartheit, des Mutes und der Anmut. Und doch ist dies nur eine Erscheinungsform, deren seltenes Gelingen eine der Lösungen des tieferen und allgemeineren Problems der menschlichen Entwicklung andeutet: nämlich der Vereinigung eines entwickelten Gehirnlebens mit seiner Basis: einem gesunden und zähen vegetativen System, das nicht nur (was von geringerer Bedeutung) eine lange individuelle Lebensdauer, sondern namentlich eine lebens- und entwicklungsfähige Nachkommenschaft garantiert. Es darf hier daran erinnert werden, daß dies Problem in seiner Beziehung auf das weibliche Geschlecht sich verdichtet und um so bedeutungsvoller wird. Was aber hier seine Lösung betrifft, so ist wohl unleugbar, daß unter den adligen Frauen nicht selten ein hoher und edler weiblicher Typus ins Leben getreten ist. Nicht nur hat der Beobachter des Lebens, wie er uns oft als Romanschriftsteller begegnet, Gelegenheit, dies zu bewahren, sondern es sind auch die schönsten historischen Beispiele „hochgeborener" Frauen bekannt geworden, die in solcher Weise Kraft und Sinnigkeit, Mütterlichkeit und Weisheit, Natur und Kultur gemeinsam durch ihre Persönlichkeit ausprägten. Der Adel als Stand aber, der sich zum Herrschen erblich begabt und berufen halten möchte, ist eben an der Bildung eines desgleichen männlichen Typus gescheitert. Zur Zeit des frühen Mittelalters mögen die „Ritter ohne Furcht und Tadel" diesem Ideale in einer jenem Zeitalter angepaßten Weise am nächsten gekommen sein. Dann aber folgte das Raubrittertum, das Perthes daraus erklärt, daß die kriegerische Tüchtigkeit, 6 W. H. Riehl: 36 Perthes

daraus

Vgl. Riehl, 1885: 132. erklärt:

Vgl. Perthes, 1854: 84 f.

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die keine Gelegenheit fand, im Reichsdienste Ehre und Ruhm zu erwerben, auf ungeordneten Wegen in Roheit und Gewalttaten sich Bahn machte. Richtiger dürfte es sein, die Sache aus einem durchaus natürlichen Konflikte zu erklären, der aus der an sich kulturförderlichen Bestrebung jedes kleinen Gebietes sich abzuschließen und sein eigentümliches Leben zu entwickeln, mit Notwendigkeit entspringt gegenüber dem ebenso notwendigen Interesse des Austausches von Gütern, des Verkehrs auf Landstraßen. Die Ritter forderten für ihre Burgen und deren Bannmeile nichts anderes, als was auch die Städte gegen fremde Händler forderten: Vorkaufs- und Stapelrechte und Vergütungen für das was, sie ihnen leisteten: Freigebung ihrer Wege und Schutz, der denn wohl nicht selten als freies Geleite aufgenötigt wurde; Brücken, Fähren und Lagerplätze. D a ß sich aus dem Kampf um solche Rechte etwas entwickelte, was späterer Zeit schlechtweg als Verbrechen erschien, ist nicht das einzige Beispiel einer solchen Umkehrung: gab es doch nach der alten, noch vor wenigen Jahrhunderten überlebenden Anschauung, nichts Gerechteres als den Mord, wenn er geschah, um den Tod eines Versippten zu rächen. Aber jenen Sonderrechten gegenüber obsiegten, im normalen Gange der Dinge, die Städte und, im Bunde mit ihnen, die Landeshoheiten, die in Deutschland noch mannigfach und zersplittert genug blieben. J e mehr dann das Fehde- und Faustrecht veraltet und sinnlos wurde, um so mehr mußten die Menschen, die solches Tun übten, verwildern. In der Tat handelte es sich nun um eine große Menge überschüssiger Kräfte, die einen Ausweg suchten und ihre Genugtuung fanden in jeder Überschreitung der Grenzen und des Maßes, so vorzugsweise im exzessiven Zechen, dem nobiliter bibere, das nun als Kraftprobe in echt bäurischem Sinne zur Ehrensache wurde und wohl auch eines bäurischen Humors nicht entbehrte — wovon uns aus dem sechzehnten Jahrhundert ein ergötzliches aber auch gräßliches Gemälde in den Denkwürdigkeiten Hans von Schweinichens erhalten ist. Neben diesen Rückschlägen ins bäurische Wesen gehen die Verbildungen des städtischen und höfischen Charakters einher, die besonders als raffinierter Egoismus in bezug auf Genuß und Erwerb sich darstellen. Beide können wohl in einem und demselben Subjekte zusammentreffen, aber das ist nicht allzu oft der Fall. Im ganzen und großen unterscheiden sich in diesen Richtungen der im-

26 nobiliter 30 Hans

1878.

bibere: von

(lat.) soviel wie „ehrenhaftes Saufen".

Schweinichens:

Vgl. dessen „Denkwürdigkeiten", hgg. v. Osterley, Breslau

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merhin noch patriarchalische Krautjunker und der rücksichtslose Streber, der als Alamodischer mit dem Glücks- und Industrieritter gemeinsame Sache macht. Hier ist denn der junge Briefadel am meisten an seinem Platze, mit dessen Kreierung die Fürsten sich die gefügigsten Kreaturen für ihren Kampf gegen Libertäten und Ansprüche des alten Adels bildeten. Und innerhalb wie außerhalb des Briefadels erhebt sich schon im siebzehnten und zumal im achtzehnten Jahrhundert mit neuen Ansprüchen die Geldaristokratie, deren eine kostspielige Hofhaltung und der sich aus den Territorien entwickelnde Staat immer weniger entraten kann. Der alte Adel, mit Einschluß des Fürstenstandes, und dieser zumal soweit er nicht bewußter Repräsentant ist des Staatsinteresses und -Wesens, verändert sein inneres Verhältnis zum Volke während dieser Jahrhunderte. Ursprünglich verhält er sich zu ihm wie ein Organ zum lebendigen Körper. Schutz und Leitung sind seine Funktionen. In der Idee des Wehrstandes prägt sich dies aus, der wie jeder Teil in bezug auf ein organisches Ganze, seinem Wesen nach ein dienender ist, so sehr und so stark er auch in der Form der Herrschaft auftritt. „In Religion, Poesie, Sitte und Sittlichkeit der Zeit brachte man alle Beziehungen des Menschen zu Gott, des Mannes zum Manne, des Mannes sogar zur Geliebten unter den Gedanken des Dienstes und kleidete sie ein in eine dem alten Treudienst des Dienstmannes gegen seinen Herrn nachgebildete Form" ... „Es ergab sich so ein stufenförmig angeordnetes System mannigfacher Dienstverbände, deren jeder durch sein Haupt Teil eines umfassenderen Dienstverbandes war; es ergaben sich die vielverschlungenen Verhältnisse der mittelbaren Herrschaft und der mittelbaren Unterwerfung; es ergab sich die Auffassung aller öffentlichen Gewalt als einer in den Formen des Dienstamtes von einem oberen Herrn geliehenen Herrschaft, welche von Gott an den Kaiser, von diesem an die Reichsvasallen, von diesen an ihre Mannen und Leute, und so herab bis zu jedem einzelnen Träger auch der unbedeutendsten Gewaltrechte gekommen war." (Gierke.) Hiermit ist die Idee des Feudalismus bezeichnet, innerhalb dessen der aus Freien und Hörigen sich zusammensetzende Berufsstand der Ritterbürtigen sich als Geburtsstand konsolidiert, der seinen Beruf als erbliches Recht und erbliche Pflicht ausübt. Aber wie der ganze Feudalismus nur eine Superstruktur über den ursprünglichen Bildungen der Dorfgemeinde und Markgenossenschaft bedeutet, so erhält sich auch neben 32 (Gierke.):

Vgl. Gierke, 1868: I, 153, 154.

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dem Herrendienst, worin sich die Unterordnung unter eine Gemeinschaft als ein persönliches Vertragsverhältnis darstellt, der Gemeindedienst, an dem die vom Adel gleich anderen Schöffenbarfreien teilnehmen, in Gericht und Verwaltung. Durch das „freie Einungswesen", das mit der Blüte der Städte (1200—1500) über das ganze deutsche Volksleben sich ausbreitet, konstituiert sich schon der niedere Adel des Reiches, in den einzelnen Territorien, als Stand gegenüber anderen Ständen; die Idee des Wehrstandes schwächt sich schon ab, der hohe Adel konstituiert sich als Herrenstand des Reiches, im Wetteifer mit ihm oder in Opposition gegen ihn sucht sich der niedere in den größeren Territorien als Landesherrenstand zu behaupten. Und schon von 1500 an akzentuiert sich immer schärfer bei Fürsten wie Ritterschaft der Gedanke, daß sie die von Gott gesetzte Obrigkeit sind, der die Untertanen zu dienen von Gottes und Rechtswegen verbunden sind; und aus Übertragung der so nahe verwandten Vorstellung des privaten Eigentums entsteht bei diesen großen und kleinen Herren die Idee, daß Land und Leute ihnen gehören, wie die Dukaten in ihrer Tasche, als Mittel und Werkzeuge für ihre Zwecke, für ihre persönlichen Interessen. Es kommt in dem Zeitalter, das seiner Aufklärung sich rühmen durfte, zu Vorgängen, wie dem, daß ein Gutsherr seine Volksgenossen wie Sklaven, ein Fürst seine Landeskinder als Soldaten verkauft. Die scharfe Trennung und Überhebung der herrschenden Klasse über den „Plebs" akzentuiert sich um diese Zeit auch durch den Gebrauch einer fremden Sprache, der sich mit dem Dünkel verbindet, in ihr auch alle Elemente der höheren Bildung zu besitzen, die teils in Gebärden und Manieren, wie auch wohlgesetzten Reden sich ausprägten, teils wesentlich unter dem Gesichtspunkte des verfeinerten Lebensgenusses betrachtet wurden. Seinen objektiven Ausdruck aber fand dies neue Verhältnis der Regierenden zum Volke in der ökonomischen Sphäre, das ist in der Produktion und im Eigentum sachlicher Güter, welche freilich mit der rechtlichen Herrschaft über Personen noch unmittelbar verbunden waren. Wenn der Landesherr sich als absoluten Herrn geltend machte, so hatte er dazu am meisten Recht und Gelegenheit in bezug auf das Domanium, den großen Grundbesitz, der noch das allodiale Vermögen der fürstlichen Familien mit den ursprünglichen Amtslehen der Herzöge und Grafen, anderen gegen Lehensdienste erworbenen Reichslehen und angefallenen Reichspfandschaften „in einer Masse zusammen" enthielt, wozu in den protestantischen Territorien noch säkularisiertes Kirchengut gekommen war. Außerdem aber, daß aus den Einkünften dieses gesamten Kammer-

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gutes private und öffentliche Bedürfnisse des Herrn ungeschieden bestritten wurden, nahm dieser in Anspruch, seine Untertanen nach Willkür und Bedarf zu besteuern. Wenn auch ein formales Bewilligungsrecht der Landstände in den meisten Territorien sich zu retten wußte, so setzten doch oft genug die größeren Herrscher sich darüber hinweg — der „Landesherr" behauptete das seitdem allgemein als Recht des Staates anerkannte Prinzip (daß die Kosten der öffentlichen Funktionen, nach Ermessen und einseitiger Bestimmung des Gesetzgebers den Privaten auferlegt werden) als sein erbliches und privates Recht. Durch die Unklarheit dieser Beziehungen, durch den Umstand daß der Fürst in der Lage war und sich anmaßte, die Stellung, die nur als Amt einen Sinn hatte, als nutzbares Privileg für sich auszunutzen, konnte es dahin kommen, daß von den führenden Schriftstellern des sechzehnten Jahrhunderts Finanz mit Untreue, Neid, Haß, Wucher, mit Simonie, heimlichen Leisten, bösen Tücken, mit Schalkheit, Diebstahl und Raub als gleichwertig hingestellt wurde. Man klagte die „neuen Politiker" an, die da wähnten, daß es den Fürsten sittlich erlaubt sei, durch irgendwelchen Trug den Untertanen Geld abzupressen. Dies war die noch im achtzehnten Jahrhundert herrschende Vorstellung vom Macchiavellismus, die einen nachmals berühmten König als Kronprinz ausrufen ließ: „Wie beklagenswert ist nicht die Lage der Völker, wenn sie alles zu fürchten haben vom Mißbrauch der souveränen Gewalt, wenn ihre Güter der Habgier des Fürsten, ihre Freiheit seinen Launen, ihre Ruhe seinem Ehrgeiz, ihre Sicherheit seiner Perfidie und ihr Leben seinen Grausamkeiten zur Beute wird? Das aber ist das tragische Gemälde eines Staates, wo ein Fürst herrschen würde, wie Macchiavell ihn bilden will." — Die politische „Frage" des achtzehnten Jahrhunderts war die Ablösung des Staatsbegriffes und Staatsinteresses vom Begriff und Interesse des Monarchen; und in deutschen Staaten ist sie zum Teil bis heute eine „Frage" geblieben. Auch in den Befugnissen der Gutsherren, wie sie weit und breit, besonders aber in dem Koloniallande jenseits der Elbe sich ausgebildet hatten, lagen politische Funktionen und Ausübung privater Eigentumsrechte ungeschieden beieinander. Wie der Fürst erblicher Herr des unentwickelten Staates, so war der Gutsbesitzer erblicher Herr einer unentwickelten Landgemeinde. Seine Rechte am gesamten Grund und Boden galten privatrechtlich, wenigstens da, wo das römische Recht rezipiert war, als Eigentum. Er war Eigentümer der alten Ritterhufen, die ur26 wie Macchiavell

ihn bilden will.: Vgl. Friedrich der Große, 1870: 2.

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sprünglich meistens verstreut, mehr und mehr zusammengelegt und um einen Wirtschaftshof vereinigt waren; die Rechtslehre machte ihn aber auch, im Einklang mit seinem eigenen Interesse und Willen, mehr oder minder ausdrücklich zum Eigentümer des Bauernlandes. Tatsächlich begegnet uns aber zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine große Verschiedenheit der Gestaltungen dieser Rechtsverhältnisse innerhalb des heutigen deutschen Reichsgebiets. Und zwar muß man, auch nach den tiefgehenden archivalischen Forschungen, die während der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts eine umfassende Literatur des Gegenstandes begründet haben, annehmen, daß schon die ursprünglichen feudalen Verhältnisse, je nach Zeit, Ort und Art der Belehnung und Verleihung von Hoheitsrechten, verschieden gewesen sind. So schwer es nun auch ist, hier eine durchgehende Einteilung zu gewinnen, so können doch zwei große Haupttypen unterschieden werden. Der eine Haupttypus bezeichnet die Gegenden, wo Bauer und Ritter von altersher in der M a r k zusammensaßen und wo die überlegene Gewalt des Königs als Heerführers sich zu einem Verfügungsrecht über das unaufgeteilte Land verdichtet hatte. Mit diesem Verfügungsrecht belehnte er seine Dienstmannen, die wiederum, wo Neubruch stattfand, ihre Leute als Hintersassen auf solchem Lande ansiedelten, für diese wird dann der Grundherr auch Leibherr, sie sind ihm „leibeigen"; aber auch die Bauern sind zum großen Teile von ihm abhängig, er ist ihr Lehensherr geworden, nachdem sie, um des Heerbannes ledig zu werden, auf die Freiheit ihres Eigentums verzichtet haben. Der Grundherr, zumal wenn er von seinem Landesherrn auch mit der niederen Gerichtsbarkeit belehnt worden, strebt danach, aus seinen Untergehörigen, obgleich sie nicht nur sehr verschiedene Besitzgrößen haben, sondern auch zu verschiedenem Rechte sitzen, eine gleiche Masse von Untertanen zu machen. Dazu half seit dem fünfzehnten Jahrhundert das römische Recht, das neben anderen Ursachen die Revolten veranlaßte, die wir als Bauernkrieg bezeichnen. Indessen blieb doch das Herkommen mächtig genug, die Bauern als Bauern zu erhalten, wenn sie auch in einigen Gegenden zu Zeitpächtern herabgedrückt wurden; auch dann war die in Geldbeträge verwandelte Rente mehr durch Gewohnheit als durch Konkurrenz bedingt und wurde nur durch gewohnheitsmäßige Lasten, die Symbol einer persönlichen Abhängigkeit blieben, ergänzt und erschwert. Tatsächlich kam das Verhältnis der in anderen Gegenden üblich gewordenen Erbpacht nahe, auf deren Gestaltung der römische Begriff der Emphyteuse zu Gunsten der Bauern 38 Emphyteuse:

(griech.) Erbpacht, erst in spätrömischer Zeit entstanden.

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wirkte. Das Interesse der Landesherrn an steuerfähigen, eventuell auch heerbannfähigen Bauernhöfen, und ihre eigene Politik auf den Kammergütern, wirken den Interessen der Grundherren entgegen; die Rittergüter bleiben klein, bestehen zumeist aus Streuhufen und bringen es selten zur Arrondierung. — Der andere Typus ist der jüngere des Koloniallandes östlich der Elbe. Hier ist zunächst der große Unterschied, ob die Bauern selbst Kolonisten sind oder ob sie unterjochte, zumal nach stattgehabten Revolten bezwungene Ureinwohner sind. Im ersten Falle gibt es ursprünglich Bauern mit bestem Besitzrecht, praktisch fast freie Bauern, wie die Kölmischen in Preußen. Zum großen Teil — namentlich in der Mark — werden aber auch diese Bauern dadurch herabgedrückt, daß die Grundherren von vornherein größeren arrondierten Besitz haben und daß sie, dem geldbedürftigen Landesherrn ökonomisch überlegen werdend, die ganze Polizei- und Gerichtsgewalt von ihm erhandeln, so daß sie dadurch fähig werden, Bauern willkürlich zu entsetzen, wüste Stellen unbesetzt zu lassen und einzuziehen, die herkömmlichen gemessenen Dienste ins Ungemessene zu steigern; endlich auch durch Auskauf ihre Gutshöfe zu vergrößern. Alle diese Praktiken finden aber vollends ungehemmt da statt, wo die Bauern Ureinwohner sind, und gar nicht in der Lage, irgendwelches Recht an dem Lande, das sie als ihr eigenes bebauen, geltend zu machen, also von der Gnade und Ungnade der Herren völlig und in jeder Hinsicht abhängig. Die Landesherren, das heißt vorzugsweise die brandenburgisch-preußischen Fürsten, kämpfen auch in diesen Gegenden zwar wenig gegen die Unterdrückung, aber doch gegen die Vernichtung der Bauern; mit wechselndem Erfolge, mit durchgreifendem nur soweit sie im Domanium modernere bäuerliche Zustände, teils mit Zeitpachten — unterbrochen durch ein Experiment der Erbpacht — der Bauern selber, teils größerer Pachtunternehmer einführen, denen gegenüber die Bauern dann in ihrem Besitze geschützt werden, der auch hier, größtenteils unerblich „lassitisch", der Zeitpacht nahekommt. Wenn man die ökonomische Entwicklung des grundbesitzenden niederen Adels mit wenigen Strichen allgemein zeichnen will, so muß man 10 die Kölmischen:

In O s t p r e u ß e n freie Bauern (seit d e m 17. J a h r h u n d e r t ) mit meist größe-

rem G r u n d b e s i t z , n a c h k u l m i s c h e m Recht w ä h r e n d der O r d e n s z e i t angesiedelt. 3i „lassitisch":

Die Lassen, Lassiten (Liten, Laten, Leten) b e t r e f f e n d ; im altgermanischen

Recht die Halbfreieri (dienst- u. zinspflichtig), im Mittelalter Verschmelzung der Lassen mit den freien Hintersassen sowie den auf einem Hof angesiedelten Unfreien zu einem Stand; östlich der Elbe die d e m G u t s h e r r n f r o n - u n d steuerpflichtigen Bauern.

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sagen: er war mehr und mehr aus einem Objekt ein Subjekt der Volkswirtschaft geworden. Objekt der Volkswirtschaft war er als Renten- und Dienstempfänger. Ob der Ritter selber für eigene Rechnung einige Hufen, die ihm als Allod oder dem Dienstmanne des Fürsten nach Lehnrecht eigentümlich waren, bewirtschaften ließ, oder ob er hörige Bauern auf allen sitzend hatte, ob sie der Feldgemeinschaft unterworfen oder der Emunität teilhaft geworden, ob er mehr oder weniger Hintersassen, das heißt ihm auch als Leibherrn unterworfene (leibeigene) Leute in der gemeinen Mark, auf die sich seine vom Könige oder andern Fürsten verliehene Grundherrschaft wesentlich bezog, angesiedelt hatte — das alles hat wohl für die Entwicklung, für die Übergänge Bedeutung; aber für das Wesen jenes Unterschiedes keine. Die prinzipielle Umwandlung des Verhältnisses geschieht in der schärfsten und deutlichsten Weise dadurch, daß der Grundherr Gutsherr wird, das heißt in einem landwirtschaftlichen Großbetriebe einen möglichst hohen Reinertrag, als Ergebnis seiner (wenn auch nur formell seiner) wirtschaftlichen Tätigkeit zu gewinnen versucht. Jene Umwandlung geschieht aber, wenngleich in minder scharfer und deutlicher Weise, auch dadurch daß der Grundherr seine grundherrlichen Rechte bewußter und planmäßiger Weise zu seinem dauernden ökonomischen Vorteil auszunutzen und auszudehnen beflissen wird, sei es, indem er aus Anwendung des Begriffes der Pachtung auf die bäuerlichen Besitzrechte, mit mehr oder weniger historischem oder förmlichem Rechte, die ökonomischen Konsequenzen zieht; oder auch indem er die mit seinen Herrenrechten konkurrierenden Gemeinderechte verkleinert, und die ursprünglichen Befugnisse aller freien Markgenossen sich allein vorbehält und zur Geltung bringt. In dieser Hinsicht war es vorzugsweise Gebrauch und Mißbrauch des Jagdrechts, was zur Lebenslust der herrschenden Klasse — des Adels — gehörig, der Untertanen Klasse — den Bauern — im höchsten Maße verhaßt wurde. Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nahm es derartig zu, daß „Land und Volk unter der Last der Jagdbeschwerungen' zu ersticken drohte." „Der durch den hohen Wildstand verursachte Wildschaden an Feldfrüchten brachte die Landbevölkerung in einzelnen Gegenden geradezu zur Verzweiflung." Es ist bekannt, wie auch in der schönen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts der Unwille über diese Plackereien sich reflektiert. Lange vor der Volksbewegung des Jahres 1848 lebt er wieder auf und

7 Emunität: Gemeint ist Immunität im Sinne von Dienst- und Abgabefreiheit. 34 „... zur Verzweiflung": Vgl. Endres, 1892: 542.

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hat stark dazu beigetragen, die revolutionäre Stimmung dieser Zeit auch über das platte Land auszubreiten. Es handelte sich hier nicht um große ökonomische Vorteile der Herren, aber um große Schäden für die Abhängigen, um so empörender, da sie den Preis für bloße Liebhaberei und Leidenschaft jener bildeten. Die jüngere (römisch-rechtliche) Theorie, die das Wild als herrenlose Sache und auf Grund dessen das Jagdregal behauptete, hätte, wenn sie durchgeführt worden wäre, wenigstens die Konsequenz haben müssen, daß die Herren für Ausübung der niederen J a g d (die hohe wurde mehr und mehr den Fürsten vorbehalten) einer Steuer oder Abgabe wären unterworfen worden. Aber wie sie von allen Gemeinde- und Staatssteuern sich freizuhalten wußten, so auch mit seltenen Ausnahmen von dieser Belastung. — In eigentümlichem Verhältnis zu diesen ausgedehnten Eigentums- und Herrenrechten stand nun die regelmäßig damit verbundene, daher auch erbliche Ausübung obrigkeitlicher Befugnisse in niederer Gerichtsbarkeit und niederer Polizei; man kann auch die Landstandschaft da, wo sie irgendwelche praktische Bedeutung behalten hatte, dazu rechnen, wenn es sich auch nicht oft um eigentliche Gesetzgebung dabei handelte. Diese Befugnisse konnten einerseits als amtliche, daher zugleich als Obliegenheiten und Pflichten aufgefaßt werden, und jene Herrenrechte, soweit sie nicht solche eines klaren und unbestrittenen Privateigentums waren, als Äquivalent, womit diese Quasi-Beamten öffentlich-rechtlich bezahlt wurden. In Wirklichkeit aber mußten die amtlichen Befugnisse selber als Erweiterung und Verstärkung der Herrenrechte erscheinen, sie waren nichts weniger als eine Last, vielmehr ein Privileg und Benefiz von hohem Werte für das Privatinteresse der Grund- und Gutsherren. Sie bildeten ein Zubehör des Privateigentums am Grund und Boden. Dieses selber freilich war noch nicht seinem Wesen nach pflichtenlos; insoweit es verbunden war mit der Herrschaft über „untertänige" Leute, so involvierte es nach Herkommen und Gesetz die Pflichten, die sonst von den Familien- auf die Gemeindeverbände übergegangen waren: also die Armenpflege und was damit zusammenhängt. Man kann im allgemeinen sagen, wenn man die Gültigkeit begrenzt auf die Erscheinungen, die mit den Begriffen sich decken: Wie der Fürst erblicher Herr des unentwickelten Staates, so war der Rittergutsbesitzer erblicher Herr der unentwickelten Landgemeinde: in beiden Fällen sind die Repräsentanten sozusagen mit dem was sie repräsentieren identisch. Dies ist die günstigste Darstellung, die sich auf die Verhältnisse anwenden läßt, es entsteht aber dadurch so etwas wie eine übersinnliche Absurdität, die in dem geflissentlich immer mehr in

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den Vordergrund gestellten religiösen Charakter der Obrigkeit ihren Ausdruck fand. Perthes meint es sei „ein furchtbares Mißverständnis" des Ausdruckes „Wir von Gottes Gnaden" gewesen, daß Fürsten und Grafen daraus das Recht auf jede Handlung, auf jede Forderung, auf jedes Gebot ihren Untertanen gegenüber ableiteten und sich nur Rechte, den Untertanen nur Pflichten zuerkannten. Für die wissenschaftliche Ansicht hat diese religiöse Begründung politischer Herrschaft nur insofern Sinn und Bedeutung — außer dem historischen Interesse, das ihr beiwohnt — als der wirkliche religiöse Glaube des Volkes eine Art von allgemeinem Wollen in sich enthält, das in Wirklichkeit damals nach überwiegender Weise — trotz aller Unzufriedenheiten im einzelnen — die Legitimität und Erlauchtheit des Herrenstandes anerkannt haben dürfte. Abgesehen davon, legt aber das Leben und Wirken dieses Standes eine andere Auffassung seines Verhältnisses zum Volkskörper nahe. Anstatt, wie seinem Ursprünge nach, ein wohlernährtes Organ zu symbolisieren, das durch seine Leistungen als Teil dem Ganzen dient, wird er vielmehr einem Schmarotzer vergleichbar, einem lebendigen Fremdkörper, an dem durch Nichtgebrauch alle Organe verkümmern außer dem Bauch und den Geschlechtsorganen, um derentwillen der Parasit seine aussaugende Tätigkeit und diese allein, unermüdlich ausübt. Diese Vorstellung paßt nach ihren vollkommenen Merkmalen, nur auf extreme Fälle — daß es solche gegeben hat, und zwar in nicht geringer Zahl, darf als historisch bezeugt gelten, so mangelhaft und parteiisch auch die Kunde aller solcher Tatsachen ist. Als ein objektives Merkmal, das oft auf einen rein parasitären Charakter des Rentengenusses hat schließen lassen, ist der „Absentismus" von Bedeutung, die dauernde Abwesenheit der Herrn von ihren Besitzungen, wodurch den Bauern, Handwerkern und Kaufleuten auch die Vorteile verloren gehen, die ihnen sonst die Versorgung einer großen Konsumtionswirtschaft bringen muß. Dies Übel war zwar in Deutschland nicht unbekannt, hatte aber bei weitem nicht die Ausdehnung gewonnen, wie im Nachbarlande, wo es die große Staatsveränderung vorbereiten half. „Nur der Edelmann, dessen Vermögen unbedeutend war, lebte noch auf dem Lande" (A. de Tocqueville).

2 „ein furchtbares Mißverständnis": Vgl. Perthes, 1854: 142. 31 Nachbarlande: Gemeint ist Frankreich. 33 (A. de Toqueville): Vgl. Tocqueville, 1856: 186.

Hobbes'

Naturrecht

i Hobbes' Naturrecht: Zuerst in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1910/11, Bd. 4, Heft 2, S. 3 9 5 - 4 1 0 + 1911/12, Bd. 5, S. 1 2 9 - 1 3 6 und 2 8 3 - 2 9 3 . Vorabdruck aus „Thomas Hobbes. Der Mann und der Denker", 2., erweiterte Auflage, Osterwieck 1912, S. 2 4 9 - 2 6 5 (zuerst 1896 unter dem Titel „Hobbes. Leben und Lehre", Stuttgart); vgl. T G 3.

Z,ur naturwissenschaftlichen Zweite

Gesellschaftslehre

Nachlese

i Z u r naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Z w e i t e Nachlese: Zuerst in: J a h r b u c h für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 1 9 1 1 , 3 5 . J g . , 1. H e f t , Leipzig (Duncker &C H u m b l o t ) 1 9 1 1 , S. 3 7 5 —396. Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken. Erste S a m m l u n g , J e n a (Fischer) 1 9 2 5 , unter dem T i t e l : Die Anwendung der Deszendenztheorie auf P r o b l e m e der sozialen Entwicklung. Sechster Teil, S. 3 1 3 — 3 2 9 (um den Anfang und den Schluss gekürzt). Siehe dazu T G 15.

Neutralität und Politik Dankbar bin ich der „Konsumgenossenschaftlichen Rundschau" dafür, daß sie meine Aufmerksamkeit auf die jüngste Genossenschaftsdebatte im preußischen Abgeordnetenhause gelenkt hat. Denn ich war um die Zeit (Ende Februar) nicht in der Lage, mehr als flüchtig vom Inhalte der Zeitungen Kenntnis zu nehmen, und ich finde nun, daß die unfeine Art, wie der nationalliberale Abgeordnete Dr. Schröder die „Arbeiterkonsumvereine" angegriffen und dem Handelsminister zur Überwachung empfohlen hat, wohl noch eine besondere Antwort verdient, außer derjenigen, die ihr schon in der „Rundschau" zuteil geworden ist. Schon das Epitheton, mit dem dieser Landesrat, der als Beamter wissen sollte, was er sagt, wenn er es als Abgeordneter nicht weiß, seine Erwähnung unsrer Konsumvereine einführt, entspringt einem mangelhaften

Wahrheitssinne,

böswilliger,

denunziatorischer

Absicht

und

schlechthin arbeiterfeindlicher Gesinnung. Wie viele Mitglieder der Konsumvereine des Zentralverbandes politisch in der sozialdemokratischen Partei organisiert sind, weiß ich nicht, weiß auch Herr Dr. Schröder nicht. D a ß die Mehrzahl dieser Mitglieder zur sozialdemokratischen Wählerschaft gehört, ist sehr wahrscheinlich, ja gewiß, weil eben die industrielle Arbeiterklasse, besonders die der großen Städte, das Hauptkontingent zu den Mitgliedern dieser Vereine stellt, und weil diese bekanntlich ihren politischen Ansichten und Bestrebungen im Sinne jener Partei Ausdruck zu geben pflegt. Ebenso gibt es wirtschaftliche Vereine, Genossenschaften und andre, von deren Mitgliedern man mit größter Bestimmtheit wissen kann, daß sie mit wenigen

1 Neutralität

und Politik:

Zuerst in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau. Organ des

Zentralverbandes und der Großeinkaufs-Gesellschaft deutscher Konsumvereine, 1911, 8. Jg., Nr. 15 (15. April 1911), S. 2 1 8 - 2 2 0 , Hamburg (Verlagsanstalt des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine von Heinrich Kaufmann Sc Co.) 1911. Tönnies bezieht sich hier auf eine Diskussion über die politische Stellung der Konsumvereine im Besonderen und des Genossenschaftswesen im Allgemeinen. Der nähere Kontext erhellt sich aus den folgenden Anmerkungen. 4 Abgeordnetenhause:

37. Sitzung vom 27. Februar 1911 anlässlich der Debatte über den

Etat der preußischen Handels- und Gewerbeverwaltung. 8 Handelsminister:

Reinhold von Sydow (1909—1918).

Neutralität und Politik

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Ausnahmen ihre Stimmen bei politischen Wahlen für den konservativen oder den Zentrumskandidaten abgeben — und doch hat man noch nie gehört oder gelesen (ich wenigstens habe es nicht), daß in Parlamenten oder Zeitungen von konservativen Landwirtschaftsgesellschaften, von Zerairwms-Darlehnskassen geredet oder geschrieben wurde; auch sind mir in mehr als 40jähriger Erfahrung (solange habe ich Kenntnis vom öffentlichen Leben genommen) niemals „freisinnige" Kreditvereine oder „nationalliberale" Aktiengesellschaften vorgestellt worden 1 . Aber der Konsumvereine (des Zentralverbandes) wird nicht leicht Erwähnung getan, ohne daß man, d. h., ohne daß ihre Feinde ihnen das Beiwort „sozialdemokratisch" zur Charakteristik anhängen. Daß dies in ganz bestimmter Absicht geschieht, ist offenbar. Diese Vereine nennen sich ja nicht selber so, sie geben auch auf keine Weise ein sozialdemokratisches Wesen kund, sie unterscheiden sich aufs bestimmteste von der sozialdemokratischen Partei. Die Absicht kann nicht sein, dieser zu schaden, das wäre an und für sich von einem andern Standpunkt eine berechtigte Absicht; jene Partei sucht natürlich auch ihren Gegnern zu schaden. Aber wie sollte es der Partei zum Nachteil oder zur Schmach geraten, daß Genossenschaften nach ihr benannt werden? Das Gegenteil wäre eher wahrscheinlich. Nein, den Genossenschaften soll damit geschadet werden, den Arbeitergenossenschaften als solchen, diese will der Redner durch den falschen Namen, den er ihnen beilegt, diskreditieren. Das zeigt sogleich der folgende Satz: „Sie wissen alle, daß die Sozialdemokratie sich dem Mittelstande gegenüber nicht sehr freundlich verhält", und zum Beweise dafür wird eine Äußerung des früheren sozialdemokratischen Abgeordneten Peus angeführt, die sich auf die Konsumvereine bezieht: „Wie das Kleinbürgertum dabei fährt, ist seine Sache". Ich weiß freilich 1

Dies war geschrieben, ehe ich die Artikel H. Kaufmanns über die Stellungnahme der Sozialdemokratie zur Genossenschaftsbewegung gelesen hatte. Ich habe die Freude gehabt, den gleichen Gedanken darin wiederzufinden. Es ist ein Gedanke, der sich jedem Beobachter aufdrängen muß.

19 daß Genossenschaften: Im Original irrtümlich: da Genossenschaften. 24 nicht sehr freundlich verhält: Vgl. in Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8. Jg., Nr. 10 (11. März. 1911), S. 138 f. (37. Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 27. 2. 1911). 26 Peus: Vgl. die Aussage von Heinrich Wilhelm Peus, ebd., S. 138. 28 die Artikel H. Kaufmanns: Die Artikel erschienen in der „Konsumgenossenschaftlichen Rundschau", Nr. 41—52, 7. Jg., 1910, später als Broschüre u. d. T. „Die Stellungnahme der Sozialdemokratie zur Genossenschaftsbewegung", Hamburg 1911.

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nicht, ob es ähnlich erschröckliche Aussprüche nationalliberaler Abgeordneter, als der Parteigenossen des Dr. Schröder, gibt. Aber für mich bedeuten Taten viel mehr als Worte. Und das weiß ich gewiß: alles, was sozialdemokratische Abgeordnete und sozialdemokratisch denkende Genossenschafter zur Minderung oder sogar Vernichtung des Mittelstandes und des Kleinbürgertums tun mögen, ist ein Kinderspiel, eine verschwindende Größe, verglichen mit dem, was nationalliberale Abgeordnete und nationalliberal denkende Fabrikherren, Kaufleute, Bankiers, kurz Kapitalmagnaten jeden Genres, in dieser Hinsicht getan haben und fortwährend tun. Fegt gefälligst zuerst vor eurer eignen Tür, ihr nationalliberalen Redner und Landesräte! — Aber der Herr Landesrat hat noch mehr entdeckt, als jenen Ausspruch von Peus. Die Resolution des internationalen Sozialistenkongresses zu Kopenhagen! Um aber seine Zuhörer irrezuführen, will er nicht nur auf die Verhandlungen dieses Kongresses, sondern zugleich auf „die Verhandlungen des sozialdemokratischen Parteitags in Magdeburg" aufmerksam machen. „Diese Verhandlungen über die Konsumvereine verlangen dringend die Aufmerksamkeit der gesamten bürgerlichen Parteien." „Es wird das sofort klar, wenn ich Ihnen einige Sätze aus den dort gefaßten Resolutionen vorlese." Zitiert werden dann Sätze aus der Kopenhagener Resolution. Offenbar soll aber der Eindruck erweckt werden, als ob die gleiche Resolution in Magdeburg gefaßt wäre, als ob es ganz einerlei wäre, ob ein gewissenhafter Mann etwas aus Kopenhagen oder etwas aus Magdeburg herhole — „dort" hat man solche staatsgefährlichen Resolutionen gefaßt; die Zuhörer und Leser sollen denken, daß zwischen Kopenhagener und Magdeburger Resolutionen kein Unterschied sei; was der internationale Kongreß ausgesprochen hat, soll als Ausspruch des nationalen Parteitags verstanden werden. Damit wird weislich dem Einwände vorgebeugt, daß doch unmöglich die deutschen Konsumvereine für Resolutionen eines internationalen Kongresses verantwortlich gemacht werden können. Diese Konsumvereine sind von vornherein als sozialdemokratisch bezeichnet worden; „folglich" darf man sie doch wohl für mitschuldig erklären an den 13 Sozialistenkongresses:

Der Kongreß fand vom 28. Aug. —3. Sept. 1910 in Kopenhagen

statt; vgl. „Die Genossenschaftsfrage vor dem internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen", in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, Nr. 38 (17. Sept.

1910),

S. 766 f.; Nr. 39 (24. Sept. 1910), S. 793 f.; Nr. 40 (1. Okt. 1910), S. 815 f.; vgl. auch Kaufmann, 1911: 7 8 - 8 4 . 16 Magdeburg: 1911: 84 f.

Vom 19.—24. Sept. 1910; die Resolution ist abgedruckt bei Kaufmann,

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„dort" gefaßten Resolutionen — „dort bedeutete, wo die Resolution zitiert wird, Kopenhagen; in den absichtlich verwirrt gemachten Köpfen der Zuhörer und Leser soll es aber „Magdeburg" bedeuten 2 . Wär's nicht so verflucht gescheit, man wäre versucht es — anders zu nennen. Indessen Herr Schröder hat noch schärfere Pfeile in seinem Köcher. Wieder ist es der furchtbare Ausspruch eines „Genossen", der ihm dienen muß, die Arbeiterkonsumvereine an den Pranger zu stellen, den Minister für Handel und Gewerbe gegen sie aufzureizen, den Mittelstand als schwer bedroht darzustellen. „Uns", hat Herr von Elm gesagt, „ist es gelungen, die drei Bewegungen mit dem einheitlichen Geiste des Sozialismus zu erfüllen." Schauderbar, höchst schauderbar! Dem Abgeordneten Dr. Schröder flimmert es rot vor den Augen. Sollte er wohl eine Idee davon haben, was der „Geist des Sozialismus" ist? Weiß er überhaupt, was Geist ist? Hat er gelernt, was Sozialismus ist und bedeutet? Wir haben sehr vielen Grund, das zu bezweifeln. Der gewöhnliche, am weitesten verbreitete, am tiefsten wurzelnde Begriff des Sozialismus schließt als sein notwendiges und wesentliches Element die Staatstätigkeit ein — Staatstätigkeit gegen den Kapitalismus, Staatstätigkeit zugunsten der Arbeiterklasse. „Staatshilfe" war in Deutschland 1860 bis 1870 und darüber hinaus das Schlagwort, an dem der Sozialismus erkennbar war, im Gegensatze zur „Selbsthilfe", die von den Liberalen proklamiert wurde. Auch die Sozialisten wollten Genossenschaften, und zwar Produktivgenossenschaften, aber (darauf kam es an) mit Staatshilfe —, diese Forderung war es, mit der vor einem halben Jahrhundert Lassalle die deutsche politische Welt erschütterte; sehr unnötig war die Aufregung, heute lächeln wir über den Wahn, daß mit einem Hundertmillionenfonds der preußische Staat der kapitalistischen 2

Daß die Magdeburger Resolution in ganz anderm Sinne verfaßt ist, wurde in diesen Blättern hervorgehoben. Sie anerkennt wenigstens ausdrücklich, daß die Konsumvereine ihre Aufgaben selbständig und unabhängig erledigen. Die Partei versichert sie — früherer Praxis entgegen — nunmehr ihres Wohlwollens. Natürlich haben die Konsumvereine keinen Grund, dies Wohlwollen abzulehnen.

9 von Elm: Zit. in: „Die Genossenschaftsfrage vor dem internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen", in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, Nr. 40 (1. Okt. 1910), S. 815. 25 Lassalle: Vgl. „Offenes Antwortschreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Leipzig" (März 1863), in: Lassalle, o. J.: 1-39. 29 Blättern: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, Nr. 42 (15. Okt. 1910), S. 843.

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Entwicklung Halt gebieten sollte. Aber auch für den neueren deutschen Sozialismus, den das Erfurter Programm verkündet und vertritt, steht der Staat, steht der Kampf um den Staat, um politische Rechte, um den Besitz der politischen Macht durchaus im Vordergrunde; dieser wird für notwendig erklärt, um den „Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit zu bewirken". Im Gegensatze dazu haben alle Bestrebungen gesellschaftlicher Natur, die sich entfalten, ohne neue politische Rechte, neue Gesetze oder Institutionen zu fordern, die also keine Staatshilfe, geschweige denn politische Umwälzungen in Anspruch nehmen, mit dem hierdurch bezeichneten Wesen und dem historischen Begriffe des Sozialismus nichts zu tun. Man kann der grimmigste Gegner dieses Sozialismus sein und doch Bestrebungen, die darauf gerichtet sind, die Herrschaft kapitalistischer Unternehmungsformen mit den Mitteln der freien Konkurrenz und der Gewerbefreiheit einzuschränken, in der lebhaftesten Weise billigen und fördern. Ich habe früher einmal (in diesen Blättern) darauf hingewiesen, daß Herbert Spencer, der vor sieben Jahren verstorbene Weltweise, zu diesen unbedingten Gegnern des „Sozialismus" gehörte und daß er gleichwohl in der Kooperation einen definitiven Schritt der Befreiung der Arbeit erblickte 3 (er dachte dabei an produktive Genossenschaften, wußte aber wohl, daß diese von Konsumtionskräften getragen werden müssen), wobei er freilich scharf hervorhob, daß sie eine Hebung der sittlichen Qualitäten der Arbeiterschaft voraussetzt („the practicability of such a system depends on character"). Unter günstigen Umständen aber werde das Wachstum dieses Typus mit rasch zunehmender Geschwindigkeit vor sich gehen (would be increasing rapidly); denn „der kapitalistische (Spencer sagt: master-and-workman-) 3

Was Staudinger

anführt (Rundschau, 10. Dez. 1910) aus dem letztjährigen Berichte der

englischen Großeinkaufsgesellschaft ist ganz in Spencerschem Geiste gedacht und ausgesprochen. 2 Erfurter

Programm:

Auf dem Parteitag der SPD in Erfurt im Oktober 1891 verabschie-

detes Programm, in welchem die Partei sich bescheinigte, den Charakter einer „Volkspartei" anzunehmen. 15 Ich habe früher

einmal:

Vgl. „Herbert Spencer und das Genossenschaftswesen", in:

Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 1904, 1. Jg., Nr. 1, S. 3, sowie: „Ansichten und Tatsachen", in: ebd., 1908, 5. Jg., Nr. 47, S. 8 3 0 - 8 3 1 (TG 6 und 8). 27 Was Staudinger

anführt:

Vgl. Staudinger, 1910a: 988 f.; siehe auch ders.: „Reisebericht

über meine Studienreise nach England zur Untersuchung des englischen Genossenschaftsunterrichts, 29. Oktober bis 12. November 1910, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 24. Dez. 1910b, S. 1033 f., 1044 f.

Neutralität und Politik

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Typus könnte dem Wettbewerbe mit diesem genossenschaftlichen Typus nicht standhalten, weil dieser so viel produktiver wäre und so viel weniger an Aufsicht kosten würde." 4 — Umgekehrt gibt oder gab es bekanntlich entschiedene Vertreter des (politischen) Sozialismus, die das Genossenschaftswesen verachten, indem sie es als eines der „kleinen Mittel" ansehen, die gegenüber der allein wirksamen großen Umgestaltung zu Bedeutungslosigkeit verurteilt seien; und für die unmittelbare Praxis wurde als Haupteinwand geltend gemacht, daß die Verbilligung der Lebensmittel ungünstig auf den Arbeitslohn wirken müsse — nach dem „ehernen Lohngesetze". Dieser Einwand darf heute als überwunden und erledigt gelten, wenngleich er immer einige Kraft behalten wird gegenüber den Nichts-als-Konsumenten, die ihr Augenmerk ausschließlich auf Ersparnis und Wohlfeilheit, also auf „Dividende" richten, die also die Kraftentwicklung des genossenschaftlichen Wesens unterbinden; sicherlich kann ein solches System dem Kapitalismus nicht den geringsten Abbruch tun. — Allerdings finden wir nun den Namen „Sozialismus", zumal in unsrer Zeit, auch auf die Idee eines von unten, aus der Gesellschaft, anstatt vom Staat aus aufgebauten Systems ausgedehnt. Von dieser Idee aber sind wenigstens die Keime in aller genossenschaftlichen Wirtschaft enthalten. Sie ist im Prinzip von der kapitalistischen verschieden, sie tritt notwendigerweise in Wettbewerb mit dieser — die Möglichkeit ihres Sieges, ihrer Verallgemeinerung ist nicht abzuweisen —, die Entwicklung in dieser Richtung läßt sich freilich, wie jede Entwicklung, fördern oder hemmen. Wer sie als Genossenschafter zu befördern gesonnen ist, von dem kann man sagen, daß er von „sozialistischem Geist" erfüllt sei, wenn auch mittelmäßige Seelen mit diesem Worte die Vorstellungen von Umsturz, Gewalt, Schreckensregiment verbinden mögen. In Wahrheit kann freilich auch dieser Ausdruck einen allgemeineren, einen wesentlich ethischen Sinn enthalten: er bedeutet dann nichts andres als der deutschere Ausdruck „genossenschaftlicher Geist" und ist eben dasselbe, was der berühmte Philosoph als „Charakter" bezeichnete; daß die Genossenschaften nicht ohne genossenschaftlichen, also in diesem Sinne sozialistischen Geist leben und gedeihen können, ist eine von selbst einleuchtende Erkenntnis. Selbst wenn sie darauf verzichten, sich ihren natürlichen Anlagen gemäß zu entwickeln, brauchen sie doch in diesem sittlichen Sinne „sozialistischen Geist". Aber der Genossenschafter von

4

Herbert Spencer, A System of synthetiv philosophy, Vol. VIII. The principles of sociology, III. Part VIII: Industrial Organisation p. 564.

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Elm, der zugleich Politiker und Gewerkschafter ist, hat offenbar in jener Äußerung das Wort im früheren Sinne verstanden. Daher die Gänsehaut des Herrn Dr. Schröder! Schon das Wort „Geist" dürfte auf ihn befremdend gewirkt haben. Und nun gar sozialistischer Geist; einheitlicher sozialistischer Geist. Eine einzige rote Farbe ... Sie hat sich verraten, sie hat abgefärbt. Nun kann man mit Fingern darauf weisen. Der treffliche Volksvertreter weiß zwar von der „immer behaupteten sogenannten Neutralität der Konsumvereine" — nun endlich ist sie entlarvt!! Aber er hatte doch schon im Vorwege, vor aller Untersuchung, diese Konsumvereine als „sozialdemokratisch" bezeichnet; er hatte sie so genannt, als ob dieser, ihr sozialdemokratischer Charakter sattsam bekannte Tatsache wäre, die also eines Beweises, einer Entlarvung gar nicht bedürfe! — Das ist in hohem Maße charakteristisch für die geistige und sittliche Höhe solcher „Bekämpfung". Es ist leider so: sehr viele Politiker, die sich als Vertreter deutscher Bildung oder wenigstens eines hochgespannten Patriotismus gerieren, glauben sich der einfachsten Pflicht der Loyalität, nicht nur gegen sozialdemokratische, sondern gegen alle Bestrebungen überhoben, an denen die Arbeiterschaft in hervorragender Weise beteiligt ist. Sie kennen eben nichts als den Standpunkt des unerbittlichen, rücksichtslosen Klassenkampfs und kehren ihn auch da hervor, wo auf der Gegenseite dieser Standpunkt ausdrücklich nicht geltend gemacht, wo das allgemein Menschliche, das Gemeinsame des Volksinteresses, offenbar und deutlich im Vordergrunde steht. Entrüstet ruft der Redner aus: „Wo bleibt die immer behauptete sogenannte Neutralität der Gewerkschaften und der Konsumvereine?" — Welchen Sinn hat diese Frage, wenn man von vornherein zu wissen behauptet, daß die „Arbeiterkonsumvereine" sozialdemokratisch sind?! Die Antwort ist ja vorweg genommen! Die Gewerkschaften gehen uns hier nichts an, was aber die Konsumvereine betrifft, so will ich mir erlauben, dem Herrn die Frage zu beantworten. Ihre Neutralität bleibt da, wo sie immer gewesen ist, wo sie sogar immer mehr sich befestigt hat, immer tiefere Wurzeln geschlagen hat, nämlich im starken und entschiedenen Willen der Genossenschafter, in der klaren und konsequenten Politik ihrer Beamteten und Leiter, unter denen gerade Herr von Elm sich so deutlich wie möglich nach dieser Richtung hin ausgesprochen hat. 25 und der Konsumvereine:

Vgl. „Eine Genossenschaftsdebatte im preußischen Abgeordne-

tenhause", in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 8. Jg., Nr. 10 (11. März 1911), S. 138.

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Warum werden nicht dem Hause der Abgeordneten die Worte zitiert, die dieser auf dem letzten Genossenschaftstage gesprochen hat? „Die Bahnen, die wir zu wandeln entschlossen sind, bestimmen wir selbst, lassen uns von keiner andern Seite, weder von einer Partei noch von einer Gewerkschaftsinstanz unsre Richtungen, unsre Tätigkeit vorschreiben." Und doch sozialistischer Geist? Kann das ein Dr. Schröder begreifen, für den ein solcher Ausdruck „Bände spricht" (die er darum nicht zu lesen braucht)? — In Wahrheit ist da nicht der geringste Widerspruch. Nur ein völlig Unkundiger kann dies behaupten. Geist ist Denken und Wollen — was dazwischen liegt, kann man auch als Fühlen unterscheiden. Geist betätigt sich je nach den Umständen auf mannigfache Art. Der Genossenschafter kann den sozialistischen Geist nicht auf dieselbe Art und Weise betätigen wie der Politiker. Dieser, der Politiker, will den Sozialismus als eine gerechtere und zweckmäßigere Gesellschaftsordnung. Er hat — in der Idee — die Mittel zu dessen Herbeiführung in der Hand: die Gesetzgebung; möge er nun glauben, auf diese hinlänglich in den gegebenen verfassungsmäßigen Formen wirken zu können, oder möge er die Umwälzung dieser Formen für die unumgängliche Bedingung halten. — Der Genossenschafter denkt gar nicht an die Gesetzgebung, es sei denn, um sich zu wehren, wenn sie tendenziös, feindselig gegen ihn gerichtet wird. Er verlangt keine Staatshilfe, er ist zufrieden, wenn der Staat ihn in Ruhe läßt. Er kann also den Sozialismus gar nicht wollen im Sinne des Politikers; geschweige, daß er die Formen der Gesetzgebung antasten wollte. Wenn er an Sozialismus denkt, so nur in dem Sinne, daß er von einer normalen, naturgesetzlichen, d. h., aber durch redlichen Willen, durch genossenschaftliche Gesinnung und andre sittliche Eigenschaften der Menschen unterstützten Entwicklung ausgeht und hofft, sie werde jene gerechtere und zweckmäßigere Volkswirtschaft herbeiführen oder wenigstens herbeiführen helfen — wie denn in Wirklichkeit das Genossenschaftswesen schon jetzt ein Stück davon darstellt und bedeutet. Die Frage, ob wirklich mit Recht gesagt werde, es sei gelungen, die Konsumvereinsbewegung mit „sozialistischem Geiste" zu erfüllen, haben wir hier ganz aus dem Spiele gelassen. Dies kann mit gutem Grunde bezweifelt werden. Es handelt sich jedenfalls nur um die Privatäußerung 5 Tätigkeit

vorschreiben:

Vgl. Auf dem Genossenschaftstag des Zentralverbandes der

deutschen Konsumvereine vom 13. —15. 6. 1911 in Nürnberg, zit. in Kaufmann, 1911: 28.

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Schriften

eines Genossenschafters. Für Herrn Dr. Schröder spricht sie „Bände", d. h., er weiß genug. Und doch brauchte er, um das wahre Verhältnis der deutschen Konsumgenossenschaften, insbesondere derer des Allgemeinen Verbandes, zum Sozialismus kennen zu lernen, keinen Band, sondern nur das ebenso wohlfeile wie inhaltreiche Bändchen unsers Freundes Staudinger, das der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt" angehört, aufzuschlagen, um sich eines Besseren zu belehren. Daß er, wie es notwendig wäre, um zu einem wirklich begründeten Urteil im einzelnen zu gelangen, diese „Rundschau" zu lesen sich bequeme, daß er von den ausgezeichneten Artikeln des Generalsekretärs über die Stellungnahme der Sozialdemokratie zur Konsumgenossenschaftsbewegung (die jetzt auch als Buch erschienen) Kenntnis nehme, das wäre wohl zu viel verlangt von einem Abgeordneten, der einfach als Tatsache auszusprechen sich herausnimmt, es liege nur an der Landesgesetzgebung, daß die Konsumvereine sich nicht direkt in den Dienst der politischen Partei stellen. Eine Äußerung, die von einer geradezu himmelschreienden Unwissenheit in dieser Sache zeugt. Mit der Unwissenheit geht sehr oft in gleichem Schritte die Unverfrorenheit und Dreistigkeit; im gegebenen Falle folgt die Bitte an den preußischen Minister für Handel und Gewerbe, „diese Vorgänge" (welche eigentlich?) sorgfältig zu überwachen und zu erwägen, wie der bedrohte Mittelstand hier geschützt werden könne. Unterstellt wird also, daß der Mittelstand um so mehr bedroht werde, je mehr die Konsumvereine sich „indirekt" in den Dienst der politischen Partei stellen. Ein kundiger Minister hätte dem Herrn antworten können, daß nach der in dieser „Rundschau" regelmäßig kundgegebenen Ansicht die Konsumvereine durch jede Art der Abhängigkeit von einer politischen Partei (auch durch solche, die etwa gesetzlich nicht anfechtbar wäre) sich ruinieren würden. Wenn also der Ruin dieser Konsumvereine die Rettung des Mittelstandes bedeutet, so gibt es kein besseres Mittel für diese Rettung, als — die Konsumvereine sozialdemokratisch werden zu lassen; die Regierungen müßten es mit allen Mitteln befördern und begünstigen. An und für sich ist es gewiß ehrenwert, wenn man dem „Mittelstande" helfen will. Aber energischen Protest fordert es heraus, wenn so gespro4 Allgemeinen

Verbandes:

schen Erwerbs-

„Allgemeiner Verband der auf Selbsthilfe beruhenden deut-

und Wirtschaftsgenossenschaften",

1859 von Hermann

Schulze-

Delitzsch gegründet. Im Jahre 1902 wurden die Konsumvereine wegen unterschiedlicher Auffassungen ausgeschlossen, s inhaltsreiche Bändchen: Vgl. Staudinger, 1908.

Neutralität und Politik

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chen wird, als wären die Kleinhändler in Lebensmitteln der Mittelstand — wo es zugleich eine wissenschaftlich feststehende Tatsache ist, daß der Kleinhandel in Lebensmitteln „übersetzt" ist. Eine genaue Untersuchung würde ergeben, daß auch an Orten, wo keine nennenswerte Konkurrenz von Konsumvereinen, noch viel weniger von Warenhäusern, ihre Existenz „bedroht", es viele solche Kleinhändler gibt, die sich nur durch unvernünftiges Kreditgeben und durch mangelhafte Ware mühsam über Wasser halten. Warum? Sie bedrängen einander gegenseitig, die Geschäfte werden mit ungenügendem oder erborgtem Kapital, auf dem schwere Zinspflichten ruhen, unternommen, Läden in günstiger Lage sind nur gegen hohen Mietzins zu haben, und auch hier schlagen einzelne leistungsfähige Geschäfte, in kapitalsicherer, sachkundiger Hand, viele kleinere, kraftlose tot, oder, was viel häufiger ist und viel weniger nach außen hin auffällt, sie machen sie von sich abhängig. Die schöne Selbständigkeit des kleinen Kaufmanns ist zum großen Teil eine Scheinselbständigkeit. Vielfach wird ihnen das Recht und das Vergnügen gelassen, selbst zu firmieren, obgleich sie in Wirklichkeit nichts als Filialen sind. Es gibt noch eine andre Konzentration im Kleinhandel, außer der auffallenden des Warenhauses. Und hinter den Klagen über den Ruin dieses Mittelstandes steht oft — das Kapital, das ihn ruiniert hat und unermüdlich beflissen ist, ihn weiter zu ruinieren. Zum „Mittelstande" gehört auch ein großer Teil der Staatsbürger, die mehr und mehr ihres Interesses als Konsumenten sich bewußt werden und somit der Identität ihres Interesses mit demjenigen der Arbeiterklasse in dieser Hinsicht. Gerade in diesem Teile des Mittelstandes, der an Bildung dem älteren Mittelstand eher überlegen ist, als daß er ihm nachstände, gewinnt auch durch seine ideale Seite das Genossenschaftswesen viele Anhänger. Regierungen und Parlamentsmehrheiten, kurz, die herrschenden Schichten, haben alle Ursache, gerade diesen „neuen" Mittelstand durch Gesetzgebungen und Maßregeln, die dem bedrohten Mittelstand aufhelfen, sich nicht noch mehr zu entfremden, als es gerade während der letzten Jahre schon geschehen ist. Man fühlt die Absicht und — man unterrichtet sich eines Besseren. Denn die Güte und der Wert einer Sache können nicht besser in ein strahlendes Licht gesetzt werden als durch die intellektuelle und moralische Minderwertigkeit der gegen sie gerichteten Angriffe.

Der erste allgemeine Rassen-Kongreß Wer je einem Wissenschaften Kongresse beigewohnt hat — und die Auswahl ist ja für den, der nicht ganz enge Fachinteressen hat, nicht gering —, der kennt sicherlich die Rede: „Das beste dabei ist doch die Gelegenheit, daß man einander persönlich kennen lernt"; denn die Vorträge sind nicht immer interessant und die Diskussionen oft leer und ermüdend. Nun denke man sich aber einmal einen Kongreß, der dieses Sich-kennenlernen unmittelbar zu seinem Hauptgegenstande und Zwecke macht, der nichts anderes will, als daß Menschen von sehr verschiedener Art einander recht gründlich kennen lernen ... Ein solcher Kongreß soll der allgemeine Rassen-Kongreß werden, der erste seiner Art, der im Juli dieses Jahres 1911 in London tagen wird — er will das Rassen-Problem von den Rassen selber erörtern lassen, also jedenfalls nicht auf einseitige Art, er will aber auch nicht nur Wissenschaft und Erkenntnis fördern, sondern unmittelbar aus der vermehrten und verbesserten Kenntnis, so glauben die Veranstalter, werde gegenseitige Schätzung, Würdigung, Achtung ihren Nahrungsstoff ziehen, der Kongreß werde eine imposante Kundgebung für die allgemeine Menschenliebe, oder wenigstens für die Kulturgemeinschaft aller gesitteten Völker bedeuten! Wahrlich, ein großes, originelles, anziehendes Programm! In der Ausführung wird es besonders um die Beziehungen zwischen Orient und Okzident sich handeln, deren Wert und Tragweite uralt, aber gerade in jüngster Zeit durch den Beitritt Japans in die europäisch-zivilisierte Welt, durch das Erwachen Chinas, durch die mächtigen Regungen des Selbstbewußtseins im alten Indien, für alle Nationen des Westens, wenn auch 1 Der erste allgemeine Rassen-Kongreß: Zuerst in: Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für sozialethische Reformen, 19. Jg. vom 1. 5. 1911, S. 65 — 66. Berlin (Bieber). Der Rassenkongress fand vom 2 6 . - 2 9 . Juli 1911 an der Universität London statt. Da im folgenden (z.B. S. 185 — 195) der Leser weitere Artikel von Tönnies zu dieser Veranstaltung abgedruckt vorfindet, hielt es der Herausgeber für sinnvoll, im Editorischen Bericht die notwendigen Informationen über die Zusammenhänge und den Verlauf des Kongresses zusammenzufassen (vgl. S. 658 ff.). Bereits im Vorjahre hatte Tönnies sich mit dem Rassenkongress beschäftigt: „Der allgemeine Rassenkongreß", in: Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. 1910, 9. Jg., Nr. 14, 2. Oktoberheft, S. 5 4 8 - 5 5 2 (vgl. TG 8). 2 Wissenschaften Kongresse: Korrekt: wissenschaftlichen Kongresse.

Der erste allgemeine Rassen-Kongreß

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am unmittelbarsten für die britische, unermeßlich gewachsen und in das hellste Licht des Tages getreten ist. Und darüber ist doch die ältere Bedeutung nicht erloschen, die der Orient für unsere Kultur gehabt hat. Die in Europa herrschende jüngere Religion erinnert daran ebenso wie die Diaspora (Zerstreuung) der Anhänger ihrer Mutterreligion in allen Weltteilen. Im Namen des Christentums haben viele geglaubt, die Verehrer Mohammeds, andere, auch die des Moses, aus Europa hinauswerfen zu sollen oder doch zu dürfen. In den letzten Jahrzehnten dürfte eine weltbürgerliche Gesinnung so stark gewachsen sein, daß wir über solche Wünsche lächeln dürfen. Weltbürger nannten sich schon im Paris des 17. Jahrhunderts Leute, die weitgereist und etwa im damals fabelhaften China gewesen waren. Weite Reisen, heute so viel leichter, sind immer noch das am meisten energische Mittel, den Horizont des Acker- oder Spießbürgers, der anders als der Weltbürger zu denken pflegt, zu erweitern. Ein Vorgang wie der geplante Rassen-Kongreß kann aber eine Weltreise ersparen und doch ganz ähnliche Wirkungen haben. Man wird hier Inder, Chinesen, Perser, Japaner, Abyssinier, Türken, Egypter, so gut wie Vertreter aller europäischen und amerikanischen Nationen, ja auch Afrikaner aus Zululand, anschauen und hören; da die meisten englisch reden werden, aber doch wie Ausländer, so wird, wer einem langsam gesprochenen Englisch zu folgen vermag, sie auch verstehen. Neben Englisch wird Französisch die Hauptsprache, namentlich die der näheren Orientalen, sein. Aber auch Deutsch und Italienisch sind offizielle Sprachen des Kongresses. Auch rein wissenschaftliche Erörterungen werden einen neuen und erhöhten Reiz genießen. Wer wird nicht gern einen indischen Universitätslehrer über die Begriffe Rasse, Volk usw. vernehmen? oder über die allgemeinen Bedingungen des Fortschrittes je in ihren Ländern einen chinesischen Gesandten, den Präsidenten des japanischen Abgeordnetenhauses, einen türkischen Parlamentarier und einen persischen Pädagogen? einen egyptischen Richter, den vormaligen Präsidenten der Republik Haiti, einen vornehmen Indier und von Europäern den Gouverneur von Jamaica und einen Professor des Völkerrechts aus Dorpat? oder über das moderne Gewissen in Rassenfragen den Herausgeber eines Kaffernjournals, über den Neger in Amerika, den Verfasser des merkwürdigen Buches über die Seele des schwarzen Volkes, den als Nationalökonom 27 Universitätslehrer: Zu den einzelnen im folgenden von Tönnies aufgeführten „Ungenannten" siehe die Anmerkungen auf S. 185 — 195.

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und Soziologen geschätzten du Bois? Auch Esperanto wird durch seinen Erfinder, die Friedenstendenzen werden durch ihre hervorragendsten Apostel vertreten sein. Vertreten wenigstens in gedruckten Vorträgen, denn daß alle diese Personen persönlich zugegen sein werden, dafür läßt sich freilich nicht einstehen. Bunt genug wird das Bild ausschauen. Ob 5 die großen Hoffnungen, die von Weltbürgern daran geknüpft werden, sich erfüllen, mag man bezweifeln. Aber ohne Frage wird neben dem Ethnologen und Soziologen, dem Nationalökonomen und Rechtslehrer, dem Sprachen- und Religionsforscher, auch der Ethiker und Menschenfreund auf seine Rechnung kommen. Er wird für Ideen und Ideale eine 10 tiefe Anregung aus dieser wundervollen Versammlung der „Menschheit" gewinnen. Und dies kann auch für das Volksleben und für die Politik gerade der alten europäischen Nationen fruchtbare und weitreichende Nachwirkungen haben!

1 du Bois: Es h a n d e l t sich hier u m William E d w a r d B. DuBois sowie dessen Buch „The Souls of Black Folk" von 1903. 2 Erfinder:

D a s E s p e r a n t o w u r d e 1887 von d e m W a r s c h a u e r Kinderarzt L u d w i g L a z a r u s

Z a m e n h o f (1859 —1917) e r f u n d e n . Der Vortrag Z a m e n h o f s auf d e m R a s s e n k o n g r e s s t r u g den Titel „ I n t e r n a t i o n a l L a n g u a g e " (Papers 1911: 425 — 432).

Vorurteile gegen den Rassenkongreß Daß eine internationale Versammlung, die sich zum Ziele setzt, ein volleres Verständnis, freundlichere Gefühle und herzlicheres Zusammenwirken zwischen den Völkern der "Welt zu fördern, bei den Verbänden echt russischer oder echt preußischer Leute einen heftigen Widerwillen erregen werde, konnte man voraussehen. Der Leser erwarte daher nicht, daß eine Auslassung der „Post", die von Zeitungen ähnlichen Geistes nachgedruckt wurde, hier kritisiert werde. Sie war so beschaffen, daß sie selbst der ordentlichen Schriftleitung der „Post" nicht zur Last fallen dürfte, sondern einem jugendlichen Stellvertreter und der ersten Sommerhitze zugeschrieben werden mag, also auf Nachsicht Anspruch machen darf. Aber es gibt auch ernste und wissenschaftliche Männer, die ihre Abneigung gegen den Kongreß nicht verhehlen; wenigstens glauben sie, im Sinne der Wissenschaft ihm ihre Sympathie versagen zu sollen. Sie machen geltend, es handle sich um eine philanthropische Demonstration. Der Kongreß predige Harmonie zwischen den Rassen und propagiere die Anschauung, daß alle Rassen gleich, beziehungsweise gleichbegabt und deshalb gleichbedeutend für die künftige optimale Kulturentwickelung der Menschheit seien. Da Vertreter der gegenteiligen Ansicht als Vortragende nicht zugelassen seien (es solle ja alles in Harmonie ausklingen), aber doch in der anthropologischen Wissenschaft weitaus überwiegen, so sei der Kongreß weit davon entfernt, einen wissenschaftlichen Charakter zu tragen. Er habe nur einen wissenschaftlichen Anstrich; das Resultat werde sein, daß den Leuten reichlich Sand in die Augen gestreut werde. Diese Argumentation ist aus offenbaren Irrtümern zusammengesetzt. „Vorträge" sollen im Kongreß überhaupt nicht gehalten werden. Es finden ausschließlich Diskussionen statt, denen ein Band mit gedruckten Referaten zugrunde gelegt wird. Zu diesen Diskussionen wird jedes aki Vorurteile gegen den Rassenkongreß: Zuerst in: Berliner Tageblatt vom 27. 6. 1911, 40. Jg., Dienstag, Morgenausgabe, Berlin. Vgl. zum Zusammenhang eindringlicher den Editorischen Bericht, S. 661 f. 7 „Post": Eine in Berlin erschienene Zeitung, 1866 gegründet, vertrat den freikonservativen Standpunkt der „Deutschen Reichspartei" (DRP); 1874 auch von der DRP erworben; der entsprechende Artikel konnte nicht ermittelt werden.

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tive Mitglied des Kongresses „zugelassen"; die Vertreter der Ansicht, daß nur die kaukasische Rasse oder nur die Arier oder gar nur die Germanen berufen sind, die wahre Kultur zu fördern, haben dieselbe Freiheit, sich geltend zu machen, wie die Vertreter anderer Ansichten. Daß Theoretiker, die als Rassentheoretiker in jenem spezifischen Sinne bekannt sind, nicht eingeladen wurden, Referate zu verfassen, dürfte richtig sein. Andere gerade in Deutschland bedeutende Kongresse und Gesellschaften, an denen auch die hier bezeichneten Feinde des Rassenkongresses lebhaften Anteil nehmen, schränken in dieser Hinsicht die Beteiligung in viel schärferer Weise ein. Regelmäßig handelt es sich bei ihnen in der Tat um „Vorträge", die den breitesten Raum der mündlichen Verhandlung einnehmen, so daß die Diskussionen sehr bald auf zehn oder gar fünf Minuten Redezeit eingeschränkt zu werden pflegen. Hat nach Ansicht der Kritiker der Verein für Sozialpolitik, hat die Gesellschaft für soziale Reform oder hat der deutsche Wohnungskongreß darum „keinen wissenschaftlichen Charakter", weil Vertreter der Ansicht, daß die wirtschaftliche und soziale Entwickelung unseres Volkes am besten durch den ungestörten, ungehemmten Fortschritt des Kapitalismus, durch Aufhebung der Koalitionsfreiheit, Zuchthausstrafen gegen Streikführer usw. gefördert werde, noch niemals zu Vorträgen in diesen Versammlungen eingeladen wurden? Oder hat der Kongreß für innere Medizin darum „nur einen wissenschaftlichen Anstrich", weil er nie einen Homöopathen — es gibt bekanntlich solche, die äußerlich ebensogut beglaubigt sind wie ihre Gegner — zu einem Vortrage zulassen wird? Natürlich werden die Anhänger Gobineaus dagegen protestieren, mit Homöopathen auf eine Linie gestellt zu werden; aber die Homöopathen haben mindestens ebensovielen Grund zum Proteste. Offenbar haben alle Kongresse, die sich praktische Ziele setzen, nicht im allgemeinsten Sinne einen wissenschaftlichen Charakter; Fragen streng theoretischer Art stehen bei ihnen allen nicht im Vordergrunde. Es wäre daher gegen den Rassenkongreß, der namentlich die Verbesserung der Beziehungen zwischen Orient und Okzident aufs Korn nimmt, kein Vorwurf, wenn er die Erörterung so heikler Probleme wie der ver15 Gesellschaft für soziale Reform: Sie wurde 1901 als deutsche Sektion der „Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz" gegründet zwecks Sicherung und Förderung der gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Interessen der sozial gefährdeten und schwachen Schichten. 15 Wohnungskongreß: Der I. Allgemeine Deutsche Wohnungskongreß fand am 17./18. Okt. 1904 in Frankfurt am Main statt.

Vorurteile gegen den Rassenkongreß

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schiedenen Begabung der Rassen grundsätzlich ausschlösse. Das ist aber gar nicht der Fall. Daß die Referenten über Themata dieser Art auf dem Standpunkt stehen, alle Rassen seien gleichbegabt, ist mir, der ich mit der Vorgeschichte des Kongresses vertraut bin, nicht bekannt geworden. Die Draußenstehenden wissen so etwas bekanntlich immer besser. Wenn dies wirklich der Fall ist, so sind diese Meinungen eben dadurch, daß sie in den Referaten gedruckt vorgelegt werden, zur Diskussion gestellt. Was kann man mehr verlangen? „Es soll alles in Harmonie ausklingen." Gewiß. Dies ist ebenso erwünscht, wie es irgendeinem sozialen Kongreß erwünscht sein muß, daß nicht Debatten entstehen, in denen die heftigsten Parteigegensätze aufeinanderstoßen. Es muß erwartet und moralisch verlangt werden, daß auch die Vertreter ausschließlichen Rassenstolzes, die Verächter von Rassen, die sie für minderwertig halten, wenn sie in dem Kongresse zu Worte kommen, sich nicht in einem Geiste geltend machen, der die Humanität als Schwindel und Dusel behandelt und die Ethik, mit Anführungszeichen ausgestattet, als eine Summe von Redensarten, zu denen die Phraseure aller Länder ihren Beitrag liefern. Ihren theoretischen Gegnern könnte freilich die Hervorkehrung solcher Barbarei nur willkommen sein; denn sie würde die Behauptung: „wir sind Repräsentanten der höchsten Rasse und der höchsten Kultur" in einer Weise beleuchten, die den Zweifel daran zu ermutigen geeignet wäre. Die Spötter über eine „philanthropische Demonstration" sind zumeist Anthropologen, die eine medizinische Ausbildung genossen haben. In der Dresdener Hygieneausstellung las ich einen Ausspruch des Hippokrates: „Hopu men gar philanthropie, ekei kai paresti philotechnie" — „Wo Menschenliebe ist, da ist auch Liebe zur Wissenschaft und ihrer Anwendung". — Vielleicht möchte der eine oder andere der Herren über diesen Spruch nachdenken.

26 Hippokrates: in: „Praecepta", in: Œuvres complètes: 1861: 258. Genau lautet die Stelle: „men gar pare philanthropié, paresti kai philotechnié.".

Die Akademie der Zukunft Ein Gedanke, der, wie wir wissen, eine Vergangenheit, wie wir hoffen mögen, eine viel größere Zukunft hat, ist beinahe überraschend ans helle Licht der Gegenwart getreten. Forschungsinstitute! Manch kahles Gelehrtenhaupt wird aus dem Elysium über die Brille hinweg (wenn diese dort noch gebraucht wird) einen Blick auf die alte Heimat werfen und ein Hauch von Neid mag durch die blutlosen Schatten gehen. So gut haben wir es freilich nicht gehabt. Freilich das liebe Publikum meinte schon, wir hätten zu wenig Pflichten, hätten zu lange Ferien, das liebe Publikum weiß eben nicht, was es heißt: vitam impendere vero. Die Wahrheit erforschen, ihren Stoff suchen, sammeln, ordnen, trennen, verbinden, rechnen, Wahrscheinlichkeiten erwägen, Fragen aufwerfen, Probleme stellen, sie anbohren, in sie eindringen, Ursachen ergründen, mögliche Wirkungen von wirklichen unterscheiden, Versuche machen, ihr Gelingen sichern, das Experiment durch isolierende Abstraktion ersetzen, Begriffe bilden, behauen, gestalten — denken! Handeln ist leicht, denken schwer ... Der echte Denker ist auch ein echter Forscher, der echte Forscher muß ein Denker sein — wie schwer, vielleicht unmöglich die beiden Idealtypen in einem sich vereinigen mögen. Vereinigt haben sie etwas vom Wesen einer schönen Kunst an sich, einer Kunst, die freilich von den redenden wie von den bildenden Künsten weit verschieden ist: jener Kunst, in der die Wissenschaft in Philosophie übergeht. Zu dieser Kunst wie kaum zu einer anderen gehört Muße, gehört die volle Hingebung einer Person an ihre Idee, gehört, je nach dem Gegenstande, ein umfassender, oft kostspieliger Apparat, gehört eine hohe, vollkommen gesicherte, vollkommen freie Lebensstellung, gehört, wie zur reinen Ausübung jeden Berufes, die Scheidung von jedem anderen Berufe; darum ist, wenn der vollkommene Forscher sich entwickeln soll, seine Trennung vom Lehrer geboten. Und doch kann er seine Kunst lehrend mitteilen:

i Die Akademie

der Zukunft:

Zuerst in: Die neue Rundschau. Freie Bühne für modernes

Leben, 1 9 1 1 , 2 2 . Jg., S. 4 3 7 - 4 3 8 , Berlin (Fischer). io vitam

impendere

vero:

(lat.) sein Leben der Wahrheit weihen — ein Ausspruch des

Juvenal (Satiren, IV: 91).

Die Akademie der Zukunft

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als ein Meister, nicht als ein Lehrer; Jünger wird er neben sich wachsen lassen, die von seinem Geiste sich nähren, nicht Schüler mit Stoffen, die aus anderem Geiste entsprossen sind, füttern. An den englischen Universitäten vergeben manche der alten Coursen (Colleges) sogenannte research fellowships: das sind gut dotierte Stellen, die keine andere Verpflichtung auferlegen als die zu forschen und zu denken, ohne daß darüber Rechenschaft abzulegen wäre. Einen solchen Vertrauensposten der Wissenschaft hatte Isaak Newton inne. Wir dürfen sagen, daß wir dieser Einrichtung die mathematischen Prinzipien der Naturwissenschaft verdanken. Suchte nicht Kant schon nach einem Newton der moralischen Welt? Die Naturwissenschaften hatten zu jener Zeit noch mit ungeheuren Hemmungen zu kämpfen. Ihnen entgegen wirkte der Aberglaube, die Überlieferung, die Kirche und Theologie. Heute sind die Kulturwissenschaften in einer ähnlichen Lage. Ihnen wirken, außer denselben Gegnern, die Naturwissenschaften selber entgegen, gerade durch ihre erreichte Vollkommenheit und durch die ungeheure Technik, die an ihnen emporgewachsen ist. Ihnen wirken, zum Teil im Zusammenhange damit, die Gesellschaft und der Staat entgegen. Man fürchtet sich vor der Wahrheit über die Tatsachen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, wie man sich ehemals vor der Wahrheit über die Antipoden, über die Bewegung der Erde und über die anatomische Beschaffenheit des Menschen gefürchtet hat. Paulsen stellte es als selbstverständlich hin, daß jede Partei nur so viel Wissenschaft sich gefallen lasse und wohl auch fördere, als für ihre Zwecke nützlich sei. Wenn dem so wäre, so sähe es traurig aus um die Zukunft dieser Erkenntisse. Aber es gibt doch auch in jeder Partei einzelne, die da Wissenschaft höher stellen als Parteiinteressen und das gute s Isaak Newton: Newton, seit 1671 Mitglied der Royal Society, wurde 1703 zu ihrem Präsidenten gewählt. ii der moralischen Welt: In der „Kritik der praktischen Vernunft" findet sich im „Beschluß" die folgende Stelle: „Der Fall eines Steines, die Bewegung einer Schleuder, in ihre Elemente und dabei sich äußernde Kräfte aufgelöst, und mathematisch bearbeitet, brachte zuletzt diejenige klare und für alle Zukunft unveränderliche Einsicht in den Weltbau hervor, die, bei fortgehender Beobachtung, hoffen kann, sich immer nur zu erweitern, niemals aber, zurückgehen zu müssen, fürchten darf. Diesen Weg nun in Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur gleichfalls einzuschlagen, kann uns jenes Beispiel anrätig sein, und Hoffnung zu ähnlich gutem Erfolg geben."; vgl. Kant 1906: 206. 23 Paulsen:

Vgl. Paulsen, 1921: Bd. 2, 678: „ihren Index verbotener und kanonischer

Schriftsteller hat jede Partei".

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Zutrauen zu ihrer Sache haben, daß die vermehrte Einsicht unbedingt in letzter Instanz ihrer Sache zugute komme; oder die sogar die Wahrheit höher setzen als das Parteiinteresse. Eine dunkle Ahnung geht durch das neunzehnte Jahrhundert, daß die kultur- oder sozialwissenschaftliche Entwicklung für das Schicksal dieser Kultur eine steigende und zuletzt grenzenlose Bedeutung haben werde und müsse. Das ist der mit zäher Energie verfolgte Gedanke Auguste Comtes; er gärte schon lange bei den Saint-Simonisten, die wiederum an die kühnen Visionen Condorcets anknüpften. Dieser Idee stimmten um die Mitte des Jahrhunderts so anders geartete und unter sich wieder so verschiedene Geister zu, wie Stuart Mill, Huxley, Tyndall, Herbert Spencer. Und noch heute gibt es die Reste einer Comte-Gemeinde in Großbritannien. Freilich, von großen Geldaufwendungen für eine so erhabene Sache hat man nirgends bisher gehört; weder in der Heimat alten Reichtums und alter europäischer Vornehmheit, noch in den Ländern neuen Reichtums und vorwärtsstürmender Entwicklung. Die paar Institute für sozialwissenschaftliche Forschung in Paris und Brüssel (die Université Nouvelle) leiden unter Nahrungssorgen und sind einseitige Parteigründungen. Wo sind die Mäzene, die ihren Überfluß der Förderung dieser Wissenschaften dienstbar machen, ohne nach Futter für ihre Eitelkeit gierig auszuschauen? Der Nutzen der Sozialwissenschaft läßt sich in Laboratorien nicht vordemonstrieren wie die Jonentheorie und Funkentelegraphie; auch ist die Möglichkeit von Aktiengründungen wenig wahrscheinlich. Aber man nehme den tüchtigsten Köpfen, zu deren Talenten auf diesem Gebiet der Charakter gehört und die sich trotz allen Widerständen wirklich bewiesen haben (es gibt nicht viele), man nehme ihnen die Frone des Broterwerbes und den Druck der offiziellen und öffentlichen Meinungen und stelle sie auf die eigene Verantwortung: und sie werden denkend, forschend, Vorbild stiftend das neue Menschheitsgewissen konstruieren helfen. Dann erst, wenn unsere Millionäre ohne den liebenswürdigen Druck Hochgestellter für solche Akademien der Zukunft Verständnis gewonnen haben werden, wird Grund zum Jubilieren sein.

12 Comte-Gemeinde: So v. a. Richard Congreve, der 1855 in London eine „positivist community" gründete, und Frederic Harrison, der Mitbegründer der „Positivist Review", 1893.

Science and Art, Literature and the Press "Are we not right in saying that any scientific question, wheresoever it may be discussed, appeals to all cultivated nations? May not, indeed, the scientific world be considered as one body?" It was Goethe who wrote these words shortly before the end of his life, in considering the opinions of Geoffroy Saint-Hilaire, which are now so interesting as preludes to Darwinism. And in asking these questions, the great poet only expressed what was in the minds of all those cosmopolitan thinkers who flourished in the „Age of Enlightenment," or, as it is also denominated sometimes, the philosophic century. Practically, of course, it was European civilisation which they had in view, and it was the Caucasian or white race, at the most, which they considered when they spoke of the unity of mankind. Yet commerce and navigation had already reached more distant places, and, from the discovery of America down to that of Australasia, a number of adventurous and famous voyages had long engaged the strenuous attention of Europeans, and contributed to the widening of their mental horizon. This induced the more thoughtful to compare different manners and customs, superstitions and religions, and at the same time philosophers boldly undertook to formulate what they regarded as the true system of law and the true principle of religion, under the name of Natural Law and Natural Religion. They exposed the many corrupting and sophisticating influences in modern civilisation, and pleaded for a return to the pure fountains of Nature. Simplicity appeared to be the test of genuineness, and what was simple and natural was thought to be entitled to become universal. This also led them to compare different grades and states of civilised life, especially the habits of rural life with those of great cities, and the ways of rude tribes with those of nations in which art and science, wealth and luxury prevailed. They discovered, not with1 Science and Art, Literature and the Press: Zuerst in: Papers on Inter-Racial Problems, 1911, vol. 1, S. 233 — 243. London (Communicated to the First Universal Races-Congress). Vgl. den Editorischen Bericht (S. 663 — 676), der auch eine deutsche Übersetzung enthält. 4 as one body: Vgl. „Principes de Philosophie Zoologique", in: Goethe, 1902—1912: Bd. 39, 227.

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out some amazement, ancient civilisations that were very different from our own, and eagerly pointed out that they were in certain respects superior to ours. Religion itself ceased to be considered as an effective separating gulf, as if Christianity represented the summit of moral sublimity. What had long been despised or pitied as heathen ignorance turned out to contain profound wisdom from which Christians had do learn anew, as they had always learned from Greece and Rome. Thus the West turned its eyes back to the East, and China soon gave it an overwhelming impression of a long-settled and at the same time a highly refined and rational civilisation. Rationalism was the Spirit of the Age, and if philosophers recommended the Natural, it was merely because Reason seemed to them to have the mission of restoring early institutions (based upon natural liberty and equality), freeing them from prejudices and superstition, and directing them, by means of rulers imbued with just philosophical principles, toward the goal of universal peace and happiness, which was considered to be the true object of intellectual and moral progress. Voltaire and Christian Wolf both pointed to China in this spirit of admiration, while Montesquieu and others emphasised the high sociological and historical interest of the Celestial Empire. More recently, Comte and his followers took up the argument of rationalism, which made China appear to be a model of spiritual and moral government. In the meantime most of our reliable information concerning that marvellous civilisation came from a different quarter. T h e Roman Catholic Church vied with its bitterest foe, modern philosophy, in these cosmopolitan feelings and tendencies. T h e missionary interest became a powerful stimulus to the thoroughgoing investigation of peoples who showed so little inclination to abandon their own faith and moral code in favour of those of Europe. However, it is much to the credit of the Jesuit fathers, at first Portuguese and Italian, aferwards chiefly French, that they succeeded in adapting themselves to Chinese manners and customs, even to their religious ceremonial, and have thus been able to gain a deeper 18 Voltaire:

„Essai sur les mœrs et l'esprit des nations" (1752 ff.), v. a. aus der „Introduc-

tion": „De la Chine" sowie Kap. I u. II, Œuvres complètes 1878a: Bd. 11, 54 ff., 1 6 5 - 1 8 1 ) ; vgl. auch „Dieu et les hommes" (1769), Œuvres 1878b: Bd. 28, 1 3 5 - 1 3 7 . 18 Christian

Wolff:

Vgl. „Oratio de Sinarum philosophia practica" (Rede über die prakti-

sche Philosophie der Chinesen) von 1726. 19 Montesquieu: 21 Comte:

Vgl. dessen „Geist der Gesetze", X I X . Buch, Kapp. 10, 13, 16—20.

Vgl. Comte, 1 8 5 1 - 5 4 : v. a. IV, 5.

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insight into the true foundations of such habits and customs, a knowledge which they eagerly communicated in a series of elaborate works, to the amazement of Europe. They became the teachers of Europe with respect to China, as, in the character of apostles of science, according to M . Martin, they had obtained a footing in Peking. Protestant missionaries have followed them in their design of bringing the growing science of the Western world to bear on the mind of China. On the other hand, European knowledge of China has constantly increased. Since the great geographical, historical, chronological, and political description of China and Chinese Tartary of Jean Baptiste du Halde appeared in 1733, preceded as it was by Magilhaens, le Comte, and Silhouette, and followed by the memoirs of the missionaries of Peking concerning the history, the sciences, the arts, the customs and usages of the Chinese, an enormous literature has grown up relating to these subjects, and Europeans are now able to pass a tolerably catholic judgment upon the character and achievements of that immensely numerous and profoundly remarkable nation, the knowledge of which had, in the words of Sir Robert Douglas, been so long confined to misty legends and uncertain rumour. What has been said of China applies also to some extent to Japan. However, the difference between the greater and the smaller empire is sufficiently known. T h e rise of Japan to the rank of a modern nation, its Europeanisation, has become famous as one of the most memorable events of the last century. T h e growth of learning, which had been considerable in the two previous centuries, preceded this marvellous development. Japan has adopted the science and the technical achievements of Europe with a striking rapidity and with an astounding success. But we are now facing a fact which in its consequences will perhaps far surpass even the glorious ascent of Japan. T h e awakening of China now engages the attention of all careful observers of the East. Some years ago, just before the outbreak of the Boxer movement, Sir Alfred Lyall, in contradiction to other writers, hinted at the possibility that the Japan5 Martin: Vgl. Martin, 1847: vol. 1, 463 ff. 1« Robert Douglas: Vgl. Douglas, 1904: 4. 31 Boxer movement:

Erhebung der Geheimorganisation 'k'üan-fei' ( = Boxer) im Jahre

1900 gegen die Mandschu-Dynastie und gegen den Einfluss ausländischer Mächte in China. Der Aufstand wurde durch ein internationales Expeditionsheer niedergeschlagen. 3i Alfred Lyall-. Vgl. Lyall, 1899: 377 f., 385, 386 f.

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ese war, which he recognised as a turning-point in Chinese history, might lead toward a revival instead of decadence or distintegration. A few years later, after the humiliation which China experienced from the European Powers, Sir Robert Hart, one of the few Europeans who know the Celestial Empire by their own long and careful observation, effectively pointed to the „other school of thought." It was, he said, in a very small minority, „but it is growing, it accepts facts, recognises what makes for change, opens its eyes to the life of other lands, asks what can be introduced from abroad and grafted on Chinese trunks, and ceases to condemn novelties simply because they are new, or to eschew strange things merely because they are foreign." It was at that very moment that the Empress Dowager decided to press reform, and that the edict was sent out which said that what China is deficient in can be best supplied from what the West is rich in. Tsu Hsi, it is true, has since disappeared together with the nominal Emperor, but the trend of the movement has not changed. It has, on the contrary, much increased in strength, and it seems to be on the eve of victory. Its most conspicuous element, no doubt, is the demand for scientific improvement, which inspires young China with a sense of rivalling not only Japan, but proud Europe itself. Higher education is the watchword of the day in the Far East, as much as in the United Kingdom or the German Empire. Swarms of Chinese students go yearly to Japan, whose European civilisation and learning are communicated to them; but smaller numbers also go to Europe, mostly for the sake of medical instruction, which is more and more appreciated by Eastern people. Chinese students, we understand, may now be numbered by hundreds in Europe and America, and by thousands in Japan. However, the results of foreign education have not been altogether satisfactory hitherto to Chinese ambition. It seeks to establish Chinese seats of Western learning, but there are serious obstacles to be overcome. 1 Japanese

war: Bezieht sich auf d e n Krieg J a p a n s gegen C h i n a 1894/95, aus d e m J a p a n

im Frieden von Shimonoseki 1895 siegreich hervorging: A b t r e t u n g F o r m o s a s und der Pescadores-Inseln an J a p a n , A n e r k e n n u n g der U n a b h ä n g i g k e i t Koreas d u r c h C h i n a . 11 because

they are foreign:

12 Empress

Dowager:

Dieses Z i t a t k o n n t e nicht verifiziert w e r d e n .

Die Kaiserinwitwe Tz'u hsi (Xiaoqin bzw. Cixi), G a t t i n Hsien-fengs,

des 7. Kaisers der M a n d s c h u - D y n a s t i e , der 1861 s t a r b , w a r n a c h d e m Staatsstreich von 1 8 6 0 / 6 1 b e s t i m m e n d e Persönlichkeit in C h i n a , seit 1875 Alleinherrscherin. 1898 Inszenierung eines Staatsstreichs, als Kaiser Kuang-hsü (seit 1875), ihr N e f f e , M o d e r n i s i e r u n g s m a ß n a h m e n zu ergreifen suchte.

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A genuine Chinese degree, as was lately pointed out in the Contemporary Review, does not seem likely to carry weight in European or American minds. It is doubted, with good reason, whether there can be for some time a sufficiently numerous body of educated Chinese to guide the destinies of such an institution as a Peking University of Western science would pretend to be. On the other hand, mandarin pride would justly scorn the idea of foreign control. It is on this account that lately the project of a Hong Kong University has been mooted, and a man of authoritative position in England has declared that this project promises an intellectual development for which there is no precedent. Already a vast sum has been raised for the carrying out of this project, and a very considerable amount of it is due to the Chinese themselves, who are said to have taken up the idea with enthusiasm. If it should prove successful, we may reasonably expect to see the sphere of material and moral influence of the British Empire considerably enlarged; for it would help to make English the language of diplomacy and general culture in the far East, as it is already that of commerce. No wonder, then, that the British Government, especially the Colonial Office, approves the scheme and is active in promoting it. The present Governor of Hong Kong is amongst its chief supporters. Hong Kong has the finest position in the world as a shipping port. The project may be said, then, to rest upon broad shoulders. „Ex occidente lux," the learned Taw Sein Ko proclaimed some time ago, and it was the fact that schools and colleges were springing up all over the Empire which gave him the hope that the real awakening of China had begun. More recently the High Commissioner, Tuan Fang, addressing the Mission Boards at New York, congratulated the American missionaries on having promoted the progress of the Chinese people. They had borne, he said, the light of Western civilisation into every nook and corner of the Empire. The Chinese being a polite and ceremonious i Chinese s Hong

degree: Kong

Vgl. „A Chinese Cambridge-Man", 1908: 666—678.

University:

Die Grundsteinlegung erfolgte im März 1910, der Studienbe-

trieb wurde im Jahre 1912 aufgenommen. 19 Governor

of Hong Kong:

Sir Frederick John Dealtry Lugard, Gouverneur 1907—1912,

setzte sich v. a. für Erziehungsreformen ein (Universität). 22 Taw Sein Ko: Vgl. Taw Sein Ko, 1898: 68. 25 Tuan Fang: Der Gouverneur Duan Fang (so die heutige korrekte Schreibweise), der für eine moderate Reformpolitik eintrat, war 1906 zusammen mit drei anderen Gouverneuren auf Studienreise in den USA und in Europa. Ergebnis dieser Reise war die Denkschrift „Lieh-kuo cheng-yao, 133 chuan", die die Einführung eines konstitutionellen Regierungssystems in China empfahl. Fangs Ausspruch war nicht nachweisbar.

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people, even one of the leaders of the progressive movement may have pronounced these words merely in a complimentary sense. It is well known that they generally desire the dismissal of foreign missionaries; but this certainly would not imply the dismissal of foreign learning. European science and technical efficiency will increase their sway in China as they have done in Japan. But how will they develop in these countries? Will they advance to higher summits? Will these Orientals with their undisturbed freshness of mind surpass us in the spread and application of science? Will they wind through all the mazes of a capitalistic evolution which involves such grave problems for us? Or will they be better able than we to rule the spirits which they have evoked? Not unlike China and Japan and the smaller nations dependent upon them, with respect to remoteness from European culture, India widely differs from them in several conspicuous traits. In the first place, it has never been entirely unknown to the Western world. All through the socalled Middle Ages the channels of trade went along wild deserts from India to the ports of the Levant, and thence to Venice and the rest of the Italian cities on the Mediterranean, which were the commercial intermediaries for the greater part of Europe. Of course, only the most precious commodities were able to bear the cost of that long, slow, and dangerous journey. India's legendary wealth gave the spices of a tropical climate and the products of a highly refined domestic art to Europe, from which, in its turn, it generally received silver as the instrument of trade. By the fall of Constantinople this channel was blocked, and as a result European commerce sought to discover the maritime route to that fabulous country. The name of the West Indies still reminds us of some of the results of that struggle. Nevertheless, in spite of these early commercial arrangements, India remained up to a recent period almost like China and Japan, hidden under a veil of mystery. It was the British administration only which presently endeavoured to lessen the general European ignorance of that great region which, no less than Europe itself, includes a multitude of different countries. And, as was stated with respect to China, so in the case of India, it was admiration, based upon very imperfect knowledge, which took precedence of more thoroughgoinig research and discriminating investigation. In this case, it was a special admiration, having a certain definite tendency which became almost traditional. The religions of India, and the philosophies so closely allied to them, were from the eighteenth century downwards increasingly made known to European students, and struck some of them with

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awe. But, in this case, it was not the rationalist tendency, prevading as it did the century of enlightenment, but the romantic reaction against the prevalence of stern and cold intellectualism, that was at the bottom of the singular interest, an interest which, more particularly from the dawn of the nineteenth century, made India so attractive to scholars, filling the hearts of poets, philosophers and historians with an enthusiasm that saw an almost supernatural wisdom in the early records of Sanscrit learning, and sometimes dreamed of the aboriginal model-people, compared with which all the later civilisations only represented deterioration and decay. T h e glorification of the dead past led to a predilection for those living at a distance, both tendencies being deeply rooted in human nature. If not the cradle of the human race, which still, even by the majority of the learned, was located in the Holy Land, yet the original seats of the Aryans were supposed to be about the Himalaya Mountains. T h e comparative science of languages established the identity of Sanscrit roots with those of the Hellenic, the R o m a n , the Teutonic, Slav and Celtic tongues. Even in M a x Miiller's time there was, as he justly maintained, a vague charm associated with the name of India, if not in the country of its rulers, at least in France, Germany, and Italy, and even in Denmark, Sweden, and Russia. T h e eminent Orientalist pointed to Riickert's „Wisdom of the Brahmin" as one of the most beautiful poems in the German language, and observed that a scholar who studies Sanscrit was supposed to be initiated into the deep and dark mysteries of ancient wisdom. A certain amount of this reverence still survives. In Germany, at least, the disciples of Schopenhauer, among whom the name of Professor Paul Deussen must be mentioned with respect, consider the Vedanta Philosophy and the Upanishads as the earliest sources of that eternal truth concerning the Essence and the Destiny of mankind which has, according to them, found its recent prophet in Kant, and is more fully revealed through Schopenhauer's interpretation of the world. T h e Pantheistic trend of modern philosophy, in fact, recalls the Pantheism which pervades India. Somebody said about the middle of the last century that Pantheism is the secret religion of the educated German. It may be said to be the professed religion of the educated Hindu. And as Pantheistic thinkers always had a bent towards mysticism, and mystic thinkers frequently towards occultism, it is not surpris-

17 Max

Müller's:

32 Pantheism:

Vgl. Müller, 1859: 2.

Vgl. Heine, 1890: 2 2 4 .

170

Schriften

ing to observe that our spiritualists and so-called theosophists should turn their eyes again to the sacred East and to the valley of the Ganges, regarding with awe a revelation of hidden mental treasures which they sometimes think they discover in what is called esoteric Buddhism or the Light of Asia. Genuine Buddhism has also recently gained a growing number of adherents both in Europe and in America, and it also has had an intense revival in India itself, as witness the Maha-Bodhi Society of Calcutta. However, apart from these religious and metaphysical aspects, the prestige of early Indian culture has given way to cool and critical investigation of the country and its inhabitants, of its past and present, including forecasts of its probable future, to a careful research of its manners and customs, of its law and administration, its religious and philosophical systems. It is thus that India has contributed largely to certain famous generalisations which have become permanent elements in that characteristically modern (though ancient in its groundwork) science called Sociology. „India," said Sir Henry Maine, as early as 1875, „has given to the world Comparative Philology and Comparative Mythology"; he was uncertain how to denominate another science, which owes so many valuable suggestions to himself, hesitating to call it Comparative Jurisprudence, „because, if it ever exists, its area will be so much wider than the field of law." I do not believe that there is good reason to object to the name of comparative sociology, though this would mean the investigation not merely of the early history, the evolution and present state of laws and of institutions, but of social life generally, including as it does the consequences of native propensities, of habits and customs, of orignal and acquired ideas and beliefs. Social life as a problem is the problem of the moral life, which, to a large extent, means the peaceful life of a people. It cannot be understood, except by those who possess a true insight into the mutual action and reaction of material conditions and spiritual conceptions, both of which concur in ruling the destinies of mankind. India also is said now to be awakening. We heard a great deal lately of Indian unrest. It is no part of my task to enter into the political side of this remarkable movement. Mentally and morally its significance

8 Maha-Bodhi Society: Diese wurde 1891 von dem ceylonesischen buddhistischen Mönch Dharmapala gegründet, um die heiligen Orte der buddhistischen Religion zu bewahren und den Buddhismus zu propagieren. 16 Henry Maine: Vgl. Maine, 1875: 39.

Science and Art, Literature and the Press

171

seems to be expressed by the fact that the idea of progress has begun to shake the fundamental axioms which have hitherto been upheld steadfastly by nearly all the Orientals, embodying, as they do, the idea that the past, as such, is venerable, that tradition must be followed, that men can never do better than follow the morals set by their ancestors. Exponents of the principle of progress are generally apt to look disrespectfully upon the past, and to forget the truth that survival is a test of strength and validity, that organic structures have generally grown fit by selection and by the struggle for existence, and that this holds, to a large extent, as well of social as of individual organic life. Yet life itself means change; and a more radical change means a more vivid thrill of life, a fresh adaptation to novel circumstances and conditions. It is that principle of progress, as Sir H. Maine pointed out, which Englishmen are communicating to India; they are passing on what they have received. „There is" — with these words he concluded his memorable Rede Lecture, delivered before the University of Cambridge — „no reason why, if it has time to work, the principle of progress should not develop in India effects as wonderful as in any other of the societies of mankind." We have already begun to see some of these wonderful effects. India is fast Europeanising, formidable as are the obstacles put in the way by its ancient Brahminic culture. Already we find the question raised of the emancipation of caste (meaning the elevation of the low-caste people), of the emancipation of women, emancipation of social usage from custom and superstition. University teaching has the effect of a dissolvent agency. Whether, as a whole, it may be deemed good or evil, the movement will prove irrevocable and irresistible in the long run, no matter what strong reactions it may temporarily encounter. All good Europeans will assuredly always look with admiration upon India's mental and moral treasures; they will be prepared to adopt portions of them from the inhabitants of that admirable country, and they will be ready to welcome Hindu people whenever they may be anxious to participate in our own marvels of scientific and technical advancement. O f course, this maxim holds for all races of the human family. Hitherto we have only spoken of the remote East which has been the object, more or less, of recent discoveries and Occidental influences, but which is still imperfectly known even by our own most thoroughgoing scholars. Far different are the relations of Europe to the nearer parts of 13 Maine pointed

out: Siehe Maine, 1875: 39.

172

Schriften

Asia and to the North of Africa, the historical character of which is decidedly Oriental. The roots of our own arts and sciences lie in these regions. For the most precious elements of European culture have developed in Greece, and Greece was the pupil of Egypt and of Asia, though its genius far outshone that of its teachers. To the Phoenicians the Western world owes the invention of letters, and Chaldasan application laid the early foundations of astronomy, Assyria generally fertilising all Semitic improvement. In the later period of the Roman Empire this allabsorbing State received a new religion, consisting of a mixture of Jewish theology and Greek philosophy or mysticism, the Cross overshadowing the Sun of the competing Mithra cult. The synagogue indeed became the model of the Christian church. The Jews have from various sources conveyed a great amount of learning from the ancient world to the modern. They have, by their astounding power of adaptation to foreign customs, languages, and ways of thinking, always been the great cosmopolitan mediators. But in the Middle Ages the influence of the Arabs became stronger and more organised, and they developed the first comparatively scientific civilisation after the fall of the Western Empire, on the Iberian Peninsula. They renewed and enlarged astronomical, geographical, and physiological observation; they promoted medical knowledge; and it was through their translations that Aristotle became known to Christians. Their own metaphysical speculations, chiefly those of Avicenna and Averroes, acted as a powerful stimulant and ferment upon medieval scholasticism. But in mathematical and inductive science also they made considerable progress; we still retain, in the names of algebra and chemistry (originally alchemy) the traces of our obligation to them. And were not the Arabs in perpetual contact with the Chinese? Did they not derive a good deal of their knowledge and of their institutions from the Persians? Were they not, with Byzantium, the co-heirs of the Roman-Hellenic civilisation, and was not Byzantium itself a foster-parent to them? D o we not find here the original unity and mutual interdependence of Oriental and Western science and art? In the fine arts, no less than in science and commerce, a peaceful contact of races has always counteracted their hostilities and hatred, because men are prone to admire what is new to them, and to regard foreign achievements as superior to their own. Foreign artists and artisans have often been invited to build cathedrals and palaces, to erect statues and to paint portraits. Great skill has always had migratory habits, and even masters have been ready to learn from masters. Commerce

173

Science and Art, Literature and the Press

spread models and imported them from abroad, styles were modified by styles — for instance, the Romanic architecture by the Moorish. Soon after the first circumnavigations of the earth, we find traces of Chinese and Japanese style in French and Italian barock architecture, and early in the eighteenth century „china" came into fashion in the courts of Europe. More recently, artistic influences have increased enormously, modern Europe being wholly receptive and fanciful in its predilections, everything Oriental appealing to the sense of grotesqueness and bizarrerie, which sometimes rises to a morbid height among people of fashion, probably no less in the East than in the West. Art, it is true, generally has a national, or at least a racial stamp; but literature, owing to its intellectual and moral bearings, is more essentially human in its character, in spite of differences of languages. It was Goethe who introduced the phrase „world-literature" into German. Following Herder, who collected the „Voices of Nations," he confessed that his early fondness for folk-lore had not vanished in old age; and in lyric and dramatic art he tried to draw from foreign sources the quintessence of everything beautiful. He invented the songs of Suleika, in imitation of Persian poetry, and of Sakontala he says that he steeped his mind for years in the admiration of it. He also mentions with high appreciation other Indian poems, and even the Chinese drama or song did not escape his attention. He declares with confidence that in this present „most stirring" epoch, when communication was so greatly facilitated, a world-literature was soon to be expected. What would he say of our time, when even in his own day he mentions journals and newspapers as a means of communication by which a nation may learn not only what happens to other nations politically, but the characters of their moral and intellectual life? And this enlarged knowledge, in Goethe's opinion, would help to increase our esteem of foreigners, we being „always apt to esteem a nation less than it deserves," because we 14 „world-literature":

Vgl. „Bezüge nach außen" (1828), in: Goethe, 1 9 0 2 - 1 9 1 2 : Bd. 38,

136: „ . . . eine Weltliteratur baldigst zu hoffen sei . . . " . 18 Suleika:

Siehe „Westöstlicher Divan. Buch der Suleika", in: Goethe,

1902-1912:

Bd. 5, 6 5 - 9 4 . 19 Sakontala:

Siehe „Indische und chinesische Dichtung" (1821), in: Goethe, 1902—1912:

Bd. 37, 210—212. „Sakuntala oder Der Erkenntnishungrige", D r a m a in 7 Akten v. Kalidasa (4./5. Jh.), das Meisterwerk des größten klassischen indischen Dichters. 30 „ ... a nation less than it deserves": 1 9 0 2 - 1 9 1 2 : Bd. 38, 204.

Vgl. „Ferneres über Weltliteratur" (1829), in: Goethe,

174

Schriften

regard only external aspects which seem to us repulsive or at least ridiculous. These words are as true now as they were when they were written, about ninety years ago. Although intercommunication has vastly grown, and opportunities have increased, although the Press now goes from one end of the world to the other, we must confess that our knowledge of each other is scanty, that current views, even of statesmen and of others w h o decidedly belong to the cultivated classes, are often narrow, that a silly nationalist pride and exclusiveness is often supported by absurd notions of foreign characters, by childish prejudices about habits and customs and ways of thinking differing f r o m our own, by antiquated opinions never tested by experience, and, generally, by ignorance. What is to be done in order to make the peaceful contact between nations and races stronger and more effective in this respect? I venture to suggest and propose the following aids to this end: — 1. A universal language ought to be created as the common language of the cultured all over the world. I do not plead in favour of any innovation, being even somewhat afraid of a purely artificial language; but I believe that Latin, the ancient lingua doctorum, might be revived in a new form. 2. We should do what we can in the way of discouraging and preventing the over-production of foolish fiction in our own language, and of promoting translations of the master-works of all the national literatures. 3. Translation itself must become a fine art and be cultivated as such. Translations are frequently done in a clumsy and unskilful way, sometimes by people w h o possess but slight grammatical knowledge of the language from which they are translating. 4. The study of foreign countries and nations ought to be encouraged by scholarships, travelling fees, and other means. An exchange of lecturing professors is worth little as compared with an exchange of students. In particular, Western students should be enabled to spend a year or t w o in the East, with a view of becoming thoroughly familiar with the languages and characters of Indians, Chinese, Japanese, Siamese, Persians, Abyssinians, or Egyptians. N o other task should be set them but this very important one. 5. An international academy of social and moral science must be founded, in order to concentrate all our studies and endeavours of this nature. It would foster those feelings of h u m a n solidarity and brother-

Science and Art, Literature and the Press

175

hood which have been taught by all the higher religions, as well as by the rationalistic and moral philosophies to which these religions o w e their superiority. 5

6. A re-organisation of the Press, with a view to its promoting kindlier feelings between nations and races through a more conscientious investigation of the true merits and peculiarities of each and a catholic appreciation of all noble endeavours towards the moral and intellectual improvement of mankind.

Soziologie und

Rechtsphilosophie

Leitsätze

i Soziologie und Rechtsphilosophie: Zuerst in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 1910/11, Bd. 4, S. 569—571. Erneut in „Soziologische Studien und Kritiken. II. Sammlung". Jena (Fischer) 1926, S. 1 6 9 - 1 7 1 ; vgl. TG 17.

[Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1843 bis 1907] Ich erörterte zunächst den Begriff des Inkrementes, auf den die Untersuchung gegründet ist, indem 1. die absolute Zahl der Eheschließungen jedes Jahres mit der absoluten Zahl des vorhergehenden Jahres verglichen und die Differenz in Pro Mille dieser letzteren ausgedrückt wird. Das Inkrement hat ein positives oder negatives Vorzeichen, mit negativem ist es = Dekrement. 2. werden ebenso die Relativziffern der eheschließenden Personen, auf 100 000 Einwohner bezogen, verglichen; hier sind aber die Differenzen unmittelbar als Inkremente resp. Dekremente verstanden, ohne Relativierung. Für die Ergebnisse würde die Relativierung keinen Unterschied machen. Die Verwendung des Inkrementes beruht auf der Voraussetzung, daß die jedesmalige Vermehrung oder Verminderung der die Eheschließungen fördernden oder hemmenden Umstände sich in einer verhältnismäßigen Zu- oder Abnahme ihrer Zahl am deutlichsten reflektieren werde, so daß die gleiche Verbesserung oder Verschlechterung bei vorausgehendem Tiefstande eine entsprechend stärkere Hebung oder Senkung bewirke, als bei vorausgehendem Hochstande, d. h. daß die gleiche absolute Mehrung oder Minderung als eine relativ größere in jenem Falle erscheine und umgekehrt. An und für sich läßt sich ein solches Inkrement ebenso gut an der absoluten wie an der relativen Ziffer messen, wenn nur im Auge behalten wird, daß ein geringes Inkrement (ca. 10 %o) bei jenen als regelmäßige Wirkung einer nach Art der Bevölkerung des Deutschen Reiches sich vermehrenden Einwohnerzahl, also einer zunehmenden Zahl von Heiratskandidaten zu erwarten ist. Die Vergleichung der absoluten Zahlen verdient den Vorzug insofern, als diese Zahlen unmittelbai /Bewegung

der Eheschließungen

in den Jahren

1843 bis 1907]:

Zuerst als Niederschrift

in: Deutsches Statistisches Zentralblatt, 3. Jg. vom 15. 8. 1 9 1 1 , Beilage: Deutsche Statistische Gesellschaft, S. 3 —6, S. 7. Leipzig/Berlin (Teubner), mit der redaktionellen Bemerkung: „Hierauf erhält Universitäts-Professor Dr. Ferdinand Tönnies das Wort zu seinem Vortrage über die Bewegung

der Eheschließungen

in den Jahren

1843

bis

1907.

Über den Vortrag hat Professor Tönnies selbst folgenden Bericht gegeben." (S. 6 7 6 f.)

178

Schriften

rere Gewißheit haben. Bei den Relativziffern sind die absoluten Differenzen hinlänglich charakteristisch, weil die normalen, durch vermehrte Bevölkerungsmenge bewirkten Zunahmen der Zahlen in ihnen — den Relativziffern — nicht zum Ausdruck kommen; sie sind nicht progressiv, sondern oszillieren um ein konstantes Mittel. An den Inkrementen sowohl der absoluten als der relativen Ziffern der Eheschließungen im Deutschen Reiche (resp. den Gebieten, die heute in diesem verbunden sind) von 1844—1907 inkl. läßt sich nun 1. die Beschaffenheit und Wirkung einzelner Jahre und Jahresfolgen deutlich wahrnehmen, z. B. der Hungersnöte und Teuerungen, der Révolutions- und Restaurations-, der Kriegs- und Friedensschluß] ahre, der wirtschaftlichen Krisen, 2. habe ich gefunden, daß sich ein regelmäßiger Wechsel von je 4 und 4 Jahren beobachten läßt, so nämlich, daß einem durchschnittlich ein durchschnittlich

geringeren immer

größeres Inkrement folgt, und umgekehrt; so daß,

wenn jeder Durchschnitt mit jedem folgenden verglichen wird, die Vorzeichen ihrer Differenzen ohne Ausnahme wechseln: die erste (Differenz des Quadrienniums 1848/51 gegen das vorhergehende 1844/47) hat ein Plus und die letzte (Differenz des Quadrienniums 1904/07 gegen das Quadriennium 1900/03) hat wiederum ein Plus. Dies gilt sowohl für die absoluten wie für die relativen Ziffern. Die Folge der Differenzen

Die Folge der Differenzen

für die absoluten Zahlen

für die relativen Ziffern

-

82,2 18,6 40,8 77,1 2,2 9,7 36,0

+ + + + + + + +

65,5 83,6 1,7 55,2 48,0 7,9 22,6 25,5

-

+ 104 123 + 119 2 8 + 4 74 +90 124 + 88 3 + 8 16 +31 59 +43

Aber auch wenn man diesen durchschnittlichen

Inkrementen keine

Geltung gewähren will, so wird man doch folgende Beobachtungen anerkennen müssen. Wenn die Inkremente zu je 4 und 4 Jahren gruppiert werden, so fallen auf die eine Seite (die ich die N-Seite nenne) unter den Inkrementen der absoluten Zahlen

unter denen der Relativ-Ziffern

16 negative gegen

21 negative gegen

16 positive

11 positive,

[Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1 8 4 3 bis 1 9 0 7 ]

179

während auf die andere Seite (die ich die H-Seite nenne) 6 negative gegen

9 negative gegen

2 6 positive

2 3 positive,

so daß unter den absoluten (A-Tafel) auf der N-Seite 5 0 %

negative

gegen 5 0 %

positive

auf der H-Seite 1 8 , 7 %

negative

gegen 8 1 , 3 %

positive

vorkommen. Unter den Relativziffern (B-Tafel) sind die negativen Inkremente häufiger, weil mehrere positive der absoluten Zahlen hier negativ sind: die Dekremente halten hier den Inkrementen fast die Wage, es sind 3 0 gegen 34, während sie unter den absoluten kaum ein Drittel ausmachen. Es fallen also unter den Relativziffern auf der N-Seite

auf der H-Seite

6 5 , 6 % negative

2 8 , 1 % negative

gegen 3 4 , 4 % positive

gegen 7 1 , 9 % positive

Inkremente. Die negativen sind auf der N-Seite fast zwei Drittel, auf der H-Seite nicht viel mehr als ein Viertel. Genau die gleiche Verteilung der Vorzeichen ergibt sich, wenn die absoluten Inkremente auf ihren Gesamtdurchschnitt

bezogen werden, der

+ 10,9 beträgt. Es sind nämlich auf der N-Seite fünf, auf der H-Seite drei positive Inkremente, die geringer sind als 10,9, die also als Abweichungen von diesem Durchschnitt ein negatives Vorzeichen erhalten. Im Unterschiede von den Relativziffern ist aber das Vorzeichen einer Abweichung (1886) negativ, wo das der Relativziffer positiv ist, und umgekehrt einmal (1903). Wenn jedes J a h r nach seiner Stelle in den Jahrvierten der N-Seite mit den Jahren der entsprechenden Stelle auf der H-Seite verglichen wird, so ergibt sich bei den Relativziffern ein Minusvorzeichen N

H

für die 1. Stelle 5 gegen 3 +

1 gegen 7 +

»

2.

"

6

»

2+

2

»

6+

»

3.

"

5

»

3 +

2

"

6 +

»

4.

»

5

"

3 +

4

»

4 +

Also an jeder Stelle auf der N-Seite ein Mehr von Minusvorzeichen. Ebenso, wenn sämtliche 8 Abweichungen

vom Durchschnitt für jede

180

Schriften

Stelle addiert werden und durch Division mit 8 wiederum aus ihnen der Durchschnitt gewonnen wird. Dieser Durchschnitt ist nämlich N an 1. Stelle

Die Überlegenheit auf

H 21,8

+ 55,6

+ 77,4

+ 38,6

+ 47,5

"

" 8,9 - 40,0

+ 37,3

"

-

+

» 2.

»

» 3. » 4.

-

der H-Seite

5,0

2,8 1,8

+

6,8

Die Überlegenheit der H-Seite erstreckt sich also auf alle vier Stellen, ist aber an jeder späteren Stelle geringer; sie nimmt regelmäßig ab. Auf der N-Seite ist die dritte Stelle am meisten negativ (das durchschnittliche Inkrement also am tiefsten), die vierte am wenigsten (das durchschnittliche Inkrement also am höchsten). Auf der H-Seite ist nur die dritte Stelle schwach negativ (also auch hier das Inkrement des jedesmal dritten Jahres am tiefsten), die erste Stelle entschieden am höchsten. So daß auf die relativ höchste Stelle der N-Seite die relativ höchste der H-Seite folgt. Die Oszillationen der Inkremente sind in den letzten 25 Jahren erheblich schwächer geworden. Die durchschnittliche Abweichung vom Durchschnitt beträgt 37,2. Diese wurde in den ersten 39 Jahren 22mal übertroffen, in den letzten 25 niemals wieder erreicht. Bemerkenswert ist auch, daß die empirische Kegel sich auch in dem jetzt noch unvollendeten Jahrviert 1908/11, das wiederum auf die NSeite fällt, bewährt, indem die Jahre 1908 und 1909 sogar ein negatives Inkrement der absoluten Zahlen der Eheschließungen aufweisen; vollends natürlich der Relativziffern. Eine gleiche vierjährige Periode finde ich in der gleichen Zeitspanne in Frankreich. Hier sind indessen nur die absoluten Zahlen und deren Inkremente festgestellt. Die Durchschnitte dieser Inkremente wechseln wie folgt: N

H

1844/47

-

31,5

1848/51

+ 38,9

1852/55

-

1,5

1856/59

+ 11,1

1860/63

4,1 20,1

1864/67

1868/71

-

1872/75

" 0,9 + 47,3

1876/79

-

14,8

1880/83

+

1,5

1884/87

-

6,5

1888/91

1892/95

+

2,2

1896/99

+ +

7,9 6,8

1900/03

+

0,4

1904/07

+ 15,4

181

[Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1 8 4 3 bis 1 9 0 7 ]

Mithin ein regelmäßiger Wechsel der Differenzen: + 70,4

10

-

40,4

+ 13,2

-

15,8

+

-

19,8

+ 68,0

- 62,1

+ 16,3

-

8,0

+ 14,4

-

5,7

+

-

6,4

+ 15,0

3,2

4,6

Für Großbritannien und Irland finde ich die gleiche Folge von 1872 ab, nämlich folgende Durchschnitte der Inkremente der absoluten Zahlen der Eheschließungen: J^J

(oder, als Folgen der Differenzen)

1876/79

25

30

- 22,7

1872/75

+

8,5

1880/83

+ 27,0

N - 34,9

H + 36,8

1884/87

-

7,9

1888/91

+ 28,9

- 31,2

+ 49,1

1892/95

+

3,9

1896/99

+ 32,1

- 25,0

+ 28,2

1900/03

-

0,9

1904/07

+ 12,5

- 33,0

+ 13,4

In Belgien finde ich eine vollkommene Übereinstimmung des Hauptergebnisses, wenn die Quadriennien von 1843 anstatt von 1844 ab gezählt werden. Auch hier sind nur die Inkremente der absoluten Zahlen gerechnet. Höchst merkwürdige und bedeutende Parallelen der wirtschaftlichen Fluktuationen kann ich nun für das Deutsche Reich teils schon seit 1860, teils erst seit 1872 (weil die entsprechenden früheren Daten fehlen) aufstellen. Ich habe nämlich 1. die Inkremente des Wertes sämtlicher Bergwerkserzeugnisse im Gebiete des heutigen Deutschen Reiches, resp. im Zollvereinsgebiet, mit Rücksicht auf dessen Veränderungen, berechnet. Diese Werte (in 1000 M) sind den Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich entnommen; die Inkremente sind in %o berechnet. Es betrug also das durchschnittliche Inkrement: N

mithin die Folge der

H

Differenzen: N

40

H

1860/63

+ 34

1864/67

+ 110

1868/71

+ 96

1872/75

+

99

-

14

1876/79

-

64

1880/83

+

83

-

163

+ 147

1884/87

+

1

1888/91

+ 150

-

82

+ 149

1892/95

-

22

1896/99

+ 104

-

172

+ 126

1900/03

+ 61

1904/07

+

-

43

89

+

76

+

3

+

28

182

Schriften

Unter den 24 Jahren der N-Seite haben 8 das Minusvorzeichen, unter den 24 der H-Seite nur 2. Das durchschnittliche Inkrement der 48 Jahre ist + 62,3- Hieran gemessen ergeben sich auf der N-Seite 21 »

»

H-Seite

gegen

8 -

•>

3 + 16 +

Der Kontrast ist also sehr ausgesprochen. Noch charakteristischer sind aber vielleicht 2. folgende Ziffern, die sich auf die Zahlen der auf den Kopf der Bevölkerung im Deutschen Reiche seit 1872 entfallenden umlaufenden Wechsel beziehen. Diese Zahlen sind dem Artikel Wechsel des WB. der Volkswirtschaft (II. Auflage, 2. Band S. 1305) entnommen, wo sie nach dem Ertrage der Wechselstempelsteuer auf Grund der von der Reichsbank vorgenommenen Erhebungen berechnet sind. Auch hier habe ich die Inkremente festgestellt, und zwar mit Interpolation des Inkrementes für 1872, wofür ich nach einer niedrigen Schätzung 6 % einsetze. Das durchschnittliche Inkrement beträgt: ^

Die Folgen der Differenzen also: 1872/75

+ 1,15

1876/79

-

4,97

1880/83

+ 1,32

-

6,12

+ 6,29

1884/87

-

1,30

1888/91

+ 3,82

-

2,62

+ 5,12

1892/95

-

0,05

1896/99

+ 6,62

-

3,87

+ 6,67

1900/03

+ 0,27

1904/07

+ 6,82

-

6,35

+ 6,55

Die N-Seite zeigt eine stetige Verminderung des negativen Inkrementes, bis es zuletzt in ein positives übergeht. Auf der H-Seite (wo freilich die erste Ziffer ungewiß ist) ebenso eine stetige Zunahme des positiven Inkrementes. Wenn von dem ersten Jahrviert abgesehen wird, so stehen sich 4 X 4 Jahre auf jeder Seite gegenüber. Von den 16 haben auf der N-Seite 11 ein negatives Vorzeichen, auf der H-Seite nur 2 ein negatives Vorzeichen (wobei beiderseits eine Null als negativ eingerechnet ist). Werden aber die 32 Ziffern auf ihren Durchschnitt = + 1,60 bezogen, so kommen auf der N-Seite noch zwei, auf der H-Seite noch eine Stelle hinzu, die unter diesem Durchschnitt stehen, also als Abweichungen auch negativ sind. Es bleiben dann auf der N-Seite "

»

3

H-Seite 13

die mit positivem Vorzeichen über dem Durchschnitt stehen.

[Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1 8 4 3 bis 1 9 0 7 ]

183

Ich habe 3. die Inkremente der von der Poststatistik — auf Grund fortlaufender Aufzeichnungen — ermittelten Zahlen der Pakete (ohne Wertangabe) seit 1872 berechnet und dabei wiederum für 1872 ein Minimum-Inkrement von 6 % angenommen. Die Durchschnitte der Jahrvierte sind: ^

Die Folgen der Differenzen also: N 1872/75

H

+ 10,00

1876/79

+ 5,50

1880/83

+

6,27

-

5,50

+ 0,77

1884/87

+ 4,57

1888/91

+

5,22

-

1,70

+ 0,65

1892/95

+ 4,85

1896/99

+

5,75

-

0,37

+ 0,90

1900/03

+ 3,30

1904/07

+

3,82

-

2,45

+ 0,52

Ähnlich sind auch die Ergebnisse anderer postalischer Nachweise, besonders über die Portoeinnahmen der Reichspost, wenn die völlig anormale Steigerung des Jahres 1900, die durch Konfiskation der Privatposten bewirkt wurde, sachgemäß reduziert wird. Der hier dargestellte, in zwei gleichen Wellen von Flut und Ebbe verlaufende achtjährige Zyklus wird lediglich als empirische, höchst merkwürdige Beobachtung mitgeteilt. Seine Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit wird nicht behauptet. Die Tendenz zu einer solchen ist freilich unverkennbar.

Soziologie als Wissenschaft und die deutsche soziologische Gesellschaft

i Soziologie als Wissenschaft und die deutsche soziologische Gesellschaft: Zuerst in: Der Kunstwart. Halbmonatsschau für Ausdruckskultur auf allen Lebensgebieten 1911, 24. Jg., 2. Augustheft, S. 242—246. München (Callwey) 1911. Erneut abgedruckt in „Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung", Jena (Fischer) 1926, S. 1 4 4 - 1 4 9 . Vgl. TG 17.

Der erste internationale Rassenkongreß in London Eine Umschau I. Der Gesamteindruck Es ist nicht zu viel gesagt, daß sich hier einmal die Menschheit ein Stelldichein gegeben hatte. Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die zu dieser Versammlung nach dem wundersamen, ungeheuren London zusammenströmten? Später werden wir vermutlich die Liste der Teilnehmer gedruckt vor uns sehen und die Namen der Repräsentanten von etwa 50 Nationen darin wiederfinden. Einstweilen müssen wir uns begnügen, unsere Bewunderung kundzugeben über die hier vollbrachte Leistung, die nur möglich war durch die außerordentliche Entwicklung des Brief-, Depeschen- und Personenverkehrs, wodurch unser Zeitalter vor allen früheren hervorragt, zugleich freilich nur durch die Emsigkeit und Geschicklichkeit der Organisatoren. Der Erdball ist eine Stadt geworden, und London ist ihr Marktplatz — so kann man in etwas übertreibender Weise die Empfindung ausdrücken, die das Schauspiel dieses Kongresses in unserer Seele hinterlassen hat. Der „ferne Orient", wie man in England jene uralten Kulturländer nennt, die fast wie eine neue Welt in den europäischen Gesichtskreis gerückt sind, kommt uns freilich oft genug nahe. Den Anblick der zierlichen Japaner mit ihren spitzen, schlau blickenden Köpfen sind wir in unseren großen Städten und Universitäten schon gewohnt. Auch die Söhne des himmlischen Reiches sind uns längst nicht mehr fremd, und die langen Mandarinenzöpfe, die noch vor 20 Jahren notwendig dazu gehörten, hat man hin und wieder aufgebunden gesehen; seltener wurde das lange, gelbe Staatsgewand mit einem Gehrock oder Frack vertauscht. Aber hier erblicke ich zum ersten Male in meinem Leben die Chinesen — wie europäische Gentlemen gekleidet, das glänzend schwarze Haar i Der erste internationale Rassenkongreß in London.: Zuerst in: Kosmos. Handweiser für Naturfreunde 1911, Bd. 8, Heft 10, S. 3 6 1 - 3 6 6 . Stuttgart (Franckh). Prof. Dr. Tönnies' Autorenschaft wurde mit „Sekretär des Kongresses für das Deutsche Reich" spezifiziert. Vgl. den Editorischen Bericht (S. 6 5 8 - 6 6 1 ) .

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gescheitelt und kurz geschnitten, durch gute Körperhaltung sich auszeichnend. Im Gesichtsausdruck unterscheiden sie sich von ihren japanischen Vettern durch Züge, die vielleicht mehr Treuherzigkeit und den damit so nahe verwandten „Idealismus" kundgeben. Mit ihnen gemein haben sie eine gewisse vornehme Ruhe, die uns so oft am Orientalen auffällt als Zeugnis eines minder aufregenden, weniger verzehrenden Lebens, als es uns Europäern von heute beschieden ist; sie verhalten sich in manchen Zügen wie Landleute zu uns Großstädtern, den Okzidentalen. Zum fernen Osten gehört auch das alte Märchenland Indien mit seinen mehr als 300 Millionen Menschen mannigfacher Religion, streng gegeneinander abgeschlossenen Kasten und (im größten Teile) mit der zu schwindelnder Höhe emporgehobenen Priesterherrschaft der Brahminen, die jetzt mehr und mehr durch britische Verwaltung und Justiz eingeschränkt und gedämpft wird. Vereinzelt tritt uns hier der hochgewachsene Brahmine hellgebräunten Antlitzes in langem, grauweißem Gewände, herabwallenden Haupthaars, entgegen; die meisten Inder — es sind nicht wenige da, denn Studenten aus London, Oxford, Edinburg und auch ein junger Bildhauer wurden mir vorgestellt — sind von kleiner Statur, wenn auch nicht so pygmäenhaft, wie oft die „Japs" uns erscheinen, geschmeidig, behende, manche von sanftem, etwas melancholischem Ausdrucke in den großen braunen Augen. Eine gewisse Anmut ist in ihrem Betragen wie in ihrem Antlitz; sie sprechen gern und lebhaft; ein aufgeklärter Jüngling, der meinte, je eher mit dem Kastensystem aufgeräumt werde, desto besser sei es, bekannte mir doch im Gespräch, er liebe sein Land und seine Hindu-Religion innig, er ließ durchblicken, daß er mit uns nicht tauschen möchte. Aber hier ist eine andere Gestalt: hochgewachsen, ein mächtiger, bärtiger, tiefbrauner Kopf über den breiten Schultern, kräftig-derbe, aber sehr intelligente Züge, denen der rauhe Ton der Stimme entspricht; es ist Dr. Brajendranath Seal, Vorsteher des Cooch Behar College, ein anerkannter Gelehrter im Fache der Anthropologie, der das erste Referat „über die Begriffe Rasse, Stamm, Volk" zum Bande der „Papers" beigesteuert hat, den der Kongreß uns fertig vorlegt 1 . Einen ganz abweichenden Eindruck wieder macht der elegante Herr aus Bombay, der Name Tribhowandas und noch 2 lange Namen 1

„Papers on inter-racial problems" ed. by G. Spiller, 1911, London, P. S. King and Son.

29 Seal: Sein Vortrag auf dem Kongress trug den Titel: „Meaning of race, tribe, nation", in: Papers, 1911: 1 - 1 3 .

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gehören ihm, aber auch, wie er uns erzählt, ein ausgedehntes Grundeigentum, dessen Einkünfte, vermehrt, wie es scheint, durch Handelsgewinn, ihm den Luxus der ausgedehnten Philanthropie gestatten, durch die er sich bekannt gemacht hat; das Bewußtsein seines Reichtums und seiner angesehenen Stellung — er ist zugleich Haupt seiner „Kaste" und englischer Friedensrichter — prägt sich in seinen kühl-überlegenen Mienen aus, der obere Teil seines klugen Antlitzes verrät seine Abstammung aus dem südlichen Indien, wo uns ein negroider Typus ziemlich häufig begegnet. Dieser Magnat ist auch Schriftsteller und Reformer, er erzählt von den Bänden, die er über sittliche Bildung (moral education) geschrieben habe. Noch eines letzten Indertypus, der hier vertreten ist, möge Erwähnung geschehen: er ist nicht sowohl durch Abstammung, als durch die Religion von den Hindus verschieden; ich meine die „Sikhs", d. h. „Schüler" — äußerlich durch ihre kunstvoll verschlungenen Kopftücher kenntlich, ernst und ruhig dareinblickend, besonders aufmerksame und geduldige Zuhörer der vielen Reden. Kein Wunder wenn wir vernehmen, daß sie eine Reformgemeinde des Hinduismus darstellen, die unter dem Einfluß des Islam einen rationalistischen Puritanismus vertritt. Gleich den Puritanern haben die Sikhs eine Zeitlang eine gewaltige politische Rolle gespielt. Sie waren um die Mitte des 18. Jahrhunderts unbestrittene Herren des Punjäb und wurden erst durch die Annexion dieser nördlichen Hauptprovinz an die ostindische Compagnie endgültig aus dieser Stellung verdrängt, aber sie blieben ein kriegerisches Volk, das jetzt etwa 2 Millionen zählt, und stellen ein starkes Kontingent zum anglo-indischen Heere. Was sollen wir von den übrigen orientalischen Völkern und Stämmen sagen? O b unabhängig oder unter britischer, französischer, holländischer Herrschaft, zahlreich sind sie vertreten, manche an ihrer Tracht kenntlich, aber zumeist in das allgemeine Kostüm des europäischen Weltmanns gekleidet. Mit besonderem Interesse schauen wir die Vertreter des jungen

Persiens, des jungen

Ägyptens, der jungen

Türkei — denn auch

Ägypter und Türken werden wir zu den Orientalen rechnen; sie verkörpern uns die Bewegung, die jetzt durch den ganzen Orient hindurchgeht io Bänden:

Siehe insbesondere: „Hindu caste, law &C custom", 1903, „The foundations of

morality; some suggestions towards a universal moral code", o. J . 21 Annexion:

Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen

mit der britischen East India Company, die durch den Friedensvertrag von Lahore (1846) zum Abschluss gebracht wurden. U. a. mussten die Sikhs ihre Herrschaft über Kaschmir den Engländern abtreten.

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und sicherlich höchst bedeutende Folgen haben wird. Der Orient — nach dem Muster des kühnen Inselvolks, das den Erdball in Erstaunen gesetzt hat — europäisiert sich, modernisiert sich sichtlich. Er tritt in Wettbewerb mit dem Westen, der ihm die Waffen, die Technik, die Wissenschaft überliefert — „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen". Das alte China erhebt sich, es ringt nach Bildung, die indische „Unruhe" macht den britischen Staatsmännern Kopfschmerzen, die Worte „Rebellion", „Unabhängigkeit", „Indien den Indiern" tönen uns hin und wieder leise entgegen, wenn auch die friedlichen Elemente auf diesem Kongreß, der für Eintracht und Verständnis unter den Völkern der Erde wirken will, weit überwiegen. Von den Engländern werden auch die Hindus und die übrigen Bewohner Indiens oft „Farbige" genannt; die Beimischungen der gelben und der schwarzen Rasse — wenn man denn diese Einteilung gelten lassen will — sind ohne Zweifel unter ihnen stark; nur die Priesterkaste hat ja auf Reinheit ihres arischen Blutes gehalten. Dennoch scheint mir, nach den Exemplaren, die uns hier entgegentreten, der Unterschied sowohl vom mongolischen als vom negroiden Typus unter den Indern hervorstehend. Nach Statur und Gesichtsausdruck scheinen sie den europäischen Nationen, besonders denen des südlichen Europas, weit näher zu stehen. Die „Schwarzen" aber begegnen uns hier in allen Schattierungen — Mischlinge stehen im Vordergrund. Mit wenigen Ausnahmen sind es Amerikaner, die meisten Lehrer („Professoren") und Geistliche, fast alle haben intelligente und keineswegs unsympathische Gesichter, einige mit dem bekannten fröhlich-kecken, die Mehrzahl aber eher mit etwas düsterem Ausdruck, darunter auch solche, die nach der Farbe für reine Neger gelten dürfen. Auch drei oder vier echte afrikanische Neger treten auf die Bühne: ein junger Mann aus Dahomey, jetzt unter französischer Schutzherrschaft, Sohn eines reich gewordenen, unlängst verstorbenen Händlers; er sehnt sich danach, des Französischen mächtiger zu werden, ja sich das „beste" Französisch so vollkommen wie möglich anzueignen, aber es graut ihm ein wenig vor Paris. Ich rate ihm, es mit Genf oder Lausanne zu versuchen und später nach Paris zu gehen. Der junge Mann ist entschiedener Freidenker; auf meine Frage nach seiner Religion antwortet er „keine", er sei ein Anhänger der ethischen Bewegung und achte die goldene Regel — die anderen zu behandeln, wie man selber behandelt zu werden wünscht — als genügende Richtschnur für sein Leben.

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Die zwei anderen „Echten" sind ein Sulu, Herr J . Tengo Jabovu, und sein Sohn. Der Sohn ist Student der Londoner Universität und will ein Lehrer seines Volkes werden. Wie mir der Vater mitteilt, hat er gute Fortschritte gemacht und wird in nächster Zeit promovieren. Das behagliche, gutmütig-breite Bauerngesicht des schwarzen alten Herrn, seine blitzenden Augen hinter Brillengläsern zeugen von lebhaftem Denken; sein anfangs reserviertes, bald zutrauliches Benehmen ist das eines Gentleman, schlicht, artig und sicher. Er wirkt und wirbt für die Errichtung einer Hochschule der Eingeborenen in seiner Heimat, 2 0 0 0 0 0 M k . fehlen ihm noch für den Zweck. Gute Bildung, glaubt er, könne seinem Volke helfen und es wieder erheben, nachdem es durch den Zusammenbruch seiner alten Clanverfassung und ihrer Sitte offenbar gesunken sei. Er ist zwar Christ, scheint aber die Bekehrung nicht eben für das wesentliche Element der Besserung zu halten. — Durch persönliche Bedeutung ragt unter den Farbigen am meisten der Amerikaner Du Bois hervor, ein heller Mulatte, dessen Antlitz wie sein Name die Abstammung von Franzosen verraten; er war ein weithin angesehener Professor der Geschichte und Nationalökonomie an der Atlanta-Universität und lebt jetzt in New York, ein Führer seines Volkes, der ihm höhere Ideale setzt, als der in weiteren Kreisen bekannte praktische

Booker Washington. Du

Bois hat ein anziehendes Buch geschrieben: „Die Seelen der Schwarzen" (Souls of black folk) und zu den uns vorliegenden Papers eine trefflich unterrichtende Abhandlung über die „Negerrasse in den Vereinigten Staaten" beigetragen. Unter den interessanten Typen dürfen wir auch den Maori (Neuseeländer) und den roten Indianer aus dem Stamme der Sioux nicht vergessen: beide fallen durch den kühnen und festen Ausdruck ihrer Mienen auf, aber der amerikanische „Wilde" noch mehr durch eine gewisse sorglose Heiterkeit und Freundlichkeit, die aus seinem Antlitz leuchtet. Er ist von Beruf praktischer Arzt, hat sich aber neuerdings auf sozialistische Studien geworfen und sucht die weißen Amerikaner von dem höheren sittlichen Werte der von ihnen so übel behandelten Eingeborenen zu überzeui Jabovu:

Auf dem Rassenkongress hielt John Tengo Jabavu einen Vortrag mit dem Titel

„Native Races of Africa", gedruckt in: Papers, 1911: 3 3 6 - 3 4 1 . 15 Du Bois: Der Vortrag DuBois' auf dem Rassenkongress trug den Titel „The Negro Race in the United States of America", siehe in: Papers, 1911: 348—364. 25 Maori: 26 Indianer:

Reverend H. Parata. Charles Alexander Eastman (Ohiyesa); sein Vortrag auf dem Kongress lautete:

„The North American Indian", siehe in: Papers, 1911: 367—376.

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gen. Dr. Charles Alexander Eastman (so nennt er sich) spricht energisch von den zerstörenden und demoralisierenden Einflüssen der Zivilisation, insbesondere wie die Händler den Genuß alkoholischer Getränke gefördert haben als ein treffliches Mittel, den roten Mann zu lenken und zu betrügen. Dennoch kann er das Heil für seine Leute nur in der Anpassung an die besseren Sitten der Weißen, ja in der Blutmischung erblicken und glaubt, daß die Entwicklung sichtlich in dieser Richtung gehe; in 200, vielleicht schon in 100 Jahren, werde der Vollblut-Indianer erloschen sein. Noch mancher anderen interessanten Erscheinung könnten wir gedenken, aber auch die Mannigfaltigkeit von Europäern, die vertreten sind, müssen wir hervorheben. Schon das vereinigte Königreich, in dessen Zentrum wir uns befinden, bietet sehr verschiedene Erscheinungen dar. Gegenüber dem blonden, bedächtigen Angelsachsen, den der Präsident des Kongresses, Lord Weardale (aus der Familie der Stanhopes), trefflich repräsentiert, steht der lebhafte, gefällige Ire, brünett, gesprächig, etwas unruhig und sprunghaft. Der gelehrte Anthropologe von Cambridge, Herr Haddon, ist ein Muster dieses glücklichen, aber für das „praktische Leben" nicht immer geschickten Naturells. Ihm verdanken wir übrigens die ein großes Zimmer in der Londoner Universität ausfüllende Sammlung von Bildnissen aller Rassen und Nationen. Da ist ferner in lebendiger Gestalt der sinnige, vorsichtige, grübelnde Schotte, vielleicht einer Mischung von Germanen und Kelten entsprungen, und der artige bewegliche Walliser, dessen Verwandtschaft mit den Söhnen Erins unverkennbar ist. Von Franzosen, Italienern, Spaniern und Portugiesen, von Deutschen und Skandinaviern wollen wir nicht reden, aber auch unter ihnen fehlt es nicht an Varietäten innerhalb fast jeder Gruppe. Merkwürdiger erscheinen uns schon die Russen, Polen, Finnen, Ungarn, Serben, Bulgaren, Rumänen, Tschechen, Ruthenen und Griechen. Alle sind in mindestens einer Person vertreten, und in dieser großen Völkerschau haben wir den Hauptanziehungspunkt des Kongresses; wir bereichern unsere Kenntnis und durch Gespräche rasch auch unsere Erkenntnis. Wir empfinden, wie viel Gemeinsames der Mensch durch geistige, vollends durch sittliche Bildung gewinnt; wir fühlen, daß dem rechten Menschen nichts Menschliches fremd sein darf. Wir bemerken überall ein Streben nach

22 Schotte:

Dies ist der Sanskritforscher Sir Charles Bruce; vgl. dessen Beitrag „The modern

conscience in relation to the treatment of dependent peoples and communities", in: Papers, 1911: 2 7 9 - 2 9 2 .

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dem Vernünftigen als dem auszeichnenden Merkmal der Menschheit, nach Gerechtigkeit und Edelsinn als ihrer wahren Ehre, nach Wissen und Einsicht als dem Mittel zu ihrer Vervollkommnung. Die Frage nach dem Verhältnis solcher ethischen Bestrebungen zu den Religionen, insbesondere zum Christentum, liegt so nahe, daß man sagen darf, die Vertreter dieser Bekenntnisse dürfen nicht achtlos daran vorbeigehen, ohne sich selber schweren Schaden zuzufügen und in der gerechten öffentlichen Meinung zu sinken. Es fehlte nicht völlig an geistlichen Herren in der Versammlung; die meisten waren jedoch farbige Methodisten- oder Baptistenprediger, auch die Kirche von England hatte einige Vertreter entsendet. Aber einzig in seiner Art, wie der rote Indianer, war in seiner prachtvollen purpurnen Robe, die er bei abendlichen Empfängen entfaltete, der noch jugendliche Abt von St. Martin, der ungarische Graf Vay de Vayo und Luskod, Prälat der römisch-katholischen Kirche, der sich in diesem sehr gemischten Kreise ganz wohl zu fühlen schien und sogar den Vorsitz in einer der Versammlungen führte, wobei er die Erwartung aussprach, daß sich in wenigen Dekaden auch das Gefühl der Einheit zwischen den Menschenrassen zur Reife entwickeln werde.

II. Die Tagung Vier Tage lang ist geredet worden — vormittags und nachmittags, gegen 6 Stunden täglich. Die Mannigfaltigkeit war auch in den Reden das, was am meisten die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Eröffnungsszene am 26. Juli war nicht ohne dramatische Effekte. Viele Regierungen hatten Vertreter entsendet — charakteristischerweise aber fast nur die „kleinen Leute", wie Serbien, Bulgarien, Griechenland, ja M o n a c o oder doch die nicht im Vordergrunde der Weltpolitik stehenden Mächte, wie Ungarn, die Türkei, Persien, Brasilien, Spanien und Portugal; der Vertreter der neuen und revolutionären Republik erregte natürlich besonderes Interesse. Auch Japan und China schienen offizielle Vertretung zu haben. Der Chinese war der Chef des Medizinalwesens, der Hinweisungen auf PaM Graf Vay de Vayo und Luskod:

Vgl. Record, 1911: 28—35. Graf Vay de Vay und Luskod

(so die korrekte Schreibweise) führte den Vorsitz der zweiten Session am 26. Juli 1911 zum Thema „The present Position of Women", Racial Miscegenation. 31 Chinese:

Eine Frau, Lim Boon Keng, die den chinesischen Minister repräsentierte. Vgl.

ihren Redebeitrag in: Record, 1911: 30.

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steur und Koch in seine gewandte Ansprache einflocht, die in fließendem, vortrefflichem Englisch gehalten wurde. Der Redner wies auf die vielen „Rassen", die im chinesischen Reiche friedlich zusammenleben, hin, und betonte, daß schon vor Tausenden von Jahren ein fester Glaube an die Brüderlichkeit der Menschheit die Chinesen erfüllt habe. Der Japaner sprach ähnliches, zum Teil in seiner eigenen Sprache, deren Klang wohl die meisten Zuhörer zum ersten Male in ihrem Leben vernahmen. Es folgte die Verlesung brieflicher und telegraphischer Begrüßungen. Unter anderen hatte der König der Belgier ein sympathisches Schreiben gesandt. Dann begannen die eigentlichen Verhandlungen, eröffnet, wie das Buch der Referate, durch den schon genannten Hindu-Professor Brajendranath Seal. Wesen und Begriff der Rasse wurden erörtert, daneben die Einflüsse und Mächte, wodurch Rassen oder Völker getrennt wurden: geographische, wirtschaftliche, politische Lebensbedingungen, Sprachen, Religionen, Sitten und moralische Anschauungen, sowie Verschiedenheit der intellektuellen Bildung. Daran schlössen sich Diskussionen über die Stellung der Frau im Orient und Okzident und über die Folgen der Rassenmischung. Am zweiten Tage sprach man über die Bedingungen des Fortschrittes, besonders über die Entwicklung des parlamentarischen Regiments im Orient, über Weltwirtschaft und über die schon vorhandenen friedlichen Bemühungen, über den Austausch in Kunst und Wissenschaft, über die bestehenden internationalen Organisationen und ihre wachsende Bedeutung. Der dritte Tag war vorzugsweise ethischen Fragen gewidmet; die Behandlung abhängiger durch herrschende Völker, unterdrückter oder geduldeter Religionen, das politische Regiment in Kolonien, der Einfluß der Missionen, die neueren Formen der Zwangsarbeit, der Handel in Spirituosen und Opium, sollten, wie in den gedruckten Referaten, so auch mündlich erörtert werden. Im Vordergrunde standen Juden und Neger, offenbar, weil deren Vertreter darin geschult sind, das Unrecht, das ihnen im sozialen Leben geschieht, streng getrennt von der politischen und rechtlichen Stellung, die sie in den Staaten einnehmen, darzustellen. Denn die eigentlich politischen Fragen und Debatten sollten ausgeschlossen bleiben, die Regierungen sollten keine Angriffe erfahren, so hatte, zum Leidwesen des jungen polnischen Fürsten,

6 Japaner: 35 polnischen

T. Watanabe, Mitglied des japanischen Parlaments. Fürsten:

Prinz Zbawca-Riedelski, der dem Kongress die Grüße der „Interna-

tional League of the Friends of Poland" übermittelte (Record, 1 9 1 1 : 4 6 f . ) .

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der für seine vernichtete Nation eintrat, die Kongreßleitung bestimmt; jener ließ sich in der Tat daran genügen, zu verkünden, daß Polen, stolz auf seine ruhmreiche Vergangenheit, stark in seinem gegenwärtigen Leiden, vertrauensvoll in die Zukunft blicke. Der letzte Tag endlich war für „positive Anregungen zur Beförderung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Rassen" vorbehalten. Hier wurden dann das Völkerrecht, die bestehenden Verträge, die Haager Konferenzen und der neue Schiedsgerichtshof den Zuhörern vorgeführt, hauptsächlich durch unsern Landsmann, Professor Walther Schücking, der, obgleich in deutscher Sprache redend, von den meisten Anwesenden wohl verstanden und gewürdigt wurde. Endlich kamen auch die Esperantisten noch zu Worte, und die Bedeutung der Presse wurde in das gehörige Licht gerückt. Hoffnungen, Wünsche, Begeisterungen wurden mehr laut als Zweifel und Besorgnisse, die sich hin und wieder regten. Wenngleich der Kongreß bedeutende wissenschaftliche Fragen aufgeworfen und in dem gedruckten Bande tüchtige Beiträge dazu hervorgerufen hat, so stand doch das wissenschaftliche Interesse nicht an leitender Stelle. Von den Debatten durfte man eine tiefgehende Förderung solcher Probleme nicht erwarten, obwohl von mehreren Seiten — besonders sei unser würdiger Landsmann, der ausgezeichnete Anthropologe Prof. J . Ranke genannt — treffliche und wichtige Bemerkungen vorgebracht wurden, namentlich in dem Sinne, daß die Meinung, es gebe irgend einen menschlichen Typus, der dem Affen näher stehe, falsch und durchaus aufgegeben sei. Bei den hervorstechenden Differenzen handle es sich in Wirklichkeit um „Übertreibungen" des allgemeinen menschlichen Typus. D a ß nicht wenige überflüssige und manche minderwertige Reden gehalten wurden, das hatte die Versammlung mit streng wissenschaftlichen Kongressen gemeinsam. Aber schon die Menge der Themen und die Kürze der Zeit gestatteten keine irgendwie erschöpfenden Debatten. Dazu kamen als Hemmungen die schlechte Akustik der großen Halle der Londoner Universität, die in liberaler Weise zur Verfügung gestellt worden war, und vor allem die außerordentliche Hitze jener Tage, die in eben dieser Halle noch ganz besonders fühlbar war. Dennoch wurde man für diese Leiden durch manche packende und fesselnde Momente entschädigt. Wenn das Sehen dieser vielen verschie9 Schücking:

Der Vortrag des Staats- und Völkerrechtlers Walther Schücking lautete „In-

ternational Law, Treaties, Conferences, and the Hague Tribunal", in: Papers, 1911: 387-398. 2i Ranke:

Vgl. dessen Diskussionsbeitrag in: Record, 1911: 27 f.

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denen Typen interessant war, so das Hören oft nicht minder. Da tritt der frühere Präsident der Neger-Republik Haiti auf, ein würdevoller Mann, nachdenklichen Antlitzes, ein Vollblut-Neger nach seiner Farbe, wenn auch der hohe Kopf, die zierliche Nase, das Zurücktreten der Kinnbakken und der Lippen dem bekannten Typus nicht entsprechen; auch seine schlanke Tochter, ein 18 jähriges braunes Mädchen, spricht einige Worte in einem Französisch, das so elegant wie ihre Gewandung ist. Und siehe: wer wird in dem beredten jungen Mann, der mit den Gesten und Tönen eines Volksredners Englisch spricht, einen Chinesen, Herrn Lu aus Ningpo, vermuten? Er studiert im Auftrage seiner Regierung die englische Eisenindustrie. Seine Ansprache klagt die Mißverständnisse als Ursachen von Zank und Unruhen an, er spricht mit Zuversicht von den großen Wandlungen in China und von seiner Zukunft, aber auch kritisierend und anklagend von den Missionen, vom Opiumhandel und vom Christentum. Mit einigen Milderungen bestätigt ihn Frau Alicia Little, die 20 Jahre in China gelebt und mit großem Eifer und Erfolg das Füßebinden der Frauen dort bekämpft hat. Sie weist aber auch darauf hin, an welchen Narrheiten wir Europäer kranken, und wie viel wir von China lernen können. Auch eine chinesische Dame tritt auf, um zu sagen, daß die Hausfrau in China durchaus die gleiche Schätzung genieße wie der Mann, daß ihr Beruf werde geachtet, Liebe, Pflichtgefühl und Ehrfurcht zu lehren. Über Indien sprach mit ähnlichen Worten wie Frau Little über China, Frau Besant, die als Theosophin sich zum Hinduismus bekehrt hat, eine Frau von gewaltiger Rede, in tiefem Ernst; sie klagt den Stolz und die Unbill an, womit die englischen Beamten oft den Indern begegnen, sie rühmt die Freundlichkeit, Nüchternheit, Sinnigkeit der Inder; „wenn die Massen auch nicht lesen und schreiben können, so haben doch viele unter ihnen mehr Fühlung mit der schönen Literatur als unsere jungen Herren, die ihre Kenntnis des Alphabets zum Lesen einer Sportzeitung oder die jungen Damen, die sie zum Lesen eines M o dejournals oder eines Moderomans gebrauchen". Auch der Singhalese, der sich über schlechtes Verständnis seiner Landsleute von Seiten der Missionen beklagte, machte Eindruck, und noch größeren der schon genannte Indianer, als er aussprach, am Weißen sei alles falsch, einschließ-

2 Haiti:

François Denys Légitime. Vgl. dessen Beitrag „Some general considerations on

the people and the government of Haiti", in: Papers, 1911: 178 — 184. 23 Frau Besant: 3i Singhalese:

Vgl. Record, 1911: 41. D. V. Jayatilake.

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lieh Haaren und Zähnen, was seinem Humor nicht übel genommen wurde. Dramatisch war wieder die Szene, als ein Armenier von den Leiden seines Volkes erzählte und zur Bekräftigung der Hoffnungen, die er für die Zukunft hege, den anwesenden Jung-Türken umarmte und küßte. 5 Dramatisch endlich war die Schlußszene durch das Auftreten des Brahminen, der mit feierlicher Gebärde die Versammlung segnete und in den seltsamen Tönen indischer Musik einen Hymnus dazu sang. Lord Weardale hob in seiner Schlußrede hervor, er wisse wohl, daß Kundgebungen, wie sie hier geschehen, von vielen verspottet würden. So 10 sei immer das bedeutsame Neue verspottet worden. Er lasse sich nicht irre machen in dem Gedanken, daß die Menschen, trotz aller Schranken, die zwischen ihnen bleiben, sich bemühen müssen, einander kennen zu lernen und zu verstehen. Dem darf man getrost beistimmen, und in diesem Sinne dem allgemeinen Rassenkongreß, der als ein erster Versuch 15 beurteilt werden muß, eine dauernde Bedeutung für die Sache der Humanität zuschreiben, die doch recht eigentlich die Sache der Menschheit ist.

2 Armenier: M. Thoumaiem. 4 Jung-Türken: Riza Tevfik. Der Vorgang in Records 1911: 70. Vgl. dessen Beitrag „Turkey" in: Papers 1911: 4 5 4 - 4 6 1 (Appendix).

Wege und Ziele der

Soziologie

i Wege und Ziele der Soziologie: Zuerst in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. —22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M.; Reden und Vorträge von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart, Alfred Ploetz, Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein, Andreas Voigt, Hermann Kantorowicz und Debatten: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 1. Serie: Verhandlungen der Deutschen Soziologentage, 1911, Serie 1,1. Band, S. 17—38. Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung. Jena (Fischer) 1926, S. 125 — 143; vgl. TG 17.

[Schutz der Schwachen] Ich will mich darauf beschränken, auf den Kern der die Tatsachen betreffenden Sätze des Herrn Referenten einzugehen. Ich sehe diesen Kern in der gewollten Konstatierung eines Konfliktes, und die Konstatierung eines solchen Konfliktes halte ich, wenn sie richtig ist, immer unbedingt für verdienstlich. Ich meine auch, daß innerhalb des Rahmens unserer Aufgaben wohl die Möglichkeit einer Lösung des Konfliktes aufgewiesen werden kann, wenn der Vortragende nicht dafür Partei nimmt und nicht dafür propagieren will, wenn er auch diese Frage lediglich als ein theoretisches Objekt betrachtet, oder etwa in der Form, daß er darüber referiert: es gibt Bestrebungen dieser Art, die eine Lösung dieses Konfliktes wollen. Das dürfen wir nicht etwa pedantisch, und logisch sogar in anfechtbarer Weise, aus dem Rahmen unserer Betrachtung ausschließen. Trotzdem meine ich allerdings, daß der Herr Redner darüber hinausgegangen ist, indem er offenbar die Hygiene als solche empfehlen wollte, und damit können wir uns nicht befassen. Der Kern seiner auf Tatsachen bezüglichen Behauptungen ist darin gegeben, daß er sagt, es ist diese gegensätzliche Tendenz vorhanden: einmal die Tendenz der Gesellschaft, die sich in der Moral des Altruismus ausprägt, zu helfen und also die Schwachen zu unterstützen; andererseits aber das Interesse der Rasse, der biologischen Dauereinheit, sich zu erhalten. Dieses letztere Interesse fordert Ausmerzung der Schwachen, während die Gesellschaft die Schwachen erhalten will. Ohne Zweifel ist in dieser Form ein wirklicher Widerspruch gegeben, der irgendwelche Tendenzen zur Auslösung hervorbringen muß. Ich meine nun, daß in der Behauptung dieses Konfliktes eine Vermischung stattgefunden hat und auch stattfindet in der Literatur; nämlich i [Schutz der Schwachen¡: Es handelt sich hierbei um einen titellosen Diskussionsbeitrag Tönnies' zum Vortrag „Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme" von Alfred Ploetz, gehalten auf dem 1. Deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main am 21. Oktober 1910. Der Vortrag ist ohne Titel abgedruckt in den „Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. —22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M . " , S. 111 — 136, Tübingen (Mohr) 1911. Der Beitrag Tönnies' ebd. auf S. 148 — 150; der hier gewählte Titel stammt vom Herausgeber. Weiteres im Editorischen Bericht (S. 678 f.).

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wenn von dem Rasseninteresse die Rede ist, so wird nicht auseinandergehalten das, was als Naturprozeß wirklich und notwendigerweise immer erfolgt, w a s also in Ueberstimmung mit einem allgemeinen Naturgesetz als die Ausmerzung des Lebensunfähigen charakterisiert werden kann, ein Vorgang, der eben dem Naturgesetz gemäß schließlich immer erfolgen muß, worin sich immer die Ueberlegenheit der Natur über die menschlichen Wollungen und Bestrebungen durchsetzen muß. M i t anderen Worten z. B.: So sehr auch alle ärztlichen Künste auf die Erhaltung von Schwächlingen gerichtet sein mögen, so sehr sie z. B. in königlichen Familien alles Erdenkliche ins Werksetzen, um sie zu erhalten, und etwa auch, wie es bei Königen geboten ist, eine möglichst starke Fortpflanzung zu ermöglichen und alle diese fortgepflanzten Individuen zu erhalten und weiter zur Fortpflanzung zu bringen, soviel also in dieser Beziehung geschehen mag, w o r a u f die Gesellschaft einen ungeheuren Wert legt, so wird doch die Natur sich unweigerlich durchsetzen, die alle diese Leute verschwinden läßt, die zuletzt Unfruchtbarkeit der Rasse zur Folge hat, w a s mit einem Male diese Dauereinheit abschneidet und abschließt, ich sage, mit diesen tatsächlich vorhandenen Konflikten, mit dieser Gegeneinanderwirkung von Kräften wird, wie ich meine, von Herrn Dr. Ploetz und anderen, die ähnlich gerichtet sind, vermischt die Wirkung, die das beständige Konkurrenzstreben unter den Menschen hat und nach ihrer Ansicht haben soll, die also innerhalb der Gesellschaft gegen die Grundtendenz der Gesellschaft, den Schwachen zu helfen, geht. D a s ist etwas durchaus anderes und davon abweichendes. Es ist das ja im Gegensatz zu dem unbewußt wirkenden Naturprozeß seinerseits auch ein Prozeß des bewußten Wollens, daß sich also im Gegensatz zum Altruismus die Folge der gesellschaftlichen Wirkungen nun als Ausmerzung darstellt, nach der eigenen Terminologie des Herrn Redners. Ich meine nun, vor allen Dingen muß bei dieser Betrachtung dieses Konfliktes darauf hingewiesen werden: Wer sind denn die Schwachen im Sinne der Gesellschaft? Sind es dieselben, die im Sinne der Rasse die Schwachen sind? Oder sind es etwa ganz verschiedene? Ist wirklich die Folge des Schutzes der Schwachen im gesellschaftlichen Sinne eine Vermehrung der in dem Sinne der Rasse Schwachen? Sind also mit anderen Worten diejenigen, die des gesellschaftlichen Schutzes als die gesellschaftlich Schwachen besonders bedürfen, eben dieselben, deren Fortpflanzung aus biologischen und rassehygienischen Gründen nicht wünschenswert ist? M a n kann diese Frage, wie ich meine, nicht bejahen. Es wird vor allen Dingen hier zu unterscheiden sein zwischen der physi-

[Schutz der Schwachen]

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sehen Schwäche einerseits, die für die Rassenbiologie allein in Betracht kommt, . . . . Und dann ist die Frage: besteht eine vollständige Uebereinstimmung der Kräfte und Fähigkeiten der einen oder anderen Art? Sind denn die im physiologischen Sinne Schwachen notwendig im Sinne der Anpassung der Befähigungen, die im Sinne der Gesellschaft praktisch sind, die sie sogar haben muß, sind sie auch in diesem Sinn die Schwachen? Das ist nicht der Fall. Es kann im Gegenteil die Begünstigung, der Schutz derselben, zugleich ein eminentes Interesse der Gesellschaft sein und ist es auch. Und wenn ich auf das Beispiel der Fürstenfamilien zurückkomme, so ist es etwas ganz allgemeines, daß eben die physiologisch Schwachen den Monarchisch-Gesinnten im höchsten Grade erwünscht sind. Es sind bekanntlich die eminentesten Geister selbst persönlich körperlich schwach gewesen, sie sind insbesondere zu einem nicht geringen Bruchteil aus Familien hervorgegangen, die mit ihnen ausgestorben sind. Ich will Sie in Frankfurt auf den Fall Goethe hinweisen. Wo sind die Goethes? Es gibt nur den einen Goethe, und dieser eine Goethe wurde nur durch die Kunst oder vielmehr durch einen glücklichen Zufall, wie er selbst berichtet, vor angeborener Blindheit bei der Entbindung geschützt. Aehnliche Fälle gibt es hunderte. Die Erhaltung von Krüppeln kann geradezu, auch nachweislich in der Folge der Generationen, von höchstem Werte sein. Bedenken Sie, daß ein Mann wie Moses Mendelssohn ein verwachsener Krüppel war; sein Enkel war Mendelssohn-Bartholdy, der Komponist; in seiner Familie sind heute noch geistig tüchtige Leute vertreten. Das sind doch Momente, die zu einer anderen Betrachtung des Konfliktes veranlassen müssen.

2 allein in Betracht

kommt,

...: Ploetz unterbricht hier Tönnies: „Nein!" Tönnies fährt

hingegen fort: „...tatsächlich und nach den Ausführungen des Herrn Referenten selber in Betracht kommt." Dann wieder Ploetz: „Nein, immer die..." Darauf wieder Tönnies: „Gut, davon ist im Vortrag nicht im geringsten die Rede gewesen." (S. 149) — um dann wie oben fortzufahren.

[Das stoisch-christliche Naturrecht] Hochgeehrte Damen und Herren! Ich glaube, wir alle verhalten uns zu den Darlegungen des Herrn Professors Troeltsch im wesentlichen empfangend, denn es ist sehr unwahrscheinlich, daß irgend einer hier zugegen ist, der sich an gelehrter Kenntnis und tiefer Durchdringung der in Betracht kommenden Lehren, ebenso an Beherrschung, insbesondere der Kirchengeschichte mit ihm messen oder vergleichen kann. Ebenso stehe auch ich dazu, daß ich nicht im entferntesten daran denke, in dieser Beziehung mit ihm zu wetteifern, und ich kann also nur in der Hauptsache mich als Lernender in dieser Hinsicht bezeichnen. Es trifft sich aber, daß ich selber mich intensiv, wenn auch wesentlich vor vielen Jahren, mit dem neueren philosophischen Naturrecht, mit dem rationalistischen Naturrecht, insbesondere mit der großen und epochemachenden Lehre des Thomas Hobbes beschäftigt habe, und daß ich von da aus im Zusammenhang mit weitergehenden soziologischen Studien vielfach dasselbe Problem ins Auge gefaßt habe, das uns hier dargestellt worden ist. Es liegt auf der Hand, daß dieses Problem auch von besonderer Wichtigkeit ist im Zusammenhang von demjenigen, was gestern hier erörtert wurde und an dem niemand, der denkend die letzten 30 Jahre durchlebt hat, vorübergehen konnte, nämlich dem Problem, das durch die Worte „historischer Materialismus" oder „materialistische Geschichtsauffassung" bezeichnet ist. Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich für meine Person dieser Auffassung sehr nahestehe, daß ich, ohne mich irgendwie darum zu bekümmern, was etwa Marx oder Engels oder irgend ein Nachfolger in dieser Beziehung gesagt hat — meine Ansicht mag damit übereinstimmen oder nicht —, auf Grund teils der Anregungen, die in der Tat auch für mich darin enthalten gewesen sind, teils aber auch auf Grund eigener Beschäftigung mit diesen Dingen, mit den Tatsachen der 1 [Das stoisch-christliche

Naturrecht]:

Eine titellose D i s k u s s i o n s b e m e r k u n g von T ö n n i e s

z u m Vortrag „ D a s stoisch-christliche N a t u r r e c h t u n d d a s p r o f a n e N a t u r r e c h t " von Ernst Troeltsch, gehalten auf d e m 1. D e u t s c h e n Soziologentag a m 21. O k t o b e r 1910 in Frankfurt/M.,

in:

Verhandlungen

des

Ersten

Deutschen

Soziologentages

vom

1 9 . - 2 2 . O k t o b e r 1910 in F r a n k f u r t a. M . , T ü b i n g e n (Mohr) 1911, S. 1 6 6 - 1 9 2 . Die D i s k u s s i o n s b e m e r k u n g von T ö n n i e s ebd., S. 192—196; der hier gewählte Titel s t a m m t v o m H e r a u s g e b e r . Weiteres im Editorischen Bericht, S. 679 f.

[Das stoisch-christliche Naturrecht]

201

Wirklichkeit und der Geschichte, zu einer Auffassung gekommen bin, die sich wenigstens wohl nahe mit dem berührt, was vielleicht als der rationelle Kern jener materialistischen Ansicht bezeichnet werden kann. In diesem Sinne glaube und behaupte ich nun, daß diejenigen Lehren, insbesondere diejenigen, die soziale Ideale ausprägen, in gewissem Sinne als Reflexe betrachtet werden müssen, als Ausstrahlungen eines tiefer liegenden Wollens, das im letzten Grunde auf den natürlichen menschlichen Trieben beruht und das nun mehr oder minder sich dahin entwickelt, auch in den Ideen, insbesondere eben in den Idealen sich auszuprägen und zu versuchen, eben durch diese Ausprägung in seinem Sinne zu wirken. Ich betrachte in diesem Lichte wesentlich auch die Rechts- und Staatstheorien und daher auch das Naturrecht und im Zusammenhang damit die für das menschliche Gemüt so bedeutungsvollen, daher für die menschliche Geschichte so ungemein tief wirkenden religiösen Glaubensvorstellungen und -Sätze. Ich meine nun, daß die hier erörterte Frage ein etwas anderes Gesicht bekommt, wenn man sie in diesem Lichte betrachtet, daß nämlich aus verschiedenen Zuständen darin wurzelnder verschiedener menschlicher Individualitäten in ihren Gefühlen und Stimmungen und insbesondere aus daraus hervorgehenden verschiedenartigen Bestrebungen mit Notwendigkeit verschiedene Lehren dieser Art sich ergeben, mehr oder minder religiös gefärbte, mehr oder minder wissenschaftlich gefärbte, innerhalb der Religion mehr oder minder kirchlich, mehr oder minder sektarisch gefärbte, und, um konkreter zu sprechen, daß also insbesondere, was die ganze neue christliche Entwicklungsgeschichte betrifft, d. h. die Zeit, die wir als Mittelalter und Neuzeit begreifen, daß es sich da im wesentlichen immer handelt um die Entwicklung der Zustände, und folglich um die Entwicklung der Gedanken, aus einem agrarischen Zustand zu einem städtisch kommerziellen industriellen. Daß nun aber diese wesentliche und Hauptentwicklung ganz bedeutsam modifiziert wird, wie in jeder Hinsicht, so auch in dieser Hinsicht durch die Tatsache, daß eben diese ganze neue Entwicklung — Mittelalter und Neuzeit — im Altertum beruht, aus dem Altertum hervorgeht, durch das Altertum geschwängert ist, daß dieselbe insbesondere immer sich als Fortsetzung des Altertums gefühlt hat und insbesondere natürlich die Christen als die Fortsetzer der Christen, die eben im alten römischen Reich emporgekommen waren, und die dann innerhalb des römischen Reichs es durchgesetzt hatten, das Christentum zur Staatsreligion zu erheben; ich sage, durch diese Tatsache ist das ganze Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Lehre tief modifiziert worden. Das ganze Mittel-

202

Schriften

alter hat sich ja noch als im römischen Reiche lebend, im vierten Weltreiche, im letzten Weltreiche lebend betrachtet, und es war gleichzeitig noch davon überzeugt, wie die Christen es im wirklichen alten römischen Reiche waren, daß es mit diesem Reich zu Ende gehe und daß mit diesem Reiche überhaupt die Herrlichkeit der Welt zu Ende sei, daß dann eben der Herr wieder kommen werde und das Tausendjährige Reich beginnen werde. Ich meine, nun hat sich allerdings durch den Wechsel des Schauplatzes und insbesondere dadurch, daß aus einer hochentwickelten, kommerziell, industriell, ethisch entwickelten Gesellschaft, wie sie im alten Rom und seinen Dependenzen vorlag, ihr Gegenteil wurde, daß sich diese verwandelte in eine relativ primitive, in eine wesentlich agrarisch feudale Gesellschaft, es hat sich daraus notwendig eine veränderte Stellung der christlichen Lehre und ein verändertes Verhältnis zwischen der christlichen Lehre und den wirklichen Gefühlen der Menschen entwickeln müssen, und ich meine, daß das in der Hauptsache so geschehen ist, daß, während das Christentum im Altertum noch trotz der Kirchenbildung in gewissem Maße auf dem altchristlichen Standpunkte verharrte, nämlich auf dem Standpunkte, daß die Welt und ihr Staat durchaus verweltlicht, daß sie des Teufels sei und negiert werden müßte, und daß es eben nur die civitas dei sei, die ein Recht auf Existenz habe, die sich aber mit der Welt abfinden müsse, die mit diesem relativen Naturrecht, wie Herr Prof. Troeltsch es vortrefflich erörtert hat, wie es in der Stoa ausgebildet und vom Christentum übernommen wurde, sich abfinden müsse. Ich meine, die alte Kirche vertrat den Standpunkt, daß die Kirche gleichsam als ein Fremdling in dieser feindlichen Welt sich bewege, noch nach Möglichkeit radikal, sie erklärte, Ecclesia jam nunc regnum Dei est, sagt Augustin, die Kirche ist schon jetzt das Reich Gottes, im Gegensatz zu den Ketzern, zu den Sektierern, die das Reich Gottes glaubten aufrichten zu sollen innerhalb dieser Welt. Gewiß, während die Kirche alle Ursache hatte, diese in Sünde versunkene antike Welt, die zum Verderben reif war, gänzlich zu verwerfen, während sie im Mittelalter daran festhalten mußte, so war es doch nicht zu vermeiden, daß eine viel tiefere Anpassung, eine viel innigere Verbindung mit der Welt innerhalb des Mittelalters vor sich ging, wo diese einfachen agrarischen Zustände immerhin noch viel näher der Einfalt und Frömmigkeit des Christen blie28 Augustin: Richtig heißt das Zitat: „Nunc est etiam ecclesia regnum Christi", in: De civitate Dei, lib. 20, c. 9.

[Das stoisch-christliche Naturrecht]

203

ben, Zustände, die noch nicht so weit von den kommunistischen Ursprüngen entfernt, ja die im ganzen Agrarkommunismus verwirklicht waren, so daß die in der antiken Welt vollkommen utopischen Ideale, daß kein Zins genommen werden solle, insofern sich verwirklichen konnten, als ein Bedürfnis des Kreditverkehrs gering entwickelt war, und es in der Tat nur einen Konsumtivkredit gab, den man mit Recht aus agrarischen Gründen bekämpfen konnte, so, meine ich aber und auch eben aus dieser absoluten Verwerfung der Welt, die schon infolge der Verstaatlichung der Kirche nicht mehr so absolut war, doch in der modernen mittelalterlichen Welt eine viel entschiedenere Bejahung mindestens mußte gelten lassen, konnte ja sogar eine heilige Weltordnung sich entwickeln, die tatsächlich in hohem Maße geltend gemacht wurde, so daß innerhalb der Publizistik sich immer die zwei Schulen nebeneinander befanden, von denen die eine, wie z. B. Gregor VII. absoluten kirchlichen Radikalismus geltend machte, wonach die Kirche heilig ist, der Staat aber des Teufels und ist nur insofern zu dulden, als er sich der Kirche unterordnet — neben dieser Lehre hat sich immer die andere bewegt, die ein Nebeneinanderleben, ein Nebeneinanderbestehen der zwei Schwerter vertrat, die also die Göttlichkeit auch der weltlichen Gewalt behauptete, was im Sinne der alten Kirche eine große Ketzerei war, und doch z. B. beim heiligen T h o m a s sich ausgeprägt findet. Dann konnte sich schon im Mittelalter wie bei Marsilius von Padua eine andere Lehre entwickeln, daß in der Tat die Kirche eine Institution sei, die höchstens indirekt göttlich sei, wie die weltliche auch, daß eben im Volk, im Willen der Menschen die eigentliche Wurzel liege. Und diese Lehre steht zugleich zusehends immer mehr und in immer deutlicherer Weise im Gegensatz zu dieser in den agrarisch feudalen Verhältnissen wurzelnden Heiligung der bestehenden Feudalordnungen, insbesondere des Kaisertums und seines Rechts, als die allmählich unter schweren Hemmungen sich entwickelnde bürgerliche Lehre. Und dieser bürgerliche Charakter ist, meine ich, dem Naturrecht der Sekte und dem rationalistischen Naturrecht gemeinsam. Sie beide sind in gewissem Sinne also von Anfang an rebellisch; sie sind von Anfang an rebellisch, insofern sie gegen diese bestehenden weltlichen Gewalten und mehr und mehr eben auch gegen die Kirche revoltieren. Nun meine ich aber, die Verwandtschaft der sektiererischen Religion, des sektiererischen Christentums, mit andern Worten der Ketzerei mit dem Rationalismus liegt hier an diesem Punkte wie übrigens an manchen anderen. Sie verwerfen die Kirche, sie sind der Kirche entgegen, sie sind auch damit der geistig theologischen

204

Schriften

Heiligung der weltlichen Gewalt entgegen. Sie sind nun mehr oder minder — die Sekten minder, der Rationalismus in der allerentschiedensten Weise — beflissen, alle weltlichen Ordnungen lediglich zu begründen auf ihre Zweckmäßigkeit und ihre Nützlichkeit, also auf die Bedürfnisse der Individuen, und das ist eben die bürgerliche Richtung, die sich mitten in dem Idealismus des Bürgertums selber und aus ihm heraus entwickelt. Die Gegensätze sind hier ja so mannigfach. Die Anschauung, daß die bestehenden Ordnungen, die bestehenden Gesetze und Rechte eine übernatürliche Heiligung haben, ist zugleich eine tief volkstümliche. Die Ehrfurcht vor der Obrigkeit, die also vom Evangelium gelehrt wird, ist eine Idee, die insbesondere dem Bauer in Fleisch und Blut lebt. Er sieht eben den in der Natur gegebenen Unterschied als einen von Gott gegebenen an, den Unterschied zwischen den höheren Ständen und den ganz niedrigen, den Unterschied zwischen König und Untertan. Demgegenüber aber steht der Bürger von vornherein, auch schon durch die vorstaatliche Verfassung, auch durch die städtische Verfassung des Mittelalters, auf einem ganz anderen Standpunkt. Er hat von vornherein das Bewußtsein: diese Stadt und ihr Recht, das ist meine Hütte, die habe ich geschaffen, und daher hat sogar das Naturrecht des Althusius, das uns Gierke wieder aufgedeckt hat, woran er die ganze Entwicklung des Naturrechts angeknüpft hat, daher hat, meine ich, sogar das Naturrecht des Althusius trotz seiner theologisch-calvinistischen Form im Grunde einen bürgerlich rationalistischen Charakter. Der große Unterschied, der sich dann aber doch entwickelt auch innerhalb dieses bürgerlichen Naturrechts, ist, meine ich, allerdings in einem gewissen Zusammenhang mit dem so viel entschiedeneren atheologischen und antitheologischen Charakter des Rationalismus, er ist in der Hauptsache der, daß das calvinistische und zugleich ständische Naturrecht — und das ist das charakteristische, daß das Bürgertum sich darin behauptet, wie dann andererseits auch der adelige Stand diese calvinistische Tendenz hat, die genau ähnliche Theorien hervorbringt, wie sie in Schottland entwickelt sind — da war es sowohl das Bürgertum als der feudale Adel, die sich behaupten wollten gegenüber der wachsenden Zentralisierung der Staatsgewalt. Diese verschiedenen Tendenzen und Richtungen berühren sich hier. Ich meine aber, was ihn noch unterscheidet von dem radikal rationalisti10 vom Evangelium 2i Althusius:

gelehrt

wird: Vgl. Römer, 13; 1. Petrus 2, 13.

Vgl. Gierke, 1 8 8 0 .

[Das stoisch-christliche Naturrecht]

205

sehen Naturrecht, das in seinem Schöße auch wieder verschiedene Tendenzen trägt, was ihn aber in der Hauptsache unterscheidet, ist dies, daß jene noch die Verbindung, die Gemeinschaft, den Staat als etwas seinem Wesen nach Wirkliches und etwas seinem Wesen nach dem Individuum überlegenes, es tragendes, es nährendes, es notwendig bedingendes, wesentlich Organisches betrachten und empfinden, während das rationalistische Naturrecht nicht ohne den Einfluß der gesamten mechanistischen Philosophie, die im 17. Jahrhundert mit der Entwicklung der modernen Physik sich anbahnte, davon ausgeht: nur das Individuum ist wirklich, alles andere sind nur Namen für gewisse, nur eingebildete, nur gemachte Verbindungen, die eben nur in unserer Vorstellung existieren, und folglich haben sie überhaupt keinen weiteren Lebenszweck, als daß sie den Zwecken der Individuen dienen. Sie sind also wesentlich fiktiv, der Staat ist ein Gedankending, darauf kommt es hinaus, er ist aber auch andererseits das einzige, was wir bedürfen. Denn was wir bedürfen, ist weiter nichts, als Schutz des natürlichen Rechts, sei es nun, daß das natürliche Recht mit seiner Eigentumsordnung insbesondere gedacht wird als schon vor der Stiftung des Staates existierend, daß der Staat nur hinzuzukommen braucht und nun eben diese Ordnung bestärken, betätigen und einhalten soll; oder daß gedacht wird: nein, der Staat wird eben geschaffen, um diese Ordnungen überhaupt zu machen, das Eigentum ist erst vorhanden damit, daß der Staat ist. Der Staat aber ist die allererste Notwendigkeit, weil ohne den Staat — wie das Hobbes in klassischen Formen ausführt — weil ohne den Staat ja alle Individuen Wilde sind und homo homini lupus ist: der eine frißt den andern auf. Also der Staat ist eine traurige Notwendigkeit, ein notwendiges Uebel.

25 homo

homini

lupus:

(lat.) Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Das Charakterbild eines Königs Im „Tag" vom 2. September hat Herr Dr. Hugo Böttger die von mir herausgegebene Schrift obengenannten Titels einer Besprechung gewürdigt, die für den Herausgeber ebenso freundlich wie für das Büchlein unfreundlich ausgefallen ist. Darauf zu entgegnen, wäre kein Anlaß vorhanden, wenn nicht der Herausgeber gleichsam zur Verantwortung gezogen würde, indem es als nicht recht erklärlich bezeichnet wird, warum diese Ausgrabung erfolgt sei, und wenn nicht mit dem Urteil, es geschehe neuerdings etwas zu viel in der Reproduktion alter Meister und vergessener Autoren, auch ich getroffen werden sollte. Ich glaubte freilich durch die von dem Kritiker erwähnte Einleitung hinlängliche Rechenschaft für diese Publikation gegeben zu haben; da aber von den Lesern der Kritik nur wenige diese Einleitung oder auch das Buch selber lesen werden, so darf ich vielleicht hier wiederholen und bekräftigen, was dort gesagt worden ist. Mir war vor fünf Jahren, als Geschenk eines englischen Freundes, das Original in die Hände gefallen. Ich fand die Charakteristik des Königs literarisch in hohem Grade fesselnd, es erschien mir als ein würdiges Denkmal aus dem in seinen literarischen Erzeugnissen strengen und edlen Stiles nicht genug gewürdigten siebzehnten Jahrhundert. Ich wußte bis dahin vom Marquis von Halifax als Schriftsteller wenig oder nichts. Daher überraschte es mich, zu finden, daß Ranke („Englische Geschichte", V, S. 148) ihn einen der besten „Pamphletisten", die je gelebt haben, nennt, wobei man nicht etwa verstehen darf, daß dem Worte Pamphlet der uns geläufige Nebensinn beiwohne, vielmehr

wendet

Ranke das Wort nach dem englischen Sprachgebrauch an, es bedeutet

i Das Charakterbild

eines Königs:

Zuerst in: Der Tag. Moderne Illustrierte Zeitung vom

8. 11. 1911, Nr. 263, S. 2—3. Berlin (Scherl). Der Beitrag ist eine Reaktion Tönnies' auf eine kritische Stellungnahme von Dr. Hugo Böttger; diese trug den Titel „Aus der britischen Königsgeschichte". Sie bezog sich auf die von Tönnies veranstaltete und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehene Edition „Charakterbild eines Königs. Vom Marquis Halifax (Sir George Saville) nebst Aphorismen des Autors", Berlin (Curtius) 1910b (vgl. T G 8). Die Einlassungen Böttgers brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden, da sie in den Tönnies'schen Text eingearbeitet sind, n Einleitung:

Vgl. Tönnies, 1910: 9 - 2 1 (TG 8).

Das Charakterbild eines Königs

207

ihm einfach „politische Flugschrift". Und der große Historiker rühmt diesem „Pamphletisten" (an der gleichen Stelle) „Witz und Geistesgegenwart und eine besonders glückliche Gabe des Ausdrucks" nach. Diese Worte hatte ich nicht angeführt, aber schon auf Grund jenes allgemeinen Epithetons meine ich einigen Grund zu haben, das Urteil Rankes dem Urteile Böttgers entgegenzusetzen. Ich fand ferner (und habe zitiert), daß Macaulay unserem Marquis ein wohlbegründetes Recht auf einen Platz unter den englischen Klassikern einräumt und von seinen politischen Abhandlungen (wozu er offenbar auch dies Charakterbild rechnet) sagt, sie verdienen wegen ihres literarischen Wertes studiert zu werden. Und doch ist es Herrn Dr. Böttger „nicht recht erklärlich", daß ich meinte, dies Kabinettstück — so habe ich selber das Charakterbild genannt — sei wert, „ausgegraben" und übersetzt zu werden. Nur um die Zeugnisse nicht zu häufen (was ein wenig nach Reklame geschmeckt hätte), versäumte ich, auch das Urteil David Humes, der als Historiker einen großen Namen, freilich als Philosoph einen noch größeren hat, ins Gefecht zu führen. Er nennt Halifax in ausdrücklicher Beziehung auf dies Charakterbild „einen großen Meister" (History of England. Vol. VI, p. 262). So steht Herr Dr. Hugo Böttger ein wenig isoliert, der nur einen rachsüchtigen Hofmann in ihm sieht und meint, daß dies kleine Meisterwerk sich nicht viel „über das Niveau des Memoirenklatsches, wie er von alters her von den Höfen aus geflossen ist, zu erheben" vermöge, und wenn er von der „immer noch zu weitschweifigen und selbstgefälligen Darbietung des Halifax" redet. Dieser Darbietung, sagt Dr. Böttger, habe es nicht bedurft, um noch einmal festzustellen, daß Karl II. ein Monarch von minderwertigen Eigenschaften, lasterhaft, faul usw. gewesen sei. Offenbar hat der geehrte Kritiker nicht gewußt oder nicht erwogen, daß es keineswegs um eine nochmalige Feststellung, sondern um ein Quellenwerk sich handelt, dem wir außer einer etwas günstigeren Darstellung des Grafen Buckingham das Beste verdanken, was über die Persönlichkeit des vorletzten Stuartkönigs überhaupt bekannt ist. Freilich, wenn mit einigen solchen Beiworten, wie sie Böttger gebraucht, ein 7 Macaulay. Vgl. Macaulay, 1849: I, 239. 34 vorletzten Stuartkönigs: Vgl. „A Character of King Charles the Second", in: Halifax, 1912: 1 8 7 - 2 0 8 .

208

Schriften

Mensch hinlänglich gezeichnet wäre, so wären die Feinheiten und Schärfen, die Halifax anwendet, überflüssig. In demselben Sinne, wie manchen Modernen das in Öl oder Pastell gemalte Portrait überflüssig erscheinen mag angesichts der photographischen Momentaufnahmen, die sie bewundern. Herr Dr. Böttger meint, das Buch solle wohl so eine Art Regentenspiegel darstellen und, wie von mir betont worden sei, auch soziologische Interessen befriedigen, also eine Berufsanalyse des Monarchentums darbieten. Dazu sei es aber zu gering, es komme nur ein Tendenzwerk heraus, das eine programmatische Bedeutung und einen soziologischen Wert nicht beanspruchen könne. Ich habe allerdings von einem Regentenspiegel und von soziologischem Interesse gesprochen; aber nicht in einem Atem. Ein Regentenspiegel gehört der angewandten Moral an. Regenten oder, die es werden wollen, können sich darin betrachten, um zu lernen, wie ein Herr von Menschen sein soll und wie er nicht sein soll. Ich meine in der Tat, daß solche nicht ganz wenig von der überlegenen Klugheit, die aus Halifax' spitzen Anmerkungen und psychologischen Beobachtungen spricht, gewinnen können. Aber darüber will ich mit dem geehrten Rezensenten nicht streiten. Ich habe ferner gesagt, die Schrift nehme ein genealogisches und „dadurch" ein — im weiteren Sinne — soziologisches Interesse in Anspruch. Hier ist eine ganz andere Seite der Sache in Auge gefaßt. Die fürstlichen Familien haben einen großen Einfluß auf die Geschicke der Völker, die unter ihnen sind. Darum ist es wichtig, die angeborenen und erblichen Eigenschaften, die Anlagen zum Guten und Bösen zu kennen, die in solchen Familien wirksam hervortreten. Die Stuart-Familie hat eine tragische Rolle in der Geschichte Großbritanniens gespielt. Den Charakteren nachzugehen, deren Träger in der Folge der Generationen auf die politische Bühne treten, hat schon darum einen hohen Reiz. Es ist von soziologischem Interesse, weil in ihren Geschicken der Gegensatz zwischen Schottland und England und in Kreuzung damit die Gegensätze zwischen Papismus und Protestantismus, von Kirchentum und Puritanertum, von Adel und Bürgern gleichsam sich ablagern. Unrichtig ist es, wenn Herr Böttger sagt, das Charakterbild sei „auszugsweise vermittelt". Das Charakterbild ist vollständig. Auszüge habe 27 Stuart-Familie:

Dazu zählen: Karl I., der hingerichtet wurde; Karl II., der in ständiger

Missachtung der öffentlichen Meinung regierte; Jakob II., der wegen seiner Rekatholisierungsbestrebungen sowie seiner absolutistischen Tendenzen angefeindet wurde.

Das Charakterbild eines Königs

209

ich aus den „Aphorismen" gegeben, die nur äußerlich mit jenem verbunden sind. Auch diese gefallen dem Kritiker nur zum kleinen Teil. Er macht mir zum Vorwurf, daß ich die „Abrisse" über Parlamente und Parteien ausgelassen habe. Wenn er geneigt ist, diesen Fehler mir als 5 „demokratische Tendenz" auszulegen, so wolle er verzeihen, daß ich für diesen Argwohn nur ein Lächeln habe und einen kleinen Lapsus cerebri darin erblicke. Der Abschnitt über Parteien ist eine kleine Abhandlung für sich, ich hätte ihn ganz mitteilen und dann noch zu mehreren Sätzen einen Kommentar schreiben müssen. Um das kleine Buch nicht zu sehr 10 zu belasten, habe ich darauf verzichtet. Die sechs Absätze über Parlamente haben den ständischen dualistischen Staat zur Voraussetzung, der nicht mehr vorhanden ist. Der letzte spricht über die Bedeutung von Präzedenzfällen (die er mit Hobbes sinnlos findet). Nur dem Kenner des englischen Staatsrechts dürfte dies zugänglich und interessant sein. Von i5 anderer, gewichtiger Seite ist mir ausgesprochen, daß die Aphorismen „nach mehr" schmecken. Ich werde dem Verlangen, mit dem in diesem Falle Herr Böttger sich begegnet, in einer (etwaigen) zweiten Ausgabe gern entsprechen, die mitgeteilten Proben des Halifaxschen Geistes zu vermehren.

3 Parlamente:

Vgl. Halifax, 1912: 224 f.

6 Lapsus cerebri: (lat.) Denkfehler. 13 Präzedenzfällen: Vgl. H o b b e s ' Leviathan, Kap. 27 u. 28. 17 zweiten Ausgabe:

ist nicht erschienen.

Vom Keplerbunde „Der Standpunkt des Keplerbundes ist: Gebt der Naturwissenschaft was der Naturwissenschaft zukommt, und der Religion, was der Religion gebührt". So lese ich in einem zierlichen Programme, das mich einlädt, dem Keplerbunde beizutreten. Der Religion — welcher Religion? der jüdischen? dem Islam? der Religion der freireligiösen Gemeinden? oder dem Christentum der allein seligmachenden Kirche? — Jede historische Religion — mit Ausnahme vielleicht des echten Buddhismus — nimmt an, daß Götter, oder daß der einzige wahre Gott durch Gebete, wenn nicht durch Opfer, der Gläubigen bestimmt und überredet werden könne, auf den Lauf der Natur mit seinem gnädigen Willen, in einer Weise die dem Gläubigen erwünscht ist, verändernd einzuwirken. Denn ein Gott als übernatürliches Wesen verhält sich zu den Naturgesetzen wie ein absoluter Monarch zu den Staatsgesetzen: er kann sie nach Belieben handhaben, abschaffen oder neue machen. Mehrere Götter können vielleicht einander entgegenwirken, aber der eine Gott ist unumschränkter Herr der Natur, wie ein Despot Herr ist seiner Untertanen. Mag auch der Christengott in der Regel bei der Verkettung von Ursachen und Wirkungen, auch bei den einmal von ihm erlassenen Gesetzen, es sein Bewenden haben lassen, so doch nur in der Regel. Wunderbare Gebetserhörungen sind ein fester Bestandteil aller religiösen „Erfahrung" und sie sind das wenigste was der Allmächtige leistet. Er zerstört ganze Städte und Länder in seinem gerechten Zorne. Auch der Zorn Jahwe's freilich kann besänftigt werden, wenn auch nur durch seine eigene Gnade. Aus Gnade hat er, einige tausend Jahre nachdem er die „Welt" erschaffen, seinen eingeborenen Sohn, der empfangen wurde von einer Jungfrau, die Jungfrau blieb, obgleich sie diesen Sohn gebar, auf die Welt, d. h. auf deren Hauptort, diesen Planeten Erde, gesandt, damit er, der Gott-Mensch sich selber

i Vom Keplerbunde:

Zuerst in: Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fort-

schritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens 1911, 11. Jg., Nr. 11, S. 409—413. Frankfurt am Main (Neuer Frankfurter Verlag). Tönnies reagiert hier auf eine Einladung, dem „Keplerbunde" als Mitglied beizutreten. Jenes „zierliche Programm", das Tönnies anfangs in dem Artikel erwähnt, konnte nicht ermittelt werden.

Vom Keplerbunde

211

zum Opfer bringe und dadurch die Menschen mit ihrem Schöpfer, seinem Herrn Vater, versöhne. Der bis dahin sie in seinem Grimme alle dem ewigen Tode zu weihen gedachte, wie sie durch ihre Sünden, weil sie z. B. auch anderen Göttern geopfert hatten, reichlich verdienten. Oder ist das nicht Religion? — Wenn wir so etwas für möglich halten, und für wirklich geschehen, geben wir dann nicht „der" Religion was ihr gebührt? Aber wie sollen wir es denn machen, um dem so dringenden Geheiß des Keplerbundes zu willfahren, wie wir um der erlauchten Namen willen, die den Aufruf unterzeichnet haben, so gern möchten? — Das Programm erklärt ferner (in schönem Rotdruck), es wolle dem Mißbrauch der Naturwissenschaft entgegentreten! Das ist gewiß lobenswert, denn wer wollte solchen Mißbrauch — wenn etwa die jungfräuliche Geburt durch Hinweisung auf die Parthenogenesis unter den Insekten wahrscheinlicher zu machen versucht würde — gutheißen? Aber diesen Mißbrauch zugunsten „der" — wir sagen richtiger: einer — Religion meint offenbar der Keplerbund nicht. Ist es in seinen Augen etwa ein Mißbrauch der Naturwissenschaft, wenn wir in ihrem Namen behaupten, daß die ganze christliche Mythologie und Dogmatik, wie die ihr zugrunde liegende jüdische Überlieferung von dem wütenden Kriegsgott Jahwe, entstanden sind und nur bestehen und sich erhalten konnten auf Grund einer tiefen Unwissenheit und Unkenntnis der Natur? auf Grund von kindlichen, wenn auch poetisch großen und erhabenen Vorstellungen, denen die Erde Mittelpunkt und Zweck des Weltalls, der Mensch Mittelpunkt und Zweck der Erde ist! um nur die harmlosesten dieser Irrtümer zu kennzeichnen? — Oder ist es Mißbrauch der Naturwissenschaft, wenn wir zeigen und erhärten, daß ihre Erkenntnisse und Fortschritte von den berufenen Vertretern der christlichen Religion fortwährend bekämpft und bestritten worden sind — nicht sowohl mit guten Gründen als mit bösen Verfolgungen, mit Gesetzen und Verurteilungen, Verketzerungen und Verleumdungen, mit Bannstrahlen und Hinrichtungen? Oder ist es Mißbrauch, wenn darauf aufmerksam gemacht wird, daß alle Religionen historischer Geltung „animistisch" sind, daß für sie die Geister objektive Realität haben, als Gespenster erscheinen und beschworen werden? während die naturwissenschaftliche Erkenntnis und die sich ihr anschließende Philosophie langsam und mühsam darüber aufgeklärt hat, daß es nichts ist mit der „bezauberten Welt", daß alle jene Phantasmen keine Erlebnisse von anderer als subjektiver (Wahn-) Bedeutung sind, daß in der Erfahrung das Seelische niemals vorkommt außer wie es gebunden ist an lebende Körper, und daß wir nicht den

212

Schriften

geringsten Grund haben, solchen Spuk für etwas anderes zu halten als für dichten Aberglauben? — „Er bekämpft" — so sagt der Keplerbund ferner von sich selber — die „mißbräuchliche" Vermischung der Naturwissenschaft mit religiösen oder antireligiösen Anschauungen. Ob das heißen soll, daß solche Vermischung immer mißbräuchlich ist? oder daß zwar einige solche Vermischung zu dulden, vielleicht sogar lobenswert, andere aber mißbräuchlich ist? Oder hat man dies absichtlich unklar gelassen? Sollten die Professoren der Theologie, die den Aufruf unterzeichnet haben, sollte ein Fürst Henckel von Donnersmarck oder Fürst zu Salm-Horstmar, sollte Exz. von Studt, ehemaliger preußischer Kultusminister, sollten diese und andere geistlich oder weltlich hohe Herren wirklich über die Grenzen zwischen richtigem und unrichtigem Gebrauch einig sein mit Herrn Geheimrat Reinke, der vor wenigen Jahren noch zum Protestantenverein sich bekannt hat, und mit den übrigen Professoren der Botanik, der Chemie, der Anatomie und Physiologie, der Geographie und Physik, die sich als Mitglieder des Bundes bekennen? Das ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, vielmehr darf mit großer Sicherheit behauptet werden, daß für die wirklichen gläubig-orthodoxen Anhänger der evangelisch-lutherischen Theologie — von der katholischen, die jawohl hier nicht in Frage kommt, zu schweigen — fast alle diese Naturforscher in ihre religiösen Ansichten so viele Naturwissenschaft hineinmischen, daß es jenen als ein „Greuel vor dem Herrn" erscheinen muß, als — nun man braucht nur das Erkenntnis des Spruchkollegiums gegen Herrn Jatho auszuschreiben, um sich zu vergegenwärtigen, wie die amtlichen Vertreter „der" Religion über solche Ketzer denken — müssen. Der Keplerbund („erkennt als einzige Tendenz die Ergründung und den — sehr rot gedruckt — Dienst der Wahrheit an. Er") „ist dabei der Überzeugung, daß die Wahrheit in sich die Harmonie der naturwissenschaftlichen Tatsachen mit dem philosophischen Erkennen und der religiösen Erfahrung trägt. Dadurch unterscheidet sich der Keplerbund bewußterweise von dem im materialistischen Dogma befangenen Monismus, und bekämpft die von ihm ausgehende atheistische Propaganda, welche sich zu Unrecht auf Ergebnisse der Naturwissenschaft beruft." 14 Protestantenverein: Deutscher Protestantenverein, gegründet 1863 in Frankfurt am Main zur Erneuerung des kirchlichen Lebens, für die Freiheit der Theologie als Wissenschaft, für eine stärkere Selbständigkeit der Kirchengemeinden, für eine volkstümliche Verfassung der evangelischen Kirche, Sitz in Berlin, Organ „Protestantenblatt" (1868 ff.).

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Ich halte es für ebenso unwahr daß „der" Monismus im materialistischen Dogma befangen ist, wie es unwahr ist, daß „die" Religion oder gar „die religiöse Erfahrung" mit den naturwissenschaftlichen Tatsachen in schönster Harmonie sich verträgt. Was den „Monismus" betrifft, so ist seine klassische Gestalt durch Spinoza ausgebildet worden, der im starken Gegensatze, auch zu dem partiellen Materialismus Descartes' (daß die Tiere bloße Maschinen seien, auch der Mensch, abgesehen von seinem Denken), lehrte, daß Materie und Geist, Leib und Seele notwendig und wesentlich verschieden sind, gerade weil sie die beiden Erscheinungsweisen der einen Substanz, der Natur seien. Freilich, auch Spinoza galt seinen Zeitgenossen, galt noch in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts als „Atheist", und er war es gegenüber dem Theismus des Judentums, wie des Christentums, wenn man ihn auch heute anders nennt. Auch Haeckel, der ja hier, ohne genannt zu werden, offensichtlich aufs Korn genommen wird, bekennt sich zum „Pantheismus" der AllEins-Lehre. „Gott und Welt sind ein einziges Wesen", er nennt sie „die Weltanschauung unserer modernen Naturwissenschaft"; den Satz: „es gibt keinen Gott und keine Götter" will er nur vertreten, wenn man darunter persönliche, außerhalb der Natur stehende Wesen verstehe. Diesen pantheistischen Glauben, den der Theologe Schleiermacher in seinen Reden über die Religion, „an die Gebildeten unter ihren Verächtern" vertreten hat (der Historiker der Philosophie J. E. Erdmann hat den Standpunkt dieser Reden ausdrücklich „monistisch" genannt), verklagen also die Weisen des Keplerbundes als „atheistische Propaganda". Für die heilige römisch-katholische Kirche und ihr infallibles Haupt sind sie selber sämtlich Atheisten und können nicht selig werden, es sei denn daß sie reuig in den Schoß dieser Kirche zurückkehren. Noch der Lutheraner Carpzov beschrieb das „unsagbare Verbrechen der Ketzerei" als das schwerste und furchtbarste, weil es nicht nur gegen die Menschen Unbill und Bosheit bedeute, sondern eine verabscheuungsund fluchwürdige Untreue gegen Gott, den Schöpfer, gemeinsamen Vater und Herrn aller sei. Ketzerei aber nennt er den hartnäckigen Irrtum „in den Glaubensartikeln" — richtig habe man den Ketzer als eine Person 14 Haeckel: Vgl. Haeckel, 1899: 116 f. 20 Schleiermacher: Vgl. „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern", 1799 zunächst anonym erschienen, v. a. „Zweite Rede: Über das Wesen der Religion". 22 Erdmann: Ein allgemeiner Hinweis bei Höffding, 1895: II, 215. 28 Carpzov: Vgl. Carpzov, 1709: Tl. I, q. XLIV, 2 - 4 (241).

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definiert, die innerhalb des Schoßes der Kirche irgendeinen Glaubensartikel, sei es direkt oder indirekt, hartnäckiger- und boshafterweise bekämpfe. Ob es unter den Keplerbündlern einen Mann gibt, der diese Prüfung bestünde? oder ist ihre religiöse Erfahrung, die so trefflich mit den naturwissenschaftlichen Tatsachen sich verträgt, von anderer Art als die religiöse Erfahrung, wie sie in den Glaubens-Symbolen der griechischen, der römischen, der lutherischen und der calvinistischen Kirche niedergelegt ist? Soll nur jene gelten? für jeden seine eigene? eine Ansicht, bei der natürlich keine Art von „Kirche" bestehen kann. Will also der Keplerbund die Kirchen abschaffen? will er auch die religiöse Erfahrung anerkennen, die sich in den „Welträtseln" als „unsere monistische Religion" kundgibt? Dann sei er willkommen und gepriesen! Aber diese nennt er ja „atheistische Propaganda", wie denn die Religion der einen immer der Atheismus der andern ist. Im römischen Reiche waren es die Christen, die als Atheisten gebrandmarkt und verfolgt wurden. Kepler, der „gerade durch die Erfahrung der Natur keine Einbuße, sondern einen reichen Gewinn für seine tiefreligiöse Persönlichkeit erlangt hat" (so heißt es im Aufrufe), soll das Vorbild sein! Ein hohes Vorbild! ein Mann der seiner Zeit ebenso weit voraus war, wie ohne Zweifel manche Anhänger des Keplerbundes hinter ihrer Zeit zurück sind! Aber Kepler blieb doch ein Kind seiner Zeit, er blieb von ihr abhängig und bedingt. Er hatte Theologie studiert, und als Astrologe erwarb er seinen ersten Ruhm. Aber um Freiheit rang seine starke Seele. „Ich kenne", hat er gesagt, „keine größere Qual, als die, nicht ausdrücken zu können, was ich in meinem Innern fühle — geschweige denn, das Entgegengesetzte von dem, was ich denke, aussprechen zu müssen." 1 Wer hört nicht die Stimme des Bedrückten aus diesen Worten? Wer so empfand, könnte der sich im Keplerbunde wohl fühlen? — Kepler hegte mystische Ideen. In seiner früheren Periode glaubte er noch, mit der christlichen Scholastik, daß die Planeten durch „Seelen" gelenkt würden, die Weltseele setzte er in die Sonne. Später beruft er sich mit Nachdruck darauf, daß er in seiner Abhandlung über den Mars (1609) nachgewiesen habe, es gebe keine solche Seelen, statt des Wortes Seele müsse man Kraft setzen. „Als ich erwog, daß die bewegende Kraft bei größerer Entfernung abnimmt ... schloß ich, daß sie ein Körperliches

1

Höffding,

Geschichte der neueren Philosophie II, S. 182 (Leipzig, Reisland 1895).

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sein müsse" (Höffding a. a. O . S. 187) — eine bedenkliche Annäherung an das materialistische Dogma. Wir dürfen uns vielleicht der Hoffnung hingeben, daß unter den 130 Vertretern der Naturwissenschaft und Medizin, die in den Spuren Keplers gehen zu wollen sich anheischig machen, der eine oder der andere sich finde, dessen Denken, wie das Denken Keplers, als der Entwicklung fähig sich erweise. Von den Fürsten und Exzellenzen wollen wir so etwas weder verlangen noch erwarten. Sie stehen ohne Zweifel felsenfest in ihrem Abscheu gegen den Monismus und die atheistische Propaganda. Was unter atheistischer Propaganda verstanden wird, wechselt sehr im Wandel der Zeiten. Aber die Fürsten und Exzellenzen bleiben sich ziemlich gleich im Wandel der Zeiten. O b nicht auch Kepler

von denen seiner Zeit, und den ihnen immer

so nahestehenden kirchlichen Theologen, des Atheismus geziehen oder wenigstens verdächtigt wurde? Bekannt ist, daß ihm die Tübinger Theologen seine Natur-Studien als „Fürwitz" verwiesen haben, und bei Hase (Kirchengesch. S. 441) lese ich: „Kepler ... wurde als ein ungesundes Schaf von der Herde des Herrn weggewiesen, weil er sich weigerte die Verdammung der Calvinisten zu unterschreiben und die Allgegenwart des Leibes Christi bezweifelte". Mit anderm Worte: er war für seine Zeit ein kühner Freidenker. Ein Keplerbund jener Zeit hätte sich vielleicht nach dem Ptolemaeus benannt oder nach dem heiligen T h o m a s von Aquino. Mit den Freidenkern der Vergangenheit wissen sich immer diejenigen auf einen guten Fuß zu setzen, die vor den Freidenkern ihrer eigenen Zeit ein Grauen empfinden, oder wenigstens glauben recht eindringlich warnen zu sollen. Sie protestieren immer dagegen, mit den Dunkelmännern der Vergangenheit verwechselt zu werden. Die Dunkelmänner der Gegenwart dürfen sich getröstet und ermutigt fühlen durch das Programm des Keplerbundes.

20 die Allgegenwart

des Leibes Christi bezweifelte:

Vgl. Hase, 1867: 424.

Die Front gegen rechts!" Nach meiner Ansicht handelt es sich an dem großen Wendepunkte, dem unsere innere Politik sichtlich entgegengeht, um Wiederaufnahme und Fortführung der Ideen und Stimmungen, die im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts, nicht ohne mitwirkenden Einfluß der großen Staatsveränderung des Nachbarlandes, der deutschen Nation das Verlangen nach einem einigen Staatswesen eingaben, und in der dritten Generation mit Begründung des Bundesstaates, der den Namen Deutsches Reich führt, eine Beruhigung, wenn auch nicht eine reine Lösung ihres Problèmes gefunden haben. Daß diese Lösung nach dem Scheitern der Volksbewegung durch eine Neugestaltung der preußischen Militärmacht eingeleitet wurde und zum unmittelbaren Urheber einen Staatsmann hatte, der aus dem altpreußischen Adel und dem dazugehörigen Glauben an die Metternichsche Politik hervorgegangen war, hat zur Folge gehabt, daß die alten Feinde der Einigung Deutschlands die bewußtesten Nutznießer dieser Einigung geworden sind. Durch jene epochemachende Tatsache wird aber die chronische und wesentliche Tatsache nicht aufgehoben, daß der deutsche Reichsgedanke nur gegen den hartnäckigen bitteren und scharfen Widerstand jenes Standes, der dem altpreußischen Staatswesen sein Gepräge gegeben hat, sich zu entwickeln vermocht hat, und auch ferner nur im gleichen Sinne sich entwickeln wird, wenn er stark genug dazu ist, ähnlichen Widerstand zu brechen. Das Ideal der deutschen Einheit, für das die Burschenschafter Schmach, Kerker, Verbannung gelitten haben, während die Korpsstudenten sich amüsierten und sie verspotteten, war und ist — wesentlich demokratisch. Darum war es der preußischen Aristokratie und der preußischen Armee ein Greuel und eine Narrheit, es von ihr in den Tod verhaßt. Sie 1 „Die Front gegen rechts!":

Zuerst in: Berliner Tageblatt vom 14. 12. 1911 (Donnerstag),

S. 1, Berlin. Dem Artikel steht eine Bemerkung der Redaktion voran: „Wir setzen die Veröffentlichung der uns zugegangenen Kundgebungen für die Parole ,Die Front rechts' hiermit fort und publizieren heute den Artikel, den Herr Professor Tönnies,

von der Universität Kiel, uns zur Verfügung gestellt".

Dr.

gegen

Ferdinand

,Die Front gegen rechts!"

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fürchtet auch heute dessen vollere Verwirklichung, die Konsequenzen, zu denen das Dasein eines Reiches, das auf dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht beruht, ohne Zweifel hindrängt. Diese Konsequenzen lebendig werden zu lassen, ist die notwendige gemeinsame Aufgabe der deutschen Parteien, die das Reich von der preußischen Bevormundung emanzipieren, die deutsche Nation zum freien Selbstbewußtsein, zur selbständigen Bestimmung ihrer Geschicke erheben wollen. Zu diesen Konsequenzen gehört in erster Linie die Neugestaltung, die freiere Gestaltung des preußischen Staates. Gerade weil ihm die tatsächliche und rechtliche Hegemonie im Reiche zusteht, muß dieser Motor eine modernere Form und zweckmäßigere Konstruktion erhalten. Das Beharren der preußischen Monarchie in den ausgefahrenen Gleisen des Absolutismus, nachdem sie nur durch innere Reformen, die dem Geiste der Revolution ihre Kraft entlehnt hatten, und durch den Appell an ein Volk, das zuvor aus den Banden der Erbuntertänigkeit unter Gutsherrschaften erlöst war, nach völligem Zusammenbruch sich zu erheben vermocht hatte, ist das hervorstechendste Merkmal in der politischen Leidensgeschichte Deutschlands von 1815 bis 1870. Wenn es heute eine große antimonarchische Partei im Reiche gibt, so können wir darin eine Nemesis nicht verkennen, die durch den volksfeindlichen Geist der Regierungen jener Tage wachgerufen worden ist; einen Geist, der noch als Gespenst auf dem Grabe sitzt, in dem das alte Preußen neben dem deutschen Bunde begraben — liegen sollte. Denn trotz der Verfassung, die zu beschwören der politisch unfähige letzte absolutistische König höchst widerwillig sich bequemte, mit einer Verfassung, die schon durch die Form ihrer Verkündigung einen reaktionären Stempel trug, der ihr Wesen verneinte, hat das preußische Königtum, durch siegreiche Kriege gestählt, seinen starren theokratisch-militaristischen Charakter behauptet, und wird darin durch die feudalen Elemente gestützt, die mit den konstitutionellen Formen sich trefflich abgefunden haben, sofern sie daraus eine Restauration alter ständischer Mitherrschaften zu machen in der Lage waren. Trotz liberaler Formen und Reformen ist Preußen ein Polizeistaat geblieben. Den ertragen moderne Menschen nicht mehr. Am meisten zuwider ist er, der Natur der Sache nach, jener zahlreichen Schicht, die durch die wirtschaftliche Verfassung — die „Gesellschaftsordnung" — zugleich gehoben und bedrückt, danach 26 absolutistischen

König: Damit ist Friedrich Wilhelm IV. gemeint.

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ringen muß, sich politisch geltend zu machen, um von ihrer privatrechtlichen Gleichheit nicht die bittere Schale kauen zu müssen, ohne je den süßen Kern zu schmecken; die nicht umhin kann, den Polizeistaat als Klassenstaat zu empfinden. Das ist er für das Proletariat heute, wie er es für das Bürgertum ehemals gewesen, und tatsächlich hat sich zwischen Bürgertum und Proletariat nur insoweit eine absolute Kluft aufgetan, als Teile von jenem, und zwar die mächtigsten, mit dem Adel zusammen — die schwere Industrie und der schwere Agrarismus — die herrschende Klasse bilden, die in der Tat schwer auf dem materiellen wie dem geistigen Leben beinahe des ganzen übrigen Volkes lastet. Freilich, in dem katholischen Teile unseres Volkes wird diese Last scheinbar nicht empfunden. Infolge des Kulturkampfes und der festflüssigen Masse der Zentrumspartei, die dieser schuf, haben jene Elemente ihrer Partei auf Tod und Leben ihre politischen Geschicke anvertraut, und das Zentrum darf sich, obschon es die materiell herrschende Klasse nur zum kleinen Teile vertritt, als geistig mitherrschende Partei empfinden, weil Regierungen und die anderen herrschenden Parteien wetteifernd um seine Gunst buhlen, und den Papismus als konservative Macht anerkennen, ja lieben, solange er die Untertanen-Schafe vor der demokratischen Seuche zu schützen verspricht — und scheint. Der Papismus freilich, und mit ihm das Zentrum, stehen dem Reichsgedanken fremd, ursprünglich feindselig gegenüber, sie können das „protestantische Kaisertum" nur mit Mißtrauen betrachten, sie sind in der Tat staatserhaltende Mächte, denn sie streben danach, den Staat zu erhalten und zu behalten, nämlich in Abhängigkeit von der heiligen Kirche. Hingegen die Sozialdemokratie ist ihrem Wesen, ihrem inneren Zwecke nach eine Partei des neuen Deutschen Reiches, sie ist an dessen Wohl und Wehe gebunden, sie muß seine Verfassung bejahen als Bedingung ihrer eigenen Existenz, wenn sie auch danach streben darf, diese Verfassung auf verfassungsmäßigem Wege in ihrem Sinne zu verbessern. Es steht ihr frei, der republikanischen Staatsform theoretisch den Vorzug vor der monarchischen zu geben, und sie braucht sich nicht einmal darauf zu berufen, daß es unter den Gliedstaaten des Reiches drei Republiken und nunmehr einen Staat gibt der wenigstens keiner besonderen und angestammten Monarchie sich erfreut; aber in der praktischen Politik 34 drei Republiken und nunmehr einen Staat gibt: Tönnies meint damit wohl das Königreich Württemberg; die drei Republiken sind die Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen.

,Die Front gegen rechts!"

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steht die Abschaffung der Monarchie jenseits aller Überlegungen und interessiert im Grunde nur die Leute, die politischen Kindern mit jener republikanischen Gesinnung bange machen wollen. Politische Erfahrung hat im allgemeinen die Völker gelehrt, daß es geratener ist, dem gegebenen Verfassungskleide ihre Gliedmaßen anzupassen, anstatt es zu zerreißen oder wegzuwerfen; denn das Kleid pflegt durch Alter kostbarer zu werden und läßt sich nicht rasch wiederherstellen, wenn es zerstört ist. Die Sozialdemokratie — man möge sich zu ihr stellen, wie man will — "wird auf alle Fälle ihr Gewicht in die Wagschale der Politik der Zukunft werfen. Wenn diese Politik eine ausgesprochen liberale Farbe annimmt, wozu mitzuwirken die Sozialdemokratie das dringendste Interesse hat, so wird dieser Erfolg ohne Zweifel auf ihren Charakter, ihre Taktik, vielleicht sogar auf ihr Programm zurückwirken. Sie wird sicherlich dadurch nicht dem Kapitalismus versöhnt oder auch nur freundlicher gemacht werden. Aber sie wird sich der Erkenntnis nicht erwehren können, daß in einem wirklichen modernen Verfassungsstaat, wie Preußen es werden soll, die Frage, ob die Spitze der exekutiven Gewalt und die Repräsentation nach außen hin einem erblichen Amte gehören solle oder nicht, keineswegs von primärer Bedeutung ist; wenigstens so lange nicht, als die große Mehrheit der Staatsbürger zweifellos die Erhaltung dieser Form wünscht und will, oft sogar dafür begeistert ist. Vielleicht wird überdies die Erkenntnis Luft gewinnen, daß das öffentliche Wohl die Erhaltung der überlieferten Formen, solange als sie lebensfähig bleiben, dringend erheischt. — So lange aber, als Sozialdemokraten nicht ablehnen, bei engerer Wahl für einen Liberalen sich zu entscheiden, weil dieser die Monarchien in Deutschland zu erhalten wünscht, so lange hat umgekehrt der Liberale keinen zureichenden Grund, den Sozialdemokraten nicht zu wählen, weil dieser denselben Monarchien unfreundlich gegenübersteht; in Fällen, wo es für jenen gilt, kundzugeben, daß er unter allen Umständen, und auch um den hohen Preis einer ihm widerstrebenden Wahl, eine Parteiherrschaft zu stürzen entschlossen ist, die gerade dahin gewirkt hat, den natürlichen Entwickelungsprozeß der Sozialdemokratie zu hemmen, ihre Entwickelung nämlich im Sinne einer nüchternen praktischen Politik, der sogar die heutige, im Prinzip intransigente Partei sich längst nicht mehr entziehen konnte. Die Nationalliberalen freilich werden nach wie vor betonen, daß ihre Gefühle ihnen verbieten, mit den Sozialdemokraten unter irgendwelchen Umständen „zusammenzugehen". Seltsam genug, daß gerade die glühendsten Bewunderer Bismarcks in der Gefühlspolitik am stärksten sind:

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Bismarcks, der die Gefühlspolitiker immer verhöhnt hat und ein Bündnis mit dem Gottseibeiuns nicht scheute, wenn er seine Zwecke dadurch zu befördern glaubte. Niemand handelt gern gegen seine Gefühle. Niemals soll man gegen sein Gewissen handeln. Aber das Gewissen darf nicht gedankenlos sein. 5 Es muß von klarer und starker Einsicht wie von Mut und Entschlossenheit geleitet werden.

[Klassenjustiz] „Für eine der vornehmsten Aufgaben der „E. K." halte ich, die Klassenjustiz an den Pranger zu stellen und zu bekämpfen. Die Richter sind dabei ohne Zweifel in gutem Glauben. Aber sie stehen unter dem Ein5 flusse ihrer Zeitungen, die, wie die Hamburger Nachrichten, keineswegs im guten Glauben sind. Diese wollen, daß harmlose Vorgänge zu Verbrechen gestempelt werden, wenn es Vorgänge sind, in denen Arbeiter gegen unlauteren Wettbewerb ihrer Klassengenossen protestieren. i /Klassenjustiz]:

Zuerst ohne Titel in: Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für sozialethi-

sche Reformen 1912, 20. Jg. (1. 1. 1912), S. 6, Berlin (Bieber). Dieser Text stellt eine Reaktion Tönnies' auf einen Zeitungsartikel dar, den er der Redaktion mitsamt seinen Bemerkungen dazu einsandte. Er wird von der Redaktion wie folgt eingeführt: „Von sehr hochgeschätzter Seite geht uns folgender Zeitungsausschnitt zu:". Der zugesandte Artikel hat den folgenden Wortlaut: „Strafkammer III. Vorsitzender: Direktor Dr. Schräder. Staatsanwalt: Dr. Lehmann. In Ermangelung des von den Scharfmachern so sehr begehrten Gesetzes zum Schutz der nützlichen Elemente glauben Amtsrichter Dr. Abendroth und die Mitglieder der Strafkammer III bei unerheblichen angeblichen Streikvergehen mit harten Strafen vorgehen zu müssen. Die arbeitswilligen Tischler Fresch, Jens und Länger machten die Anzeige, daß sie im Juli d. J . von den ausgesperrten Tischlern Ro. und Ru. auf dem Wege zu ihrer Arbeitsstätte 'Heidelberger' genannt worden seien, und stellten Strafantrag. Um die verletzte Ehre der drei 'Ehrenmänner' wiederherzustellen, erhob die Staatsanwaltschaft gegen die angeblichen Beleidiger Anklage wegen öffentlicher Beleidigung. Das Schöffengericht unter Vorsitz des Amtsrichters Dr. Abendroth verurteilte beide Angeklagten zu je zwei Wochen Gefängnis, indem ausgeführt wurde, daß Arbeitswillige des besonderen Schutzes der Polizei bedürfen und daß daher Beleidigungen gegen sie nicht mit Geld-, sondern mit Gefängnisstrafen geahndet werden müssen. Trotz der Unbescholtenheit der Angeklagten müßte daher auf zwei Wochen Gefängnis erkannt werden. Die Angeklagten legten wegen des Strafmaßes Berufung ein, da sie mit ihren Gegenbeweisen bei den Eiden der Arbeitswilligen doch eine Freisprechung nicht erreichen könnten. Staatsanwalt Dr. Lehmann meint aber, es müsse bei einer Gefängnisstrafe bleiben, denn eine Geldstrafe würde doch nicht von den Angeklagten, sondern aus der Streikkasse gezahlt werden. Rechtsanwalt Berg, Altona, entgegnete als Verteidiger, es sei die hohe Aufgabe des Gerichts, frei von den vom Staatsanwalt angeregten Bedenken und Vermutungen zu urteilen. Obgleich der Staatsanwalt die Strafe des einen Angeklagten auf eine Woche Gefängnis herabzusetzen empfiehlt, verwirft das Gericht beide Berufungen, indem es sich den Gründen des Schöffengerichts anschließt. Dieses Urteil ist so aufreizend, daß jede Kritik die Wirkung nur abschwächen würde."

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Gewiß mußte, nach bestehendem Recht, die Anwendung des Ausdruckes „Heidelberger" bestraft werden. Fälle von Betrug und von gefährlicher Körperverletzung werden alljährlich massenhaft mit Geldstrafe belegt. Wer die Geldstrafe bezahlt, geht einen gerechten Richter nichts an. Wenn aber ein solcher Gefängnisstrafen verhängen wollte, so wären drei Tage Gefängnis schon eine auffallend, 5 Tage eine sehr harte Strafe gewesen. Zwei Wochen sind eine Ungeheuerlichkeit — Klassenjustiz."

2 „Heidelberger": Streikbrecher.

Der Ausdruck bezeichnete in Hamburg das Schimpfwort für einen

Bürgerliche und politische Freiheit Literatur Aristoteles, Polit. VI, p. 1311 Bekk. - Hobbes, De Cive Cap. XIII, 15. 17. Leviath. P. II. Ch. 21. — Spinoza, Tractatus theologico-politicus. — Locke, Two treatises on civil government II, ch. IV. — Montesquieu, L'esprit des lois. L. XI, 3. L. XII, 2. — Hume, Essays literary moral and political. XIII Of civil liberty. — Rousseau, Du contrat social 1762. — Price Richard, Observations on the nature of civil liberty, the principles of government etc. 7 th ed. Lond. 1776. — Frh. v. Vincke, Darstellung der inneren Verwaltung GrossBritanniens. M . Vorw. v. Niebuhr. Beri. 1816. — Humboldt, W. von, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1791) Breslau 1851. — Kant, Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre (1797). — Mill, J. St., On liberty. London 1859. — Laboulaye, L'Etat et ses limites, 5. ed. Paris 1871. — Stephen, James Fitzjames, Liberty, equality, fraternity. Lond. 1873. - Treitschke, H. v., Historische und politische Aufsätze. Leipzig 1886. Dritter Band, S. 1 — 42. — Lieber, F., On civil liberty and self-government 3. ed. Philadelphia 1874, deutsch. Tübing. 1860. — Simon, Jules, La liberté de conscience. Paris 1867; La liberté politique. 3. ed. Paris 1867; La liberté civile. 3. ed. Paris 1867. — Tocqueville, A. de, De la democratic en Amérique. 2 Vol. Paris 1835. — Schaffte, Bau u. Leben des soz. Körpers. II. 119 ff. 137 ff. Tübing. 1878. — Dupont-White, L'individu et l'état. 3. ed. Paris 1865. - Bahr, Der Rechtsstaat. Göttingen 1864. - Held, Staat und Gesellschaft. II. 92ff. III. 5 1 1 - 6 3 6 . Leipzig 1865. - Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. 2. A. Berlin 1879. — Montague, The limits of individual liberty. London 1885. — Hasbach, D. mod. Demokratie. 2. Aufl. Leipzig 1918. — Spencer, H., The man versus the state. Lond. 1886. — Idem. Justice, (P. IV of the Principles of Ethics). Lond. 1891. — Giese, Die Grundrechte (Zorn-Stier, Abh. a. d. Staats-Verw. u. Völkerr. I, 2). — Gierke, Joh., Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. 3. Ausg. Breslau 1913. VI. Kap. — Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. 2. A. Tüb. 1904. — Id., System der subjektiven öffentlichen Rechte. 2. Aufl. Tübingen 1905. - Id. Allg. Staatslehre 3 , S. 294. Beri. 1914. - Wagner, Adolph, Grundlegung der politischen Ökonomie. 3. Aufl. Zweiter Teil. Buch 1, 3. Leipzig 1894. — Maine, H. S. Popular government. Lond. 1885. — Locke, W. H., Democracy and liberty. 2. A. Lond. 1899. — Merkel, Ad., Fragmente zur Sozialwissenschaft. Strassb. 1898. — Glogau, G., Über politische Freiheit (Rede). Kiel 1885. — v. Wiese, Lv. Das Wesen der politischen Freiheit (Rede) Tübingen 1910. — Bryce, The american commonwealth 3 , 1911, Kap. 98, 100—102. — Al. Bonucci, Libertà di volere, e libertà politica (Estr. della Rivista di filosofia i Bürgerliche

und politische

Freiheit:

Erschienen in: Handbuch der Politik (Laband, P.

u. a. [Hg.]), Berlin und Leipzig (Dr. Walther Rothschild), 3. Auflage 1920, S. 1 7 2 - 1 7 9 . Die erste Auflage erschien 1912, S. 240—246, die zweite Auflage erschien 1914, ebenfalls S. 2 4 0 - 2 4 6 . Beachte den Editorischen Bericht (S. 6 8 0 - 6 8 3 ) . 30 Locke: Gemeint ist Lecky.

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IV, 2) Genova 1912. — Die deutsche Freiheit. 4 Reden. Gotha 1917. — Ferdinand

Tönnies,

Der englische Staat und der deutsche Staat. Berlin 1917. Kap. 5.

Die politische Freiheit wird oft mit der bürgerlichen Freiheit vermischt und verwechselt. Es scheint zweckmässig, die beiden Begriffe auf folgende Weise zu unterscheiden: Bürgerliche Freiheit ist Freiheit der Regierten, politische Freiheit Freiheit der Regierenden. 1 Dies will sagen: Bürgerliche Freiheit kann in ausgedehntem Masse bestehen, ohne dass die Individuen, die sie geniessen, irgend welchen aktiven Anteil an der Souveränität des Staates haben. Sie ist also ihrem Wesen nach unabhängig von der Staatsform. Hingegen politische Freiheit bedeutet Anteil an der Herrschaft und erstreckt sich daher, insofern als die drei Gewalten geteilt sind, auf die gesetzgebende, die richterliche und die verwaltende Staatstätigkeit. Politische Freiheit ist mithin, je mehr sie verallgemeinert wird, um so mehr demokratisch; und sie stellt um so vollkommener sich dar, je reiner das Prinzip der Volkssouveränität in allen Institutionen des Staates verwirklicht ist. In neuerer Zeit hat man so sehr sich gewöhnt, Freiheit im allgemeinen, und politische Freiheit im besonderen, als ein Gut schlechthin zu betrachten, dass die Gegner der Demokratie zu leugnen pflegen — wie es schon Hobbes tat —, dass politische Freiheit mit der Staatsform irgendwie zusammenhänge. Die Verwechselung politischer Freiheit mit bürgerlicher Freiheit liegt hier zutage. Politische Freiheit — sie ist in der Regel gemeint, wenn in bezug auf das Staatsleben von Freiheit die Rede ist — hat in der modernen Entwicklung, unter dem Einfluss antiker Vorbilder ihre Spitze zumeist gegen die monarchische Staatsform gekehrt: teils direkt, als Forderung, Behauptung, Verherrlichung der Republik, teils wenigstens gegen den fürstlichen Absolutismus, das persönliche Regiment, den Scheinkonstitutionalismus u. dgl. Durch Ausdehnung bürgerlicher Freiheit ist das Verlangen nach politischer oft gedämpft worden. A. Bürgerliche Freiheit ist die Freiheit der Person und ihrer Betätigungen, die dem Bürger vom Staate gelassen oder sogar ausdrücklich durch Gesetze garantiert und geschützt wird. Die Freiheit der Person ist a) allgemeine persönliche Freiheit in bezug auf alle anderen Personen, b) spezielle bürgerliche Freiheit in bezug auf den Staat. Die Freiheit des 1

Das zwiefache Wesen der Freiheit im Staate hat Aristoteles ausgesprochen. Freiheit bedeutet ihm 1. das Recht der Bürger, nach ihrem Belieben zu leben; 2. die Teilnahme der Bürger an der Regierung. Er will damit wiedergeben, w a s er bei den Anwälten demokratischen Verfassungsrechtes gefunden hat.

Bürgerliche u n d politische Freiheit

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nicht erzwungenen und nicht gehemmten Handelns, worin diese besteht, zerfällt in zwei grosse Hauptkategorien: aa) die Freiheit der ökonomischen Betätigung; bb) die Freiheit der geistigen Betätigung. Zwischen beiden steht eine Betätigung, die einen politischen oder wenigstens quasipolitischen Charakter hat, wie denn auch die ökonomischen und die geistigen Betätigungen sich an vielen Punkten damit berühren; das ist die Freiheit der Assoziation, d. i. der Versammlung und namentlich der Vereinigung für irgend welche Zwecke, unter denen der Natur der Sache nach die politischen Zwecke das Staatsleben am nächsten berühren, so dass an dieser Stelle die bürgerliche Freiheit im Begriffe steht, in die politische Freiheit überzugehen und sich am engsten mit ihr berührt: diese Art der bürgerlichen Freiheit kann daher auch als staatsbürgerliche Freiheit ausgezeichnet werden. Freiheit in jedem Sinne ausser der allgemeinen persönlichen Freiheit besteht aus einzelnen Freiheiten, die im Verhältnis zum Staate Rechte bedeuten und alle auf der Voraussetzung jener (der persönlichen Freiheit oder der freien Persönlichkeit) beruhen; diese Rechte aber haben zunächst ihre Geltung nur im Privatrecht, wenn sie auch aus öffentlichem Rechte sich ableiten. Dagegen gehören die politischen Freiheiten unmittelbar dem öffentlichen Rechte an; sie sind subjektive öffentliche Rechte im engeren Sinne (wenn auch die bürgerlichen Freiheitsrechte als solche begriffen werden). Bürgerliche sowohl als politische Freiheit kann verstanden werden als Freiheit der Korporationen oder als Freiheit der Individuen. Die individuelle Freiheit der Assoziation berührt sich mit der bürgerlichen Freiheit, deren Korporationen sich erfreuen, und diese betätigt sich in ihrer Autonomie. Wenngleich ihrem Ursprünge nach genossenschaftliches Recht, erscheint sie vom Staate als Zentralgewalt aus als konzediertes Privileg. Die Teilnahme von Korporationen (etwa als Ständen) an der Zentralregierung ist ihre politische Freiheit; an ihr war ehemals die herrschende Aristokratie, geistliche und weltliche, vorzugsweise beteiligt. Im modernen Staate, wie er infolge der französischen Revolution sich entwickelt hat, sind diese „Libertäten" mehr und mehr zurückgetreten, wenn auch nicht überall verschwunden. Bürgerliche wie politische Freiheit wird im modernen Sinne wesentlich als individuelle Freiheit verstanden. Nur in der „Selbstverwaltung" kehrt ein Stück der politischen Freiheit der Individuen als bürgerliche Freiheit von Gemeinden und anderen Körperschaften wieder. Insofern als diese aus der Staatsgewalt abgeleitet werden kann, liegt auch hier eine Teilnahme an der Souveränität des Staates vor.

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1. In der Voraussetzung der persönlichen Freiheit der Individuen, also in dem Gegensatze gegen Sklaverei, Leibeigenschaft, Hörigkeit liegt der stärkste Zusammenhang des Postulats der Freiheit mit dem der Gleichheit: die unmittelbare Beziehung aller Individuen auf den Staat involviert die Gleichheit aller vor der Staatsgewalt, also vor dem Gesetze. Die Gleichheit bedeutet in erster Linie gleichen Schutz jeder Person gegen jede andere Person, gleiches „Recht" für alle. Zur Person gehört ihre Habe und ihre Ehre. Der Kern aller bürgerlichen Freiheit ist, ihrer Idee nach, dass der Staat um der Individuen willen, um ihre „Rechte" in bezug aufeinander mit seiner Macht geltend zu machen, da sei; Ausdruck dafür die Lehre, dass die Menschen den Staat durch Verträge begründet „haben" (ausserzeitlich: begründen). Diese Lehre beruht in der Erkenntnis, dass der Staat notwendig die natürliche Freiheit einschränkt; auch so gestaltet, dass die Individuen, wenn sie in den Staat eintreten, gewisser ursprünglicher Rechte sich entäussern (vor allem des Rechtes der Selbsthilfe, des freien Gebrauches der eigenen Zwangsmittel). Da aber der Hauptzweck des Staates sei, Rechte zu schützen, so habe es keinen Sinn, sich solcher Rechte zu entäussern, zu deren Schutz eben der Staat errichtet wird. Diese Rechte müssen die Menschen sich vorbehalten, sie sind „unveräusserlich", es sind die „Menschenrechte", die im Staate als „Bürgerrecht" beharren. Man will, dass sie auch für die Staatsgewalt unantastbar seien. In diesem Sinne lässt Montesquieu politische Freiheit (er meint bürgerliche) in der Sicherheit „oder wenigstens in der Meinung (dem Bewusstsein) der eigenen Sicherheit" bestehen. Und in diesem Sinne gilt als eine Schutzwehr der bürgerlichen Freiheit gegen die Staatsübermacht die Teilung der Gewalten, namentlich die Trennung von Justiz und Verwaltung mit dem Uebergewicht der Justiz durch Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die als Kriterium des „Rechtsstaates" hingestellt wird (Gneist). Die allgemeinen Grundsätze, die aus dieser Idee für alle bürgerliche Freiheit abgeleitet werden, sind: 1. Ausschliessung jeder privaten Gewalt, jedes unautorisierten Zwanges, jeder persönlichen Willkür, oder: Verneinung jeder Art von Herrschaft einer Person über die andere ausser der rechtmässigen Ausübung des Staatswillens, die durch das Gesetz gebunden ist, und das Gesetz ist nur rechtmässig, wenn es gemäss dem Verfassungsrecht entstanden ist. 2. Einschränkung des gesetzlichen Zwanges auf das unerlässlich notwendige Mass; Rechtsschutz 22 Montesquieu: des Bürgers".

Vgl. dessen „Geist der Gesetze", XII. Buch, 2. Kapitel „Über die Freiheit

Bürgerliche und politische Freiheit

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gegen Missbrauch der Gewalt und gegen Ueberschreitung der Grenzen, innerhalb deren die Beamten des Staates ihre Macht geltend machen sollen und dürfen. — Besondere Bedeutung haben diese Grundsätze in Anwendung auf die Rechtspflege, zumal auf Strafprozess und Strafrecht. Sie wehren aller administrativen Justiz, und wollen auch die Gewalt, deren der Staat zur Verfolgung gesetzmässiger Justiz bedarf soweit einschränken, dass die bürgerliche Freiheit sich damit vereinigen lasse. Daher die Forderung, dass jedermanns Haus „seine Burg" sei, es dürfe nicht gewaltsam geöffnet, auf Person oder Habe kein Arrest gelegt werden, es sei denn, dass ein schweres Verbrechen vorliege, und auch dann müsse der Beamte den Haftbefehl vorweisen und bleibe dem Richter verantwortlich für Ueberschreitung seiner Machtbefugnisse. 2 Ueberhaupt beziehen sich die Postulate der bürgerlichen Freiheit hauptsächlich auf den Prozess: Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens; Anklageprozess anstatt des Inquisitionsprozesses in Strafsachen; daher das Recht zu leugnen und das Recht auf ungehemmte Verteidigung, die auch für die Untersuchung in Anspruch genommen wird, gegebenenfalls amtlich zu bestellen ist; Regel, dass jeder für unschuldig zu erachten, bis seine Schuld erwiesen sei, und andere Normen zum Schutze des Verdächtigen, des Angeklagten, zur Entschädigung der ohne Grund Verhafteten oder sogar unschuldig Verurteilten. Dahin gehört endlich ein Stück politischer Freiheit: die Beteiligung von Laien an der Rechtssprechung, also die Forderung der Jury, insbesondere in politischen Prozessen, überhaupt bei Vergehen durch die Presse. — In bezug auf das materielle Strafrecht macht das Verlangen nach bürgerlicher Freiheit wesentlich als Verwerfung der qualifizierten Leibes- und Lebensstrafen, oft der Todesstrafe überhaupt, sich geltend. Im bürgerlichen Recht hängt sie mit der Freiheit der ökonomischen Betätigung eng zusammen. 2. Die Freiheit der ökonomischen Betätigung bedeutet: a) freie Verfügung über die eigene Person und ihre Arbeitskraft, also freie Berufswahl und freie Vertragsschliessung, b) Freiheit des Eigentums, d. i. des Erwerbes und des Gebrauches von Eigentumsrechten; daher auch der Veräusserung, Verpfändung und Vererbung von Sachgütern jeder Art. Die Etablierung dieser Freiheiten bedeutet eine ausgleichende Tendenz in bezug 2

D a s Habeas

Corpus,

o f t von E n g l ä n d e r n als erste Sicherheit der bürgerlichen Freiheit

gepriesen, v o n Samuel J o h n s o n als „der einzige Vorteil, den unsere Regierung vor anderen v o r a u s h a t " . A u f g e n o m m e n in die Verfassung des D e u t s c h e n Reichs v. 11. VIII. 1919 als Art. 114, 2 u n d A r t . 115.

228

Schriften

auf Personen und in bezug auf Sachen. Praktische Bedeutung hat sie namentlich A) als Gewerbefreiheit gegen den Zunftzwang und als Prinzip der Gleichberechtigung von Unternehmern und Arbeitern gegenüber der sonst auch rechtlich normierten Abhängigkeit dieser von jenen, B) als Aufhebung der Unterschiede von Kapital und Grundeigentum, Mobilisierung des Grundeigentums und Befreiung von seinen Lasten; Darstellung des absoluten und freien Privat-Eigentums auch am Grund und Boden, gegenüber feudalherrlichen, gemeindlichen und familienrechtlichen Einschränkungen. In nahem Zusammenhange mit den liberalen Neuerungen in bezug auf A stehen die „sozialen Freiheitsrechte" (A. Wagner), nämlich 1. das Recht der freien Eheschliessung, 2. die Freiheitsrechte der räumlichen Bewegung, und zwar a) das Freizügigkeitsund freie Niederlassungsrecht, b) das freie Reiserecht, c) das freie Auswanderungsrecht. Diese Rechte sind innerhalb der modernen Staaten den Staatsangehörigen, und mit einigen Modifikationen auch den Ausländern, durch spezielle Gesetzgebung gewährt worden. Vgl. Gesetze des Nordd. Bundes v. 4. V. 1868 über die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschliessung, Reichsgesetz vom 6. II. 1875 über Beurkundung des Personenstandes und die Eheschliessung. Bayerische Heimat-Gesetze vom 16. IV. 1868, 23. II. 1872, 21. IV. 1884. Gesetz des Nordd. Bundes über Freizügigkeit vom 1. XI. 1867, über Unterstützungswohnsitz vom 6. VI. 1870, beide zu Reichsgesetzen erklärt, jedoch das über Unterstützungswohnsitz ohne Geltung für Bayern und für das Reichsland. Reichsgesetze sind auch die Gesetze des Nordd. Bundes über Passwesen vom 12. X. 1867 und über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit vom 1. VI. 1870 geworden. Die Verfassung des D. R. (1919) enthält a) in Art. 111 und c) in Art. 112. — In bezug auf B haben die Gesetzgebungen der deutschen Einzelstaaten im Laufe des 19. Jahrhunderts, besonders in dessen erster Hälfte, das geltende Recht begründet; durch Akte, die zusammengefasst als „Bauernbefreiung" beschrieben werden. In Frankreich war die Revolution in diesen Tendenzen vorangeschritten. In Russland geschah die Aufhebung der Leibeigenschaft durch Manifest vom 6. II. 1861. In Grossbritannien hat sich ein zum grössten Teile noch durch Anerben-Fideikommisse gebundener Grossgrundbesitz mit einem System bäuerlicher und Guts10 sozialen

Freiheitsrechte:

Vgl. Wagner, 1894: 1 0 4 - 1 8 0 .

26 Die Verfassung

des D. R. ...: Dieser Satz ist in der 3. Aufl. neu h i n z u g e k o m m e n .

34 Fideikommisse:

Unveräußerliches S o n d e r v e r m ö g e n , d a s ungeteilt in der H a n d eines Fa-

milienmitgliedes verblieb (meist Grundbesitz); in D e u t s c h l a n d erst d u r c h Art. 155 Weim a r e r RV beseitigt.

Bürgerliche und politische Freiheit

229

betriebe in Pachtwirtschaften, gewohnheitsrechtlich und durch „Privatbills", mit Hilfe der Gerichtspraxis, entwickelt. — Der „Freihandel in Land" ist liberales Postulat geblieben; die radikale Regierung (1909/10) wollte ihn durch staatliche Besteuerung des Bodens „nach dem gemeinen Werte" befördern. Uebrigens gilt in allen modernen Staaten heute Freiheit in bezug auf das Grundeigentum als Regel. Kraft einer Gegentendenz haben sich aber in Deutschland, in Oesterreich und anderen Ländern die Familien-Fideikommisse erhalten und vermehren können. Neue Bindungen bedeuten gleichfalls die preussischen Gesetze über Rentengüter und die Beförderung der Errichtung solcher, vom 27. VI. 1890 und vom 9. VI. 1891. Die Verfassung des D. R. (1919) bestimmt in Art. 155,2: „Die Fideikommisse sind aufzulösen." In Art. 10, 4 wird „das Bodenrecht, die Bodenverteilung, das Ansiedlungs- und Heimstättenwesen, die Bindung des Grundbesitzes, das Wohnungswesen und die Bevölkerungsverteilung" der Reichsgesetzgebung unterstellt. Und nach Art. 155 soll „die Verteilung und Nutzung des Bodens" von Staatswegen „in einer Weise überwacht werden, die Missbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders der kinderreichen eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern." Die ganze Bewegung für ökonomische Freiheit wurde, wie diejenige für persönliche und für allgemeine bürgerliche Freiheit, durch die naturrechtlichen Gedanken getragen. Jene aber gestaltete sich auf dieser Basis zu einem System der volkswirtschaftlichen Zweckmässigkeit; das in der Idee des Geschehenlassens, des freien Handels nach innen und nach aussen gipfelte („Manchestertum"). Man wollte die freie „Gesellschaft" konstituieren, für die der Staat nur als Schutzgewalt dienen sollte. Herbert Spencer (f 1903) ist der letzte grosse philosophische Vertreter dieser Idee gewesen. — Gegen die Gesamtheit solcher liberalen Prinzipien hat teils die Kritik der Vertreter älterer sozialer Systeme, die sich restaurieren wollen, teils diejenige von Zukunftsgedanken, die sich durch Reformierung oder Revolutionierung der bestehenden „Gesellschaftsordnung" durchzusetzen streben, Geltung und Macht gewonnen. Jene haben mehr in bezug auf die Entwicklung allgemeiner bürgerlicher Freiheit hemmend gewirkt, diese haben in Gestalt der sozialpolitischen Gesetzgebung viel-

3 die radikale Regierung: Die liberale Regierung Asquith (1908 —1916). Radikal: Wort ist in der 3. Aufl. neu hinzugekommen. Ii Die Verfassung des D. R.: Bis Absatzende neuer Text seit der 3. Aufl.

Dieses

230

Schriften

fach die ökonomische bürgerliche Freiheit eingeengt und beschnitten. Gegen das sozialistische Ideal wehren sich noch die liberalen Ideen als gegen einen Zwangsstaat. Hingegen lehrt der „wissenschaftliche Sozialismus", dass durch das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln die vollkommene und gleiche bürgerliche und politische Freiheit erst verwirklicht werden könne. In Russland versuchen seine Anhänger (die Bolschewiki) 1917/19 dies Ziel auf dem Umwege der Verneinung aller bürgerlichen und politischen Freiheit zu erreichen. 3. Die Freiheit der geistigen Betätigung bedeutet 1. die freie Religionsübung, die unter dem Namen der „Gewissensfreiheit" sich in der öffentlichen Meinung verankert hat obgleich dieser Ausdruck unrichtig ist und keinen Rechtsbegriff bezeichnet; andere Namen sind Glaubensfreiheit, Religionsfreiheit, Bekenntnisfreiheit. Ihr Wesen hängt mit der Stellung des Staates zu den Religionsgesellschaften eng zusammen. Nur durch Scheidung zwischen Staat und Kirche oder Kirchen kann diese Freiheit sich vollenden, ist daher in den meisten Staaten noch in der Entwicklung. Stadien dieser Entwicklung sind durch die Anerkennung der Parität mehrerer Konfessionen in einem Staate oder wenigstens Reiche, und durch das weitergehende Prinzip der Toleranz gegeben. Das preussische Landrecht proklamierte zuerst (II, 11, 5 2): „Jedem Einwohner muss eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit zugestanden werden." Vorangegangen war schon in Preussen wie in anderen Ländern die Praxis, in Oesterreich das Edikt Josephs II. von 1781, das freilich nicht lange Geltung behielt. Die französische Revolution wirkte in gleicher Richtung. In England erfolgte erst im 19. Jahrhundert die „Emanzipation" der Katholiken und Dissidenten im Sinne der bürgerlichen Gleichstellung. Das Gesetz des Nordd. Bundes vom 3. VII. 1869 verkündet die Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Religionsbekenntnis. Tatsächlich unterlagen aber bisher in mehreren deutschen Einzelstaaten Katholiken oder Protestanten und Dissidenten, allgemeiner die Juden, vielfachen Beschränkungen durch die Praxis der Regierungen. Die Verfassung des D. R . (1919) sichert in Art. 135 allen Bewohnern des Reichs „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit" und erklärt den Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, sowie die Zulassung

6 In Rußland 23 das Edikt

versuchen Josephs

...: Dieser Satz ist in der 3. Aufl. neu hinzugekommen.

11: Das Toleranzpatent von 1 7 8 1 schaffte die gegen die Protestanten

gerichteten Diskriminierungen ab. 32 Die Verfassung

des D. R. . . . : Dieser Satz ist in der 3. Aufl. neu hinzugekommen.

231

Bürgerliche und politische Freiheit

zu öffentlichen Aemtern für unabhängig von dem religiösen Bekenntnis (Art. 136, 2). Die Bekenntnisfreiheit ist aber nur eine besondere Gestalt der Freiheit, Gedanken und Meinungen zu äussern, und diese hat ihren höchsten Ausdruck in der Le^rfreiheit oder in der Freiheit der Wissenschaft,

die

grundsätzlich allgemeiner Anerkennung sich erfreut. Sie hat als Korrelat die Lerwfreiheit Erwachsener, die als akademische Freiheit besonders im deutschen

Hochschulwesen ausgebildet ist. — Art. 142 der Verfassung

des D. R . (1919) erklärt ausser der Wissenschaft und ihrer Lehre auch „die Kunst" für frei. Eine grosse öffentliche Bedeutung hat die Aeusserung von Meinungen und Urteilen, zumal über politische Dinge, teils unmittelbar in der Rede, teils in der vervielfältigten Schrift, und beide haben eine virtuell unbegrenzte Ausbreitung gewonnen durch den Druck

von Büchern, Reden,

Flugschriften, insbesondere durch periodische Druckschriften, unter denen die Tageszeitungen eine Weltbedeutung unter dem speziellen Namen der „Presse" oder „Tagespresse" erlangt haben. Auf sie bezieht sich daher hauptsächlich die Pressfreiheit,

die in den moderneren Gesetzgebungen

überall gegen das frühere Institut der Zensur durchgesetzt worden ist, so dass den Vergehen, die durch die Presse begangen werden können, nur noch strafrechtlich, nicht mehr präventiv, entgegengewirkt wird. Das in Preussen durch die oktroyierte Verfassung und das Gesetz vom 12. V. 1851 gewährte Mass von Pressfreiheit ist durch die Reichsverfassung vom 16. IV. 1871 und das Gesetz über die Presse vom 7. V. 1874 erweitert worden. Während des Weltkrieges hat die Pressfreiheit wie andere bürgerliche Freiheiten, in allen beteiligten Staaten, sehr starken Beschränkungen unterlegen, die Pressfreiheit einer Zensur, die von militärischen Angelegenheiten auf alle wichtigen politischen sich erstreckte. Die Verfassung des D. R . (1919) gibt in Art. 118 jedem Deutschen das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äussern, und verwehrt ausdrücklich, dass irgendein Arbeits- oder Anstellungsverhält8 Art. 142 der Verfassung 22 oktroyierte

Verfassung:

...: Dieser Satz ist in der 3. Aufl. neu hinzugekommen. Die am 31. Jan. 1850 in Kraft getretene preußische Verfassung,

die im Dez. 1848 von König Friedrich Wilhelm IV. nach verfügter Auflösung der preußischen Nationalversammlung oktroyiert worden war. 23 durch die Reichsverfassung: 25 Während

des Weltkrieges

So die Art. 3 und 4 Nr. 16. ... öffentlichen

Diese Textpassage seit der 3. Aufl.

Schaustellungen

u. dgl. für zulässig

erklärt.:

232

Schriften

nis jemanden an diesem R e c h t e hindere, „und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch m a c h t " . Die Zensur wird ausgeschlossen (also auch die Theater-Zensur) jedoch werden gesetzliche M a s s n a h m e n für Lichtspiele, sowie zu Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur und zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen u. dgl. für zulässig erklärt. — Die geistigen Freiheiten werden prinzipiell am wenigsten angefochten; auch die Kirchen verneinen die Bekenntnisfreiheit praktisch nur innerhalb ihrer Gemeinschaften

und

hauptsächlich für ihre Geistlichen. Die katholische Kirche verlangt für sich selbst nur völlige Kultusfreiheit in den Staaten, w o sie nicht Staatskirche ist. 4. Die Freiheit sich zu versammeln und Vereine zu bilden ist nur eine Betätigung der allgemeinen persönlichen Freiheit, und wird als solche vom Staate geachtet, so lange als die Regierungen und Gesetzgebungen keine gesellschaftliche und politische Gefahr darin zu erkennen glauben. Eine gesellschaftliche Gefahr wurde lange und wird auch noch jetzt vielfach in den Koalitionen der Lohnarbeiter erblickt, zumal unter dem Gesichtspunkte, dass sie in einem Verhältnisse der Abhängigkeit von ihren Meistern und „ B r o t h e r r e n " stehen. Nachdem aber die modernen Betriebsformen den Z u s t a n d des Lohnarbeiters in der Regel zu einem lebenslänglichen gemacht haben, ist ihnen in Konsequenz des Prinzips der wirtschaftlichen Freiheit die Koalitionsfreiheit

prinzipiell zugestanden

worden, wenn sie auch polizeilich und strafrechtlich beschnitten wird. Die Verfassung des D . R . (1919) gewährleistet sie in Art. 159 und erklärt alle Abreden und M a s s n a h m e n für rechtswidrig, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen. A m 19. April 1 9 0 8 wurde ein Vereins- und Versammlungsrecht für das Deutsche Reich zum Gesetz erhoben, das die Rechtseinheit auf dies Gebiet ausgedehnt und die bürgerliche Freiheit darin erweitert hat. Die neue Reichsverfassung (1919) erhebt in Art. 123, 1 2 4 grundsätzlich unbeschränkte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu „ G r u n d r e c h t e n " , indem daran die Wahlfreiheit (in Art. 125) und das freie Petitionsrecht (Art. 126) angeschlossen werden. Vgl. in diesem Abschnitt „Vereins- und Versammlungsrecht".

24 Die Verfassung

des D. R. ...: Dieser Satz ist in der 3. Aufl. neu hinzugekommen.

29 Die neue Reichsverfassung

...: Dieser Satz ist in der 3. Aufl. neu hinzugekommen.

34 „Vereins- und Versammlungsrecht": tik, 3. Auflage 1920, 1 7 9 - 1 8 9 .

Von Ernst Müller-Meiningen, Handbuch der Poli-

Bürgerliche und politische Freiheit

233

B. Politische Freiheit bedeutet: 1. In bezug auf die gesetzgebende Gewalt des Staates entweder unmittelbare Mitentscheidung über die Rechtskraft von Gesetzen — wie im Referendum, das als „Volksentscheid" für gewisse Fälle in die Verfassung des D. R. (1919) durch Art. 73 — 76 eingeführt wurde — oder das Recht, einen Volksvertreter als Mitgesetzgeber zu wählen. Vgl. hierüber sechstes Hauptstück. 2. In bezug auf die richterliche Tätigkeit das Recht: 1. in der Strafgerichtsbarkeit als Geschworener oder als Schöffe zu fungieren; 2. in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten an der ordentlichen Gerichtsbarkeit mitzuwirken oder zu einer ausserordentlichen richterlichen Tätigkeit — z. B. zu Gewerbeoder Kaufmannsgerichten — berufen zu werden. — Vgl. Abschnitt 23, 24. 3. In bezug auf die Exekutive oder die administrative Gewalt 1. das Recht, die Beamten, denen diese anvertraut wird, zu wählen; 2. die Selbstverwaltung, als solche eine Freiheit der Gemeinden, kommunaler Verbände und Korporationen, woran aber der Staatsbürger unmittelbar oder durch Wahlrechte teilnimmt. — Vgl. Abschnitt 15.

Schlussbetrachtung Der Weltkrieg und seine Folgen machen auch in bezug auf politische und bürgerliche Freiheit eine Epoche, die sich nach Abschluss eines innerlich 4 das als „Volksentscheid" ... eingeführt wurde. Neue Textpassage seit der 3. Aufl. 7 sechstes Hauptstück: Diese Nummerierung bezieht sich auf die 1. und 2. Auflage: Der „Parlamentarismus". In der 3. Auflage ist dieses Kapitel das 5. Hauptstück, S. 314—375. 13 Abschnitt. 23, 24.: Diese Abschnittszählung basiert auf der ersten Auflage: Abschn. 23: „Zivilrechtspflege" (von Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, S. 323—336), „Die Entlastung des Reichsgerichts" (von K. Schulz, S. 336—345); Abschn. 24: „Strafrechtspflege" (von Ernst Beling, S. 345 — 354), „Schwurgericht und Schöffengericht" (von Friedrich Oetker, S. 355 — 364). In der hier abgedruckten, veränderten 3. Auflage will Tönnies, der offenbar die geänderte Reihung übersehen hatte, sich auf die folgenden Abschnitte beziehen: Abschnitt 22: „Justiz und Verwaltung" (Fritz Stier-Somlo, S. 296—301) sowie „Verwaltungsgerichtsbarkeit" (Gerhard Anschütz, S. 302—311); Abschnitt 23: „Volksrichter und Berufsrichter" (Adolf Wach, S. 3 1 1 - 3 1 3 ) . 17 Abschnitt 15.: Hier derselbe Fall wie oben: Der Abschnitt 15 der ersten beiden Auflagen: „Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland" (von Hugo Preuss, S. 198 — 218), „Autonome Körperschaften" (von Wilhelm v. Blume, S. 219—224), „Kommunalpolitik" (ders., S. 224—233) wird zu Abschnitt 20: „Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland" (Hugo Preuss, S. 266 — 287) sowie zu Abschnitt 21: „Kommunalpolitik" (Wilhelm v. Blume, S. 2 8 7 - 2 9 6 ) . l» Schlussbetrachtung: Neue Textpassage seit der 3. Aufl.

234

Schriften

unmöglichen Friedens noch nicht übersehen lässt. Scheinbar hat „die Freiheit" gesiegt — mit dieser Phrase meinte die englische Propaganda ein zwiefaches; 1. dass Europa gegen die drohende Weltherrschaft des Deutschen Reiches sich geschützt habe — eine Fälschung der weltpolitischen Tatsachen; 2. dass die politische Freiheit, die in „verantwortlicher Regierung" sich darstelle, gerettet sei gegen die in Deutschland herrschende Autokratie. Auch dies war eine mit Unkenntnis der näheren Zusammenhänge des Verfassungswesens vermischte Unwahrheit. Sie fand aber in Deutschland Widerhall in radikalen Bestrebungen, die nach der erklärten Niederlage zur Absetzung sämtlicher Bundesfürsten und zur Verwandlung der Einzelstaaten wie des Reiches in Republiken geführt haben. Der „freie Volksstaat" sollte an Stelle des „Obrigkeitsstaates" gesetzt werden. Die „Freiheit" erklärte sich nicht nur als unmonarchische Staatsform, sondern zugleich durch das „freieste Wahlrecht", das auf Frauen und 20 —25jährige Jugend ausgedehnt, durch Listenwahl auch den Minderheiten Vertretung schaffen wollte und will. Die gleichen Neuerungen traten in dem noch tiefer darniederliegenden Oesterreich ein. In England hatte schon im dritten Kriegsjahre eine Entwicklung in ähnlicher Richtung Platz gegriffen als Verallgemeinerung des männlichen und Einführung eines begrenzten weiblichen Wahlrechts zum Hause der Gemeinen. Auch Frankreich hat (1919) das Listenwahlsystem (von neuem) eingeführt. Ueberall dringt die Demokratie, unter dem Druck des Proletariats, dessen Ansprüche durch die Leiden und Taten des Krieges gesteigert sind, mächtig vor. Neue Staaten, wie Finnland, Polen, CzechoSlovakien u. a. konstituieren sich als Republiken. Die Tendenzen aller dieser Demokratien sind mehr oder minder sozialistisch. Sie sind also der wirtschaftlichen Freiheit entgegengerichtet, insofern als diese gleich der Freiheit des Kapitals gilt, die Arbeit zu beherrschen oder sogar auszubeuten. Die Kriegswirtschaft und auch die nach dem Ende des Krieges fortgesetzte Zwangswirtschaft war und ist sozialistisch, wenngleich sie die erstrebte Hemmung des freien inneren und auswärtigen Handels in mehreren Hinsichten nur in höchst unvollkommener Weise erreicht hat. Sie hat sich aber in allen kriegführenden Ländern und in den neutralen Ländern Europas, mehr oder weniger ausgedehnt, als notwendig erwiesen. Durch die Revolutionen, die der Krieg in den unterlegenen Hauptländern, also in den ehemaligen 3 Kaiserreichen, im Gefolge hatte, ist die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, die oft in ihrer schärfsten Ausprägung als „Kommunismus" vorgestellt wird, von den neuen Regierungen dieser Staaten auf die Tagesordnung gesetzt wor-

Bürgerliche und politische Freiheit

235

den. Mit dem rücksichtslosesten Radikalismus in dem agrarischen Russland und (eine Zeitlang) in dem gleichfalls agrarischen Ungarn; das Scheitern dieser Versuche wird voraussichtlich die Wiederherstellung kapitalistischer Polizeistaaten zur Folge haben. Auch der sozialistische Staat ist seinem Wesen nach ein Polizei- oder, wie er sich wohlklingender nennt, ein Wohlfahrtsstaat, steht als solcher mithin im Gegensatz zum reinen Rechtsstaat, dem die Aufgabe gestellt wird, die natürliche Freiheit eines jeden als bürgerliche Freiheit zu schützen und ausschliesslich zugunsten der allgemeinen Freiheit einzuschränken. Obgleich die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 nicht die Verfassung einer sozialistischen Republik sein will, so kommt doch der Gegensatz gegen bisherige geschriebene Verfassungen, die — mit Ausnahme der kurzlebigen französischen von 1848 — insgesamt die Theoreme des Liberalismus zum Ausdruck bringen wollten, in mehreren Stücken zu offenem und deutlichem Ausdruck. Vor allem darin, dass der „Zweite Hauptteil" von den Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen handelt. Sie zieht einerseits die radikalen Folgerungen aus dem Liberalismus, besonders zugunsten der Frauen, der unehelichen Kinder, der Beamten und der „Dissidenten"; andrerseits aber bringt sie mit den allgemeinen Menschenpflichten, die in bezug auf Erziehung und Schulwesen verkündet werden, den Gedanken der Ordnung des Wirtschaftslebens (Art. 151: „muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen") hinein und bestimmt ausdrücklich, dass „in diesen Grenzen die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern" sei, erklärt überdies (das. 2) gesetzlichen Zwang ausser zur Verwirklichung bedrohter Rechte" auch für zulässig „im Dienste überragender Forderungen des Gemeinwohls". Wenn die Enteignung (Art. 153, 2) „nur zum Wohle der Allgemeinheit" (und auf gesetzlicher Grundlage) für zulässig erklärt wird, so ist darin zunächst die Verallgemeinerung eines Satzes enthalten, der bisher nur auf Grundeigentum und fast ausschliesslich zugunsten von Verkehrsanlagen angewandt wurde. Ferner aber gilt dafür auch, was A. Wagner in betreff des preussischen Gesetzes über die Enteignung von Grundeigentum vom 11. VI. 1874 von dessen Wortfassung ausspricht: dass darin allerdings noch eine Hindeutung darauf liege, dass das Enteignungsrecht nach der älteren privatrechtlichen Fassung ein anomalisches Recht gegenüber der Regel der Unverletzlichkeit des Privateigentums sei. 34 was A. Wagner ... ausspricht:

Vgl. Wagner, 1894: 544.

236

Schriften

„Indessen ist der Uebergang von ,nur aus Gründen des öffentlichen Wohls' in ,aus Gründen des öffentlichen Wohls immer' ein so leichter, so naheliegender, dass man wohl zugeben muss, mit jenem Paragraphen liessen sich alle wie weit immer gehende sozialistische und bodenbesitzreformerische Forderungen in bezug auf Grundeigentum gesetzlich 5 durchführen." Bedeutungsvoll ist in diesem Sinne auch der Schluss des Art. 153: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste; sind ferner als Folgerungen, der „Anteil des Staates am Erbgut" (Art. 154, 2), die Ueberwachung der Verteilung und Nutzung des Bodens, nebst Aufsicht des Staates über alle Bodenschätze und 10 alle wirtschaftlich nutzbaren N a t u r k r ä f t e (Art. 155) und die Bestimmungen wegen Ueberführung privater Unternehmungen in Gemeineigentum usw. (Art. 156). — In gleicher Richtung zielend schliessen die Grundsätze der Sozialpolitik, mit Verkündung eines zu schaffenden einheitlichen Arbeitsrechtes sich an und bilden den Abschluss der neuen Verfassung 15 (Art. 157 bis 165).

Die neuesten Angriffe gegen den Verein für Sozialpolitik Brief an Gustav Ew.

Schmoller

Exzellenz

beehre ich mich, folgende Erklärung zu überreichen, zu der mich ein Zeitungsartikel des Professors Julius Wolf veranlaßt (Schlesische Zeitung Nr. 694), der mir vor einigen Tagen gesandt worden ist. Da ich MitVorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und zugleich Mitglied des Ausschusses des Vereins für Sozialpolitik bin, so glaube ich Grund zu haben, meine Stellung zur Frage der „Voraussetzungslosigkeit" 10 kundzugeben. Wissenschaft in bezug auf das, was ist, muß alle Voraussetzungen zurückweisen, sie will nur erkennen. Wissenschaft in bezug auf das, was sein soll, bedarf der Voraussetzung, daß etwas sein soll, zu dem anderes in Beziehung gesetzt werden kann. Sie will nicht nur erkennen, sondern

5

i Die neuesten

Angriffe

gegen

Zuerst in: Schmollers Jahr-

den Verein für Sozialpolitik:

buch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1912, 36. Jg., Heft 1, S. 6 — 9, München/Leipzig (Duncker &C Humblot). Die Schrift steht in der Rubrik „Zwei Bemerkungen über den Verein für Sozialpolitik"; vor dem Beitrag Tönnies' erscheint „I. Einleitungsworte bei der Nürnberger Tagung des Vereins im Jahre 1 9 1 1 " von Gustav Schmoller (S. 1—5). Es ging dabei um die schwierige Beziehung zwischen wissenschaftlicher Forschung und öffentlich-praktischer Wirksamkeit. Schmoller machte deutlich, dass der „Verein" in erster Linie „eine akademische Publikationsgesellschaft" sei, aber deswegen wolle er doch nicht „auf jede praktische Wirkung im weiteren Sinne" verzichten (ebd., S. 3). Die Intervention Tönnies' geht auf einen Artikel des Nationalökonomen Julius Wolf in der „Schlesischen Zeitung" vom 3. Okt. 1911 zurück, der den Titel trägt „Die Voraussetzungslosigkeit im Verein für Sozialpolitik". Wolf hatte darin dem „Verein" vorgeworfen, dass bei ihm „von einer wirklichen Parteilosigkeit [...] eben keine Rede sein [könne]" [im Original gesperrt]. Wolf schrieb u. a.: „Die Tatsache, daß unser Wissen und Erkennen Trübungen von unseren Idealen her erfährt, kann ja von keinem vernünftigen Menschen geleugnet werden; sie berechtigt den Dienst seiner Partei- und subjektiven scher Ziele, zu zwingen."

Ideale,

aber nicht, das Wissen ganz in

in diesem

Falle also bestimmter

politi-

[im Original gesperrt statt kursiviert gedruckt]. Als Gegenbei-

spiel wies Wolf auf die neugegründete „Deutsche Gesellschaft für Soziologie" hin, die, nach ihrem erstem Kongress zu schließen, zeigen werde, dass man über sozialwissenschaftliche Fragen auch „unpolitisch" verhandeln könne.

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Schriften

auch Anweisungen zum Handeln geben. Aber das Erkennenwollen bleibt das wesentliche Merkmal der Wissenschaft, und dieses betrifft auch in praktischen Disziplinen ausschließlich Tatsachen und die Verhältnisse von Ursachen und Wirkungen. Die medizinische Therapeutik

(oder

praktische Medizin) geht immer von der Voraussetzung aus, daß Gesundheit, Lebenserhaltung, Genesung sein sollen. Diese Voraussetzung diskutiert sie nicht. Sie erörtert die Wirkungen eines Heilmittels auf den menschlichen Organismus. Wenn bewiesen wird, daß die gesundheitfördernden Wirkungen des Giftes, bei solchen und solchen Dosen, die gesundheitschädlichen überwiegen, so bejaht sie, wenn umgekehrt, so verneint sie das Heilmittel. Die Sozialpolitik und ein Verein für Sozialpolitik kann in eine Diskussion über die Frage, ob eine soziale, insbesondere ökonomische Hebung der Arbeiterklasse wünschenswert sei, sich nicht einlassen. Es ist Voraussetzung, daß diese Hebung sein solle. Der Sozialpolitiker kann aber in streng theoretisch-wissenschaftlicher Weise 1. untersuchen, wie die gegenwärtigen Zustände beschaffen sind; 2. prüfen, ob eine gesetzgeberische Maßnahme, eine Verwaltungspraxis, ebenso ob gesellschaftliche Erscheinungen der Produktion, des Verkehrs, des Konsums, jenen Zweck begünstigen oder hemmen. Zu 1 muß der Sozialpolitiker notgedrungen folgern, daß gewisse Zustände nicht sein sollen. Zu 2 ebenso, daß gewisse Gesetze usw. sein sollen, andere nicht sein sollen. Der Soziologe — in dem Sinne, wie die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ihn verstanden wissen will — hat es mit praktischen, also mit politischen Aufgaben grundsätzlich nicht zu tun. Er will sich

ausschließ-

lich theoretischen Problemen zuwenden. Er setzt also nicht nur nicht voraus, daß irgend etwas wünschenswert sei oder nicht, sondern er befaßt sich überhaupt nicht mit dem Wünschenswerten. Er kann die als 1 und 2 bezeichneten Fragen ebenso vorlegen wie der Sozialpolitiker, aber er verzichtet darauf, irgendwelche Folgerungen aus den Ergebnissen zu ziehen. Er verhält sich nicht als Arzt, sondern als Anatom und Physiologe zu den Vorgängen im „sozialen Körper". Ein prinzipieller Widerspruch besteht zwischen den Aufgaben der Sozialpolitik und den Aufgaben der Soziologie nicht. D a ß ein „ Z w e c k " wünschenswert sei, wird sich allerdings in strengem Sinne niemals beweisen lassen. So absolut, wie es neuerdings zuweilen verkündet wird, ist aber die Kluft zwischen subjektiven Werturteilen und objektiv theoretischen Urteilen doch nicht. Auch die objektiv theoretischen Urteile gelten nur unter der Voraussetzung der allgemein-menschlichen, also gleichen Beschaffenheit der Organe des

Die neuesten Angriffe gegen den Verein f ü r Sozialpolitik

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Erkennens. Auch die subjektiven Werturteile können zu einem solchen Grade von Objektivität erhoben werden, bei allgemein-menschlicher, also gleicher Beschaffenheit der Organe des Gefühles und Willens. Im einen wie im anderen Falle gibt es physiologisch-normale, die zu richtigen und gültigen, und hingegen pathologisch-abnorme Beschaffenheiten dieser Organe, die zu falschen, also ungültigen, bloß subjektiven Urteilen der einen und der anderen Art notwendig führen. Auf den Geruch und Geschmack von Ricinusöl reagiert der normale Mensch mit Ekel, er findet ihn unangenehm — das ist ein Werturteil und drückt zugleich eine Tatsache aus. „Oh, my offence is rank, it smells to heaven" sagt der König im Hamlet. Und wenn die Tatsache bewiesen wird, daß eine Zeitung direkt oder indirekt durch Geld und Gunst in ihren Urteilen über Wertpapiere oder politische Angelegenheiten bestimmt wird, so mögen wir immer der Werturteile uns enthalten, den Gestank der Tatsache können wir nicht verhindern, sie birgt ihr Werturteil in sich. Tatsachenurteile und Werturteile lassen sich nicht schlechthin trennen. Auch nicht im moralischen Gebiete. Die Urteile über den Wert einer Sache oder Handlung gehen sehr oft viel weniger auseinander als die Urteile über das Wesen einer Sache, über das Ereignis einer Handlung. Interesse und Vorurteil fälschen ebenso stark die Erkenntnis der Tatsachen, als sie die Werturteile beeinflussen. Dieselben Dinge sehen, durch die Parteibrille gesehen, anders aus als „in Wirklichkeit". Auch Zahlen, von denen man am meisten erwartet, daß sie „beweisen", ja gerade Zahlen werden, und zwar einfach dadurch, daß man die Herkunft und Bedingtheit der Zahlen verschweigt, in so widersprechender Weise benutzt und ausgelegt, daß man die „statistische Lüge" sprichwörtlich zu machen versuchen konnte. — Um eine Anwendung auf Arbeiterfragen zu machen, so wird allerdings gestritten, ob die Koalition den Arbeitern nützlich sei; hier ist aber sozusagen mit Händen zu greifen, daß das Urteil der Gegner der Arbeiterbewegung, z. B. des ehemaligen Ministers von Rheinbaben durch ihre Parteianschauung getrübt ist. Daß Koalitionszwang sittlich verwerflich sei, dies „Werturteil" wird kaum bestritten. O b aber der Tatbestand des Koalitionszwanges in einem gegebenen Falle erfüllt sei, darüber gehen die Urteile regelmäßig auseinander: der Eine nennt Zwang, was der Andere etwa eine freundliche Einladung nennt. 10 „Ok, my offence

is rank, it smells

Delius, 1854: 95).

to heaven":

Vgl. H a m l e t III, 3, 36 (Shakespeare, ed.

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Schriften

Der Verein für Sozialpolitik braucht sich mit der Objektivierung von Werturteilen gar nicht zu befassen; es kann ihm genügen, an gewisse feststehende objektive Werturteile sich zu halten, und auch diese braucht er nicht als allgemein gültig zu behaupten, wenn er einfach sich darauf beruft: ich stehe und falle mit dieser meiner Voraussetzung, die allerdings eine Fülle von Werturteilen in sich schließt. Der Verein hat in der Tat niemals verleugnet, daß er in dieser Hinsicht „Partei" sei; wer gegen Sozialpolitik ist, gehört nicht hinein. Wenn Herr Professor Wolf meint, das Hochhalten der sozialen Reform und das Halten auf strenge Wissenschaftlichkeit der Forschung seien unvereinbare Tendenzen, so beruht diese Meinung auf verworrenem Denken und auf Verkennung der Relativität aller Begriffe. Der Gefahr, daß unsere Urteile den Einflüssen unserer Wünsche und Abneigungen unterliegen, sind wir darum nicht weniger ausgesetzt, wenn wir uns bemühen, Werturteile aus wissenschaftlichen Erörterungen „auszumerzen." Eine richtige Forderung ist es, daß man Tatsachenurteile und Werturteile sorgfältig unterscheide und so sehr als möglich auseinanderhalte; daß man beim Fällen von Werturteilen deutlich erkennbar werden lasse, inwiefern ein solches auf allgemeine Gültigkeit Anspruch erheben könne, inwiefern nicht, und ob und wie es durch eigene Ideale, individuelle oder Gruppen-Ideale, bedingt und begrenzt sei. Wenn die Soziologie alle praktischen Probleme ausscheidet, so kann sie eben dadurch auch die Werturteile sich ferner halten; sie kann in dem Bemühen, wirkliche Tatsachen und ihre Ursachen zu erforschen, dadurch erfolgreicher sein, als eine Forschung, die der großen Schwierigkeit, die Dinge objektiv zu betrachten, sich gar nicht bewußt geworden ist. Jene wird sich vorzugsweise solchen Aufgaben der Erkenntnis zuwenden, die außerhalb der Tagesdiskussionen und der aktuellen Politik liegen, weil innerhalb dieser die vollkommene Unbefangenheit noch viel schwerer als außerhalb erreichbar ist; das ist lediglich ein sozusagen taktischer Grund — die Sozialpolitik kann diesen Tagesdiskussionen, der aktuellen Politik, garnicht aus dem Wege gehen, sie darf es nicht, wenn sie ihrer Aufgabe treu bleiben will. Wenn in solchen Fragen, zumal wenn man ausdrücklich die Beurteilung, vielleicht Befürwortung gesetzgeberischer Maßnahmen sich zum Ziele setzt, die strenge Wissenschaftlichkeit der Forschung noch schwieriger ist als in anderen Fragen, so erhöht dieser Umstand das Verdienst, wenn solche Schwierigkeit überwunden wird. Herr Wolf meint, der Verein müsse zweifellos viel von seinem Nimbus und Einfluß einbüßen, wenn „die von ihm vertretenen Ziele aufhö-

Die neuesten Angriffe gegen den Verein für Sozialpolitik

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ren, für weitere Kreise als Erkenntnisse, als Ergebnisse wirklich wissenschaftlicher Forschung zu gelten." In diesem Satze zeigt sich die Verworrenheit des Denkens am offenbarsten. Niemand wird behaupten, das Ziel „Besserung der sozialen Zustände" sei „Ergebnis wissenschaftlicher 5 Forschung". Wenn aber die Forschung an den Tag bringt, daß gewisse Zustände Unterernährung und Verkrüppelung von Kindern, Fehlgeburten der Weiber zur Folge haben, so ist auf Grund des vorausgesetzten allgemeinen Zieles die Ableitung eines besonderen Zieles so notwendige Folgerung, daß in der Tat diese Ableitung selber ein „Ergebnis" genannt 10 werden kann. — Wenn Herr Wolf die Gesellschaft für Soziologie gegen den Verein für Sozialpolitik ausspielen zu dürfen wähnt, so beruht dies meines Erachtens auf einem vollkommenen Mißverständnisse. Ew. Exzellenz in Hochachtung und Verehrung sehr ergebener Ferdinand Tönnies

[Judentaufen] 1

Die Fassung der Frage setzt voraus, dass durch Uebertritt aller Juden zum Christentum oder durchgeführte Mischehen „Assimilation" geschehe. Ich kann nur einräumen, dass die ohnehin sich vollziehende Assi1 l]udentaufen}:

Nachstehender Beitrag, der ohne Titel gedruckt wurde, geht auf eine

von Dr. A. Landsberger initiierte Sammlung von Äußerungen prominenter Zeitgenossen über „Judentaufen" (W. Sombart ... und namhaften Professoren deutscher Universitäten, 1912, München [Georg Müller], dort S. 124—126), zurück. Initialzündung für den Herausgeber war Werner Sombarts Schrift „Die Juden und das Wirtschaftsleben", Leipzig 1911. Landsberger schrieb dazu in seinem Vorwort (S. 1 — 6) u. a.: „Nun ist gewiss schon viel zur Klärung geschehen, wenn ein Mann wie Sombart die Behandlung der Judenfrage zum Gegenstand eines gross angelegten Werkes macht." Die neuen Erkenntnisse Sombarts würden in ihrer „Gesamtheit" bedeuten, „dass die Juden einen weit grösseren Anteil an der Gestaltung des ... kapitalistischen Wirtschaftssystems haben, als man bisher angenommen hat." Aus diesen Erwägungen heraus habe er — Landsberger — sich „vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus" die Bitte ausgesprochen, sich zum Problem der „Judentaufen" zu äußern. Landsberger stellte die folgenden drei Fragen an Sombart und auf dessen Anregung hin „einer Reihe weiterer Persönlichkeiten": „1. Welches sind die voraussichtlichen Folgen (in geistiger, politischer und wirtschaftlicher Beziehung oder einer dieser) im Falle der Assimilation sämtlicher Juden durch Übertritte und Mischehen? 2. Welches sind die voraussichtlichen Folgen (in einer dieser Beziehungen) im Falle der Verwirklichung der zionistischen Idee: a) für die judenreinen Staaten, b) für den Zionistenstaat. 3. Was geschieht, falls weder 1 noch 2 eintritt? Sind die Konflikte zu befürchten, und welcher Art werden diese Konflikte sein? ist demnach 1, 2 oder 3 wünschenswert?" Geantwortet haben, neben Werner Sombart und Tönnies, Hermann Bahr, Richard Dehmel, Matthias Erzberger, Herbert Eulenberg, A. Eulenburg, Hanns Heinz Ewers, Ludwig Geiger, Prof. L. Gurlitt, Carl Hauptmann, Karl Jentsch-Neisse, Prof. W. Kinkel, Josef Kohler, Heinrich Mann, Prof. Maybaum, Fritz Mauthner, Friedrich Naumann, Paul Natorp, Prof. F. Niebergall, Max Nordau, Richard Nordhausen, Franz Oppenheimer, Prof. Raoul Richter, Prof. Staudinger, Alfred Weber, Frank Wedekind, Dr. Joh. Werthauer, Israel Zangwill. Der Herausgeber bedauerte, daß sich einige von der Beantwortung der gestellten Fragen hätten entbinden lassen, u. a. August Bebel, Fürst Bülow, Lujo Brentano, Dr. Frank/Mannheim, Geheimrat Goldberger, Rechtsanwalt Heine, Albert Träger (siehe ebd., S. 5, Anm. 1); eB S. 683 f.

5

[Judentaufen]

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milation dadurch verstärkt und erleichtert wird. Die wirtschaftlichen Folgen wären nach meiner Ansicht nicht sehr bedeutend. Die ohnehin herrschenden Tendenzen der Entwicklung würden in mancher Hinsicht verschärft und gekräftigt, die Bewegungen beschleunigt werden. So dürfte das Kapital sich in schwerem Masse des Bodens bemächtigen, den landwirtschaftlichen Grossbetrieb fördern, durch Handelsgeist und Spekulation die Landwirtschaft den Lebensbedingungen, die durch den Weltverkehr gegeben sind, mehr als bisher anpassen.

2 Die Verwirklichung der zionistischen Idee muss für die „judenreinen" Staaten einen starken Aderlass bedeuten; wenngleich diese Verwirklichung noch weniger als sonst, dergestalt denkbar ist, dass die Juden auch nur den zehnten Teil ihrer Kapitalien aus den europäischen Anlagen herausziehen würden. Die Folgen wären also zum Teil die entgegengesetzten von 1. Indessen würden die Lücken sich bald wieder schliessen. Was die wirtschaftlichen Betriebe angeht, in denen die Juden am meisten leisten, so wäre vielleicht eine starke Einwanderung von Engländern und Amerikanern zu erwarten, um z. B. den Geldhandel zu übernehmen, b) Von der wirtschaftlichen Verfassung des Zionisten-Staates kann ich mir keine Vorstellung bilden. Ich glaube nicht, dass die heutigen Juden und ihre Nachkommen aus lauter Liebhaberei sich dauernd harter körperlicher Arbeit, und besonders landwirtschaftlicher, hingeben würden. Sie würden deutsche, österreichische, russische Bauern mitnehmen und dort für sich arbeiten lassen. Auch würden wenigstens die westeuropäischen Juden von heute sich in Palästina nicht wohl fühlen, und nach den Börsen von Wien, Berlin, Paris und London sich nicht nur zurücksehnen, sondern sehr bald zurückbegeben.

3 Dass stärkere Konflikte, als bisher schon zutage getretene, zu befürchten seien, bezweifle ich. Im Gegenteil. Diese Konflikte werden sich, meines Erachtens, mildern. Wenn die Lebensbedingungen und Lebensweisen hundert Jahre die gleichen bleiben, wie sie jetzt sind, so werden die heutigen Juden, infolge zu grosser Ueppigkeit und zu starkem Verbrauch

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Schriften

von Nervensubstanz, massenhaft aussterben. Indessen sind die Juden vielleicht berufen, die unvermeidliche Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, im Sinne der Begünstigung eines gesellschaftlichen und staatlichen Sozialismus zu erleichtern. Dies könnte auch ihre eigene Rettung bedeuten. Die Frage ist, ob die intellektuellen Juden neben den

5

kommerziellen sich behaupten werden. Jene nähren sich an der Kultur der Nation, der sie verbunden sind, mit gleichem Erfolge, wie die der Nation auch durch ihre Rasse Angehörigen. — Am meisten wünschenswert scheint mir 3, schon aus dem Grunde, weil es die am meisten natürliche Entwicklung ist. In der Tat halte ich 10 sowohl 1 als 2 nicht nur für höchst unwahrscheinlich, sondern schlechthin für unmöglich.

[Populäre „Statistik"] In der Wochenschrift „Hilfe", die sonst so manche schätzbare Artikel bringt, macht „Georg Wolff" (der Wohnort ist nicht, wie sonst in jener Zeitschrift üblich, angegeben) eine Arbeit bekannt, der er den Namen gibt „Die Statistik der wichtigsten Todesursachen". Der zweite Absatz davon beginnt: „Im Deutschen Reiche starben in den Jahren 1877/81 von je 100 000 Einwohnern nach den Veröffentlichungen des Kaiserlichen Statistischen Amtes 2671,9, im Jahre 1909 entfielen auf dieselbe Zahl von Einwohnern nur noch 1607,8 Todesfälle." Im folgenden Absatz folgt auch eine Tabelle, eingeführt durch den Satz: „Wir wollen ein paar charakteristische Zahlen aus der Statistik herausgreifen." Dann heißt es weiter: „Von je 100000 Einwohnern starben im Gebiete des Deutschen Reiches"-, dann folgt ein Auszug aus der Tabelle, die im jüngsten Reichsjahrbuche S. 470/71 über die Todesursachen in deutschen Orten mit 15 000 und mehr Einwohnern sich findet. Herr Georg Wolff hat diese Tabelle so flüchtig angesehen, daß er nicht einmal bemerkte, daß hier nicht von der Sterblichkeit im Deutschen Reiche, sondern von der Sterblichkeit in Groß- und Mittelstädten und einigen anderen Orten die Rede ist. Ferner meint er, weil es die Ziffern im Jahrbuche sind, daß sie auf Veröffentlichungen des Kaiserlichen Statistischen Amtes beruhen. In Wahrheit beruhen sie, wie am Kopfe der Tabelle zu lesen ist, auf Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes. An und für sich sind diese sehr wertvoll. Was aber die Vergleichung der Jahrfünfte miteinander betrifft und den Rückgang der Sterblichkeit im allgemeinen, wie in bezug auf einzelne Todesursachen, so ist es mit der Vergleichbarkeit der Ziffern aus einem Grunde recht schwach bestellt, auf den ich schon vor mehr als acht Jahren hingewiesen habe, als ein lautes Triumphgeschrei über diese „Statistik" durch den deutschen Blätterwald ertönte. Veranlaßt war es damals durch eine wirkliche i [„Populäre Statistik"]: Zuerst in: Deutsches Statistisches Zentralblatt 1912, 4. Jg., Sp. 155 — 156. Leipzig/Berlin (Teubner). Zu dem genannten Artikel von Georg Wolff beachte hier die Bibliographie. M Reichs-]ahrbuche: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Hgg. v. Kaiserlichen Statistischen Amte, 32, Berlin 1911. 27 acht ]ahren: Vgl. Tönnies, 1903: 2 6 0 - 2 6 1 (vgl. TG 6).

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Schriften

Veröffentlichung des Kaiserlichen Statistischen Amtes in den „Vierteljahrsheften" 12. Jahrgang, Heft 3. Soviel ich weiß, bin ich der einzige gewesen, der sie kritisiert hat („Soziale Praxis" X I I I , 10 S. 2 6 0 f f ) . In dieser Kritik habe ich auf die schlimmen Fehler der Vergleichung hingewiesen. Nicht nur war mit keinem Worte der Verschiebung in den Altersklassen gedacht worden, „die Fehler dieser Todesursachen-Statistik", schrieb ich, „sind von viel gröberer Art". Ich wies dann darauf hin, daß sich bekanntlich die Zahl der ans Gesundheitsamt berichtenden Orte fortwährend vermehrt hat. Sie stieg 1877 — 1901 von 149 auf 309 (seitdem bis 1909 auf 349), und zwar sind immer mehr kleinere Mittelstädte und „Kleinstädte" (nach der Nomenklatur des Reichsamtes) hinzugekommen, also Orte mit durchweg günstigeren Gesundheitsverhältnissen. Ich schloß meine Kritik mit den Worten: „Was würde man sagen, wenn jemand behaupten wollte, der Anteil geschiedener Personen an den Eheschließungen habe sich vermindert, und zum Beweise dafür Ziffern aus dem Jahrzehnt 1871/80 anführen würde über die Eheschließungen in Berlin und Potsdam und Ziffern aus dem Jahrzehnte 1891/1900, zu denen auch Pasewalk, Teltow, Jüterbog und ein paar Dutzend ähnlicher Orte beigesteuert hätten? Man würde sicherlich nicht glauben, daß eine solche Statistik in einem amtlichen Quellen werke anzutreffen sei. In der Tat aber ist diese Todesursachen-Statistik nicht günstiger zu beurteilen." Ein Versuch, sie gegen diesen schweren Vorwurf zu rechtfertigen, ist mir nicht bekannt geworden. Aus einer Anmerkung zu dem kleinen Aufsatze möchte noch folgender Satz in Erinnerung gebracht werden. Ich erwähnte, daß auch in einem Vortrage des Geheimrats Professor Dr. Orth, der in den „Blättern für Volksgesundheitspflege" abgedruckt war, „das hocherfreuliche Ergebnis" mit dem Ausrufe gepriesen wurde: „Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache." Dazu bemerkte ich: „Das ist immer die Meinung derer, die Statistik nicht studiert haben. In Wahrheit bedarf es lexikalischer und grammati-

scher Kenntnisse und systematischer wie anderer Sprachen."

Übung zum Verständnisse dieser

Wie Exemplum zeigt, und wie fast jede Zeitung lehrt, grassiert die Pest unkritischer Statistik nach wie vor in arger Weise. Sie bleibt eine der betrübendsten Todesursachen — für den Verstand der Politiker. 3 der sie kritisiert 2« Professor

bat: Tönnies' Kritik lautet: Todesursachenstatistik (vgl. T G 6).

Dr. Orth: Vgl. Orth, 1903: 3 2 1 - 3 2 9 .

Nachreden des Rassenkongresses Dankenswert ist es, daß einer der Senioren der ethischen Bewegung dem oben bezeichneten Kongreß nochmals seine Aufmerksamkeit zuwendet. Da ich ein wenig mitverantwortlich bin für den Ablauf dieses, wie der verehrte Herr mit Recht sagt, phänomenalen Vorganges, so erlaube ich mir, mit einigen Worten meinerseits darauf zurückzukommen. Es ist das erste Mal, daß ich einer Kritik des Kongresses Recht geben muß. Die Frage, die Herr Döring aufwirft, ob der Kongreß den Charakter, der ihm durch sein Hervorgehen aus der internationalen ethischen Bewegung aufgeprägt worden ist, in vollem Maße zum Ausdruck gebracht habe, muß auch ich verneinen. Ebenso ist ja ganz unzweifelhaft, daß in der Versammlung von 1908 von den Prinzipien einer moralischen Bildung ohne Religion nur wenig die Rede gewesen ist. Noch weniger scheint es, werden diese Prinzipien bei der Wiederholung die für dieses J a h r im Haag geschehen soll, zu gehöriger Geltung gelangen. Indessen mögen wir abwarten, wie über diese noch bevorstehende Tagung zu urteilen sein werde. Internationale Kongresse sind ja an und für sich nichts Neues. Wir haben sie für Medizin, für Psychologie, Philosophie im allgemeinen, wir haben ein internationales Institut für Soziologie, das Kongresse abhält usw. Gegen Zahlung sind die meisten dieser Kongresse jedem zugänglich, man braucht nur ein Mensch zu sein, um an ihnen teilzunehmen und zumeist steht es auch jedem frei, das Wort zu ergreifen. Alle diese sind also in gewissem Sinne Kongresse der Menschheit. Der Rassenkongreß unterschied sich aber von allen dadurch, daß er nicht nur jedermann aus dem Menschheit-Volke zur Teilnahme einlud, sondern auch das Menschheit-Volk zu seinem alleinigen Gegenstande machte. Er tat dies ausgesprochener Maßen im Sinne der Humanität, des allgemein-menschlichen Gedankens, der Ueberbrückung aller in Rassendüni Nachreden

des Kassenkongresses:

Zuerst in: Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für

sozial-ethische Reformen 1912, 20. Jg. (15. 6. 1912), S. 8 9 - 9 0 . Berlin (Bieber). Vgl. im einzelnen den Editorischen Bericht (S. 684).

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Schriften

kel, in Nationalhaß, in religiösen Einbildungen und Ausschließlichkeiten gähnenden Abgründe. Es w a r ein großer G e d a n k e „im Lichte der Wissenschaft und des modernen G e w i s s e n s " diese Dinge zu betrachten, mit der kundgegebenen „Absicht, volleres Verständnis, freundlichste Gefühle und herzlicheres Z u s a m m e n w i r k e n zu befördern." — Ein zu großer Gedanke? Wissenschaft und Gewissen sollten gefragt werden. Ist Wissenschaft einmütig über solche Fragen? Kann sie überhaupt etwas widerlegen w a s in G e f ü h l und Willen sich ausprägt? Kann sie beweisen, daß es gut ist und richtig, allen Menschen menschlich zu begegnen? Ist vollends das moderne Gewissen nicht etwas durchaus Subjektives,

vielleicht

Sentimentales,

Unmännlich-Weiches,

Schwärmeri-

sches, der vielberufene Humanitätsdusel, der mit dem Aufkläricht so sichtlich zusammenhängt? Tatsache ist, daß das wissenschaftliche Denken und Bewußtsein Menschen aller Nationen und Rassen verbindet und vereint, daß Wissenschaft ihrem Wissen nach allgemein-menschlich ist, im Gegensatz zu Sitten, Institutionen, Religionen und in diesen Gründen wurzelnden Meinungen. Aber daraus folgt nicht daß sich wissenschaftlich beweisen lasse, etwa daß die Menschen verschiedener H a u t f a r b e gleich gute sittliche Anlagen haben, daß Mischrassen im Durschnitt ebenso viel Intelligenz hervorbringen wie reine Rassen, überhaupt daß die Menschen im ganzen und großen gleichwertig und daß ihre Verschiedenheiten eben nur durch ihre sozialen Verhältnisse oder durch klimatische Einflüsse u. dgl. bedingt sein. Allerdings folgt nichts dergleichen. Der Kongreß hat aber auch nichts dergleichen folgern wollen. Er hatte Referate über Gegenstände dieser Art vorgelegt, sie standen aber der freien Erörterung o f f e n . E r setzte voraus, daß niemand an dieser Erörterung teilnehmen würde, der an diese Fragen mit ausgeprägten Vorurteilen, mit leidenschaftlichem Rassedünkel, mit unerschütterlichen Ueberzeugungen von der Minderwertigkeit gewisser Rassen, herantrete. A b e r verwehrt w a r auch solchen der Zutritt und das Wort nicht. Ein Denken, das von allem Einfluß der Gefühle und Neigungen sich frei erhält, ist auf allen Gebieten selten und schwierig. D a s wissenschaftliche Denken will aber so beschaffen sein. Die Rassenfragen sollten auf dem Kongreß wissenschaftlich besprochen werden. 22 Durschnitt:

Korrekt: Durchschnitt.

Nachreden des Rassenkongresses

249

Dies bedang, daß die ethischen Gefühle zurückgedrängt wurden. Und darin lag wieder ein Widerspruch gegen den Grundcharakter der Versammlung. Döring vermißt eine Kritik der Missionstätigkeit. Ich glaube daß in dieser Hinsicht die große Mehrheit der Kongressisten einig war: nicht, wie diese Tätigkeit zu schätzen sei — darüber waren gewiß auch unter den Christen die Meinungen ebenso geteilt, wie ohne Zweifel der Wert der Missionen außerordentlich verschieden ist — wohl aber, daß der Geist, aus dem die Berufung des Kongreßes erfolgte, nicht der Geist des Bekehrenwollens war, daß vielmehr die Norm: religiöser Glaube ist eine Privatangelegenheit darin unausgesprochen, aber unbedingt maßgebend war. Durch sein Dasein, durch die tatsächliche Ignorierung der Unterschiede von Christentum, Judentum, Islam, Brahmanismus, Buddhismus und was sonst an Meinungen vertreten war, bedeutete der Kongreß eine Kritik des Missionswesens, die sicherlich ihres Eindruckes auf die intelligentesten Teilnehmer insbesonders die uns Europäern an Weisheit oft so überlegenen Orientalen nicht verfehlt hat. Freilich — auf die Basis eines ausdrücklichen Protestets gegen das, was Döring die fanatische Seelenretterei und hierarchische Seelenfängerei, nennt, gegen die Uebertragung der jammer- und schmachvollen Zerrissenheit der christlichen Welt (die ich nicht für das jammer- und schmachvollste an ihr halte) auf arme und unwissende Naturvölker, stellte sich der Kongreß nicht. Auf dieser Basis wäre er aber auch unmöglich gewesen. Sein Problem war überhaupt kaum das Verhältnis der Europäer zu den Naturvölkern; vielmehr das Verhältnis zwischen kultivierten Völkern und Menschen verschiedener Farbe, Rasse, Religion. Und er hat dargetan, daß es wirklich gesittete und nicht blos oberflächlich kultivierte Menschen in allen Häuten gibt, und daß für diese ein Gefühl oder Bewußtsein der geistigen Gemeinschaft vorhanden ist, das auf dem Grunde des Bekenntnisses zu allgemein-menschlichen Wahrheiten ruht. Herr Tengo Jabaon, Herausgeber einer Zeitung, für Sulu-Kaffern, welchem Stamme er selber durch seine volle Abstammung angehört, schrieb mir vor kurzem (in englischer Sprache): „In unserm Lande denkt man an den allgemeinen Rassen-Kongreß mit vieler Achtung. Herr Schreiner, Senator und Ex-Premierminister (der Kap-Kolonie) sprach in hohen Tönen darüber, in einer Versammlung

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Schriften

zu Capetown, worin Herr Thomas Searle, 1 der auch an dem Kongreß teilgenommen hat, als Referent aufgetreten war. Auch ich bin befriedigt und meine, daß ein guter Same auf dem Kongreß gestreut worden ist, der in kommenden Jahren Früchte bringen wird."

1

Als „Ex-mha" bezeichnet ihn mein Korrespondent, was ich nicht verstehe. Vielleicht kann einer der Leser helfen.

l Thomas women; progress (27. Juli

Searle: Thomas Searle hat v. a. auf der 2. Session „The present position of racial miscegenation" (am 26. Juli 1911), auf der 3. Session „Conditions of (special problems)" (27. Juli 1911), sowie auf einer „Adjourned Session" 1911) mitgewirkt (vgl. Record, 1911: 34, 42, 78).

Rousseau und wir Im gleichen Jahre (1778) sind Rousseau und Voltaire gestorben, zwei Schriftsteller, die ihr Zeitalter tief bewegt, ja, erschüttert hatten. Voltaire hatte länger gelebt, er stand im 84., Rousseau erst im 67. Lebensjahre. Im Reiche des Geistes aber ist bisher Rousseau der Langlebigere gewesen; denn er ist heute noch lebendig und jung, während Voltaire zwar nicht tot und erloschen, aber doch ein wenig veraltet und vergessen auf uns niederblickt. Beide sind auf demselben Boden gewachsen, beide wurzeln in ihrem Zeitalter und wollen Vertreter ihres Zeitalters sein; auch Rousseau macht in allen Stücken die moderne Wissenschaft, die Philosophie geltend, auch er ist ein Herold der Aufklärung, aber seine innere Stellung zu den Problemen, besonders zu dem historischen Problem, ist eine ganz andere. Sein Geist ist in Anlage und Richtung verschieden von Voltaires Geiste. Wenn man Voltaire als den Mann des scharfen Verstandes bezeichnen kann, des zersetzenden kritischen Verstandes, überwiegend überhaupt als eine negative Natur, so ist Rousseau vielmehr der Mann des tiefen Gefühls. Auch Voltaire war ja ein Dichter, aber ein Dichter mit dem Kopfe! Ein Dichter war er in dem Sinne, wie etwa die Gartenkunst von Versailles auch eine Kunst ist, die Kunst, geradlinige Wege, geschorene Hecken zu bauen; in allem soll die Kunst über die Natur triumphieren, die Natur zurückdrängen. Es ist bezeichnend für Voltaire, daß er Shakespeare wegen seiner Roheit verachtet. Rousseau ist Dichter mit dem Herzen; ihm ist die Natur als solche das Höchste, die Natur selber ist ihm Poesie. Man sagt wohl, daß er die Schönheit und Erhabenheit der Alpen für die moderne Menschheit zuerst gesehen und beschrieben hat! Jedenfalls ist er epochemachend in bezug auf das Naturgefühl. i Rousseau und wir: Zuerst in: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, 1912, 18. Jg. (27. 6. 1912), S. 4 0 9 - 4 1 1 , Berlin (Fortschritt). Der Beitrag endet mit der Ortsbezeichnung „Eutin", Tönnies' damaligem Wohnort. 24 Voltaire: Vgl. Lettre à d'Argental, 19. Juli 1776: „son énorme fumière", in: Voltaire, 1882: L, 58.

252

Schriften

Und dadurch, durch diese Verschiedenheit, ist ihre verschiedene Stellung zum sozialen Leben und folglich zur Geschichte bedingt. Voltaire vertritt eine Denkungsart, die man auch als eine einseitig männliche bezeichnen kann, eben weil sie gegen die Ansprüche des Gefühles verhältnismäßig gleichgültig ist. Rousseau ist, man kann sagen in vieler Hinsicht, eine weibliche Natur; er ist auch ein Anwalt der Frauen. Die Frauen stehen seiner Natur eben näher als die Männer, und er hält es geradezu für die Mission der Frauen, die Männer zu beherrschen. „Citoyennes," sagt er in seiner Dedikation an den Magistrat von Genf, „... il sera toujours le sort de votre sexe de gouverner le nötre". (Es wird stets das Los der Frauen sein, das männliche Geschlecht zu regieren.) D a s ist gewissermaßen das Motto seiner ganzen sozialen Denkungsart. Er geht überall zurück auf die natürlichen Bedingungen des sozialen Lebens; er sieht diese natürlichen Bedingungen im sozialen Leben, wie es wirklich ist, zum großen Teil zerstört und verdorben; es wird sein Programm, die Natur in diesem Sinne wiederherzustellen. So ist seine Stellung zu den Dingen bezeichnet durch seinen Appell an die Frauen, der auch heute so oft wiederholt wird, und den Rousseau zuerst geltend gemacht hat, ihre Kinder selbst zu säugen. Während Voltaire der Mann der Aristokratie ist, der es eines vornehmes Mannes unwürdig erachtet, den dummen Aberglauben der Menge zu teilen, hingegen für die Menge diesen Aberglauben passend und nützlich hält — ja, für notwendig, um sie in Schranken zu halten —, ist Rousseau in jeder Beziehung der Mann des Volkes. Wenn man sagen kann, daß das achtzehnte Jahrhundert im Gegensatz zu den bloßen Staatsbegriffen, die im siebzehnten Jahrhundert ausgebildet waren, die bürgerliche Gesellschaft sozusagen erfunden hat, so war doch für Voltaire und die mit ihm dachten, im Sinne der Aufklärung der Reichen und Gebildeten, die bürgerliche Gesellschaft wesentlich die Gesellschaft, die gute Gesellschaft, die sich heute noch „die Gesellschaft" als solche nennt. Rousseau hat wieder entdeckt, daß die wahre Gesellschaft die des Volkes ist, die große dumpfe Menge, und während Voltaire eben aus 11 „...

gouverner

le nötre":

Aus Rousseaus „Abhandlung über den Ursprung und die

Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen" von 1755, zit. nach Rousseau, 1823: I, 212. 20 Kinder

selbst zu säugen:

Vgl. den zweiten Diskurs, erster Teil, Anm. 1.

Rousseau und wir

253

dem Gesichtspunkte der oberen gesellschaftlichen Schichten in der bloßen Befreiung vom Joche der Kirche an und für sich den wesentlichen Fortschritt der neueren Zeit erblickt, so erhebt Rousseau die schwersten Zweifel an der neueren Zeit, gerade insofern, als sie in dieser Beziehung die Kluft zwischen der großen Menge und den Gebildeten erweitert hat, als sie die Sitten der oberen Schichten getrennt hat von den Volkssitten, ihre Meinungen vom Volksglauben. In diesem Sinne beantwortete er die Preisfrage der Akademie von Dijon im Jahre 1750, ob der Fortschritt der Künste und Wissenschaften auf die Sitten verbessernd oder verschlimmernd eingewirkt habe — eine Frage, die Voltaire ohne Zweifel dahin beantwortet hätte, daß lediglich eine Verbesserung daher rühre. Rousseau antwortete in negativem Sinne in leidenschaftlicher Sprache, in heftiger Deklamation gegen die Verderbnis der Sitten, welche überall parallel gehe mit dem Luxus, wie der Luxus eben auch den Fortschritt der Künste und Wissenschaften bedinge und durch ihn gefördert werde. Tiefer geht seine Antwort auf die zweite Preisfrage, die er zur Beantwortung übernommen hatte: „Ueber die Ursachen der Ungleichheit zwischen den Menschen", und hier finden wir ihn an einem Punkte, wo er eben auftrat als ein ahnungsvoller Prophet des ganzen neueren Problems der sozialen Gleichheit, das im besonderen Sinne seitdem so große Ausdehnung und Bedeutung gewonnen hat. Rousseau unterscheidet natürliche und soziale Ungleichheiten. Es fällt ihm nicht ein, die natürlichen Ungleichheiten zu leugnen, die ja ganz individuell sind, die Ungleichheit der physischen Kräfte, der geistigen Begabung usw., und er erkennt, daß eine gewisse Ungleichheit der Tätigkeit, des äußeren Geschickes, notwendig durch diese natürlichen Ungleichheiten bedingt sei. Aber der bei weitem größere Teil der sozialen Ungleichheiten rührt lediglich von den Institutionen her, welche der Fortschritt der Kultur mit sich gebracht hat.

10 eingewirkt

habe:

„Ob die "Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läute-

rung der Sitten beigetragen haben" — Rousseau schrieb daraufhin die „Abhandlung über die Wissenschaften und Künste" und erhielt dafür den ersten Preis. 17 die zweite

Preisfrage:

„Quelle est l'origine de l'inégalité parmi les hommes, et si elle est

autorisé par la loi naturelle?", wiederum gestellt von der Akademie in Dijon im Nov. 1753. Rousseau antwortete darauf mit seiner „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen".

254

Schriften

Den Fortschritt der Kultur zu leugnen, ist Rousseau wieder nicht eingefallen, er steht nicht etwa der Aufklärung in dem Sinne entgegen, als ob er einen ursprünglich reinen Kulturzustand dem späteren Verfall der Kultur entgegensetzen wollte. Nein. Für ihn ist die ursprüngliche Lage der Menschheit eine halb tierische. Auch in dieser Beziehung steht er, wie gesagt, auf dem Boden der Aufklärung. Denn in der Tat war es schon um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein deutlich ausgesprochener Glaubenssatz geworden, daß der Mensch von tierischer Herkunft sei; wenn auch die großen Naturalisten, wie Buffon, sich noch auf den Standpunkt der Verschiedenheit der Arten und auf den Standpunkt der Artenschöpfung stellten, so setzten sie sich doch damit gleichsam der gebildeten öffentlichen Meinung entgegen, die ganz allgemein schon dahin ging, daß der Mensch dem Affen sehr nahe stehe und irgendwie auch mit ihm verwandt sei; es ist das nicht eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern es ist eine Schlußfolgerung, zu der die Denker des 18. Jahrhunderts allgemein gekommen sind, und die im 18. Jahrhundert allgemein üblich gewordene Einteilung der Hauptkulturstufen nach den wesentlich vorwiegenden Beschäftigungen der Menschen, nach ihrer Lebensweise, nach der Art, wie sie ihren Lebensunterhalt erwerben, nämlich (erste Stufe) der J a g d und Fischerei, (zweite Stufe) der Kultur, bezeichnet durch die Domestikation von Tieren und das Hirtenleben, und (dritte Stufe) die des Ackerbaues; diese Einteilung beruht eben schon darauf, daß man aus Nichtkulturzuständen und das hieß eben konsequenterweise aus tierähnlichen Zuständen den Kulturzustand ableiten, allmählich entwickeln wollte. D a s ist auch Rousseaus Ansicht. Aber Rousseau sieht nun eben die Kehrseite der ganzen Entwicklung, und es versteht sich dabei von selbst, daß er doch den ursprünglichen Zustand der Menschheit sich idealisiert. Wesentlich dabei ist ihm eben die Freiheit und Gleichheit des Naturzustandes, die durch die Kultur verloren gegangen sei, und zwar kommt da in den Mittelpunkt seiner Gedanken das Privateigentum als diejenige Institution, die eben am meisten schuld an den wachsenden Ungleichheiten sei und die alle überwiegenden Uebel für das Glück der Menschheit mit sich führe. Während er sonst im allgemeinen erkennen läßt, daß er an der Notwendigkeit der ganzen Entwicklung, an ihrem Charakter, daß sie durch natürliche Ursachen bedingt sei, nicht zweifelt, während er also wissen-

Rousseau und wir

255

schaftlich denkt, wird er gerade in diesem Punkte wieder leidenschaftlich und deklamatorisch. Es ist die Stelle zitiert worden, in der er ausruft: „Der erste, der ein Gebiet Landes eingeschlossen hatte und sich herausnahm zu sagen: Rieses gehört mir!' und Leute fand, die einfältig genug waren, es zu glauben, der war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Greuel, Not und Elend hätte nicht derjenige den Menschen ersparen können, der die Pfähle ausgerissen, die Gräben zugedeckt und seinen Genossen zugerufen hätte: „Hütet euch, diesen Betrüger zu hören, ihr seid verloren, wenn ihr vergesset, daß die Früchte allen gehören, und daß die Erde niemandem gehört!" Wir merken hier, wie der Sozialismus der neuen Zeit an die Tür klopft. Und in der Tat, den Uebergang von der Bejahung der volkswirtschaftlichen Entwicklung und ihrer Zustände, wie sie durch das Privateigentum, durch Handel und Industrie geschaffen waren und vorlagen, zu ihrer, sei es absoluten oder relativen Verneinung, bezeichnet Rousseau. Rousseaus Programm für die Zukunft ist naturgemäß durch seine Stellung gegeben, mit dem allgemeinen Ausdruck: Rückkehr zur Natur! Seine praktischen Lehren in dieser Richtung sind zum großen Teil pädagogisch, diese sind es, die am weitesten und längsten gewirkt haben. Die pädagogischen Lehren haben sich erhalten und sich fortgepflanzt. Sie wurden durch Pestalozzi und andere aufgenommen und erweitert. In Pestalozzis Sinne vernehmen wir heute die Grundsätze der Sozialpädagogik, die das Problem der Erziehung an das Problem der Gemeinschaft anknüpfen will. Ich verweile noch kurz bei Rousseaus politischer Stellung. Rousseau ist der Anwalt des Volkes. Die Volksseele ist ihm heilig, der Volkswille bedeutet für ihn alles! Von diesem Gedanken aus schreibt er über das Staatsrecht, über den allgemeinen Staat, ein Werk, welches 1762 erschien unter dem Titel: „Le contrat social". Der Grundgedanke dieses Buches ist der, daß die wahre, die durch die Vernunft gebotene Staatsverfassung diejenige sein würde, die am nächsten dem Ziele käme, die natürliche Freiheit und Gleichheit wiederherzustellen, respektive sie so zu schützen, daß sie trotz der Zivilisation, trotz der Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft, des Staates, sich er-

5 ,dieses gehört mir!': Vgl. Rousseau, 1823: I, 271.

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Schriften

halte; eine Verfassung, in der ein jeder Teil sich selber gehorcht, weil sein Wollen im allgemeinen Wollen, im Staatswillen, enthalten sei. Für Rousseau ist die demokratische Republik nicht eine Staatsform bloß neben anderen, sondern sie ist ihm die normale Form der bürgerlichen Gesellschaft, die über allen Staatsformen steht, sie ist die absolute Staatsform, die über allen Arten der Regierung steht. Man drückt das wohl so aus, daß Rousseau das Recht auf Revolution gebe. Das Recht auf Revolution bedeutet aber für Rousseau nicht ein Recht auf gewaltsame, sonst unrechtmäßige Veränderung der Staatsverfassung, sondern es ist für ihn die normale Betätigung des Volkswillens gegenüber der allein durch den Volkswillen bestehenden

Verfassung

und Regierung. Alle Regierenden sind eben für Rousseau nur Beamte des Volkes. Auch bei der monarchischen Verfassung ist der Monarch nichts als ein Magistrat, und das Volk ist jederzeit berechtigt, ihn zu entsetzen. Rousseau wiederholt in gewisser Beziehung den Gedanken des H o b bes, nur eben in dieser Modifikation: Während für Hobbes jede bestehende Staatsform absolut ist und nicht rechtmäßig verändert werden kann, so ist für Rousseau einzig und allein die Volkssouveränität gültig, die Volkssouveränität aber auch absolut gültig! Absolut gültig, und dies gilt ebenso wie bei Hobbes, den Rousseau ausdrücklich lobend zitiert, mit der Bemerkung, daß Hobbes sich gerade odiös gemacht durch das, was bei ihm richtig sei, was er mit dem besten Grunde ausgeführt habe, und das ist eben die Kritik des überlieferten Systems, in der Darlegung, daß der Begriff der Kirche, als einer geheiligten Institution, die als solche notwendig zum mindesten neben dem Staate, eher aber über dem Staate stehen wolle, mit dem Bestehen eines richtigen Staates unverträglich sei. Rousseau lehrt, daß der Staat selber eine Religion einsetzen oder für gültig erklären müsse, eine sogenannte „religion civile", die aber einen rein moralischen Charakter habe, und nichts enthalten solle als die Menschen- und Bürgerpflichten, diese aber als absolut unverletzlich lehre. Alles was sonst an religiösen Vorstellungen lebt, kann und soll sich in Vereinen darstellen, und der Staat hat diese Religionsgesellschaften zu dulden, mit alleiniger Ausnahme der Lehre, die da lehrt: Außerhalb der Kirche ist kein Heil; eine solche Religion dürfe nicht geduldet werden, sie müsse aus den Grenzen des Staates heraus getrieben werden. Wir 22 ausdrücklich

lobend zitiert: Vgl. Rousseaus „Contrat social" (1903: 321).

Rousseau und wir

257

wissen, daß der Radikalismus Rousseaus in der französischen Revolution lebendig geworden ist, und zwar weniger in ihren ersten Phasen als in der kurzen Phase, die durch den Namen Robespierres und die Schreckensherrschaft bezeichnet ist. Wenn dies eine kurze Phase war, wie ja die ganze Revolution nur ein Intermezzo bedeutet hat, so ist doch sichtbar, wie sich dieser Gedanke fortwälzt gerade in Frankreich, der Gedanke, daß die demokratische Republik sich erhalten hat, neu erstanden ist, und wie er mehr und mehr sich erfüllt mit all dem moralischen Pathos, das in Rousseau lebendig ist und nun im Namen des bürgerlichen Staates resolut auch gegen die Kirche sich wendet. In dieser Hinsicht ist die antikirchliche Richtung Rousseaus viel nachhaltiger wirksam gewesen als die rein individuelle, oder doch überwiegend individuelle antikirchliche Richtung Voltaires und seiner Denkgenossen. Rousseau nimmt das Banner der natürlichen Religion auf, die seinem Zeitalter als die ursprüngliche und einfache einleuchtete und den Verstand der Verständigen befriedigte. Er läßt auch die Verständigkeit gelten, sofern sie die Tugend fördert und begünstigt, und will irgendwelchen äußeren Kultus bestehen lassen, wenn er den Kultus des Herzens nicht störe und beeinträchtige. Dieses ist ihm Kern der natürlichen Religion, und der Glaube ist nichts als das echte und allgemein-menschliche Gefühl einer unbegreiflichen Wahrheit. Der Vikar aus Savoyen, dem Rousseau einen Teil seines eigenen Bekenntnisses in den Mund legt, macht das Gewissen zum Richter und nimmt ewige Strafen und Belohnungen an. Wenngleich Rousseau meint, über die Lehren der natürlichen Religion wird ein Kongreß von Christen, Juden und Mohammedanern sich einigen können, wenn er nur den Theologen aller drei Bekenntnisse den Zutritt verwehre, so gibt er doch für seine Person dem Christentum den Vorzug und preist das Evangelium. Er ist der Vorkämpfer eines freisinnigen Protestantismus. Ein Prophet und Schwärmer, der doch eine große Macht des Judentums entfaltet. Wie gewaltig sind seine Wirkungen auf die deutschen Philosophen gewesen. Herder, Kant, Schiller, Fichte, Schelling

4 Schreckensherrschaft:

und

Bezeichnet die Phase der jakobinischen Terreurs unter Führung

Robespierres vom 5. Sept. 1 7 9 3 bis zu dessen Sturz und Hinrichtung am 9. T h e r m i d o r ( 2 7 . / 2 8 . Juli 1 7 9 4 ) . 22 Vikar aus Savoyen:

Das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" ist Bestandteil

des 4. Buches von Rousseaus „Emile oder über die Erziehung" ( 1 7 6 2 ) .

258

Schriften

Schleiermacher, um nur die großen Namen zu nennen, schmiegen sich an ihn an. Und wenn seine Gedanken nicht mehr wirken, wie ehemals, weil sie in ein allgemeineres Bewußtsein übergegangen sind —,

wirken

nur immer der Z a u b e r seiner Rede, der Ausdruck einer ringenden Seele, die in ihrem dunklen Drange des rechten Weges sich bewußt w a r und aus

s

einer tiefen Sehnsucht nach Wahrheit im eigenen Z w i e s p a l t , der eigenen Unseligkeit die Zerrissenheit und Widersprüche eines Kulturzustandes reflektiert findet, den er erkennen will, um ihn zu überwinden, verbessern will, um die Menschen, und auch sich selber, zu verbessern oder vielmehr ihre ursprünglich Güte wiederherzustellen.

10

Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert 1. Das neunzehnte Jahrhundert ist in einer Entwicklungslinie mächtig fortgeschritten, die dem Bürgertum, wenigstens im wirtschaftlichen Leben, weit mehr als dem Adel zugute kommen mußte, die also jenem im Ringen um die Gleichstellung oder gar um den Vorrang in Gesellschaft und Staat starke Waffen in die Hand gab. Dies gilt für Deutschland — das Gebiet des alten Reiches — wie für Frankreich und Großbritannien, um nur diese Hauptländer zu erwähnen. Überall die ungeheure Zunahme des Handels, der Industrie, des Verkehrs, und also des bürgerlichen Reichtums, der städtischen Bildung. Das „mobile" Kapital ist das Kapital schlechthin, und der Grund und Boden wird mehr und mehr zu einer Kapitals-Anlage, wenn auch der Gegensatz zwischen jenem und dem Grundbesitz, sofern er als großer Grundbesitz soziale Bedeutung und politischen Einfluß hat, fortdauert. In der Tat ist das Jahrhundert erfüllt von großen Kämpfen zwischen diesen sozialen Mächten — Kämpfen, in denen die Bourgeoisie allmählich, wenn auch immer wieder zurückgedrängt, an Terrain gewinnt, und der Adel mehr und mehr in die Defensive geschoben wird. Er vermag seine Position nur zu halten, ja oft zu verstärken durch Bündnisse oder doch Kooperationen mit anderen Mächten, die mit ihm die Feindschaft gegen jene neue Herrenschicht, gegen den Liberalismus oder Kapitalismus oder wie immer ihre Ideenwelt benannt wird, gemein haben. Eine solche Macht ist vor allem die Kirche, die Trägerin des mittelalterlichen Geistes, selber an Grundbesitz und auch an Kapital stark genug beteiligt, um gewappnet in die Arena zu treten: die römisch-katholische Kirche also in erster Linie, während die protestantischen Landeskirchen weniger als selbständige Mächte, vielmehr als befestigte Plätze zu betrachten sind, die teils dem Adel, teils dem Landesherrn oder sogar der Staatsgewalt als solcher zur Verfügung stehen.

i Deutscher

Adel

im neunzehnten

Jahrhundert:

Zuerst in: Die neue Rundschau. Freie

Bühne für modernes Leben 1912, 23. Jg., Heft 8, S. 1 0 4 1 - 1 0 6 3 , Berlin (Fischer); eB S. 684 f.

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Schriften

Die andere Macht ist der Staat selber, der wiederum mit der Kirche bald verbündet, bald in alter Rivalität und Fehde lebt; der in seiner Entwicklung auf die Geldmächte weit mehr als auf den Feudalismus angewiesen war, ja dessen politische Unabhängigkeit zu zerstören, seinen Trotz zu bändigen als notwendige Aufgabe sich gestellt sah, und zum guten Teile erfüllt hatte; als rationale und abstrakte Wesenheit geborener Rivale des mystischen Körpers der Kirche und aller innerhalb seines Bereiches eigene Macht in Anspruch nehmender Korporationen, Stände und Personen. In der Wirklichkeit aber stellt sich der Staat dar 1. in den Personen der Fürsten und ihres Anhanges, die Fürsten sind selber hoher Adel und naturgemäß stehen ihnen die Leute des niederen Adels näher, als andere „Untertanen"; der Adel ist als solcher „hoffähig" und die Hofämter werden seinen Männern und Frauen ausschließlich vorbehalten. Der große Lebensstil behält immer in diesen engsten Kreisen seine Heimstätten. 2. in Armeen und Flotten, deren höchste Posten oft von den Fürsten selber oder doch von Prinzen, wenigstens der Form nach, ausgefüllt werden. Der Adel aber, als die überlieferte Kriegerkaste, hat die nächste Anwartschaft auf diese Stellen und macht seine Ansprüche auf den Vorzug geltend; mit überwiegendem Erfolge, zum Teil weil er wirklich durch Fähigkeiten, wie durch Neigung dazu berufen scheint, demnächst eher als Leibgarde des Monarchen, der ihn zwar nicht als seinesgleichen achtet, aber doch, wie Friedrich der Große aussprach, zu denken pflegt, daß im allgemeinen nur der Adel „Ehre" habe, obgleich man bisweilen Talente und Verdienste auch bei Personen antreffe, die nicht von Geburt seien. Das Zeichen, woran diese Ehre kennbar wird, ist eine gewisse äußere Haltung, die Eleganz und Sicherheit des Benehmens, die durch Selbstvertrauen befestigt wird, daher jedem Befehlshaber, auch untergeordneten, leicht zuwächst. — Der Staat stellt sich aber ferner dar 3. in seiner (zivilen) Beamtenschaft, und zwar auch hier am unmittelbarsten in den von Fürstengunst beglänzten „Spitzen der Behörden". Was von der Armee gilt, macht sich in etwas vermindertem Grade auch in dieser staatlichen Sphäre geltend. Ehre und Vorteil ziehen den Adel an. Die Fürsten, zumal die beschränkteren, achten alle Staatsdiener als ihre persönlichen Diener, die Staats minister in erster Reihe als die berufenen Vertreter ihrer persönlichen Interessen und Meinungen. Dazu gehört auch die Vertretung an fremden Höfen, bei auswärtigen Regie22 wie Friedrich

der Große aussprach:

„ M é m o i r e s depuis la p a i x de H u b e r t s b o u r g , 1763,

j u s q u ' à la fin d u p a r t a g e de la Pologne, 1775, in: ders., 1847: VI, 95.

Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert

261

rungen. Die Diplomatie wird mit besonderer Hartnäckigkeit vom Adel mit Beschlag belegt und ihm regelmäßig vorbehalten. Nächst diesen vornehmsten Berufsarten gilt auch der übrige Staatsdienst als ehrenvoll: von den zwei großen Gebieten aber die Verwaltung mehr als die Justiz — warum wohl? Nur in ausgeprägt monarchischen Staaten wird man die Erscheinung finden, und es dürfe offenbar sein, daß sie in diesem Charakter ihren Grund hat. Der König (oder Fürst) ist eben vor allem Chef der Exekutive, der eigentlichen Regierung, daher scheint es des Edelmanns würdiger, daran teilzunehmen, als an der Rechtsprechung; denn im Rechte ist doch eine Idee enthalten, die von monarchischer Willkür unabhängig sein will, wenn es auch im Namen des Königs gesprochen wird. Aber nicht nur in der Justiz, auch in der Administration, sogar in den leitenden Stellen, konkurrieren frühzeitig bürgerliche Elemente erfolgreich mit den adligen. Vorzugsweise hängt dies mit den Geldbedürfnissen der Fürsten zusammen; sie sehen sich oft genötigt, Dienste, die ihnen in dieser Hinsicht geleistet wurden, mit Ehrenstellen zu belohnen. Daneben macht auch ihr Interesse an gehöriger Leistung sich geltend; die klügeren Fürsten können das Talent und Verdienst kleiner Herkunft nicht übersehen, wenn auch „Hofschranzen" sich bemühen, es unsichtbar zu machen. Und während der Adlige durch Begabung und Neigung, wie durch Überlieferung und Herkommen, ja auch durch die Gewohnheiten des Landlebens, zum Kriegsdienst, zumal dem ritterlichen sich hingezogen fühlt, daher wohl auch die Tüchtigsten als Heerführer und durch das Studium des Krieges sich hervortun, so ist hingegen das Studium der Rechte und der juristische Scharfsinn in den Städten zu Hause, und in Städten konzentriert sich die Regierung, Staatsgeschäfte müssen wie andere Geschäfte mit Geschäftsverstand, zuweilen mit wissenschaftlichem Sinn angefaßt und behandelt werden. Auch die Kirche und der geistliche Stand, die doch vorwiegend unkriegerisch bleiben, sind in diesem Sinne bürgerlich und erheben auch Männer aus dem Volke in die höchsten Ränge. Wenngleich nun alle Elemente dieser Art, emporgekommen, auch vom Adel attrahiert, oft in ihn aufgenommen werden — wie denn eben seit Ausgang des Mittelalters die Machtvollkommenheit der Fürsten immer neuen Adel, im Deutschen Reiche die des Kaisers den sogenannten Briefadel, kreirt — so geht doch der air bourgeois nicht sogleich unter, er verliert sich nach dem Herzog von Larochefoucauld, „zuweilen in der Armee, nie bei H o f e " ; und im großen 37

nie bei Hofe":

Vgl. L a Rochefoucauld, o. J. (1909?): 7 9 (Nr. 3 9 3 : ,,L' air bourgeois

se perd quelquefois à l'armée, mais il ne se perd jamais à la c o u r . " ) .

262

Schriften

und ganzen steht das zivile Beamtentum dem Adel immer ein gut Teil ferner und fremder als das Militär, das seine eigentliche Sphäre bleibt; wenn auch die technischen Waffen der vornehmen Kavallerie mehr und mehr den Rang streitig machen. War nun bisher nur von den oberen und herrschenden Schichten die Rede, so ist doch als dritte große Macht, die neben Kirche und Staat ihr Gewicht in die Wagschale zu legen vermag, das Volk zu erwägen — die große dunkle ungestalte und doch vielgestaltige Menge, in der wir unterscheiden: 1. die Bauern, das echte Landvolk — zu seinem größten Teile die ehemaligen gedrückten Untertanen des Adels, immerhin durch die ländlichen Gewohnheiten und Interessen mit ihm verbunden, und zumeist in Demut, ja Untertänigkeit zu ihm emporblickend. Aus Furcht geht sowohl Ehrfurcht als Feindseligkeit und Abscheu hervor. Jenes, wenn das Herrentum milde, leutselig, menschenfreundlich sich beträgt; aber gar oft ist der Junker übermütig und brutal, kränkt den Bauer in seinen Rechten, schädigt seine Felder durch Jagden, verführt seine Töchter, vertreibt ihn von seiner Stelle oder reizt durch Schikanen zum Verkaufe. In teilweise neuen Gestalten dauert trotz der „Bauernbefreiung" die historische Abhängigkeit mit (ideell) patriarchalischen Verhältnissen ebensowohl wie der historische Gegensatz fort; beides am ehesten, wo der Bauer nicht zu freiem Eigentum (oder doch ablösbarer Erbpacht) gelangt, sondern zum bloßen Zeitpächter geworden ist; aber auch der Eigentümer muß sich unterordnen, wo noch öffentliche Gewalt, sei es verblieben, oder von Rechts wegen neu verliehen, in den Händen des Gutsbesitzers ruht, und seine Mißgunst tödlich wirkt. — Was aber 2. die Bürger betrifft, so stehen sie ja im allgemeinen dem Adel gegenüber, wie der Stadt dem Lande, ebendarum freilich in mannigfachen Verhältnissen, je nach gegenseitiger Kraft und Bedeutung; daher wie die Großstadt anders als die Kleinstadt, so der Großbürger anders als der Kleinbürger. Kleinbürger und Kleinstädte sind aber sozusagen die Regel, sie sind schwach, ja ohnmächtig, außer wenn sie sich vereinigen, oder im Gefolge Mächtiger. Die kleine Landstadt, in Gebieten, die von adligen Gutsbesitzern beherrscht werden, ist von diesen abhängig; auch sonst ist der Kleinbürger bescheiden und ergeben, er pflegt seinen Vorteil von Gunst und Gnade großer Herren zu erwarten. Im neunzehnten Jahrhundert aber, während diese Motive abnehmen, kommt ein neues Motiv hinzu: die gemeinsame Wehr gegen den industriellen und kommerziellen Kapitalismus, wodurch die Interessen des versinkenden Mittelstandes sich mit denen des Großgrundbesitzers verknüpft fühlen; ein Gefühl, das dieser in seinem Interesse zu befördern alle Ursache hat. Scharf tritt dies

Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert

263

in der gemeinsamen Stimmung und Stimmungsmache gegen das Judentum zutage. Aus gleichen Gründen kann sich der Adel als führende Macht des Großgrundbesitzes noch leichter zum Führer des ihm wirtschaftlich näher stehenden Bauernstandes aufwerfen. — An das Bauernwie an das Bürgertum, die alten arbeitenden „Stände", hängt sich aber die neue arbeitende „ K l a s s e " , das Proletariat. Es hat an den Eigenschaften jener mehr oder minder Anteil, je nachdem es agrarisches oder industrielles Proletariat ist, läßt sich daher auch lange von ihnen leiten und bleibt in ihrem Gefolge. Als gefügiges Werkzeug des Adels das agrikole Proletariat, wirtschaftlich noch schwächer, als eine Schicht von Zwergbauern, am meisten zahlreich und am meisten willenlos als die Tagelöhner großer Gutsbetriebe, zum großen Teile auch als diesen Betrieben zugehörig sich empfindend, tatsächlich, wenn auch nicht mehr rechtlich, an die Scholle gefesselt. Hingegen die industrielle Arbeiterklasse, zum Teile aus der ländlichen hervorgehend, zum größeren Teile aus dem Gesellenstande des Handwerks, also aus dem Kleinbürgertum sich entwickelnd, steht von vornherein freier da, und seine freie Beweglichkeit wird durch das Interesse der Kapitalbesitzer, daher auch durch die Gesetzgebung begünstigt. Zahlreicher und bedeutungsvoller werdend mit dem Wachstum der Industrie, erhebt sie sich fast als die arbeitende Klasse schlechthin, macht sich sozial und politisch in leidenschaftlicher Weise geltend. Stürmischer als das Kleinbürgertum, rennt das Kind der gesellschaftlichen Umwälzung gegen deren Urheber, gegen „das Kapital". Mehr als vom Kleinbürgertum kann von der Hilfe des Proletariates der Adel in seinem Ringen gegen die drohende Übermacht der Bourgeoisie erwarten. Die Alliance scheint geboten und spielt zeitweilig in der Idee wie in der Wirklichkeit eine nicht geringe Rolle. Und doch ist diese Alliance unnatürlich und schwerlich haltbar bei so großer, fast der größten sozialen Distance und Verschiedenheit der näheren Interessen. Dazu kommt dann, daß in vielen Beziehungen, zumal politischen, eine Annäherung und Ausgleich sich vollzieht zwischen den „besitzenden Klassen", den Vertretern des Grundbesitzes und denen des Kapitals, die dann in der besitzlosen ihren gemeinsamen Feind erkennen und bekämpfen. Sie werden stillschweigend darüber einig, daß ihre eigene Rivalität, wie heftig und erbittert sie sich äußern möge, gleichsam normal und historisch legitim sei, während die Ansprüche der „unteren Klassen" unter allen Umständen abgewehrt werden müssen, weil sie beide Teile bedrohen und als kriegführende Macht nicht anerkannt werden dürfen. —

264

Schriften

2.

Wenn wir nun die Streit- und Hilfskräfte der Bourgeoisie eben in diesem historischen Wettstreit mit dem Adel betrachten, so bemerken wir zunächst die gleichen Mächte, die an und für sich mehr oder minder neutral sind, wenn auch in umgekehrter Folge. Bauern- und Bürgertum zusammen, wenn auch mit entschiedenem Übergewichte des Bürgers, bilden den „dritten Stand", der alles sein und werden wollte, in einigem Maße auch geworden ist. Aus beiden, wenn auch aus dem Bürgerstande weit mehr, erhebt sich die neue Führerschicht, zum Teil schon durch ihren Reichtum dem Adel gewachsen, ja überlegen, und mit der großen Aussicht auf unermeßliche Vermehrung von Reichtum und Macht. Dabei ist diese Schicht der Reichen ihrem Wesen nach offen; wenn auch allzu rasch Emporgekommene, zumal solche von unbeliebter Abstammung, oft mit scheelen Augen betrachtet werden, so kann man diesen doch nicht wehren ihr Geld auszugeben und sich geltend zu machen. Also bleiben alle Elemente, die ein Geschäft betreiben oder die ihre Berufstätigkeit als gewinnbringendes Geschäft aufzufassen gelernt haben, die natürlichen Anhänger der Bourgeoisie, so lange bis diese sich allzu hoch über Bauern und Handwerker erhebt und besonders den letzteren durch die siegreiche Konkurrenz der Großbetriebe verderblich wird; alsbald werden dieselben Elemente sich stärker vom Adel angezogen fühlen, der immer bereit ist, seine wesentlich großgrundbesitzerischen Interessen mit Führung und Schutz des „Mittelstandes" in Verbindung zu bringen, wenn er auch niemals diesen als ihm gleichwertig anerkennen will und kann, vielmehr als relativ geschlossener Herrenstand allen anderen Ständen fremd, wenn nicht feindlich gegenübersteht. Dies gilt in höherem Grade in bezug auf die jüngste, so bedeutungsvoll werdende Schicht, die industrielle Arbeiterklasse. Dagegen findet sich diese zunächst in einiger Interessengemeinschaft mit dem wichtigen Teil der Bourgeoisie, der ihr als „Unternehmer" oder „Arbeitgeber" voranschreitet und naturgemäß beflissen ist, „seine" Arbeiterschaft an sich gefesselt zu halten. Hier setzt aber bald, und zumal, indem die Betriebe sich ausdehnen, das Klassenbewußtsein des Proletariates ein und es vollzieht sich der Prozeß, den man als Abfall des Proletariats von der Bourgeoisie charakterisieren kann; hin und wieder wird dieser auch durch konfessionelle und andere Gegensätze gefördert oder vorweggenommen. Von dem möglichen Bündnisse zwischen Adel und industrieller Arbeiterklasse ist in bezug darauf schon gesprochen worden. Viel schärfer macht sich die Isolierung dieser neuen,

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265

immer zahlreicher werdenden Schicht mit ihren Anhängen, der städtischen, zumal großstädtischen großen Masse, allen anderen, aber besonders den oberen Schichten, den besitzenden Klassen gegenüber erkennbar, die alsdann ihrerseits durch den gemeinsamen Gegensatz zusammengeschweißt werden. Der Staat ist seinem Wesen nach bürgerlich. Z w a r bleibt die Armee vorzugsweise Domäne des Adels; die Bürgerlichen, die in ihr Rang erwerben, werden auch leicht vom Adel assimiliert, zumal wenn sich Verleihung oder Erwerb von Grundbesitz daran anschließt. Das hat auch im Zivildienste statt; aber der „Briefadel", viel öfter ohne Grundbesitz verharrend, wird als Dienstadel vom Grundadel unterschieden. Weit größerer Spielraum ist hier dem bürgerlichen Talent, auch von geringer Herkunft, gegeben. So sehr der Adel beflissen ist, sich auch im zivilen Dienst die besten Stellen vorzubehalten, so haben doch frühzeitig mit Erfolg die unadligen Juristen konkurriert. In Frankreich entwickelte sich daraus eine besondere Noblesse de robe. Die Phase der ständischen Mitherrschaft, durch die der moderne Staat hindurchgehen mußte, wirkte mächtig nach, auch als sie schon prinzipiell durch die Souveränität des Fürsten überwunden war. Dem Herkommen und Gewohnheitsrechte nach waren bedeutende Ämter den Einheimischen der einzelnen Territorien, das hieß aber, denen vom Adel, vorbehalten. Die bürgerlichen Räte wußten sich mehr als Staatsdiener, die adligen als Fürstendiener. Die Idee des Staates ist nicht trennbar von der Idee der staatsbürgerlichen Gleichheit und widerspricht der Privilegierung einer herrschenden Kaste, in welcher Form immer sie geschehe. Die Armee freilich bleibt innerhalb des modernen Staates ein Fremdkörper, insofern als sie den Offiziersstand als militärischen Neu-Adel streng gegen die untere Masse abschließt. Eben hierin betätigt sich der nachwirkende Einfluß des Geburtsadels, so daß dieser ebenso mit dem Heeresdienste, wie „der hohe Bürgerstand mit dem Beamtentum verbunden erscheint" (Erdmannsdörfer). Zugleich liegt freilich eben in diesem Begriffe des „höheren" Bürgerstands eine gewisse Annäherung an die Ansprüche des Adels. So hängt auch eine Abschwächung des Kampfes zwischen den beiden Potenzen damit zusammen, während er gleichzeitig eben durch die Erhöhung der jüngeren Macht in Vermögen und Ansehen gerade verschärft wird.

15 Noblesse

de robe:

Der dem dritten Stande zugerechnete Amts- und Dienstadel in Justiz

und Verwaltung Frankreichs, mit Tendenz zur Erblichkeit. 30 (Erdmannsdorfer):

Vgl. Erdmannsdörffer, 1869: 44.

266

Schriften

Die Kirche endlich gehört als soziale Macht, als feudale Korporation und Stand, durchaus und mit dem Adel zusammen dem Mittelalter an. Ebendarum ist die Opposition gegen sie und die Neugestaltung wesentlich bürgerlich und mit dem Staatswesen verknüpft. Freilich folgen die Landeskirchen bald wieder dem Gesetze der Schwere, das sie nach dem Boden, und damit nach dem bodenständigen Adel hinzieht. Typisch daf ü r der englische Staat, w o die etablierte Kirche der linke A r m einer besitzmächtigen Oligarchie wird oder bleibt. Immerhin besteht doch auch in diesem Zustande, zu dem jedes kleine deutsche Territorium eine Parallele darbietet, die natürliche Eifersucht zwischen geistlichem und weltlichem Herrentum, und das geistliche steht dem bürgerlichen Wesen und dem Volke innerlich, wie zum guten Teil nach seiner Abstammung näher; dies gilt natürlich mehr für den niedern als für den höhern Klerus. So hat denn auch der niedere und die von ihm vertretene Theologie (die niedrige Kirche, wie man in England sagt) manche Berührungen mit den volkstümlichen, sektiererischen, schwärmerischen und oft aufrührerischen Bewegungen, in deren unklarem Prophetentum auch das Emporkommen eines gemeinbürgerlichen

Bewußtseins sich ankündigt.

Ihr

Christentum ist von vornherein freier; es löst sich vom D o g m a und von den Symbolen, es will wesentlich moralisch sein und ist allem ständischen Priestertum entgegen. Daher verknüpfen sich seine Fäden mit denen der A u f k l ä r u n g , der Naturwissenschaft, des Freidenkertums. Die rationalistisch-philosophische Theologie, der freie Protestantismus werden die Formen des Kirchentums, in denen das entwickelte bürgerliche Bewußtsein eine Stütze findet, und bei dem es sich zu beruhigen vermag. Seine wahre geistige Rüstkammer wird aber die Wissenschaft selber, insbesondere die Naturwissenschaft, zumal insofern, als sie mittelbar, durch technologische Anwendungen, eine gewaltige Beförderung f ü r Industrie und Handel bedeutet; und so gestalten sich die Hochschulen, indem sie mehr und mehr der modernen Wissenschaft sich widmen, und die Gelehrten-Republik als M ä c h t e zu den Alliierten des emporsteigenden Bürgertums. Ebenso ist dahin, ihren vorwiegenden Tendenzen nach, die mit der wissenschaftlichen Bildung eng zusammenhängen, die „Presse"

zu

rechnen, als Ausdruck und Bildnerin der öffentlichen Meinung. Ein Werkzeug freilich, das sich als solches jeder sozialen M a c h t zur Benutzung darbietet und empfiehlt, wie denn auch jede sich der Wissenschaft, der Hochschulen usw. zu bemächtigen versuchen kann und mit Erfolg versucht, zu schweigen davon, daß die theologische und zum Teil auch

Deutscher Adel im neunzehnten J a h r h u n d e r t

267

die juristische Fakultät ihrem Wesen und Wirken nach immer den konservativen Mächten näher gestanden haben. Aus dieser Darstellung ergibt sich eine große Mannigfaltigkeit möglicher Verbindungen und Kämpfe, wie denn auch wirklich solche angetroffen wird. Und wenn im allgemeinen ein unablässiger Kampf zwischen dem Adel mit seiner „konservativen" und der Bourgeoisie mit ihrer „liberalen" Geistesrichtung beobachtet wird, so mußte doch auch hingedeutet werden auf die vielen Momente, die diese beiden führenden Schichten einander annähern und ähnlich machen, so daß man auch von Überläufern aus dem einen Lager ins andere reden kann; wobei man immer sich erinnern muß, daß die Bourgeoisie erst zur führenden Schicht wird, und zunächst, auch im neunzehnten Jahrhundert, noch als Volk unterhalb des Adels steht. Aber wie ein verarmender und enterbter Edelmann sich zuweilen dem Volke näher und verwandter fühlt, so der reich werdende und verfeinerte Rotürier dem Adel. Auch ohne äußere Zeichen findet eine fortwährende Rezeption bürgerlicher, städtischer Elemente in den ursprünglich landsässigen Adel statt; in England sind die ältesten und würdigsten Vertreter der Gentry zum guten Teile ohne Titel. In Preußen und in Teilen des übrigen Deutschlands wirkt die Armee direkt und indirekt „veredelnd"; die ungeheure Geltung des Adels in ihr ist ein starkes Reizmittel für die bürgerlichen Kreise. Ähnlich das höhere Beamtentum, die vornehme „Verwaltung". Wenn es auch an Eifersucht und Haß zwischen der Bureaukratie und dem Junkertum nicht fehlt, so wissen doch beide sich als Zweige an einem aristokratischen Aste. Dennoch findet gleichzeitig, durch Ehre, Geselligkeit, und eben durch die Beamtenstellungen, überhaupt aber durch die städtische Lebensweise und Bildung, eine bedeutende Verbürgerung großer Bestandteile des Adels statt. Sogar die tiefe Kluft, wodurch diese adlige Bourgeoisie und bürgerliche Aristokratie von den Elementen sich geschieden weiß, die durch fremde Rasse und fremde Konfession in der bürgerlichen Masse gesondert stehen, wird nicht selten und nicht allzuschwer überbrückt, wenn nur der variable von den beiden Faktoren gewechselt wird und zum korrekten Reichtum ein korrektes „Glaubensbekenntnis" hinzukommt.

3. Zwischen dem achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert liegt für Deutschland wie für Frankreich die große Revolution, unter deren Ein15 Rotürier:

In Frankreich ein bürgerlicher Freier, ein Nichtadeliger.

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Schriften

fluß die schrankenlose Entfaltung der modernen Volkswirtschaft, d. h. des industriellen Kapitalismus, geschehen ist. Sie ist auch den ökonomischen Kräften des Grundbesitzes, also des Adels, zugute gekommen. Zunächst im allgemeinen, indem sie Grundrente und Bodenwert in außerordentlicher Weise gesteigert hat; eine natürliche Folge der unermeßlich erhöhten Produktivkraft der Arbeit und der vermehrten Volksmenge. Insbesondere aber entsprach gerade die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung, so sehr sie das Wachstum der großen Industrie gefördert hat, unmittelbar am meisten den Interessen der Landwirtschaft, zumal der neuen, rationellen Agrikultur. Der Freihandel bedeutete freie Ausfuhr des Getreides, der Wolle und anderer Rohprodukte, freie Einfuhr des Eisens und anderer Industrieprodukte; für die hergebrachte und im achtzehnten Jahrhundert vorwaltende Theorie und Praxis schwere und verderbliche Irrtümer. Im Namen der Landwirtschaft hatten die Physiokraten diese Forderung gestellt; im Namen der Landwirtschaft forderten sie auch die Handels- und Gewerbefreiheit im Innern, den Fall der Zollschranken zwischen den Provinzen, der Akzisen und Oktrois in den Städten, die Aufhebung der Zunftprivilegien und anderer Hemmungen der „natürlichen" freien Konkurrenz. Unter dem Einflüsse dieser Lehren stand auch die Bauernbefreiung, die ja in der Tat auch von einsichtigen Grundherren und Gutsbesitzern im Sinne der Menschlichkeit, des Naturrechts — und ihres wohlverstandenen Interesses gefördert wurde. Nicht nur die brennenden Schlösser bestimmten jenen berühmten Verzicht der Augustnacht 1789, sondern auch die Aufklärung der jüngeren Generation, Erleuchtung des Geistes und des Willens, worin sich wie immer ein idealistischer Schwung mit Erkenntnis des endlichen Nutzens trefflich vereinte. So konstatierte Hanssen für Schleswig-Holstein, Knapp für die älteren Teile Preußens, daß die früheren Obereigentümer durch die Befreiungsakte keineswegs Einbuße an ihrem Vermögen erlitten, sondern eher noch Vorteile daraus einheimsten. In der Tat fand im neunzehnten Jahrhundert eine völlige Umgestaltung des landwirtschaftlichen Betriebes statt, die rationelle Landwirtschaft wurde für Deutschland durch Thaer begründet, der auch an der Agrarreform Preußens tätigen Anteil nahm. In Gestalt der Naturwissenschaft wandert die städtische Bildung

24 Augustnacht:

In der Nacht des 4. Aug. 1 7 8 9 wurden in Frankreich durch Beschluss der

Nationalversammlung die Feudalrechte abgeschafft. 27 Hanssen: 27 Knapp:

Vgl. Hanssen, 1 8 6 1 . Vgl. Knapp, 1 8 8 7 .

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aufs Feld, und das Ergebnis ist, nach dem Urteile des Freiherrn T h . v. d. Goltz, daß keine Klasse der Bevölkerung im Laufe des Jahrhunderts so große Fortschritte gemacht habe, wie die der selbständigen Landwirte; das sind aber in erster Linie die Gutsbesitzer und Gutspächter als Unternehmer kapitalistischer Großbetriebe, die also den möglichst hohen Reinertrag sich zum Ziele setzen und die arbeitenden Hände als Mittel zu diesem Zwecke anwenden. Freilich konnte dies System nicht verhindern, wirkte sogar stark dazu mit, daß infolge von überreichen Ernten und zunehmender Höhe der englischen Kornzölle um das J a h r 1820 eine Agrarkrisis ausbrach, die gar viele Subhastationen und ein starkes Sinken der Güterpreise zur Folge hatte. Da dies aber, speziell in Preußen, auch den in neuer Selbständigkeit und mit vermindertem Areal noch unsicheren Bauernstand herunterbrachte, so ergab sich Gelegenheit zur wohlfeilen Vermehrung des großen, also des adligen, Grundbesitzes. Ein allgemeiner Aufschwung erfolgte etwa von 1835 ab; mehr und mehr machten sich die Wirkungen zunehmender städtischer Bevölkerung und Industrien geltend; namentlich wuchs die Nachfrage nach Schafwolle, die noch keine überseeische Konkurrenz kannte, und der Wollmarkt wurde für den Junker, der auf großen Flächen eine extensive Wirtschaft führt, Quelle steigender Bereicherung; so daß er auch in dieser Beziehung mit dem Geist des Jahrhunderts wohl zufrieden sein konnte. Vollends mußte der Eintritt Großbritanniens in seine Freihandelsära und damit in die Glanzepoche seiner Exportindustrien auch dem kontinentalen Agrarier willkommen sein, denn die Aufhebung der Korngesetze bedeutete auch für ihn eine Erweiterung des Absatzmarktes. So begann schon um 1835, speziell für den in landwirtschaftlichen Großbetrieben sich betätigenden preußischen Adel, eine Zeit des Aufschwunges, der gerade um die Zeit, als seine politische Vormacht angefochten wurde, auf einen Höhepunkt gelangt war und sich noch bis in und über die Epoche der Bismarckischen Feldzüge in dieser Höhe zu erhalten und zu befestigen vermochte; ein nicht geringes Moment für die große Entwicklung und die Erfolge des preußischen Staates in dieser Epoche. So ist denn im ostelbischen Koloniallande ein recht großer Teil des Bauernlandes, das z Th. v. d. Goltz: Vgl. Goltz, 1902/03: I, 22, II, 172, 182, 278. 10 Subhastationen: Öffentliche Versteigerungen. 22 Freihandelsära: Das nach der napoleonischen Ära dominierende Kornzollsystem wurde infolge wirtschaftlicher Not und des Rufs nach uneingeschränktem Freihandel (Bildung der Anti-Corn-Law League 1838 durch Richard Cobden und John Bright) durch das Tory-Kabinett Peel 1846 aufgehoben.

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schon durch die Entschädigungen der ehemaligen Obereigentümer verkleinert war, in den fünf bis sechs Jahrzehnten, die den Befreiungs-Edikten folgten, von den Rittergütern aufgesogen worden. Aber auch ganze Rittergüter, zumal solche, die der Agrarkrisis 1820 erlagen, wurden zusammengekauft, der Latifundienbesitz dehnte sich aus. Auch dem bürgerlichen Reichtum war das adliche Gut zugänglich geworden, direkt und auf dem Umwege der Heirat strömte sogar jüdisches Kapital in den Acker. Die Landwirtschaft ist, zumal im Großbetriebe, ein auf Reinerträge und Gewinn berechnetes Geschäft geworden, also, wie sehr sie auch durch Boden, Klima, Wetter bedingt bleibt, der eigentlich sogenannten Industrie ähnlicher. Industrieanlagen, die als Mühlen oder Eisenhämmer an Wasser und Holz gebunden, zunächst mehr ländlich als städtisch waren, hatten ebendarum die größeren Grundherren längst in ihr Interesse gezogen, wie denn noch heute, besonders in Österreich, zu einer Herrschaft mannigfache Betriebe zu gehören pflegen, die einer höheren Grundrente günstig sind; haften doch auch ihrem Wesen nach das Bergwerk und die Verhüttung der Erze als Urproduktionen am Boden. Gewisse Verarbeitungen seiner Stoffe mußten immer dem Landwirt, zunächst für die eigene Ökonomie, sodann aber auch für den Markt, tunlich und nützlich erscheinen. Um das Brauen und Brennen hat der Junker mit den Städten immer gestritten. Nun kam ihm auch in dieser Hinsicht die Gewerbefreiheit zugute. Und da es für den leichten Sandboden des Ostens keine lohnendere Kultur als den Anbau von Kartoffeln gibt, und das technische Problem, dies voluminöse Produkt in konzentrierte Form zu bringen, durch die Branntweinbrennerei längst gelöst war, so entwickelte sich nun die Kartoffelschnaps-Fabrikation als ländliches Gewerbe von hoher Bedeutung, wenngleich sie kaum darauf Anspruch machen kann, an der vielgerühmten Vornehmheit des Ackerbaus beteiligt zu sein. Besser kann sich in dieser Hinsicht der Zuckerrübenanbau rechtfertigen; und daß in Gestalt von Sprit und Zucker deutscher Boden in alle Welt exportiert wird, mag man ihm zugute halten, so lange als wenigstens ebenso nützliche Produkte dafür eingetauscht werden. Die Entwicklung der Weltwirtschaft aufzuhalten konnte auch der Sinn der neuen Schutzzollära, die 1878 eröffnet wurde, nicht sein. Ihren Anfängen

34 Schutzzollära:

Ablösung der freihändlerischen Wirtschafts- und Handelspolitik durch

Bismarck, mit Zustimmung des Reichstags. Die politische Folge w a r der Bruch der Nationalliberalen mit Bismarck sowie der Zerfall der nationalliberalen Fraktion im Reichstag.

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lagen noch durchaus die Bedürfnisse der Industrien, besonders die der Eisen- und Stahlfabrikation zugrunde. Immer mehr ist aber gerade die Landwirtschaft zollbedürftig geworden, und mit dem Ausgange des Jahrhunderts stand die deutsche Handelspolitik wie die seiner Nachbarländer, im Zeichen eines Agrarschutzes, der zu einer gewaltigen allgemeinen Preissteigerung mitwirkt. Die überseeische Konkurrenz, bei Herabsetzung der Frachten, hatte in der Tat den Getreidebau unrentabel gemacht; die Grundrente, an der auch das städtische Kapital so stark beteiligt ist, konnte sich nicht mehr auf der Höhe halten, die ihr zu gebühren schien. Der Hochschutzzoll hat sie dann nicht nur zu erhalten, sondern noch bedeutend zu heben vermocht. In frischer Erinnerung ist uns die Agitation und Leistung des Bundes der Landwirte; seinem Ursprünge und vorwiegenden Zwecke nach ein ökonomischer Verein, hat er eine ungemeine politische Bedeutung erlangt, so daß ein bedeutender Publizist vor kurzem sich dahin aussprechen konnte, die konservative Partei in Preußen sei nur noch ein Anhängsel des berufenen Bundes. Jedenfalls ist es merkwürdig, wie die Erwerbstätigkeit oder noch praktischer ausgedrückt, das Geschäft, auch für den Adel in den Vordergrund seiner Interessen gerückt ist. Daß er seine ökonomische Position zu behaupten trachtet, ist sicherlich nichts spezifisch Seigneuriales, vielmehr hat der Gutsbesitzer auch in dieser Hinsicht lernen müssen, als Industrieller oder als Kaufmann sich zu betätigen; aber es vermischt sich, ebenso wie bei diesen, der edlere Anspruch auf angemessenes Entgelt für eine höhere Berufstätigkeit mit dem gemeineren Verlangen eines möglichst hohen Kapitalgewinnes oder (für den Grund und Boden als solchen) einer möglichst hohen Rente. Wie diese Ansprüche, so fließen im ehrenwerten Namen des Landwirts tätige und müßige, kundige und unkundige, schlichte und üppige Nutznießer der Früchte, die am Baum der Landwirtschaft wachsen, zusammen. Ansprüu Bundes der Landwirte: Die politische Organisation der deutschen Agrarier, die 1893 in Berlin gegründet wurde. Sie forderte hohe Schutzzölle sowie die Errichtung von Landwirtschaftskammern. 15 ein bedeutender Publizist: Wahrscheinlich ist Friedrich Naumann gemeint, der in seinem Buch „Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik" (1905: 99) schrieb: „Der Bund der Landwirte hat alle Anzeichen einer richtigen politischen Massengruppierung, und, wenn nicht alles täuscht, wird er im Laufe der Zeit die eigentliche Leitung der politischen Rechten in der Hand haben." Noch klarer drückt sich Naumann in „Die politischen Parteien" (1913: 73) aus: „So hat er [der Bund der Landwirte] sich neben oder hinter die konservative Partei gestellt und diese hat immer einmal sich wehren müssen, ihm nicht ganz dienstbar zu werden."

I l i

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che und Herrlichkeit des Adels aufrecht zu erhalten, erachten auch die Staatsregierungen im Deutschen Reiche noch für eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Die Motive zu einem preußischen Gesetzentwurfe (1903) über Fideikommisse führten aus, es komme darauf an, Familien zu erhalten, die dem Staate eine Gewähr dafür bieten, daß sich jederzeit Kräfte finden, die geeignet und bereit sind, die immer steigenden Anforderungen freiwilliger Beschäftigung auf politischem und sozialem Gebiet in staatserhaltendem Sinne zu erfüllen. Die Bindungen des Grundeigentums sollen den Glanz des Adels erhalten. Gleich dem wirklichen Fürsten will auch der Titularfürst, der Graf, Freiherr und der gewöhnliche Edelmann herrschen, herrschen aus eigenem, persönlichem, erblichem Rechte, herrschen in seinem Bereiche, über Land und Leute. Prinzipiell steht freilich der moderne bürgerliche Staat diesen Wünschen schroff gegenüber. Und doch findet eine gewisse Restitution des Feudalismus auf dem Wege der Gesetzgebung und der ministeriellen Praxis wie von selber statt, solange die Pairie irgendwie lebendig bleibt, und solange auch die Minister, besonders die des Innern, fast ausschließlich dem Adel oder ihm sehr ergebenen Kreisen entnommen werden. Sind es diese Momente, die dem großen Grundbesitz seine soziale Position verleihen? Oder ist es die größere Sinnfälligkeit des Reichtums, wenn er als ein „Gebiet" mit fürstlichem Schlosse sich darstellt? Oder ein Nimbus geheimnisvoller Art? die Ahnengalerie, auch wenn es anderer Leute Ahnen sind? — Gewiß hat man ebensoviel Grund stolz darauf zu sein (oder mehr), eine vornehme Familie zu begründen, als von ihr abzustammen. Daß das eine wie das andere staatserhaltende Gesinnungen garantiere, mag man gerne glauben; ob auch für staatsfördernde Charaktere eine Gewähr gegeben ist? die doch wohl wichtiger sind, wenn man mit dem Namen des Staates eine andere Vorstellung verbindet als die Vorstellung von Kammerherrenschlüsseln, schwarzen oder roten Adlerfiguren und dergleichen mehr. Jede Aristokratie wird immer auf scharfe Proben gestellt werden; Geburtsaristokratie und Bodenaristokratie sind in unserer Zeit bloße Erscheinungsformen der Plutokratie, die immer nur Dasein gewinnt, um die Aufgabe ihrer radikalen Überwindung zu stellen. Das Privateigentum an großen Massen von Produktionsmitteln, die ihrem Wesen nach Gemeingut der Nation sind, unterliegt in unserer Zeit tiefbegründeter Anfechtung; sofern es sich auf angehäuften Boden bezieht, ist es gerichtet, seit Plinius ver37 Plinius:

Zit. bei von der Goltz, 1904: 310. Die Stelle in: Plinius secundi: Naturalis

historiae, ed. C. Mayhoff, vol. III., Leipzig 1892, S. 18, 35.

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kündete, daß die Latifundien am Verderben Italiens schuld waren. Daß das Fideikommißwesen der Bildung von Latifundien dient, ist Tatsache; und daß große Gutsherrschaften zur Entvölkerung des platten Landes, zur Industrialisierung der Landwirtschaft, zur Proletarisierung des Volkes fortwährend gewirkt haben und noch wirken, ist eines der bestgesicherten Ergebnisse statistischer Forschung. Sofern daher der Bestand und das Vermögen des Adels durch Begünstigung der Majorate von Staatswegen gesichert wird, so tritt der Staat in offenen Widerspruch zu sich selber. Indem er seine Basis befestigen will, untergräbt er sie. Der Halbheit und Charakterschwäche unseres Zeitalters ist es zuzuschreiben, daß die Reichsgesetzgebung noch nicht gewagt hat, aus dem Grundsatze der rechtlichen Gleichheit aller Staatsbürger die Konsequenzen im bürgerlichen Rechte durch Verbot der Errichtung neuer Fideikommisse und zeitliche Begrenzung der vorhandenen zu ziehen. Dagegen ist für das moderne Preußen bezeichnend, daß erst seit 1850 mehr als die Hälfte des bestehenden Fideikommiß-Areals gebunden wurde; und daß noch in der kurzen Zeitspanne des gegenwärtigen Jahrhunderts dessen Gesamtfläche von etwa zwei Millionen auf beinahe zweieinhalb Millionen Hektar sich vermehrt hat. Vom Standpunkte des modernen Staates, wenn er in erster Linie sich selbst erhalten will, hätte es fast noch mehr Sinn, bestimmte fest dotierte Ämter wieder erblich zu machen — was gewiß unsinnig genug wäre — als die erbliche Verewigung irgendwelches privaten unverantwortlichen Reichtums zu befördern. Eine seltsame Täuschung, zu meinen, daß im gebundenen Grundbesitz ein Gegengewicht gegen den Kapitalismus liege. Vielmehr wird die Notwendigkeit und Schwierigkeit, die Familie auf der Höhe zu halten, die nicht erbenden Familienglieder standesgemäß zu versorgen, auch den vornehmsten Adel, je weniger er noch Herrscherrechte geltend machen kann, in die Bahnen der Spekulation, also des Kommerzialismus und Industrialismus hineintreiben; wie denn heute der Fürstentrust und ähnliche Erscheinungen sichtbarlich dartun.

4. Die politische Stellung des Adels ist etwas, was sich von selbst zu verstehen scheint. Der Adel ist konservativ, restaurativ, reaktionär. Er wurzelt in der Vergangenheit und in die Vergangenheit sind seine Blicke gerichtet. Er hat geherrscht und will sein Herrschertum erhalten, oder wieder-

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herstellen, sofern es zerstört ist, oder wenigstens ein Surrogat dafür sich verschaffen. Er findet es angefochten, bedroht, vermindert, durch alle neuen und jungen Mächte: durch den bürgerlichen Reichtum, das Kapital, durch die Beamten, die Staatsmänner, ja die Fürsten selber, die von der Raison d'Etat geleitet mit alten Vorrechten und Ansprüchen auf Mitregierung rücksichtslos aufräumen. Schlimmer als die Fürsten war aber doch eine demokratische Versammlung. Die Jakobiner kannten kein Ansehen der Person. Die Revolution setzte die verhaßte Uniformität und Gleichmacherei fort, ja steigerte ihre Greuel. Wenn sie in ökonomischer Hinsicht den Interessen des Adels nach mehreren Seiten hin entgegenkam, in politischer wirkte sie einfach vernichtend. Und die Ziele dieser Revolution wollte Hardenberg, selber ein Edelmann aus gutem Hause, dem preußischen Staate aneignen, demokratische Grundsätze durch eine monarchische Regierung verwirklichen! In der Tat, so geschah es durch die Edikte dieses neupreußischen Absolutismus: „dem Gutsherrn wurde sein Eigentum genommen", „den Bauern etwas geschenkt, was ihnen nicht gehörte", so klagte Herr von BülowCummerow (1814 und 1821, nach Knapp). Und in derselben Periode, die, wie jetzt alle Historiker sehen, den Grund zu Preußens Größe legte, jammerte der tapfere Junker Ludwig von der Marwitz über die Folgen der 1811 ins Werk gerichteten gänzlichen Emanzipation der niederen Stände, über die einfältige Gleichmacherei und das verdrießliche Schauspiel, daß Wucherer ihren Sitz zwischen Monarchen nehmen und mit ihnen über das verhandelten was man das Interesse der Staaten nannte. Ja die Mainzer Untersuchungskommission über demagogische Umtriebe berichtete 1821 an die deutschen Höfe, daß die bedeutendsten und allerdings gefährlichen Umtriebe in den mehresten Regierungen selbst, hauptsächlich in der preußischen, und namentlich im Bureau des Staatskanzlers gefunden würden; die Schriften, die von diesen Bureaus ausgegangen seien, könnten keine andere Wirkung hervorbringen, als das Volk aufzuregen und den geringen Klassen Ansprüche zu geben, die niemals sich würden befriedigen lassen. i« Bülow-Cummerow:

B ü l o w - C u m m e r o w : „Die V e r w a l t u n g des Fürsten

Hardenberg",

1821: 52 ff., zit. K n a p p , 1887: 298, 322. 24 Interesse

der Staaten

nannte:

„Von den Ursachen des Verfalls des Preußischen Staates",

1811, in ders. 1913: v. a. 93 f. 25 Mainzer

Untersuchungskommission:

Die Einsetzung einer „ C e n t r a i - U n t e r s u c h u n g s k o m -

mission" in M a i n z ging als Folge der Karlsbader Beschlüsse auf d a s 3. Bundesgesetz (Untersuchungsgesetz) v o m 20. Sept. 1819 z u r ü c k ; sie blieb bis 1828 tätig.

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So wollten denn auch die Konservativen jener Zeit keineswegs die unumschränkte königliche Gewalt und ihre Bureaukratie, die mit dem Zeitgeist so starke Fühlung hatte, konservieren. Sie selber wußten sich dem Zeitgeist in anderem Sinne verwandt. An der Forderung einer Verfassung nahmen sie lebhaften Anteil. In dieser Forderung vermischten sich reaktionäre und progressive, aristokratische und demokratische Ideen. „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden", hatte der dreizehnte Artikel der Bundesakte verkündet. Soll heißen, eine Repräsentation des Volkes meinten die Liberalen. Bedeutet offenbar: eine Wiederherstellung der Herren Stände, sagten die Junker, und ihre Deutung hatte in Preußen wenigstens den Erfolg, daß Provinzialstände beratenden Charakters geschaffen oder wiederhergestellt wurden. Der König hatte zwar noch im Jahre des Wiener Kongresses eine Repräsentation des Volkes zu bilden versprochen. In den süddeutschen Staaten kamen Verfassungen zustande, von denen man sagen dürfte, daß sie auf Kompromissen beruhten, wenn nicht auch im öffentlichen Bewußtsein die Begriffe von ständischen Eigenrechten und Volksvertretung ineinandergeflossen wären. Montesquieus Autorität und das von ihr empfohlene englische Vorbild wirkten dazu mit. Was konnte es Zweckmäßigeres geben, als eine solche Mischung der Staatsformen? Die Aristokraten konnten füglich damit einverstanden sein. Die natürliche Umgebung des Königs, die Stützen des Thrones, den sie wohl auch vor die Türe zu setzen in der Lage waren; mit etlichen Anhängseln das Oberhaus die Kammer der erblichen Gesetzgeber darstellend; durch ihren Einfluß als große Grundbesitzer die Ausschlag gebende Macht des Hauses der Gemeinen — in der Tat eine musterhafte Verfassung, dies britische Parlament vor allen Reformbills (deren jüngste von 1911 noch nicht die letzte sein wird!) Hatte nicht dies aristokratische England mit entscheidendem Erfolge die französische Revolution bekämpft? Hatte nicht der große Redner Burke die theoretische Grundlage der Restauration zuerst geschaffen? Hatte nicht der von den Legitimisten und den verbündeten Heeren zurückgeführte Bourbone selber sich dazu verstanden, durch die Charte eine Nachahmung der britischen Konstitution ins Leben zu rufen? 7 Verfassung stattfinden: Vgl. Art. 13 Bundesakte. 13 Der König hatte ... versprochen: Am 22. Mai 1815. 27 Reformbüls: Durch die Reformbill vom 18. Aug. 1911 verlor das House of Lords seine Funktion als Gesetzgebungsorgan. 32 Bourbone: Ludwig XVIII. 33 Charte: Charte constitutionnelle vom 4. Juni 1814, Verfassung gedacht als ein vom Monarchen gewährtes Zugeständnis an das Volk.

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war nicht die Pairie der Eckstein dieser Epoche machenden Urkunde? suchten nicht Ludwig und sein Nachfolger den erblichen Grundbesitz durch Förderung von Fideikommissen zu stützen? — Ja, man konnte hoffen, daß Europa die Vernunft, daß die Staaten die Stabilität wiedergewinnen würden — in diese Hoffnungen fiel die Juli-Revolution wie ein Hagelwetter ins Saatfeld; und nachdem man sich kaum davon erholt, nachdem der Geist der Restauration in der Gestalt Friedrich Wilhelms des Vierten den preußischen Thron bestiegen hatte, da wurde auch in Deutschland der Geist des Umsturzes, den die Karlsbader Beschlüsse so mühsam unterdrückt hatten, wieder lebendig. Sogar die Provinziallandtage machten sich durch Unruhen und Petitionen bemerklich. Der Vereinigte Landtag wurde das Vorspiel der Revolution. Der Völkerfrühling schien dem Adel, wie der Monarchie gleich gefährlich zu werden. In der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. kam es am 1. August 1848 zu einer Debatte über die Abschaffung des Adels. Art. II § 6 lautete in der Fassung des Ausschusses: „Alle Deutschen sind gleich vor dem Gesetze. Standesprivilegien finden nicht statt". Dazu waren mehrere Minoritäts-Gutachten beantragt. Das erste (von Wigard, Blum, Simon, Schüler) sprach den Satz aus: „Alle Standesprivilegien, sowie der Adel selbst, sind aufgehoben". Moritz Mohl, der dafür eintrat, fand das Wesentliche des Adels darin, daß er eine erbliche Kaste mit einer erblichen Auszeichnung sei, die, was immer durch Gesetze vorgeschrieben sein möge, höhere Ansprüche in gesellschaftlicher und infolgedessen in staatlicher Hinsicht gebe; darin liege das verletzende Unrecht, daß er dem Anspruch der Menschheit: jeder soll nur nach seinem Verdienste Geltung haben, geradezu zuwiderlaufe. „Sie werden, meine Herren, wenn Sie den Adel nicht aufheben, auch niemals die Bemühungen der staatlichen Reaktion aufheben; denn Sie werden die Kamarillen an den Höfen nicht aufheben" — „Erst dann, meine Herren, wenn der Adel, wie in Frankreich, Nordamerika, der Schweiz, Norwegen, aufgehoben ist ... erst dann, wenn es nur noch ein Volk, keine zwei verschiedenen Rassen mehr gibt, erst dann werden Sie die Freiheit wahrhaft und fest gegründet haben." Und Kierulff-Rostock wies daraufhin, daß noch nach s Friedrich Wilhelms des Vierten: König von Preußen 1840 — 1861. 12 Vereinigte Landtag: 1847 von Friedrich Wilhelm IV. einberufene Versammlung aller Abgeordneter der preußischen Provinzial-Landtage. Er besaß das Recht auf Steuerbewilligung, aber nicht auf Periodizität. Am 6. März 1848 wurde er aufgehoben. 20 „... sind aufgehoben": Vgl. Stenographischer Bericht, 1848: 1291. 33 „... fest gegründet haben": Vgl. Stenographischer Bericht, 1848: 1296.

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vielen Strafgesetzbüchern der Adel zur Strafe in den Bürgerstand degradiert werden könne; solange es eine Standesehre gebe, müsse es freilich auch eine Aufhebung dieser geben. „Die gegenwärtige demokratische Bewegung ist nicht gerichtet gegen das ursprünglich wahre und reine Wesen des Adels, sondern gegen das Zerrbild dessen, das ist: das Junkertum. Dieses tritt überall hervor, wo die inneren und äußeren Bedingungen der wahren Natur des Adels hinwegfallen" „Der jetzige Adel macht seine Güter zum Gegenstand des Handels und Schachers, wie jeder Spekulant." Auch die Poeten der Paulskirche ergriffen das Wort. Ernst Moritz Arndt, der die Vielseitigkeit, Vielerleiheit, Mannigfaltigkeit, Vielsinnigkeit Deutschlands pries, meinte, „wenn man dem Adel das nehme, wodurch er als eine Last auf dem Volke gelegen habe und zum Teil noch liege, so sollte man ihm seine Ahnen, Wappen, Bilder und Zeichen lassen, die künftig unter den hundert und tausend kleinen Fähnchen und Wimpeln unter der großen Reichsadlerfahne mitflattern können." Dagegen stimmt Moritz Hartmann für gänzliche Abschaffung des Adels mit allen seinen Vorrechten und Titeln: er müsse aus seiner Ausnahmestellung heraus zurückgehen in den heiligen Schoß des Volkes. Starke Sensation erregte es, als Fürst Lichnowsky, derselbe, der sieben Wochen später ein schreckliches und die Revolution befleckendes Ende fand, erklärte: „Ihre Maßregeln werden unwirksam sein, der Adel wird Adel bleiben"; die Titel möge man wegnehmen, die Namen könne man nicht nehmen, und durch die Namen selbst gebildet werde ein Adel bleiben. Tieferen Eindruck aber machte es ohne Zweifel, als sich J a k o b Grimm erhob und die gewichtigen Worte sprach: „Auch mir leuchtet ein, daß der Adel als bevorrechteter Stand aufhören müsse, denn so hat schon der Zeitgeist seit ein paar Generationen geurteilt, so hat er im stillen geurteilt, jetzt darf er ein lautes Zeugnis dafür abgeben. Der Adel ist eine Blume, die ihren Geruch verloren hat, vielleicht auch ihre Farbe." Er wollte den Adel der Vergangenheit nicht schwarz malen, er wies darauf hin, wie er in vielen Lichtpunkten, besonders in der Literatur des Mittelalters geglänzt habe. Aber es sei ein großer Wandel eingetreten. „Die Buchdruckerei ging gerade so der Freiheit im Glauben voraus, wie heutzutage die Erfindung des Dampfes der Freiheit der Völker vorausgegangen ist. Beide sind Vorboten einer Freiheit, die nichts aufhalten konnte." Es sei 9 „... wie jeder Spekulant": Vgl. Stenographischer Bericht, 1848: 1298. 15 „ . . . mitflattern können": Vgl. Stenographischer Bericht, 1848: 1300f. 18 Schoß des Volkes: Vgl. Stenographischer Bericht, 1848: 1304.

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ein Raub am Bürgertum gewesen, als man Goethe und Schiller ein „von" an ihren Namen klebte; man habe sie dadurch um kein Haar größer gemacht. Was sei es denn mit diesem Wörtchen „von", das in den letzten Jahrhunderten manchem den Kopf verrückt habe. „Es ist nichts als eine Präposition, das heißt in der Grammatik ein Wort, das einen Casus regiert", „Immer ist es mir erschienen, daß, was in der Sprache albern und sinnlos scheint, es auch im Leben ist." Das Wörtchen fordre doch immer einen Herrn des Gutes, worauf es sich beziehe. Unsinnig klinge es: ein Herr von Goethe, Herr von Schiller, Herr von Müller „denn Müller, Goethe und Schiller sind niemals Orte gewesen." Er sprach, obwohl er aufrichtig dem Königtum zugetan sei, auch gegen Orden und besonders gegen deren Verleihung an Zivilpersonen. Er hege die Überzeugung, daß unsere Fürsten bald die Selbstverleugnung haben werden, allem byzantinischen oder chinesischen Schmuck zu entsagen, zur Einfachheit unseres Altertums zurückzukehren ... Wenn keine Erhebung in den Adel noch aus einem niederen in den höheren Adel mehr erlaubt sei (worauf er antrug), dann werde der Adel nach und nach selbst erlöschen, ohne daß die Erinnerungen an ihn aufhören, „denn dadurch, daß ein schlechter Briefadel zum alten Adel hinzutrat, hat sich der Adel länger erhalten und zugleich entartet." Die Abschaffung des Adels wurde am folgenden Tage mit 282 gegen 167 Stimmen abgelehnt. Jakob Grimms Antrag, über den nicht namentlich abgestimmt wurde, fand zwar so vielen Beifall, daß ein Mitglied des Bureaus zweifelhaft war, ob es die Minderzahl sei, die sich erhob; aber die Gegenprobe entschied für Ablehnung. Ebenso fiel der Antrag des berühmten Sprachforschers über Orden für den Zivilstand. Ein einziger Minoritäts-Antrag wurde, und zwar mit stürmischem Bravo und Händeklatschen, angenommen. Er war auch im Hinblick auf den Adel — denn der hohe Adel ist längst wieder eximiert worden — bedeutungsvoll genug: „Das Waffenrecht und die Wehrpflicht ist für alle gleich. Stellvertretung bei letzterer findet nicht statt." So endete diese denkwürdige Verhandlung über Abschaffung des Adels! Die preußische Nationalversammlung hat einige Wochen später diese Abschaffung wirklich beschlossen. Der Mittelstand, meinte ein Redner, habe längst alle schönen und großen Tugenden, die einst den Adel auszeichneten, in sich aufgenommen; das Wissen der Geistlichkeit und das Besitztum des Adels 20 „ . . . und zugleich 26 Minoritäts-Antrag:

entartet":

Vgl. Stenographischer Bericht, 1848: 1 3 1 0 f .

Von Scheller, Franz J a k o b "Wigard u. a. eingereicht, vgl. Stenogra-

phischer Bericht, 1848: 1328.

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sei zugleich mit seinen Waffen, alle Erbschaft von den Toten, auf den dritten, den allgemeinen Stand übergegangen. „Darum, meine Herren, kann fernerhin eine Scheidung des Volkes nach Ständen nicht mehr platzgreifen. Alle Pulse des Jahrhunderts

schlagen nach

rechtlicher

Gleichheit aller." Der so sprach, war der jüngere Reichensperger. Z u m Schlüsse gab er seine Überzeugung kund, wenn jedes Vorrecht des Adelstandes beseitigt sei, so würden die Titel höchstens als Schatten eines Schattens übrig bleiben; es sei aber die Aufgabe nicht, mit Schatten zu kämpfen. Zu den Vorrechten aber gehörte für den späteren Zentrumsführer, der schon als Agrarpolitiker sich betätigt hatte, das ganze System des Feudal-Nexus, das gesamte Majorats- und Fideikommiswesen. In der Tat erklärte noch die Verfassung von 1850 die Fideikommisse für abgeschafft. Erst zwei Jahre später stellte ein besonderes Gesetz sie wieder her. In diesem Jahrzehnt (1851 — 60) erhob sich der preußische Adel zu seiner politischen Blütezeit. Er hatte das Herrenhaus, er hatte die Landratskammer, er hatte das Ministerium Manteuffel und einen König, der (nach Ranke) vielleicht mehr Gemüt hatte, als der Staat ertragen kann, aber nicht zu viel für den Adel, der als Kamarilla sich um ihn scharte. Sein Prestige in Preußen, und vermöge der preußischen Hegemonie im neuen Reiche, hat seitdem nur kurze Unterbrechungen und keine erhebliche Erschütterung erlitten. Das Emporkommen und der Cäsarismus Bismarcks, wie sehr er sich an ihm ärgerte und ihn unablässig bekämpfte, war auch ein Triumph des Adels; die Siege des preußischen Heeres und der ihm verbündeten Heere waren auch seine Siege. Der militärische Geist griff tiefer in die bürgerlichen Kreise, was zunächst nur bewirken konnte, daß der Adel in seinen Ansprüchen auf militärische Führerschaft gestärkt wurde und dadurch auch politisch neue Kräfte gewann. Nachdem die Episode der liberalen Gesetzgebung und des Kulturkampfes überwunden, als Furcht vor der Arbeiter-Rebellion das höhere Bürgertum den antirevolutionären Prinzipien geneigt machte; als nationale Gesinnung in H a ß und Abstoßung des Judentums sich zu bewähren meinte, als zu gleicher Zeit in der Handelspolitik das agrarische Interesse neben 5 Reichensperger:

Vgl. Verhandlungen, 1849: 262 (89. Sitzung vom 30. Oktober 1848).

13 Fideikommisse für abgeschafft: Vgl. Art. 40 der Preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. 14 stellte ein besonderes Gesetz sie wieder her: Gesetz vom 5. Juni 1852 (Gesetzessammlung für die Königlich preußischen Staaten. 1852 [Nr. 3574], S. 319). 16 Ministerium Manteuffel: Der Minister Manteuffel war 1850—1858 im Amt. 1« sich um ihn scharte: Friedrich Wilhelm IV. — Vgl. Ranke, 1877: VII, 776.

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dem der schweren Industrie maßgebend wurde — da blühte von neuem der Weizen für den Adel, und mehr als dreißig Jahre lang hat er, getragen von einer wirtschaftlichen Entwicklung, die seinen Ideen und Intentionen entgegen war, sich nicht nur behauptet, sondern die gewaltigsten Fortschritte gemacht; in folgerichtiger Entwicklung bis zu dem Regierungsexperiment, das Rudolf von Bennigsen 1890 als für Preußen und Deutschland lebensgefährlich bezeichnet hat; Bennigsen, ein adliger Politiker, der sich selber für liberal hielt und seine Staatsweisheit dadurch bewährte, daß er ebendiese von ihm verabscheute Kombination fördern half. Der Nationalliberalismus wollte vor allem die nationale Einheit begründen und hat in der Tat dazu mitgewirkt; aber den nationalen Wind konnten auch die im Grunde partikularistischen Parteien für ihre Segel brauchen und haben ihn weidlich ausgenutzt. Der katholische Adel als Führer der Zentrumspartei, protestantischer alter und junger Adel in den konservativen Parteien beherrschen heute das Reich, auf das sie alle in lauten oder verstohlenen Tönen nach dem Ausdrucke des Fürsten Hohenlohe „gepfiffen" haben. Nicht als ob sie es beseitigen wollten; aber die Preußen möchten es nach dem Bilde Preußens — als Großpreußen — die Ultramontanen etwa nach dem Interesse Bayerns — als einen Staatenbund — umschaffen. Weder das eine noch das andere wird gelingen. Diese Machinationen bereiten eine Krise vor, die der Kirche wie dem Adel rascher verhängnisvoll werden kann, als die allgemeine Entwicklung sonst verlangen würde: ein Prozeß freilich, der sich ziemlich regelmäßig wiederholt und schon oft Anregung gab, Göttern zur Last zu legen, daß sie die Sinne der Menschen blenden, um sie zu verderben. Es sind im deutschen Adel, altem und jungem, vorzügliche Begabungen gerade für politisches Wirken anzutreffen. Diese werden sich um so sicherer und fruchtbarer entfalten, je mehr sie die spezifischen Ansprüche einer Geburts- und Grundaristokratie von sich abtun, und sich auf den Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung, das heißt ihrer historisch und sittlich notwendigen Ausgestaltung mit klarem wissenschaftlichen Bewußtsein hinstellen. Aber: „Gesinnungen und Empfindun6 Bennigsen:

In O n c k e n , 1910: 548 (Brief an den P a r t e i f r e u n d J o h a n n e s von M i q u e l v o m

18. Feb. 1890). M i t d e m „ R e g i e r u n g s e x p e r i m e n t " meinte von Bennigsen eine Koalition von Liberalen u n d Konservativen. 17 „gepfiffen":

Vgl. H o h e n l o h e , 1906: II, 534: „Wie ich von 1866 bis 1870 f ü r die Vereini-

g u n g von Süd und N o r d gewirkt h a b e , so m u ß ich hier [als Reichskanzler — A. M . ] d a n a c h streben, P r e u ß e n beim Reich zu erhalten. D e n n alle diese H e r r e n pfeifen auf d a s Reich u n d w ü r d e n es lieber heute als m o r g e n a u f g e b e n . " .

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gen, welche auf Erziehung und Gewohnheit gestützt, die Quelle des moralischen Seins und Lebens durchdrungen haben, widerstehen auch den hellsten Erscheinungen der Zeit. Was die Menschen nicht glauben mögen, das begreifen sie auch nicht, wenn sie es gleich sehen und fühlen. Ihre Beharrlichkeit bei Vorurteilen, die sie Grundsätze nennen, ist unüberwindlich. So blieb auch der Adel unverändert in seinen Gesinnungen, Ansprüchen und Erwartungen; ja, die meisten verhärteten sich sogar in ihrem ohnmächtigen Wollen." Der so im Jahre 1807 über den deutschen Adel nach Auflösung des deutschen Reiches schrieb, August Wilhelm Rehberg, war ein konservativer Schriftsteller und lebhafter Gegner der französischen Revolution. Man erwartete damals nicht, daß hundert Jahre später noch vom Adel in öffentlich-rechtlichem Sinne die Rede sein würde. In der Tat ist dies eine Anomalie, für die es charakteristisch ist, daß man von „Erhebung in" den Adelstand nicht mehr in öffentlichen Kundgaben zu reden wagt, obgleich die Verleihung des Adels ohne allen Zweifel so gemeint ist. Niemand — es sei denn hier und da ein hirnverbrannter Krippenreiter — wagt mehr, die Konsequenz zu ziehen, daß Zurückversetzung in den Bürgerstand als Strafe verhängt werden solle. Auch pflegt sich heute das politische Herrschaftsstreben des Adels, selbst wo er noch so mächtig ist, wie in Preußen, hinter populäreren Programmen zu verstecken. Bald gilt es die Krone zu verteidigen, und die Opposition gegen hohe Regierungen wird als republikanisch denunziert. Aber reaktionäre Opposition ist erlaubt, ja wird verherrlicht; hat doch sogar Bismarck oft davor gewarnt, konservativ und gouvernemental zu verwechseln. Bald wird das Unternehmertum in Schutz genommen gegen den Sozialismus und der verlumpte Streikbrecher liebevoll ans Herz gedrückt. Aber dem Kapitalismus ist der befestigte Grundbesitz gram, er wird als jüdisch und international verabscheut; und dem Arbeitswilligen möchte der Junker die Freizügigkeit beschränken oder ihn als kontraktbrüchigen Landarbeiter zwangsweise zurückexpedieren lassen; was die Gewerkschaften sich wohl gefallen lassen könnten. Auch der nationale Gedanke hätte im Adel — wenn man dessen Zeitungen und Fürsprechern glauben wollte — seinen stärksten Hort. Und doch hat der Adel diese Gedanken bekämpft, gehemmt, verspottet und geschmäht, — so lange bis der Wechsel des Windes ihn zwang, wenigstens 10 August Wilhelm Rehberg: Vgl. Rehberg, 1831: 264. 25 konservativ und gouvernemental zu verwechseln: Siehe Bismarcks „Ansprache an den Vorstand des Kieler Conservativen Vereins vom 14. April 1891" (Bismarck, 1905: 29).

282

Schriften

scheinbar einen anderen Kurs zu nehmen. Vom „Ostelbier" gilt das vorzugsweise; und in Wahrheit hat dieser endlich sich auf sich selbst besonnen, wenn er in einem Verbände der echt preußischen Leute das alte Preußen gegen das neue auf gleichem Wahlrecht basierte Reich zu retten unternimmt. Zu dieser Formel darf man gratulieren. Sie hat den Vorzug der Wahrhaftigkeit und wird auch von den nicht-altpreußischen Deutschen verstanden werden. Denn es ist die Lebensfrage für das neue Reich, ob und wiefern es das alte Preußen, von dem es bis jetzt beherrscht wurde, sich unterzuordnen und zu assimilieren imstande sein wird.

5. Die Rückströmung der Gedanken, nach der gewaltigen Flut der Aufklärung und des Naturrechts, hatte in Deutschland viel früher begonnen, als die politische Restauration der Wiener Schlußakte und der heiligen Alliance. Sie hatte aber auch einen andern Charakter. Die Romantik, in ihrer früheren Phase, sympathisierte stark mit der Französischen Revolution. Elemente, die über den Liberalismus hinaus wollen, kommunistisch-volkstümliche, wenn man sie so nennen mag, überragen noch über diejenigen, die ins Mittelalter und den Glanz des Rittertums zurückstrebten und sich sehnten. Rousseauischer Einfluß, Rousseauische Stimmungen waren in Denkern, wie Herder, Schiller, Fichte lebendig, wenn sie die satte Nüchternheit der Papierkultur anklagten, oder wenn gar der Philosoph im gegenwärtigen Zeitalter den Stand der vollendeten Sündhaftigkeit zu erkennen meinte. Aber für lange Zeit erwies sich in der unklaren Mischung von Gedanken und Gefühlen die Selbsterhaltung der geistigen Macht, die von den Oberflächen zurückgedrängt, in Staat und Volk sich immer behauptet hatte, als der begünstigte und vordrängende Faktor. Mit der Politik der Restauration verband sich die Restauration der Politik und in verwandtem Geiste die historische Rechtsschule; bezeichnend genug, daß deren Haupt, Friedrich Karl von Savigny, geborener Katholik war, während K. L. von Haller, infolge seiner Denkungsart, den Weg zurück zur alleinseligmachenden Kirche gefunden hat. Auch

14 Wiener

Schlußakte

v o m 9. Juni 1 8 1 5 , die die Bestimmungen über die Schaffung des

„Deutschen Bundes" enthielt, der unter der Führung Österreichs die Aufrechterhaltung des monarchischen Prinzips in den deutschen Ländern anstrebte.

Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert

283

Hallers begabtester Jünger Jarcke, der seine Lehren ins Preußische übertrug (als Gründer des „Politischen Wochenblatts"), war schon in jungen Jahren katholisch geworden. Aber was sollten diese Bekehrten für die Pretensionen eines lutherischen oder unionistischen Adels? Seltsamerweise war es auch ein Konvertit, aber durchaus nicht aus dem katholischen Lager, der die richtige und gute Theorie der spezifisch preußischen Staatserhaltung fand. Dem Israeliten Stahl war es vorbehalten, die orthodoxe Lehre, daß Gottes Persönlichkeit und des Menschen Sündenfall der Staats- und Rechtslehre zu Grunde gelegt werden müsse, in protestantischem Geiste wiederherzustellen. Ihm sind die „Stände" Folge des zeitlichen Zustandes und müssen dauern, solange er dauert; das Institut des Adels wird durch die drei Einrichtungen: Größe des Grundbesitzes, Unveräußerlichkeit, Grundherrlichkeit mit der ihr gebührenden Gewalt „in notwendiger Ergänzung" gebildet. „Der Stand der Grundherrn bildet also das organische Band der Nation zwischen Vaterland und Staat, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, er ist Grundlage und Träger für ihr geistiges, wie der Boden für ihr physisches Dasein." Was ein konservativer und christlich-protestantischer Nationalökonom (Wilhelm Roscher) von Haller sagt: „so gefährlich eine direkte Anwendung seiner Lehre auf die Gegenwart sein würde, die ihr längst entwachsen ist, so hat er doch, ohne es selbst zu merken, einen unschätzbaren Schlüssel zum lebendigeren Verständnisse des Mittelalters dargeboten", das gilt mit der kleinen Abänderung auch von Stahl, daß dieser als Protestant wenigstens den gereinigten Glauben der Neuzeit gutschreiben muß; und wenn er den Katholiken zugab, daß die Reformation die Ursache des Rationalismus und der Revolution sei, so half er sich mit der pfiffigen Wendung, „denn das Licht allein ist die Ursache des Schattens" — der letzte Kampf bereite sich vor, nachdem in der Reformation die höchste Steigerung des religiösen, im Rationalismus die des antireligiösen Prinzips sich herausgebildet habe. Nach Stahl hat die Adelspartei kaum einen

i Jarcke: Karl Ernst Jarcke wurde 1832 Metternichs Pressechef und 1839 Mitbegründer der „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland", il solange er dauert: Vgl. Stahl, 1833: II, 308. 14 „in notwendiger Ergänzung": Vgl. Stahl, 1833: II, 336. 17 „... ihr physisches Dasein": Vgl. Stahl, 1833: II, 339. 22 „... des Mittelalters

dargeboten":

Vgl. Roscher, 1901: 7f.

26 der Revolution sei: Vgl. Stahl, 1853: 1, auch 44f. 27 „... die Ursache des Schattens": Vgl. Stahl, 1853: 66: „Der Schatten ist nur möglich durch das Licht.".

284

Schriften

nennenswerten Theoretiker wieder hervorgebracht; auch liegt ihren heutigen Führern die Philosophie noch ferner als ehemals, und mehr als je meinen sie, an dem morschen Pfahl der protestantischen Orthodoxie oder wenigstens an dem dünnen Stabe einer „positiven" Theologie für den Glauben an gottgewollte Abhängigkeiten die genügende Stütze zu finden, die sie dem Volke gnädig erhalten wollen. Lange haben ernste und tüchtige Männer gearbeitet, der konservativen Denkungsart einen neuen und stärkeren Inhalt zu geben. Geboten und gegeben schien es zu sein, nachdem der Sozialismus sein Haupt erhoben hatte, der die liberale Gedankenwelt von innen heraus zu zersetzen schien. Alle geistvollen Anhänger des konservativen Geistes während der zwei letzten Menschenalter haben ihm die Aufgabe gestellt, sozialpolitisch zu wirken, das Streben der industriellen Arbeiterklasse nach Gleichberechtigung, nach Hebung ihrer Lage, „Gewinnung eines größeren und proportional steigenden Anteils am Nationalprodukt", nach genossenschaftlicher Organisation kräftig zu unterstützen. Freilich: fast alle diese wohlmeinenden Christlich-Sozialen und Staatssozialisten waren und sind nicht Angehörige des Adels, einige, wie Victor Aimé Huber, waren dessen entschiedene Gegner und haben ihm bittere Wahrheiten gesagt (ebenso neuerdings Adolf Wagner). Wenn Rodbertus im Jahre 1871 (in einem Briefe) schrieb, der Hauptgrund der Abneigung, sich mit der sozialen Frage ernsthaft zu befassen, liege wohl nicht in den Persönlichkeiten, die man dazu verwenden müßte (er spielt auf die Antisemitenwut des Adels an), sondern daran, daß man einstweilen noch immer mehr an Unterdrückung als an „Lösung" glaube — so gilt dies auch heute noch, nach vierzig reichen Jahren. Es war immer der eigentümliche Charakter derer, die eine überlieferte Macht hatten, wenig zu lernen und nichts zu vergessen. Immerhin wird als Kampf- und Machtmittel auch das soziale „Empfinden" gern benutzt; und es gibt wirklich auch Herren vom Adel, in denen es echt und energisch ist. Die meisten aber scheinen noch zu glauben, daß die industriestaatliche Entwicklung, ebenso wie die Arbeiterfrage in ihrem Gefolge, auf korrigierbaren Irrtümern, ungläubiger Weltanschauung oder gar auf semitischer Bosheit, mindestens aber auf mephistopheli-

i 19 20 20

wieder hervorgebracht: Vgl. Stahl, 1833: II, 344. bittere Wahrheiten gesagt: Vgl. Huber, 1894: 345 ff. Adolf Wagner: Vgl. Wagner, 1902: 36, 46. Rodbertus: Rodbertus in einem Brief vom 20. Nov. 1871 an Rudolph Meyer; in ders., 1880: I, 130.

Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert

285

scher „Vernunft und Wissenschaft" wesentlich beruhe, daß also diese, wie schon Stahl verlangte, und mit ihr die ganze Entwicklung „umkehren" müsse. Inzwischen hat sich aber Leib und Seele des Adels in dieser „argen Welt" wohl gepflegt und behaglich gebettet. Das aristokratische Bewußtsein treibt, ungeachtet aller demokratischen Einrichtungen, üppige Blüten. Es ist freilich nicht mehr rein adlig, geschweige altadlig, sondern — freikonservativ; aber die kapitalkräftigen Elemente von links und von rechts gravitieren automobilisch dahin. Vom naturwissenschaftlichen Denken her hat dies aristokratische Bewußtsein starken Sukkurs erhalten; denn offenkundigerweise hat die Abstammungslehre, so sehr sie den Gefühlen und dem Glaubensbekenntnis des Adels widerstrebt, seiner Ideologie doch ein neues Obergewand verliehen, indem sie die Rassen-Vorstellungen

stärkte. Im gleichen Sinne wirkte der

Genius

Nietzsches, der das Große und Starke, das Lebensmächtige preisend, auch den Dünkel der Brutalen und der Schwachsinnigen zu nähren angetan war. Und doch führen diese Gedanken in eine Richtung, die unter Umständen als heilsam begrüßt werden darf. Wenn auserlesene alte und junge, adlige oder unadlige Familien ihren Stolz darein setzen und das Ideal pflegen, leiblich und seelisch tüchtige Menschen (es müssen nicht gerade hervorragende Talente oder gar Genies sein) hervorzubringen; wenn sie ihre Lebensweise und ihre Eheschließungen in diesem Sinne (eugenisch) einrichten; wenn sie den Mut beweisen, konventionellem und geschmackwidrigem Luxus zu entsagen, überhaupt die sozialen Vorurteile und den Mammonismus praktisch zu überwinden — so wird sich wie von selbst ein neuer Adel, das heißt eine Elite veredelten Stammes entwickeln, die zur Führung und Leitung der Nation wahrhaft berufen ist, so lange sie sich vor Entartung zu bewahren weiß. Tatsächlich sind im hohen wie im niederen Adel schwere Formen erblicher Mißbildung allzu häufig; und je stärker sie in die Erscheinung treten, desto grotesker wirken die Ansprüche derer, denen, mit Heinrich von Treitschke zu reden, die Stallkarriere anständiger scheint als ein wissenschaftlicher Beruf; um so bewunderungswürdiger die Langmut eines Volkes, das sich die Anmaßungen und politischen Vorrechte von Leuten gefallen läßt, die sich zuweilen durch nichts weiter auszeichnen, als durch abnorme Gehirne, ausschweifende Lebensweise und durch erbliche Belastung mit Fürsten- oder Grafentiteln, von geringeren zu schweigen. Daß solche Titel Eindruck machen, zumal auf weibliche Seelen (die auch unter den 32 wissenschaftlicher

Beruf: Vgl. Treitschke, 1865: 633.

286

Schriften

Männern so zahlreich sind) ist nicht zu verwundern und läßt sich nicht ändern. Der Zauber des Märchens umhüllt diese Gestalten, wie die Vorstellungen kindlichen Glaubens. Der Schimmer der Romantik wird oft für identisch gehalten mit dem Poetischen und dem Schönen schlechthin. Der Adel gehört wie seine Burgruinen und wie die gotischen Rathäuser und D o m e unserer Städte, zu dem, was das alte Europa interessanter und gemütvoller macht, als die nüchterne kahle Welt der Kolonien, zumal als das geistlos prunkende Amerika. Und doch kann der Adel so wenig, wie etwa der Papst, unsere Zivilisation vor der ferneren Amerikanisierung, unsere Gesellschaft vor der Zerrüttung bewahren und retten. Was sich dagegen tun läßt, muß aus den Tiefen des Volkslebens hervorgehen, und dem Volke kann dazu weder Adel noch Klerus helfen, wohl aber die Aristokratie des Geistes und der ethischen Gesinnung, die hin und wieder auch aus beiden alten Herrscherständen wertvolle Elemente empfangen mag. Daß es dem deutschen Adel an solchen Elementen nicht fehlt, lehrt uns die Geschichte vom Reichsfreiherrn zum Stein bis zum Grafen Zeppelin in herrlichen Beispielen. Die erlesene Schicht ist aber auch reich an minderwertigen Elementen — fast jeder Skandalprozeß erinnert daran — und diese sind es zumeist, die für veraltete Adelsansichten und Adelsansprüche am dreistesten eintreten und ihre noblen Passionen zum Ausgangspunkte politischer Aktionen machen.

Soziologie und

i Soziologie

und Universitätsstudien:

Universitätsstudien

Zuerst in: Das neue Leben. Blätter für Bildung und

Kultur (Picht, C. + Hahne, F. [Hg.] 1912, Jg. 1, Heft 1/2

(15. Oktober), S. 1 4 - 2 7 ,

Köln (Oster + Joisten). Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung. Jena (Fischer) 1926, S. 1 7 2 - 1 8 2 (vgl. T G 17).

Der Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche Die Verhandlungen über den Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche sind in jüngster Zeit lebhaft gewesen. Die große Studie von Karl Oldenberg (Archiv für Sozialwissenschaft) bezieht sich freilich nicht auf das Deutsche Reich allein, aber die Tendenz ihrer Beweisführung ist doch vorzugsweise auf deutsche Verhältnisse gerichtet. Sie hat zu einer Kontroverse mit einem anderen trefflichen Kenner der Bevölkerungsentwicklung, Paul Mombert, geführt, die nicht unfruchtbar gewesen ist. Indessen ließen doch die Argumente beider lebhaft empfinden, wie schwach es noch mit einer streng methodischen Untersuchung solcher Fragen bestellt ist. Trotz des großen Fleißes, womit beide Verfasser (Mombert schon früher und außer ihnen unter anderen Brentano) des Problems sich bemächtigt haben, lassen sie doch die eigentliche, ins einzelne vertiefte Untersuchung schwer vermissen; es überwiegt das allgemeine Raisonnement, das wie fast immer von gewissen Neigungen und Affekten parteilicher Gesinnung sich nicht durchaus freizuhalten vermag. Allerdings stellen Untersuchungen dieser Art ungemein große Anforderungen an die Arbeit eines einzelnen; und bei der geringen Achtung und Pflege, deren — zumal in Preußen — die soziale Statistik, zu schweigen von der Soziologie, sich erfreut, ist es nicht zu verwundern, wenn es an Kräften und besonders auch an den Geldmitteln fehlt, um so schwierige und umfangreiche Forschungen zu Ende zu bringen, ja nur zu beginnen. Bei diesem Stande der Dinge darf denn freilich der Statistiker und Soziologe einem schadenfrohen Gelächter sich hingeben, wenn er erlebt, daß ein hohes Ministerium die Polizeibehörden instruiert, die Ursachen

i Der und 4 Karl 8 Paul

Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche: Zuerst in: Soziale Praxis (ab 19. Jg.: Archiv für Volkswohlfahrt) 1912, 22. Jg. (24. 10. 1912), S. 1 0 0 - 1 0 2 . Jena (Fischer). Oldenberg: Vgl. Oldenberg, 1911: 3 1 9 - 3 7 7 , 4 0 1 - 4 9 9 . Mombert: Vgl. Zur Kontroverse Paul Mombert: „Ueber den Rückgang der Gebur-

ten- und Sterbeziffern in Deutschland", in: Archiv für Socialwissenschaft und Socialpolitik, XXXIV, 1912a, 7 9 4 - 8 6 2 ; Karl Oldenberg: „Entgegnung", ebd., 8 6 3 - 8 7 3 ; Paul Mombert: „Duplik", 1912b, 8 7 4 - 8 7 8 . 12 Brentano: V. a. „Die Malthussche Lehre und die Bevölkerungsbewegung der letzten Dezennien". Abhandlungen der historischen Klasse der K. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, XXIV, III. Abtl., 1909.

Der Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche

289

eines so bedeutsamen Phänomens, wie die Verminderung der ehelichen Fruchtbarkeit es ist, zu ermitteln. Die Polizeinase muß die Stelle der Wissenschaft vertreten. Im klassischen Altertume wandte man sich in solchen Fällen an die Pythia zu Delphi, was vielleicht eine ebenso gute Methode war. Hier können nur einige Andeutungen gegeben werden, wie etwa solche Untersuchungen anzustellen wären und welche Gesichtspunkte wenigstens bei Erwägung des Problems nicht übersehen werden sollten. Vor allem scheint mir der Gesichtspunkt nicht hinlänglich im Vordergrund zu stehen, daß die Geburten in erster Linie durch die Eheschließungen bedingt sind. Es sind die jungen Ehen, die den regelmäßigsten und sichersten Beitrag zur Vermehrung liefern. Das letzte Jahrzehnt ist nun für die Entwicklung der Eheschließungen außerordentlich ungünstig gewesen. Es ist ein Zufall, der durch den von mir behaupteten (wenngleich noch nicht hinlänglich erwiesenen) achtjährigen Zyklus bedingt ist, daß in das Jahrzehnt zweimal eine Handelskrise gefallen ist, so daß im ganzen nicht weniger als sechs J a h r e sich als Jahre der Depression kennzeichnen, nämlich die Jahre 1901 bis 1903 und 1908 bis 1910. In den absoluten Zahlen der Eheschließungen im Deutschen Reich tritt dies dadurch zutage, daß während des Jahrzehntes viermal die Zahlen abnehmen und daß auch die Jahre der Erholung, wie man sie nennen mag, nur geringe Zunahmen aufweisen. Von 1881 bis 1900 sind solche Verminderungen der absoluten Zahl nur zweimal vorgekommen, nämlich 1887 und 1892, und beide Male waren sie sehr gering: 1887 4,4 aufs Tausend, 1892 nur 1,5, während die Abnahme 1901 gegen 1900 17,1 a. T., 1902 gegen 1901 23,7 betragen hat; sodann 1908 6,2, aber 1909 12,9, und 1910 ist nur eine schwache Erholung um 4,6 a. T. gefolgt. In den Relativziffern, die bekanntlich immer um 8 auf 1000 Einwohner schwanken, tritt dies auch insofern zutage, als sie nur viermal sich über dies Mittel erheben und ebenso oft darunter sinken.

Dabei muß aber des Umstandes gedacht werden, daß eine nicht geringe Verschiebung der Altersklassen während der letzten Jahrzehnte stattgefunden hat, und zwar in der Richtung, daß der Anteil der nichtheiratsreifen Altersklassen sich erheblich vermindert hat. Dies trat zum Teil schon 1900 im Vergleich mit den früheren Zählungen zutage; die jüngste Zählung wird es aber sicherlich stärker hervortreten lassen. So4 Pythia zu Delphi: 16 Handelskrise: 35 Zählung:

Prophetische Priesterin des Apollon.

Die Krisen 1 9 0 0 / 0 1 und 1 9 0 7 / 0 8 .

Bezieht sich auf die Volkszählung im Reich vom 1. Dez. 1910 (vgl. Vierteljah-

reshefte z. Statistik d. Deutschen Reichs, hgg. v. Kaiserlichen Statistischen Amt, 20. Jg., 1911, IV, 1 4 7 - 5 7 , 21. Jg., 1912, II, 2 1 4 - 1 5 , III, 1 0 6 - 1 4 ) .

290

Schriften

lange diese nicht veröffentlicht ist, müssen wir freilich verzichten, die ohnehin schon ungünstige Entwicklung der Eheschließungen noch durch die Messung an der heiratsfähigen Volksmenge schärfer zu beleuchten. Es sei nur darauf hingewiesen, daß die Quote der Verheirateten innerhalb der in Frage kommenden Altersklassen sich kaum verändert haben kann, daß aber die zunehmenden Scheidungen fortwährend eine größer werdende Anzahl heiratsfähiger und zumeist heiratslustiger Personen freisetzen. Die ganze Heiratsmasse kommt aber noch in mehreren anderen Beziehungen für die Fortpflanzung des Volkes in Betracht. Für dies Jahrzehnt sind wir zum ersten Male in der Lage, dank der amtlichen Veröffentlichungen, die innere Beschaffenheit dieser Masse innerhalb des ganzen Reiches kennen zu lernen und zu erforschen. Da kommen vor allem die beteiligten Altersklassen in Betracht. Sie werden seit 1901 im einzelnen dargestellt: bis zum 40. Jahre einschließlich werden die Zahlen für jedes einzelne Lebensjahr der Frau wie des Mannes und die Kombinationen tabellarisch dargestellt; für die späteren Lebensalter jedoch nur fünfjährige Altersklassen, zuletzt sogar nur summarisch 60 und darüber. An diesen Tabellen lassen sich viele interessante und wichtige Beobachtungen machen. Hier müssen wir uns genügen lassen, nur einige die Altersgruppen betreffende mitzuteilen, die durch eigene Rechnungen gewonnen sind. Es standen unter je 1000 heiratenden Männern im Alter von: Jahren

1901

1902

1903

1904

1905

1906

1907

1908

1909

1910

unter 2 5

301

296

292

286

286

287

293

296

299

300

25-30

427

431

437

440

439

434

427

421

414

414

zusammen

728

727

729

726

725

721

720

717

713

714

Es ist hieraus ersichtlich, daß gerade der Anteil derjenigen Altersklasse (25/30) unter den Männern, die am stärksten zur Gesamtheit der Heiratskandidaten beiträgt, deren Alter man wohl als das normale Heiratsalter der Männer unter unseren sozialen Verhältnissen bezeichnen kann, seit 1904 sich erheblich vermindert hat und zwar stetig, bis er im letzten Jahr gleichgeblieben ist. Zum Teil wird dieser Gang der Entwicklung aufgehoben durch den Anteil der jüngeren Männer, der in demselben Zeiträume stetig gewachsen ist. Werden aber diese Altersgruppen zusammengefaßt, also der Anteil der unter 30jährigen betrachtet, so ist doch auch dieser seit 1903 fortwährend geringer geworden; nur daß im letzten Jahre sich eine kleine Hebung zeigt.

291

Der Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche

Wichtiger indessen für den Familienweg (um den hübschen englischen Ausdruck zu gebrauchen) ist die Altersverteilung der heiratenden Frauen (aufs Tausend): Alter

1901

1902

1903

1904

1905

1906

1907

1908

1909

1910

unter 2 0

80,9

80,8

80,0

83,2

84,0

86,2

87,5

87,2

87,4

86,6

20-25

483

483

480

476

476

483

488

491

494

496

25-30

278

284

285

285

282

274

268

262

260

261

30-35

80,7

78,8

79,8

81,5

83,4

83,2

84,2

83,7

82,4

81,0

Es erhellt hieraus, daß der Anteil der jüngsten Frauen nicht wenig gestiegen ist und daß auch diese Entwicklung mit dem Jahre 1904 einsetzt. Damit geht aber parallel eine gleichzeitige Verminderung des Anteils der Altersklasse 25 bis 30, einer Schicht, die zwar nicht die gleiche Wichtigkeit hat wie beim männlichen Geschlecht, aber doch auch für die Fruchtbarkeit der Ehen noch überwiegende Bedeutung hat. Die Abnahme dieses letzten Anteils ist stärker als die Zunahme der jüngeren Altersklassen. Wenn die Gesamtheit der unter-30jährigen zusammengefaßt wird, die bei dem weiblichen Geschlechte immer um mehr als 100 stärker ist, so ergibt sich die Reihe: 842, 848, 845, 844, 842, 843, 843, 840, 841, 843. Wird aus je zwei dieser Ziffern das Mittel genommen, so tritt die Abnahme deutlich hervor. Die Reihe lautet nämlich dann: 845,0, 844,5, 842,5, 841,5, 842,0. Auch hier zeigt das letzte Jahr eine kleine Erholung. Sonst aber ist in entsprechender Weise der Anteil der über 30jährigen Frauen fortwährend gestiegen: nämlich, um hier nur die Mittel je zweier Jahre wiederum anzuführen: von 155,0 auf 155,5 auf 157,5 auf 158,5 und nur zuletzt die kleine Verringerung auf 158,0. Man darf also wohl behaupten, daß auch, was die Verteilung der Altersgruppen betrifft, die Entwicklung der Eheschließungen in diesem Jahrzehnt der Bevölkerung nicht günstig gewesen ist. Zwar ist die relative Vermehrung der jüngsten Frauen unter 25 Jahren ein günstiges Moment, aber es wird mehr als aufgewogen durch die Minderung der 25 bis 30jährigen und die Mehrung der über 30jährigen.

292

Schriften

Es könnten noch B e o b a c h t u n g e n hinzugefügt werden über die K o m b i n a t i o n e n der J a h r gänge — die mehr oder minder große Sympathie der Altersklassen und sogar der einzelnen J a h r e für einander; in dieser Hinsicht sind aber die Veränderungen, die sich bis jetzt b e o b achten lassen, sehr gering, diese Verhältnisse sind insgemein stabil. Nur das Eine m ö g e hier angeführt werden, daß von den über-30jährigen Frauen im Mittel der ersten zwei J a h r e des Jahrzehntes noch 2 8 , 7 3 v. H . unter-30jährige M ä n n e r heirateten, im Mittel der zwei letzten J a h r e nur noch 2 5 , 4 5 v. H . W i r wissen freilich nicht, ob die Ehen solcher Frauen mit jüngeren M ä n n e r n durchschnittlich fruchtbarer sind als diejenigen mit älteren; es hat aber doch wohl die Vermutung für sich.

Die steigende Teilnahme älterer Männer an den Eheschließungen ist um so merkwürdiger, da die Witwerehen fortwährend im Verhältnis zur Gesamtheit der Ehen weniger werden. Während unter den heiratenden Männern im Deutschen Reiche 1901 und 1902 noch 93 aufs Tausend Witwer waren, war dies Verhältnis 1909 und 1910 auf 88 a. T. gesunken. Freilich nimmt das Verhältnis der geschiedenen Männer noch erheblich stärker zu; aber sie machen von der Gesamtheit noch einen viel kleineren Bruchteil aus und gehören im größeren Verhältnisse jüngeren Jahrgängen an. O b im Durchschnitte bei gleichen Alterskombinationen die Ehen verwitweter Personen fruchtbarer sind als diejenigen lediger oder umgekehrt, wissen wir wiederum nicht. Noch eine Eigentümlichkeit in der Entwicklung der Eheschließungen möge hervorgehoben werden. Die konfessionellen Mischehen nehmen sehr viel stärker zu als die konfessionell „reinen" Ehen. So sind 1 9 0 1 — 10 die rein evangelischen Ehen von 2 7 7 4 8 0 auf 2 9 3 6 4 6 gewachsen, d. h. um 6 v. H . ; die rein katholischen von 145 141 auf 148 8 0 7 also nur um 2'A v. H . ; die rein jüdischen sind sogar völlig stabil geblieben ( 1 9 0 1 : 3 8 7 0 , 1 9 1 0 : 3 8 8 0 ) . Hingegen sind die evangelisch-katholischen von 18 4 1 8 auf 2 1 9 9 7 gewachsen, d. h. um fast 2 0 v. H . , die katholisch-evangelischen von 2 0 6 9 7 auf 2 3 6 4 5 , d. i. um mehr als 1 4 v. H . N o c h viel stärker vermehren sich die K o m b i n a t i o n e n , an denen israelitische und „ a n d e r e " christliche oder unchristliche Bekenntnisse beteiligt sind; aber ihre Z a h l ist noch zu gering, um für die Bevölkerungsfrage Bedeutung zu haben.

Es wird im allgemeinen als feststehend angenommen, daß die konfessionellen Mischehen minder fruchtbar sind als die konfessionell „reinen" Ehen. Wenn diese Annahme richtig ist (und es scheint kein hinreichender Grund, daran zu zweifeln, wenngleich auch diese Sache nicht hinlänglich untersucht worden ist), so ist wohl gewiß, daß an dieser minderen Fruchtbarkeit die Verschiedenheit der Konfession als solche wenig schuld ist. Die wahre Ursache wird in der hinter der religiösen Verschiedenheit liegenden Differenz der Rassen liegen; dafür spricht auch, daß, wie es scheint, die jüdisch-christlichen Ehen im Durchschnitte besonders geringe Fruchtbarkeit aufweisen, obgleich es unter ihnen auch rassengleiche gibt. Wenn aber die Sache richtig ist, dann hat man starken Grund

Der Rückgang der Geburten im Deutschen Reiche

293

zu vermuten, daß sie nur der erkennbar werdende Ausdruck einer viel allgemeineren Erscheinung ist. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß bei der heutigen Durcheinanderwürfelung aller Volksstämme zumal in den Städten — bei uns namentlich Vermischung von germanischen und slavischen — Rassenmischehen sehr viel häufiger sind und noch viel stärker zunehmen als durch die Aufzeichnung der konfessionellen Zugehörigkeit offenbar werden kann. Es ist in der Tat wahrscheinlich, daß diese Ursache einen nicht geringen Anteil, wenn auch keinen entscheidenden, an der Abnahme der ehelichen Fruchtbarkeit hat. 1

1

Eine fernere Untersuchung des Verfassers, die sich der Mitteilung an dieser Stelle entzieht, bezieht sich auf Bd. 223 der Statistik des Deutschen Reichs, worin die relativen Eheschließungs- und Geburtenziffern der Jahre 1894/96 mit denen von 1904/06 in den kleineren Verwaltungsbezirken zusammengestellt worden sind. Ich habe in 14 Gruppen je 20 preußische Kreise, hauptsächlich des Ostens, mit einander verglichen und die relativen Abnahmen (oder Zunahmen) jener Ziffern mit anderen Daten, die sich auf dieselben Kreise beziehen. Von den Ergebnissen sei nur das eine hervorgehoben, daß in acht von diesen Gruppen ein positives Verhältnis der Abnahme der Geburten zum Anteile, den in jedem Kreise die Betriebe von 100 ha und darüber an der landwirtschaftlich bebauten Fläche haben, sich zeigt.

10 Untersuchung des Verfassers: Die „fernere Untersuchung" ist Tönnies' „Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung" [1914], s. u., S. 419—478. n Bd. 223: „Bewegung der Bevölkerung im Jahre 1907", Statistik des Deutschen Reichs, Band 223. Bearb. im Kaiserlichen Statistischen Amte, Berlin 1909.

Die Zukunft der sozialen Frage

1 Die Zukunft

der sozialen

Frage: Zuerst in: Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonats-

schrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens (Saenger, C. [Begründer]), 1912, 12. Jg., 1. Dezemberheft, S. 6 3 4 - 6 3 6 . Frankfurt (Neuer Frankfurter Verlag). Diese Publikation veröffentlichte Tönnies mit der Fußnote: ,„Die Entwicklung der sozialen Frage'. (Sammlung Göschen) S. 150. Die folgenden Sätze kommen in der demnächst erscheinenden 2. Auflage des Büchleins neu hinzu." — Die 2. Auflage des Buches erschien 1913, Leipzig (1. Auflage 1907); vgl. T G 8. Eine unveränderte Neuauflage der vierten, verbesserten Auflage von 1926 verlegte der Verlag de Gruyter 1989.

Nemesis So wenig wir mit den Balkanvölkern sympathisieren mögen, so läßt sich doch nicht leugnen, daß in der Vertreibung der Türken aus Europa eine Art von Nemesis sich erfüllen wird. Als Eroberer sind sie eingedrungen, 5 ihr Joch haben sie den Slawen aufgelegt, dem heiligen römischen Reich wurden sie durch Jahrhunderte zur Plage und Gefahr. Endlich scheint sich nun ihr Los zu erfüllen. Uralte Unbill wird endlich vergolten. Der Glaube, daß das Unrecht keinen Bestand habe, daß die Gerechtigkeit schließlich triumphiere, wird oft in Verbindung mit religiösem Glau10 ben angetroffen, wohnt aber auch unabhängig von diesem in der Seele des Volkes. Die Schuld muß gelöst, der Frevel muß vergolten werden, das gestörte Gleichgewicht sich wiederherstellen. Der Glaube ist auch Forderung — Forderung der Vernunft und eines in ihr beruhenden Gefühls, des Rechtsgefühls und des Sinnes für Gerechtigkeit. Und so stellt i5 sich das Recht allen Tatsachen trotzig entgegen, auch denen, die sich selber mit dem Scheine und der Kraft des Rechtes umgeben. Freilich, es gibt verjährendes Unrecht. Verjähren ist vergessen werden. „Gras ist darüber gewachsen" — die Toten schweigen stille. Sei im Besitze und du bist im Recht. Die Klage ist ebenso alt wie der Glaube an 20 die Heiligkeit des Rechts, daß allzu oft das Unrecht siege, und daß die Menschen vor dem Erfolge, ob er verdient sei oder an Niedertracht sich knüpfe, auf den Knieen liegen. Ja, was schlimmer ist als dies: was in einem höheren und moralischen Sinne Recht ist, kann von den Gerichten mit Recht für Unrecht erklärt werden; und umgekehrt: offenbares und 25 unzweifelhaftes sittliches Unrecht hat das formale Recht auf seiner Seite und wird durch den Buchstaben des Gesetzes unanfechtbar gemacht. Wie oft wird im Namen des Gesetzes schwer Unrecht getan! Eine neue Rechtsschule möchte den Richter von den Banden befreien, die ihm das Gesetz auflegt; sie verlangt, daß der Richter nach seiner i Nemesis:

Zuerst in: März. Eine Wochenschrift 1913, 7. Jg., 1. Bd. (18. 1. 1913),

S. 94—97, München (März-Verlag). „Nemesis" war in der griech. Mythologie die Göttin der rächenden Vergeltung, der ausgleichenden Gerechtigkeit. 28 neue Rechtsschule:

Es handelt sich dabei um die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich

formierende „Freirechtsbewegung". Ihre Programmschrift ist Oskar von Bülows Arbeit „Gesetz und Richteramt" (1885). Danach hat auch das richterliche Urteil eine rechtsschöpferische Bedeutung.

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Schriften

freien Überzeugung von dem, was im höheren Sinne Rechtens sei, Recht sprechen solle. Innerhalb gewisser Grenzen ist ihm das immer möglich — zumal dem Richter höchster Instanz — durch die freie Auslegung des Gesetzes, aber er bleibt in seinem Gewissen gebunden durch die Pflicht, die Meinung des Gesetzgebers zu ermitteln und sich nach dieser zu richten. Auch würde die Lösung von dieser Pflicht neues Unheil bringen: die Befürworter der freien Justiz wollen die sittliche Gerechtigkeit durch sie fördern — der wirkliche Erfolg würde eher eine Entfesselung der Klassenjustiz sein.

Der Gedanke der Nemesis hat sich in unserem Bewußtsein anders gestaltet, als ihn die Griechen gedacht haben. Für sie war Nemesis jenes ursprüngliche Recht, das sich auf die ältesten und heiligsten Beziehungen zwischen Menschen stützt und ihnen, wenn auch durch Rache und neue Schuld, zu ihrer Geltung verhilft. Für uns ist Nemesis, was weder durch Richterspruch noch durch vollzogene Strafen, was überhaupt in der Regel ohne Bewußtsein seiner Träger, in den großen Wendungen des Geschickes sich vollzieht — der erhabenen Notwendigkeit des Ausgleiches gemäß, die im Menschenleben wie in der Natur, wenn auch in jenem schwerer erkennbar, ewig waltet. Der Notwendigkeit ist es gleichgültig, ob sie als Gerechtigkeit und Vergeltung von den Menschen erkannt und verehrt werde; aber sie läßt auch nicht mit sich handeln und kennt keine Verjährung. — Der Übermut der Großen und Mächtigen, die Rechtsbeugung, die Schikane, die sich nicht scheut, im Namen einer erlogenen Gesetzlichkeit den Armen um sein letztes Stück Brot zu betrügen, die Dreistigkeit und Anmaßung, womit bezahlte Diener des Unrechts in friedliches und rechtschaffenes Leben hineingreifen — sie sind es, die die Nemesis herausfordern und ein „Strafgericht des Himmels" auf ihre Häupter beschwören. Man hat es erlebt, und die Geschichte ist nicht arm an Exempelen, daß solche Unbill, zumal im staatlichen Leben, auf furchtbare, menschlich-übermenschliche Weise „sich gerächt" hat. Man steht dann vor dem großen gewaltigen Schicksal, das die Menschen erhebt, indem es sie zermalmt ... man sieht es auch, wenn man es ahnend voraus erblickt; man sieht es, stumm, und doch möchte man reden — reden, um zu warnen, um das Unheil zu verhüten. Aber wenn man redet, so weiß man, daß man nicht gehört wird; eher wird man verlacht, noch lieber verklagt und verdammt — „gekreuzigt und verbrannt" ...

Nemesis

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Wenn auch heute diese Ausdrücke nur allegorisch gelten, so ist doch das sachliche Verhältnis das gleiche. Einem Könige von Preußen wurde von einem Bürger zugerufen, es sei das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen. Wie so oft geschieht, schob dieser Ausspruch auf das Wollen, was vielmehr am Können liegt. Es gibt viele Wahrheiten, die so wenig durch den Dunst und Qualm der Höfe, durch die Wolken der Ministerien und Kamarillen hindurchzudringen vermögen, wie die Sonnenstrahlen durch den Novembernebel. Und fürwahr: es sind nicht nur die Monarchen, die oft durch viele Künste in einem Zustande erhalten werden, den man milde als einen Zustand mangelnder Aufklärung bezeichnen mag. Mehr oder weniger sind alle herrschenden Personen, ist insbesondere die im sozialen Leben führende Klasse in der gleichen Lage. Wichtige und wesentliche Wahrheiten wollen sie nicht, können sie nicht erkennen. Eine tiefere Einsicht in die sozialen Probleme, d. h. vor allem in die Psychologie des Volkes, wird man auch von den tüchtigsten, etwa gar human gerichteten Unternehmern und Fabrikdirektoren nicht erwarten dürfen. Eher könnte man verlangen, daß wenigstens die auserlesenen Personen dieser Klasse, die in den Regierungen ihre Plätze — oft wie kraft eines Erbrechtes — einnehmen, eine philosophische allgemeine, aber auch eine soziologische besondere Bildung besäßen, die sie über die groben Vorurteile, die gehässigen Meinungen und die konventionellen Heuchelpflichten hinaushöbe, wie sie in der guten Gesellschaft aus guten Gründen sorgsam gepflegt und gewahrt, ja sozusagen heilig gesprochen werden. Und es gibt wirklich einzelne Persönlichkeiten dieses Geistes, dieser Art innerhalb der maßgebenden Kreise. Sie fühlen sich einsam und gehemmt in ihrer Umgebung. Sie wirken zuweilen Großes und Edles trotz dieser Hemmungen. Und sie wissen am besten, wie es im allgemeinen unter ihren Gefährten aussieht, was diese Art der Bildung, der Einsicht und des guten Willens betrifft. Sie sehen auch wohl die Nemesis, die wie der Geist im Hamlet, von wenigen gesehen, über die Bühne schreitet. „Die französische Revolution," sagt Tocqueville, „wird denen immer dunkel und unbegreiflich sein, die nur sie allein erblicken wollen; man 2 Könige von Preußen: Das Wort stammt von Johann Jacoby, einem Vertreter der Linken sowohl der preußischen als auch der Frankfurter Nationalversammlung. Adressat war König Friedrich Wilhelm IV., als eine Deputation, der Jacoby angehörte, im Nov. 1848 den Regenten dazu bewegen wollte, ein liberales Ministerium zu ernennen, der König aber schroff ablehnte. 32 sagt Tocqueville: Vgl. Tocqueville, 1856: 320 f.

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muß in den Zeiten, die ihr vorangingen, das winzige Licht suchen, das sie beleuchten kann. Ohne eine klare deutliche Einsicht in die alte Gesellschaft, in deren Gesetze, Gebrechen, Vorurteile, in deren Glanz und Elend, wird man nie das verstehen, was die Franzosen .. seit Auflösung jener alten Gesellschaft vollbracht haben . . . " Aber aus der Geschichte kann man bekanntlich vor allem lernen, daß die Menschen immer wenig oder nichts aus ihr gelernt haben.

5

Individuum und Welt in der Neuzeit 1 Der Unterschied der Neuzeit von dem ihr vorausgehenden Zeitalter, das wir gewohnt sind, als Mittelalter zu bezeichnen, muß unter einem zwiefachen Gesichtspunkte betrachtet werden. Die Neuzeit ist Fortsetzung des Mittelalters: Zunahme und Verdichtung der Bevölkerung, besonders der Städte, hohe Entwicklung des Handels, der die Erdteile verbindet, Aufkommen der großen Industrie, gewaltiger Fortschritt der Wissenschaft, und im Zusammenhange damit der Technik; Vermehrung und Verfeinerung der Bedürfnisse, der Lebensweisen, der Sitten — weitere Entfernung von der Roheit, Armut und Einfalt ursprünglichen Volkslebens — alles das, was wir als Kulturfortschritt kennen und so oft gepriesen finden. Denn diese Betrachtung tritt uns in vielen Gestalten täglich entgegen. Aber die Neuzeit ist außerdem, und in dem, etwas ganz anderes im Verhältnis zum Mittelalter. Sie enthält und bedeutet eine Umkehr, eine Umwälzung und Erneuerung, ein neues Prinzip, wodurch der Unterschied zum Gegensatz wird. Die Neuzeit ist die Revolution — nicht nur im politischen, sondern in jedem Sinne. Die Neuzeit im hier verstandenen Sinne ist nicht ein bloßer Name für die letzten 4 Jahrhunderte des europäischen Lebens. Sie ist ein Begriff, dessen Wesen und Attribute mitten im Mittelalter anheben sich zu entfalten. Wie das Mittelalter in der Neuzeit lebendig geblieben ist, so ist die Neuzeit schon im Mittelalter lebendig geworden. Dieser Prozeß läßt sich nur im Lichte soziologischer Begriffe richtig verstehen. Die Umkehrung besteht darin, daß eine entgegengesetzte Bewegung anhebt und allmählich vorherrschend wird, eine Bewegung, die doch aus der ersten und Hauptbewegung, der sie sich entgegenrichtet, abgeleitet und erklärt werden muß, weil und sofern sie daraus entspringt. 1

Vortrag,

gehalten a m 10. Dez. 1912 im Königl. Institut f ü r Seeverkehr u n d Weltwirt-

s c h a f t an der Universität

l Individuum

Kiel.

und Welt in der Neuzeit:

Z u e r s t in: Weltwirtschaftliches Archiv. Z e i t s c h r i f t

f ü r Allgemeine u n d Spezielle Weltwirtschaftslehre 1913, Bd. 3, S. 37—66, J e n a (Fischer). Vgl. d a z u den Editorischen Bericht, S. 685 — 688.

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Die erste und Hauptbewegung ist die Tendenz zur Besonderung, zur Differenzierung und Individualisierung, die notwendig aus der Anpassung des Ursprünglichen, Gleichen und Allgemeinen an verschiedene Lebensbedingungen sich ergibt. Dies Allgemeine ist zunächst 1. die Einheit eines Volkes, das sich gliedert in Stämme und Sippen, die durch Blutsverwandtschaft und (wirkliche oder fingierte) Abstammung von gemeinsamen Vorfahren sich verbunden wissen. Das Volk vermehrt sich, es wandert, vermischt sich mit anderen Völkern, verdrängt andere, erobert Land, siedelt sich an und verwächst in mannigfachen Gegenden mit seinen Wohnsitzen; eben dadurch wird es verschieden, je nach den Einflüssen des Klimas und der Beschaffenheit des Bodens; anders im Süden, anders im Norden, anders im Gebirge, anders in der Ebene, anders an den Ufern der Ströme als an den Küsten des Meeres. Auch Nutzung und Anbau des Bodens, und alle andere Tätigkeit unterscheidet sich in entsprechender Weise; dadurch wird auch, schon in Urzeiten, ein Austausch verschiedener Produkte bedingt, selbst in weite Fernen; der Handel findet von jeher ein ausgedehntes — wenn auch lange beengtes — Feld für seine Tätigkeit. Politische und religiöse Motive und Einrichtungen verbinden sich mit ihm in der Wirkung, die Zusammenhänge und das Gemeinsame eines Volkes zu erhalten. Aber weit überwiegend ist doch die Tendenz des Selbständigwerdens, des Eigenlebens der einzelnen Landschaften und einzelnen Orte, das, wie sehr auch das allgemeine Leben immer neu auf sie einfließt, fortwährend strebt sich abzuschließen, abzugrenzen, sich selber zu genügen und in sich selber zu beharren. Dies vollendet sich um so mehr, je mehr solche Orte und Landschaften abgelegen sind, und je ärmer der Boden, je weniger Reizungen er also dem Eroberer und dem Händler bietet; auch fruchtbarer Boden, der dichtere Besiedlung gestattet, kann sich beiden verschließen, natürlich und künstlich: natürlich, sofern er schwer zugänglich ist und zerstreutes Wohnen begünstigt; künstlich, indem er sich wehrt gegen die Fremden, wozu ihm dann gerade der relative Wohlstand helfen kann. Im ganzen entwickelt sich unter diesen Bedingungen Vermehrung und Vermannigfachung, Verfeinerung der Bedürfnisse langsam, aber durch Wachsen der Volksmenge, Verbesserung der Wege und Verkehrsmittel, Fortschritte der Arbeitsteilung stetig. Der Stetigkeit wirken Kriege und Volkskrankheiten entgegen, die aber in gewissen Richtungen auch die Entwicklungen fördern. — Das Allgemeine ist aber 2. die fortwirkende, wenn auch nur in Resten erhaltene, Kultur der Vergangenheit; für unser Mittelalter die römische, in der die

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tiefere griechische sich fortsetzt; die in ihrer letzten Phase eine orientalische, auf Universalität Anspruch machende Propaganda-Religion in sich aufgenommen hat. Bewahrt und vertreten werden daher diese Kulturgüter zunächst durch die Priester der römischen Kirche, die als Hüter einer großen und für heilig gehaltenen Überlieferung fortwährend ein gemeinsames Wollen, gemeinen Geist repräsentieren, also als Lehrer und Meister junger Barbarenvölker ihre Autorität entfalten. Auch diese Allgemeinheit differenziert sich in den territorialen und lokalen Entwicklungen; aber langsam und nur zum kleineren Teile. Schließlich wirken gerade jene antiken Kultur-Elemente mächtig mit, die Mauern der Kirche zu sprengen, und alsbald vermannigfacht und besondert sich auch das religiöse „Bekenntnis", um in engen Gebieten als Bekenntnis von „Landeskirchen" oder versprengten Gemeinden zu erstarren. Aber das Allgemeine der christlichen Religion, und besonders der römischen Kirche, so sehr es im Mittelalter seine Wurzeln hat, begegnet sich auf mehreren Punkten mit der neuen Allgemeinheit, so sehr auch diese ihrem Geiste feindlich ist; der internationale Charakter des Kirchentums fördert den internationalen Charakter des Kapitalismus. Die lokalen Differenzierungen erreichen ihren Höhepunkt in der Bildung freier mächtiger, reicher und selbstbewußter Städte-, auf diesen Höhepunkten beginnen sie in ihr Gegenteil sich zu wenden. Denn die Bewegung vollendet sich nie. Die oberen, herrschenden Schichten nehmen keinen vollen Anteil daran. Sie behalten Fühlung miteinander, sie verharren im allgemeinen, stellen es in sich selber dar, schon weil sie an Gedächtnis überlegen sind und die Urkunden bewahren. Aber es fehlt auch die entgegengesetzte Bewegung niemals gänzlich. Keine Landschaft, kein Ort ist schlechthin von allem Verkehr abgeschnitten; sie haben Nachbarn und unterhalten Beziehungen mit diesen; es wird gefreit, Feste werden gefeiert, Geschenke ausgetauscht, Waren gekauft und verkauft; dazu kommen feindselige Berührungen, die wiederum in feindliche übergehen können, öfter solche zur Folge haben. Aus der Ferne kommen Priester, kommen Richter, Händler und andere Reisende; manche Einheimische reisen selber in die Ferne, am ehesten die vornehmen; sie kehren zurück und lehren Fremdes kennen oft bewundern; sie ahmen es nach und werden selber von Freunden, Nachbarn, Untergebenen nachgeahmt. — So findet Ausgleich, Nivellement statt, wenn es auch lange dauert, bis die wesentliche und überwiegende Tendenz der Differenzierung endlich aufgehoben wird.

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Am stärksten wirkt dahin das Interesse der Individuen, die als isolierte sich begegnen, und sofern das Interesse gleichartig ist, sich verbinden; und zwar möglicherweise ohne alle Rücksicht auf die Verbände, denen sie schon durch Abstammung oder Beruf angehören mögen, wesentlich frei in Wahl der Mittel für ihre Zwecke. Die entgegengesetzte Bewegung ist also eine Rückkehr zum Allgemeinen oder doch ein Streben in diese Richtung. Aber das neue Allgemeine, wenn es auch in der Erscheinung vielfach mit dem alten sich berührt, ist seinem Wesen nach von anderer Art. Es geht aus von den Individuen und ist wesentlich ihr Gedanke, ihre Idee. Es ist ideeller Natur, während das alte Allgemeine von realer Beschaffenheit ist, insofern es als solches in den Gefühlen und Gedanken der Menschen sich kundgibt. Diese reale Beschaffenheit ist zuerst und vor allem der blutsverwandtschaftliche Zusammenhang, der im Bewußtsein eines Volkes, näher und stärker eines Stammes oder noch mehr einer Geschlechtsgenossenschaft — einer Sippe — lebendig ist und sich erhält. Sie ist demnächst der gemeinsam bewohnte und besessene Boden — sei er nun der Meinung nach von Urzeiten her die Heimat, oder mit Gewalt erobert und besiedelt. Hieran knüpfen sich, ebenso wie an den Familiengeist, die Vorstellungen von gemeinsamem Besitz, gemeinsamen Rechten, die in der Dorfgemeinde, trotz des darüber gewälzten Hofrechts und Feudalismus sich erhalten. Zum dritten aber realisiert sich das Allgemeine und Gemeinsame in den als wirklich gedachten Gottheiten und ihren Wohnstätten, denen das gläubige Volk seine Verehrung widmet. Alle diese Allgemeinheiten differenzieren sich, lokalisieren sich und gewinnen dadurch an Intensität; der einzelne Mensch, zumal jedermann aus dem Volke, der nicht den Herrscherständen angehört, fühlt und weiß sich um so mehr durch die ihn umgebenden und bedingenden Ordnungen, Sitten, religiösen Vorschriften gebunden, je spezieller sie sind, je mehr sie ihm täglich und stündlich nahe gebracht werden, mit den Gewohnheiten seines Lebens, seiner Arbeit verknüpft sind. In dieser Beziehung wirkt die Arbeitsteilung, wie die Ständescheidung, wie der häusliche Herd, an dem der einzelne seine eigentliche, die wärmste Heimstätte findet. In und aus diesen Verbindungen, mehr aber noch neben ihnen her, entwickelt sich nun das „Individuum" in dem besonderen Sinne, durch den es zum soziologischen Begriff geworden ist; das Individuum und der „Individualismus". Vom Individualismus pflegt freilich nur so geredet zu werden, als handele es sich dabei um eine Ansicht, eine Gedankenrich-

Individuum und Welt in der Neuzeit

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tung, eine Idee oder ein Ideal; sei es nun, daß man diese für richtig und gut oder für falsch und verwerflich halte. Neuerdings pflegt man den Individualismus am häufigsten als einen Irrtum zu behandeln, der durch heutige tiefere Einsichten berichtigt worden sei; der manches Gute gefördert habe, z. B. die Verallgemeinerung der persönlichen Freiheit, aber auch üble Folgen seien ihm zuzuschreiben, z. B. die Vorherrschaft des Kapitalismus u. dgl. m. Das intellektualistische Vorurteil, als ob das Denken die primäre Funktion des menschlichen Geistes sei, prägt sich in solchen Urteilen aus; ein Vorurteil, das mit dem Adelsstolz der Menschen und seiner theologischen Verklärung innig zusammenhängt. Auch bei den Begriffen, die zum Individualismus in Gegensatz gebracht werden, nämlich Sozialismus und Kommunismus, werden zuerst die „Systeme" vorgestellt: Gebilde der Phantasie und der Konstruktion, und man gelangt dann etwa zu dem merkwürdigen Vorschlag, solche Systeme, wenn sie aus dem Sozialprinzip hergeleitet seien, als „Sozialismus", die andere Gruppe, welche im Individualprinzip wurzele, die Verwirklichung des „Boeheur commun" aller Individuen zu ihrer zentralen Idee habe, als „Kommunismus" zu bezeichnen 2 . Im lebhaftesten Gegensatze zu dieser Betrachtungsweise habe ich 1887 in einer Schrift, die jenen Theoretikern nicht einmal dem Titel nach bekannt zu sein scheint, den Kommunismus und den Sozialismus „empirische Kulturformen" genannt; d. h. ich behandele sie nicht in erster Linie als Gedankensysteme, sondern als Systeme des Lebens; als Wirklichkeiten, die im menschlichen Wesen-Willen beruhen, der das Denken als sein Organ in sich einschließt, oder aber im Denken allein in einer wesentlich durch das Denken oder die Vernunft geleiteten „Willkür", aber im Denken und Wollen ihrer eigenen Subjekte, nicht in der bloßen Theorie, die von außen an die Tatsachen herantritt. Was den Begriff „Kommunismus" betrifft, so war das keine Neologie; sondern es ist allgemeine Übung, von den Eigentumszuständen der frühen Kultur als von Urkommunismus, Familienkommunismus, Agrarkommunismus, primitivem

2

H. Dietzel in Z. für Literatur und Gesch. der Staatswissensch. Bd. I und Art. „Individualismus" im H W 3 , S. 591.

17 Boeheur 20 habe

commun:

Korrekt: Bonheur commun.

ich 1887 in einer Schrift:

(zuerst 1887).

Gemeint ist Tönnies' „Gemeinschaft und Gesellschaft"

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Kommunismus zu reden, und in einer bekannten neueren Darstellung der Rechtsformen der Bewirtschaftung und des Besitzes (von Land) handelt ein abschließender § über den Agrarkommunismus in der Gegenwart. Ebenso werden die Einrichtungen, unter denen manche religiöse Gemeinden in den Vereinigten Staaten und anderswo leben oder lebten, wie die Oneida oder die Duchoborzen, allgemein als Kommunismus bezeichnet. Und ist etwa Sozialismus nur als Gedanke, nur als Traum, als Wunsch und Strebensziel, vorhanden? Ruft man nicht von allen Seiten, in allen Ländern, bei allen möglichen Neuerungen der Gesetzgebung, bei Arbeiterschutz und Versicherung, bei Verstaatlichung und Kommunalisierung, das sei der bare Sozialismus? Es genüge, einen so scharfsinnigen Soziologen wie Schäffle,

anzuführen, der schon in dem 1878 erschiene-

nen dritten Bande seines „Bau und Leben des sozialen Körpers" schrieb: „In Kirche, Staat, Schule, Wissenschaft ist der Sozialismus schon leibhaftig vorhanden. Der moderne oder ökonomische Sozialismus vertritt einen auf anderen Gebieten schon seit Jahrhunderten eingeleiteten Umschwung nun auch in Beziehung auf die Produktions- und Umsatzprozesse von tatsächlich gesellschaftlicher Bedeutung; der vernünftige Sinn des Sozialismus ist die Überführung von Familien- (Privat-) in Kollektivkapital, von Privat- in Sozialdienstleistungen, von Privatarbeit in Berufsarbeit, von Privatlohn in Berufsgehalt." Und auch diesem ökonomischen Sozialismus wollte Schäffle

nicht so umfassende Aufmerksamkeit ge-

schenkt haben, „wenn er nicht schon in Fleisch und Blut unter uns wandelte". Er verweist auf die vielerlei Kommunal- und Staatsanstalten wirtschaftlicher Art, vom Staatsforstbetrieb bis zu den Werften, Arsenalen und Intendanturen, bis zur Reichsbank und Post; er würde heute auf den Gesetzentwurf über das Petroleum-Monopol hinweisen. In England ist i in einer bekannten neueren Darstellung: Wohl „Agrarwesen und Agrarpolitik" von Adolf Buchenberger aus dem Jahre 1892; (weiter oben S. 300) dort der § 43 („Der Agrarcommunismus in der Gegenwart"). 6 Oneida oder die Duchoborzen: Oneida: Irokesen-Stamm.— Duchoborzen: russische religöse Sekte des 18. Jhs., nach Umsiedlung in den Kaukasus Auswanderung nach Kanada (Ende 19. Jahrhunderts). 21 „... Berufsgehalt": 27 Petroleum-Monopol:

Vgl. Schäffle, 1878: III, 5 4 4 f . Um 1912 wurden in Deutschland Erörterungen um ein Reichs-

Petroleum-Monopol angestellt. Dabei wollte man sich auf die Produzenten in Osteuropa stützen, um sich gegen die amerikanische Standard Oil zur Wehr setzen zu können. Das Monopol war allerdings nur für Leuchtöl gedacht. Durch die Entwicklung von Ersatzstoffen war der Plan für die Errichtung des Monopols bereits Makulatur geworden und nie zustandegekommen.

Individuum und Welt in der Neuzeit

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der Begriff des Munizipal-Sozialismus ebenso geläufig geworden, wie überall der des Staats-Sozialismus. Ich habe meine Ansicht schon 1887 dahin zusammengefaßt: daß die natürliche und (für uns) vergangene, immer aber zugrunde liegende Konstitution der Kultur kommunistisch ist, die aktuelle und werdende sozialistisch. Und der Individualismus? „Es gibt keinen Individualismus in Geschichte und Kultur, außer wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er Gesellschaft hervorbringt und trägt. Solches entgegengesetzte Verhältnis des einzelnen Menschen zur Menschheit ist das reine Problem"; mit diesen "Worten habe ich in derselben Vorrede diejenige Auffassung angedeutet, die ich auch heute für die richtige halte 3 . Eine Modifikation aber des ersten Satzes vertrete ich nunmehr, wenn ich sage: „in und aus den gemeinschaftlichen Zusammenhängen und Verbänden, mehr aber noch neben ihnen her, entwickelt sich das Individuum und der Individualismus". Der Individualismus hat, wie alle Erscheinungen, des sozialen Wesens seine Ausdrücke im ökonomischen, im politischen und im moralischen Leben. Und in jedem entwickelt er sich auf die dreifache Weise: in, aus und neben den gemeinschaftlichen Zusammenhängen und Verbänden. A. Innerhalb ihrer geschieht diese Entwicklung von den Individuen aus, die in ihnen die Macht haben und also von vornherein am freiesten dastehen, indem sie beflissen sind, ihre Macht zu vergrößern und so sehr als möglich absolut zu machen; für sie wird dann der Verband selber und werden die ihnen untergeordneten Personen darin zu einem mechanischen Mittel oder Werkzeug für ihre persönlichen Zwecke. Also zunächst und vor allem für den Zweck der ökonomischen Bereicherung. In dieser Hinsicht ist für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit am meisten charakteristisch die Umwandlung der überlieferten Grundherrschaft in die moderne Gutsherrschaft. Der Grundherr hat einen Beruf — als Ritter und Herrscher —, der Gutsherr ein Geschäft, als Unternehmer eines landwirtschaftlichen Großbetriebes. Auch der 3

Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlungen des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen (Leipzig 1 8 8 7 ) Vorrede p. X X I X . In der zweiten Ausgabe dieser Schrift (Berlin 1 9 1 2 ) ist sowohl diese Vorrede, als jener Untertitel ausgelassen worden. Der Untertitel lautet jetzt: „Grundbegriffe der reinen Soziologie".

i Munizipal-Sozialismus:

Die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen.

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Schriften

Grundherr kann den Erwerbssinn in seinen Gliedern verspüren und hat es nachweislich oft genug getan; er kann seine Amtsgewalt mißbrauchen, Frohnden und Abgaben der Bauern zu steigern beflissen sein, des Bauern Felder durch seine J a g d verwüsten, durch gerichtliche Bußen den Bauern aussaugen, wie schon zu Wycliffes

Z e i t in England geschah — alle diese

Tyranneien haben oft und in Deutschland gerade an der Schwelle der Neuzeit, zu Empörungen und Aufständen der Bauern geführt, und haben sich immer wiederholt, dauern auch in veränderten,

abgeschwächten

Formen bis in unsere Tage. Aber diese Ausschreitungen lassen die sozialen Verhältnisse entweder unverändert oder sind erst Etappen auf dem Wege zu ihrer Zerstörung. Diese Zerstörung vollzieht sich, wenn der Bauer gelegt oder ausgekauft oder zum Leibeigenen des neuzeitlichen Typus gemacht, oder endlich nach Aufhebung dieser Leibeigenschaft in einen freien, aber besitzlosen ländlichen Tagelöhner verwandelt wird. D e r Grundherr kann aber auch ein berufs- und geschäftsloser Rentner werden, der seinen Individualismus weniger direkt auf dem ö k o n o m i schen als auf anderen Gebieten betätigt. Der abhängige Bauer wird dann Zeitpächter oder Halfner, métayer; jenes vorzugsweise in G r o ß b r i t a n nien und Irland, dieses zumeist in den romanischen Ländern. Charakteristisch dafür ist am meisten, daß der Grundherr sein äußeres Verhältnis zum Grund und Boden löst. Er wohnt nicht mehr auf der ererbten Scholle inmitten seiner Hintersassen, behält höchstens etwa einen LuxusSommersitz oder ein J a g d s c h l o ß , während er seinen regulären Wohnsitz in der Stadt wählt, wie schon im Mittelalter der oberitalienische Adel tat; oder er begibt sich an den H o f des Fürsten, um von dessen Gnadensonne bestrahlt zu werden, aber auch um wirtschaftliche Vorteile, als Sinekuren oder Pfründen, politischen Einfluß zur Verteidigung seiner Privilegien zu gewinnen; typisch dafür ist der französische Adel im 17. und 18. J a h r h u n d e r t . Z w a r die Sitten und Vorurteile des Standes fesselten noch den Individualismus, aber „von den Mittelklassen, deren Berührung er selber vermied, und von den unteren Klassen, deren Zuneigung er verscherzt hatte, lebte er getrennt, stand daher von der ganzen übrigen Nation isoliert d a " (Tocqueville). „Nur der Edelmann, dessen Vermögen unbedeutend war, wohnte noch auf dem L a n d e " (Dorf), aber auch diesen „ B a u m f a l k e n " (hobereaux) legten die Bedingungen ihrer sozialen

18 Halfner:

Teilpächter, der sich mit dem Pächter den Pachtertrag teilt (gilt auch für mé-

tayer). 33 „ . . . isoliert

da": Vgl. Tocqueville, 1856: 312.

I n d i v i d u u m u n d Welt in der Neuzeit

307

Lage eine „Abwesenheit des Herzens" auf, die, nach Tocqueville, anhaltender und wirksamer als die körperliche Abwesenheit war. Auch der britische Grundeigentümer ist zum großen Teil ein bloßer Rentner geworden, wenn auch einem anderen Teile richterliche und administrative Funktionen verblieben sind. Im allgemeinen haben die Monate, die er in seinem Schlosse zubringt, nur noch geringe Bedeutung für die große Menge des Landvolkes, mancher lebt dauernd in Paris oder in Italien oder sonst auf Reisen als unabhängiger freier Mann, das Eintreiben der Pachtzinse besorgen seine Beamten. Je mehr die Pächter noch arme Zwergbauern sind, wie in Irland, um so drückender gestaltet sich dieser Absentismus. Auch die Magnaten der noch halbbarbarischen Länder, wie Rußlands, der Balkanstaaten, Posens, charakterisiert das Leben im Auslande in hohem Grade, so gut wie den amerikanischen MillionenRentner. Auf dem politischen Gebiete ist es in erster Linie der Fürst, der innerhalb des überlieferten Verbandes, an dessen Spitze er steht, sich als Individuum geltend macht. Wie der Grundherr sein Eigentum, so will er seine Hoheit absolut machen, möglicherweise in der Meinung daß es dem allgemeinen Interesse, dem Interesse des „Staates" entspreche, als dessen Diener er sich fühlt; eher aber, wenigstens für mittelmäßige Menschen, einfach um seines persönlichen Machtgenusses willen und zum Behufe anderer Lebensgenüsse, denen er fröhnt. Für Staatszwecke, wie für die Bedürfnisse seines Hofes muß er aus seinen Untertanen Geld zu pressen oder zu saugen sich bemühen. Politische und ökonomische Willkür sind voneinander untrennbar. Daher die „Finanz" von Luther mit Simonie, heimlichen Listen, bösen Tücken, von anderen mit Betrug und Wucher zusammengestellt wurde. Der erfolgreichste Finanzminister ist der neumodische Staatsmann, der in Italien die Grundsätze des Macchiavellismus in sich aufgenommen hat. Diese wollen zwar zunächst für den „Tyrannen" gelten, den illegitimen Usurpator, der sich zum Herrn einer Stadt oder eines ganzen Landes aufwirft, es sind also die Regeln des Caesarismus. Sie gelten aber nicht minder für den angestammten Fürsten, der im Kampfe mit den Landesständen seinen Willen als oberstes Gesetz geltend macht. Die Ratio Status (raison d'Etat) dient teils als

i „Abwesenheit 25 Luther:

des Herzens":

Vgl. Tocqueville, 1856: 186 f.

Vgl. „An den christlichen Adel deutscher N a t i o n " (1520), w o Luther in Bezug

auf die missbräuchliche V e r w e n d u n g der A n n a t e n f ü r den Ä m t e r k a u f eingeht (Luther, 1898a: I, 2 2 2 f f . , 229 ff.).

308

Schriften

Mantel der persönlichen Herrschsucht, teils macht sie bewußt als die Regel der neuen politischen Gesellschaft sich geltend und wirkt um so mehr revolutionär, d. h. mit Z e r t r ü m m e r u n g überlieferter Rechte und sittlichen Anschauungen. So die Münzverschlechterungen, Ausgabe von Papiergeld mit Zwangskurs, Zwangsanleihen, Staatsbankerotte und andere Künste, die zerrüttend in die Volkswirtschaft hineinwirken. Im Kampfe um Selbsterhaltung und Selbsterweiterung muß der Staat, also der Staatsmann, wie der Fürst, so sehr als möglich als freies Individuum handeln, d. h. sich eine laxe Moral, die im günstigsten Falle auf die öffentliche Meinung einige Rücksicht nimmt, zur Richtschnur wählen. Die geistig-moralischen Verbände, unter denen die Kirchen in unserer Geschichte am einflußreichsten sind, binden das Individuum in seinem Gewissen am stärksten. Aber dadurch wird nicht unmöglich gemacht, daß die H ä u p t e r dieser Verbände ihre Macht über die Seelen auszunutzen und auszudehnen verstehen, also im ganzen die Priester ihre Macht über die gläubig ihnen anhängenden Laien. Die Priester sind in der Regel an Klugheit, wenigstens an Kenntnis der Geheimnisse, und Wunderwirkungen des Kultus, also der Mittel, die Gunst der überirdischen Mächte zu gewinnen oder zu verscherzen, überlegen, schon dadurch werden sie leicht zu bewußteren Individuen, die — sei es für ihre persönlichen Zwecke oder für die Zwecke der Kirche oder ihres Ordens — sich die Freiheit nehmen, die das Handeln, wenn es Erfolge haben soll, erfordert, daß sie also die sonst hemmenden Schranken durchbrechen, sich über die Gewissensbedenken hinwegsetzen, die von den allgemein geltenden und im allgemeinen gerade durch die religiösen Vorschriften bekräftigten Regeln der Moral ausgehen. Wenn dies für den, der die göttlichen Gebote in seiner Person darstellen soll, um so schwieriger zu sein scheint, so ist es in Wirklichkeit dadurch erleichtert, daß er diese Gebote auszulegen und anzuwenden berufen ist, daß sie ihm als ein Rohstoff in die H a n d gegeben sind, die er in einigem Maße nach seinem Belieben, oder doch nach dem Belieben seiner Oberen gestalten kann. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche ist die laxe Moral aus der Bußpraxis erwachsen, indem eine reiche Literatur der Kasuistik die Gewissensfälle erörterte und dabei mehr und mehr gestattete, der durch geringe Autoritäten gestützten, eben der laxeren Ansicht zu folgen. Als Vertreter dieses Probabilismus, der auf die individuellen Fälle, auf die Bedürfnisse der Individuen, zumal hochgestellter, zugeschnitten ist, wurden in der Neuzeit die Jesuiten in mannigfacher Weise bedeutend: in den katholischen Ländern, die während der drei ersten Jahrhunderte (bis 1800) noch

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Hauptträger der Kultur bleiben, die planmäßigen Verfolger der Ketzerei, Förderer der päpstlichen Suprematie und zugleich, doch, soweit es damit verträglich war, des fürstlichen Absolutismus; überhaupt die kirchlichen Politiker, die es verstanden, die geistliche Gewalt den ihr feindlichen neuzeitlichen Lebensbedingungen anzupassen und innerhalb der wachsenden modernen Gesellschaft, wie des wachsenden modernen Staates, die Macht der alten Herrenstände zu retten oder zu restaurieren. Dies konnte nur geschehen mit Hilfe der modernen Mittel, d. h. durch Kapital; und so finden wir denn, daß der Jesuiten-Orden am Welthandel und mehr und mehr auch an der großen Industrie seinen starken und erfolgreichen Anteil nimmt. Er benutzte seine internationalen Verbindungen zur Entwicklung eines mächtigen Handelsverkehrs auch mit außereuropäischen Ländern, dessen Mittelpunkt Lissabon war. „Die Missionen wurden in Handelsstationen verwandelt und ein großes Geschäft in Baumwolle, Paraguaythee, Häuten gemacht." „In Kalifornien brachten sie große Minen in ihre Hände, ihre Fabriken und Zuckersiedereien waren über das ganze spanische Amerika zerstreut; im 18. Jahrhundert erlangte vor allem der von den französischen Besitzungen in Westindien aus betriebene Handel mit Kolonialwaren Bedeutung; die Kollegien wurden zu großartigen Wechselkontoren, bei denen Reisende sich akkreditieren ließen und deren Geschäfte keiner Beschränkung des Zinsfußes unterworfen waren" (Dove im St. W. B. s. v. Orden geistliche). Ein wichtiges Beispiel dafür, daß Handel und Kapitalismus, so sehr sie Mächte der Neuzeit sind, auch als Werkzeuge und Waffen zur Bekämpfung des Geistes der Neuzeit dienen, und daß der Individualismus des Profitmachens nicht ausschließlich individuell-persönlich sich geltend macht, ob im Dienste einer Aktiengesellschaft oder der Gesellschaft Jesu, ist begrifflich verstanden dasselbe. Der Priester war schon im Mittelalter zum geschmeidigen Muskel in einem großen sozialen Körper dadurch gemacht; worden, daß ihm verboten wurde, sich mit Weib und Kind zu beschweren. Der Caelibatär ist immer in höherem Grade Individuum als der Familienvater, und als Individuum steht der ehelose Geistliche der Hierarchie zur Verfügung, wie ein Soldat dem General. Loyola wies seine Schüler an, zu sagen: „Ich habe keine Eltern, habe keine Familie, Vater und Mutter und Geschwister sind mir gestorben, ich habe keine Heimat, kein Vaterland, keinen Gegenstand der Liebe und der Verehrung als allein den Orden." Treffend bemerkt Gothein: „Es möchte ein Rätsel

22 Dove: Vgl. Dove, 1862: VII, 420.

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scheinen, wie man einen Menschen zum willenlosen Werkzeug der Vorgesetzten, und zwar durch eigenen Entschluß, machen und von ihm zugleich eine virtuose Schulung mannigfaltiger Talente und persönliche Entschlußfähigkeit verlangen kann, jedoch löst jede moderne Militärerziehung dieses Rätsel" (soll offenbar heißen: das gleiche Problem); Kultur d. Geg. II, V. I, S. 174. Aber nicht nur eine große Verbindung, wie die Gesellschaft Jesu, sondern auch eine Berufsgesamtheit, wie der Klerus, stellen außerdem, daß sie oberhalb des Volkes ihren Platz haben, auch in sich selber eine Gemeinschaft dar, an deren Spitze einzelne Individuen stehen, die mehr oder minder im Interesse dieses Ganzen, oder auch in ihrem persönlichen Interesse, die „Politik" dieses Ganzen führen und zur Geltung bringen. Sie können dies tun mit dem Bewußtsein der Unwahrhaftigkeit; und für hochgebildete Individuen ist die Versuchung groß, sich zum Vorteile einer solchen Gemeinde und durch sie zum eigenen Vorteil der Macht zu bedienen, die der Stellvertreter der Götter naturgemäß über die Gemüter der Gläubigen hat. Dies um so mehr, wenn Bischöfe und zumal der höchste Bischof zugleich weltliche Fürsten waren, wie sich diese Dualität durch den größten Teil der bisherigen Neuzeit erhalten hat. Mag es eine Erfindung sein, so ist es doch eine charakteristische Erfindung, die einem Papste das Wort in den M u n d legt, jene Sagen von Christus seien für die Herrschaft über Menschenseelen ungemein brauchbar. Die bewußte Heuchelei wird selten als solche erkannt, aber sie gehört zu den Kronjuwelen, die zuweilen auch den dreifachen Reifen der Tiara zierten. Wo immer Herrschaft zu befestigen und zu erweitern gestrebt wird, da macht sich auch die Ratio Status geltend, die immer in der Wahl der Mittel ohne Skrupel gewesen ist, oder doch die Skrupel mehr oder minder gründlich überwunden hat. Z u m a l die Finanz, die für solche wie für alle wertvollen Zwecke notwendig ist, entwickelt alle Künste des Umganges mit Menschen in rücksichtloser Weise: Aussaugung durch Justiz und Verwaltung, Ämterhandel, Münzverschlechterung, sind von geistlichen wie von weltlichen Würdenträgern in weitestem Umfange geübt worden, und werden verschlimmert, wenn Wirtschaften von Günstlingen, Nepoten, Maitressen die H ö f e beschweren. In diesen Hinsichten

23 bewußte Heuchelei: Hier findet sich im Handexemplar Tönnies' (NL Tönnies: xt 116: Nr. 1) der Hinweis auf einen Ausspruch König Ludwigs XI. von Frankreich, den Tönnies bei Frantz, 1859: 373, gefunden hat: „Qui nescit dissimulare, nescit regnare." ("Wer sich nicht zu verstellen weiß, weiß auch nicht zu regieren).

I n d i v i d u u m u n d Welt in der Neuzeit

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ist besonders von monarchischen Regierungen ein unermeßlicher Einfluß auf Volkssitten und Volkswirtschaft ausgegangen, denn in diesen haben die individuellen Bedürfnisse und individualistischen Handlungen den größten und freiesten Spielraum. B. Bisher wurde der Individualismus innerhalb der überlieferten Verbände betrachtet und es ist offenbar, daß er wesentlich zu deren Erhaltung gedient hat, wenn sie auch nur in veränderter Gestalt erhalten werden konnten. Grundherrschaft und Zunft, der ständisch-monarchische Staat, die Kirche und ihre Orden, gehören ihrer Natur nach sämtlich dem Mittelalter an; die Neuzeit wirkt allen entgegen, unterwühlt und zersetzt sie, greift sie an durch konkurrierende Institutionen, durch Gesetze, durch Meinungen. Sie befinden sich also in der Defensive, aber die wirksamste Defensive ist immer die Offensive, und so finden wir alle auch im Fortschreiten, in aggressiven Tendenzen, getragen durch die planmäßige Bewußtheit ihrer Führer, sofern diese verstehen, sich, und durch sich ihre Herrschaftsgebiete, den neuen Lebensbedingungen anzupassen, wozu vorzugsweise notwendig ist, daß sie die Waffen ihrer Gegner und Konkurrenten kennen und gebrauchen lernen. Denn ursprünglicher und stärker entwickelt sich der Individualismus, der aus den überlieferten Verbindungen heraus will, der nach Freiheit und Befreiung strebt, der die Fesseln sprengt, die seine Bewegungen und Gedanken hemmen. Dieser Individualismus steht im Vordergrunde der großen Bewegungen und Kulturprozese, die der Neuzeit ihr Gepräge geben: der ökonomischen, der politischen und der geistig-moralischen. Auf dem ökonomischen Gebiete ist seine Entwicklung nichts anderes, als der Verfall der mittelalterlichen Gemeindeverfassung und Gewerbeverfassung, daher der Dorfgemeinde und der Stadtgemeinde als sozialer Realitäten und Mächte. In beiden Verfassungen waren herrschaftliche und genossenschaftliche Elemente miteinander vermischt. In der Gemeindeverfassung und Dorfgemeinde überwog der Regel nach das herrschaftliche, in der Gewerbeverfassung und Stadtgemeinde überwog ebenso der Regel nach das genossenschaftliche Element. Gegen das eine wie das andere empört sich die individuelle Freiheit. Eine vergleichende Entwicklungsgeschichte des europäischen Bauernstandes ist bisher nicht verfaßt worden. Ansätze dazu sind in den von verschiedenen Autoren herrührenden Darstellungen der Bauernbefreiun-

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gen in den einzelnen Ländern vorhanden. Es läßt sich aber nicht daraus erkennen, wieviel Anteil an diesen Befreiungen — der Lösungen von Herrschaftsrechten sowohl als denen von Gemeinheiten und Flurzwang — der eigene Wunsch und Wille, das eigene Streben und Bedürfnis des Bauern genommen hat. Seiner Anlage nach ist der Bauer kein wirtschaftliches Individuum; sicherlich ist er es aber im Laufe der Jahrhunderte immer mehr geworden. Überall und immer werden sich einzelne durch stärkeren Erwerbstrieb und bewußtere Verfolgung ihres Interesses hervorgetan haben. Durch herkömmlich bessere Besitzrechte, durch die Nähe und den Einfluß lebhafter Städte und Märkte, überhaupt durch die Gelegenheit, muß dies von je ebenso befördert worden sein, wie durch Gesetzgebungen und Wirkungen der Zentralgewalt, die im Interesse des Fiskus beflissen waren, den Einzelnen auf sich selbst zu stellen. Einen gewissen Individualismus entwickelt der Bauer schon im Kampfe um sein Recht, im Prozessieren gegen Grundherren und gegen Nachbarn. Er will das Herkommen verteidigen, aber er lernt allmählich, zumal mit Hilfe der städtischen Advokaten es in seinem Sinne auszulegen. Um so stärker wird diese Entwicklung einsetzen, wenn die Reihen der Grundbesitzer selber durch Städter ergänzt werden, wie es in den Niederlanden schon im 15., in Frankreich während des 18. Jahrhunderts, und überall in neuerer Zeit nicht selten geschehen ist. Einerseits die Größe des Betriebes, andererseits die speziellen Kulturen, als Wein, Tabak und anderer Handelsgewächse, mußten das Eindringen der Geldökonomie begünstigen. Für intensivere Wirtschaft wurden die Beschränkungen durch Gemengelage Nachbarrechte Weideservituten lästig. Die Vernichtung des Gemeindelandes durch Einhegungen führte in England und Schottland zur Vergrößerung des privaten Grundbesitzes und zur Einrichtung arrondierter Pachtbetriebe, die allmählich sich vergrößern, je mehr sie zu wissenschaftlich-rationaler Landwirtschaft übergehen. Dieser Prozeß und die Verdrängung der ehrwürdigen Dreifelderwirtschaft durch ein System, das immer ausgesprochener auf den Reinertrag abzielt, daher als „freie" Wirtschaft den wechselnden Konjunkturen des Marktes sich anpaßt, bezeichnet die in Europa noch ihrer Vollendung ferne Entwicklung. In den Kolonialländern, vor allem in den Vereinigten Staaten, ist von vornherein der Landwirt Geschäftsmann; der Betrieb wird einem Fabrikbetriebe ähnlich; die landwirtschaftliche Maschine stammt aus Amerika. Die amerikanische Agrikultur wird mehr und mehr, wie Hobson es ausdrückt, in eine Form gebracht, wo Kapital eine immer bedeutendere, 37 wie Hobson

es ausdrückt:

Vgl. Hobson, 1992: 184.

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Arbeit eine relativ minder bedeutende Rolle spielt. In Amerika so wenig wie in Europa ist die Industrialisierung der Landwirtschaft notwendig mit Vergrößerung der Betriebe verbunden; intensiver Betrieb nützt das kleinere Areal besser aus. Aber der Getreidebau und die freie viehlose Wirtschaft wird doch immer stärker die Schaffung von Riesenfarmen verlangen, für die auch immer größeres Kapital und folglich die Assoziation von Kapitalien notwendig wird. Bis dahin bleibt freilich die Landwirtschaft auf einer Stufe stehen, die den Typus des individuellen Betriebsleiters, sei es als Eigentümers, als Pächters oder Amtmanns und Inspektors erhält. „Immer wieder mußte man zum individuellen Unternehmer mit Weib und Kind, mit Knechten und Magd im landwirtschaftlichen Betrieb, auch im modernsten, greifen" (Schmoller). Wenn aber Schmoller meint, wer die sozialistischen Schlagwörter liebe, bezeichne diese ganze Modernisierung als den Einbruch des Kapitalismus in die Landwirtschaft, so wird auch wer verdunkelnde Schlagwörter haßt, schwerlich einen erheilenderen Ausdruck für die Sache finden. Indessen ist auch offenbar, daß in Europa (außer in Großbritannien) der Bauernstand und bäuerliche Betrieb eine große Bedeutung behalten hat; zum guten Teile freilich gedrückt und gehemmt durch seine stillen Gesellschafter, den Hypothekengläubiger und oft auch den Inhaber der Wechselforderung; jedenfalls lernt auch der Bauer zusehends mehr, Geschäftsmann zu werden, und wenn noch nicht als einzelner, so wenigstens in Genossenschaften die kapitalistische Warenproduktion kultivieren. Die Mobilisierung und freie Teilbarkeit des Bodens trägt mächtig dazu bei; der Händewechsel steigert sich rasch, zumal wo die Grundrente durch Gesetzgebung erhöht wurde, und nicht immer ist es ein Wandern „zum besten Wird", sondern oft von einem Spekulanten zum andern, was auch das bäuerliche Eigentum durchmacht; früher oder später dürfte es zur Amassierung führen und führt schon dazu, soweit der Grundbesitz als vornehmer Luxus und sichere Kapitalanlage geschätzt wird. Als fruchtbare Rentenquelle steht der städtische Grundbesitz dem ländlichen weit voran und hier tritt die Warenqualität des Bodens um so schärfer in die Erscheinung. Millionenbauer und Grundstücksspekulant berühren sich nahe. Und hier finden sich denn auch die Individuen und individuellen Kapitale in Terraingesellschaften und in Hypotheken- und Landbanken zusammen.

15 in die Landwirtschaft:

Vgl. Schmoller, 1919: I, 470 f.

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Immerhin schlägt der ökonomische Individualismus rascher und tiefer Wurzeln im Gebiete der industriellen

Produktion, und die letzten Er-

scheinungen: in bezug auf Grund und Boden sind schon die Folgen davon. Wichtig ist auch die Tendenz, Ackerprodukte den industriellen ähnlicher zu machen, d. h. sie in Formen zu gießen, durch die sie als Waren transportabler und als Gebrauchswerte genußreifer werden. Das große Ereignis, dem die moderne Industrie ihre Entfaltung mitverdankt, ist die Auflösung der Zunftverfassung, der ein durch Jahrhunderte gehender Verfall, durch Erstarrung und Verknöcherung aufgehalten, vorausgegangen war. Innerhalb ihrer waren es sicherlich selten die Meister, wenigstens wenn sie es rechtzeitig oder gar frühzeitig geworden waren, um so mehr aber die Gesellen, die darauf warteten und auch als Altgesellen unselbständig blieben, die mit dieser Verfassung unzufrieden wurden. Aus den religiösen Brüderschaften innerhalb ihrer wurden Gesellenverbände, die das Interesse der Gesellen auch gegen die Meister wahrnahmen; eine Opposition, die bekanntlich auch in Ausständen und sogar in Revolten zum Ausbruch kam. Indessen tritt in der Geschichte das Verlangen der Gesellenschaft nach Gewerbefreiheit nicht so stark zutage, wie man erwarten dürfte, wenn jene schon eine Presse und andere Literatur gehabt hätte. Aber früh zeigen sich die Spuren einer Gesellenschaft zweiten Ranges, die das Gewerbsgeheimnis nicht erlernten und nicht erlernen sollten; in den Baugewerben wurden sie bald zahlreich. Aus ihnen entstanden wohl zum größten Teil die „Freimeister", die in Marktflecken und auf dem Lande selten einen goldenen Boden fanden, aber auch wo sie in den Städten geduldet wurden, durch Verbot des Lehrlinge- und Gesellen-Haltens gehemmt waren. Oft erlitten die Pfuscher, Störer, Bönhasen, heftige Verfolgungen. J e zahlreicher trotzdem diese Elemente wurden und sich der Gunst der Behörden und Konsumenten erfreuten, desto mehr mußte die Bewegung gegen den Zunftzwang innerhalb der Handwerker selber sich ausbreiten; wenn sie auch nur eine Hilfstruppe zu dem Kampfe gestellt hat, die in dessen Vernichtung ausging. Hie und da waren wohl diese Handwerker mehr als die Zunftmeister geneigt, auf neue Technik zu sinnen und konnten so zu kleinen Fabrikanten werden; in Frankreich waren schon 1568 neue Erfindungen von den Zunftgesetzen entbunden. Man muß die Tendenzen, die innerhalb des Handwerks das Zunftsystem angreifen, streng von denen unterscheiden, die von außerhalb es bekämpfen, und von diesen wiederum diejenigen, die es durch siegreiche Konkurrenz untergraben, so daß —

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wie in England nach Brentano — die Zünfte allmählich absterben, ohne gesetzlich vernichtet zu werden. Nicht weit entfernt von dem Streit um die Gewerbefreiheit liegt der Aufstieg und Fortschritt des Individualismus im politisch-rechtlichen Leben, sofern er aus den alten politischen Verbänden heraus gegen die bestehenden Mächte und herrschenden Stände sich erhebt. Die große Katastrophe dieser Erhebung ist die französische Revolution. Sie etabliert, auf dem Boden der entfesselten bürgerlichen Gesellschaft, die vorher unter der Vormundschaft des fürstlichen Absolutismus und der merkantilistischen Volkswirtschaftspolitik herangewachsen war, den bürgerlichen Staat, der die nationale Einheit weit schärfer zur Geltung bringt als das ancien régime es vermochte. Die Volkssouveränität führt in jeder Hinsicht die Tendenzen weiter, die von der Herrschersouveränität angelegt waren. Eingeschlagen war die Richtung, die sich vollendet in der Absorption alles öffentlichen Rechtes, aller öffentlichen Angelegenheiten, durch den Staat — den Staat, der innerhalb seiner Zentralgewalt nichts anerkennt außer den von ihm eingerichteten Abteilungen und Anstalten, und innerhalb ihrer die Individuen, die sich also scheiden in Beamte und Private, wie im Heere, dem Extrakte des Staates, in Offiziere und Gemeine. Im vorrevolutionären Staate überwog auch im wirtschaftlichen System das Prinzip der Regulierung: er ließ die Zünfte als privilegierte Körperschaften bestehen, aber er nahm ihnen jede öffentliche Bedeutung, er beschnitt ihre Funktionen und begünstigte das neben ihnen aufkommende Großgewerbe und den Handel, der das Kleinhandwerk von sich abhängig machte; denn diese Erwerbszweige brachten das hocherwünschte Geld ins Land und in die Staatskasse. So war die Gewerbefreiheit und freie Konkurrenz nur das letzte Wort einer Tendenz, die bisher in anderer Gestalt sich betätigt hatte. Das physiokratische Interesse, das der Industrie die Erzielung von Reinerträgen absprach, lag der revolutionären Gesetzgebung zugrunde, die notwendig war, um die Industrie mächtig werden zu lassen; jene Ansicht wurde durch Lancashire stärker widerlegt als durch Adam Smith; denn die Tatsachen reden eine stärkere Sprache als der geistreichste Schriftsteller. — Der politische Individualismus bedeutet die staatsbürgerliche Gleichheit. Diese wiederum

i Brentano: Vgl. Brentano, 1870: bes. 7 1 - 1 0 2 . 31 Lancashire: Die Grafschaft Lancashire war das Zentrum der englischen Baumwollindustrie. Die Entwicklung begann um 1720—1740 und verdeutlicht die Umwandlung einer vormals agrarischen in eine betont industriell geprägte Landschaft.

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verlangt die Aufhebung aller Herrschaften aus eigenem Recht, die innerhalb des Staates überliefert sind; sie ist daher wesentlich gegen die alten herrschenden Stände gerichtet und gegen die Städte als Träger unabhängiger politischer Gewalten. Man hat diesen Prozeß oft die Atomisierung des sozialen Körpers genannt. Roscher meint, wenn der Staat in seinem weiteren Fortschreiten die „kleineren Gruppen" völlig auflöst, so daß sie wenigstens kein eigenes Leben mehr besitzen und die Untertanen ihm selbst gegenüber nur einen zusammenhanglosen Haufen von Individuen bilden, so werde das Volk gleichsam in Staub verwandelt; und er erzählt, es sei ein Lieblingsbild des dritten Napoleon gewesen, daß die Nation durch Auflösung der alten Stände zu Sandkörnern zerrieben sei, die vereinzelt nur Staub geben, aber durch eine kräftige Staatsgewalt zu einem Felsen gemacht werden können. In der Tat ist darin ausgedrückt, was der Staatsmann wollen muß, das Ziel einer zielbewußten inneren Politik. Die individualistische Entwicklung wird aber durch diese „sozialistische" Tendenz nicht aufgehoben, sie setzt sich innerhalb ihrer und neben ihr fort, auch in dem hier erörterten Sinne der Emanzipation. Die Arbeiterbewegung, die ihre Postulate an den Staat richtet, bleibt zugleich eine Bewegung für Gleichberechtigung der Arbeiter-Individuen mit den Individuen der besitzenden Klasse; Gleichheit in privaten und politischen Rechten, im Staate und in den Gemeinden. Obgleich im Prinzipe durchgedrungen, ja stabilisiert, hat doch sogar die private Gleichberechtigung noch fortwährend gegen Hemmungen zu kämpfen; um so mehr die politische, die so sehr als möglich zu vereiteln noch zu den Künsten der Regierungen gehört. Und neben der Arbeiterbewegung ist die Frauenbewegung ein Emanzipationskampf um private und politische Rechte; auch die Kämpfe um Privatrechte sind ihrem Wesen nach politische Kämpfe. Daß die Frauen zu Individuen werden, ist sicherlich ein großer letzter Schritt der Disintegrierung uralten Gemeinschafts-Zusammenhanges; der noch erhaltene herrschaftliche Kern der häuslichen Familie wird zersetzt. Aber auch hier ist es viel weniger die Lehre, Theorie und Ansicht, ja nicht einmal ihr eigenes Wollen und Streben so sehr, als das Leben selber, die Volkswirtschaft, der Kapitalismus und Kommerzialismus, der Verkehr und die Notwendigkeit des Erwerbes, was die „Schuld" trägt, um einmal diesen accentuierten Ausdruck anzuwenden. Die Frauen sind schon Individuen geworden im wirtschaftlichen Leben und werden es vor unseren Augen immer mehr; daß sie auch politische Individuen wer5 Roscher:

Vgl. Roscher, 1912: 12

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den, ist eine Konsequenz, die gleich anderen Konsequenzen die Anbahnung einer gesunden Restauration auf neuer Basis in sich tragen kann. Tocqueville, ein Historiker, der das Wesen der Revolution, also das Wesen der Neuzeit, mit tiefem Sinne erforscht hat, sagt: „Unsere Vorfahren hatten das Wort Individualismus nicht, das wir für unseren Gebrauch erst geschmiedet haben; weil es zu ihrer Zeit kein Individuum gab, das nicht einer Gruppe angehört hätte, das als für sich allein stehend hätte gedacht werden können." Er hat hier, wie sonst gar manches Mal, den Nagel auf den Kopf getroffen. Mit den sozialen und politischen Kämpfen sind die geistig-moralischen so innig verbunden, daß man in der Regel diese als die primären Erscheinungen betrachtet und z. B. die französische Revolution aus der französischen Aufklärung abzuleiten unternimmt; auch, wie schon bemerkt wurde, den Individualismus in erster Linie als eine intellektuelle Geistesrichtung zu betrachten pflegt. In Wahrheit ist die größte und folgenreichste Erscheinung in der Neuzeit gerade auf diesem Gebiete der Zerfall eines gewaltigen Körpers, der auch für das ökonomische und das politische Leben eine unermeßliche Bedeutung und Wirkung gehabt, zum guten Teil sogar bewahrt hat: der römisch-katholischen Kirche. Sie hat das Mittelalter beherrscht, an der Schwelle der Neuzeit tritt die Spaltung ein, furchtbare Bürgerkriege hat diese Spaltung zur Folge. Aus diesen Kämpfen geht der moderne Staat hervor, der auch wo die alte Kirche siegreich geblieben ist, ihr gegenüber freier und stärker sich zu erheben vermag, zunächst in Gestalt des konfessionellen, d. h. dem Kirchentum prinzipiell sich anpassenden Absolutismus. Die neuen „Landes"-Kirchen versuchen eine göttlich beglaubigte Autorität wiederherzustellen, aber an der Wurzel ihrer Bildung liegt deren Verneinung, die Gewissensfreiheit und das Recht der freien Prüfung und Deutung der religiösen Urkunden. Der — im Christentum ursprünglich angelegte — fromme Individualismus macht auch innerhalb der neuen Kirchen, und gegen sie, immer von neuem in den pietistischen Richtungen und in den freien Gemeinden mehr oder minder schwärmerischen Bekenntnisses sich geltend. Während die Kirchen — die neuen gleich den alten — immer wieder in den Dienst der Fürsten treten — um sie zu beherrschen — und am weltlichen Herrenstande überhaupt ihre Stützpunkte suchen, so ist doch der Protestantismus, je energischer er sich als solcher behauptet, ausgesprochen bürgerlich; daher der kalvinistische mehr als der lutherische; auch die 8 „... gedacht

werden

können":

Vgl. Tocqueville, 1856: 148.

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„Pietät" mehr als die Orthodoxie, obgleich zum Pietismus auch manche vom Adel, zumal Damen, durch Gefühle und Demut sich hingezogen fühlen; stärker wirkt es, daß der adlige Individualismus, der Absonderung vom gemeinen Volke in Anspruch nimmt, mit dem pietistischen Separatismus sich begegnet; die Erbaulichkeit mußte es rechtfertigen, daß man sein hl. Nachtmahl, seine Beichte und Begräbnisfeier für sich haben wollte. Überwiegend ist der deutsche Pietismus doch, ebenso wie der englische Dissent, städtisch-, und ursprünglich durchaus kleinbürgerlich, erhebt er sich mit dem Kleinbürgertum selber, um mehr oder minder in Aufklärung und theologischen Rationalismus überzugehen. In seinen Hauptlinien läuft der religiöse Befreiungskampf mit dem ökonomischen und politischen Liberalismus der Neuzeit parallel; und sie befördern einander gegenseitig. So ist denn das große Kolonialland, wo diese Freiheiten am freiesten sich entfaltet haben, auch das Land der Sekten; in Neu-England fand der Puritanismus, in Pennsylvanien das Quäkertum seine Zuflucht; und der Staatsverband ist in der amerikanischen Union, wie in den Einzelstaaten, seinem Wesen nach neutral. Ebenso hat schon das vom moderneren Absolutismus in Europa geübte Prinzip der Toleranz gewirkt; die Zulassung fremder Religionsverwandten bedeutete regelmäßig auch erweiterte Freiheit des Gewerbes und des Handels. C. Zum dritten soll hier erwogen werden, wie Individuum und Individualismus der Neuzeit neben den überlieferten Verbänden her sich erheben und sich entwickeln. Und zwar zunächst wieder im ökonomischen Felde. Da ist es nun der Handeltreibende, der immer in mehr oder minder ausgeprägter Weise, als einzelner, seines Interesses bewußterer Mensch, den übrigen Ständen gegenüber sich verhält. Er ist minder seßhaft als sie; und weil weniger an die Scholle, so auch weniger an Ort und Land gebunden. Das Reisen gehört zu seinem Berufe; er besucht die Märkte, als die Stätten, wo allerhand Volk sich mischt; auch nachdem der Handel seßhaft geworden, ist der Kaufmann oft ein landfremder Mann. Den Verkehr zu befördern ist er notwendig immer beflissen; und je mehr dieser fortschreitet, um so lebhafter, zahlreicher, geschäftiger, bewegt sich der reisende Kaufmann hin und her; auf den Land- und Wasserstraßen ist er zu Hause, und aus der Enge seiner Stadt oder des Dorfes, strebt er in das große Wirtschaftsgebiet hinaus, das er vor sich ausgebreitet sieht; die Schiffahrt vorzüglich muß ihm dienen. Eine Abart des Kaufmanns ist der moderne Fabrikant; schon als „Verleger" ist der Kaufmann selber Fabrikant. Und der Fabrikant muß immer Kaufmann

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sein, um sein Geschäft zu machen; er wird es immer mehr, je stärker die Industrie im Großbetriebe mechanisch ausgeübt, je mehr sie kapitalistisch organisiert wird. Zwar ist sie nicht in gleicher Weise wie der eigentliche Handel, an dessen allgemeiner Freiheit interessiert, sondern wünscht diese da zu hemmen, wo sie mehr Schaden als Nutzen von ihr zu haben meint; aber sie sucht, wie der Handel, ein möglichst weites Absatzgebiet, wenigstens für ihre eigenen Produkte, und verbindet sich also mit dem Handel in der Verneinung der lokalen und territorialen Schranken, durch die sich die engeren Gebiete gegen die Außenwelt abzuschließen bemüht waren und zum Teile noch sind. Auch der Handel ist national und staatlich gesinnt, sofern die Staatsmacht ihn dem Auslande gegenüber schützt und fördert; daher ihm an der Seemacht vorzüglich gelegen sein muß, denn der Handel folgt der Flagge. Die Vertreter des großen Handels und der großen Industrie zusammen bilden den Kern der „Bourgeoisie", die aus den einzelnen, die ihres Eigentums und ihres Interesses bewußt geworden sind, sich zusammensetzt — die neue ökonomisch herrschende Klasse, die sich in erster Linie dem Adel und der Geistlichkeit als den alten Herrenständen, sodann aber auch dem alten, aus Bauern und Handwerkern wie anderen Stadtbürgern bestehenden Volke sich gegenüberstellt, willig und fähig, sie alle durch das Kapital sich Untertan zu machen, oder in ihr Gefolge zu ziehen, zur Nachahmung ihrer Methoden und ihrer Techniken zu erziehen. So bringt sie aber auch Helfer und Bundesgenossen mannigfacher Art aus ihren Reihen hervor, oder aus anderen Kreisen herkommend, schließen diese sich ihr an. Wie aber der Kaufmann mehr oder minder als das fremde Individuum von außen an das Volk herantritt, so wirkt überall ähnlich individualistisch die Fremdheit des Fremden, nämlich den Geschäftssinn, also das Verfolgen des eigenen Vorteils begünstigend; unter Brüdern, Genossen, Freunden finden diese Tendenzen weniger fruchtbaren Boden. Der Gast begegnet dem Gast auf den Jahrmärkten, sodann überall, wo der Verkehr die Menschen zusammenführt, sogar solche, die nur mühsam oder durch Dolmetscher sich verständigen können, einander nähert, weil sie eben Lust haben, mit einander zu tauschen und Geschäfte zu machen, also in Städten eher als auf dem Dorfe und in Großstädten weit mehr als in der Landstadt, wo höchstens von Zeit zu Zeit die Gelegenheit sich bietet; ebenso in Kolonialländern leichter als in den alten geschlossenen Gebieten. Immer wirkt in gleichem Sinne sowohl die ursprüngliche Fremdheit der Abstammung und die ursprüngliche oder erworbene Fremdheit der Religion, die oft mit jener zusammengeht. Darum neigen

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auch immer solche Elemente zum Handel und zur freien und größeren Industrie. Am auffallendsten ist in Europa und in seinen Kolonialländern der Fall des Judentums. Ein versprengter Rest der antiken Städtekultur, ausgebreitet als heimatloses Religionsvolk über das ganze Gebiet des römischen Reiches, durch den Glauben an ihren Gott, wie durch verwandtschaftliche Bande, trotz weitester Entfernungen zusammengehalten, sind die Juden prädestiniert für die Vermittlung; durch Kenntnis, Schätzung und Besitz des Geldes in Gestalt mannigfacher Münzen verfügen sie über die mit Zunahme des Verkehrs und der Städte immer allgemeiner begehrte Ware, werden gehaßt, gefürchtet und verfolgt, je mehr sich die mittelalterliche Kultur zum Kampfe gegen die ihr feindlichen Elemente rüsten muß, bis endlich mit dem Fortschreiten dieses Kampfes, also mit der Neuzeit, und zunächst in den protestantischen Ländern, der Tag und die Toleranz für sie anbricht, ausmündend in der Emanzipation als gesetzlicher Gleichstellung, wenn auch Meinungen und Gefühle nach wie vor dagegen wirken. Mit dem Handel, also dem Kapitalismus, verschmilzt ihr Wesen so stark, daß manche Charakterzüge, die für jüdisch gelten, den Handel, insbesondere den Geld- und Kapitalhandel allgemein bezeichnen, wenn sie auch oft durch jüdische Eigenheiten gesteigert werden. Andererseits erhält und verschärft sich die Fremdheit ihrem „Wirtsvolke" gegenüber, je mehr der moderne Verkehr sie in großen Mengen zusammenbringt, also in der Großstadt, und je mehr in dieser und in der modernen Welt überhaupt, der Charakter der Fremdheit und des Kampfes aller gegen alle sich verallgemeinert. Was aber im Judentum am deutlichsten sich kundgibt, das tritt auch zwischen anderen, sowohl Rassefremden, als Religionsfremden, daher auch zwischen den verschiedenen christlichen Bekenntnissen, hervor, und dabei haben die kleinen Gemeinden den gleichen Vorteil, der die Juden auszeichnet, daß sie unter sich eine Gemeinschaft, eine Art von Verschwörung bilden, um so mehr zu einiger Rücksichtslosigkeit gegen die Ungenossen geneigt. Typisch als Volk die Schweizer, als Sekte die Q u ä k e r ; beide auch insofern gute Geschäftsleute, als ihre religiös-sittlichen Grundsätze durch die Einsicht, daß Ehrlichkeit die beste Politik sei, verstärkt werden. Auf dem politischen Gebiete macht sich neben allen Verbänden und über sie hinweg die allgemeine Kulturgesellschaft geltend, die zunächst alle durch Besitz und Bildung zu gegenseitiger Anerkennung disponierter Individuen international verbindet und innerhalb jedes Staates als Partei sich geltend macht; mehr und mehr aber geht dies Weltbürgertum von diesen Kreisen, in denen es erwachsen ist, auf ihren Widerpart, das Prole-

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tariat, über, und hier wird der von jenen längst verbreitete Gedanke an einen Überstaat, der die Umrisse der sozialistischen Weltrepublik annimmt, ausgebildet und gepflegt. Aber die bürgerliche Gesellschaft in ihrer früheren, die individuelle Freiheit behaltenden Richtung, hat schon den Überstaat geschaffen in Gestalt der wesentlich internationalen nordamerikanischen Union; sie ist das am meisten charakteristische politische Gebilde der Neuzeit, in ihrer zukünftigen Entwicklung ist gewissermaßen das zukünftige Geschick auch der europäischen Menschheit beschlossen. Aber auch gesellschaftliche, ökonomische Verbände, nationale und internationale, gewinnen neben dem Staate und leicht gegen ihn politische Macht und Bedeutung. Auch die dritte, die geistig-sittliche Macht, die neben und über den alten Zusammenhängen und Verbänden sich erhoben hat, ist wesentlich international: die Wissenschaft. In katholischen wie in protestantischen Ländern, wenn auch stärker in diesen, wirkt sie fortwährend zersetzend auf den Volksglauben, auf überlieferte Sitten und Anschauungen, aber zugleich das spezifisch moderne Leben neugestaltend. Sie erst macht die Menschen, die sich ihr mit ganzer Seele widmen, im höheren Sinne zu freien Individuen, weil zu Frei-Denkern; sie lehrt die Welt erkennen und verstehen als ihrem Wesen nach, daher als Ganzes, unbegreifliche Einheit, die aber in allen ihren Teilen notwendigen Zusammenhang aufweist und das eine Gesetz des Beharrens in der Veränderung auf mannigfache Arten reflektiert. Vergleichen ist die Tätigkeit des wissenschaftlichen Menschen, Verhältnisse und Gleichungen in Maß und Zahl ausdrücken sein höchstes Ziel. Er muß als seine Werkzeuge künstliche Begriffe bilden und die Erscheinungen auf künstliche Einheiten wie auf gemeinsame Nenner bringen; solche künstliche Einheiten sind die im sozialen Leben von uns gedachten Individuen selber, deren isoliertes Dasein und Werden vorgestellt wird zum Behuf der Erklärung aller der Zusammenhänge und Verbindungen, aus denen sie hervorgehen, wie aller derer, die sie als Neubildungen hervorbringen. Der ökonomische Mensch, der politische Mensch, der wissenschaftliche Mensch sind diese Individuen. Sie berühren sich vielfach und stehen in fortwährenden Wechselwirkungen miteinander. Sie haben miteinander gemein, daß sie beflissen sind, ihre Zwecke scharf ins Auge zu fassen und ihre Mittel danach einzurichten. Auf ein kühles, rechnendes Denken finden sie sich hingewiesen. Sie sind Rationalisten zugleich und Empiristen. Der Erfahrung entnehmen sie den Stoff, das vernünftige Denken gibt diesem die Form. Ihrem Wollen dient ihr Denken, aber das Denken

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verfügt frei über die Motive, d. h. es heischt auch Willensakte, die nur mit innerem Widerstreben, vielleicht mit Gewissensbissen vollzogen werden. Das vernünftige Streben ist seinem Wesen nach egoistisch und rücksichtslos, wenn auch das des ökonomischen Menschen zugleich auf das Wohl seiner Familie, das des politischen Menschen auf das Wohl seines Landes und Staates, das des wissenschaftlichen auf das Wohl der ganzen Menschheit gerichtet sein mag. Das neue Allgemeine, zu dem das isolierte Individuum sich in Beziehung setzt, das es bejaht, um es zu erwerben, zu erobern, zu beherrschen, ist seiner Natur nach unbegrenzt und universal. Es ist die „Welt" oder die Menschheit, die der Kaufmann im Verkehr von sich abhängig zu machen, die der Staatsmann als Welteroberer sich zu unterwerfen oder doch als seine Mitbürger zu regieren, die der Wissensmann zu erkennen und, sofern er auch Geist schaffen will, zu bilden sich vorsetzt und beflissen ist. Hier wird auf Ideale hingedeutet, von denen das letzte als das sittliche Ideal der Humanität die Veredlung der menschlichen Seele durch Erkenntnis in sich schließt. Tatsächlich hat diese immer einen gewissen Anteil an der gesamten Entwicklung, deren Ergebnis Individuum und Individualismus sind: die Entfernung von den Gemeinschaften ist zum guten Teil auch Entfernung von urwüchsiger Roheit, von Engherzigkeit und einfältigem Aberglauben; der individualisierte Mensch ist auch der gebildete Mensch. Aber andererseits tritt an die Stelle eines brutalen Egoismus der raffinierte Egoismus, und dieser hat weit mehr typische Bedeutung: er ist unbedingt, prinzipiell, definitiv, während jener naiv, gelegentlich, zufällig, wenn er auch leicht, sobald ihm Klugheit beisteht, in diesen übergeht und um so mehr sich gefürchtet macht. Der brutale Egoismus ist an das natürliche Triebleben gebunden und bleibt immer von dessen Gewalt abhängig, ihn bindet die Vernunft und die Kultur, und zwar mit dem größten Erfolge die Vernunft als Gewohnheit, die Kultur als Sitte; aber auch die Vernunft als Besonnenheit, die Kultur als Glaube an göttliche Gewalten. Den raffinierten Egoismus enibindet die Vernunft und die Kultur ... Vernunft, indem sie den Menschen lehrt, die zweckmäßigen Mittel zu erfinden und zu ergreifen, um sich zu behaupten, sich zu fördern und Gewinn zu erzielen; Kultur, indem sie die Bahnen für solches Streben freier macht, indem sie auch den Abgeneigten anregt oder gar nötigt, im Wettbewerbe skrupellos in der Wahl seiner Mittel zu werden und die Scham zu unterdrücken.

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Der individuelle Mensch steht also im Schnittpunkte der 2 Diagonaten, die wir denken mögen als Anfangs- und Endpunkte einer Kulturentwicklung verbindend: er geht hervor aus Gemeinschaft, er gestaltet Gesellschaft. Gemeinschaft ist ihrem Wesen nach begrenzt und tendiert zur Intensität, Gesellschaft ist ihrem Wesen nach grenzenlos und tendiert zur Extension. Sie ist die „Welt". Das isolierte Individuum ist seinem Wesen nach Weltbürger, Burckbardt nennt den Kosmopolitismus eine höchste Stufe des Individualismus, dessen Morgendämmerung er schon im Italien des 13. Jahrhunderts wahrzunehmen glaubt. Erst im 17. Jahrhundert scheint der Ausdruck „Weltbürger" für weitgereiste vorurteilsfreie Leute aufgekommen zu sein, im 18. Jahrhundert stieg das Weltbürgertum zu seiner Blüte empor, um im 19. Jahrhundert wiederum hinter dem Nationalismus zurückzutreten. Aber die moderne Nation, insbesondere wo sie durch einen großen Staat dargestellt wird, ist in weitem Maße Erfüllung seines Strebens, obwohl sie andererseits es beschränkt und als Ergebnis eines Kompromisses mit entgegenstehenden Tendenzen aufgefaßt werden darf. Die Nation ist, im Unterschied vom Volke, ein neuzeitliches Gebilde und eben als solches ein künstliches Gebilde, ein aus dem Bewußtsein vieler und ihrem politischen Willen hervorgegangenes Gedankending. Natürlich tritt dies im Sprachgebrauch nicht rein zu Tage. Es ist auch im Denken fast nie klar und lauter anzutreffen. Der Gedanke ist vermischt mit Gefühlen aller Art, die eigentlich mit der Vorstellung des Volkes verbunden sind und daran haften. Fr. J. Neumann gelangt in seiner sinnreichen Untersuchung über „Volk und Nation" (Leipzig 1888), beinahe zu seiner eigenen Verwunderung auf folgendes Ergebnis. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß die geistig führenden Elemente auch den abseits liegenden Gebieten, auch den nach ihrer Bildung an dem Leben und Schaffen der geistigen Zentren weniger teilnehmenden Kreisen ihren Sonderstempel aufdrücken, könne man das Entstehen von Nationen „in gewissem Sinne" ein Werk der Neuzeit nennen. „Erst die erweiterte Schulbildung der Neuzeit, die erweiterte allgemeine Bildung überhaupt und die mit der großartigen Entwicklung der Kommunikationsmittel und der Presse eingetretene Möglichkeit umfassenden Gedankenaustausches, auch den unteren Klassen gegenüber, bereitete den Boden für jene assimilierte Menge, die wir heute Nation nen7 Kosmopolitismus:

Vgl. Burckhardt, 1860: 135.

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Schriften

nen". Und Neumann erkennt auch den weitgreifenden, ja entscheidenden Einfluß des Staatsgedankens auf die Idee der Nation, sofern sie psychologische Wirklichkeit hat und soziologische Kraft betätigt. Es wäre sonst, meint er, schwer zu erklären, weshalb gerade Staatsgrenzen, auch da, wo sie keineswegs als natürliche, durch Berg und Tal, Strom oder Meer gegebene Grenzen erscheinen, so vielfach auch die Grenzen der Nationalität „im hier in Rede stehenden Sinne" geworden seien. Allerdings haben die modernen Nationen einen Grundstock von Einwohnern, der seiner Abstammung nach sich als zusammengehörig denkt, und manche kleinere sind tatsächlich nichts als erweiterte, vergrößerte Volksstämme, durch gleiche Sprache, verwandte Sitten, Einheit des religiösen Bekenntnisses zusammengehalten, z. B. die 3 skandinavischen Nationen. Aber auch unter den kleinen Nationen sind andere, wie die belgische und die schweizerische, die aus Menschen weit auseinanderliegender Abstammung, auch verschiedener Sprache, verschiedenen Bekenntnisses zusammengesetzt sind. Und die kleinen Nationen sind nicht die typischen Nationen. Die großen Nationen aber sind mehr oder minder von gemischter Rasse. Sie absorbieren fortwährend fremde Elemente, zumal in ihren Hauptstädten und anderen Großstädten. Teilweise haben sie durch Eroberung Gebiete anderer Nationalität sich angegliedert; ausländische Arbeitskräfte ziehen sie heran, um Lücken der einheimischen auszufüllen oder diese zu unterbieten. Auch die dauernden oder zeitweiligen Ansiedelungen vermögender Ausländer vermehren sich fortwährend, die Naturalisierung wird, nach einer gewissen Wartezeit, jedem Ausländer, der nicht für staatsgefährlich gilt, gewährt. Der anschwellende Reiseverkehr k o m m t hinzu. Die Großstädte werden mehr und mehr als Weltstädte international. Der moderne Staat ist in der Hauptsache gleichgültig gegen die Abstammung, weniger gleichgültig gegen Reichtum und gegen die konventionellen Merkmale, wodurch die Roheit des Reichtums verziert wird: korrektes Religionsbekenntnis, Beherrschung der (oder einer) staatlich gültigen Sprache, Bekundung untertäniger Gesinnung und Vermeidung alles dessen, was in tonangebenden Kreisen Anstoß zu erregen geeignet ist. In alle diese Bedingungen schicken sich viele Ausländer besser als die meisten Inländer, insbesondere auch die nicht-eigentlichen Volksgenossen, wie die Juden, zumal wenn sie ihrer überlieferten Religion sich entäußern und die „nationale" Gesinnung im Sinne der Anpassung an die herrschenden Gewalten hinlänglich her7 „im hier in Rede stehenden

Sinne":

Vgl. N e u m a n n , 1888: 95, 99.

I n d i v i d u u m u n d Welt in der Neuzeit

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vorkehren. Schärfer als in Europa tritt der internationale Charakter moderner Nationen und ihre Bedingtheit durch den Staat, in der neuen Welt hervor. Die amerikanische Nation ist die Versammlung von Ansiedlern, die aus beliebigen Nationen stammen, von Indianern, die sie sich assimiliert oder mit denen sie sich vermischt haben, von befreiten Negersklaven und deren Bastarden. Sir Henry Maine bemerkt, daß fast alle zivilisierten Staaten ihre nationale Einheit von gemeinsamer Unterwerfung, in Vergangenheit oder Gegenwart, unter eine monarchische Gewalt ableiten; „die Amerikaner der Vereinigten Staaten z. B. sind eine Nation, weil sie einst einem Könige gehorchten". Ich würde sagen, daß sie es weit mehr heute sind, weil sie die demokratische Verfassung der Union als ihr gemeinsames Lebenselement anerkennen und verehren. In Europa hat allerdings die Macht und Habsucht der Fürsten dem Nationalisierungsprozeß mächtig vorgearbeitet. Sie betrachteten Territorien als Rittergüter, deren sie durch List oder Gewalt, durch Heirat oder Erbschaft sich zu bemächtigen strebten. Dies Streben hätte aber kaum immer Erfolge gehabt, wäre ihm nicht das Streben einer starken und erstarkenden Schicht, der werdenden Bourgeoisie, entgegengekommen. Diese Schicht, an deren Spitze immer die Kaufleute und die Fabrikanten (denen auch die progressiven Landwirte sich gesellen) nebst ihren bezahlten und freiwilligen Anwälten stehen, bedarf einer erweiterten und freien Wirtschaftssphäre. Für den Trustmagnaten ist der Staat oder das Reich eine besondere Assoziation für seine Zwecke, zu der aber alle Bürger beisteuern, namentlich für den Zweck, ihm ein großes Absatzgebiet zu sichern und auf dem ganzen Erdball für seine Interessen schützend oder sogar angreifend einzutreten. Wenn die Macht des Staates der Macht seiner Kompagnie entgegentritt, so muß er eben den Staat sich unterwerfen oder mit ihm paktieren. Individuum und Welt lassen sich unter vielen Gesichtspunkten, wie sie einander gegenseitig fordern und bedingen, wie die Nationen gleichsam stellvertretend für die „Welt" sich einschieben, betrachten, und diese Betrachtungen sind für das Verständnis der neuzeitlichen Geschichte, der ökonomischen, politischen und geistigen, wichtig. Von diesen vielen Gesichtspunkten werde hier nur ein einziger bedeutsamer herausgehoben. Der Gang der Entwicklung stellt sich am deutlichsten dar in bezug auf die sozialen Werte, die wir als das Gemeingut der Menschheit im 10 „ . . . Könige

gehorchten":

Vgl. M a i n e , 1887: 18.

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Schriften

weitesten Sinne verstehen mögen. Vieles bleibt vielen Menschen gemeinsam, materielle und ideelle Güter, andere werden ihnen gemeinsam, ideelle Güter durch Gedankenaustausch und Lehre, materielle durch mannigfache Verträge. Was zunächst diese betrifft, so geht die vorwaltende Tendenz bekanntlich auf Scheidung und Differenzierung, auf immer schärfere Ausbildung des Privateigentums. Am auffallendsten vollzieht sich dieser Prozeß im Eigentum am Boden, das reine und absolute Grundeigentum ist etwas spezifisch Modernes. Schärfer noch stellt sich das persönliche Eigentum dar an beweglichen Gütern, zumal wenn sie beliebig teilbar und in andere Güter umsetzbar sind, also am Gelde; und der Begriff des Eigentums wird als Vermögen ganz abstrakt gedacht, als prinzipiell unbeschränktes Verfügungsrecht einer Person über Sachen. Die Person ist regelmäßig individuelle Person, aber parallel mit der Ausbildung des individuellen Vermögens läuft diejenige des gesellschaftlichen Vermögens durch Assoziationen der Individuen. Sie sind für höchst mannigfache Zwecke bestimmt, vor allem zum Zwecke der Gewinnerzielung, des Geschäftes. Das Kapital wird verbunden um in einheitlicher Masse stärker zu wirken. Ohnehin bedeutet die Vergrößerung des Wirtschaftsgebietes Vermehrung gemeinsamer Güter. Denn es machen sich gemeinsame Bedürfnisse geltend, die zumeist von dem einen abhängig sind: dem des möglichst umfassenden, möglichst leichten Austausches und Verkehrs. Zum Teil werden diese Gemeinbedürfnisse selber durch private Unternehmungen gedeckt, zum größeren Teil aber machen sie öffentliche, also gemeinsame Veranstaltungen notwendig. Diese können in großen Massen entfaltet werden, ohne das Wesen einer auf Privatkapitalismus gegründeten Gesellschaftsordnung zu stören, diese vielmehr unterstützend und fördernd. Denn sie ist nicht durchführbar ohne den Staat und sein Wirken, also nicht ohne vielfache öffentlich-gemeinsame Anstalten und Güter. Analog dem Eigentum der Privaten ist die Gebietshoheit der Staaten. Das Verhältnis der Staatsgewalt zum Staatsgebiet wird auch als internationales Eigentum bezeichnet. Wenn daraus die Befugnis jedes Staates folgt, Fremde von seinem Gebiete auszuschließen, so steht doch nach modernem Völkerrechte in der Regel jedem das Gebiet zu dauerndem wie vorübergehendem Aufenthalt, zum Erwerb von Eigentum, auch von Grundeigentum, offen. Insofern gehört die Erde potentiell allen insgemein, nämlich allen, die sich einen Platz auf ihr zu erobern wissen. In deutlicherem aber und bestimmterem Sinne gilt dies vom flüssigen Teile der Erde, wenigstens von der großen Masse dieses Teiles, die das Meer

Individuum und Welt in der Neuzeit

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bildet. Und in derselben Periode, nämlich in der frühen Neuzeit, worin die schärfere Individualisierung der Staatsgebiete angestrebt und zumeist erreicht wurde, erfolgte auch Durchführung des Grundsatzes, daß das Meer frei sein, also allen Nationen gehören sollte. „So erscheint das Weltmeer heutzutage als die geographische Offenbarung der menschheitlichen Idee der Völkervereinigung" (v. Holtzendorff). Ein charakteristischer Streit entspann sich über die Frage im 17. Jahrhundert zwischen zwei großen Rechtsgelehrten, dem Holländer Hugo de Groot und dem Engländer John Seiden. Grotius verteidigte in einer Flugschrift des Jahres 1609 das Recht der Holländer auf den indischen Handel, gegen die Ansprüche der Spanier. Er behauptete als Regel des Völkerrechts, daß jedem Volke freistehen müsse, jedes andere zu besuchen und mit ihm Geschäfte zu machen. „Gott selber spricht dies aus durch die Natur, da er nicht will, daß alles, was das Leben bedarf, allerorten von der Natur geliefert werde; auch läßt er ja durch verschiedene Künste die verschiedenen Völker sich auszeichnen": was heute internationale Arbeitsteilung genannt wird, ist klar darin ausgesprochen. Grotius beruft sich, nach den Denkgewohnheiten seiner Zeit und des Mittelalters, auf die Communio primaeva; daß es gemäß dem ursprünglichen Naturrechte überhaupt kein Privateigentum gegeben habe; Eigentum (dominium) ja, „aber allgemein und unbestimmt"; das Privateigentum sei aus Okkupation herzuleiten. Daraus folge 1. daß Dinge, die nicht okkupiert werden können, oder niemals okkupiert worden sind, kein Privateigentum sein können; 2. daß alles, was von Natur so beschaffen sei, daß der Genuß des einen nicht durch gleichzeitigen Genuß beliebiger anderer beeinträchtigt werde, heute und für immer in derselben Verfassung bleiben müsse, in der die Natur es hervorgebracht hat, d. h. die Gemeinschaft daran sei zu wahren. Dahin gehöre wie die Luft, so das Meer; für den allgemeinen Gebrauch liege es da, sowohl zur Schiffahrt als zur Fischerei. Gegen diese kleine Streitschrift hielt es Seiden für notwendig, ein Buch von 5 6 7 Seiten (in-12°) zu schleudern. Er will im ersten Buche seines Mare clausum erweisen, daß das Meer nicht weniger als das Land, als Privateigentum

6 „ . . . Idee der Völkervereinigung": 19 Communio

primaeva:

29 als zur Fischerei:

Vgl. von Holtzendorff, 1870: 786.

(lat.) Rechtsgemeinschaft der Jugendlichen.

Vgl. Grotius, 1919: 24: „Jedes Volk kann ein anderes aufsuchen und

mit ihm Geschäfte machen"; siehe auch dort Seite 37 über „communio" und „dominium". 30 Seiden: Siehe Seidens „Mare clausum, seu de Dominio Maris libri duo", 1618 auf Veranlassung Jakob I. begonnen, 1636 auf Anordnung Karl I. beendet und veröffentlicht.

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Schriften

angeeignet zu werden geeignet sei, im anderen, daß der König von Großbritannien Herr des umgebenden Meeres als eines unteilbaren und beständigen Annexes des britischen Reiches sei. Die historische Ansicht Seidens war richtig; politische Herrschaft ist wenigstens über Binnenmeere und Küstengewässer immer in Anspruch genommen und ausgeübt worden; auch heute noch gelten die Hoheitsrechte über Eigentumsmeere und über Küstenstriche mindestens bis Kanonenschußweite. Und doch ist die Lehre des Grotius siegreich geworden; Mare liberum ist als oberstes Prinzip des internationalen Seerechts in unbestrittener Geltung. Es gab eben bis dahin kein Weltmeer, und die freie Befahrung, also eine Art von Gemeineigentum daran, war ein Postulat des eben seine Schwingen rührenden Welthandels. Bezeichnend genug, daß Holland durch seinen damals berühmtesten Schriftsteller die Forderung erhob, und daß dieser schon durch den Nebentitel („De jure quod Batavis competit ad indicana commercia") den praktischen Zweck seiner durch viele Zitate gestützten spekulativen Deduktionen des Naturrechtes unverholen kundgab. Die wahre Ursache, daß seine Lehre sich durchgesetzt hat, liegt aber nicht an ihrer Begründung durch primitiven Kommunismus und göttlichen Willen, der in der Natur der Sache und in den Gedanken der Menschen sich offenbare, sondern an ihrer Zweckmäßigkeit als einer Regel des allgemeinen Verkehrs. Sie beruhte nicht in der Vergangenheit, sondern war in die Zukunft gerichtet; blieb daher auch noch lange bestritten, die Polemik zieht sich durchs 17. und 18. Jahrhundert hindurch. Auf allen Gebieten zeichnet die Neuzeit dadurch sich aus, daß sie zweckmäßige Mittel erfindet, insbesondere Mittel für den universalen Austausch und Verkehr; und diese sind in bestimmtem Sinne immer Gemeingut der Welt, weil und sofern sie eben allgemein-menschlichen Zwecken dienen. In dieser Hinsicht wohnt allen Normen und Regeln die Tendenz inne, international zu werden. Die in strengerer Bedeutung gültigen Regeln des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere in bezug auf die Verhältnisse der Personen zu den Sachen, bilden das Recht. Das erste Entwickelungsgesetz des Rechtes, wie des Lebens selber, ist, daß es sich differenziert und sich lokalisiert. Wenn hierin ursprünglich natürliche und gemeinsame Regeln gleich bleiben und sich erhalten, so entstehen doch bedeutende Unterschiede aus allerhand Ursachen: verschiedenen Neigungen, Beschäftigungen, Le15 De jure quod Batavis competit ad indicana commercia: (lat.) Über das Recht, das die Holländer für den Handel mit den Eingeborenen beanspruchen.

Individuum und Welt in der Neuzeit

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bensweisen; durch Einflüsse von Individuen; aber auch durch Zufälle. Überall macht sich der besondere soziale Wille als Gewohnheit geltend. Gewohnheitsrecht ist die vorwaltende Form des echten Volksrechtes. Es bezieht sich vorzugsweise immer auf die beiden Gebiete des Privatrechtes, die in unserem BGB. den zweiten und dritten Teil bilden: auf das Sachenrecht und das Familienrecht; und im Sachenrecht hauptsächlich auf Besitz und Eigentum an Grund und Boden. Wie im Familienrecht noch heute, wenn auch abgeschwächt, so bewahrte das Gewohnheitsrecht auch im Land- und Lehnrecht gemeinschaftliche Ideen. Besonders klar zeigen sich nach Roscher im Lehnwesen die Eigentümlichkeiten des mittelalterlich-germanischen Rechts: daß es nämlich noch im ungelösten Zusammenhange mit Religion und Sittlichkeit stehe; daher jedes Recht zwar subjektiv eine Befugnis, zugleich aber auch ein von Gott verliehenes Amt sei, mit dem entsprechende Pflichten verknüpft sind. Auf die Gesinnung der Menschen lege das germanische Recht, „bereits in vorchristlicher Zeit", weit mehr Gewicht und strebe eine Gliederung an, genau entsprechend der Gliederung des sozialen Körpers, die es gern durch die Analogie des menschlichen realen Organismus veranschauliche. (Das war freilich eine Idealisierung; denn das Recht war, außer auf Gesinnungen der Gemeinschaft, der Ehre und Treue, immer auch auf Gewalt gegründet und kannte den Stand der Unfreien, unter Rittern wie unter Bauern.) Gegenüber der Spezialisierung, der das Privatrecht, besonders das der Familien, überall durch örtliche Gewohnheiten und Neigungen unterlag, will alles moderne Privatrecht so sehr als möglich gleich und allgemein-gültig sein. Dies ist die Idee des Naturrechts, von der auch das jüngere römische Recht durchdrungen war. Im römischen Recht, wie im Naturrecht, wie in den modernen Kodifikationen, die alle auf einer Kombination dieser beiden aufgebaut sind, herrscht der Gedanke der Gesellschaft, d. h. seiner Tendenz nach der allgemein-menschliche Gedanke, vor. Mit den Rechtsnormen nahe verwandt sind die Normen der Messung; die Regeln für Maß und Gewicht, also die geltenden Maße und Gewichte, und mit diesen wiederum die Münzen. Und alle diese Maßstäbe — wenn wir sie unter diesem Namen zusammenfassen — gehen durch eine analoge Entwicklung hindurch. Sie differenzieren und vermannigfachen sich, nach territorialen und lokalen Bedürfnissen, Anschauungen, Gewohnheiten — Naturalmaße und Ortssitten bedingen, was von uns 10 Lehnswesen:

Vgl. Roscher, 1874: 12 f.

330

Schriften

aus gesehen als bodenlose Zersplitterung und Unsicherheit erscheint (Schmoller); denn der Kaufmann, der zwischen so verschiedenen Orten vermittelt, muß sie zu verallgemeinern wünschen; und erreicht schon viel, wenn es gelingt, einheitliche Maßstäbe über ein großes Wirtschaftsgebiet hin, sei es ein nationales oder bundesstaatliches, oder mehrere benachbarte Gebiete hin, durch Konventionen und Gesetze zu etablieren. Sein Streben geht weiter: er möchte sie international machen, gleiche für die ganze Menschheit, wenigstens die am Weltverkehr regelmäßig teilnehmende. Und schon ist es gelungen, wenigstens das künstlich geschaffene metrische System für Maß und Gewicht über den größten Teil von Europa auszudehnen. „Der Wunsch einheitlicher Regelung des internationalen Zahlungsverkehrs durch Schaffung einer (Weltmünze) wird zwar je länger desto mehr empfunden, seiner Erfüllung standen aber bisher unüberwindliche Schwierigkeiten im Wege", so lesen wir in dem Werke „Volkswirtschaft und Weltwirtschaft" (S. 293). In einigem Maße vertreten die auf London gezogenen Wechsel die Stelle eines solchen Weltgeldes. Ähnlich, aber mit andersartiger Schwierigkeit behaftet, ist die Tendenz zu gemeinsamer Zeitmessung; denn hier sind die Unterschiede an Naturvorgänge geknüpft. Einstweilen hat der Verkehr wenigstens eine „mitteleuropäische" Zeit durchgesetzt, die auch als Eisenbahnzeit bezeichnet wird und im Deutschen Reiche durch Gesetz zur Einheitszeit gemacht wurde. Längst ist auch eine Universalzeit angeregt worden und sollte wenigstens für wissenschaftliche Zwecke erreichbar sein. Wissenschaft vor anderen Mächten fordert das Allgemeingültige; in der Mathematik, der Astronomie und der von ihr abhängigen Zeit-Rechnung ist sie am entschiedensten siegreich. Japan hat die europäische Chronologie angenommen, China wird bald nachfolgen. Ein Universalalphabet, das der deutsche Gelehrte Lepsius erfunden hat, wird zur Ausgleichung der Aussprachweisen und zur phonetischen Fixierung ungeschriebener Sprachen angewandt. — Alle Zeichensysteme dienen zur Verständigung; aber das wichtigste ist die Sprache, die so ganz ein gemeinschaftliches Erzeugnis ist, so mit den Seelen der Menschen verwachsen, daß sie wie ein Naturprodukt erscheint und noch vor 100 Jahren zumeist für eine göttliche Gabe gehalten wurde. Die wirklich gesprochene Sprache ist ein Or-

2 Schmoller.

Vgl. Schmoller, 1904: II, 63.

14 „... Schwierigkeiten 28 Lepsius:

im Wege": Vgl. Harms, 1912.

Vgl. dessen (1855, 1863): „Standard alphabet for reducing unwritten language,

and foreign graphic systems for a uniform orthography in European letters".

Individuum und Welt in der Neuzeit

331

gan des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, das mit diesem sich spezialisiert in Dialekten und Mundarten, in Jargons und Sondersprachen, die nur in engsten Kreisen verstehbar sind. Aber innerhalb dieser Entwicklung erhält und erneuert sich einerseits das Gemeinsame einer Sprache, das Stämme und ganze Völker verbindet, andererseits bildet sich, und wird gegen und über die Differenzen ausgebildet, eine allgemeine, mehr oder minder nationale „Schriftsprache", die auch die Sprache des öffentlichen Lebens, also die Staatssprache wird, und durch Literatur und Presse zu entschiedenster Geltung gelangt. In der Menschheit aber — sogar innerhalb der Staaten — bleibt die Mannigfaltigkeit der Sprachen groß; und das Bedürfnis einer Weltsprache, wenigstens einer universalen Hilfssprache für wissenschaftliche Zwecke, macht schon seit Jahrhunderten sich bemerkt. Tatsächlich hat die lateinische Sprache im Orbis Terrarum des römischen Reiches, daher bis in die Neuzeit hinein, die Bedeutung eines internationalen Verständigungsmittels erlangt, und besitzt sie noch für das Bereich der römischen Kirche; die französische Sprache hat seit dem 17. Jahrhundert allgemeine Geltung für die europäischen Höfe und den Verkehr der Staaten; das Englische herrscht, insbesondere als kommerzielle Sprache, auf einem großen Teile des bewohnten Erdballes. Eine künstliche Weltsprache aus Elementen der natürlichen zu machen, ist nicht allzuschwer; sie zu allgemeiner Anerkennung und Anwendung zu bringen, sehr viel schwerer. Aber die Möglichkeit, durch Konventionen und Gesetze diesem Ziele näher zu rücken, läßt sich nicht verkennen; die noch vorherrschende Abneigung gegen so unschöne Homunculus-Gebilde wird voraussichtlich, wie auf anderen Gebieten, nachgeben. „Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, Das wagen wir verständig zu probieren. Und was sie sonst organisieren ließ, Das lassen wir krystallisieren." Diesen Zug haben alle Werke und Leistungen eines individualistischsozialistischen Zeitalters miteinander gemein. Die künstliche Synthese scheidet sich säuberlich ab von den Produkten der zeugenden Natur, denen die lebendigen Kunstwerke im Geiste verwandt sind. Mehr oder minder und, je neuer desto mehr, tragen alle Gebilde der Neuzeit die 30 „ . . . lassen wir krystallisieren": XIV, 88.

Vgl. Goethe, Faust II, 6860, in: Goethe, 1902 — 1912:

332

Schriften

Züge des Unlebendigen in und an sich. Es sind mechanische Gebilde: sie haben keinen Wert, außer in bezug auf ihren Zweck, den äußeren Vorteil den sie gewähren; sie entspringen der kalten kalkulierenden Vernunft: der Nutzen ist, wie Schiller schon klagte, das große Idol der Zeit. Eben darin liegt auch die überwältigende Größe dieser Gebilde; sie stellen in der Tat Triumphe des menschlichen Geistes dar. Nicht ohne Grund sind wir stolz auf diese mächtige europäische Zivilisation des 19. und 20. Jahrhunderts, unter der wir doch leiden und seufzen. Sie hat unserm Leben vieles geraubt: Ruhe, Würde, Sinnigkeit und gar viel von der stillen Schönheit, die wir hie und da noch in einem Dorfe oder einer kleinen Stadt ahnend empfinden. Aber sie hat unser Gedankenleben und dadurch auch unser Gemütsleben mit ungeheuren Spannungen erfüllt, die uns über alles Alltägliche, und sogar über den Genuß des Schönen und Guten, hinausheben, weil wir den großen intellektuellen Genuß haben, weiter zu schauen, als je ein Zeitalter vor uns vermochte, unsere Wißbegierde und Neugier immer neu zu befriedigen, weil wir uns glücklich preisen, die Ursachen und Wirkungen der Dinge zu erkennen, und der Welt in allen ihren schönen und häßlichen Erscheinungen mit Bewunderung, in einigen M a ß e auch mit Verständnis gegenüber zu stehen. — Die moderne Kultur ist in einem unaufhaltsamem Zersetzungsprozeß begriffen. Ihr Fortschritt ist ihr Untergang. Das ist schwer zu denken, und noch schwerer ist es, sich darin zu finden, es zu bejahen und doch an diesem Prozeß wollend, ja heiter mitzuwirken, die Tragödie anzuschauen, sich hindurchringend durch Furcht und H o f f n u n g , um beide von sich abzutun und die reinigende Wirkung des Schauspiels zu genießen. Das zu leisten vermag die Erkenntnis, wenn sie in Philosophie — als Weltweisheit — sich zu wandeln reif geworden ist.

4 das große Idol der Zeit: „ D e r N u t z e n ist d a s g r o ß e Idol der Zeit, d e m alle K r ä f t e f r o n e n u n d alle Talente huldigen sollen." - Vgl. Schiller (1871: X , 277): „Über die ästhetische E r z i e h u n g des Menschen in einer Reihe von Briefen. Z w e i t e r Brief" [1795].

[Der statistische Hochschulunterricht] Ich m ö c h t e II, 1 wesentlich einschränken. Die Belastung der Juristen mit neuen Pflichtkollegien, denen sie sich in praxi

aller Wahrscheinlichkeit

nach entziehen werden, führt zu einer Art von öffentlicher Demoralisation. W i r müssen zufrieden sein, wenn den Verwaltungsjuristen der Besuch statistischer Übungen auferlegt wird. Ich beantrage, II, 3 zu streichen. Vorschläge über die Art des Unterrichts können nicht gut gemacht werden. Die Dinge müssen dem Takt und den Prinzipien des akademischen Lehrers überlassen werden. Ich verzichte persönlich gern auf anschauliche Hilfsmittel und will vor allen Dingen logisch denken, die Statistik kritisch aufnehmen lehren. Z u II, 4 herrschen in Kiel bereits befriedigende Zustände, da E x t r a o r dinarien in Statistik prüfen. Den Absatz 4 von II, 4 beantrage ich zu streichen. Es liegt uns auf den Universitäten zu fern, uns mit solchen Fachprüfungen zu befassen. Dies ist einem Ausschuß von Fachleuten zu überlassen. Auch Punkt II, 5 beantrage ich als unwesentlich zu streichen. Die Prüfung ist regelmässig mit derjenigen in Volkswirtschaftslehre verbunden. Sie dauert 4 0 Minuten. Dabei w a r in Kiel Philosophie obliga1 [Der statistische

Hochschulunterricht]:

Zuerst, ohne Titel, in: Deutsches Statistisches

Zentralblatt 1913, 5. Jg., Beilage (zu Nr. 2 [Deutsche Statistische Gesellschaft. Niederschrift der Verhandlungen der zweiten Mitgliederversammlung in Berlin am 22. und 23. Oktober 1912]), Sp. 13, 52, 54, 56, 58, 6 0 f . , 62, Leipzig/Berlin (Teubner). Bei diesen Textstücken handelt es sich um Teile der Niederschrift der „Verhandlungen der Zweiten Mitgliederversammlung der Deutschen Statistischen Gesellschaft vom 22. — 23. Okt. 1912 an der Handelshochschule in Berlin". Darüber ausführlicher im Editorischen Bericht, S. 6 8 8 - 6 9 1 . 2 Ich möchte

II, 1 wesentlich

einschränken:

Zur Thematik der Anträge und zum Abstim-

mungsverhalten von Tönnies, das er in den nächsten vier Absätzen zum Ausdruck bringt und begründet, siehe den Editorischen Bericht, ebd. is Die Prüfung:

Tönnies' Stellungsnahme bezieht sich hier auf das Thema „Statistik als

Prüfungsfach"; die folgenden Antworten beziehen sich dann auf die Themen „Die in Verwendung stehenden statistischen Lehr- und Lehrmittel" (im Original S. 54; hier ab S. 334, Zeile 19), „Umfang des Unterrichts und Art seiner Behandlung bei den Vorlesungen" (S. 56; hier ab S. 335, Zeile 1), „Die Frage der statistischen Pflichtkollegien" (S. 58; hier ab S. 335, Zeile 11). „Der Unterrichtsbetrieb in den Seminarien" (S. 60; hier ab S. 335, Zeile 22), „Die Einrichtung der praktischen Kurse für statistische und andere

334

Schriften

torisches Nebenfach. Sie soll jetzt abgeschafft werden. Man muß sich notgedrungen bei einer solchen Prüfung auf die Erkundung von Kenntnissen beschränken, die ihrer Natur nach ziemlich enzyklopädisch sind. Die Untersuchung, ob der Kandidat statistisch denken gelernt habe, würde fast regelmäßig ein negatives Ergebnis haben. Es gehört dazu Begabung und sehr viel Übung. Die Doktorprüfungen in diesen Fächern waren zufällig in den letzten 2 Semestern sehr gering an Zahl. In den vorhergehenden Semestern waren es ersichtlich mehr (5 — 7 pro Semester). Die Dissertationen sind regelmäßig nationalökonomische, neuerdings durch die von Herrn Prof. Harms ausgehenden Anregungen öfter aus dem Gebiete der Weltwirtschaft, wobei mit statistischen Daten stark operiert wird. Prof. Harms legt dabei ein großes Gewicht auf die Anordnung in Statistik. Der Dozent kann sich freilich auf wirtschaftliche Statistik wenig einlassen. Für ihn handelt es sich wesentlich um Demographie und Demologie. Die eigentliche Schulung hierin lohnt sich nur für intelligente Leute, die Statistiker von Fach werden oder aus anderen Gründen die Sache intensiv betreiben wollen. Sonst findet man nur Dilettantismus. Im Staatswissenschaftlichen Institut, dessen Direktor Prof. Dr. Harms, ist eine Abteilung für Statistik, die der Leitung des Dozenten untersteht. Dazu gehört eine Bibliothek, in der nicht nur die gangbaren statist. Lehrund Handbücher, sondern auch mannigfaltige andere Literatur sich befindet. Die Statistik des D. R . besitzt die Abteilung in den Monats- u. Vierteljahrsheften vollständig. Die Vierteljahrshefte werden jetzt vom Kaiserl. Stat. Amt geliefert, ebenso die Zeitschrift des Kgl. Pr. Statist. Landesamtes von diesem Amte. Die übrigen statist. Zeitschriften werden gehalten. Übrigens sind wir beflissen, die statist. Jahrbücher wenigstens in den neuesten Jahrgängen vollständig zu erhalten.

niedere und mittlere Verwaltungsbeamte" (S. 60 f.; hier ab S. 336, Zeile 1), „Der wissenschaftliche Betrieb in den Forschungsinstituten" (S. 62, hier ab S. 336, Zeile 4). Zu den ebenfalls verhandelten Themen „Die Einrichtung der Kurse für höhere Verwaltungsbeamte" und „Volkstümliche Hochschulkurse" hat sich Tönnies nicht geäußert. Tönnies urteilte aus praktischer Erfahrung: am 31. Dezember 1908 erfolgte seine Ernennung zum beamteten Extraordinarius mit der Verpflichtung, die wirtschaftlichen Staatswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Statistik in Vorlesungen und Übungen zu vertreten. 24 Vierteljahrshefte:

„Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs", hgg. v. Kaiser-

lichen Statistischen Amt, Berlin 1891 ff. „Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs", hgg. v. Kaiserlichen Statistischen Amt.

[Der statistische Hochschulunterricht]

335

Der Umfang ist notwendigerweise sehr beschränkt. Außerordentlich wenige haben den ernsten Willen, mehr zu leisten, als notwendig ist, um eine Doktorprüfung zu bestehen. Von diesen wenigen haben einige schon, wenn sie nach Kiel kommen, die Vorlesungen Herrn v. Mayrs gehört. Die Behandlung des Stoffes ist erschwert durch den Umstand, daß leidlich Kundige neben völligen Neulingen sitzen. Der Dozent hält sein Augenmerk hauptsächlich darauf gerichtet, vor statistischen Fehlschlüssen, überhaupt vor unkritischer und Pseudo-Statistik eindringlich zu warnen. Seine neue Methode zur Vergleichung statistischer Reihen hat der Dozent mehrfach mit entschiedenem Erfolge vorgetragen. Solche gibt es in Kiel nicht. Theoretische u. praktische Nationalökonomie zu belegen wird ja in Preußen von den Studierenden der Rechte verlangt. Manche von diesen scheinen zu denken, ein bißchen Statistik wird sich auch gut auf dem Papiere machen. Nach des Dozenten Ansicht sollten alle Vorlesungen gratis sein; man könnte von den Studierenden eine Pauschalsumme erheben; die in jeder Fakultät verschieden sein dürfte und am liebsten nach dem Einkommen (Wechsel) der einzelnen abgestuft würde. Dann würde der Dozent die „Nichts-als-Beleger" fernhalten u. von vornherein es darauf anlegen, daß er nur mit seriösen Studierenden zu tun hätte. In solchen Klassen würde ich dann proponieren, daß Geldkosten für versäumte Stunden erhoben würden. Auch hier ist der Übelstand, daß man zu verschieden geartetes Material an Schülern hat. Den Betrieb hat der Dozent auf verschiedene Weise versucht u. kann immerhin mit dem Interesse, dem er in erkennbarer Weise begegnete, zufrieden sein. Seit einigen Jahren läßt er die Teilnehmer kleine Vorträge halten, zu denen er die Themata im Anfang des Semesters gibt, möglichst im Zusammenhang mit irgendwelchem Studium, worin sie sich schon betätigt haben oder noch betätigen. Das vorige Semester eröffnete der Dozent damit, daß er einen Referenten u. einen Korreferenten über Oldenbergs Aufsätze betreffend Sinken der Geburtenrate nacheinander berichten ließ. Auch im Seminar weist der Dozent auf die vielen Urteilsfehler, die in landläufigen Erörterungen über Statistik vorkommen, nachdrücklich hin.

9 Seine neue Methode

zur Vergleichung

statistischer

Reihen:

Vgl. die Schriften von Tön-

nies „Eine neue Methode zur Vergleichung statistischer Reihen", in: Deutsches Statistisches Zentralblatt, 1909, 2. Jg., Sp. 221—222 und „Eine neue Methode zur Vergleichung statistischer Reihen", in Schmollers Jahrbuch, 1909, 33. Jg., S. 699—720. 30 Oldenbergs

Aufsätze:

vgl. o. S. 288.

336

Schriften

Solche könnten sehr nützlich sein. Unter den Hospitanten des Dozenten sind auch Beamte vertreten, z. B. Polizeibeamte, Oberpostpraktikanten, Oberlehrer etc. Über ein zu bildendes Forschungs-Institut u. deren etwaige statistische Aufgaben habe ich mich auf Einladung ausgesprochen in einer Enquête, 5 veranstaltet durch J. Kohler, Fr. Liszt, Berolzheimer. Das Ergebnis der Umfrage ist nicht im Handel (Berlin, Leipzig, Vahlen 1911) erschienen. Ein statistisches Forschungsinstitut tut uns bitter not.

5 Enquête:

Kohler, von Liszt, Berolzheimer 1910/11: 190—224. Die ( b e f ü r w o r t e n d e ) Ant-

w o r t T ö n n i e s ' auf den Seiten 220—224.

[Der Rückgang der Geburten und Sterbefälle] Eine erschöpfende Antwort auf die Darstellung des Herrn Referenten müßte ein ganzes Buch sein. Ich möchte auf ein gewisses M a n k o bei den bisherigen Forschungen hinweisen, auf ein Fehlen der Detailuntersuchung des Rückgangs der allgemeinen Geburtenziffer auf Grund Band 223 der deutschen Reichsstatistik. Dort haben wir Vergleichungen und eine Tabelle, wo die jedesmalige Verminderung und Vermehrung dieser absoluten Ziffern dargestellt ist. Man muß, um diese Abnahme richtig zu würdigen, diese auch noch relativieren, d. h. sie auf die Geburtenziffern von 1894/96 beziehen. Ich habe mich dieser Arbeit unterzogen in bezug auf 14 X 20 preußische Kreise der östlichen Provinzen mit Einschluß der Provinzen Sachsen und Schleswig-Holstein. Hinsichtlich meiner Methode muß ich auf eine eingehende Darstellung verweisen, die ich im

Archiv

für

Sozialwissenschaft

und Sozialpolitik

veröffentlichen

werde. Ich habe für alle diese Kreise die Verhältnisse untersucht, in der die Einkommens- und die Ergänzungssteuer, zu der die Bevölkerung veranlagt ist, stehen. Das Verhältnis der zur Vermögenssteuer Veranlagten auf Tausend der Bevölkerung ist im Durchschnitt auf dem Land etwas höher als in den Städten, während das Verhältnis der zu Einkommensteuern Veranlagten auf dem Land geringer ist. In allen 14 Gruppen von je 20 Kreisen findet sich ein negatives Verhältnis zwischen der Geburtenziffer 1894/96 und der Quote der Bevölkerung auf dem Lande, die zur Ergänzungssteuer veranlagt ist, während das Verhältnis zu den zur Einkommensteuer Veranlagten nicht so eindeutig ist. Das entspricht der Tatsache, daß hier entgegengesetzte Tendenzen gegeneinander ringen. Die

i [Der Rückgang

der Geburten

und Sterbefälle]:

Zuerst, ohne Titel, in: Deutsches Statisti-

sches Zentralblatt 1913, 5. Jg., Beilage, Sp. 21, Leipzig/Berlin (Teubner). Der Diskussionsbeitrag Tönnies' bezog sich auf das Referat „Der Rückgang der Geburten und der Sterbefälle", gehalten von Karl Oldenberg, ebd., Sp. 14—21. Weitere Diskutanten waren Julius Wolf, Ladislaus von Bortkiewicz (Berlin), Carl Ballod (Berlin), Henriette Fürth (Frankfurt/M.), Rudolf Goldscheid (Wien), Richard Silbergleit (Berlin), Regierungsrat Heinrich Hoepker (Berlin), Dr. Roesle (Dresden), Dr. Busch, Prof. Neefe (Breslau), Geheimrat Eugen Würzburger. Vgl. dazu im weiteren den Editorischen Bericht, S. 692. 6 Reichsstatistik: 15 veröffentlichen

s. o. S. 293. werde:

Siehe Tönnies, GBB, S. 1 5 0 - 7 3 , 7 6 7 - 7 9 4 , hier S. 4 1 9 - 4 7 8 .

338

Schriften

Ergänzungssteuer ist auf dem Land durchweg charakteristisch für die Ausdehnung der bäuerlichen Betriebe. Und ich habe mit zwei Ausnahmen einen Gegensatz zwischen der Ergänzungssteuer und der Ausdehnung des Großbetriebes gefunden. Dagegen steht die Geburtenziffer 1894/96 zum Anteil der Großbetriebe an der Fläche durchweg mit einer 5 einzigen Ausnahme in einem positiven Verhältnis. Die Geburtenziffer auf dem Land ist wesentlich Funktion der Verbreitung der großen Güter und der landwirtschaftlichen Tagelöhner. Sie ist nicht charakteristisch für die Verbreitung des bäuerlichen Besitzes. Es besteht ein ebensolcher Gegensatz zwischen dem Großbetrieb und der Einkommensteuer. Das weist 10 auf verwickelte Verhältnisse hin und ich muß auf eine spätere Darstellung dieser Dinge verweisen. Wenn der Herr Referent meint, daß der Rückgang der Geburten bedingt sei durch den städtischen Charakter vieler Landgemeinden, so muß schließlich noch bemerkt werden, daß es sich da hauptsächlich um Fa- 15 brikdörfer handelt, die besonders im rheinisch-westfälischen Fabrikbezirk vertreten sind und von 1894/96—1904/06 eine Zunahme der Geburtenziffer zu verzeichnen haben.

Harald Höffding zum 11. März 1913 Der Philosoph nimmt eine besondere Stellung ein in der Gelehrtenrepublik. Vielfach wird ihm eine überragende Stellung zugeschrieben und die Philosophie ist oft die Königin der Wissenschaften genannt worden. Auf der anderen Seite blicken die Einzelforscher, besonders die Naturforscher zuweilen nicht ohne einige Geringschätzung auf den Philosophen, der wohl gar sich einbilde, aus seinem eigenen Kopfe das Wissen spinnen zu können, das der Forscher mühsam aus den Schächten der Erfahrung zu graben genötigt sei. Die Philosophie wird dann wohl mit der Theologie in einen Kessel geworfen, worin nichts als Schutt der Vergangenheit aufbewahrt werde. Wirklich hat die Philosophie ein altes historisches Verhältnis zur Religion und Theologie, zum guten Teil freilich ein feindseliges, das aber immer wieder in gegenseitige Annäherung übergegangen ist. Die katholische Theologie hat noch immer ihre eigene Weltweisheit, die ihr dazu dienen muß, ihre Dogmatik gegen heidnische und ketzerische Angriffe zu verteidigen. Protestantische Theologie ist in diesen wie in vielen anderen Beziehungen unsicher und gespalten. In der Regel ist sie aber genügsam und ist schon dankbar dafür, wenn die Philosophie ihr einige Einräumungen macht und nicht unbedingt mit der (angeblich materialistischen) Naturwissenschaft gemeine Sache macht. Tatsächlich hat sich mehr und mehr eine Entfernung der Philosophie von der Theologie und eine Annäherung an die positiven Wissenschaften vollzogen. Der richtig verstandene Kant wollte in dieser Hinsicht nichts anderes, als was Herbert Spencer auszuführen gewagt hat, und diese wissenschaftliche Tendenz ist durch Auguste Comte als Programm der positiven Philosophie entfaltet worden. i Harald Höffding zum 11. März 1913: Zuerst in: Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens 1913, 12. Jg., Nr. 24 (2. Märzheft), S. 901 — 907. Von diesem Artikel über Tönnies' berühmten dänischen Freund Höffding sollen noch zwei weitere Fassungen existieren: „Harald Höffding. 11. Marts 1913", in: Tilskueren. Maanedsskrift for Literatur, 1913, S. 233—239; sowie: „Harald Höffding", in: Ny Tid vom 10. 3. 1913. Bei letzterem handelt sich dabei wohl um das Organ der 'Scandinavian socialist federation', Chicago. Der Hinweis von Else Brenke (1936: 392) auf diese Artikel konnte bislang nicht verifiziert werden.

340

Schriften

Diese Philosophie läßt sich den ganzen Stoff der Erkenntnis durch die einzelnen systematisierten Wissenschaften überliefern und sie macht nur darauf Anspruch, die Einheit dieser Erkenntnis herzustellen und darzustellen. Sie beruht auf der Erfahrung, aber sie besteht darauf, daß Erfahrung durch Denken gestaltet und beherrscht werden müsse, und sie setzt sich die Aufgabe, die Normen des richtigen Denkens in diesem Sinne, also die Logik als Wissenschaftslehre zu bearbeiten. Überdies aber behält sie ein Gebiet sich vor, das zum Erkennen der Welt im allgemeinen sich ähnlich verhält wie in bezug auf einzelne Wissenschaften die Lehre von der richtigen Anwendung der Naturgesetze auf praktische Probleme: die Technologie. Aus der Weltanschauung soll eine Lebensanschauung abgeleitet werden, dazu darf sogar die Logik in ihrem tieferen Sinne gerechnet werden. Sie will die Natur des Wahren und die Grenzen seiner Erkenntnis beschreiben, um zum richtigen Gebrauch der Denkmittel anzuleiten, der Denkmittel, die zum guten Teil erst innerhalb der einzelnen Wissenschaften ausgebildet, ja erfunden worden sind. Ebenso will die Ethik das Gute und im höchsten Sinne Richtige beschreiben und erwartet durch die Förderung des Verständnisses der menschlichen Tugenden und Pflichten auch ihre Pflege und Betätigung zu ermutigen. Als philosophische Ethik im heutigen Sinne kann sie dies nur als Folge einer wissenschaftlich begründeten Weltanschauung ins Auge fassen. Endlich ist auch die Ästhetik als Lehre von der Kunst und vom Schönen eine Normwissenschaft, die eine Gestaltung des Lebens darstellt und bejaht, zu der sie aus Erkenntnis der Gesetze des Seins die Gesetze des Willens oder des Seinsollenden hervorzulocken wagt. Die Ethik steht im Mittelpunkte dieser Disziplinen. Sie ist die Lehre vom Wertvollen schlechthin und um der Idee des Guten willen, wie Plato in der Republik sie verklärt hat, wollen und sollen wir auch das richtige Denken und das künstlerische Schaffen ehren und schätzen: um im Wahren, Guten, Schönen resolut zu leben.

I. Harald Höffding, der in diesem Jahre (am 11. März) ins Patriarchenalter eintritt, gehört zu den Führern des Gedankens im gegenwärtigen Zeitalter, weil er die Philosophie im hier bezeichneten Sinne mit großem Erfolge vertritt. Als akademischer Lehrer ist er eine Leuchte Skandinaviens geworden, als philosophischer Schriftsteller hat er auf dem ganzen Erdball bedeutenden Einfluß gewonnen. Die Begründung der Ethik ist

Harald Höffding zum 11. März 1913

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das vornehmste Ziel seiner Arbeiten gewesen. Er hat immer darauf hingewirkt, daß die Philosophie, und zwar besonders die Sittenlehre, einen möglichst wissenschaftlichen Charakter erhalten möge, aber er legt zugleich großen Wert darauf, zu erklären, daß der besondere Reiz, womit seit seiner frühesten Jugend das philosophische Studium auf ihn gewirkt habe, damit zusammenhänge, daß ihre Stoffe zur Persönlichkeit des Forschers in einem näheren Verhältnisse stehen als die Gegenstände anderer Wissenszweige. Durch dies Bekenntnis wird zugleich angedeutet, welche Grenzen die Ethik sich notwendig setzen muß. Guten Willen kann sie nicht erzeugen, nicht einmal begründen, sie muß ihn voraussetzen. Da aber der gute Wille seinem Wesen nach etwas ganz Allgemeines und Formales ist, so wird die spezielle Auffassung seines Wesens und seiner Wirkung immer die Tinktur eines persönlichen Denkens, einer persönlichen Gesinnung an sich tragen. Sie wird von subjektiven Elementen sich nicht frei halten können und auch nicht wollen. Daher wird ihre Wirkung zum guten Teil auf der persönlichen Sympathie beruhen, die der Darsteller für sich und seine Denkungsart zu gewinnen weiß. In dieser Hinsicht berührt sich der Philosoph mit dem belletristischen Autor, ja mit dem Dichter. Der Vortrag macht sein Glück, wie das des Redners, aber nicht der Vortrag allein, sondern die Wärme der Seele, woraus der Vortrag quillt, der Geist der Liebe, dem auch der allen Wahngebilden fremde, ja feindliche Mann der Wissenschaft eine religiöse Bedeutung zuzuschreiben geneigt ist. Höffdings Ethik ist von diesem Geiste erfüllt, der in dem Ideal der Humanität seinen starken und bewährten Ausdruck hat. „Die Grundlagen der humanen E t h i k " , so ist seine Jugendschrift benannt, und in dem späteren Werke nennt er die Idee von einem Reiche der Humanität, von einer Gesellschaft harmonisch und reich entwickelter Persönlichkeiten die höchste Idee der sozialen Ethik, die er durch Verbindung des Begriffes der „Gesellschaft" mit dem Begriff der Wohlfahrt bildet, ohne aber die spezielleren Formen des ethischen sozialen Lebens daraus herleiten zu wollen. Der Charakter seiner Ethik als einer sozialen Theorie und Lehre ist in den jüngeren Auflagen stärker hervorgetreten. In bestimmtester Weise ordnet er die individuelle Ethik der sozialen unter, bemüht sich aber doch, die Ansprüche des Individualismus oder, wie er sagt, das Prinzip 27 späteren

Werke:

Vgl. Höffdings „Ethik", 1901 (zuerst 1888), Kap. VII: „Die Theorie

der Wohlfahrt" und Kap. VIII: „Individuelle und soziale Ethik".

342

Schriften

der freien Persönlichkeit gegen die Ansprüche der Gattung oder des Prinzips der Autorität zu behaupten. Er sucht dem „Sozialismus" nach allen Seiten gerecht zu werden, gibt aber dem „empirischen" Sozialismus in ausgesprochener Weise den Vorzug. Als solchen begreift er alle Bestrebungen, die darauf hinausgehen, den Geist der freien Kulturgesellschaft dem Staatsmechanismus allmählich einzupflanzen. Als solche hebt er die freien Arbeiterorganisationen des gewerkschaftlichen wie auch des genossenschaftlichen Typus hervor und legt großen Wert auf die Selbstverwaltung in diesen Vereinen wie in Staat und Gemeinde. Besonders gewürdigt zu werden verdient die hohe Bedeutung, die Höffding aus seinem ethischen Gesichtspunkte den so unscheinbar nüchternen Konsumvereinen der Arbeiter beilegt. Überhaupt ist seine Betrachtung und Kritik der sozialistischen Lehren reich an Früchten einer Weisheit, die allmählich ein Gemeingut höherer Bildung werden sollte und ohne Zweifel werden wird. Wir brauchen uns in dem ganzen soviel durchackerten Felde der sozialen Frage nur umzuschauen, um zu bemerken, wie wichtig, ja notwendig in letzter Linie, objektiv begründete Werturteile moralischen Inhaltes sind. Auf Schritt und Tritt begegnen wir widerstreitenden Vorstellungen über Gerechtigkeit, und wie das Verkehrsleben nicht ohne vermittelnde Rechtsprechung und Entscheidung gedeihen kann, so bedarf das gesamte soziale und politische Leben des idealen Gerichtshofes, der sich an keine anderen Grundsätze als allgemein gültige halten kann, als an die der philosophischen Ethik. Insbesondere wird sie den Politikern wehren müssen, die unablässig mit doppeltem Maßstabe messen, indem sie z. B. dieselben oder ganz ähnliche Dinge, wenn sie von Seiten der Arbeiterklasse geschehen, für Frevel, ja für Verbrechen erklären, die bei ihnen selber als heilige Pflichten gelten, selbst wenn sie wie der Zweikampf im Sinne des Gesetzes strafbare Vergehen sind.

II. Einem Denker, der die ethische Bildung zu fördern und zu erhöhen sich angelegen sein läßt, muß das religiöse Problem nicht nur von dieser Seite, sondern in seinem Zusammenhange mit der gesamten Kultur sich gleichsam in den Weg stellen. Höffdings Religionspbilosophie läßt sich nicht an der Frage genügen: Was ist Religion?, sie bezieht vielmehr ihre Erörterungen über das Verhältnis der Religion zum übrigen Geistesleben auf die Frage: „Was ist mir Religion?" und will sie als geistige Macht der

Harald Höffding zum 11. März 1913

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Entwicklung des geistigen Lebens dienstbar machen. Eine Tendenz der Rettung beherrscht seine Gedanken über Religion, wie die der meisten, die in neuerer Zeit darüber philosophiert haben. Nicht in der theoretischen Seite, nicht in der vermeintlichen Antwort auf letzte Fragen sieht Höffding ihr eigentliches Wesen, sondern in dem begründbaren Glauben an etwas Unerkennbares, Unbeweisbares; diesen Glauben nennt er den Glauben an die Erhaltung des Wertes. In diesem Sinne unterscheidet er die religiösen Werte von den Werten der Selbstbehauptung und der Hingebung, und nennt das religiöse Gefühl das Gefühl für das Schicksal jener beiden ursprünglichen Arten des Wertes, obschon es ihnen gegenüber selbständig werde und auf sie zurückwirke. Hierin erblickt er das tragende Element der Religionen und meint, es könne auch existieren und wirken, ohne sich in Mythus, Dogma oder Kultus die herkömmlichen Ausdrücke zu geben. Religion ist also unserm Philosophen nicht in erster Linie ein Objekt der Soziologie, sondern sie gehört für ihn beinahe völlig der Individual- oder eigentlichen Psychologie des Menschen an; er nennt Buddhismus und Christentum darum die höchsten Völkerreligionen, weil in ihnen das innere psychologische Drama als das eigentliche Weltdrama erschien, jenes innere Drama, das darin besteht, daß gegen das Sündenbewußtsein, worin der Mensch das Mißverhältnis zwischen dem Willensideal und der Wirklichkeit seines Willens fühlt, das Erlösungs- oder Versöhnungsbedürfnis sich zur Überzeugung erhebt, daß trotz allem Übel das Wertvolle fortdauere, und zwar in des Menschen eigenem Inneren fortdauere, wo es auch zum Siege gelange. Man sieht, daß Höffding, in Sympathie mit dem philosophisch durchtränkten Geiste dieser spätentwickelten Religionssysteme, die Religion idealisiert. Seine Betrachtung hält sich wenig an die empirische volkstümliche Gestalt des religiösen Glaubens, die auch in diesen höchsten Systemen auf Furcht und Hoffnung beruht und mit dem Wahne der Zauberwirkungen unlösbar zusammenhängt; Höffding verfährt hier eher nach Art der spekulativen Philosophie, die einen höheren oder tieferen Sinn aus den Vorstellungen kindlicher Einfalt herauszuschälen sucht. Dadurch kommt nun unser Denker den theologischen Apologeten, zumal solchen, die das Christentum als liberalen Protestantismus nicht nur zu erhalten, sondern erst zu erfüllen und in sein eigentliches „Wesen" zu entwickeln meinen, einen großen Schritt entgegen. Aber, obschon für ihn der Religion gerecht werden in gewissem Maße auch heißt ihr nacheifern, so scheidet er sich doch scharf und unerbittlich von denen, die da meinen, man könne von Überresten oder von Surrogaten „leben"; er spricht offen aus: „Wenn

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Schriften

eine Wahl getroffen werden soll, so ist unsere Lebensauffassung näher mit der griechischen als mit der urchristlichen verwandt." Er will, daß wir von Wirklichkeiten leben — die Weisheit ist ihm, im Sinne Spinozas, Erforschung des Lebens mehr als des Todes, er will die Tore geöffnet haben für eine Lebenspoesie, worin die großen Erfahrungen des Menschenlebens zum Ausdrucke kommen und deren die Menschheit stets bedürftig sei; solche entstehe zwar vorzüglich da, wo Denken und Wollen auf Schranken stoßen, aber sie stehe nicht notwendig zum Wollen und Denken im Gegensatze. „Das Ewige ist im Gegenwärtigen, im wertvollen Augenblicke" — in dieser Entscheidung und in dem Dichterspruche „Indem du suchst, hast du ihn schon gefunden, Im Fragen liegt die Antwort schon gebunden" klingt der hehre Idealismus des Buches aus, worin Höffding seine Weltanschauung am reinsten ausgesprochen hat: eines Buches, klar und gediegen, gehalten und maßvoll, und doch von stiller Energie erfüllt, das vorzüglich geeignet ist, jungen Männern und Frauen, die, dem Kinderglauben entwachsen, ratlos und hilflos zwischen Mode-Philosophemen hin- und herirren, als Stütze und als Leuchte zu dienen.

III. Nur ein Teil des Lebenswerkes unseres Philosophen ist besprochen worden. Seine Psychologie, zu deren Abfassung ihn das „Interesse für ethische Probleme" bewog, seine Geschichte der neueren Philosophie, diese durch eigene Studien über Kant, jene durch tiefgehende Einzeluntersuchungen hervorragend, mögen nur erwähnt werden; es sind Werke, die der Weltliteratur gehören. Hier ist in den Vordergrund gestellt worden, was für die Persönlichkeit am meisten charakteristisch schien. In ihr steht der Ernst und die Redlichkeit auf gleicher Höhe mit dem Scharfsinn und gründlichem Wissen. Und wie im Stile sich der Mensch abbildet, so ist Höffdings Darstellung durch eine Verbindung von Elementen, die oft

12 „...liegt

die Antwort

schon

gebunden":

Ohne Quellenangabe zit. bei Höffding, 1901:

346. 4 Es fehlt nicht an Vorbildern:

Dieses Zitat konnte nicht ermittelt werden.

Harald Höffding zum 11. März 1913

345

sich ausschließen, bezeichnet: von Klarheit und Tiefe, und eben daraus möchte sich die große Beliebtheit des Autors erklären. Man fühlt, daß dieser Denker seine Philosophie „lebt". Er selber sagt: „Es fehlt nicht an Vorbildern in einer Kunst des Lebens und Denkens, die durch das Fegefeuer der Probleme hindurch den Standpunkt des freien Menschen zu erringen und in harmonischem Lebenswandel zu verwirklichen imstande ist. Spinoza und Goethe, Fichte und Stuart Mill sind solche Vorbilder." An John Stuart Mill erinnert Höffdings eigene Gestalt in manchen Zügen; in manchen auch an die zu früh uns entrissne Friedrich Paulsens; mit beiden hat er vielleicht auch einige schwächere Seiten gemein, aber alle drei verdanken den großen Einfluß, den sie auf ihre Generation und über diese hinaus gewonnen haben, Eigenschaften des Geistes und des Charakters, die sich selten beisammen finden und die sich dadurch auszeichnen, daß sie ein freudiges Vertrauen in Lesern und Jüngern hervorbringen. Wir haben hier nicht bei der Entwicklung des Jubilars verweilt, die aus dem Studierenden der Gottesgelahrtheit einen der klaren und bewußten Vertreter der wissenschaftlichen Richtung des Philosophierens gemacht hat; epochemachend wirkte auf ihn die Bekanntschaft mit den Schriften Sören Kierkegaards, des seltsamen ringenden Grüblers, dem Höffding dankbar eine interessante Monographie gewidmet hat (deutsch in den „Klassikern der Philosophie"). Er hat dann als Angehöriger eines nordischen, durch geistreiche Vielseitigkeit ausgezeichneten Volkstums den Vorzug genossen, daß er die Ströme des englischen, deutschen und französischen Denkens, die gerade im 19. Jahrhundert so weit auseinandergelaufen sind, gleichmäßig auf sich wirken lassen konnte, von allen hinlänglich entfernt, um von keinem ihrer Wirbel fortgerissen zu werden. Dabei hat er sich innerlich wohl am meisten den Engländern verwandt gefühlt; wie auch eine besondere kleine Schrift bezeugt, die der neueren englischen Philosophie mit Wärme sich annahm, um sie den Skandinaviern zugänglicher zu machen. Anderseits hat die deutsche Nachbarschaft und die Beherrschung der verwandten Sprache dahin gewirkt, daß er durch dies Medium — zum Teil sogar durch deutsch verfaßte Schriften — zu den übrigen Nationen den Zugang gefunden hat, der sonst für die kleineren durch das Idiom erschwert ist. 7 „ . . . sind solche Vorbilder": Zitat konnte nicht ermittelt werden. 29 besondere kleine Schrift: „Den engelske Philosophi i vor Tid", 1874 (dt.: „Einleitung in die englische Philosophie unserer Zeit", 1889).

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Schriften

Die Entwicklung aber, die wir hier betrachten, ist noch nicht abgeschlossen. Wenn auch ein Siebzigjähriger schwerlich ganz neue Gedankenwege beschreiten wird, so dürfte doch im Geiste eines rastlos tätigen Mannes so vieles bereitliegen, daß herbstlich sonnige Tage noch schöne Früchte reifen lassen werden. Solche Tage mögen dem Ehrwürdigen im 5 achten Jahrzehnt seines Lebens reichlich beschieden sein! Mit diesem Wunsche wollen wir die Feier seines 70sten Geburtstages begehen.

Geld und Genossenschaft Wie oft begegnet uns das Verlangen der Menschheit nach Abschaffung des Geldes! Es liegt so nahe, das Geld als die Quelle der sozialen Übel zu verabscheuen! Als angehäuftes Geld stellt der Reichtum in seiner unpersönlichen, kalten, herzlosen Gestalt sich dar, die unheimliche Macht über menschliche Seelen, das unfruchtbare Metall, das gleichwohl die geheimnisvolle Kraft besitzt, im Verkehre der Menschen zu wuchern: das Kapital und die kapitalistische Produktionsweise, ihre fortschreitende Konzentration, die Unterwerfung der Volksmassen unter ihre Herrschaft durch Verallgemeinerung der Lohnarbeit und der lebenslänglichen Abhängigkeit ... die soziale Frage. An den bitteren Klagen über die Macht des Geldes gemessen, ist in Wahrheit die soziale Frage uralt. Und wenn sie auch erst mit den Städten und Staaten des 19. Jahrhunderts, mit Fabriken, Maschinen, Verkehrsmitteln, Techniken, mit Proletariat und Pauperismus, in riesige Dimensionen gewachsen ist, so liegen doch ihre jugendlichen Gestalten und gar ihre Keime in den frühesten Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung. Man kennt aus Marx und anderen Autoren die Denunziationen des Geldes oder Goldes, die schon bei griechischen und römischen Dichtern anzutreffen sind. Und mit den Dichtern gehen die Philosophen. Plato hat sogar in den „Gesetzen" (um 350 vor Chr. verfaßt), wo er die idealen Forderungen seiner „Republik" auf das Maß des Realisierbaren herabsetzen will, Gold und Silber aus seiner Stadt verbannt; denn es sollen darin die Bürger „so sehr als möglich glücklich sein und so sehr als möglich einander Freunde". Thomas More, der in seinen Spuren geht, läßt die Bewohner der „Utopia" (1516 zuerst erschienen) ihre Nachttöpfe und Klosettstühle aus Gold und Silber anfertigen, ebenso die Ketten und Fesseln für ihre Sklaven; einigen solchen hängen sie auch zum Zeichen der Schande einen goldenen Ohrring an, andere lassen sie eine goldene i Geld und Genossenschaft: Zuerst in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau 1913, 10. Jg., Nr. 24 (14. Juni), S. 4 4 8 - 4 5 0 , Hamburg. 25 „ . . . einander Freunde": Vgl. Piatons „Nomoi" (743 c-d), in: Piatonis Dialogi, 1858: V, 149. 25 More: Aus dem Kap. „Einstellung der Utopier zu Geld und Geldeswert", zit. nach More 1895: 176.

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Schriften

Krone tragen; und so tragen sie Sorge, durch alle möglichen Mittel Gold und Silber verachtet zu machen. Die Folge ist, daß die Einwohner der Utopia alles, was sie besitzen an edlen Metallen, nicht mehr vermissen würden als einen Groschen, den wir verloren haben, „während andere Völker sich von ihrem Gold und Silber so ungern trennen, als wenn man ihnen die Eingeweide aus dem Leibe reißen wollte". Wir müssen in den Utopien die Reaktionen und Proteste des sittlichen Bewußtseins, zum Teil auch der gesunden Vernunft schlechthin, erkennen und würdigen: Proteste wider das ökonomische Leben und die schnöde Geldgier, den Neid und die Sucht, den Nächsten zu überstrahlen, gegen die Frechheit und den Übermut des Reichtums, gegen die Bedrückung und Ausbeutung, die er schamlos gegen Arme und Schwache ausübt, gegen das kommerzielle Tun und Treiben überhaupt und die Motive, die es bestimmen. Daß es auch den Unfrieden zwischen Nationen schüren werde, dem Verkaufe von Waffen zuliebe, hatten die Utopisten wohl noch nicht erlebt; sie dürften sonst mit Fingern darauf hingewiesen haben. Das Geld und das Kapital kann man nicht abschaffen; um es zu bekämpfen, muß man es vielmehr anschaffen. Längst sind aber die Beobachter und Denker gewahr geworden, daß das Geld in gewissem Maße sich selber abschafft, indem es sich überflüssig macht. Im berühmten Jahre 1848 erschien eine Schrift „Die Nationalökonomie der Gegenwart und Z u k u n f t " von Bruno Hildebrand, einem deutschen Professor des alten Typus — er wurde 1846 durch die kurhessische Regierung von seinen akademischen Ämtern suspendiert und 1848 in die Paulskirche gewählt. Manches in dem Büchlein mutet uns heute kindlich an, manches aber auch reif und männlich. So heißt es, nachdem von dem Aufschwünge durch Kapitalismus die Rede gewesen (S. 278): „Aber diese Zustände bilden nur den Übergang zur Kreditwirtschaft, zu dem Umsätze menschlicher Erzeugnisse gegen das persönliche Versprechen auf Treu und Glauben und auf Grund moralischer Eigenschaften" und „Was in der Naturalwirtschaft durch äußere sinnliche Bande aneinander gefesselt, durch die Geldwirtschaft aber voneinander gelöst wird, das verbindet die Kreditwirtschaft wieder durch geistige und sittliche Bande. Sie verleiht der persönlichen Tüchtigkeit und dem moralischen Werte des Menschen dieselben Eigenschaften, welche in der Geldwirtschaft das Kapital besitzt". Diese Gedanken hat der wackere Gelehrte 16 Jahre später in einem besonderen Aufsatze der von ihm begründeten (noch unter Lei38 besonderen

Aufsatze-. Vgl. Hildebrand, 1864: 1 — 24.

Geld und Genossenschaft

349

tung J . Conrad's bestehenden) „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik" eingehender zu begründen und auszuführen versucht. In seiner Auffassung steckte eine altliberale Illusion von ungewöhnlicher Stärke (als ob der Arme durch Kredit dem Reichen ebenbürtig und mit ihm konkurrenzfähig würde). Wenn man die Auffassung von dieser Zutat befreit, so springt aus ihr der Gedanke heraus, daß der Kredit dazu helfen kann, ein neues wirtschaftliches System aus dem kapitalistischen zu entbinden, und daß in diesem neuen System auch der sittliche Wert des Menschen wieder zur Geltung gelangen werde, der in der Geldwirtschaft völlig hinter seine Zahlungsfähigkeit zurücktritt. Dies neue System ist die genossenschaftliche Produktionsweise, die, in ihrer Vollendung gedacht, wirklich des Geldes nicht mehr bedürfen und sich als reine Kreditwirtschaft gestalten würde. An diese Neugestaltung dachte auch Kodbertus, der pommersche Gutsbesitzer, wenn er (1842) aussprach: „In einem Zustande, in welchem der Wert der Güter immer dem nach Arbeit berechneten Kostenbetrage gleich wäre, ließe sich ein neues Geld kreieren, das allen Anforderungen als Zirkulationsmittel und Preismaß entspricht und doch weder selbst ein sachliches Gut ist, noch sich, wie das heutige Papiergeld, auf ein sachliches Geld bezieht." Und die gleiche Idee erfüllte den nicht minder berühmten Paul de Lagarde, wenn er ein Menschenalter später (1875), bei Betrachtung der gegenwärtigen Lage des Deutschen Reiches, sich des Glaubens getröstete, daß „die Kreditzeit dem verruchten Mammonsdienst unserer Tage ein Ende machen werde". — Wo jene Phantome schauten, da erblicken wir heute Wirklichkeiten. Keine fertigen zwar, aber beginnende. Wir sehen, wie die genossenschaftliche Produktionsweise, noch eingehüllt wie alles Werdende, neben der kapitalistischen Produktionsweise sich entwickelt, neben ihr und innerhalb ihrer; sie bleibt einstweilen an ihre Lebensbedingungen gebunden. Das große Problem ist, sie auf ihre eigenen Füße zu stellen, was ohne entschiedene Mitwirkung des Staates, als der allgemeinen Genossenschaft, nicht möglich sein wird. Eine andere und wesentlich verschiedene Tatsache ist es, daß der Kapitalismus oder die Geldwirtschaft selber sich in kreditwirtschaftlichem Sinne entwickelt, indem nämlich in ihr das Geld durch Geldsurrogate oder Kreditumlaufsmittel verdrängt wird. Eine wichtige und folgenreiche Entwicklung. Ihre unmittelbaren und viele der mittelbaren privatwkt19 „... sachliches Geld bezieht": Vgl. Rodbertus, 1842: 135; das Zitat ist Theorem Nr. 5. 24 „... ein Ende machen werde": Vgl. de Lagarde, 1878: 89.

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Schriften

schaftlichen Vorteile kommen, wie Adolf Wagner, der große Theoretiker des Geldwesens und der Finanzwirtschaft, sich ausdrückt, den eigentlichen Produzentenkreisen, den Unternehmern und unter diesen vielfach den Großunternehmern allein oder doch vorzugsweise zugute. „Völlig gleichmäßig auf diese und vollends auf die übrige Bevölkerung, das allgemeine Konsumentenpublikum, auch auf die arbeitende Klasse, die Kreise außerhalb der großen materiellen Berufsgruppen, und auch innerhalb dieser auf die einzelnen davon, verteilen sich diese Vorteile niemals". Mittelbare günstige Wirkungen freilich erstrecken sich nach Wagner auch auf andere Kreise der Bevölkerung, und er führt dies dahin aus, daß namentlich der ununterbrochene Fortgang der Geschäfte, also auch die Regelmäßigkeit der Arbeiterbeschäftigung, durch das Geldsurrogatwesen etwas gesichert werde. Wenn dies nicht bestreitbar ist, so scheint aber Wagner nicht zu gewahren, daß diesen mittelbaren günstigen auch mittelbare ungünstige Wirkungen für den Teil des Publikums, der sich dieses Kreditumlaufsmittels nicht bedient, gegenüberstehen. Und doch führt er selber unter den „Bedenken und Gefahren" dieser Entwicklung und des ganzen Geldsurrogatwesens überhaupt mit Nachdruck an: daß der Geldwert in der Weltwirtschaft, und zwar in jeder Volkswirtschaft als einem Gliede davon, „außerordentlich viel niedriger" werde, auch bei stärkerer Entwicklung des Geldsurrogatwesens niedriger als bei geringerer. Es liegt ja auch auf der Hand, daß Vermehrung der Umlaufsmittel den Wert des einzelnen senken muß. Und diese wachsende Vermehrung ist wahrscheinlich eine Hauptursache des Steigens der Preise im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts gewesen; denn niedriger Geldwert bedeutet hohe Warenpreise. Nicht die Vermehrung von Gold und Silber hat den Geldwert erniedrigt; denn die Produktivität der Goldminen (die allein in Betracht kommen) hat, wenigstens seit Anfang des Jahrhunderts, kaum mit dem Bedarf am edelsten Metall Schritt gehalten. Dem kleinen Konsumenten steht nur diejenige Form des Kreditwesens offen, die nicht nur unnütz, sondern schlechthin schädlich ist: das Borgsystem, die aufgeschobene Zahlung. Sie kommt nur den säumigen, nachlässigen, unredlichen Zahlern zugute, wenn man denn das „gut" nennen will, was eine schlechte Wirtschaft befördert, in Wahrheit also nur der ökonomischen Zerrüttung den Weg bahnt und ihre Heilung erschwert. Um so mehr müssen die besseren Wirte, die redlichen Zahler, die Last tragen und schließlich für die ausfallenden Zahlungen aufkommen: auch 2 sich ausdrückt:

Vgl. Wagner, 1909: 793.

Geld und Genossenschaft

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ein Kommunismus, und was für einer! Und auch außerdem ist dieser Kredit in der Regel viel zu teuer erkauft. Die Erhöhung der Preise, die er notwendig macht, bedeutet Zinsen, nicht selten Wucherzinsen. Es bedeutet also einen volkswirtschaftlichen Fortschritt, wenn das Prinzip der Barzahlung durchgeführt wird, wie es durch die großen Warenhäuser, durch andere Kleinhandelsbetriebe und ganz besonders durch die genossenschaftlichen Konsumvereine geschieht. Einen ähnlichen Fortschritt bedeutet der — selten freiwillige, durch die meisten neueren Gesetzgebungen erzwungene — Verzicht auf das Trucksystem, d. h. die Löhnung in Waren aller Art statt in barem Geld („einer der empfindlichsten und gefährlichsten Übelstände des heutigen Industriewesens". Stieda, H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften, 3. Auflage VII Seite 1267). Die Gesetze gegen das Trucksystem sind, wie die meisten Arbeiterschutzgesetze, mit Löchern behaftet: man darf getrost sagen, daß sie nirgendwo durchgeführt werden. Auch „verbietet kein Gesetz einem Fabrikanten, einen Laden zu eröffnen; folglich kann man keinen Arbeiter hindern, beim Unternehmer einzukaufen". „Das Einschneidendste wäre zweifellos ein Verbot für Gewerbeunternehmer, Schankstätten oder Läden, in denen Waren aller Art feilgehalten werden, zu eröffnen" (Stieda a. a. O. S. 1270). Tatsächlich gestattet unsere Gewerbeordnung (§ 115 II) ausdrücklich, „den Arbeitern Lebensmittel für den Betrag der Anschaffungskosten, Wohnung und Landnutzung gegen die ortsüblichen Mietund Pachtpreise, Feurung, Beleuchtung, regelmäßige Beköstigung, Arzneien und ärztliche Hilfe, sowie Werkzeuge und Stoffe zu den ihnen übertragenen Arbeiten für den Betrag der durchschnittlichen Selbstkosten unter Anrechnung bei der Lohnzahlung zu verabfolgen". Welch eine Z u m u t u n g an den Arbeiter, dem Unternehmer, z. B. einer Aktiengesellschaft mit 100 Millionen Mark Kapital, ihre Selbstkosten nachzuweisen! — Besser als durch Gesetze werden die Überreste und neuen Gestalten des Trucks durch ein überlegenes Genossenschaftswesen verdrängt werden. Und wenn eine der beliebten Formen des Trucks ist, daß der Unternehmer einen bestimmten Teil des Lohnes in gestempelten Marken auszahlt, „die nur bei gewissen Bäckern, Metzgern, Krämern und Wirten des Ortes austauschbar sind", so wäre es offenbar ein wirkungsvoller Antitruck, solche Marken herzustellen, die ausschließlich bei den eigenen Bäckern, Metzgern usw. nicht des Unternehmers, sondern des Arbeiters, mit einem Worte, die bei seinem Konsumverein austauschbar wären! 34 austauschbar

sind: Vgl. Stieda, 1911: 1267.

352

Schriften

Das Gesetz (GO. § 115 I) steht dem entgegen. Sofern es entgegensteht, kann das Gesetz abgeändert werden. Es steht aber nicht schlechthin entgegen. Nach G O . § 117 II sind Verabredungen zwischen den Gewerbetreibenden und den von ihnen beschäftigten Arbeitern über die Entnahme der Bedürfnisse der letzteren aus gewissen Verkaufsstellen sowie überhaupt über die Verwendung des Verdienstes desselben, zu einem anderen Zweck

als zur Beteiligung an Einrichtungen zur Verbesserung der

Lage der Arbeiter oder ihrer Familien, untersagt". Danach sind Verabredungen gültig, welche die Verwendung des Verdienstes zum Zwecke der Beteiligung an Konsumvereinen, d. h. an den eigenen Konsumvereinen der Arbeiter regeln sollen; denn diese sind unzweifelhaft Einrichtungen zur Verbesserung der Lage der Arbeiter oder ihrer Familien. Wir lesen in einem großen Kommentar zur Gewerbeordnung (v. Landmann Seite 368): „Die Einrichtung, für welche der Lohn des Arbeiters nach den zwischen ihm und dem Arbeitgeber getroffenen Abmachungen zu verwenden ist, kann unter Umständen selbständige Rechtspersönlichkeit haben; in diesem Falle bekommt jene Vereinbarung den Charakter einer Anweisung und ist trotz der Bestimmung ... des im § 115 a enthaltenen Verbots gültig ... Verabredungen über die Verwendung des Lohnes zur Bezahlung der Schulden des Arbeiters an einen Konsumverein

dürf-

ten dagegen nicht als Beteiligung an einer Wohlfahrtseinrichtung im Sinne des Gesetzes anzusehen sein." Der Kommentator beruft sich dafür u. a. auf ein Reichsgerichtsurteil vom 19. April 1909. In diesem Urteil handelt es sich um die von einer großen Fabrik errichtete „Konsumanstalt". Das Urteil selber setzt diesen Ausdruck in Anführungszeichen, und es ist offenbar im Sinne des Gesetzgebers, wenn es Anweisungen an eine solche „Konsumanstalt" als verhüllten Truck für unerlaubt erklärt. Dagegen ist es eine üble Schwäche der Jurisprudenz, wenn sie den Unterschied zwischen einer solchen „Konsumanstalt" und einem genossenschaftlichen Konsumverein nicht kennt oder nicht anerkennt. Daran ist doch wohl ein Zweifel nur in umnebelten Scharfmachergehirnen möglich, daß Einrichtungen, die von Arbeitern selber, sei es von ihnen allein oder unter Mitwirkung anderer Personen gleichen Konsumenteninteresses, ins Leben gerufen und unterhalten werden, daß solche Einrichtungen für die Verbesserung der Lage der Arbeiter wie der übrigen freiwilligen Teilnehmer bestimmt

sind; daß also der Arbeiter, der einen Teil seines

Lohnes auf einen von dem Arbeitgeber unabhängigen Konsumverein an13 großen

Kommentar:

Vgl. Landmann, 1907: II, 151.

353

Geld und Genossenschaft

weist, gewissermaßen eine Anweisung auf sich selber bewirkt, die keinem Mißbrauch, wie ihn § 115 u. f. G O . treffen wollte, ausgesetzt ist. Nun stelle man sich einmal vor, welche Mengen von barem Geld auf diese Weise erspart werden können. Nehmen wir an, es geschehe in einem mittleren Betriebe mit etwa hundert Arbeitern und Arbeiterinnen, die sämtlich Mitglieder der „Produktion" wären und ihr Konto bei der Sparkasse dieser Genossenschaft hätten. Diese Arbeiterschaft schließe einen Vertrag mit ihrem Arbeitgeber, wodurch sie diesen ermächtigt und beauftragt, allwöchentlich 4 0 % des verdienten Lohnes jedem auf sein Konto bei der genannten Sparkasse einzuzahlen. Der durchschnittliche Wochenlohn sei 20 M . Der Unternehmer brauchte allwöchentlich 800 M weniger Kasse bereitzuhalten im Jahre 41 6 0 0 M . Sein Bankier hätte die Liste und erhielte die Quittungen über die entsprechenden Beträge, mit denen der Kassierer der Fabrik 4 0 % des Lohnes zu effektuieren hätte; und dieses Verfahren würde sich noch erheblich vereinfachen lassen. Für den Unternehmer würde das nicht nur eine Erleichterung des Betriebs, Ersparnis an Zeit und Mühe für seine Kasse, sondern auch einen nicht geringen materiellen Vorteil bedeuten; denn Bargeld ist teuer. Er wäre daher eher in der Lage, die Lohnsätze zu erhöhen, als ein Konkurrent, der diesen Vorteil nicht genösse. Aber das würde nur eine vorübergehende

Stärkung

der Arbeiterposition

bedeuten.

Die

höheren

Löhne bewirken schließlich wieder höhere Preise, die Erweiterung des Gebrauchs von Geldsurrogaten wird wieder dazu beitragen, die Kaufkraft des Geldes zu vermindern. Anders, wenn der Konsumverein selber oder die Großeinkaufsgesellschaft die Arbeitgeber wären, die von der Einrichtung Gebrauch machten; und wem läge es näher? Dann wären die Vorteile des „Unternehmers" auch indirekt die Vorteile des Arbeiters. Aber auch abgesehen davon, auch in dem gewöhnlichen Arbeitsverhältnis wird dieser dauernde Gewinn dadurch erzielt; dieser bestände in der Stärkung

seines Konsumvereins-,

denn das bedeutet eine Stärkung seiner

selbst, eine ökonomische Verbesserung, nicht nur für den Augenblick, sondern eine allmählich fortwirkende. — Worin diese Wirkung bestände? Zunächst in der Hebung des Ansehens, also des moralischen Kredits der Genossenschaft; sie wäre anerkannt als ein Organ der Konsumenten, der Arbeiterschaft als Konsumentin. Der Verein würde aber auch Nutzen davon haben; auch er würde seine Kassehaltung verkleinern, Zeit und Mühe, die auf Geldwechseln und Münzprüfungen verwandt werden, ersparen können. Er würde aber ferner von dem einzelnen Mitglied einen äußerst geringfügigen und kurzfristigen Kredit genießen; diese kleinen

354

Schriften

Kredite, die keinen Gläubiger belasten, würden aber, aufgehäuft, einen nicht unbedeutenden Wert repräsentieren; sie würden die eigene Zahlungsfähigkeit des Konsumvereins, indirekt die der Großeinkaufsgesellschaft, erhöhen, die Chancen für Rückstellungen zum Behufe der Eigenproduktion verbessern. Sie würden damit ein anderes höchst wichtiges Mittel zu dem notwendigen Zwecke befördern, diese von der Benutzung fremden und zinsbaren Kapitals zu emanzipieren; ich meine das zinsfreie Darlehn, die einzige des genossenschaftlichen Geistes würdige Form des Kreditwesens. Denn nach und nach würde mancher gute Genossenschafter kleine Beträge „stehenlassen"; es würde ihm genügen, wenn er sie gut verwahrt wüßte; ja, er würde es verschmähen, etwa für 5 0 M , die er zu jeder Zeit abheben könnte, einen jährlichen Zins von 1,25 M in Anspruch zu nehmen. Diese Gleichgültigkeit oder Ablehnung wäre unwirtschaftlich? Gewiß, einem fremden

Schuldner gegenüber, im Verhält-

nis zu einem Bankier, einer Aktiengesellschaft oder anderen kapitalistischen Unternehmungen, wäre sie das. Was ich aber meiner Genossenschaft schenke, das bleibt mein Eigentum, wenn auch in einem besonderen und höheren Sinne. Es ist wie ein Obstbaum, den ich in meinem Garten pflanze: er wird Früchte tragen, die ich selber und die vielleicht noch meine Kindeskinder genießen werden. Als ein erbliches Stück Gartenland lerne der Bürger des Zukunftstaates seine Genossenschaft lieben und pflegen; dann wird es ihm nicht als Opfer, sondern als höchst vernünftige Handlung erscheinen, etwas Geld in der Genossenschaft „anzulegen".

Atheismus im Wandel der Zeiten Der Atheismus gilt auch heute noch in weiten und sehr einflußreichen Kreisen nicht nur als ein bedauernswerter und verwerflicher Irrtum, sondern zugleich als Frevel und Sünde. Z u m Teil gilt er noch unmittelbar dafür, nämlich als leichtfertiger und liederlicher Irrtum, öfter aber wegen der schweren sittlichen und noch schwereren politischen Folgen, die man von seiner Ausbreitung, vom Verschwinden des Gottesglaubens befürchtet, ja mit völliger Gewißheit voraussagt. In dieser Phase ist dann schon die Überzeugung, daß es sich um einen Irrtum handle, weniger fest; auch gilt es vielleicht sogar für erlaubt in der Stille eine so gefährliche Meinung zu hegen — die Ankläger teilen sie vielleicht im Grunde ihres Herzens —; aber sie auszusprechen, wohl gar zu verkünden und zu verbreiten, das ist es, was getadelt, angeschuldigt, gebrandmarkt wird. Ehemals war der Atheismus etwas viel Ärgeres. Er war ein greuliges, ja das greuligste Verbrechen. Es wurde demonstriert, daß es die schwerste Beleidigung Gottes sei, seine Existenz zu leugnen, schon darum, weil darin auch die Leugnung seiner Eigenschaften, seiner Allmacht, Allgüte, Allgegenwart usw. enthalten sei. Auch kam es kaum vor, daß jemand ausdrücklich eines solchen Majestätsverbrechens, des Hochverrats gegen Gott sich unterfangen hätte. Man fand aber oft genug Ursache, die Gottesleugnung in zwei andern ihr nahe verwandten Verbrechen zu finden, die auch mit ihr aus den modernen Katalogen der Verbrechen verschwunden sind: in der Ketzerei nämlich und in der Hexerei. Der Ketzer ist Atheist; denn er bezweifelt die Lehren der Kirche, in denen sich Gott offenbart, er ficht das Urteil der Kirchenväter, der Konzilien, des Heiligen Stuhles an, in denen doch die göttliche Wahrheit unfehlbar enthalten ist. Er ist angestiftet vom Widersacher Gottes, er dient dem leidigen Teufel. Das war die Meinung, die im 16. Jahrhundert innerhalb der alten Kirche über die Reformatoren und die Protestanten gesagt und verbreitet wurde; so daß spanische Soldaten, die im Aufstande der Niederlande gefangen wurden und Pardon erflehten, sich auf die Erde warfen und in i Atheismus im Wandel der Zeiten: Zuerst in: Das Monistische Jahrhundert. Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung 1913, 2. Jg., Heft 14, S. 361 — 365, München (Unesma).

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Schriften

ihrer Todesangst erklärten, sie seien bereit, dem Teufel zu huldigen und ihn anzubeten, wenn die Sieger es verlangen würden (es waren viele Deutsche darunter, die sicher der Niederländer verstanden hat). Der Zauberer und die Hexe sind Atheisten, da sie ja unverkennbar mit den höllischen Mächten im Bunde sind; wenn sie auch schwerlich das Dasein Gottes leugnen, so verleugnen sie ihn doch und wollen seiner Herrlichkeit spotten. Ihre Bosheit ist Gottlosigkeit, sie müssen als Atheisten behandelt und bestraft werden. Auch die Naturforscher und Philosophen sind selten, ja vor den französischen Enzyklopädisten kaum je mit ausdrücklicher Leugnung des Daseins Gottes hervorgetreten. Sie haben sich vielmehr um Beweise für dies Dasein ernstlich bemüht, und sind beflissen gewesen, gegen den Verdacht, daß sie nicht aufrichtig an ihn glaubten, sich zu schützen und zu verwahren. Dieser Verdacht freilich schwieg niemals; die Theologen fanden die Aussagen der Freidenker über die göttlichen Dinge regelmäßig mangelhaft und höchst gefährlich; sie klagten die großen führenden Philosophen offen des Atheismus an. Höchst interessant ist es,, diese Kontroversen zu verfolgen: Anklagen, Verteidigungen, Repliken, Dupliken. Nur eine Seite, die dabei oft zutage tritt, werde hier hervorgehoben. Sie weist zugleich darauf hin, wie sich mit den Zeiten die Denkungsart auch denen, die „im rechten Glauben stehen", gewandelt hat. Ich meine folgendes. Ganz abgesehen vom Dogma der Trinität, das ja die flache Aufklärung nicht gelten lassen konnte, war auch die Leugnung des Daseins der geringen unsichtbaren Geister und Dämonen, ja gewissermaßen auch die des Daseins der heidnischen Götter, höchst verdächtig. Es war als ob man dem Herrn der Heerscharen — die Heerscharen absprechen wollte. Hobbes leugnete, daß es immaterielle Geister gäbe. Er wollte auch Gott nur gelten lassen als einen reinsten und einfachsten körperlichen Geist. Die ganze Polemik gegen Hobbes, von der die theologische und quasi-philosophische Literatur in Großbritannien (und anderen Ländern) in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfüllt ist, sieht regelmäßig in der Leugnung von Geistern (die also auch müssen „erscheinen" können) und in der entsprechenden Leugnung der Hexerei die Wurzel des Atheismus. Ralph Cudworth, der gelehrte kirchliche Theologe von Oxford, der in zwei gewaltigen Folianten das „wahre intellektuelle System" zur Be2« Hobbes leugnete: Vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 34: „Von der Bedeutung von Geist, Engel und Inspiration in den Büchern der heiligen Schrift".

Atheismus im Wandel der Zeiten

357

streitung des Atheismus niederlegte, — das Werk ist ganz und gar gegen Hobbes gerichtet — schreibt darin u. a.: „Was Zauberer und Magiker betrifft, Personen, die ein Bündnis eingehen mit den bösen Geistern, um ihre eigene Rachsucht, Wollust, ihren Ehrgeiz und andere Leidenschaften zu befriedigen, — so sind, auch abgesehen von der Heiligen Schrift, sie durch unbeteiligte Personen aller Zeitalter so voll bezeugt, daß jene so zuversichtlichen Umstürzler in unserem gegenwärtigen Zeitalter, die sie abgetan zu haben wähnen, kaum dem Verdacht entgehen können, einen gewissen Hang zum Atheismus zu haben (to have some heekening towards atheism). Im gleichen Sinne äußert sich ein Zeitgenosse Joseph Glaevit, der mit mehreren Schriften, die durch philosophische Skepsis dem Glauben aufhelfen sollten, große Erfolge hatte. Eines seiner Hauptwerke ist betitelt: Sadducismus triumphatus. Die Sadduzäer waren unter den Juden ein Priesteradel, der sich dadurch auszeichnete, daß er den Glauben an Engel, an Dämonen und Gespenster verwarf (welcher Glaube in der Lebensgeschichte Jesu bekanntlich eine große Rolle spielt). Dieser Unglaube sollte zu Boden geworfen werden. „Der Atheismus fängt mit dem Sadduzäismus an, und diejenigen, welche es nicht geradezu auszusprechen wagen: es gibt keinen Gott, begnügen sich (als erster Schritt und Einleitung) zu leugnen, daß es Geister und Hexen gibt, derartige Ungläubige sind, obgleich nicht gewöhnlich bei dem niederen Volke, doch zahlreich in einer etwas höheren Klasse der Gebildeten. Und diejenigen, welche etwas von der Welt verstehen, wissen, daß die meisten Angehörigen des lockeren Adels ebenso wie die unbedeutenden Kandidaten der Philosophie, die ,Witzbolde', im allgemeinen Verspötter des Glaubens an Hexen und Erscheinungen sind." Wir hören, daß der Sadducismus triumphatus einen außerordentlichen Erfolg gehabt und in vielen Auflagen auf seine Zeitgenossen gewirkt hat. Kein Wunder. Denn der Glaube an die lebendigen Dämonen entsprach damals noch ebenso dem durchschnittlichen Bildungsstande aller derer, die sich von „extremen Meinungen" fern hielten, wie heute der Glaube an den lebendigen Gott dieser Durchschnittsbildung angemessen ist. 9 Hang zum Atheismus: ii Joseph

Glaevit:

Vgl. Cudworth, 1978: II, 702.

Er heißt eigentlich Joseph Glanvill. Weitere seiner Schriften, auf die

Tönnies hier wohl anspielt, sind u. a. „Vanity of Dogmatizing" (1661), „Lux Orientalis" (1662), „The Zealous and Impartial Protestant" (1681). Glanvilles Werk „Sadducismus triumphatus" heißt eigentlich „Philosophical Considerations touching Witches and Witchcraft" (1666), nach der 4. Aufl. 1668 erhielt es den Titel, den Tönnies zitierte. 26 „...

Hexen

und Erscheinungen

sind":

Vgl. Glanvill, 1978: Preface (F 3).

358

Schriften

Man pflegt anzunehmen, daß — wenigstens im protestantischen Deutschland — das Jahrhundert der Aufklärung sich dadurch ausgezeichnet habe, daß auch die meisten Theologen dem „Rationalismus" huldigten, indem sie auch die angeblich übernatürlichen Vorgänge aus natürlichen Ursachen zu erklären bemüht waren. Bekannt ist ja, daß der Supernaturalismus und die Orthodoxie im 19. Jahrhundert zu neuem Leben gelangten. Und doch darf man behaupten, daß die Geister- und Gespenstergläubigen, auch unter den Pastoren, in der Blütezeit Schillers und Goethes, noch weit häufiger gewesen sind, als sie 100 Jahre später waren und heute sind. Der freisinnige Theologe Semler begleitete eine deutsche Übersetzung von Balthasar Bekkers Betoverde Wereld — einem großen grundgelehrten Werke, das im Jahre 1691 zuerst erschienen, einen Hauptschlag gegen den Aberglauben geführt hat — mit empfehlenden Vorreden. In der Vorrede zum dritten Band (1782) sagt er, daß das Bekkersche Buch auf immer für einen großen Teil seiner Zeitgenossen sehr wichtig sei. Beinahe sagte ich, noch unentbehrlich, weil die Quellen dieser Meinungen noch lange nicht alle verstopft oder abgeschnitten sind. „Wenn ich an die so vielen Zuhörer und Schüler der damaligen öffentlichen Lehren zu Wittenberg (er meint offenbar: in seiner Jugend) denke, so ist es mir gar begreiflich, daß sich die Hypothesis von physischen Wirkungen des Teufels und böser Geister, so allgemein in unseren lutherischen Kirchen und Schulen ausgebreitet und noch immer erhalten hat" ... „es kam in die sogen. Kasuistik und Pastoralvorschriften, wie man sich zu verhalten habe bei diesen oder jenen Fällen; welche Fälle also ebenso vorausgesetzt wurden als tägliche öftere Erscheinungen und Begebenheiten, als andere ganz gewöhnliche tägliche Gegenstände des Verhaltens eines Predigers", nämlich Gespensterfälle und Teufelsspuk. Es hat ja etwas Rührendes, daß man die bösen Geister aufgegeben und auch auf die Menge der guten kein Gewicht mehr legt, wenn nur der eine einzige persönliche Geist, der die Welt „erschaffen" hat, geglaubt wird. Eine rührende Genügsamkeit. Aber es ist dringend zu empfehlen, daß man sich immer gegenwärtig halte: es handelt sich um einen Rest, noch vor wenigen Generationen galt unter sehr gebildeten und gelehrten Leuten der Gespenster- und Teufelsglaube für eben so unantastbar und notwendig, wie heute der sogenannte Gottesglaube; der „Animismus" einst für ebenso feststehend und unerschütterlich, wie heute der „Theismus". 27 Verhaltens eines Predigers: Vgl. Bekker, 1782: Vorrede (ohne Seitenangabe).

John Lubbock Nietzsche-Leser erinnern sich eines Zitats aus Stendhal-Beyle: „Pour être bon philosophe" heißt es darin, „il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier qui a fait sa fortune, a une partie du caractère requis pour faire des découvertes en philosophie, c'est à dire pour voir clair dans ce qui est." — Lord Avebury, wie er als Peer des Britischen Reiches sich nannte, war ein solcher Bankier; sein fürstliches Vermögen hatte er wohl zu einem guten Teile schon geerbt, zum größeren aber vermutlich auf umsichtige und vorsichtige Art erworben; wer einmal sein Gast in High Elms gewesen, hat einen der schönsten Herrensitze der Grafschaft Kent gesehen, die an prächtigen Country Houses reich ist. Trocken und klar war er, sein ganzes Wesen sprach es aus; seinem blonden vollbärtigen Antlitz gaben die nicht großen, aber lebhaft blitzenden Augen einen Ausdruck von Weisheit und Güte, aber mehr noch von Gemütsruhe, Besonnenheit, Abgeklärtheit; und Illusion dürfte auch in seiner Jugend kein Merkmal seiner Natur gewesen sein. — Große Entdeckungen in der Philosophie zu machen war sein Geist freilich nicht berufen; aber ein seltener Bankier war er doch, dem mehr als an großen Finanzunternehmungen an Beobachtungen der Ameisen, Bienen und Wespen, an Forschungen über Ehesitten wilder Völkerstämme, an Studien über die geologischen Eigentümlichkeiten, die der englischen Landschaft ihre Schönheit verleihen, an Betrachtungen über die Freuden des Lebens und die hundert besten Bücher der Weltliteratur gelegen war — sicherlich eine merkwürdige, anziehende, geistig feine Persönlichkeit, der Art nach bei den Angelsachsen nicht ganz so selten wie bei uns: der Geschäftsmann von ausgebreitetem 1 John Lubbock: Zuerst in: Die neue Rundschau. Freie Bühne für modernes Leben, 1913, 24. Jg., 7. Heft (Juli), S. 1 0 4 0 - 1 0 4 1 , Berlin (Fischer), beachte hierzu den Editorischen Bericht, S. 692. 2 aus Stendhal-Beyle: Vgl. „Jenseits von Gut und Böse", fr. 39, in: Nietzsche, 1899: VII, 60 (Um ein guter Philosoph zu sein, muss man gefühllos, klar und ohne Illusion sein. Ein Bankier, der sein Glück gemacht hat, hat einen Teil seines Charakters in Anspruch genommen, um philosophische Entdeckungen zu machen, das heißt, klar zu sehen auf das, was ist. [Übersetzung — A. M.]. Die Stendhal-Stelle in: „Philosophie transcendentale" [1829], in: Mélanges de Littérature. Essais de Psychologie les Moeurs et la Société sur ses Progrès Livres, vol. 2. Paris 1933, S. 269—284, 283.

360

Schriften

wissenschaftlichen Interesse, der sich als Schriftsteller einen bedeutenden Namen macht — aber auch in Großbritannien scheint der Typus auszusterben, den zum Beispiel auch George Grote so glänzend darstellte: — etwas vom letzten Mohikaner hatte L u b b o c k an sich, dieser vollendete Gentleman, dem die Neigungen des gewöhnlichen Weltmannes so fern lagen ... Und nicht nur ein wissenschaftlicher, auch ein politischer M a n n ist er gewesen, auch als solcher von rastloser, vielseitiger Tätigkeit, bis ins hohe Alter ... Nationalliberaler der alten Schule, der endlich — und gewiß mit Widerstreben — ein Tory werden mußte; denn dem neueren Radikalismus stand er fremd, den sozialistischen Tendenzen feindlich gegenüber. Aber auch als Konservativer blieb er ein H a u p t der Intellektuellen, ein Vertreter guter europäischer Kultur, darum entschiedener M a n n des Friedens; die deutsch-englische Verständigung hatte keinen bewußteren, einflußreicheren, tätigeren Förderer, als diesen M a n n , dessen geistiger Habitus ganz der frühen Viktorianischen Ä r a angehörte, die von den Jünglingen des Tages gern wegen ihres Biedermeiercharakters bespöttelt wird. In diesem Charakter w a r viel Redlichkeit und Tugend, etwas vom edlen Geiste des achtzehnten Jahrhunderts, an Königsberg werden wir erinnert. — Auch in weiten Kreisen des Volkes bleibt Lubbocks N a m e in Ehren. Der Fremde, der am ersten M o n t a g des August nach L o n d o n k o m m t , findet wohl mit Erstaunen, daß alle Geschäfte ruhen, die Menge sich in den Parks auf Rasen wälzt, die Museen bedrängt und sich des Lebens freut. Wenn er fragt, w a r u m denn heute Feiertag? so wird ihm w o h l ein Gutgelaunter antworten: „es ist Sankt Lubbocks T a g . " Der Initiative und energischen Befürwortung des damaligen M . R ist dieser Bank Holiday, ein allgemeiner Feiertag im Hochsommer, ebenso zu verdanken wie der regelmäßige halbe Feiertag am Wochenschluß — „Saturday's half holid a y " . Soziale R e f o r m e n von dieser Art sollen nicht gering geschätzt werden, wenn sie auch von Leuten kommen, die anderen sozialen R e f o r m e n — zum Beispiel der Ausdehnung von Staats- und Gemeindebetrieben — mit unverhohlenem Mißtrauen und bitterer Kritik begegnen, wie L o r d Avebury, gewiß aus lauterer Überzeugung, getan hat.

2 Georg Grote: Der englische Historiker George Grote mußte auf Anordnung seines Vaters, der dem gelehrten Studium gegenüber abgeneigt war, in dessen Bankhaus eintreten. Er lernte aber parallel dazu Sprachen und studierte die antiken Klassiker.

[August Bebel] Eine der merkwürdigsten und wirksamsten Persönlichkeiten dieses Zeitalters ist von der Bühne abgetreten. Merkwürdig. Ein Handwerksgeselle, ganz in proletarischen Verhältnissen wurzelnd, herangewachsen zu einem Manne, dessen Ruf über beide Hemisphären geht, zu einem Politiker, der als Landsmann und Gegner des berühmtesten Staatsmannes Jahrzehnte hindurch eine Macht bedeutet hat im Deutschen Reiche und über dessen Grenzen hinaus. Merkwürdig: ein Autodidakt, der in rastlosem Fleiß sich ein gewaltiges Wissen angeeignet hatte, gegen den eine Reihe von gelehrten Männern ihre Streitschriften richteten, der in stiller Sicherheit seine Wege suchte, dessen Bildung vor derjenigen vieler wissenschaftlicherer Männer den Vorzug hatte, daß sie aus einem Gusse war, daß sie innerlich erstrebt und erlebt war, verschmolzen mit dem Kern seines Wesens. Merkwürdig durch seinen Unglauben wie durch seinen Glauben. Unter religiösen Einflüssen groß geworden, als Jüngling mit katholischen Gesellenverbänden in Berührung, von denen er immer mit Achtung und Sympathie gesprochen hat — wenige Zeitgenossen hatten doch so entschlossen und so vollständig mit den überkommenen Glaubensvorstellungen gebrochen: ehrlich und stark sprach er sich aus als Atheist, als Mann der unbedingten Aufklärung, der alles Unheil, alle Greuel der menschlichen Geschichte mit der Unwissenheit, dem Wahn, dem Fanatismus des Irrtums in Verbindung brachte. Und erfüllt von seinem Glauben: vom Glauben an die Zukunft der Menschheit, an ihre Selbstbefreiung und die bewußte Gestaltung ihres Schicksals, wenn sie die Ketten der Vorurteile, der Klassenherrschaft, des Privateigentums an Boden und Kapital gesprengt hätte. „Der Sozialismus ist die mit voller Erkenntnis auf alle Gebiete menschlicher Tätigkeit angewandte Wissenschaft" — diese Worte, die in i [August Bebel]:

Zuerst ohne Titel in: Das Freie Wort. Frankfurter Monatshalbschrift

für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens 1913, 13. Jg., Nr. 11 (1. Septemberheft), S. 398 — 403, Frankfurt (Neuer Frankfurter Verlag). Dieser Beitrag, ein Nachruf auf August Bebel, der am 13. Aug. 1913 verstorben war, erschien unter dem Pseudonym „Normannus", ein Name, unter dem Tönnies schon öfters veröffentlicht hatte, meist Artikel tagespolitischen Inhaltes. So etwa auch einen Artikel anlässlich des 70. Geburtstages von Bebel, ebenfalls im „Freien "Wort", 9. Jg., 1910a, S. 9 0 2 - 9 0 7 (vgl. TG 8). 28 angewandte

Wissenschaft:

Vgl. Bebel, 1891: 372.

362

Schriften

starker Druckschrift den Hauptteil des Buches „Die Frau" beschließen, sind Bebels Glaubensbekenntnis: danach, und nicht nach gelegentlichen Aussprüchen rednerischen Unmuts, m u ß man sein Verhältnis zu den Dingen würdigen. Man darf bezweifeln, ob in der jüngeren Generation dieser Glaube noch ebenso starke Bekenner, so tief überzeugte Propheten hat oder haben wird. Denn Bebel war ein Sohn seiner Zeit, in die er mit dem großen Erstaunen sich hineingelebt hatte, an dem wir älteren Leute alle noch einen Anteil haben, mit dem Erstaunen über die ungeheuren Veränderungen des sozialen Lebens, über eine Umwälzung, die in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht ihresgleichen haben dürfte, diese besonders in Deutschland fast plötzliche Neugestaltung aller Verhältnisse, die hier auch mit tief einschneidenden politischen Veränderungen nicht zufällig zusammentraf. Bebel gehörte nicht ursprünglich zu den unzufriedenen Proletariern, die gerade in den schweren Übergangszeiten, als er ein junger M a n n war, von 1850 bis 1870, so reichliche Ursache zur Unzufriedenheit hatten. Nein: ein 24jähriger Handwerksmeister war es, der Lassalle entgegentrat, der in den Bildungsvereinen das Heil der Arbeiterklasse sah und bei den großdeutschen Demokraten seinen politischen Anschluß suchte, aber den preußischen Soldatensohn nicht verleugnete. Wohl kannte er Not und Entbehrung als früh verwaister Knabe und Jüngling aus eigener Erfahrung, wie aus der Beobachtung eines armen wandernden Drechslergesellen; aber ein frisches fröhliches Temperament, ein glühender Wissensdurst, Verstand und Energie hatten ihm geholfen, durch alle Fährlichkeiten hindurch auf einen grünen Zweig zu gelangen. Bebel ist erst als Politiker, durch Gedanken und Erwägungen, zum Sozialismus gekommen. Ein M a n n , der ihm an Jahren wie an wissenschaftlicher Bildung überlegen war, ein bürgerlicher M a n n an Stand und Studium, Wilhelm Liebknecht, hat ihm die Wege gewiesen, nachdem schon ein solcher von größerem Geist, Friedrich Albert Lange, ihm zur Seite gestanden hatte. Übrigens macht man sich oft von den Anfängen der sozialdemokratischen Partei unrichtige Vorstellungen. Die „Revolution" stand nicht auffallender auf ihrer Fahne, als sie bei allen damals überlebenden 1848er Demokraten stand; die entscheidende Tatsache war, wie Gustav Mayer richtig darstellt, 1 die Lösung selbständiger Ar1

Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863-1870). Leipzig. Cl. Hirschfeld 1911.

34 Gustav Mayer: Vgl. Mayer, 1911: 1.

[August Bebel]

363

beiterparteien vom demokratischen Flügel des Liberalismus, die, nach dem Ausdrucke des genannten Autors, in zwei „Absätzen" erfolgte: der eine war die Lassallesche Schöpfung, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, den andern kann man den Liebknecht-Bebelschen Absatz nennen. Revolutionär gesinnt war noch die Demokratie als solche, ohne allen Sozialismus; sie erstrebte die Erneuerung des Jahres 1848, um die Einheit, aber auch die „Freiheit" Deutschlands herbeizuführen. Für alle Elemente, die sich an die siegreiche Fahne Preußens anschlössen, machte das Jahr 1866 diesen Bestrebungen und Hoffnungen ein Ende. Es blieb die sächsisch-süddeutsche, großdeutsche Demokratie, die mit dieser Lösung der deutschen Frage nicht einverstanden war, die Preußen und Preußens Staatsmann verabscheute; darin fanden sich die bürgerlichen und die proletarischen Tendenzen zusammen. Was sie auseinanderriß, war die soziale Frage. Die Baseler Resolution der „Internationale" (1869), die Umwandlung des Grundeigentums in gemeinsames Eigentum forderte, fiel wie eine Bombe ins Lager der Volkspartei. Ein soziales oder sozialreformatorisches Programm hatte auch sie und war stolz darauf, auch dadurch sich von den Liberalen abzuheben; um so entschiedener verwarf sie den „Kommunismus" als Widerspruch gegen die individuelle Freiheit. Selbst Liebknecht und Bebel bekannten sich nur zögernd und mit Vorbehalten zu den Baseler Beschlüssen. Über diese Kämpfe hinweg schritten die Ereignisse des großen Völkerkampfes, der die Errichtung des Deutschen Reiches herbeiführte. Es charakterisiert Bebel, daß er gerade damals seine Stimmung brieflich in die Worte faßte: „Mögen auch momentan die Schläge noch so hageldicht auf uns niederfallen, die Zukunft gehört uns ... die Entwicklung der Dinge schreitet rasend schnell vorwärts, und unsere größten Gegner sind es, die sie gegen ihren Willen am meisten fördern" (Brief vom 1. Nov. 1870 an Jacoby bei Mayer 1. c. S. 65). Hatte er Unrecht, der Dreißigjährige, als er aus seinem politischen Sturm und Drang dies verkündete? Immerhin standen ihm die schwersten Kämpfe noch bevor: die zweijährige Festungs- nebst neunmonatlicher Gefängnishaft, die ihn und Liebknecht fester verband und für den jüngeren Mann eine Art von Hochschulzeit bedeutete; die Ära Tessendorf; die 12 Staatsmann: Otto von Bismarck. 14 Baseler Resolution: Verabschiedet auf dem 4. Kongress im Sept. 1869. Sie besagte, daß die Gesellschaft das Recht habe, das Privateigentum an Grund und Boden zum Kollektiveigentum zu machen. 33 Tessendorf: Hermann Ernst Christian Tessendorf wurde 1886 zum Oberreichsanwalt am Reichsgericht berufen.

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Schriften

zwölf Jahre des Ausnahmegesetzes. Während dieser Zeit brachte er als die Frucht seiner emsigen Studien das Büchlein über die Frau „in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" hervor, das bis zur Jubiläumsausgabe von 1899 (25. Auflage) als „Die Frau und der Sozialismus" auf den stattlichen Umfang von 4 7 2 engbedruckten Seiten angewachsen war. Die Seele Bebels ist in diesem Buche. Wir sprachen von dem großen Erstaunen, mit dem er in seine Zeit sich hineingelebt hatte. Zu dem Erstaunen kam ein tiefes starkes Mitgefühl

mit der leidenden Menschheit. Wer das

Buch liest, wird, so empfindlich er gegen die Mängel und Schwächen des literarischen Charakters sein möge, der Achtung vor seinem Fleiß und seiner ernsten Gedankenarbeit sich nicht entbrechen; er wird auch dem Eindrucke sich nicht verschließen können, daß es ein Mensch von warmem Herzen, von ethischer Gesinnung geschrieben hat. Das Gedächtnis seiner tapferen Mutter und ihres bitteren Lebenskampfes, die Verehrung seiner eigenen Gattin, einer Arbeiterin, die in seinen eigenen Kämpfen ihm eine echte Lebensgefährtin geworden war — beides dürfte den Verfasser der „Frau" inspiriert haben. Überdies aber war die Philosophie der Geschichte naturgemäß dem kühnen und zuversichtlichen Propheten des Zukunftsstaates eine Lieblingsbeschäftigung, von der auch kleinere Schriften (über Fourier, über den Burenkrieg, über die mohammedanische Kulturperiode, über das Christentum) Zeugnis geben. Er, der nur an die Wissenschaft glaubt, hat etwas vom Religionsstifter an sich. Die Großindustrie, die gewaltigen technischen Fortschritte und Probleme, so große Bedeutung sie für sein marxistisches Bewußtsein haben, blieben i Ausnahmegesetzes:

Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozial-

demokratie" (das sogenannte Sozialistengesetz) vom 18. Okt. 1878 wurde bis zum Jahre 1890 immer wieder verlängert. 14 Mutter: Wilhelmina Johanna, geb. Simon. Bebels Mutter übte den Beruf einer Art Marketenderin beim preußischen Militär im Rheinlande aus; sie erhielt die Erlaubnis, eine Kantine zu führen und an die Mannschaften Bedarfsartikel zu verkaufen. 15 Gattin:

Johanna Carolina Henriette (Julie) Otto, Tochter eines Streckenarbeiters; sie

selbst arbeitete in einem Leipziger Damenputzgeschäft. Bebel verlobte sich mit Henriette im Herbst 1864; zwei Jahre später erfolgte die Eheschließung. 20 kleinere

Schriften:

Gemeint sind Bebels Schriften: „Charles Fourier. Sein Leben und

seine Theorien" (1888); „Der deutsche Bauernkrieg. Mit Berücksichtigung der hauptsächlichen sozialen Bewegungen des Mittelalters" (1876) [bei Tönnies fälschlich „Burenkriege",

hier korrigiert];

„Die mohammedanisch-arabische

Kulturepoche"

(1884);

„Christentum und Sozialismus. Eine religiöse Polemik zwischen Herrn Kaplan Hohoff in Hüffe und dem Verfasser der Schrift: Die parlamentarische Thätigkeit des Deutschen Reichstags und der Landtage und die Sozialdemokratie" (1874). 20 Burenkrieg-.

Richtig: Bauernkrieg.

[August Bebel]

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seiner Idealistenseele fern. Sie waren ihm nur wichtig als Mittel, um Freiheit und Gleichheit für den Arbeiter und für die Frau zu erringen. So sehr es ihm bei Verwirklichung des Sozialismus um ein „naturgeschichtliches Werden" sich handelt, so appelliert er doch an den Willen und an die Tatkraft seiner Genossen. „Für den Kampf um den Fortschritt der Menschheit kann keine Kraft, und sei sie noch so schwach, entbehrt werden. Das ununterbrochene Fallen der Tropfen höhlt schließlich den härtesten Stein aus. Und aus vielen Tropfen entsteht der Bach, aus Bächen der Fluß, aus einer Anzahl Flüsse der Strom. Kein Hindernis ist schließlich stark genug, ihn in seinem majestätischen Lauf zu hemmen." Diese Worte — sie stehen auf der vorletzten Seite des Buches „Die Frau" —, an das herrliche Goethesche Gedicht („Mahomeds Gesang") gemahnend, sind ein lebendiges Zeugnis seines mutigen rastlosen Prophetengeistes. Eine der wirksamsten Persönlichkeiten unseres Zeitalters. Nicht als ob die Partei, die er so lange mitgeleitet hat, sein Werk wäre. Sie ist ein historisches Gebilde von komplizierter Art. Wenn sie das wäre, was sie in den Vorstellungen und Anklagen derer ist, die den Patriotismus auf den Lippen tragen, wie die älteren Töchter König Lears ihre Vaterliebe, so wäre sie ein Produkt des deutschen Volksgeistes, dessen dieser sich schämen müßte. Das ist auch die lutherische Ketzerei und Neubildung in den Augen der überzeugtesten Anhänger des alten Glaubens. Der Erkennende wird anders urteilen. Das deutsche Wesen hat sicherlich auch seine Schatten in diese Gebilde geworfen. Aber die großen, lichten Züge gewahren wir zuerst darin, die der deutschen Nation zeitweilig den Ehrennamen eines Volkes der Denker eingebracht haben. Tadelnd freilich nannte schon der Theologe Herder, der in Ostpreußen zu Hause war, die Deutschen „tatenarm und gedankenvoll". Seitdem ist es anders geworden. Der Satz, daß zwischen den Waffen die Musen schweigen, ist ungenau. Sie schweigen nicht, aber ihre Weisen klingen hart und rauh. 10 „ . . . Lauf zu hemmen": 12 „Mahomeds Gesang":

Vgl. Bebel, 1891: 381. Das Gedicht entstand 1772/73, Erstdruck 1774 im „Göttinger

Musenalmanach". — Mahomet besingt hier den „Felsenquell", der seine „Bruderquellen" mit sich fortreißt: „Und die Flüsse von der Ebne | Und die Bäche von den Bergen | Jauchzen ihm und rufen: Bruder! | Bruder, nimm die Brüder mit, | Mit zu deinem alten Vater, | Zu dem ewgen Ozean, | ... "; vgl. Goethe, 1 9 0 2 - 1 2 : II, 4 2 - 4 4 . 18 Vaterliebe: In Shakespears Tragödie (1. Aufzug, 1. Szene): die Liebesbezeigungen ihrem Vater gegenüber, die sich jedoch als bloße Lippenbekennntisse herausstellen. 27 „tatenarm und gedankenvoll!": Hier liegt ein Irrtum Tönnies' vor. Die Wendung findet sich nicht bei Herder, sondern in Friedrich Hölderlins Ode „An die Deutschen" (1, 4).

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Schriften

Die deutsche Sozialdemokratie ist — außer dem, was sie sonst bedeutet — auch ein Protest des alten deutschen Geistes gegen den mißtönenden Lärm der Allgeschäftigkeit, des schmutzigen Marktes, der Mehrwert schmiedenden Fabriken, und gegen das brutale Klirren der Waffen, die dem mechanischen Massenmorde bestimmt sind. Die Ideale der Humanität stehen dagegen auf. Im großen und ganzen vergebens, wie der Augenschein lehrt. Aber: „wenn es keine Sozialdemokratie gäbe, so müßte man sie erfinden", war das tapfere Wort eines deutschen Gelehrten von hohem Range. Sie ist von niemand erfunden worden, sie ist entstanden aus eherner Not, genährt durch Götter und Dämonen, hervorgewachsen zu einer furchtbaren Größe, einer riesenhaften Verneinung, allen flachen Jubelgeistern zum Trotze, den einen ein Ärgernis, den andern eine Torheit, durch tausendfache Entrüstung, wütende Anklagen, öffentliche Brandmarkung nicht verkleinert, geschweige denn getötet. Ist sie ein Verderben? Ist sie ein Segen? Die Fragen verstummen vor der Erkenntnis ihres Seins, ihrer Notwendigkeit. Wollt ihr aber wissen, was eine sittlichgeistige Kraft, die euch ihrem Wesen nach fremd, feindlich, unverstehbar ist, siegreich macht? Blicket hin auf August Bebel — sein Geist ist in den Millionen lebendig. In ihnen hat er gewirkt, für sie hat er sich aufgeopfert; er hat sie geschüttelt und gerüttelt, aufgepeitscht und beruhigt, immer wußte er sie zu ergreifen und zu packen, die Massen, denen er, überlegen wie er ihnen war, dennoch mit der Ehrfurcht gegenüberstand, die alle Urnaturgewalten in unserer Seele erregen. Er glaubte ihnen, sie glaubten an ihn. Zu der großen Wissenschaft, auf die der deutsche Sozialismus stolz ist, hat Bebel wenig beigetragen: „Es wäre eine Anmaßung sondergleichen von mir, wollte ich mich als einen der sozialistischen Theoretiker betrachten", schreibt er gegen einen Naturforscher, der ihn unkundig als Vertreter dieser Theorie neben — Darwin als Vertreter der Naturwissenschaft gestellt hatte. Aber er war nicht, wie Auer, ein Mann der politischen Praxis, der die Theorie geringschätzte. Er hatte sie begierig in sich s so müßte man sie erfinden:

Möglicherweise meint Tönnies hier die Aussage von Werner

Sombart (1908: 318): „Mir scheint ..., daß sie [die Sozialdemokratie — A. M . ] notwendig, unabwendbar da ist und gar nicht nicht da sein könnte.". 29 Darwin

als Vertreter:

Vgl. Bebel, 1946 : 3. Bebel wendet sich mit dieser Feststellung

gegen H. E. Ziegler, seinerzeit ao. Prof. für Zoologie an der Universität Freiburg, der 1894 eine Gegenschrift verfasste: „Die Naturwissenschaft und die sozialdemokratische Theorie, ihr Verhältnis dargelegt auf Grund der Werke von Darwin und Bebel" (Stuttgart).

[August Bebel]

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aufgenommen, nach seinen Kräften in sich verarbeitet, er war von ihrer Wahrheit durchdrungen. Aber was ihn fesselte, war nicht sowohl die ökonomische Erkenntnis, als die allgemeine Aufklärung, die geistige Befreiung, der humane politische Wille. So war auch sein Wirken, außer auf die großen Haupt- und Staatsaktionen, die er nicht aus den Augen verlor, auf kleine Besonderheiten gerichtet, w o er mit Grund hoffen durfte, unmittelbar in reformatorischem Sinne zu wirken: die Sonntagsarbeit, die Übelstände in den Bäckereien, die Mißhandlungen der Soldaten ... so machte er sich gefürchtet bei allen, die aus Interesse oder Trägheit das Häßliche pflegen, das Niederträchtige, Mächtige verteidigen. Kein Volkstribun hat mehr zerschmetternd auf die Reihen seiner Gegner gewirkt. Hier war er weit entfernt von Utopien, vielmehr ein praktischer, geduldiger, unerschrockener Reformator des sozialen Lebens. Z u seinem unermeßlichen Erfolge bei der großen Menge gehörte aber, daß er es im Sinne eines großen Enthusiasmus und Zukunftsglaubens war. Karl Marx ist für die heutige Generation fast zu einer mythischen Figur geworden; er wird verehrt, mehr als verstanden. Näher schon fühlt man sich Friedrich Engels, er steht nicht in der unnahbaren Höhe; aber wenige haben ihn persönlich gekannt, die wenigen sind alt und erzählen von alten Zeiten. In der Erhabenheit des Stifters und Helden steht wiederum neben Marx Lassalle, in ferner Vergangenheit. Liebknecht hieß schlechtweg „der Alte" — er vermittelte die Weisheit, den wissenschaftlichen Sozialismus, man war überzeugt, daß er eingeweiht war; er imponierte den Jungen. So war er in hohem Grade eine Respektsperson, aber Bebel war mehr als das. Er genoß ebensoviel Liebe als Verehrung, ihn kannten alle als das fleischgewordene Prinzip der Partei, als Tradition zugleich und Leben, wie einen persönlichen Freund; die meisten „Zielbewußten" haben ihn gehört, sich von ihm fortreißen und begeistern lassen, und rühmen sich dessen. So ist denn Bebels Scheiden, obschon sein Wirken schon jahrelang gehemmt war, von nicht geringer politischer Bedeutung. Auf lange Zeit hinaus hängen an der Entwicklung der Demokratie und des Sozialismus die Geschicke des Deutschen Reiches. Daher die unendlich bedeutsame Frage: „Wie wird die Sozialdemokratie sich entwickeln? Bebel bedeutete die Einheit der Partei. Sein Geist, seine Autorität, seine Rede hielt die klaffenden Gegensätze zusammen. Wird sich geltend machen: wenn die Ursache aufhört, hört die Wirkung auf? Oder wird sich offenbaren, was die Geistesgeschichte so oft aufgezeigt hat: daß die Toten noch größere Macht haben als die Lebenden? Wird also die Ursache in Wahrheit nicht

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Schriften

aufhören, sondern wird man zusammenhalten im Namen Bebels? Oder werden die ganzen Bebelianer von den halben sich scheiden? Auch dafür sprächen manche Analogien. Oder wird sein Schatten erbleichen? Wird man allmählich empfinden, daß er durch die Umstände seiner Zeit bedingt gewesen ist, wie die Heutigen es sind durch die der ihren? Wird man, von seinen Irrtümern sich abwendend, freier einherschreiten auf der politischen Bahn? Neue Zeiten, neue Männer. Und gewiß ist dies. Bebel hat sich getäuscht, wenn er glaubte, das „Himmelreich sei nahe herbeigekommen". Das glaubte er allerdings. Er hoffte, den großen Tag zu erleben, wie auch immer er sich dessen Kommen vorgestellt haben mag. Er berief sich darauf, daß unser Zeitalter sozusagen mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts stürme und deshalb alle Feinde einer neuen besseren Welt erzittern mache. Wie die meisten Idealisten war er auch Intellektualist, ungeachtet seines Bekenntnisses zum „historischen Materialismus". D. h. er erwartete alles von der wachsenden Erkenntnis, von dem großen Lichte, das ihn selber erfüllte. Er hatte verhältnismäßig weniger Fühlung mit den realen Kräften, die das Leben allmählich, aber freilich langsam, in stetigem Kampfe, umgestalten, auch innerhalb der Arbeiterbewegung: mit der gewerkschaftlichen und der genossenschaftlichen Organisation. Das Endziel war für ihn alles. Obwohl sein scharfer Verstand wohl die Ursachen erkannte, die einen anderen Verlauf der Dinge, als er erwartete, bewirkten, obschon er gelegentlich selber einen Revisionisten sich nannte — was seiner Natur am meisten widerstrebte, war die Politik in dem Sinne, wie sie gleich anderen Geschäften eine Verleugnung der eigenen Gefühle und heiligen Überzeugungen fordert, wie sie den Kompromiß gebietet, wie sie auch den aufrechten Republikaner nötigt — zu Hofe zu gehen. Vielleicht wird bei keinem derer, die in seinen Spuren wandeln, der innere Widerstand gegen solche Opfer und Selbstverleugnungen so stark sein wie bei diesem Manne, der den Erfolg nicht suchte und ihn in wunderbarem Maße gefunden hat; der durch Ideale und Irrtümer hindurch in der Wirrsal des öffentlichen Lebens sich gerettet hatte, was immer einen schweren Stand darin hat: das gute Gewissen. Nachfolger haben den Vorzug, daß sie, unbelastet durch alte Pflichten, ungebunden durch frühere Aussprüche, leichter die Forderungen des Tages erfüllen können: auch mit gutem Gewissen. 9 „... sei nahe herbeigekommen": endlich kommen."

Vgl. Bebel, 1946: 522: „Das ,goldene Zeitalter' ... wird

Professor Friedrich Reuter Zu seinem 70. Geburtstage Professor Friedrich Reuter begeht am 5. Oktober in Ansbach seinen 70. Geburtstag. Weit und breit, in Schleswig-Holstein, und darüber hinaus, ist die Zahl derer verstreut, die an diesem Tage eines ausgezeichneten Mannes gedenken werden. Sehr vielen ist er in Kiel, in Glückstadt, in Altona ein wahrer Lehrer gewesen, gar manchem ein Wegweiser und Leiter fürs Leben. Geistvoll, gelehrt, von lebhaftestem Sinn für alles Echte, Ursprüngliche, Volkstümliche, ganz erfüllt vom Genius der Antike, wie von dem unserer eigenen klassischen Literatur, hat er verstanden, die Seelen zu bewegen, die Gemüter wohltuend zu erschüttern. Strenge gegen sich selber, forderte er viel von anderen, wußte aber auch jeden guten und treuen Willen zu ehren. Burschenschafter, als solcher Patriot und Liberaler der alten Schule, wurde er in Kiel 1866 durch Männer wie Treitschke, Gutschmid, Nöldeke, eingeführt, sein erster „Rektor", wie die Vorsteher unserer Gelehrtenschulen hießen, war Bartelmann, dessen Leben und Meinungen er in einer Folge von Programmen geschildert hat. Auch seine spätere literarische Tätigkeit war nicht gering; besonders hat er eingehende literarhistorische Studien seinen fränkischen Landsleuten Rückert und Platen gewidmet. Den Lesern der Kieler Zeitung ist er durch eine Reihe von Beiträgen näher getreten; so im Jahre 1895, als wieder einmal „scharf gemacht" wurde, durch vier

i Professor

Friedrich

Reuter:

Zuerst in: Kieler Zeitung vom 4. 10. 1913, Sonnabend,

Nr. 466, 2. Blatt, Morgen-Ausgabe, Kiel. Friedrich Reuter zählte zu den wenigen Freunden Tönnies', die ihm an Alter und Erfahrung weit voraus waren. 17 Bartelmann: 20 Rückert

und

Vgl. „Mittheilungen aus dem Leben des Director Bartelmann", Kiel 1875. Platen:

Vgl. Friedrich Reuter: „Drei Wanderjahre Platens in Italien

1 8 2 6 - 1 8 2 9 " , Ansbach 1900; „Die Erlanger Freunde F. Rückert und J . Kopp", Altona 1893; „Friedrich Rückert in Erlangen", Altona 1888 (die beiden letzteren als Programme des Königlichen Christianeums zu Altona). 22 „scharf gemacht":

Darunter ist zu verstehen die Politik der Sammlung aller bürgerlichen

Kräfte zur Abwehr der Sozialdemokratie mittels Sondergesetze, v. a. die sog. „Umsturzvorlage", die im Dezember 1894 dem Reichstag vorgelegt wurde (härtere Strafen u. a. für Aufreizung zum Klassenhass, öffentliche Auflehnung gegen Ehe und Eigentum, Ver-

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Schriften

beherzigenswerte Abschnitte „Vergilbte Blätter. Aus den Tagen der Restauration", mit einem Schlüsse, der, um seines Wertes willen, und um den Verfasser zu ehren, hier wiederholt werden möge: „Nach unserer Ansicht gebührt jedem Gesetz, so lange es rechtlich besteht, strenger Gehorsam; aber auch den Staatslenkern gebührt, die Hineinbildung der Gesetze in neue Lebensformen, die Entwickelung der Volkskraft nicht zu hemmen. Wenn die Form den Personen und den Dingen nicht mehr angemessen ist, sucht sich die lebendige Gegenwart neue Formen zu schaffen. Wer diese geistige Bewegung aufhält, die das nicht mehr adäquate Gesetz den lebendigen Bedürfnissen anzupassen strebt, versündigt sich an der Gegenwart und vergewaltigt die Zukunft. Dagegen nimmt, wer Ohren hat zu hören, Lehren an von der Vergangenheit. Die Presse ist der Glutofen, der das rohe Metall in Fluß bringt und die Schlacken absetzt. Freie Forschung, wissenschaftliche Untersuchung liefert die Methoden der Mischung, durch welche die Gewinnung des wahren Gehaltes gefördert, unter Umständen erst möglich wird. Die Kohlen im Ofen mit Asche überschütten, und die Chemiker an neuen Untersuchungen hindern, darin bestand die frivole Regierungsweisheit der Gentz und Metternich, deren Namen durch die fluchwürdigen Folgen der Restaurationspolitik als gebrandmarkt gelten müssen." Vom gleichen Geiste erfüllt ist Reuters „Geschichte der Erlanger Burschenschaft 1816—1833", die zwar in der literarischen Kritik einmütige Anerkennung, aber in den Kreisen, für die sie bestimmt war, kaum die Verbreitung gefunden hat, deren sie würdig ist. Da die Burschenschaft nun auch ihrer Jahrhundertfeier entgegengeht — die Jenaische 1915, die Erlanger 1916 — so wird man sich freuen dürfen, eine so treffliche Darstellung zu besitzen. Mehr und mehr wird die zeitgeschichtliche Bedeutung der Burschenschaft gewürdigt, eine historische Kommission, die aus

ächtlichmachung des Staates und seiner Einrichtungen). Am 11. Mai 1895 wurde die Vorlage in allen Teilen abgelehnt. 20 „... gebrandmarkt gelten müssen": Vgl. Kieler Zeitung (Große Ausgabe. Abends) vom 21. März 1895. Die Artikelserie 'Vergilbte Blätter' erschienen zuvor ebd. am 16., 19. und 20. März 1895 28 historische Kommission: Diese wurde gegründet am 13. April 1909. Weitere Gründungsmitglieder neben Meinecke waren Prof. Hermann Haupt, Direktor der UB Gießen; Universitätsbibliothekar Dr. W. Hopf, Rostock; Archivoberrat Hans Kaiser, Straßburg; Prof. O. Oppermann, Utrecht. Auch Reuter war zeitweise Mitglied des Vorstandes. Ab 1910 begannen die „Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung" zu erscheinen, hgg. v. H . H a u p t .

Professor Friedrich Reuter

371

alten Burschenschaftern zusammengesetzt ist — an der Spitze steht u. a. Friedrich Meinecke — trägt dafür Sorge. In Erlangen, seiner alten Musenstadt, lebte Reuter bis vor kurzem im Ruhestande. Kaum 60jährig, mußte der sonst vollkommen rüstige Mann wegen eines fortschreitenden Augenleidens den Lebensberuf aufgeben, dem er seine besten Kräfte gewidmet hatte. Eine kostbare Ehrengabe, die eine große Schar von ehemaligen Schülern ihm bei dieser Gelegenheit überreichte, gab auch in den begleitenden Worten Zeugnis von dem ungewöhnlich reichen Schatze von Liebe und Verehrung, den Reuter in diesem ebenso edlen wie schweren Berufe gesammelt hatte. Bedeutsam ist auch das Verdienst, das er sich um den jüngeren Freund, unseren Landsmann Friedrich Paulsen erworben hat; ihm war er in einer kritischen Epoche seines Lebens der an innerer Reife und Erfahrung überlegene Mensch, der ihm half, seinen Weg zu finden, der auch bis ans Ende ihm ein treuer Berater geblieben ist und fortwährend einen tiefen Einfluß auf ihn ausgeübt hat. Reuter ist es, dem Paulsens „Geschichte des gelehrten Unterrichts" gewidmet wurde und in seinen Lebenserinnerungen hat Paulsen auch ein Charakterbild des fränkischen Freundes entworfen, das liebevoll, wenn auch ganz subjektiv gezeichnet, eine interessante, wenn auch einseitige Ansicht des merkwürdigen Mannes darbietet. Möge dem Jubilar, der des Augenlichts beinahe völlig beraubt, doch voller Kraft des Geistes sich erfreut, ein heiterer Lebensabend beschieden sein, geschmückt durch die Dankbarkeit der Lebenden, gehoben durch das Bewußtsein, in einer Generation, die dem Ende zum guten Teile schon verfallen ist, mitgewirkt zu haben am schönen und guten Werken, die der Dichter, zu dessen intimen Kennern Reuter gehört, „der Gottheit lebendigem Kleid" vergleicht — durch das Bewußtsein also, in vielen, wenn auch ungesehenen Wirkungen fortzuleben.

8 bei dieser

Gelegenheit

überreichte:

Anlässlich des k r a n k h e i t s b e d i n g t e n

Ausscheidens

Reuters aus d e m Schuldienst h a t zu O s t e r n 1902 ein enger Freundes- u n d Kollegenkreis, d a r u n t e r a u c h Friedrich Paulsen, ein Z i r k u l a r bei ehemaligen Schülern h e r u m g e h e n lassen u n d darin a u f g e r u f e n , einen Beitrag z u m Kauf einer wertvollen Uhr zu leisten. 20 Mannes

darbietet:

Die D e d i k a t i o n lautet: „ M e i n e m Freunde Friedrich Reuter in G l ü c k -

s t a d t " , in: Paulsen, 1896; ebenso Paulsen, 1909: 1 6 0 - 1 6 6 . 27 „... lebendigem XIII, S. 24.

Kleid":

Vgl. G o e t h e , Faust I, N a c h t , 25, 509, in: G o e t h e , 1 9 0 2 - 1 9 1 2 :

[Nation und Nationalitäten] Ich komme auf die bei Schluß des Vortrags aktuell gewordene Frage zurück: die Ausschließung von Werturteilen aus den Verhandlungen unserer Gesellschaft. Das Prinzip ist in den Statuten festgelegt, es haben sich also alle daran zu halten. Vor allem sollte man sich vor einem Ueberschreiten der Grenzen nach dieser Seite hin deshalb hüten, weil die Soziologie sich von den wissenschaftlichen Disziplinen fernzuhalten hat, denen es um die Aufstellung von Normen zu tun ist. Zu Unrecht also sind vom Redner Ethik und Pädagogik in seinen Vortrag hineingezogen worden. Die Ideale auf diesen Gebieten liegen derartig auseinander und hängen so sehr mit Allerpersönlichstem zusammen, daß eine Diskussion darüber doch nur einen Kampf um Parteianschauungen bedeuten würde. Das aber muß eine Gesellschaft wie die unsere mit Grundsätzen von streng objektiver Wissenschaftlichkeit peinlichst meiden. — Was nun die tief gelehrte Abhandlung selbst betrifft, die wir soeben gehört haben, so war es leider eine überwiegend historische Darstellung und bietet als solche wenig Stoff zur Diskussion. Und gerade an dem eigentlich soziologischen Problem ist vorbeigegangen worden. Professor Barth hat das Gefühl der Nationalität wie etwas ein für allemal Feststehendes behandelt. Es handelt sich für uns doch aber gerade darum, wie das, was wir Nationalität nennen, sich zu dem verhält, was man sonst darunter verstanden haben mag, welche Stellung der Begriff Nation andern verwandten Begriffen gegenüber einnimmt, dem Begriffe Volk etwa als der i [Nation

und Nationalitäten!:

Zuerst in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziolo-

gentages vom 20. —22. Okt. 1912 in Berlin. Reden und Vorträge von Alfred Weber, Paul Barth, Ferdinand Schmid, Ludo Moritz Hartmann, Franz Oppenheimer, Robert Michels und Debatten. Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie. Verhandlungen der Deutschen Soziologentage, II. Band, Tübingen (Mohr) 1913, S. 49. Ein titelloser Diskussionsbeitrag von Tönnies zum Referat „Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung" von Paul Barth vom 21. Okt. 1912, ebd., S. 2 1 - 4 8 . In einer „Vorbemerkung" des Tagungsbandes wird auf einen Beschluss verwiesen, wonach „die Diskussionen ... nur in kurzem Auszug veröffentlicht" werden; das galt insbesondere für Beiträge, „woran der Gesamtheit der soziologisch Interessierten keine Teilnahme zuzumuten" war. Außer Tönnies beteiligten sich an der Diskussion Max Weber, Eduard Bernstein, Ludo M . Hartmann, Eugen Würzburger (Dresden), Robert Michels, Karl Rathgen (Hamburg).

[Nation und Nationalitäten]

373

durch natürliche Bande zusammengehaltenen Einheit. Es ist eine spezifisch soziologische Aufgabe, solche oft verwechselten und ineinander verschwimmenden Begriffe wie Volk, Stamm, Nation, Nationalität zu scheiden und zu klären — freilich nicht die Aufgabe des Diskussionsred5 ners. Ich begnüge mich deshalb, darauf aufmerksam zu machen, daß die großen sozialen Körper, die sich Nationen nennen, wohl ohne Ausnahme aus mehreren Nationalitäten zusammengesetzt sind. Was der Redner für das Altertum hervorhob: die Tendenz, den Begriff der Nation von dem der Abstammung zu lösen — wäre zunächst einmal genauer zu untersu10 chen.

[Die moderne Nation] Wir gebrauchen das Wort „national" beständig in einem verschiedenen Sinn. Herr Dr. Böttger brauchte das Wort in einem vom modernen abweichenden Sinne. Die moderne Nation muß ihrem Wesen nach so verstanden werden, daß sie wenigstens zum Teil Willenstendenzen charakte- s risiert, die ihren Kern darin haben, daß sie auf einen möglichst großen und allgemeinen Kreis hinausgehen. In diesem Sinne kann man die panslavistischen Tendenzen national nennen. (Dazu: Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat.) Die Nationalität kann durch Internationalität gefördert werden und umgekehrt; die Geistesrichtung ist in vielen Bezie- 10 hungen von gleicher Art. — Zum Kapitel Nationalhymnen ist zu erwähnen, daß auch die kleinen deutschen Sonderstaaten ihre eigenen Nationalhymnen haben.

i [Die moderne Nation]: Zuerst in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages vom 20.—22. Oktober 1912 in Berlin. Reden und Vorträge von Alfred Weber, Paul Barth, Ferdinand Schmid, Ludo Moritz Hartmann, Franz Oppenheimer, Robert Michels und Debatten. Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie: Verhandlungen der Deutschen Soziologentage, II. Band, Tübingen (Mohr) 1913, S. 73. Es handelt sich hier um eine titellose Diskussionsbemerkung Tönnies' zu einem Referat von Prof. Ferdinand Schmid, Gautzsch bei Leipzig, zum Thema „Das Recht der Nationalitäten" vom 21. Okt. 1912, ebd., S. 55—72. Neben Tönnies beteiligten sich an der Diskussion Max Weber, Dr. Böttger (Dresden), gegen dessen Diskussionsbeitrag sich Tönnies wendet, Paul Barth, Robert Michels, Dr. Müller-Hansen (Berlin), Alfred Weber. 8 Meinecke-. Vgl. Meinecke, 1907: 1 - 2 2 .

[Der Begriff der Nation] Ich komme auf den Begriff Nation zurück, dessen Klärung vielleicht ein kleiner positiver Gewinn dieser Tagung sein wird. In ihm liegt eine tief antagonistische Tendenz gegen den Blutbegriff Volk, so groß die Ver5 wandtschaft beider auch sein mag. Volk ist ein ursprüngliches Element des sozialen Lebens, Nation ein spezifisch moderner Begriff. Volk ist eine rohe, natürliche, biologische Realität, Nation mehr eine Idee, ein soziologisches Ideal. Der Begriff Volk ist verknüpft mit der Vorstellung der großen untern Massen, Nation dagegen ist ein Gedanke der obern, 10 führenden Schichten, von denen er dem „Volk" erst aufoktroyiert wird. — Der moderne Patriotismus bezieht sich nicht auf das Volk, sondern auf die Nation. Der Deutsche in den Vereinigten Staaten behält — wenn er überhaupt Patriotismus behält — Reic/7spatriotismus; er meint mit seinem Gefühl nicht die Brüder in Deutschland, Oesterreich und der 15 Schweiz, sondern das Deutsche Reich.

i [Der Begriff der Nation]: Zuerst in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages vom 20.—22. Okt. 1912 in Berlin. Reden und Vorträge von Alfred Weber, Paul Barth, Ferdinand Schmid, Ludo Moritz Hartmann, Franz Oppenheimer, Robert Michels und Debatten. Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie: Verhandlungen der Deutschen Soziologentage, II. Band, Tübingen (Mohr) 1913, S. 187. Eine titellose Diskussionsbemerkung in bezug auf die Vorträge: „Die Nation als politischer Faktor" (Dr. Ludo Moritz H a r t m a n n , Wien), ebd., S. 80—97; „Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie" (Franz Oppenheimer, Berlin), ebd., S. 98 —139; „Die historische Entwicklung des Vaterlandsgedankens" (Robert Michels, Turin), ebd., S. 140—184. An der Aussprache beteiligten sich neben Tönnies auch Werner Sombart, Heinrich Driesmanns (Berlin), Dr. Somary (Berlin), Dr. Vogelstein (München), Max Weber, mit einem Schlusswort von Franz Oppenheimer (S. 191 f.).

Geläuterter

i Geläuterter

Sozialismus:

Sozialismus

Zuerst in: Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische

Bildung (Dorn, H. u. a. [Hg.]) 1913, 4. Jg., Heft 19 (1. Oktoberheft), S. 8 5 5 - 8 6 0 , Stuttgart/Leipzig/Berlin (Moritz) Auszug aus: „Die Entwicklung der sozialen Frage". Leipzig (Göschen), 2. verbesserte Auflage 1913 (1. Auflage 1907), vgl. T G 8. In einer Anmerkung der Redaktion heißt es zum Schluss: „Die kleine Schrift von Professor Tönnies: ,Die Entwicklung der sozialen Frage', der wir diesen Abschnitt mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers entnehmen, erscheint soeben bei G. J . Göschen, Leipzig-Berlin in 2., durchgesehener Auflage."

Der Staatsmann und das Leben In jedem Staate sind die Aufgaben des Staatsmannes teils gleichartig mit denen der anderen Staaten, teils wesentlich verschieden. Verschieden nicht nur nach der gesamten Lage des Volkes, sondern auch nach dem Wesen des Staates selber. In einem altzentralisierten Einheitstaate wie Frankreich sind die Aufgaben verhältnismäßig einfach, wenn auch erschwert durch die mangelnde Übung des hier unbestritten souveränen Volkes, sich in Gemeinden und andern Selbstverwaltungskörpern selber zu beherrschen; diese Übung ist der große Vorzug Englands; und die großen Aufgaben, die heute britische Staatsmänner sich setzen, werden nach Ausscheidung Irlands aus dem eigentlichen Reichskörper in hohem Grade vereinfacht werden. Das Deutsche Reich befindet sich in der eigentümlichen, staatsrechtlich verwickelten Lage eines historisch stark bedingten Bundesstaats, der eine Zusammensetzung ist aus einer dem Ursprünge nach völkerrechtlichen Verbindung formell gleicher, souveräner Gliedstaaten, aus einer rein staatsrechtlichen Einheit, der Einheit aller deutschen Reichsbürger, und endlich aus dem mehr tatsächlichen als rechtlichen Verhältnisse der Abhängigkeit vieler kleiner Staaten von der Vormacht, Preußen, deren Hegemonie auch die größeren Bundesglieder gelten lassen. Das erste Element hat seinen verfassungsrechtlichen Ausdruck im regierenden und legislativen Körper „Bundesrat", das zweite im legislativen Körper „Reichstag", das letzte im Bundespräsidium bei der Krone Preußen und der Kaiserwürde als erblich-monarchischer Spitze der exekutiven Gewalt. Das erste Element ist föderalistisch, das zweite unitarisch, das dritte aus beiden gemischt, sofern ein Einzelstaat die Einheit repräsentiert. In diesem dritten kristallisiert sich daher auch die Aufgabe des 1 Der Staatsmann und das Leben: Zuerst in: Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung 1914, 5. Jg., Heft 1 (Januar), S. 3 - 1 7 , Stuttgart/Leipzig/Berlin (Moritz). 22 „Bundesrat": Nach RV von 1871 die Vertreter der Mitglieder des Bundes, mit der Stimmführung Preußens (Art. 6). Den Vorsitz führte der Reichskanzler, der vom Kaiser zu ernennen war (Art. 15 RV). 23 Bundespräsidium: Nach Art. 11 Abs. 2 RV von 1871 der König von Preußen, der den Titel „Deutscher Kaiser" trug.

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Schriften

deutschen Staatsmannes, was auch in der schon zur Regel gewordenen Personalunion des Reichskanzlers mit dem Präsidenten des preußischen Staatsministeriums zur Erscheinung kommt. Der deutsche Staatsmann ist seinem Begriffe nach Reichsmann, er hat die Interessen des Reiches als einer staatsrechtlichen Gesamtheit, als eines Staates wahrzunehmen. Er kann dies freilich nicht sachgemäß tun, ohne sich fortwährend der Rechte der Gliedstaaten und der durch diese Rechte begrenzten Kompetenzen des Reiches zu erinnern, aber er wird auch fortwährend danach streben müssen, diese Kompetenzen auszudehnen und auszubauen, danach streben müssen, das Reich als Zentralgewalt in immer mehr direkte Beziehungen zu den Individuen, den Reichsbürgern, zu setzen. Denn dem Reiche stehen die neuesten und eben darum auch bedeutendsten Funktionen des Staates zu, die prinzipiell tiefstgehenden Eingriffe des Staates in den Prozeß der Gesellschaft, die wesentlichsten Beschränkungen der wirtschaftlichen Freiheit des einzelnen. Diese A u f g a b e n entspringen unmittelbar aus dem obersten Z w e c k , den das Reich als Staat sich gesetzt findet: nämlich die Erhaltung seiner selbst als der politischen Einheit aller, durch Schutz gegen äußere Feinde, durch Fürsorge für den inneren Frieden. Denn der Prozeß der Gesellschaft reproduziert nicht nur die alten, längst traditionell gewordenen Gegensätze, er erzeugt außerdem, und gerade durch seine moderne Gestalt, gleichsam in jedem Molekül der Erwerbsgesellschaft — jedem wirtschaftlichen Betriebe — den Gegensatz zwischen der vermögenden und der vermögenslosen Klasse, zwischen Kapital und Arbeit. D e m Probleme, ob und wie dieser klaffende Riß durch die Reichsgesetzgebung sich heilen lasse, kann der deutsche Staatsmann sich auf keine Weise entziehen, er findet sich in der Tat mitten in dies Problem hineingesetzt. Von alters her ist die A u f g a b e des Staatsmannes der des Arztes verglichen worden. Was dieser am individuellen Körper, das soll der Staatsmann am sozialen Körper: Leben fördern, dem Sterben vorbeugen. Beide müssen die Bedingungen des gesunden Lebens erkennen, und sie können voneinander lernen: nicht nur weil das soziale Leben und das organische Ähnlichkeiten aufweisen, sondern auch weil einerseits Leben und Gesundheit der einzelnen Menschen in hohem G r a d e durch die sozialen Umstände, die auf ihre Entwicklung und auf ihre K r ä f t e wirken, bedingt sind, andererseits das gesunde soziale Leben in der physischen und moralischen Gesundheit des Volkes, also der vielen Individuen am unmittelbarsten sich verwirklicht. Aber ein Volk ist mehr als die Summe der jeweilig zusammenlebenden Personen. Sein Wesen ist die Dauer im

D e r S t a a t s m a n n u n d d a s Leben

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Wechsel der Generationen, daher auch im Wechsel der Institutionen, im Wechsel der Ideen, von denen die Generationen genährt werden, für die sie leben und sterben. Die biologische Analogie lehrt, daß in der Regel die Anpassung an neue Lebensumstände am besten gelingt, wenn sie in der konservativsten Weise vollzogen wird, d. h. mit möglichster Erhaltung solcher Organe und Gewebe, die schon nützliche Funktionen bisher dem Organismus geleistet haben, so daß deren neu erworbene Fähigkeit die alte nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern, wenn möglich, vermehrt und verbessert. Im großen ganzen ist so auch die Natur bei ihrem großen Werke des Fortschrittes von niederen zu höheren Lebensformen verfahren. Freilich hat sie unzählige zum Leben unter den Bedingungen, auf die sie angewiesen waren, untaugliche oder doch minder taugliche Gestalten untergehen lassen; aber die überlebenden — wenigstens innerhalb des animalischen Reiches in seinen sechs höheren Stämmen — haben die einmal im Typus der Vermalia gewonnene bilaterale (zweiseitig-symmetrische) Grundform, trotz ihrer unendlich verschiedenen Aus- und Umbildungen, festgehalten; das ist ein anderer Ausdruck für die Tatsache, daß jene Grundform sich als zweckmäßig bewährt hat. Noch deutlicher ist die Erhaltung des Wirbeltiertypus in seinen — nach Haeckel — acht Klassen, von denen sieben zu den Schädeltieren gehören, die sich durch ein zentralisiertes, also wirkliches Herz ebenso wie durch ein Gehirn auszeichnen, zwei Organe, die nun als Zentralorgane, jenes des Gefäß-, dieses des Nervensystems, dem Tierkörper erst zur mannigfachen Ausbildung seiner Extremitäten verhelfen, denn die Ernährung des Gehirnes ist offenbar durch jene Zentralisierung des Blutumlaufes bedingt, deren Vervollkommnung auch Hand in Hand geht mit der Anpassung an das Landleben, namentlich an die „terrestrische Zeugung", wodurch die höheren Wirbeltiere sich auszeichnen; die Lungenatmung und die „Pentanomie" (Fünffachheit) der freien Gliedmaßen sind, nebst der Amnionhülle des Embryo, ferner große Fortschritte, die diesen allen gemeinsam sind, — hier aber begegnen uns neben den Umbildungen durch Differenzierung der Funktionen eines vorhandenen Organs, und damit des Organs selber, zwei andere Prinzipien der phylogenetischen Entwicklung, nämlich 1. die Verwandlung eines Organs durch Übernahme völlig neuer Funktion, während die alte aufgegeben wird — denn dadurch wird die ursprüngliche

16 Vermalia:

Wurmtiere.

20 nach Haeckel:

Vgl. H a e c k e l , 1902: 611, 620 f.; zur P e n t a n o m i e : 636 f.

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Schriften

Schwimmblase der Fische zur Lunge, und dieses neue Respirationsorgan tritt in Konkurrenz mit dem alten, dem Kiemenbogen der Fische, und diese verlieren ihren ursprünglichen Lebenswert, um in der Ontogenie der höheren Wirbeltiere nur noch für Nebenzwecke verwandt zu werden; 2. die Neubildung eines Schutzmittels, womit, wie angenommen wird, der Prozeß der Natur, der das Unzweckmäßige untergehen läßt und das Notwendige gestaltet, den selber hilflosen Embryo umgibt. Es ist verführerisch, aber auch irreführend und trügerisch, die Entwicklung eines „sozialen Organismus" mit derjenigen einer Pflanze und eines Tieres zu vergleichen. Die sozialen Gebilde müssen, ehe solche Vergleichungen Wert haben können, gründlicher in sich selber erforscht worden sein. Es darf vor allem nicht vergessen werden, daß das bloße Zusammenleben in „Gesellschaften", Kulturzusammenhängen und Menschheitkreisen etwas ganz anderes ist als das bewußte Zusammenleben in Verbindungen, die von den Zusammenlebenden selber als solche gedacht und gewollt werden. Diese sind nicht nur vergleichbar, sondern ihrem Wesen nach gleichartig mit allen Apparaten, Geräten und Werkzeugen, die der Mensch sich für seine Zwecke schafft: in alle diese legt er seine Idee hinein. Das bloße Zusammenleben bietet durch die Teilung der Arbeit eine wirkliche höchst bedeutende Analogie dar mit dem Entwicklungsprozeß der Organismen, zumal der animalischen, in seinem Gesamtverlauf (der Phylogenie) wie in seinem individuellen Verlauf (der Ontogenie). Die Ausbildung der menschlichen Werkzeuge, Instrumente usw. und so auch die der sozialen Körper, der Institutionen, Gesetze und Rechtsbegriffe, ist aber vielmehr eine Fortsetzung der Phylogenie in dem Sinne, daß die menschliche Vernunft, unfähig, gleich der Natur Organe um- und neuzubilden (oder doch nur in sehr beschränktem Maße und in Kooperation mit der Natur), immer mehr fähig wird, den unorganischen Stoff und den bloß in der Vorstellung vorhandenen Stoff in Formen zu „gießen", vermöge deren teils der einzelne, teils, und zwar besonders, die Zusammenlebenden gemeinsam etwas daran besitzen, was sie von denen, die solche Hilfsmittel nicht besitzen, ebenso abhebt, wie der Besitz eines spezielleren und vollkommeneren Organs ein Tier vor den anderen auszeichnet. Daher ist die spezifisch menschlich-historische Anpassung ebenso wie die spezifisch menschlich-historische Vererbung ganz und gar durch die Entwicklungsgeschichte dieser höchst mannigfachen Quasiorgane, wie wir sie einmal nennen wollen, bezeichnet.

Der Staatsmann und das Leben

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Mithin ist eine höhere Selbsterkenntnis das erste, was der Staatsmann aus der biologischen Entwicklungslehre lernen kann. Er sieht sich in den Zusammenhang der natürlichen Entwicklung gestellt, erkennt die notwendige Begrenztheit seiner Aufgabe und seines Könnens, beide als bedingt, nicht nur durch die Geschichte seines Volkes und der Menschheit, sondern durch den ganzen langsamen Prozeß der Humanisierung, worin erlesene Teile der Menschheit sich aus der Wildheit und Barbarei ebenso emporheben, wie sich erlesene Teile der Affenmenschheit zum Gebrauche von Wortzeichen, von Steinäxten und zur Idee eines verwandtschaftlichen Bandes zwischen ihnen emporgehoben haben. Eine tiefere Erkenntnis der menschlichen Natur und der menschlichen Geschichte, als im allgemeinen das 18. Jahrhundert sie besaß, hat sich im 19. unabhängig von den Fortschritten der Biologie Bahn gebrochen, wenn sie auch noch keineswegs nach allen Richtungen hin ausgebaut worden ist. Wie wir dem einzelnen Menschen nur gerecht werden können, wenn wir einsehen, daß sein Handeln durch seine Natur bestimmt wird, und daß in seiner Natur angeborene, vererbte, also schlechthin notwendige Anlagen, Triebe und Neigungen vorhanden sind, die auf ihn umgebende Lebensbedingungen gesetzmäßig reagieren, so müssen wir auch den Entwicklungsgang des Menschengeschlechtes und den unseres Volkes in ihrer Notwendigkeit zu begreifen uns vorsetzen. Wie mangelhaft dies auch im einzelnen gelingen mag, wie sehr die Methoden der Erkenntnis auch von den biologischen sich unterscheiden müssen, so werden wir doch überall, wo wir die Entwicklungen der Kultur und höheren Kultur beobachten können, den Kampf einer beharrenden und einer verändernden, ablenkenden Tendenz in mannigfachen Komplikationen erblicken. Und wenn wir nun inne werden, daß dieser Gegensatz nicht etwas den Menschen Eigentümliches ist, sondern in der ganzen organischen Natur angetroffen wird — ja, seinem Wesen nach derselbe ist, der auch die Bewegungen der Himmelskörper regiert —, so muß zunächst die tiefe Befriedigung über uns kommen, die aus einer wahren und universalen Erkenntnis entspringt. Ein so überwältigender, unpersönlicher Anblick des seinem Wesen nach unendlichen und ewigen Widerspruchs, dem selber die Tendenz zum Ausgleich, zum Frieden ewig widerspricht, muß in uns alle kleinen und engen Gefühle, womit wir, selber als Kämpfende, das, was uns entgegen ist, ansehen oder gar verfolgen, dämpfen; er kann uns jenen Wahn zerstören, der die Neuerer sonst so regelmäßig erfüllt: als beruhe der Widerstand, auf den sie treffen, in einer weiter nicht erklärbaren Torheit oder Bosheit der Gegner; als

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Schriften

könnte z. B. im Staatsleben das absolut Richtige gefunden und verwirklicht werden, wenn nur jener — die sie meinen — sinnlose Widerstand nicht wäre. Der erkennende Staatsmann wird in jedem Widerstande einen Sinn finden, denn er wird ihn als Naturerscheinung auffassen, deren Sinn in ihrer Ursache liegt, wenn diese tief genug begriffen wird. Er wird in allen erhaltenden Mächten etwas, was der Vererbung organischer Anlagen wesensverwandt ist, wiedererkennen, sei es, daß es die psychologische Vererbung der Neigungen, des Geschmackes und die daraus unmittelbar hervorgehende der Lebensweise und Gewohnheiten sei oder die große soziale Vererbung der Tradition mit ihren Heiligtümern. Die liberale und gegen die mittelalterliche soziale Ordnung revolutionäre Bewegung hat diese Einsicht nicht gehabt. Sie hat immer gestritten, als ob es sich lediglich darum handle, eine absolut bessere Erkenntnis an die Stelle einer absolut schlechteren zu setzen; als sei überhaupt der Mensch eigentlich und wesentlich ein intellektuelles Wesen, also von den übrigen Organismen durch eine unermeßliche Kluft geschieden, als bestehe daher auch sein Fortschritt allein und ganz und gar in der absolut besseren Erkenntnis, die man ihm als sein wahres Heil daher nötigenfalls aufzwingen könne und dürfe. Sie ermangelte daher der Geduld, die den Gärtner und Züchter, der es mit organisch bedingten Wesen zu tun hat, von dem Fabrikanten unterscheidet, der eine gegebene Menge Stoffs in möglichst kurzer Zeit durch mechanische Mittel in beliebige Objekte verwandelt. Es gilt aber für uns als Erkennende, auch diese Ungeduld und Überstürzung, diese Tendenz zur Fabrikation von Gesetzen, diese revolutionären Strömungen als natürlich und notwendig zu begreifen. Weil der Mensch eben nicht ein wesentlich intellektuelles, sondern ein wollendes und getriebenes Wesen ist, gleich allen anderen, wie sehr auch seine Triebe durch Gedanken erhöht und modifiziert sein mögen, darum können wir gar nicht anders erwarten, als daß auch hinter jenem Irrtum und jenen Fehlern ein Wollen verborgen ist, das wir zwar auch irrtümlich und fehlerhaft nennen mögen, das wir aber besser als Naturerscheinung begreifen, indem wir es aus anderem Wollen ableiten, indem wir den Ausdruck des Kampfes einer Klasse um ihre Freiheit, ihre Rechte, ihre Herrschaft darin erkennen. Sie will stürmisch, mit Ungestüm und Ungeduld, weil sie von Leidenschaft mehr bewegt wird als von Gedanken, weil es für sie gilt, die Zwingburg der „Gesetze und Rechte", die sich „wie eine ewige Krankheit" — nach ihrer Empfindung — fortgeerbt haben, zu zerstören und dagegen — wie sie meinen — den Tempel der Freiheit, des Lichtes, der Humanität zu erbauen. — Indessen tritt doch

Der Staatsmann und das Leben

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diese Ungestümheit des Wollens nicht überall, nicht immer, nicht gleichmäßig auf, vielmehr ist sie selber in jeder Hinsicht durch die Umstände bedingt: durch den Volkscharakter, durch das Temperament führender Personen, durch das Betragen der Gegner, vor allem aber und ganz sachlich durch den Grad der Spannung, die zwischen den tatsächlichen sozialen Verhältnissen auf der einen Seite, den Institutionen und Gesetzen auf der anderen Seite besteht. Wir kommen damit auf das Merkmal ungesunder Zustände zurück: die rechtzeitige, langsame, stetige Anpassung der Gesetze an die tatsächlichen Verhältnisse und Bedürfnisse ist versäumt worden, infolgedessen ist an dem gegebenen Zeitpunkt die erwünschte ruhige und kontinuierliche Entwicklung nicht mehr möglich, eine explosive Entwicklung, eine Katastrophe ist naturgesetzlich notwendig geworden. Aus den dargelegten Gründen ergibt sich auch, daß die Sache nicht so liegt, als könnten für die Zukunft durch bessere soziologische und politische Einsicht innerpolitische Katastrophen mit Sicherheit verhütet und vermieden werden. Es wird immer noch erheblich weniger von dem Lernen und Wissen als von den Motiven, den Gefühlen und Affekten der handelnden Personen, auch der Staatsmänner, abhängen. Und es darf mit Zuversicht gesagt werden, daß diese Motive sich immer wieder, je nach ihrer Stärke, mit starken und wirksamen Vorstellungen umhüllen werden, daß sie auf beiden Enden, dort die allein seligmachende Kirche, die ewigen Fundamente der Ordnung und des Rechtes, hier die absolute wissenschaftliche Wahrheit, die definitive Gestaltung der menschlichen Gesellschaft nach Grundsätzen der Vernunft und Humanität, auf ihre Fahnen schreiben werden: es ist eben das menschlich Natürliche. Gleichwohl ist die Erkenntnis, die allen Gegensätzen und streitenden Parteien gerecht wird, die aber auch allen nur eine relative Berechtigung zuschreibt, keineswegs unnütz und ohne Wirkung auf den Gang der Dinge. Sie ist die allein objektive und besonnene Ansicht, die ihrem sachlichen Gehalte nach auf Psychologie und auf Geschichte sich gründen muß, die aber, wie gesagt worden, durch allgemeine philosophische und namentlich durch biologische Grundsätze eine äußere Stütze gewinnen kann. Sie wird sich schlecht hineinfügen in die Methode eines kämpfenden Parteimannes, aber sie wird dem außerhalb der Parteien stehenden Staatsmann die angemessenste sein. Seine natürliche Stellung ist nicht zwischen den Parteien: das wäre die Stellung eines untätig bleibenden Zuschauers oder eines Schiedsrichters, dem sie ihre Sache vorlegen. Sie ist allerdings über den Parteien, insofern als die empirischen Formen und

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Formeln keiner Partei ihn binden dürfen, möge er auch selber aus einer von ihnen hervorgegangen sein. Und doch ist in der idealen Parteiung — von der die empirischen Parteien immer nur unvollkommene Ausdrücke sind — seine Stellung bestimmter- und notwendigerweise immer auf der einen Seite, auf Seite der Erkenntnis, der erneuernden Anpassung oder, was dasselbe besagen will, der bewußten und vernünftigen Reform. Denn der Staat selber ist Anpassung, ist Reform; er ist mit allen seinen Kräften, durch seine ganze Entwicklungsgeschichte darauf hingewiesen. Der Staatsmann ist daher berufen — wenn er auch nicht anders als mit den empirischen Parteien arbeiten kann —, die ideale Reformpartei zu bilden und zu lenken. Lenken heißt sie moderieren, und dies wird in der Praxis so viel heißen können als die empirische Partei der idealen Partei annähern. Der Staatsmann kann Parteiführer sein, ohne Parteimann zu sein. Der Parteiführer gibt der Partei ihre Feldzeichen, der Parteimann empfängt sie. Indem der Staatsmann die Leidenschaft der Partei moderiert, wird er das Tempo ihres neuernden gesetzgeberischen Vorgehens retardieren; wenn er im Namen der Majorität handelt, so wird er gegen diese die Rechte der Minorität, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Denkungsart — möge er selber diese als zurückgeblieben ansehen — energisch geltend machen; nicht nur weil er das Interesse der Gesamtheit wahrnehmen soll — dieses kann sogar den Interessen und Meinungen der Mehrheit, wird aber öfter denen der Minderheit entgegen sein —, sondern vielmehr, weil diese die Stelle der Selbstkritik vertritt; weil sie, wenn einmal die Mehrheit im Sinne der Anpassung und Reform vorgeht, regelmäßig das Alte und Erprobte, den Sinn der Vererbung und Überlieferung entgegengehalten wird; weil die Reform um so glücklicher, also vernünftiger ausfallen wird, je mehr sie mit dem, was nicht etwa sich schlecht bewährt hat, was zum Weiterleben aus eigener Kraft nicht fähig, daher auch nicht berechtigt ist, schonend verfährt. Er wird also grundsätzlich vorziehen, Institutionen absterben zu lassen, als sie abschaffen, wird Sitten und Anschauungen, von denen er erkennt, daß sie nicht mehr angepaßt, nicht mehr „zeitgemäß" sind, doch lieber noch eine Nachblüte gönnen als sie gewaltsam aus dem Herzen der Menschen auszureuten versuchen. Er wird als Gesetzgeber — soweit er bestimmenden Einfluß auf die Gesetzgebung hat — entschlossen, aber auch vorsichtig den Bedürfnissen des Volkes, nachdem er sie erkannt hat, zu folgen suchen. Vor allem daher seine Anpassungszwecke dadurch erreichen, daß er diejenigen Institutionen, die schon aufgenommen worden sind, die „sich eingelebt"

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haben und also etwas von der Stabilität des Vererbten erworben haben, ausbaut, d. h. sie, wenn auch durch unmerkliche Inkremente, vergrößert und verstärkt. Dies kann aber gar nicht geschehen, ohne daß diese relativ neuen Institutionen mit alten, die bisher ebensolche oder ähnliche Funk5

tionen verrichteten, in Konkurrenz

treten und leise die Nahrung an sich

ziehen, die sonst diesen zugeflossen ist, — der sicherste und ruhigste Weg, um diese überflüssig zu machen und durch einen natürlichen Tod eingehen zu lassen. Auch solches Sterben geht nicht ohne Wehklagen vorüber; aber es hängt doch keine Rache und Strafe, auch kein böses 10 Gewissen daran. Gleich der Natur'sollte auch der Staat solche Apparate, die zu ihren alten Funktionen nicht mehr dienen, gleichwohl in der Ö k o nomie des Ganzen zu verwerten sich bemühen. Die Natur verfährt unbewußterweise zweckmäßig: sie macht viele Versuche; die meisten scheitern an ihren Widerständen, aber einzelne — die glücklichen Varianten 15 — sind besser „begabt" und treffen auf fördernde Umstände, sie erhalten sich im Kampf ums Dasein und pflanzen sich fort. Der Staatsmann als Denkender kann bewußterweise zweckmäßig verfahren, er kann voraussehen, was geschehen wird, daher die Versuche, von denen er weiß, daß sie mißlingen werden, sparen, um seine Kräfte auf solche zu konzentrie20 ren, deren „Einschlagen" er mit gutem Grunde erwarten darf. — Auch im Verlaufe der bisherigen sozialen Entwicklungen hat die Konkurrenz der Institutionen eine nicht geringe Rolle gespielt, wenn sie auch mehr aus der ganzen Lage der Dinge, also auf dem Wege der Natur, als aus bewußtem Plane, auf dem Wege der Vernunft, erfolgt sein dürfte. Die 25 Lage der Dinge gebietet der Vernunft und bewahrt sie vor Irrwegen. J e mehr sie sich selbst erkennt, desto mehr muß sie erkennen, daß die Wirklichkeit zu belauschen ihre allererste Aufgabe ist; erst dann soll sie, wenn auch mit höchster Freiheit, ihre Begriffe bilden, um die Wirklichkeit zuerst zu verstehen und dann erst zu beherrschen. Dadurch eben 30 unterscheidet sich die reformatorische Vernunft von der revolutionären Vernunft: diese will alles „machen", sie vertilgt „radikal" alles, was bisher gewachsen ist und ihr nicht unmittelbar zweckmäßig erscheint, um ihre eigenen Pflanzungen treibhausmäßig zu fördern. Jene zieht nur das Unkraut vorsichtig aus; alte Bäume, die noch Früchte tragen, läßt sie 35 stehen, aber pflanzt junge daneben. Sie weiß, daß die Natur sich gleich bleibt, und daß eine gesunde Pflanze in lockerem Boden, durch Wärme und Licht wachsen und gedeihen wird. Sie wird jedoch für bestimmte Zwecke auch die Hilfe des Treibhauses und des Mistbeetes nicht verachten.

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Kehren wir nun zurück zur Aufgabe des deutschen Staatsmannes, als des Mannes, der das Reich hegen und pflegen soll, der vor allem zur Wahrung des sozialen Friedens berufen ist. Das wichtigste Mittel der Friedenswahrung ist die Streitschlichtung im Wege der Rechtsprechung; sie ist zugleich eine der ursprünglichen Funktionen politischer Verbände. Aber das Reich ist zunächst nur Richter über Streitigkeiten zwischen den Gliedstaaten; im übrigen tritt seine Justiz nur subsidiarisch ein. Die Justizhoheit gehört den Einzelstaaten. Nun gehen aber, nach alter Gewohnheit und aus bestimmten historischen und ökonomischen Ursachen, Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern in der Regel nicht an die ordentlichen Gerichte. Ein Reichsgesetz ist hier eingetreten, das die fakultative Einrichtung von Gewerbegerichten anordnet; die Bildung von kaufmännischen Schiedsgerichten hat sich neuerdings daran angeschlossen. Dies sind höchst wichtige, entwicklungsfähige Keime. Was in den ordentlichen Gerichten ein schwerlich dauernd lebensfähiger Archaismus ist, aus der Reflexion entsprungen, das ist hier aus der Natur der Sache mit klarer Notwendigkeit hervorgegangen: die Rückkehr der gerichtlichen Funktionen zum Volke, im Widerspruch mit der hergebrachten Art der Arbeitsteilung. „Für die Erledigung von Streitigkeiten über kleine Objekte hat sich die Verfassung der Gewerbegerichte auf dem Gebiete der Lohnstreitigkeiten so glänzend bewährt, daß wir in ihr vermutlich die Form gefunden haben, welche die unterste Form der Zivilrechtsprechung überhaupt einnehmen wird." 1 Diese neue Justiz ist untrennbar verbunden mit der Rezeption eines neuen Rechtes. Das neue Recht ist aber nicht ein fremdes, geistlich oder weltlich, es ist auch nicht die Kodifikation des bürgerlichen Rechtes, wie es in seinen Grundzügen überall und längst gegolten hat: es ist das Recht, das aus neuen Gesetzen, weil aus neuen Bedürfnissen erwachsen ist, die eigene „Sozialgesetzgebung" des Reiches. Zuvor schon ist für einen bedeutenden Zweig dieser Gesetzgebung das „Reichsversicherungsamt" geschaffen worden, eine 1

Jastrow

in Conrads Jahrb. III. F. XIV S. 394.

12 Einrichtung

von Gewerbegerichten

anordnet:

Reichsgesetz vom 29. Juli 1890, Novellie-

rung vom 30. Juni 1901. 14 neuerdings

daran

angeschlossen:

Gesetz vom 1. Juli 1904, in Kraft getreten am 1. Ja-

nuar 1905. 30 „Reichsversicherungsamt":

In Berlin; durch das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Aug.

1884 ins Leben gerufen, seit 1889 auch zuständig für Sachen der Invaliden- und Altersversicherung.

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Behörde, die, gleichfalls unter dem Gebote einer sichtlichen Notwendigkeit, Justiz und Verwaltung wieder in sich vereint, die das liberale Dogma sonst bis in die untersten Instanzen geschieden hat. Zugleich ist sie ein höchstes Gericht; ihre Entscheidungen sind endgültig. Es wird einem natürlichen Entwicklungsgange entsprechen, wenn Berufungen von den Gewerbegerichten nicht mehr an die ordentlichen Landesgerichte, sondern an Obergewerbegerichte, die für „Reichskreise" — es gibt bisher solche nicht — einzurichten wären, und zuletzt an ein Reichsgewerbegericht geschähen. Dahin muß namentlich die subsidiarische Tätigkeit des Gewerbegerichts als Einigungsamt führen. In dieser Nebenfunktion „ist die Tätigkeit zwar noch gering, aber verheißungsvoll" (Jastrow a. a. O. S. 390). „Eine äußerliche Trennung von Einigungsamt und Gewerbegericht würde den beiderseitigen Aufgaben zur Förderung gereichen." (Das. S. 395.) Aber zugleich können sie innerlich dadurch wieder verbunden werden, daß das Einigungsamt selber den Charakter eines Gerichtes empfängt. Bis jetzt besteht ein klagbarer Anspruch auf angemessenen Lohn nicht. Er wird von dem Augenblicke an gegeben sein, wo ein Reichsgesetz jedem konstituierenden Mitgliede des Reiches — das ist jedem, der das aktive und passive Wahlrecht besitzt — das Recht auf eine menschen- und reichsbürgerwürdige Existenz, mithin auf einen Normallohn und Normalarbeitstag zuspricht, welche beide für verschiedene Gewerbe verschieden bestimmt und aus erheblichen Gründen auch in individuellen Fällen modifizierbar sein sollten: die Sanktionierung der Tarifverträge ist, wie in der Versammlung der Gesellschaft für soziale Reform jüngst ausgeführt wurde, der gewiesene Weg, der zu diesem Ziele führen muß. An die Stelle des Streiks würde alsdann die Klage treten, d. h. an Stelle eines Gewaltmittels ein Rechtsmittel, die Normen des zivilisierten Lebens würden einem Verhältnisse angepaßt werden, das bis dahin „wild" geblieben ist, weil die herkömmlichen Normen des rein privatrechtlichen Vertrages ihm durchaus unangemessen waren. Versteht sich, daß auch dem Unternehmer oder sonstigen Dirigenten die Klage 25 jüngst ausgeführt wurde: Vgl. die Beiträge von Hugo Sinzheimer („Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags und ihre gesetzliche Lösung") auf der 6. Hauptversammlung der Gesellschaft für Soziale Reform in Düsseldorf vom 20. —22. Nov. 1913 (vgl. Soziale Praxis, 23. Jg., 1913, S. 5 9 - 6 2 , 2 3 3 - 2 4 1 ) , bzw. Waldemar Zimmermann („Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags: Haftung — Abdingbarkeit, aufgrund einer Umfrage des Arbeitsrechtsausschusses der Gesellschaft für Soziale Reform"), in: Soziale Praxis, 23. Jg., 1913, S. 1 1 8 - 1 2 2 . Beachte auch Heft 42/43 der „Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform", Jena 1913.

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gegeben wäre, wenn er verfechten wollte, daß die Arbeitsbedingungen in seinem Betriebe, nach dessen gegenwärtiger Lage, übernormal seien, und daß die Umstände ihn nötigen, sie auf die normalen zurückzuschrauben, wofür er solche und solche erachte. Eine einfache und notwendige Folgerung wird es ferner sein, daß die gerichtlichen Entscheidungen dieser Art, so gut wie alle anderen, erzwingbar gemacht werden. Schwierigkeiten würden hier bleiben, aber nicht unüberwindliche. Daß das Arbeitsverhältnis großer industrieller, vollends großer Verkehrsbetriebe allgemeine und öffentliche Bedeutung habe, daher auch nach öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkten geordnet werden sollte, wird imoder explicite von allen führenden Denkern über das Problem anerkannt. Und wenn die Konkurrenz der Gewerbegerichte ein Vorgang ist, der wie eine Wiederholung jenes Entwicklungsprozesses erscheint, der im Anfange der Neuzeit die landesherrlichen „Gerichte", d. h. Gelehrten-Entscheidungen, an Stelle der Schöffengerichte schob, so ist auch darin eine große Analogie gegeben, daß es sich dort wie hier um neue Gedanken handelt, die solchen Anpassungen die Bahn brechen. Laband 2 stellt auf die gleiche Linie mit der Rezeption des römischen Rechtes die des konstitutionellen Staatsrechts im 18./19. Jahrhundert. „Beide Rezeptionen", sagt er, „vollziehen sich vorwiegend auf doktrinärem Gebiet; nicht durch äußere Gewalt, nicht durch Oktroierung eines Siegers, nicht durch erfolgreiche Revolutionen, nicht durch willkürliche Erfindung eines Gesetzgebers — sondern durch das Aufkommen wissenschaftlicher Ansichten, die, anfangs in einem kleinen Kreise entwickelt, nach und nach immer weitere Schichten ergreifen und beherrschen und endlich zur wahren öffentlichen Meinung, zur allgemeinen unantastbaren Überzeugung werden, vor der jeder Widerstand verschwindet. Es ist einiger Grund für die Erwartung vorhanden, daß in derselben Weise auch die Rezeption des sozialen Rechtes sich vollziehen werde. Wir wollten den Staat nicht als einen Organismus, aber als einen Apparat betrachten, der dazu konstruiert und gemacht ist, denen, die sich seiner bedienen, die wesentlichen Leistungen zu gewähren, die ein Organismus als Ganzes allen seinen Teilen, soweit sie lebensfähig sind und in Wechselwirkung zu seinen „Kosten" beitragen, leistet. Ein ganz besonderes Verhältnis hat aber der Organismus zu seinen Generationszellen, und 2

Straßburger Rektoratsrede 1880 S. 55.

17 Laband: Vgl. Laband, 1880: 34.

Der Staatsmann und das Leben

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zwar das einer fast einseitigen Leistung, die einerseits ihrer eigenen geringen Organisation, andererseits ihrem überragenden Werte als der Träger eines das Individuum überdauernden Lebens entspricht. In einem solchen Verhältnisse sollte der Staat, als einer stark differenzierten Gesellschaft angepaßter Apparat, zur großen Masse des arbeitenden und sich fortpflanzenden

Volkes gedacht

werden;

besonders

aber zu dessen

Frauen und Kindern, die auch zur Landesverteidigung mit den Kräften ihres Leibes nicht beisteuern. Da kann nun der Staatsmann aus den biologischen Tatsachen lernen, daß auch in dieser Beziehung die notwendige Art der Fürsorge sich verändert, und daß sie, mit dem komplizierteren Bau des Organismus, durch Anpassung an neue Lebensbedingungen immer spezieller wird. So finden wir, daß — nach Haeckel — die drei höchstentwickelten Wirbeltierklassen als Amniontiere (Amniota) zusammengefaßt werden; sie zeichnen sich aus durch die Bildung der Fruchthaut, die einer gewissen Entwicklungsstufe animalischer Organismen so entspricht, daß sie in ganz unabhängiger (analoger, nicht homologer) Weise auch von den höheren Gliedertieren erworben wird. Sie fällt bei den Wirbeltieren zusammen mit einer Reihe anderer bedeutender Anpassungen. „Alle niederen, mit Kiemen ausgestatteten (d. i. durch Kiemen atmenden) Wirbeltiere leben im Wasser und legen auch ihre Eier im Wasser ab . . . . Erst die ältesten Reptilien . . . . gewöhnten sich daran, auch ihre Eier auf dem trockenen Lande abzulegen. Nun sind aber die Eier hier viel größeren Gefahren ausgesetzt als im Wasser. Die natürliche Züchtung [unterstützt, dürfen wir vielleicht hinzusetzen, durch Vererbung erworbener Eigenschaften] mußte daher für sie besondere Schutzmittel schaffen, vor allem voluminöse, mit Flüssigkeit gefüllte Hüllen, in denen der zarte Embryo vor Erschütterungen, Druck und Stoß bewahrt bleibt." Eine ähnliche scheidende Bedeutung hat wiederum innerhalb des Säugetiertypus ein anderes Organ, das nicht dem Schutze, aber der Ernährung des Embryo dient: die Plazenta. „Je größer bei den Plazentaltieren der Embryo wird, je längere Zeit derselbe hier im mütterlichen Fruchtbehälter verweilt, desto mehr wird es notwendig, besondere Organisationseinrichtungen für den massenhaften Nahrungsverbrauch desselben zu treffen." D a ß aber ferner, je höher wir bis zu den Primaten und wiederum bis zum Menschen emporsteigen, eine teils immer längere, teils immer kompliziertere und speziellere Fürsorge für das extrauterine 27 vor Erschütterungen, 34 „ . . . desselben

Druck

zu treffen":

und Stoß bewahrt

bleibt:

Vgl. Haeckel, 1877: 5 0 1 .

Vgl. Haeckel, 1902: II, 643.

390

Schriften

Junge notwendig wird, braucht nur angedeutet zu werden. Der Fortschritt in dieser Richtung ist ferner charakteristisch für den Kulturmenschen. Die glücklichste Anpassung wird aber auch hier die konservative sein: bei der die Mutterzitzen, die zuerst bei den Beuteltieren (Didelphia oder Marsupidia) auftreten, nicht atrophieren. Im sozialen Leben wird ebenso der Typus bezeichnet durch Art, Dauer und Feinheit der Einrichtungen zum Schutze und zur Ernährung der Frauen, als der sozialen Generationszellen, und der Kinder, sodann der unmündigen Jugend überhaupt. Erst durch ausgebildete Erkenntnis wird es aber vermittelt, daß ebenso die physisch arbeitende Klasse einer besonderen Obhut, besonderer mächtiger Ernährungsapparate bedarf, um nicht, sich selbst überlassen, zu verkümmern und ein kümmerliches Geschlecht von Nachkommen zu erzeugen. Denn nicht nur, wie eine einseitige und parteiische Verallgemeinerung behauptet, die Bauern — worunter man dann stillschweigend die ländlichen Arbeiter mitbegreift —, sondern auch, und bekanntlich in immer zunehmender Proportion, das industrielle Proletariat sind die wahren Behälter der immer neu erzeugten Nationalkräfte. Es gilt daher insbesondere bei der Arbeiterschutzgesetzgebung die intelligenteste, bewußteste Anpassung an die Zwecke des gemeinsamen Interesses der Erhaltung, Erneuerung und Erhöhung der Kultur als der unumgänglich gewordenen Lebensbedingung des gesamten Volkes. Wenn der Zusammenhang der Bevölkerungspolitik mit den Problemen der Wehrkraft und mit denen der Volkswirtschaft erwogen wird, so tritt deutlich zutage, wie groß auch die im eigentlichen Sinne biologische Aufgabe des Staatsmannes ist, wie vielen Grund er hat, sich mit der Fortpflanzung des Volkes zu beschäftigen. Nachdem die alte Staatsweisheit dem Fürsten, und seinen Ministern, schlechthin die Vorschrift gegeben hatte, für Peuplierung des Landes zu sorgen, darum die Hindernisse hinwegzuräumen, die in der alten Agrar- und Gewerbeverfassung die Volksvermehrung einschränkten und verlangsamten, ist im 19. Jahrhundert diese Aufgabe im öffentlichen Bewußtsein zurückgetreten. Die Furcht vor Übervölkerung beherrschte die Gedanken konservativer wie liberaler Staatsmänner, wenn auch in verschiedener Motivierung. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt es für eins der stärksten Argumente gegen den Sozialismus, daß seine Verwirklichung die Schranken des Hinauswachsens der Volksmenge über den Rand der verfügbaren Lebensmittel beseitigen würde. Und doch hatte inzwischen der deutsche Reichsbürger begonnen, in der starken Vermehrung seines Volkes gegenüber dem Stillstande des französischen ein Moment zunehmender Überlegenheit zu

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schätzen; und von jenseit der Vogesen erhoben sich längst die Klagen über Depopulation. Erst die auffallende Verminderung der Geburtenfrequenz im neuen Jahrhundert — die freilich zum Teil aus einer zeitweilig ungünstigen Gestaltung der Heiratsziffer sich erklärt — hat in unserm Lande einen völligen Umschlag der Meinung zur Folge gehabt, die nunmehr, durch oberflächliche Statistiker angestachelt, schon den Anfang vom Ende im Rückgange der Geburten ahnend erkennen will. Und alsbald fühlt sich auch der Staatsmann aufgefordert, daß etwas geschehen müsse; gewohnt, überall die Bosheit der Menschen am Werke zu finden, instruiert er die Polizei, als Vertreterin des Wahren und Guten, den üblen Schlichen nachzuspüren, die den Staat um Nachwuchs an Rekruten betrügen; Pastoren und Lehrer sollen helfen, diese Praktiken aufzudecken, damit ein Gesetz gemacht werden könne, um sie zu unterdrücken und auszurotten. Es bedürfte keiner solchen Enquete — allenfalls möchten die Staatsärzte zu Berichten veranlaßt werden —, um die kommerzielle und industrielle Ausbeutung des alten und weitverbreiteten Bedürfnisses, die Empfängnis zu verhüten oder gar deren Entwicklung zu unterbrechen, als strafwürdig erscheinen zu lassen, sofern dadurch gesundheitliche und sittliche Schäden nachweislich verursacht werden; und das ist bei dem Hausieren mit solchen Mitteln, dem öffentlichen Anpreisen und Zurschaustellen mancher tatsächlich der Fall. In den Großstädten haben sich die kriminellen Aborte in auffallender Weise vermehrt; infolge davon hat sogar die Sterblichkeit am Puerperalfieber wieder zugenommen. Überführung freilich ist, wie in vielen andern Fällen, wo die Strafbarkeit der Handlungen schon feststeht, schwierig. Im übrigen sollte der Staatsmann hier, wie in allen Fragen, wo es sich um das Innere des Familienlebens und um Gewissensangelegenheiten handelt, nur mit der größten Behutsamkeit eingreifen. Alle Versuche, das Volk zu zwingen, sich rascher und stärker zu vermehren, als es von selber geneigt ist, sind mit dem Fluche der Lächerlichkeit behaftet. Schon die Versuche, es in diesem Sinne zu ermutigen, mit schwerer und tiefer Verantwortung. Der Staatsmann, der sich dessen anheischig macht, muß sich auch verpflichtet fühlen, Brot, Obdach und Kleider für das Mehr an Menschen zu schaffen, zu deren Erzeugung er die Anregung gibt. Wird er es wollen? wird er es können? — Da doch die Teuerung der Lebensmittel, die Arbeitslosigkeit und die Erniedrigung des Lohnstandes Ursachen sind, die offenkundig auf Verminderung und Verspätung der

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Schriften

Ehen, ebendadurch indirekt in der stärksten Weise auf Verringerung der Fruchtbarkeit hinwirken! Ein ganz anderes Problem, das sich der Staatsmann allerdings stellen muß, ist dies: ob er auf die Qualität

der Bevölkerung Einfluß gewinnen

dürfe und solle. Die Rassenhygiene oder Eugenik — wie man in England diese Ideen glücklich benannt hat — ist eine Angelegenheit von so hoher Bedeutung für das soziale Leben, daß auch die Politik sich ihr nicht entziehen kann. In einer Richtung kann der Staatsmann jedenfalls sich dafür, wie für die Tatsachen des Lebens überhaupt, interessieren: daß sie nämlich mit allem Ernste studiert, erforscht werden; das ist wichtiger als die Ausgrabungen antiker Statuenfragmente und Ruinen, wofür die Staaten große Summen verwenden. Die Weisheit der Regierungen hat sich in dieser Hinsicht merklich verändert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es ein A x i o m geworden, daß die erste Vorbedingung staatsmännischen Urteiles die statistische Erkenntnis („nosse remp u b l i c a m " ) sei. Heute glaubt man, daß die Arbeit der statistischen Ämter, die ihrer Natur nach überwiegend mechanisch und formell sein m u ß , genug dafür leiste und nur durch improvisierte Enqueten ergänzt werden müsse. Eine der vornehmsten Aufgaben des heutigen Staatsmannes wäre es, die streng wissenschaftliche Erkenntnis des sozialen Lebensprozesses planmäßig zu fördern. Sie könnte auch für die Heilung sittlicher Schäden manche Wege weisen.

16 nosse rempublicam:

(lat.): das Wissen über das Gemeinwesen.

Mann und Weib

i Mann und Weib: Zuerst in: Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung (Gerlach, K. A. + Dorn, H. [Hg.] 1914, 5. Jg., Heft 3 (März), S. 1 2 0 - 1 2 5 , Stuttgart/ Leipzig/Berlin (Moritz). An den Schluss der Abhandlung hat die Redaktion die folgende Anmerkung gesetzt: „Die Abhandlung stammt aus Ferdinand Tönnies' tiefem und grundlegendem Buch Gemeinschaft und Gesellschaft. Es erschien zuerst 1887, die jetzt vorliegende zweite, erheblich veränderte und vermehrte Auflage mit dem Untertitel Grundbegriffe der reinen Soziologie 25 Jahre später [1912] bei Karl Curtius in Berlin [hier S. 175 — 182]. Seine Wirkung ist außerordentlich, und man wird sich seiner immer allgemeiner als eines der bedeutendsten Werke der Neuzeit bewußt." (S. 125). Siehe auch T G 2.

Der Staatsmann und die Ethik Aus dem Nachlaß Heinrich v. Treitschkes sind vor etwa 12 Jahren dessen Vorlesungen über „Politik", die er in der Berliner Universität oft gehalten hat, in zwei Bänden herausgegeben worden. In diesen Vorlesungen, die manche feine Bemerkungen enthalten, redet der gefeierte Historiker auch über „das Verhältnis des Staates zum Sittengesetz". Er meint, es springe in die Augen, daß der Staat, als eine große Anstalt für Erziehung des Menschengeschlechts, notwendig unter dem Sittengesetz stehen muß (Seite 95), die Forderung werde auch in der Praxis anerkannt, „Unrecht und Verbrechen pflegen sich nicht nackt zu zeigen (in der Politik), man sucht immer nach Vorwänden und erkennt dadurch mittelbar die Herrschaft des Sittengesetzes an" (S. 97). Die Anwendung des Grundsatzes ist aber Treitschke einzuschränken beflissen. Unzählige Konflikte zwischen Politik und Moral seien genau besehen nur Konflikte zwischen Politik und positivem Recht; das positive Recht sei aber Menschenwerk, es könne von vorneherein unvernünftig sein (S. 98); die Politik werde allerdings gezwungen sein, zuweilen gegen das positive Recht zu handeln. Wir sollen uns erinnern, daß das Wesen dieser großen Gesamtpersönlichkeit (des Staates) Macht ist, und daß also für seine Macht zu sorgen die höchste sittliche Pflicht des Staates ist (S. 100). Man müsse unterscheiden zwischen öffentlicher und privater Moral, unter allen politischen Sünden sei die der Schwäche die verwerflichste und verächtlichste, die Sünde gegen den heiligen Geist der Politik (S. 101). Auch im Innern sei die Macht, das Aufrechterhalten und Durchsetzen des Staatswillens das Wesentliche. Ein Staat, der an der Festigkeit seines Willens und seiner Gesetze den mindesten Zweifel lasse, zerrütte das Rechtsgefühl (S. 102). Weiter folge aus dem Wesen des Staates, daß er einen Schiedsrichter über sich nicht anerkennen könne, mithin rechtliche Verpflichtungen in letzter Linie seiner eigenen Entscheidung unterliegen; die unbedingte Pflicht der Selbsterhaltung rechtfertige auch den Bruch von Verträgen (S. 103). i Der Staatsmann und die Ethik: Zuerst in: Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung 1914, 5. Jg., Heft 5 (Mai), S. 2 0 1 - 2 0 9 , Stuttgart/Leipzig/Berlin (Moritz) . 6 „... zum Sittengesetz": Vgl. Treitschke, 1913: I 87—112.

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„Also", resümiert sich dieser Gedankengang, „ist die Erhaltung der Macht schlechthin eine unvergleichlich hohe sittliche Aufgabe für den Staat." An diesen Satz schließt sich ein anderer an, den wir als von selbst verständlich anerkennen sollen, obgleich er sehr schwer mit dem ersten in Einklang zu bringen ist. „Verfolgen wir aber", heißt es nämlich, „die Konsequenzen dieser Wahrheit, so ist klar, daß der Staat sich nur sittliche Zwecke setzen darf, sonst würde er sich selbst widersprechen. Die grundsätzlich unsittliche Politik der nackten und rohen Ländergier, wie sie Napoleon I. trieb, ist auch im höchsten Maße unpolitisch." Und nachdem dies erläutert worden, heißt es weiter: „Ebenso unsittlich und unpolitisch zugleich ist es, wenn der Staat gewaltsam unterdrückend eingreift in das religiöse Leben seiner Untertanen, denn hier trifft er das M a r k seines Volkes." Dann aber kehrt der Machtgedanke zurück. Die Staatskunst und Staatsklugheit wird gepriesen, moralisierende Urteile darüber werden verspottet. „Die Moral muß politischer werden, wenn die Politik moralischer werden soll, das heißt, es müssen die Moralisten erst erkennen, daß man das sittliche Urteil über den Staat aus der Natur und den Lebenszwecken des Staates und nicht des einzelnen Menschen schöpfen muß. Dann wird ihnen auch das politische Leben unendlich menschlicher und sittlicher erscheinen." (S. 105.) Über dies alles, meint Treitschke ferner, kann für ernsthafte Denker kaum ein Streit sein, dagegen beginne eine Reihe der schwierigsten Fragen mit der Erwägung, inwiefern für an und für sich sittliche Zwecke in der Politik die Anwendung von Mitteln erlaubt sei, die im bürgerlichen Leben als verwerflich betrachtet werden würden. „Das bekannte Jesuitenwort ist ja in seiner Schroffheit roh und radikal, aber daß es eine gewisse Wahrheit enthält, kann niemand bestreiten. Es gibt leider unzählige Fälle, im Staatsleben, wie im Leben des einzelnen, wo die Anwendung von ganz reinen Mitteln unmöglich ist. Ist sie möglich, läßt sich ein an sich sittlicher Zweck mit sittlichen Mitteln erreichen, so sind diese 13 „ . . . das Mark seines Volkes": Vgl. Treitschke, 1913: I, 103. 27 Jesuitenwort: „Der Zweck heiligt die Mittel" — so schreibt der Jesuit Hermann Busenbaum in seiner „Medulla theologiae moralis" („Kern der Moraltheologie", 1652): „Cum finis est licitus, etiam media sunt licita" („wenn der Zweck erlaubt ist, sind auch die Mittel erlaubt"), wobei der Autor verwerfliche Mittel ausschließt. Es scheint erst Blaise Pascal gewesen zu sein, der dem Wort den Sinn gab, wie ihn Treitschke verwendete (in: „Les provinciales, ou lettres escrites par Louis de Montalte ä un provincial de ses amis", 1656, 7. Brief).

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vorzuziehen, auch wenn sie langsamer und unbequemer zum Ziele führen." (S. 106.) So weit Treitschke. Wer Treitschke einmal gehört oder auch nur gelesen hat, kann nicht zweifeln, daß er ein Mann von ausgezeichneter, poetisch glänzender Beredsamkeit war. Er war auch klug, gelehrt und geistreich. Als Denker war er aber weder durch Scharfsinn noch durch Tiefsinn bedeutend. Es ist etwas Wildes und Zerfahrenes in seinem Denken. Dennoch wollen wir ihm hoch anrechnen, daß er überhaupt die Probleme der theoretischen Politik und auch die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Politik der Betrachtung für wert gehalten hat. In unserer Zeit gibt sich ein einflußreicher Mann selten dazu her. Treitschkes Einfluß auf die Deutschen der jetzt abgeschiedenen oder doch alt gewordenen Generation ist außerordentlich groß gewesen. Den nationalliberalen Politikern hat er immer aus dem Herzen und Gewissen geredet; mit seinem Feuer für die Größe Preußens, für die neudeutsche Macht und Herrlichkeit wußte er die Jünglinge immer wieder zu erwärmen. Der Ernst und die Energie seiner Persönlichkeit, erhöht durch leibliches und seelisches Mißgeschick, muß auch den kühleren Beobachter mit Achtung erfüllen. Sein Einfluß ist zwar längst über den Höhepunkt hinausgeschritten, hat aber noch starke Nachwirkungen, denen wir gern lassen, was darin auf patriotische Gefühle stärkend und veredelnd wirken kann. Aber seine Theorien finden wir uns zu kritisieren aufgefordert und berechtigt. Treitschke meint, um es in Kürze zu wiederholen: Erhaltung seiner Macht ist hohe sittliche Aufgabe, für seine Macht zu sorgen höchste sittliche Pflicht des Staates; er darf sich folglich nur sittliche Zwecke setzen. Aber für die Erreichung solcher Zwecke darf er auch unsittliche Mittel gebrauchen, wenn die Anwendung sittlicher Mittel nicht möglich ist, d. h. nicht zum Ziele führt. Ich behaupte dagegen: wenn es wirklich eine höchste sittliche Pflicht „des Staates" gibt, der gegenüber alle anderen Pflichten also niedrig sind, so folgt, daß alles, was der Staat in Ausübung dieser Pflicht tut, daß alle Zwecke, die er sich setzt, alle Mittel, die er dafür wählt, sittlich gerechtfertigt sind; unedle Handlungen werden nicht dadurch veredelt, aber sie werden erlaubt, wenn sie wirklich zur Erfüllung der höchsten sittlichen Pflicht notwendig sind. Wenn aber der Handelnde etwas für notwendig hält, was nicht notwendig ist, so macht er sich nur eines intellektuellen Irrtums schuldig — dahinter kann eine moralische Schlaff-

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heit und Nachlässigkeit verborgen sein; an und für sich ist es niemals ein moralischer Fehler. Wenn also Erhaltung meiner Macht höchste sittliche Pflicht für mich ist, so kann ich richtiger- oder irrtümlicherweise Vermehrung meiner Macht für notwendig zu ihrer Erhaltung erachten; sittlich ist alles gerechtfertigt, was ich im Dienste jener „unvergleichlich hohen Aufgabe" tue. Ein Despot wie Napoleon I. wird nur ein Lächeln haben für die Entrüstung, mit der Treitschke seine „grundsätzlich unsittliche Politik der nackten und rohen Ländergier" von sich abweist; er würde ebenso über ihn sich lustig machen, wie Treitschke selber über andere Leute, die politisch moralisieren, als „stubenhockende Gelehrte" seinen Spott fließen läßt. Er würde ihn bedeuten: es war mir immer nur um die Erhaltung der Macht Frankreichs zu tun; was dieser Zweck erforderte, das werde ich im ganzen wohl besser verstanden haben, als ein deutscher Kathederpolitiker es nach 100 Jahren versteht. Von dem Gedanken geleitet, den du selber proklamierst, habe ich nichts als meine Pflicht getan. Treitschke selber hat Napoleon an Stelle des Staates aufmarschieren lassen. Und das mit Recht. Er kritisiert damit sich selber, wie wir ihn kritisieren, wenn wir sagen: es gibt überhaupt keine sittlichen Pflichten für den „Staat", für irgendwelche fingierte Person und Korporation. Rechtlich können wir eine solche verantwortlich machen, weil und insofern als sie im Rechte ihr Dasein hat; sittliche Verantwortung hat sittliche Empfindung zur Voraussetzung, ihre höchste Instanz ist das Urteil des denkenden Menschen über sich selber, ist das Gewissen. Pflichten hat nur der einzelne Mensch in bezug auf den Staat, für den Staat, im Namen des Staates, der Mensch als Staatsmann. Als Zuschauer urteilen wir über uns selber und über unsere Mitmenschen. Wir beurteilen ihre Handlungen, die Motive ihrer Handlungen, wenn wir sie erkennen können, also die Regeln, nach denen sie sich richten, die Grundrichtung ihres Wollens und Denkens, mithin ihren sittlichen Charakter. Ob wir in diesen Urteilen selber recht handeln, ob wir gerecht urteilen, das ist eine Frage, die in jedem Falle selber der Prüfung unterliegt. Aber der Beifall und der Abscheu sind in vielen Fällen unwillkürliche, d. h. unreflektierte Reaktionen unseres menschlichen Gefühles auf das, was wir sehen und erfahren; dies Gefühl kann mehr oder minder 9 „... rohen Ländergier": Vgl. Treitschke, 1913: I, 103. ii „stubenhockende Gelehrte": Vgl. Treitschke, 1913: I, 105: „der in der Stube verhockten Gelehrten".

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durch Denken beeinflußt, mehr oder minder geschärft und verfeinert, mehr oder minder ein ethisches Gefühl sein. D a s Urteil aber muß, um gerecht zu sein, so sehr als möglich über alle Gefühle sich erheben, muß gleich einem gerichtlichen Urteil auf bestimmte Gründe sich stützen, nach einem bestimmten Maßstabe gerichtet sein. Das Strafgesetzbuch und der Strafrichter messen den Unwert einer Handlung nach dem Werte des dadurch angegriffenen oder gefährdeten Rechtsgutes für die Gesellschaft und den Staat. Mit den Beweggründen und dem Charakter des Menschen haben sie es nur insoweit zu tun, als diese entweder der Handlung selber ein unterscheidendes Merkmal verleihen oder aber eine Wiederholung gleicher Handlungen mehr oder minder wahrscheinlich machen. Das ethische Urteil ist in keinem Gesetzbuche vorgeschrieben, und es gibt keine bestellten Richter, die es zu fällen haben. Die meisten der mit schweren Strafen bedrohten Handlungen rufen auch sittlichen Abscheu hervor, und in einigem, wenn auch nur grobem Verhältnisse zu der Abstufung, die in den Strafgesetzen vorgesehen ist. Viele sittlich verabscheute Handlungen sind aber gar nicht mit Strafe bedroht, und bei den meisten solchen wäre es unnütz oder sogar schädlich, sie mit Strafe zu bedrohen. Die sittliche Empfindung spricht viel stärker für oder wider die Beweggründe der Handlungen, für oder wider die Beschaffenheit des Menschen, als für oder wider die nackte und isolierte Handlung sich aus, während das Recht — unmittelbar — nur mit dieser zu schaffen hat. Die sittlichen Empfindungen sind Tatsachen, die wie Geschmackstatsachen von anderer Art aufgefaßt werden müssen; sie können daher am nächsten mit denen, die das Wort ausdrückt, verglichen werden. Gewisse Dinge sind für die Geschmacksnerven aller Menschen unerträglich und ekelhaft, andere wenigstens für alle zivilisierten Menschen, wenn auch oft der wahre Sitz des Widerwillens im Zentralorgan sein mag, z. B. gegen Menschenfleisch; innerhalb dieser Allgemeinheiten aber bemerken wir eine große Mannigfaltigkeit des Geschmackes, sowohl des bejahenden als des verneinenden. Mit den sittlichen Empfindungen, folglich auch den sittlichen Urteilen, soweit sie aus jenen unmittelbar hervorgehen, ist es nicht anders: teils ist man sich darüber einig, teils uneinig. Ein großer Teil der Uneinigkeit des Urteiles über Handlungen entspringt aber aus einer verschiedenen Auffassung entweder des objektiven Tatbestandes selber oder eben der unsichtbaren Beweggründe. Der genaue Tatbestand ist aber darum von höchster Wichtigkeit, weil er den

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richtigen Schluß auf die Beweggründe erleichtert, oft sogar notwendig dafür ist. Über den Wert von deutlich vorgestellten Beweggründen besteht viel geringere Uneinigkeit. Die Auffassung aber der Beweggründe, und sogar die des leichter erkennbaren Tatbestandes der Handlungen selber, wird regelmäßig getrübt durch Leidenschaften, Vorurteile, Meinungen, die wir zugunsten oder zuungunsten der agierenden Personen hegen. Werden daher Handlungen im Bilde dargestellt, zumal wenn es für die Anschauung geschieht, im Theater, so ist die Differenz des Urteils um so viel geringer, als es weniger Einflüsse von jener Art erfahren hat. Man sehe nur, wie das Publikum dem Propheten Beifall klatscht, der gegen Unrecht und Unsinn mutig kämpft — auf der Bühne; und sehe wie dies Publikum ebensolchen Propheten morgen, auf der Straße, steinigen wird. Hier ist das Publikum Partei, dort ist es — Zuschauer. Das ethische Urteil will objektiv und allgemeingültig sein. Kann es das auch sein? Nur in bestimmten oder bestimmbaren Grenzen. Einem Tauben wird man vergebens die Unterschiede der Töne, geschweige denn die Schönheit des Akkordes, den Mißklang der Quinte, deutlich zu machen versuchen. Man muß musikalisch veranlagt sein, um die Harmonielehre zu verstehen; man muß sittlich veranlagt sein, um die Ethik zu verstehen. Und zu allem Lernen gehört ein guter Wille des Erlernens, Lust und Liebe zur Sache; zum ethischen Lernen gehört aber außerdem auch ein guter, d. h. ein auf die Idee des Guten gerichteter Wille. Die Verwirrungen der Ethik und ihre Ohnmacht rühren zum Teile daher, daß sie zuviel will. Sie muß sich bescheiden, Normen des Urteiles zu entwickeln, die auf den allgemeinen und insoweit

notwendigen

menschlich-sittlichen Empfindungen beruhen, sie muß die Ideen, die diesen zugrunde liegen, herausstellen, sie muß zeigen, wie aus besonderen Gestaltungen dieser Ideen die besonderen und höheren sittlichen Empfindungen hervorgehen. Die Ethik soll nicht, oder doch nicht in erster Linie, vorschreiben, was man tun soll, einiges als erlaubt, anderes als verboten erklären; sie soll uns nur aufklären über den Sinn und Wert der uns umgebenden und bestimmenden Schätzungen und Vorschriften, über die Schätzungen und Vorschriften, die in unserem eigenen Herzen lebendig sind. Des ferneren soll sie dann eine wesentlich beschreibende Wissenschaft sein, in dem Sinne, daß sie darstellt, wie Gutes und Böses entsteht, und verallgemeinernd daraus die Gesetze ableitet, nach denen es sich entwickelt; wenn sie dann Regeln aufstellt, nach denen ein Erzieher oder ein Staatsmann

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es zu fördern vermag, so geht sie in die Pädagogik oder in die Politik über. Die philosophische Sittenlehre muß daher von dem Satze ausgehen, daß alles, was lebt, von dem Drange und Willen zum Leben erfüllt ist, und daß alles Leben von mir mitgewollt wird, in dem Maße, wie ich es als mein eigenes, d. h. als mit mir wesentlich zusammenhängend und organisch verbunden empfinde und erkenne. Erkenntnis ist schwächer als Empfindung, aber sie suppliert — ergänzt und ersetzt — die Empfindung. Anders gerichtet als auf solche Erkenntnis, vermag aber Denken sowohl ihr als der durch sie unterstützten Empfindung auch entgegenzuwirken, und dies ist von weitester Bedeutung. Dadurch erst entsteht der bewußte, berechnende, planmäßige und eben darum innerlich schrankenlose Egoismus. Dieser ist in seinem innersten Kerne, ganz eigentlich seiner Idee nach, unsittlich, eben weil und insofern als er die Negation jener Empfindung und Erkenntnis ist; und auch wo er im Resultate mit ihr zusammentrifft, ist er nur zufälligerweise (per accidens) sittlich — das ist die Sittlichkeit des wohlverstandenen Interesses. Die natürliche und naive Selbstgesinnung ist dagegen mit sittlichen Antrieben immer verbunden und an sich nicht unsittlich, kann sogar wegen ihres Wertes für andere unmittelbar sittliche Bedeutung haben, was von jenem raffinierten Egoismus, wenn er als Prinzip aufgefaßt wird, niemals gilt. „Alles, was lebt, ist vom Drange und Willen zum Leben erfüllt, und alles Leben wird von mir mitgewollt, in dem Maße, wie ich es als mein eigenes, d. h. als mit mir wesentlich zusammenhängend und organisch verbunden empfinde und erkenne." Der Empfindung gemäß zu wollen und zu handeln ist leicht, der Erkenntnis gemäß schwer. Wir schätzen aber alles sonst Gleichwertige um so höher, je seltener, unwahrscheinlicher, schwerer es ist. Darum achten wir den mehr, der aus Pflichtgefühl, als der aus Neigung zu Hilfe bereit und willig ist; gering achten wir den, der aus Interesse oder Eitelkeit hilft; wir verachten den, der nur hilft, um nachher desto sicherer zu verderben. Allgemein gesprochen, ist aber das, was wir achten, die Güte, die Tugend, das, was den Menschen von der sinnlichen Roheit des tierischen Lebens, das in ihm selber steckt, abhebt, ihn als Menschen auszeichnet und unterscheidet. Weil aber und insofern als alle Menschen an diesem gemeinsamen Erbteile der Gattung teilhaben, so erkennen wir als unsere Pflicht, an 25 „ . . . empfinde und erkenne": oben, Zeile 3 — 6).

wohl eine Hervorhebung Tönnies' (vgl. dieselbe Passage

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allen Menschen wenigstens das Leben, diese Bedingung aller Tugend, zu ehren. Im übrigen aber weist mich natürliche Empfindung an, meine Mitmenschen zu lieben, also auch zu achten und zu ehren, in dem Maße, als sie mir nahestehen — durch Verwandtschaft oder andere Genossenschaft, durch Freundschaft oder durch besondere Gründe —; Erkenntnis lehrt mich, die Menschen zu lieben, also auch zu achten und zu ehren, nach dem Grade ihrer Tugend, denn um so mehr muß ich, insofern als ich über die sinnliche Roheit des tierischen Lebens hinausstrebe, sie als überlegen oder wenigstens als mir gleichgeartet, also ihr Leben als in geistigem Sinne mit mir — d. i. mit meinem edleren Streben — wesentlich zusammenhängend und organisch verbunden, anerkennen. Dies nenne ich die Heiligkeit der Tugend, Heiligkeit, die, rein-menschlich verstanden, auf ihren ursprünglichen Wortsinn, den der Heilheit, Gesundheit und Schönheit zurückführt; das griechische Wort kocäov, das wir als schön übersetzen, wurde in meiner Knabenzeit von den Sprachforschern für urverwandt mit dem deutschen heil gehalten. Heiligkeit ist Unantastbarkeit. Zwischen der Heiligkeit des Lebens und der Heiligkeit der Tugend steht aber für die ethische Einsicht Heiligkeit alles dessen, was vom Leben zur Tugend hinführt und gedeiht — daher die Heiligkeit der dem menschlich-sozialen und sittlichen Zusammenleben wesentlichen Rechte und Eigenschaften des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft: die Heiligkeit der persönlichen Freiheit und Ehre, Heiligkeit der Ehe und des echten Eigentums, die Heiligkeit dessen, was anderen heilig ist, sei es aus religiösem Glauben oder aus wissenschaftlicher Überzeugung. Daraus ergibt sich N o r m und Regel für den Willen des Menschen, für sein Denken, für sein Gewissen. Der gute Mensch wird immer kenntlich sein durch den Mangel an Habsucht, den Mangel an Ehrsucht, den Mangel an Genußsucht, durch den Ernst der Gesinnung, die auf das Wohl anderer, auf selbstloses Schaffen, auf Erkenntnis gerichtet ist, auf das Gute, das Schöne und Wahre — auf das Eine, Wirkliche und Vollkommene. Er wird in der Kenntnis und Unterscheidung des Guten selber am weitesten vorgeschritten sein, sei es nun, daß sich solches Wissen im Gefühle und Takte des Handelns, oder daß es sich in der Lehre und Unterweisung anderer offenbart, oder endlich in der Schaffung unsterblicher Werke. Alles Wirken ist Überwindung von Widerständen, darum ist Tapferkeit, Mut, Energie das bewährte Kennzeichen des guten Menschen, Feigheit Beweis von enger und kleiner Gesinnung.

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Es ist nicht schwer, das Gute und den Guten im Begriffe zu erkennen, schwerer in der Wirklichkeit, unmöglich aber ist es, dem Menschen ins einzelne vorzuschreiben, was er tun darf, tun soll. Irreführend ist es, von einem „Sittengesetz" zu reden, weil es dazu verführt, die ethischen Normen, die zuletzt jeder Denkende nur sich selber geben kann, mit den Gesetzen, die eine vielleicht törichte oder unserm echten Wohle feindliche Staatsgewalt uns auferlegt, zu verwechseln. Also wollen wir auch den Staatsmann keinem Sittengesetze unterwerfen, wir wollen aber von ihm erwarten und verlangen, daß er, weil ihm viel anvertraut wird, sich vielen Vertrauens würdig erweise, daß er als ein Mensch von höherer edlerer Art sich bewähre, daß er Achtung und Ehrfurcht hege vor ethischen Werten. Unmöglich kann ein Staatsmann von solcher Gesinnung die Sorge für die Macht des Staates als seine höchste sittliche Pflicht anerkennen, wie Treitschke will. Er wird äußere, physische Macht nur insoweit schätzen, als sie ethisch wertvollen Zwecken dient; nicht also, wenn sie lediglich darauf hinzielt, die Reichen reicher, üppiger, träger, gewissenloser zu machen und die Verwahrlosung großer Schichten des Volkes durch die Kosten solcher Machtpolitik zu befördern. Wie der Edle für sich selber mehr auf die Beschaffenheit seines „Inneren", auf die Ruhe seines Gewissens, und, wenn er Haus und Familie hat, mehr auf Gesundheit, Frieden und Freude als auf Glanz und Glimmer, auf Vermögensansammlung, Erwerb von Titeln und Orden bedacht sein wird, — so kann auch der Staatsmann höheren Sinnes nicht umhin, die inneren Angelegenheiten, in letzter Linie daher die sittliche Tüchtigkeit des Volkes als höchsten Wert zu ehren und zu pflegen, und darf das Vertrauen hegen, daß auch diejenige Macht, die wirklich jedem Staate (wenigstens jedem Reiche) zur Behauptung seiner Selbständigkeit und Freiheit notwendig ist, am besten durch diese innere Stärke, durch Gesundheit, durch mittleren wohlverteilten Wohlstand und darauf beruhende Eintracht gesichert ist.

Die Soziologie und ihre Aussichten

i Die Soziologie

und ihre Aussichten

in Europa:

Zeitschrift für das gesamte Hochschulwesen

in Europa

Zuerst in: Akademische Rundschau. und die akademischen

Berufsstände

(Braun, W. + Schulze, F. [Hg.]), 1914, 2. Jg., Heft 8 (Mai), S. 4 1 8 - 4 3 1 , Leipzig (Koehler). Von Tönnies in Verbindung mit Dr. Carl Maedge. Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung. Jena (Fischer) 1926, S. 209—222; vgl. T G 17.

Nationalgefühl Was man heute als Nationalgefühl verherrlicht und zu einem sittlichen Gebote erhebt, hat in Wirklichkeit eine doppelte Natur und eine zwiefache Wurzel, deren Endstücke weit auseinanderliegen. Seine natürliche Wurzel ist die Liebe zur Heimat, ein so unwillkürliches und tiefliegendes Gefühl, wie die Anhänglichkeit des Kindes an seine Mutter, mit der es innerlich verwandt ist. Das Glück der Kindheit, das nur wenigen Unglücklichen ganz verschlossen bleibt, bindet unser Herz an seine Stätten, die Stätten des sorglosen Spieles. Das Gefühl der Sicherheit und Ruhe, wovon ein Kind nicht leicht verlassen ist, wird genährt durch die Sorgfalt, Schonung, Treue, womit die Großen es behandeln, je kleiner es noch ist. Und wie mit steigendem Alter mehr und mehr die Selbstbehauptung notwendig wird, im Gegensatz zu den andern, so ist sie insonderheit in der Fremde viel dringender und schärfer erfordert, als in der Heimat. Die Heimat ist läßlicher, bequemer, im ganzen großen auch hilfreicher, nachsichtiger, liebevoller. Das Heimatgefühl bildet sich heute viel schwerer aus als in früherer Zeit. Ein großer Teil des Volkes ist fortwährend auf Wanderungen. Der Umzug ist ein alltägliches Ereignis. Wer oft versuchen muß, eine neue Heimat zu gründen, wird heimatlos; seine Kinder lernen die Liebe zur Heimat nicht kennen, sie wissen nicht, zu welcher Heimat sie sich halten sollen. Ferner lebt ein immer zahlreicher werdender Teil des Volkes in großen Städten. Innerhalb der großen Städte findet ein Wechsel der Wohnungen so häufig statt, daß man mit Recht von einem Nomadentum z. B. der Berliner Bevölkerung gesprochen hat. Auch bildet sich innerhalb eines engen Mietgelasses, aus dem nur „Ausflüge" an Sonn- und Festtagen die Bewohner ins Freie entführen, kein rechtes Heimatgefühl aus. Die eigentliche Heimat der meisten großstädtischen Kinder ist, zum besseren Teil, das Schulhaus, zum schlimmeren die Straße. Beiden fehlt das Trauliche, Gemütliche, Heimliche, kurz das, was immer den Zauber der Heimat ausgemacht hat, was in einem dichten Bündel angenehmer Erinnerungen aufbewahrt wird. Von uns heutigen Menschen haben nur wenige es noch ganz erfahren. 1 Nationalgefühl:

Zuerst in: Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung,

1914, 5. Jg., Heft 7 (Juli), S. 3 0 5 - 3 1 2 , Stuttgart/Leipzig/Berlin (Moritz); eB, S. 6 9 2 f .

Nationalgefühl

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Dennoch stirbt das Heimatgefühl nicht ab, es erweitert sich nur; was es an Tiefe verliert, gewinnt es an Breite. Der Großstädter fühlt sich doch auch in der Großstadt zu Hause, der Landmann und Kleinstädter fühlt sich noch nicht „elend", so lange er innerhalb der Grenzen einer Landschaft oder der ganzen Provinz bleibt, die seine Heimat im weiteren Sinne, sein engeres Vaterland ist. Dies Heimatgefühl ist schon weniger instinktiv, es ist bewußter. Man hat ein leichteres Verständnis mit seinen „Landsleuten", man hat mehr Vorstellungen und Erinnerungen miteinander gemein. Daher ist auch diese Art des Heimatgefühls mehr persönlich als sachlich, es klebt weniger an der Scholle als an der heimischen Sitte und Denkungsart. Hauptsächlich in dieser besonderen Gestalt der Heimatliebe wurzelt das Nationalgefühl, denn es ist deren fernere Erweiterung. Wenn mich als Schleswig-Holsteiner oder Württemberger vieles Gemeinsame mit dem Schleswig-Holsteiner oder Württemberger verbindet, so verbindet doch anderes uns beide als Deutsche. Wir fühlen dies besonders im Auslande, wo wir einander näher rücken, weil wir dieselbe Sprache reden, uns als Genossen desselben großen Volkes erkennen. Dies freilich nur, sofern nicht die Schranken der gesellschaftlichen Klasse stärker wirken, als das Band der Landsmannschaft, und das ist doch in der Regel der Fall. Nur in der engsten, der heimatlichsten Heimat, in einem abgelegenen Dorfe, finden wir jene zuweilen durchbrochen. Im Lande selber bedeutet vollends die Volksgenossenschaft sehr wenig. Das Mitgefühl, das wir einem Fremden, der Not leidet, schenken, die Hilfe, die wir gewähren, gilt dem Menschen, nicht dem Deutschen. So lassen wir auch den Bettler verhaften, der uns lästig fällt, und fragen nicht, ob er ein Deutscher oder ein Ausländer sei. Wenn also das Nationalgefühl geringe Wirkungen von Person zu Person hat, so ist es darum keineswegs gleichgültig. Sittliche Bedeutung hat es für mich selber, der ich daran teilnehme. Es ist wesentlich ein Element der Bildung. Der Zusammenhang eines großen Volkes, seine Geschichte, seine Sprache, seine Kunst und Literatur, Sitte und Rechtsgestaltung, die denkende Teilnahme daran hat etwas Begeisterndes und Erziehendes. Sie erzeugt einen gerechten Stolz und gerechte Bescheidenheit zugleich; denn wie es erhebend ist, einer so umfassenden, durch die Jahrhunderte wirkenden Gemeinschaft anzugehören, die so Bedeutendes hervorgebracht hat, so lehrt es auch den Einzelnen, wie wenig er sich selber verdankt, wie alles ihm vorgedacht und vorgemacht ist, wie das Beste, was die

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Menschheit ihm mitteilt, durch das Medium der „Volkheit" (um dies Goethesche Wort anzuwenden) auf ihn eingeflossen ist. Unser deutsches Nationalgefühl ist mehr als ein anderes von allen politischen Bedingungen unabhängig. Es hat lange darnach gerungen, eine ihm angemessene politische Verfassung zu gewinnen, und die meisten glauben heute, daß dieser „Einheitstraum" vor 44 Jahren zur Wirklichkeit geworden sei. Wie dem auch sei, die Tatsache, daß den Österreicher das deutsche Nationalgefühl mit uns verbindet, beweist dessen Unabhängigkeit auch von dieser neuen politischen Gestaltung. Dies freilich ist die andere Wurzel eines anders gearteten Nationalgefühls: der Staat. Wenn Nation und Staat völlig zusammenfallen, wie etwa in Frankreich, da ist die Unterscheidung schwer, überall sind die Berührungen mannigfach. Und doch liegt die Trennung offen zutage. Das politische Nationalgefühl bejaht einen vorhandenen Staat, und mit dem Wesen des Staats identifiziert sich regelmäßig dessen Regierung, insbesondere eine regierende Dynastie, wo sie vorhanden ist. Für jede Regierung sind alle Gefühle nützlich, die den Gehorsam, die Untertänigkeit befördern, Opposition unterdrücken. Die Regierungen haben daher ein gewaltiges Interesse daran, alles Ideale, Sittliche, Begeisternde, was aus dem natürlichen Nationalgefühl herstammt, dem politischen Nationalgefühl zu übertragen, jenes mit diesem zu identifizieren. Von erhabener Stelle hat man ausgesprochen, die französische Armee habe 1870 tapfer gefochten für ihre Vergangenheit und — für ihren Kaiser! Hat denn die Armee eine Wahl, für wen sie fechten will? Das politische Nationalgefühl hat einen militärischen Charakter. Freiheit ist nicht das Element des Militarismus. Die Armee ist ein Werkzeug der Regierungen, in ihr herrscht der Zwang von oben bis unten. Stimmungen, Gefühle können nicht erzwungen, aber sie können durch künstliche Mittel befördert, ja, aufgenötigt werden. Aufgenötigte Begeisterung ist dem bezahlten Beifall ähnlich; so ist der Jubel einer dressierten Menge, die Kampfesfreudigkeit eines Heeres, die sonst zum Teil in Verzweiflung, zum Teil in rohen Instinkten beruht: sofern sie nicht der gemeinen Verteidigung gilt — was von jenen französischen Heeren geleugnet wird — gleicht sie dem Beifall einer Claque im Theater.

i „Volkheit": Vgl. Goethes „Maximen und Reflexionen", in: Goethe, 1902—1912: Bd. 4, 240. 23 Kaiser!: Bismarck in einer Rede im Reichstag am 11. Jan. 1887; vgl. Bismarck, 1894: XII, 207.

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Das Ideal zentralisierter Regierungen ist, ihre Beamten alle nach dem Muster von Offizieren, ihre Untertanen alle nach dem Muster von gemeinen Soldaten zu bilden. In dieser Richtung feiern sie die größten Triumphe durch klugen Gebrauch, den sie vom Nationalgefühl machen, durch energisches Anheizen des politischen Nationalgefühls, das unter dem Namen des Patriotismus, der dem andern ursprünglicheren und echteren Nationalgefühl wesentlich zukommt, zu einer unerläßlichen Pflicht und Schuldigkeit gemacht wird. Dagegen wird diesem Nationalgefühl, das sich mit dem Gefühl der reinen Menschlichkeit verbindet, um innerhalb des Staates das Volksbewußtsein zu erheben, für Gerechtigkeit und Wohlfahrt des Volkes, unbekümmert um Gunst und Willkür der Regierungen, zu streiten, der Name des Patriotismus mit aller Schärfe und Heftigkeit versagt. Wer nicht für die Regierungen ist, ist ihr Feind, wer Feind der Regierung, ist Feind des Staates, des Vaterlandes, Reichsfeind und Feind einer Weltordnung, die von alters her die göttliche genannt wird von denen, die durch sie erhoben wurden. Der schlichte und echte Patriotismus, ein Kind der natürlichen Liebe zur Heimat und des sittlichen Nationalgefühls, schreit nicht viel auf der Gasse. Einer Regierung — die nicht bloß klug — für den Augenblick — sondern weise — im Hinblick auf den Gang der Zeiten und die Lehren der Geschichte (wie selten sind solche!), sollte der marktschreierische Patriotismus in hohem Grade verdächtig sein. Sie sollte ihre Freunde unter ihren Gegnern suchen; wenigstens auch unter ihren Gegnern! Sie sollte die redlichen Männer, gleichviel welcher Gesinnung und Partei, achten und deren Beifall zu gewinnen für ihre Ehre halten. Keine Regierung im Deutschen Reich darf es vergessen, daß der Patriotismus, den sie jetzt zur Pflicht macht, 50 Jahre lang eine Schande gewesen ist, daß das Nationalgefühl, das sie jetzt mit ihrem Maße mißt, von ihren Vorgängern gehaßt und verfolgt worden ist, daß das Gewissen des deutschen Volkes seine Märtyrer gehabt hat, die ihre Liebe zum Vaterlande mit Verlust ihrer Freiheit und Ehre büßen mußten. Diese Wahrheit darf jeder wackere Mann, dessen Patriotismus jetzt verdächtig wird, seinen Ketzerrichtern mit einem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders" in die Ohren raunen. „Ist denn unsere politische Neugestaltung von der monarchischen, dynastischen, aristokratischen Seite des bisherigen deutschen Staatslebens ausgegangen? Nein, unbestritten von der demokratischen. Die Wurzel ist also eine demokratische, der Gipfel aber schießt nicht von den Zweigen, sondern aus der Wurzel empor."

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So sprach am 22. Januar 1849 in der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. Ludwig Uhland, ein Mann, dessen Deutschtum und Vaterlandsliebe jene, die jetzt mit Siegen und Errungenschaften sich brüsten, nicht leicht ein Gleiches zur Seite stellen können. Man stelle einmal Uhland und die Vorkämpfer gegen demokratischen Umsturz, Herrn von Oldenburg, von Puttkamer, von Heyl — und wie heißen sonst diese geistvollen Leute? — nebeneinander. Wo schlägt dein Herz, mein deutsches Volk? — Uhland nennt ein andermal, ganz in unserem Sinne, das Nationalgefühl ein Gefühl von mehr natürlicher als politischer Art und berichtet von der Zeit nach 1830: „Statt daß nun ein großartiger Entschluß den neu erwachten Regungen des deutschen Nationalgefühls entgegengekommen wäre und sich derselben zu schöner Entwicklung bemächtigt hätte, folgten sich Schlag auf Schlag weitere und verstärkte Hemmungen und Zwangsmaßregeln." (Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem 2. Landtage von 1833. Bd. XV. 92. Sitzung vom 5. November 1833, Seite 114 ff.) Es ist von der Zeit nach 1830, nicht von der Zeit nach 1870 oder von gegenwärtigen Tagen die Rede. Ich wiederhole aber, daß die deutsche Staats-Einheit, wenn sie auch anders gedacht wurde, als sie geworden ist, im Gegensatz zu den Fürsten und den privilegierten Klassen gefordert und vorbereitet wurde, daß sie von diesen als eine demokratische und umstürzlerische Idee gebrandmarkt und verfolgt worden ist. Ganz besonders in Preußen, das jetzt dem deutschen Patriotismus seinen Ton geben will, und von preußischen Königen wurde damals ein anderer, ausschließlicher und preußischer Patriotismus vorgeschrieben, und ebenso, wie aus dem gegenwärtigen, eine militärfromme und der Dynastie unbedingt ergebene Gesinnung oder Gebahrung als dessen notwendiger Abkömmling davon hergeleitet. Als Zeichen des Nationalgefühls und der Vaterlandsliebe wird jetzt freudige Mitfeier lauter Siegesfeste verlangt, denen doch nachgesagt werden muß, daß sie blutige Greuel und mörderische Vertilgung von „Christen" durch „Christen" verherrlichen. Wenn aber jener alte, friedli2 Ludwig Uhland: Vgl. Stenographischer Bericht, 1849: 4818. 6 von Heyl: Vom Rittergutsbesitzer Elard von Oldenburg(-Januschau) aus Westpreußen ist der berüchtigte Satz bekannt, der Kaiser könne durch einen „Leutnant mit zehn M a n n " das Parlament nach Hause schicken (so am 29. Jan. 1910 im Reichstag). Robert von Puttkamer führte als preußischer Minister des Innern das Sozialistengesetz rigoros durch. Der Industrielle Wilhelm Freiherr von Heyl, der zum konservativen Flügel der Nationalliberalen gehörte, war ein entschiedener Kämpfer gegen die Sozialdemokratie.

Nationalgefühl

409

che Patriotismus, dessen Vertreter man einst als eine Rotte von Nichtswürdigen behandelt hat, wieder lebendig würde und am 28. Dezember 1918, an ihrem 70. Geburtstage die Verkündigung der Grundrechte des deutschen Volkes, den Höhepunkt einer Bewegung des Nationalgefühls, die den Machthabern ein Greuel war, mit würdigen Feiern ins Gedächtnis zurückrufen wollte — was würden unsere Kriegspatrioten dazu sagen? Sind wir nicht schon gewohnt, von jener Seite her das Jahr 1848, das von reiner Begeisterung, von edlen Hoffnungen erfüllt war, als ein Jahr der Schmach und Erniedrigung bezeichnen zu hören? Es war ein Jahr der Erniedrigung für alle, die einer notwendig-heilsamen Entwicklung sich entgegenstemmten und die Erhaltung ihrer persönlichen und Klassenherrschaft mit der Erhaltung sittlicher Institutionen und Gesinnungen verwechselten. Wir wollen dies nicht vergessen; und wenn Uhland sang: „Noch ist kein Fürst so hoch gefürstet, So auserwählt kein ird'scher Mann, Daß, wenn die Welt nach Freiheit dürstet, Er sie mit Freiheit tränken kann!" so sagen wir, daß wir auch mit dem Patriotismus, wie er von Fürsten und Ministerien uns aufgenötigt wird, uns nicht tränken lassen wollen, sondern unser Recht behalten, auf unsere eigene Art unser eigenes Nationalgefühl zu hegen und zu pflegen und den Trank, der uns mundet, uns selber zu bereiten. Der Zwangs-Patriotismus, häßlich wie er ist, ruft häßliche Gegenbilder hervor. Die Verleugnung der vorgeschriebenen Artungen des politischen Nationalgefühls hat oft zur Verleugnung des natürlichen und sittlichen Nationalgefühls geführt. Dies wiederum hat zur Folge, daß jene ganze Partei, die das besondere Interesse des industriellen Proletariats vertritt, als vaterlandlos gescholten, daß ihr das Nationalgefühl schlechthin abgesprochen wird. Jene Verleugnung ist aber auch der Ausdruck der Heimat- und Besitzlosigkeit einer Klasse, die von der modernen ökonomischen Entwicklung geschaffen worden ist. Das Kapital ist schlechthin international, die Kapitalisten aller Länder sind solidarisch, trotz aller nationalen und patriotischen Reden. Was Wunder, daß der Ruf ihnen entgegenhallt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" — ? 18 „ . . . mit

Freiheit

tränken

U h l a n d , 1898: I, 80.

kann":

Vgl. „Vaterländische Gedichte. 13. N a c h r u f " , in:

410

Schriften

Der feindliche Gegensatz der Klassen innerhalb der modernen Nationen ist eine Tatsache; so sehr sie das Nationalgefühl verletzen mag, wird sie doch weder durch schöne noch durch zornige Reden verändert, sie fordert zu großen nationalen Taten auf, die nur Erfolg haben können, wenn sie durch deutlichste Erkenntnis der gegenwärtigen Zustände der Volksarbeit und des Volkslebens geleitet werden, wenn sie die Rechte auf arbeitloses Einkommen grundsätzlich verneinen, wenn sie die Plutokratie und ihr Gegenbild, die Massenarmut, energisch bekämpfen. Nach solchen Taten ruft und ringt das Nationalgefühl, und schon das Nationalbewußtsein, dem es mehr und mehr klar wird, daß nicht der Zwiespalt religiösen Glaubens, nicht die Verschiedenheit politischer Meinungen ein Volk so tief und schwer-heilbar zerreißt wie der Kampf der wirtschaftlichen Interessen, und daß die heutigen Menschen nicht durch Unglauben und durch Radikalismus, sondern durch die Wirkungen des intellektuellen und kommerziellen Fortschritts, denen auch der krasseste Reaktionär sich nicht entziehen kann noch will, innerlich aufgelöst und des gemeinschaftlich-sittlichen Zusammenlebens unfähig gemacht werden. Wo diese Wirkungen mit materieller Not und Unsicherheit zusammentreffen, da kann ein Nationalgefühl als Nationalstolz sich nicht entwickeln, denn dieser ist an Genuß und Üppigkeit gebunden; wohl aber kann ein humaner Idealismus über das Elend der Gegenwart hinausheben, und dieser entspricht allerdings besser als der Rausch von Kriegsjubiläen der auch von den Regierungen anerkannten tiefen Notwendigkeit des Friedens zwischen den Nationen, die noch Träger der europäischen Kultur sind. Für uns Deutsche ist diese humane und kosmopolitische Denkungsart zugleich das Erbe unserer Denker und Dichter, die — trotz oder wegen dieser Denkungsart? — wenigstens ebensoviel als alle Waffentaten dazu gewirkt haben, das deutsche Nationalgefühl zu fördern und zu erheben. Unser nationaler Stolz ist es einst gewesen, über die Enge und Beschränktheit der Nationalgefühle erhaben zu sein. „Die Deutschen scheinen mir vielmehr berufen, ein Volk von Völkern zu sein und so gegenüber von den andern wieder die Menschheit darzustellen", urteilte Schelling (Brief an Waitz im Februar 1849), und damals nannten

33 Schelling: Vgl. Schelling, 1870: III, 215. Der Brief an den Historiker Georg Waitz datiert vom 12. Feb. 1849. Tönnies zitiert hier unvollständig. Im Zusammenhang lautet die Stelle: „ . . . die Deutschen schienen mir vielmehr berufen, ein Volk von Völkern zu sein, und so gegenüber von den andern, die dann freilich in volklicher Hinsicht über uns zu stehen kommen mußten, wieder die Menschheit darzustellen."

Nationalgefühl

411

uns die Ausländer, so gering sie unsere Handels- und Kriegsmacht schätzen mochten, ein Volk von Denkern. Auch heute noch zeigt sich der Deutsche, wenn er nicht mit dem Kommandoton des Leutnants der Reserve auftritt, in fernen Ländern oft überlegen durch die Freiheit des humanen Bewußtseins, wie Milde der Sitten, die den europäischen Menschen der Gegenwart allein auf ehrenvolle Art repräsentieren. In Wahrheit ist das Nationalgefühl nur berechtigt und gut innerhalb des humanen Bewußtseins. Mehr als das Nationalgefühl vermag dieses auch den Klassenkampf zu mildern und also heilsam auf das Nationalgefühl zurückzuwirken. D a s Proletariat, beflissen wie es ist — und soweit es dies ist — um menschliche Bildung und Veredlung, muß doch auch als Sohn eines historischen Volkes sich erkennen lernen, mit dem es in seinem Fühlen und Denken auf das innigste zusammenhängt. Wie die Internationalität des Kapitals nicht verhindert, daß neben dem politisch-militärischen Nationalgefühl das echte und sittliche Nationalgefühl unter den wahrhaft Gebildeten der besitzenden Klasse sich kräftig entwickelt hat, so braucht auch die unerläßliche Internationalität der Arbeit nicht zu verhindern, daß die Arbeiter an diesem Ausdrucke der allgemeinen, ästhetischen und ethischen Bildung aufrichtig teilnehmen. Alles, was man tun mag, um der Menge die nationale Literatur, Kunst und Volksgeschichte näher zu bringen, ist in diesem Sinne nicht verloren. Wenn aber die arbeitende Klasse dem Staate, d. h. den Regierungen, gegenüber, des Enthusiasmus sich enthält und an einem wesentlich gesetzlichen Verhältnisse sich genügen läßt, das vorsichtig, wenn nicht mißtrauisch sein muß, so ist dies im Sinne der Wahrheit und durch ein dringendes Interesse geboten, so lange als die Regierungen nicht das Ringen der Arbeiterklasse zum allermindesten als gleichberechtigt mit den Tendenzen ihrer Gegner gelten lassen. Wir, die wir außerhalb stehen, aber als Patrioten die Verbesserung ihrer Zustände, die wissenschaftliche und moralische Leitung der Volkswirtschaft und Politik aufrichtig erstreben, können ihr nur beipflichten in dem Proteste gegen eine Mechanisierung der Gesinnungen und Gebärden, die sonst mit unheimlicher Geschwindigkeit alle Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit des Denkens zu ersticken droht. In diesem Sinne diene uns zur Herzstärkung ein Wort Paul de Lagardes: „ D a eine Änderung des Regierungssystems jetzt von niemandem eifriger als unabsichtlich von den gerade Regierenden herbeigeführt wird, möchte es gut sein, sich bei Zeiten zu erinnern, daß man besser

412

Schriften

von allem Learmäßigen Patriotismus sich ferne hält, welchen Regan und Goneril liefern könnten, Cordelia verweigern würde. Der jetzt unter dem Namen Patriotismus gepflegte Vertrieb gewisser politischer und historischer Ansichten ist geradezu Vergiftung der jungen Seelen, da alles Parteiwesen giftig ist, weil es die Fähigkeit wahr und gewissenhaft zu sein ertötet, und Sklaven-, wenn man lieber will, Bedientensinn erzeugt." (Deutsche Schriften, Göttingen 1878, Seite 169 f.)

2 Reg an ... Goneril ... Cordelia: von William Shakespeare.

Töchter des Königs Lear in der gleichnamigen Tragödie

5

Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat Referat, erstattet auf dem III. Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 1. Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat verhalten sich zu einander wie Vertrag und Gesetz. Das will sagen: die Idee des Rechtsstaates, in ihrer folgerichtigen Gestalt, hat zur Voraussetzung, dass die — sonst isolierten — Individuen ihre Verhältnisse, also ihre Rechte und Pflichten, insoweit als diese juridischen Charakter haben, normaler Weise durch Einigung ihrer eigenen freien Willen, also durch Verträge, regeln, und dass sie die Staatsgewalt nur brauchen („eingesetzt haben"), um diese natürliche Ordnung durch Zwang zu erhalten und, wenn sie gestört ist, wiederherzustellen. Die Gesetzgebung hat daher keine andere Aufgabe, als die: das „Naturrecht" als positives Recht zu beglaubigen und zu beschützen, dessen Verletzungen also mit Gegenwirkungen (Zwang und Strafe) zu bedrohen, und diese Drohungen gegebenen Falles auszuführen. 2. Die Idee des Wohlfahrtstaates erhebt die Gesetzgebung zu einer anderen Würde und Bedeutung. Ihr Prinzip ist die „Zweckmässigkeit" einer erst herzustellenden Ordnung; sie leugnet also, dass eine solche Ordnung von Natur bestehe, oder behauptet wenigstens, dass diese natürliche Ordnung wesentlich ideeller Natur sei, oder dass sie einmal vorhanden gewesen, durch Wahn und Irrtum und bösen Willen der Menschen vergiftet und verdorben sei, dass sie also nur allmählich durch die Vernunft, mithin durch eine vernünftige Gesetzgebung, wiederhergestellt werden müsse. Es ergeben sich hieraus mehrere Modifiktionen des Gedankens, denen mehrere Tendenzen der Wirklichkeit entsprechen. Ich halte mich zunächst an den einheitlichen Kern, das Prinzip einer zweckmässig agierenden und regelnden gesetzgeberischen Vernunft, die als Ratio Status (Staats-Räson, raison d'Etat) unermessliche historische Wirkungen geübt hat. i Rechtsstaat und "Wohlfahrtsstaat: Zuerst in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1914, Bd. 8, S. 6 5 - 7 0 , Berlin/Leipzig (Rothschild). Der III. Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie fand vom 2. bis 5. Juni 1914 in Frankfurt am Main statt.

414

Schriften

3. Als Ausdruck der Idee des Wohlfahrtstaates pflegt der fürstliche Absolutismus angesehen zu werden, besonders dessen „letzte" Gestaltung als aufgeklärter Absolutismus. Indessen: der Widerspruch gegen die Idee des Rechtsstaates war zum guten Teile nur scheinbar und trat mehr und mehr zurück. Die gemeinsame individualistisch-gesellschaftliche Grundrichtung verbindet die rational-naturrechtlichen und rational-absolutistischen Gedanken. Für die eine wie für die andere sind die Individuen mit ihren streng geschiedenen Eigentumssphären, indifferent gegen einander, ausser sofern sie sich aus freiem Willen mit einander verbinden, die normalen Einheiten des sozialen wie des politischen Lebens. Die absolutistische Staatsräson setzt diese Einheiten nicht voraus, weil sie solche nicht vorfindet; sie findet vielmehr einen verworrenen Knäuel von Gerechtsamen und Pflichten, in denen überall teils genossenschaftliche teils herrschaftliche Korporationen — als „Staaten im Staate" — ihr eigenes Leben haben. Sie muss diese auflösen und ihr Leben zerstören, um die Gesellschaft der gleichen Untertanen zu entwickeln und zu fördern. Sie betätigt sich in polizeilicher, „landesväterlicher" Bevormundung, hauptsächlich um ihre überlegene Macht auszuüben und durch die Sorge für das „Glück" der Untertanen auch deren Seelen für den neuen Herrn (der oft ein Eroberer ist) zu gewinnen, also die gewohnheitrechtlichen Autoritäten, geistliche und weltliche, im Wettbewerb zu schlagen. Darum wirkt diese eudämonistische Politik in den kleinen Territorien, die wirklich einer grossen Familie ähnlich sehen, nur als komische Kuriosität. Ihr wahrer Sinn ist der einheitliche grosse Staat; wo dieser hergestellt ist, kann sie ihre Tätigkeit als überflüssig einstellen. So sehen wir, wie eben in den grossen Reichen aus dem absolutistischen Wohlfahrtstaat ein Rechtsstaat herauswächst, und wie dieser wieder an mittelalterliche Traditionen und Rechte anknüpft, wo sich noch Fäden anknüpfen lassen, und das ist freilich überall der Fall. 4. Bekannt ist der Zusammenhang des monarchischen Wohlfahrtstaates mit dem Merkantilismus, der des konstitutionellen, d. i. aristokratisch-demokratischen Rechtsstaates mit der Physiokratie und dem System der wirtschaftlichen Freiheit. Bekannt auch, dass der innere Freihandel früher durch das Interesse der Landwirtschaft, zumal des landwirtschaftlichen Grossbetriebes gefordert wurde, als durch das der Industrie, so lange als diese noch überwiegend als Handwerk mit dem nahen Markte sich begnügte. Aus dem Zusammentreffen des landwirtschaftlichen Strebens nach billigen Industrieprodukten und des Wachstums der Grossindustrie, die diesem Streben zu genügen vermochte, entsprang die

Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat

415

Verherrlichung der freien Konkurrenz, die Einführung der Gewerbefreiheit und anderer sozialer Freiheitsrechte, wozu mit dem laisser faire eine allgemeine, auch auf die auswärtige Handelspolitik anwendbare Formel geschaffen wurde. Mit dieser Formel und der entsprechenden Einschränkung der Staatstätigkeit auf den Schutz der Freiheit und des Eigentums konnten auch aus dem Grunde die Grossgrundbesitzer — die ehemaligen Konkurrenten der Staatsgewalt — einverstanden sein, weil dadurch auch den Eingriffen in ihre Machtsphäre — die als soziale bedeutend blieb trotz der politischen Verminderung — Halt geboten wurde; so fiel durch die Bauernbefreiung in Preussen der Bauern schütz. 5. Nun aber hat sich aus der in viele Konsequenzen entwickelten Idee des Rechtsstaates eine neue Wohlfahrtstaats-Idee entwickelt. Deren hervorstechender Charakterzug ist die Einmischung in den Arbeitsvertrag, die Beschränkung der Vertrags-Freiheit. Es hat ein völliger Umschlag der herrschenden Meinung zu Gunsten solcher Einmischung und Beschränkung stattgefunden. Dieser Umschlag war durch die Ansicht bestimmt, dass die Vertragsfreiheit, wie sie gesetzlich besteht, nur eine scheinbare sei, bei grosser Ungleichheit der Mittel; daher in England bis vor nicht vielen Jahren die Lehre behauptet wurde, nur zu Gunsten von Frauen und Kindern als nicht vollwertigen Personen, sei solche Einmischung gerechtfertigt und sogar notwendig. Indessen hat sich die begonnene Bewegung längst als unaufhaltbar erwiesen. Zwang, Verbote und Gebote, Strafandrohungen treten im ganzen Gebiete des wirtschaftlichen Lebens mehr und mehr an die Stelle der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Vereinbarung. Die Tendenz wird häufig als Uebergang vom Individualismus zum Sozialismus angesprochen. Aber es ist wichtig zu bemerken, wie ganz verschiedene, ja einander entgegengesetzte Gedanken in dieser Tendenz sich begegnen. Nämlich 1., der Wunsch und Wille, die bestehende Gesellschafts- oder Eigentumsordnung zu erhalten, 2., der Wunsch und Wille, ebendieselbe umzugestalten oder gar umzustürzen. Dort die Meinung, dass der Kern dieser Ordnung gesund, dass insbesondere das ausschliessende Privateigentum an den Produktions- und Verkehrsmitteln durchaus zweckmässig, ja notwendig und unentbehrlich, dass es aus diesen und ausserdem aus sittlichen Gründen „heilig" und auch für die Gesetzgebung unantastbar sei, es wäre denn in Ausnahmeio Bauernschutz: Nach dem Regulierungsedikt vom 14. Sept. 1811 konnte der Gutsherr durch Teile des bisherigen Bauernlandes entschädigt werden; die Bestimmungen des Bauernschutzes gemäß Edikt vom 9. Okt. 1807 fielen aber fort.

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Schriften

fällen, aus dringenden Gründen des öffentlichen Wohls, unter Wahrung, ja etwa Verbesserung des Vermögensstandes der von „Zwangsenteignung" bestimmter Gegenstände des Vermögens betroffenen Personen. Auf der anderen Seite dagegen der Gedanke, dass das Eigentum nach Inhalt und Ausdehnung eine Gestalt angenommen habe, die im Widerspruch und Gegensatz zum allgemeinen Interesse stehe, dass daher die anerkannte Notwendigkeit, die Uebermacht der Eigentümer im Arbeitsvertrag einzudämmen, nur die Vorläuferin der noch nicht anerkannten Notwendigkeit sei, das Privateigentum an Produktions- oder Verkehrsmitteln entweder gänzlich aufzuheben und in Gesamt- oder Staatseigentum zu verwandeln oder doch so zu gestalten, dass die Arbeiterschaft anstatt der Kapitalisten und Grundbesitzer darüber als über ihre Werkzeuge und Geräte, sei es als ganze oder in Gruppen, verfüge. 6. Der Natur der Sache gemäss ist die erste Auffassung wesentlich die Auffassung derer, die am „Nationalvermögen" einen nennenswerten Anteil haben; die andere wird vorzüglich bei denen anzutreffen sein, die sich als Enterbte und Besitzlose fühlen. Dort die „bürgerliche", hier die „proletarische" Ansicht der „Sozialen Reform". Indessen gibt es — auch abgesehen davon, dass die proletarische Ansicht in allen Stücken zum guten Teile durch Personen vertreten wird, die der besitzenden Klasse entstammen — auch sonst einzelne Theoretiker, die ihre eigenen Wege in Verfolgung der Konsequenzen des Gedankens gehen, wie sehr sie auch sonst den proletarischen Ideen abgeneigt sein mögen. So erklärt der Jurist und Rechtsphilosoph R. v. Jhering, dass die Enteignung, weit entfernt davon, eine Abnormität oder einen Verstoss gegen die Eigentumsidee zu bedeuten, vielmehr durch diese Idee in unabweisbarer Weise gefordert werde, dass sie die Lösung der Aufgabe enthalte, die Interessen der Gesellschaft mit denen des Eigentums zu vereinigen, dass sie dieses erst zu einem praktisch lebensfähigen Institut mache: „ohne sie würde sich das Eigentum zu einem Fluch der Gesellschaft gestalten können". Auf ihn beruft sich Adolf Wagner, der, in engem Zusammenhange mit der von ihm geltend gemachten „Legaltheorie" des Eigentums, ein verändertes und erweitertes Enteignungsrecht und eine andere Verwaltungspraxis auf Grund dieses Rechtes als für unsere Zeit notwendig in Anspruch nimmt. Als die drei Hauptgebiete des bereits in der Bildung begriffenen Enteignungsrechts unserer nächsten ökonomischen und sozialen Entwicklungsperiode bezeichnet er 1. die Herstellung einer dem 30 „ . . . Fluch der Gesellschaft

gestalten

zu können":

Vgl. Ihering, 1 8 7 7 : I, 5 1 4 .

417

Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat

öffentlichen Interesse mehr entsprechenden Verteilung des Nationalkapitals und besonders des nationalen Grund und Bodens, besonders durch Vermehrung des öffentlichen Eigentums. 2. Bereitstellung der Benutzung des Bodens für diejenigen speziellen Zwecke und in derjenigen Intensität, welche durch das öffentliche Interesse unserer dicht bevölkerten bedürfnisreichen Kulturländer gefordert werden. 3. Herstellung günstiger natürlicher Bedingungen für den öffentlichen Gesundheitszustand — Enteignungsrecht gegenüber dem Grund — und Hauseigentum. "Wagner lässt es freilich problematisch bleiben, ob in absehbarer Zukunft schon ein 4. Hauptgebiet hinzutreten werde, nämlich allgemeinere Enteignungen aus Gründen des Verteilungsinteresses und der Sozialpolitik — aber einen prinzipiellen

Ausschluss „solcher Enteignungsgebiete" hält er schon nach

der jetzigen Auffassung des Enteignungsrechtes nicht für geboten, wenn gleich der faktische Ausschluss „der meisten dieser Fälle" noch für längere Zeit wahrscheinlich und auch überwiegend zweckmässig sei. 7. Hier wird mit dem Satze: Salus puplica suprema

lex esto Ernst ge-

macht. Und es ist längst erkannt worden, wie stark die neuere Entwicklung in diese Richtung treibt. Man befürchtet, dass der Zukunftsstaat einem Zuchthause ähnlich sehen wird. Gibt es nun keine Gegentendenzen, keine Bewegungen, die dem Gedanken des Rechtsstaates zu neuem Leben verhelfen können? Es gibt solche allerdings. Denn so beschaffen sind die Strömungen innerhalb der sozialen Frage, die auf eine ausserpolitische, eine gesellschaftliche Lösung und Reform hindrängen. Und auch bei diesen muss wiederum unterschieden werden, was die Erhaltung und Rettung des kapitalistischen Privateigentums und der immer mehr monopolistisch werdenden kapitalistischen Produktionsweise zum Ziele hat — einerseits, z. B. Wohlfahrtseinrichtungen der Unternehmer, freiwillige Einrichtungen von Arbeiterausschüssen u. dgl. m.; und hingegen,

was — auch ohne dass

es als Absicht ausgesprochen wird — darauf hinausgeht, ein anderes System der Produktion und Verteilung zu begründen. Manche erwarten dies von der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter. Sie denken sich die Umgestaltung der „Fabrik" — die als Typus aller Unternehmungen vorgestellt wird — nach Analogie der Umgestaltung des Staates. Wie der Staat, so soll die Fabrik eine Verfassung erhalten. Wie der Staat einst dem Monar-

is überwiegend zweckmäßig 5 4 8 - 5 5 3 , v. a. 552.

sei: Vgl. Wagner, 1894: 531 (in Bezug auf Rudolf von Ihering),

16 Salus puplica suprema lex esto: (lat.): Das oberste Gesetz ist das Wohl des Gemeinwesens; von Tönnies frei zitiert nach Cicero (De legibus III, 3, 8).

418

Schriften

chen, so gehört die Fabrik dem Unternehmer oder wer sonst das Kapital vertritt. Die Arbeiterschaft soll die Mitregierung — der Gedanke der „konstitutionellen Fabrik" — oder die alleinige Herrschaft erobern — der radikalere Gedanke des „Syndikalismus". Ob der eine oder der andere Gedanke sich verwirklichen lasse, und gar, was davon richtig und gut zu heissen verdiene, erörtere ich hier nicht. Wenn aber durch solche Methoden die „Fabrik" — um wieder an diesen Typus anzuknüpfen — ein in freier Selbstverwaltung lebensfähiges Gebilde würde, wenn Kapital und Arbeit in dauernder Harmonie sich darüber vertrügen oder gar dadurch verschmölzen, dass das materielle Kapital Besitz und Eigentum der vereinigten Arbeiter würde — so wäre offenbar in dieser Beziehung der Wohlfahrtsstaat überflüssig gemacht, es bedürfte keiner Einmischungen mehr, der Staat könnte sich darauf beschränken, die Einhaltung der Rechtsregeln und Vereinbarungen durch seine Hilfe, und, soweit es nötig wäre, durch Zwang zu bewirken. 8. Noch eine andere Idee gibt es, die wesentlich durch Selbsthilfe eine neue Gesellschaft aufbauen will. Es ist die Idee, die in England als Cooperative movement, bei uns als Genossenschaftswesen, dort wie hier als Organisation der Konsumenten lebendig geworden ist. Indem sie das Ziel verfolgt und in einem — wenn auch noch geringen Masse — erreicht hat, den eigenen gemeinsamen Bedarf durch eigene gemeinschaftliche Produktion zu decken — was freilich weder ohne fremdes Kapital noch ohne das System der Lohnarbeit einstweilen geschehen kann — wird eine Perspektive eröffnet, die in das gelobte Land des „genossenschaftlichen Gemeinwesens" hinausschaut. Auch hier wollen wir die Chancen nicht prüfen; uns interessiert nur, dass ein solches Gemeinwesen wiederum einen reinen Rechtsstaat möglich machen würde; m. a. W. ein soziales System, aus dem der Stachel des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit auf die eine oder die andere Art entfernt wäre, könnte sich mit dem Staate als „Nachtwächter" begnügen; denn es würde nur für die Finsternisse, die in der menschlichen Natur unter allen sozialen Verhältnissen bleiben, der polizeilichen Gewalt bedürfen; „bei Tage", d. h. im Lichte eines normalen Funktionierens der sozialen und psychischen Motoren, könnte es den Nachtwächter ausschlafen lassen. 18 Cooperative movement: Zurückgehend auf Robert Owen, der die Schaffung von „Villages of Cooperation" vorschlug: 1824 wurde die „London Cooperative Society" gegründet, 1826 ein „Co-operative Magazine", 1829 „The British Association for the Promotion of Cooperative Knowledge", bei denen es sich meist um Konsumvereine handelte, 1869 die „Cooperative Union".

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung I.

Eheschließungen

In den hier vorgelegten Untersuchungen sind zunächst die Daten zugrunde gelegt, die über die Bewegung der Bevölkerung im Deutschen Reiche seit seiner Begründung alljährlich durch das Kais, statistische Amt bekannt gemacht werden und für die Zeit des Menschenalters das dahinter liegt in dem berühmten Bande 44 der Statistik des Deutschen Reiches zusammengestellt worden sind; auch diese letzteren beziehen sich also auf das gesamte Gebiet des heutigen Deutschen Reiches. Ich betrachte diese nach einer bisher nicht darauf angewandten Methode, indem ich für die ganze Zeitspanne von 1841 bis 1912, d. i. für 72 Jahre, zunächst die absolute Zahl jedes Jahres mit der absoluten Zahl jedes vorhergehenden Jahres verglichen habe und die Vermehrung oder Verminderung auf Zehntausend dieser jedesmal vorausgehenden Zahl ausdrücke, so daß die hier angegebenen Ziffern ein positives ( + ) oder negatives ( —) Inkrement anzeigen — das negative wird aber gelegentlich auch mit seinem richtigen Namen als Dekrement genannt werden. Es liegt dabei die Voraussetzung zugrunde, daß die Differenz der betrachteten Vorgänge, ihrer Summe nach, von der Summe des vorausgehenden Jahres, gleichsam die Antwort darstellt auf gewiße Veränderungen der Zustände, die für diese Vorgänge bestimmend sind, und daß die Empfindlichkeit, die in den Veränderungen jener Vorgänge, also in der „Bewegung der Bevölkerung" sich ausdrückt, nach Analogie des psychophysischen Grundgesetzes den relativen Reizzuwüchsen oder Reizverminderungen proportional sei, daher auch selber in relativen Inkrementen zur Erscheinung komme. Dies Verhältnis dürfte am einfachsten und klarsten bei den Eheschließungen, als auf freien Handlungen der Menschen beruhenden Vorgängen, zutage treten. Es wird also auf diese nicht sowohl die i Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung: Zuerst in: Archiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik, 1914, Bd. 39, Heft 1, S. 1 5 0 - 1 7 3 + Heft 3, S. 7 6 7 - 7 9 4 , Tübingen (Mohr). Dazu ist der Editorische Bericht zu beachten (S. 693 f.). 7 berühmten Bande 44: Vgl. „Stand und Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reichs und fremder Staaten in den Jahren 1841 bis 1886", hgg. v. Kaiserlichen Statistischen Amt, Berlin 1892.

420

Schriften

absolute G ü t e oder Schlechtigkeit des volkswirtschaftlichen Zustandes in einer gegebenen Zeit, als die Besserung oder Verschlechterung dieses Zustandes wirken; nicht sowohl die Schwere oder Leichtigkeit der Familiengründung, als die Erschwerung oder Erleichterung wird die Entschlüsse dazu vermindern oder vermehren; und wie die Veränderung des volkswirtschaftlichen Zustandes am richtigsten durch Vergleichung des Zustandes in einer gegebenen Zeitspanne (z. B . in einem J a h r e ) mit dem Zustande in einer gleichen vorausgehenden Zeitspanne gewonnen und in Relation zu diesem gewesenen ausgedrückt wird (z. B. die L o h n h ö h e als prozentuales Inkrement oder Dekrement des Lohnes), so werden wir auch die entsprechenden Vorgänge am besten begreifen, wenn wir ihre relative Veränderung ins Auge fassen. Was aber das Verhältnis der Reflexe zu den Reizen betrifft, so wird sich im allgemeinen erwarten lassen: je niedriger der Stand — z. B. der Eheschließungen in einem J a h r e , verglichen mit einem gedachten n o r m a len Stand — um so leichter wird schon ein schwacher Reiz von positivem C h a r a k t e r genügen, diesen Stand zu heben, und ein um so stärkerer Reiz von negativem C h a r a k t e r wird dazu gehören, ihn noch weiter zu senken. Umgekehrt: je höher der Stand, um so leichter wird ein schwacher Reiz von negativem C h a r a k t e r ihn senken, und um so mehr wird ein besonders starker Reiz von positivem Charakter dazu erforderlich sein, ihn noch höher zu heben. I. (Inkremente A). Es wird also zunächst eine Uebersicht über die Z a h l e n , ihre absoluten und relativen Inkremente und Dekremente, durch den ganzen Verlauf der 7 2 J a h r e , vorgelegt, an deren Spitze also die Z a h l des Jahres 1 8 4 1 , am Fuße die des Jahres 1 9 1 2 erscheint Tabelle 1. Inkremente 1841

A

270 713.

Zu- oder Abnahme (Inkrement)

Inkrement

pro 10 Tausend

Zu- oder Abnahme (Inkrement)

Inkrement

pro 10 Tausend

1842

+

7310 =

+

270

1851

-

3163 =

-

103

1843

-

1660 =

-

59

1852

- 22349 =

-

753

1844

+

2992 =

+

113

1853

+

176 =

+

6

1845

+

544 =

+

16

1854

- 19302 =

-

702

1846

-

5770 =

-

199

1855

-

2775 =

-

108

1847

- 22440 =

-

818

1856

+ 20350 =

+

805

1848

+ 14462 =

+

631

1857

+ 31705 =

+ 1162

1849

+ 22238 =

+

749

1858

+

9094 =

+

298

1850

+ 12527 =

+

456

1859

- 15013 =

-

478

421

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung Zu- oder A b n a h m e (Inkrement)

Inkrement

pro 10 Tausend

Zu- oder A b n a h m e (Inkrement)

1860

+

3758

=

+

125

1887

1861

-

6963

=

-

230

1888

1862

+ 16813 = 18088 =

569 579

1889

1863 1864

+ +

4278

=

1865

+ 19194 =

1866

-

1867

+ 44289 =

1868

-

-

+ + + +

129

1891

+ + + +

573

1892

-

-

978

1893

+ 1387

1894

-

153

1895

736

1896

-

1829

1897

1890

Inkrement

pro 10 Tausend 1667 = 5995 =

12685 = 6017 = 4042

=

623 = 2459 =

-

+ + + + -

334 154 102 15

1869

5575 = + 26351 =

1870

-

1871

+ 22784 =

+

725

1898

1872

+ 87155 =

+ 2588

1899

1873

-

7851

=

-

185

1900

+ + + + + + + +

1874

-

15767

=

-

378

1901

-

8162 =

-

171

1875

-

13536

=

-

338

1902

-

11121 =

-

237

1876

-

19816

=

-

512

1903

1877

-

19138 =

-

521

1904

1878

-

7776 =

-

223

1905

1879

-

4903 =

-

144

1906

1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886

+ + +

+ + + +

34605

=

70306 =

2229 = 1561

=

11548 = 2542 = 9597

=

6023 = 3707 =

+

+ + + + + + +

6832 = 6152 = 17889 = 15663 = 11107 = 12642

=

4972

=

+ + + + + + + +

44 161

170 150 431 316 248 275 105

66

1907

+ + + + +

46

1908

-

3344 =

-

66

340

1909

-

6493

-

129

72

1910

215

1911

166

1912

100

+ + +

5942 = 14672 = 8084

=

13084

=

4974

=

=

2269 = 16423 = 10672 =

1912

+ + + + +

61

+ + +

129 316 164 269 99

45 330 227

523 491

Ich betrachte zunächst die Vorzeichen. Ein positives ist die Regel: offenbar, weil in der ganzen Zeitspanne die Volksmenge fortwährend gewachsen ist; wie denn die auf 1000 Einwohner berechnete Relativziffer der Eheschließungen (die später erörtert werden soll) nur wenig schwankt. Von der Regel aber gibt es nicht wenige Ausnahmen: in den 71 Jahren 25, also etwas mehr als ein Drittel der Fälle. Dabei fallen sogleich folgende Merkmale in die Augen: 1. Seit 1880 wird das MinusVorzeichen selten, es kommt in diesen letzten 33 Jahren nur noch 6 mal vor, also kaum in Ys der Fälle, dagegen 19 mal, also genau in der Hälfte der Fälle in den vorausgehenden 38 Jahren. 2. Von diesen 19 Fällen folgen nicht weniger als 7 auf einander, die letzten der 38 Jahre (1873 — 1879): dieser stetige Abfall erklärt sich teils aus der ungewöhnlichen Höhe, die unmittelbar nach dem Kriege, insbesondere durch die enorme Steigerung des Jahres 1872, erreicht war; teils aber aus dem Rückgange der Kon-

422

Schriften

junktur unmittelbar nach diesem Höhepunkte, und aus der schweren Krisis des wirtschaftlichen Lebens, die in ganz Europa und aus Amerika um die Mitte der 70er Jahre einsetzte. 3. Eine schwach unterbrochene Folge von negativen Vorzeichen tritt auch in der ersten Hälfte der 50er Jahre auf, gleichfalls nach bedeutenden Steigerungen, wodurch die Revolutionsjahre 1848—50 sich auszeichnen: der Zusammenhang mit den allgemeinen Stimmungen wird hier verstärkt durch die Wirkungen sinkender Kornpreise 1848 und 1849, steigender in den folgenden Jahren, die dann auch eine starke Zunahme der Auswanderung, besonders aus Süddeutschland, zur Folge hatten. 4. Auch das Jahr 1843 ist durch relativ hohen Roggenpreis bezeichnet, vollends gilt dies von den „Hungerjahren" 1846 und 1847. 5. In der Periode 1 8 5 9 - 1 8 7 2 wirken Kriegsbefürchtungen und Kriegszustände deutlich ein: 1859 die preußische Mobilmachung, 1861 wird der Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges auch auf die deutsche Industrie gewirkt haben, 1866 und 1870 sprechen für sich selber. 6. Auch 1887 wird die Kriegsbefürchtung infolge des „Boulange" in Frankreich, und des Gebrauches, den Bismarck davon machte, abschrekkend gewirkt haben. 7. Das Jahr 1892 folgte einem Jahre des Mißwachses und sehr hoher Getreidepreise. 8. Die letzten 4 Fälle: 1901 und 1902, 1908 und 1909 sind sämtlich ausgesprochene Krisenjahre. Von den hier bedeuteten Zusammenhängen werden diejenigen mit den Getreidepreisen — eine der ältesten und ehemals sichersten Beobachtungen der Bevölkerungsstatistik — und mit den wirtschaftlichen Krisen nachher näher betrachtet werden. Ich habe zunächst die ganze Reihe daraufhin geprüft, ob etwa in dem Wechsel eine Regel entdeckt werden könne; ob so etwas wie ein Rhythmus in den Schwankungen der Inkremente wahrnehmbar sei. Da ist mir nun zunächst aufgefallen, daß von 1848 an jedes achte J a h r ein verhältnismäßig hohes Inkrement aufweist, und zwar so, daß von den 9 Fällen kein einziger zu den Minus-Fällen gehört; ähnlich verhalten sich die jedesmal folgenden Jahre, also 1849 — 1857 — 1865 usw., denn hier kommt unter 8 Fällen nur 1 Minus-Fall vor; auch unter den 9 Fällen 1842—1850—1858 usw. begegnet nur 2 mal ein Dekrement, also noch 13 preußische

Mobilmachung:

1 8 5 9 als Folge des Konflikts zwischen Piémont bzw. Frank-

reich auf der einen sowie Österreich auf der anderen Seite. 16 „Boulange":

Nach dem frz. General und Kriegsminister Georges Boulanger ( 1 8 3 7 — 9 1 ) ,

der, gestützt auf eine heterogene Massenbewegung, den „Boulangismus", auf eine autoritär-plebiszitäre Republik hinarbeitete. Er wurde 1 8 8 9 zwar gewählt, dann jedoch wegen Hochverrats angeklagt.

423

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

erheblich seltener, als nach der allgemeinen Wahrscheinlichkeit, da diese Minus-Fälle mehr als den dritten Teil sämtlicher Fälle ausmachen. Ganz anderes stellt sich heraus, wenn die Jahre betrachtet werden, die jedesmal um 4 Einheiten früher und später liegen, also 1844, 1852, 1860 usw.: hier sind von 9 Fällen 5 negativ; unter den jedesmal folgenden Jahren 1845, 1853, 1861 usw. von 9 Fällen 4, und unter den dann folgenden: 1846, 1854, 1862 usw. wiederum von 9 Fällen 5. Diese Beobachtungen brachten mich darauf, mit Weglassung der beiden ersten Jahre, von 1844 an die Inkremente so zu ordnen, daß jedesmal 4 und 4 zusammengestellt werden, also Gruppen, in denen vermutlich der negative Charakter stärker in die Erscheinung trete, solchen gegenüber, in denen das Gegenteil erwartet wird. Es ergab sich daraus folgende Tabelle, die zunächst bis 1907 einschl. geführt worden ist, also 64 = 8 X 8 Jahre umfaßt 1 : Tabelle 2. Inkremente

der absoluten heutigen

der Eheschließungen Reiches

H

N

im Gebiete

des

1844—1907 N

H

1845

+ 113 + 16

1849

+ 749

1853

+

6

1857

+ 1162

1846

-

199

1850

+ 456

1854

-

702

1858

+ 298

1847



818

1851

-

1855



108

1859



1860

+ 125

1864

+

129

1868

_

153

1872

+ 2588

1861

-

230

1865

+

573

1869

+ 736

1873

-

185

1866

-

978

1870

-

1829

1874

-

378

1863

+ 569 + 579

1867

+ 1387

1871

+ 725

1875



338

1876

_

512

1880

+

66

1884

1877

-

521

1881

+

46

1885

1889

1878

-

223

1882

+

340

1886

+ 215 + 166 + 100

1890

1879

-

144

1883

+

72

1887

-

44

1891

1844

1862

1

Zahlen Deutschen

1848

+ 631

1852

103

-

753

1856

1888

+ 805

+ + + +

478

161 334 154 102

Die 64 Jahre sind hier in 4 X 16 Jahre eingeteilt worden (I—IV), und jede dieser 4 Gruppen wiederum in Untergruppen von je 4 Jahren, mit welcher zweiten Gruppierung das wichtigste Ergebnis dieser Forschung vorweggenommen ist: daß nämlich jede dieser Untergruppen einen bestimmbaren Zusammenhang hat und in der hier darzustellenden Weise eine Einheit

darstellt. Die Tabelle muß also so gelesen werden, daß die Unter-

gruppe rechts immer die Jahre enthält, die auf die entsprechende Untergruppe links folgen, was auch aus den beigesetzten Jahreszahlen ersichtlich ist. Ich nenne die Untergruppen links N, die Untergruppen rechts H.

424

Schriften N 1892 1893 1894 1895

H

- 15 + 61 + 170 + 150

N

+ 431 + 316 + 248

1896 1897 1898 1899

+

275

H

+ 105

1900 1901 1902 1903

1904 1905 1906 1907

171 237 129

-

+

+ 316 + 164

+ +

269 99

Wir bemerken sogleich die verschiedene Verteilung der Vorzeichen auf der N-Seite und auf der H-Seite. N

H

16

+

26

16

-

6

+ -

10

Während auf der N-Seite die Inkremente und die Dekremente sich die Wage halten, überwiegen auf der H-Seite jene stark. Der Unterschied zeigt sich auch in jeder der vier großen Gruppen, ausgenommen in der zweiten. N I II III IV

3 5 5 3 3 5 5 3

H + + + + -

6 2 4 4 8 0 8 0

+ + + + -

Und sogar, wenn je 2 Untergruppen verglichen werden, so ist nur in einer einzigen die N-Seite mit positiven Vorzeichen überlegen is N Ia Ib IIa IIb

2 2 1 3 3 1 2 2

+ + + + -

H 3 1 3 1 3 1 1 3

+ + + + -

N III a III b IV a IV b

0 4 3 1 3 1 2 2

+ + + + -

H 4 0 4 0 4 0 4 0

+ + + + -

Diese durchgehende Ordnung und Abwechslung ist um so merkwürdi- 35 ger, da sie auch durch die Kriegsjahre und ihre Folgen zwar stark beein-

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

s

425

flußt, aber nicht gestört worden ist. Die einzige Ausnahme innerhalb der Untergruppen ist durch das „Milliardenjahr" 1 8 7 2 verursacht, das die Zahl (der Eheschließungen) auf eine so enorme Höhe brachte, daß sie, trotz der noch einige Jahre anhaltenden Konjunktur (freilich erhielt diese schon 1873 durch den „Wiener K r a c h " ihren ersten heftigen Stoß) sich nicht auf dieser Höhe zu halten vermochte. Die Verminderung bedeutete hier immer noch ein Beharren auf ungewöhnlicher Höhe.

Es schien mir nun geboten, auch das durchschnittliche Inkrement jedes dieser Jahrvierte festzustellen, oder — was dasselbe sagen will — die 10 Inkremente resp. Dekremente jedes Jahrviertes zu summieren. Dies ist im folgenden geschehen, indem links die Summen, rechts dieselben, dividiert durch 4, verzeichnet werden (die Quotienten sind abgerundet). Tabelle 3. DurchschnittJahrviert,

Summen der

liches Inkrement

endend

Inkremente

des Jahrvierts.

1847

-

1851

+ 1733

+ 433

1855

-

-

1859

+ 1787

+ 447

1863

+ 1043

+ 261

1867

+ 1111

+ 278

1871

-

-

1875

+ 1687

+ 422 -

888 1557

521

-

222 389

130

1879

-

1397

1883

+

524

+ 131

349

1887

+

437

+ 109

1891

+

751

+ 188

1895

+

366

+

1899

+

1270

1903

-

174

-

1907

+

848

+ 212

91

+ 317 43

Vergleichen wir die Folge der Jahrvierte (wobei es natürlich gleichgültig ist, ob wir, wie geschehen wird, die Reihe rechts oder die Reihe links 35 nehmen), so stellt sich heraus, daß sie ausnahmslos linie

sich

bewegt,

in einer

Zickzack-

welche Linie sich in der beliebten niedlichen Weise

graphisch darstellen ließe, worauf ich aber, um der Meinung, daß diese 5 ¿Wiener

Krach":

Der große Börsenkrach 1873, der bis etwa 1879 in Österreich eine

wirtschaftliche Depression bzw. Stagnation hervorgerufen hatte.

426

Schriften

Veranschaulichung eine Methode sei, energisch zu widersprechen, verzichte. Die Sache läßt sich ebenso deutlich machen (für den, der sie nicht unmittelbar herausliest) dadurch, daß die Differenz jedes Durchschnittes vom vorausgehenden verzeichnet wird. Der erste Durchschnitt tritt so an die Spitze, seine Differenz vom vorausgehenden ist freilich unbekannt, aber höchst wahrscheinlich negativ, da er selber negatives Vorzeichen hat. Ich schalte daher die Fiktion ein, daß das vorausgehende Jahrviert den Durchschnitt 0 aufweise. Wir ordnen nun die Jahrvierte wieder, wie früher, unter Jahrviert, endend

1847

Jahrviert,

N endend

1851

222

1855

-

822

1859

+ 836

1863

-

186

1867

+

1871

-

408

1875

+ 552

1879

-

771

1883

+ 480

1887

-

22

1891

+

1895

-

97

1899

+ 226

1903

-

360

1907

+ 255

Summa Summarum — 2 8 8 8 Durchschnitt dieser 8 Jahrvierte

H

+ 655

-

17

79

+ 3100 Durchschnitt die-

- 361

ser 8 Jahrvierte

+ 387

Betrachten wir nun die einzelnen Jahre jedes Quadrienniums, und nennen das erste Jahr auf der N-Seite a, auf der H-Seite A, usw. bis d und D, so stellt sich heraus: N

H

4 + -

8+ 0 -

5 +

7 +

4

3 +

1 6+

5

2

3

-

4 + 4

-

D

-

5 + 3

-

jede einzelne Stelle enthält also auf der H-Seite eine größere Anzahl positiver, folglich eine geringere Anzahl negativer Inkremente, als auf der N-Seite. Auf der H-Seite ist auch die Abstufung merkwürdig: die erste Stelle ist am stärksten (mit den Plus-Vorzeichen), die letzte am

D i e G e s e t z m ä ß i g k e i t in der B e w e g u n g der B e v ö l k e r u n g

427

schwächsten. Auf der N-Seite ist eine entsprechende Abstufung nicht erkennbar; auffallend ist nur die größere Zahl der Plus-Vorzeichen an zweiter Stelle. Nun sind aber nicht die Vorzeichen allein charakteristisch, sondern auch die Ziffern der In- resp. Dekremente. Ich habe daher die 5 ganze Zahl in 16 Gruppen, der Höhe nach eingeteilt, sodaß die vier höchsten positiven Zahlen die erste, die vier höchsten negativen die letzte Nummer (I —XVI) erhalten. In der folgenden Tabelle sind die Jahre insgesamt wiederholt, je mit ihrer Nummer, übrigens in derselben Anordnung wie früher. 10

Tabelle 4. N

H

1844

VIII

1848

1845

XI

1849

II II

1846

XIII

1850

III

1847

XVI

1851

XII

1852

XVI

1856

I

1853

XI

1857

I

1854

XV

1858

V

1855

XII

1859

XV

1860

VIII

1864

VIII

1861

XIV

1865

III

1862

III

18 66

XVI

1863

III

1867



1868

XII

1872

I

1869

II

1873

XIII

1870

XVI

1874

XIV

1871

II

1875

XIV

1876

XV

1880

X

1877

XV

1881

X

1878

XIII

1882

IV

1879

XII

1883

X VII

I

1884

VI

1888

1885

VI

1889

IV

1886

IX

1890

VII

1887

XI

1891

IX

1892

XI

1896

IV

1893

X

1897

IV

1894

VI

1898

VI

1895

VIII

1899

V

428

Schriften H

N 1900

IX

1904

V

1901

XIII

1905

VII

1902

XIV

1906

V

1903

VII

1907

IX

Addieren wir die Nummern jedes Jahrviertes, so ergeben sich folgende Zahlen: N

H

Auf der H-Seite mehr ( + ) oder weniger ( —)

Ges.-Summe

48

19

- 29

54

22

-

28

28

32

42

+ 10

55

34

- 21

32

27

-

5

35

19

-

16

43

26

-

17

327

Ges.-Summe

10

32

0

15

217

Nur in einem einzigen Jahrviert ist die Summe auf der H-Seite höher und in dem vorausgehenden sind sie auf beiden Seiten gleich. An den 6 übrigen Stellen ist sie auf der N-Seite höher, und zwar in folgenden Verhältnissen. Wenn die H-Seite = 100 gesetzt wird: 252, 245, 161, 118, 184, 165; die Gesamtsummen verhalten sich wie 100 : 150. Man erinnere sich, daß die hohen Zahlen hier die Neigung nach dem negativen, die niedrigen diejenigen nach dem positiven Maximum bezeichnen. Die beiden Paare aber, wo die N-Seite nicht die höheren Ziffern aufweist, und besonders das, wo das umgekehrte Verhältnis statthat, sind als Ausnahmen charakteristisch; denn diese sind offenbar durch die Kriegsjahre bewirkt: nämlich 1. durch das stark negative Inkrement des Jahres 1866, 2. durch die sukzessiven bedeutenden Abfälle nach der unverhältnismäßig hohen Steigerung des Jahres 1872, die ihrerseits gleich der geringeren von 1871 als Reaktion gegen den Abfall von 1870 deutlich hervortritt. Auf die Ursachen der Inkrementen-Höhen wird später zurückzukommen sein. — Vergleichen wir aber jedes Jahr mit dem korrespondierenden — also mit dem 4 Jahre späteren —, so ergibt sich, daß nur 6 mal das Jahr auf der H-Seite eine höhere Nummer (also eine geringere Inkrementenklasse) aufweist. 2 mal die gleiche, so daß in den übrigen 24 von 32 Fällen, d. i. in 75 Prozent der Fälle, umgekehrt die höhere

20

is

30

35

429

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

Nummer auf der N-Seite sieb findet. Und wenn wir die Inkremente selber mit einander vergleichen, so zeigt sich, daß auch in den 2 Fällen, wo die Nummer auf beiden Seiten gleich, die H-Seite das höhere Inkrement hat ( 1 8 6 0 - 6 4 , 1 8 9 4 - 9 8 ) , so daß nur die 6 Ausnahme-Paare übrig bleiben und die Zahl der regulären Fälle auf 26 von 32 = 81 Prozent, sich erhöht! — In den 6 Ausnahmepaaren haben wiederum Kriege, Kriegsbefürchtungen, Kriegsfolgen zumeist, wenn nicht immer, auf der H-Seite die entscheidende Wirkung geübt: 1. 1859 mit bedeutendem negativem Inkrement (— 47,8), kann mit Sicherheit auf die preußische Mobilmachung zurückgeführt werden; der Abfall ist in Preußen (alten Umfanges) viel stärker (— 1004). 2. 1866: Auch hier ist der Abfall in Preußen stärker (— 1387), umgekehrt aber der Aufschwung im folgenden Jahre (1867) sehr viel lebhafter ( + 4 6 5 9 gegen + 1387 im gesamten Gebiete). 3. und 4. Der Zusammenhang der Abfälle nach 1872 mit den vorausgehenden Kriegsjahren wurde schon erwähnt. 5. Das verhältnismäßig geringe Inkrement des Jahres 1888 dürfte, da es ein starker ökonomischer Aufschwung war, durch die Aufregungen, die der zwiefache Thronwechsel zur Folge hatte, und die Kriegsbefürchtungen, die sich an den zweiten hingen, verursacht sein. 6. Auch das noch geringere Inkrement von 1907 möchte ich mit Kriegsbefürchtungen in Verbindung bringen. Es folgt hier die Gegenüberstellung der Ziffern nach den Stellen innerhalb jedes Jahrvierts: 1. Stelle

2. Stelle

3. Stelle

4. Stelle

VIII

II

XI

II

XIII

III

XVI

XI

XVI

I

I

XV

V

XII

XVII

VIII

VIII

XI XIV

III

III

XVI

III

I

XII XV

I

II

XIII

XVI

XIV

II

XIV

X

XV

X

XIII

IV

XII

X

VI

VII

VI

IV

IX

VII

XI

IX

XI

IV

X

IV

VI

VI

VIII

V

IX

V

XIII

VII

XIV

V

VII

IX

85

38

82

44

89

60

71

75

Auf der H-Seite wird mit jeder folgenden Stelle die Summe höher, also das durchschnittliche Inkrement geringer; auf der N-Seite fällt diese io alten Umfanges:

Gemeint ist Preußen ohne die aufgrund der Wiener Kongressakte 1815

zugewonnenen Gebiete; vgl.: „Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im preußischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874", bearb. v. A. Frhr. v. Fircks, Preußische Statistik, hgg. v. Königlichen Statistischen Bureau in Berlin, Bd. 48, Berlin 1879 (Aufstellung der erworbenen Gebiete auf S. 3 - 4 ) .

430

Schriften

Summe in korrespondierender Weise, mit Ausnahme der dritten Stelle, wo sie am höchsten steigt, um dann aber an der vierten niedriger als die H-Seite zu werden. Nehmen wir aber die Inkremente selber an jeder Stelle zusammen — ihre Summe, in der die negativen gegen die positiven ausgeglichen werden, um dann den Durchschnitt zu gewinnen, so ergibt sich: an 1. Stelle N " 2. " N + " 3. » 4.

875 63

N - 2251 N + 470

Durchschn. - 109; » + 8; » »

- 281; +59;

H + 5127 H + 2113

Durchschn. + 641 » + 264

H + 409 H + 1016

•• »

+ 51 + 127

In Uebereinstimmung mit den Ziffern-Summen ergibt sich, daß der Durchschnitt auf der N-Seite an dritter Stelle am niedrigsten; aber auch auf der H-Seite ist er an dritter Stelle am niedrigsten, der niedrige Durchschnitt hier ist freilich hauptsächlich durch das Jahr 1866 verursacht. Am höchsten aber ist es auf der N-Seite an der vierten, auf der H-Seite an erster Stelle: dies bedeutet jedesmal zwei auf einander folgende Jahre! Die Differenz der Durchschnitte ist (H mehr als N): an 1. Stelle + 750 » 2. » + 256

an 3. Stelle + 332 » 4. » + 68

also an erster am größten, an vierter am geringsten. Aber der absolut tiefste Durchschnitt liegt an dritter Stelle auf der N-Seite, der absolut höchste an erster auf der H-Seite; der zweitniedrigste an erster auf jener, der zweithöchste an zweiter auf dieser. Zu bemerken ist noch, daß die vierte Stelle auf der N-Seite einen etwas höheren Durchschnitt aufweist, als die dritte auf der H-Seite, während sonst alle Durchschnitte auf jener niedriger sind als auf dieser. Ich werde nun ebenso die Relativ-Ziffern darstellen, d. h. die Eheschließungsziffer jedes Jahres in ihrem Verhältnisse zu der des vorausgehenden Jahres; und zwar sollen die absoluten Inkremente (resp. Dekremente) vorangestellt werden, d. h. die Differenzen der auf 100 000 Einwohner (= der gewöhnlichen Promille-Ziffer mit 2 Dezimalstellen) berechneten Ziffer der getrauten Personen (nicht der Eheschließungen); dann sind auch (durch das Gleichheitszeichen verbunden) die relativen Inkremente in %o der jedesmal vorhergehenden Ziffer verrechnet worden, obschon hier die Differenzen so gering sind, daß die absoluten genügen könnten: (S. n. Seite.)

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

431

Tabelle 5. 1843: 1638 Tafel der Inkremente B. (Hier sind auch die 5 Jahre nach 1907 hinzugefügt worden) 0//oo N %0 H 1844 1845 1846 1847 1852 1853 1854 1855

+ -

-

-

-

3 15 47 136 136 4 111 17

1860 1861 1862 1863

+

1868 1869 1870 1871

36 + 118 359 + 104

1876 1877 1878 1879 1884 1885 1886 1887 1892 1893 1894 1895 1900 1901 1902 1903

-

+ +

2 53 73 76

-

-

-

+

116 109 54 40 31

+ 14 + 2 -

+

+ -

-

25 21 4 8 4 6 52 64 2

[1908 - 34 1909 - 40 1910 - 14 1911 + 32

=

+

=

-

=

-

=

-

=

-

=

-

u 91 28 9 86a

1848 1849 1850 1851

+ 88 + 107 + 60 32 + 107 + 163 + 35 97

=

-

81« 26 72y

=

-

12o

1856 1857 1858 1859

=

+ -

h 329 46 9 46 6

1864 1865 1866 1867

+

=

=

198 663 189! + 675

1872 1873 1874 1875

+ 416 56 96 87

=

-

63 7 63 9 33 s 259

1880 1881 1882 1883

-

=

=

+ 20 2 + 89

=

+

=

-

15.

1888 1889 1890 1891

=

-

130

=

-

25 50 25

=

+

=

+

= = =

-

+

=

-

=

-

=

=

+ +

=

-

=

-

=

12

40 30 5 38 s

=

-

=

-

12

-

2O9 251

= =

-

=

-

=

+ 20 8

%

1896 1897 1898 1899 1904 1905 1906 1907

=

+ + +

=

-

= =

60, 69, 37 2 188

=

+ 76 5 + IO83 + 2O9 56j +

= = =

4

=

+ 81

=

+ 47 4

184 + 211

=

-

=

-

+ +

+ + + +

5 4 41 1 8 34 8 1

=

=

23

102 s + 1314 + 253, 27 2

=

-

=

-

=

-

=

-

479 45 6

=

+

33 26 27 4

=

+

06

=

+

5i 21 7 5o 06

= = =

+ + +

+ 44 + 35 + 17

=

+ +

=

+

21 3 10,

+

20

=

+

Iis

+

28 4 18 4

=

+

177

+ + -

1912 +

12 =

=

=

= =

27 6

+ 24 + "1 -

+

1912 = 1588

24 7y]

432

Schriften

Das durchschnittliche relativierte Inkrement der auf 100 000 Einwohner bezogenen Relativ-Ziffer der getrauten Personen für die 64 Jahre 1 8 4 4 / 1 9 0 7 ist + l , 4 % o , d. h. die Schwankungen dieser Relativ-Ziffer heben sich nahezu auf: denn für die gewöhnlich berechnete Promille-Ziffer wäre es eine durchschnittliche Steigerung von 0 , 0 0 1 % . Der Durchschnitt der 3 2 N-Stellen ist aber - 1 7 , 5 % o , der 3 2 H-Stellen + 2 0 , 4 % o . Natürlich sind hier die Minus-Vorzeichen häufiger, da manches absolute Plus ein Minus der Relativ-Ziffer bedeutet; die Verteilung ist in den 64 Jahren 1844/1907 auf der N-Seite

auf der H-Seite

11 +

23 +

21

-

9 -

insofern also noch charakteristischer, als die Vorzeichen nahezu in umgekehrtem Verhältnisse verteilt sind: auf der N-Seite 21 : 32 = 65,6% Minus, auf der H-Seite 23 : 32 = 71,8% Plus. Eine noch auffallendere Verteilung der Vorzeichen ergibt sich, wenn aus den (relativierten) Inkrementen der absoluten Zahlen der Durchschnitt genommen wird und dann die jedesmalige Abweichung jedes Inkrementes von diesem Durchschnitte registriert wird. Die Gesamtsumme der 64 Jahre ergibt nämlich (+ 11 556 - 4537 = ) + 7019, und diese durch 64 dividiert = + 109 (auf 10 000) oder rund 1% — das wäre das Inkrement, das der durchschnittlichen Zunahme der Volksmenge entspräche, und damit stimmt die Tatsache überein, daß die HeiratsTendenz, bei gegebener Volksmenge, im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, wenig variiert. Wenn wir das Mittel der Relativ-Ziffern (auf 10 000 Einwohner) für die 6 Jahrzehnte 1841/1900 nehmen, so schwankt es in geringer Weise Tabelle 6. Differenzen von + 109. Tafel der Inkremente C. N

H

H

N

1844

+

4

1848

+

522

1852

-

862

1856

+

1845

-

93

1849

4-

640

1853

-

103

1857

+ 1053

694

1846

-

308

1850

4-

347

1854

-

812

1858

+

189

1847

-

927

1851

-

212

1855

-

217

1859

-

587

1860

+

16

1864

+

20

1868

-

262

1872

+ 2479

1861

-

339

1865

+

464

1869

+

627

1873

-

294

1862

+ 460

1866

-

1077

1870

-

1920

1874

-

477

1863

+ 470

1867

+ 1278

1871

+

616

1875

-

447

433

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung N

H

H

N 1876

-

621

1880

-

43

1884

+

106

1888

+

52

1877

-

630

1881

-

63

1885

+

57

1889

+

225

1878

-

332

1882

+

231

1886

-

9

1890

+

45

1879

-

253

1883

-

37

1887

-

153

1891

-

7

1892

-

124

1896

+

322

1900

-

4

1904

+

206

1893

-

48

1897

+

207

1901

-

280

1905

+

255

1894

+

61

1898

+

139

1902

-

346

1906

+

160

1895

+

41

1899

+

166

1903

+

21

1907

-

10

1908

-

169

1912

+

118

1909

-

238

1910

-

63

1911

+ 221

um 81 resp. 162, wenn die getrauten Personen anstatt der Eheschließungen gezählt werden. — Von jenem durchschnittlichen Inkrement der absoluten Zahlen, nämlich + 109, zeigen aber unsere 64 Jahre folgende Abweichungen, die wieder in der früheren Verteilung dargestellt werden mögen: (Tab. 6 s. S. 4 3 2 f . ) Bis zum Jahre 1879 stimmen die Vorzeichen mit denen der Inkremente B überein; von 1880 an aber weichen sie 6 mal voneinander ab. Die Verteilung der Vorzeichen gestaltet sich hier so, daß die Gesamtzahl der Minus gleich der Gesamtzahl der Plus wird, und die Verteilung entgegengesetzt: auf der N-Seite

auf der H-Seite

Summe

11 +

21 +

32 +

21

11

32

-

32

-

-

32

Und auf die Stellen kommen die Vorzeichen hier wie folgt: N

H

1. Stelle

3 +

5

-

7 +

1 -

2.



2+

6 -

6 +

2

3.



2 +

6

-

6 +

2 -

4.



4 +

4

-

2 +

6 -

11 +

21 -

21 +

11 -

Etwas anders als bei den Relativ-Ziffern, wo auf

-

genau

434

Schriften H

N 1. Stelle

3 +

5

-

7 +

1

2.



2+

6 -

3.



3 +

5

-

6+ 6+

2 2

4.



3 +

5

-

4 +

4

11 + 21

-

23 +

9

-

kommen. Während hier an jeder Stelle die H-Seite mit den positiven Vorzeichen überlegen bleibt, tritt sie dort an vierter Stelle gegen die NSeite zurück. Aber auch bei den Abweichungen der Inkremente A von ihrem Durchschnitte bleibt die Ueberlegenheit der H-Seite durchgehend, an jeder Stelle, wenn jedesmal sämtliche 8 Abweichungen addiert (die negativen gegen die positiven Inkremente aufgerechnet) werden. Es ergibt sich dann nämlich: (D. = Durchschnitt) Ueberlegenheit der H-Seite an 1. Stelle

-

1747

(D.

- 218)

+ 4252

(D. + 5 3 1 )

+ 5999

an 2.



-

713

(D.

-

+ 2487

(D. + 3 1 1 )

+ 3200

(D. + 4 0 0 )

an 3.



- 3206

(D.

- 401)

-

513

(D. -

130)

+ 2693

(D. + 2 7 1 )

an 4.



-

(D.

-

+

144

(D. +

18)

+

(D. +

402

89) 50)

546

(D. + 7 4 9 )

68)

Zugleich tritt hieraus deutlich die regelmäßige Verminderung der Ueberlegenheit hervor, und zwar so, daß der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten, dann wieder der zwischen der dritten und der vierten Stelle am größten ist. Wenn aber alle Abweichungen vom durchschnittlichen Inkrement A summiert werden, ohne Rücksicht auf die Vorzeichen, so ergibt sich als Summe 23 846, oder als durchschnittliche Abweichung (dividiert durch 64): 372. Beachtenswert ist nun, daß diese durchschnittliche Abweichung in den ersten 39 Jahren 22 mal übertroffen, seitdem aber d. h. in den letzten 25 Jahren (1883 — 1907) niemals wieder erreicht wird, (auch nicht 1908 — 1912). Die Oszillationen der Inkremente sind also erheblich schwächer geworden. Darauf weist es auch hin, daß in diesen letzten 25 Jahren nur 4 negative Inkremente A vorkommen (in den vorausgehenden 39 Jahren 17 = 4 3 % , dort nur 1 6 % ) , und daß das höchste positive Inkrement dieser 25 Jahre + 431 (1896) ist, das höchste negative — 237 (1902), während in den früheren 39 Jahren die positiven 11 mal über

435

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

500, die negativen 10 mal über 300 hinausgehen. — Die eingetretene Beruhigung entspricht in einigem Maße der Zunahme des Wohlstandes, der Verbesserung der Massenlage im Deutschen Reiche, während der letzten 25 Jahre, ist aber wohl am meisten durch die Erhaltung des 5 äußeren und inneren Friedens bedingt gewesen. Innerhalb dieser jüngsten Periode ist freilich die zweite Hälfte wieder stürmischer geworden: während die 13 Jahre 1883 — 1895 eine durchschnittliche Abweichung (vom Gesamt-Durchschnitt der 64 Jahre) von nur 7 4 aufweisen, ist diese in den letzten 12 Jahren (1896—1907) wieder auf 159 gestiegen (auch in 10 den 5 Jahren bis 1912 einschl. 162). In jenen 13 Fällen ist aber 6 mal das Inkrement kleiner als + 109, in diesen 12 Fällen nur 4 mal (in den letzten 5 Jahren aber wieder 3 mal!). — Um aber auf das Haupt-Thema zurückzukommen, sowohl diese Abweichungen (Inkremente C), als auch die Inkremente B zeigen, wenn i5 ihre je vierjährigen Summen verglichen werden, denselben regelmäßigen Wechsel, der früher signalisiert wurde: 1. Die durchschnittliche Abweichung jedes Quadrienniums — Inkremente C — Tabelle 7. 20

Quadriennium

Quadriennium

Fortschreitende Reihe der Differenzen der durch-

N

H

schnittlichen Abweichungen jedes Quadrienniums

endend

endend

(die + bezeichnen jedesmal die H-Seite, die — jedesmal die N-Seite.)

25

30

35

1847

-

331

1851

+ 324

+ 655

1855

-

498

1859

+ 331

-

1863

+ 152

1867

+ 171

+ 835

1871

-

235

1875

+ 315

-

185

1879

-

459

1883

+

+

19

1887

-

0

1891

+ 179

-

1895

-

17

1899

+ 108

+ 550

1903

-

152

1907

+ 153

-

1911

-

62

22

406 114

+ 471

Ueberlegenheit auf der H-Seite

331

+ 655

*+

-

822

+ 835

+

986 157

oder

-

185

+

19

+

204 956

wie

-

406

+ 550

+

zuvor

-

774

+ 471

+ 1245

geordnet:

-

22

+

79

+

101

22

-

96

+

225

+

321

+

39

-

360

+

305

+

665

-

96

-

215

-

+ 225 -

360

+ 305 40

H

N

822

-

215

?

?

436

Schriften

2. Die Inkremente B (nicht relativiert). N

Tabelle 8. Fortschreitende Reihe der Differenzen (die + bezeichnen jedesmal die H-Seite, die — jedesmal die N-Seite.)

H

Jahrviert, endend

Jahrviert, endend

N

H Mehr auf der H-Seite

+ 105 123

-

+ 119 1847 1855 1863 1871 1879 1887 1895 1903 1911

+ + -

49 67 24 46 80 5 3 32 14

1851 1859 1867 1875 1883 1891 1899 1907

+ + + + + + + +

56 52 28 44 8 13 28 11

-

+ -

+ -

+ -

+ + +

28 4 74 90 124 88 3 8 16 31 59 43 25 .

oder wie zuvor geordnet:

49 - 123 - 28 - 74 - 124 3 - 16 - 59 - 25

+ 104 + 119 + 4 + 90 + 88 + 8 + 31 + 43

*+ + + + + + + +

153 242 32 164 212 11 47 102

Die Vergleichung der relativierten Inkremente B wird hier übergangen, weil sie keine selbständige Bedeutung in Anspruch nimmt. 11. — Für Preußen, alten Umfanges, läßt sich die Bewegung der Bevölkerung bis zum Jahre 1 8 1 6 zurück verfolgen. Ich ordne die Zahlen der Eheschließungen (nach preußischer Statistik H. 48) auch hier, gemäß der Hypothese, daß der 8 jährige Zyklus schon darin enthalten sei und daß das Quadriennium 1843/47 als N sich anschließe die relativen Inkremente auf 10 000 werden hinzugefügt: Tabelle 9. N

1820 1821 1822 1823

109 625 106000 106163 102247

= - 131 = - 330 = + 15 = - 321 —

767

1816 1817 1818 1819

H 117448 112305 111484 111084

= ? = - 437 = 73 = 35

1824 1825 1826 1827

107472 112171 111999 106270

= + 511 = + 437 = 15 = - 511

+ 422

437

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung N

1828 1829 1830 1831

1836 1837 1838 1839

104788 108 627 110534 98 673

125 391 128 022 123 644 128 676

H

= = = =

= = = =

- 134 + 366 + 175 - 1073 -

666

+ + +

116 209 342 407

+

390

1832 1833 1834 1835

127217 130540 129 818 123 953

= = = =

+ 2892 + 261 55 - 451 + 2647

1840 1841 1842 1843

132781 136188 140744 140456

= = = =

+ + + -

280 295 334 20

+

889

— Wenn wir zunächst vom ersten Quadriennium absehen, so bleiben 6 X 4 = 24 Jahre, deren Verlauf sich unserem Schema durchaus anpaßt. Die Minus-Vorzeichen sind auf der linken (N-)Seite 6, gegen 5 auf der rechten; aber die Zahl wird dort um 2 vermehrt, wenn wir sie auf den Durchschnitt der 24 Jahre beziehen; dieser ist nämlich = + 121, wird also auf der rechten Seite von allen positiven Vorzeichen übertroffen. Es stehen mithin in diesem Bezüge links

rechts

4 + 8 -

7 + 5 -

und es darf vermutet werden, daß auch die Relativ-Ziffern — die Verhältnisse zur Bevölkerung — sich ebenso stellen würden. Indessen werden die Tendenzen durch Gegenüberstellung der Summen und also der Jahresdurchschnitte jedes Quadrienniums stark genug beleuchtet. Die Summen sind in der Tabelle sichtbar, ich gebe die Durchschnitte, und ihre regelmäßigen Schwankungen. Wenn diesen Schwankungen die der späteren Jahrvierte, 1847 bis 1911 (s. u.), beigefügt werden, so ergibt sich ein Wechsel der Vorzeichen durch 22 Jahrvierte oder 88 Jahre. 1820/23 1824/27 1828/31 1832/35 1836/39 1840/43 1844/47 1848/51

-

+ -

+ + + -

+

192 105 166 662 97 222 500 814

1852/55 1856/59 1860/63 1864/67 1868/71 1872/75 1876/79 1880/83

-

+ -

+ -

+ -

+

899 740 159 814 1303 785 784 462

1884/87 1888/91 1892/95 1896/99 1900/03 1904/07 1908/11

-

+ -

+ -

+ -

104 71 81 231 329 263 165

438

Schriften

Die Summe läßt sich aber noch vermehren, wenn die in Tab. 9 mitverzeichneten Jahrvierte 1816/19 und 1820/23 herangezogen werden. Hier fehlt das Inkrement für 1816: wir kennen die Zahl der Eheschließungen dieses Jahres, aber nicht das Verhältnis dieser Zahl zu derjenigen des Vorjahres (1815). Indessen darf hier mit großer Zuversicht eine Interpolation einsetzen, wenn auch keine quantitativ sicher bestimmbare. Die Zunahme der Eheschließungen im Jahre 1816 ist ohne Zweifel enorm gewesen — im ganzen damaligen Deutschland, in Frankreich, im ganzen westlichen Europa. Nicht zum wenigsten in Preußen, das 4 Jahre lang unter Waffen gewesen war. Nur aus solcher enormen Steigerung läßt sich erklären, daß die absolute Zahl der Eheschließungen, wie sie in 1816 auftritt, erst nach 16 Jahren wieder erreicht — und zugleich übertroffen — wurde. Von 1817—1831 blieb sie niedriger, trotz der fortwährenden Zunahme der Volksmenge. Schon F. H. Ungewitter

wies auf diese

merkwürdige Tatsache hin (Die preußische Monarchie, Berlin

1859

S. 174). Wir werden daher das Inkrement des Jahres 1816 gegen 1815 wahrscheinlich noch zu niedrig schätzen, wenn wir es auf 2 0 % oder 2 0 0 0 %oo ansetzen. Durch diese Interpolation käme dann das Jahrviert auf eine Summe von + 1455 oder auf ein durchschnittliches Inkrement von + 3 8 9 . Mit ebenso großer Gewißheit darf aber vermutet werden, daß das durchschnittliche Inkrement der vorausgegangenen 4 Kriegsjahre negativ gewesen ist und mit — 100 eher zu hoch als zu niedrig geschätzt wird. Wenn aber diese Zahlen eingesetzt werden, so treten an die Spitze der ganzen Reihe die Schwankungs-Ziffern + 4 8 9 und — 581. Wenn wir nun auch darauf verzichten, die Vermutung auch auf das Jahrviert 1808/11 auszudehnen, das freilich ebenso sicher eine Erholung gebracht hat, also mit einer positiven Durchschnittsziffer bewertet werden müßte, wie das vorausgehende 1804/7 — das Jena und Tilsit in sich einschloß — eine schwere Depression in sich geschlossen hat — so lassen sich doch ohnehin 100 Jahre in diesem Wechsel der Jahrvierte beinahe überschauen. Denn daß das Jahrviert 1912/15 wiederum eine etwas günstigere Gestaltung aufweisen wird, als das zuletzt vergangene, ist schon jetzt so gut als gewiß, obgleich Teurung und Kriegsbefürchtungen und die Verminderung der Konjunktur hemmend gewirkt haben. Von 1842 ab lassen sich die Inkremente Preußens (alten Umfanges) und die des heutigen Reichsgebietes zusammenstellen und vergleichen. Auch diese Gruppierung wird wie früher angeordnet.

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

439

Tabelle 10. N Preußen D R .

10

1844 1845 1846 1847 1852 1853 1854 1855 1860 1861 1862

20

1863 1868 1869 1870 1871

+ -

42 27 212

-

969

+

-

+ -

+ -

+

+ -

+ -

+

678 161 762 175 84 319 688 419 427 185 1630 789

Differenz (D R. + oder

+ + -

-

+ -

+ -

+

+ -

+ -

+

A . - P r e u ß e n D R. 1876 1877 1878 1879 1884 1885 1886 1887 1892 1893 1894 1895 1900 1901 1902 1903

-

+

+ + -

396 512 125 46 234 190 34 104

-

+ + + -

+

46 144 109 104

+ +

+

257

+

-

+ +

-

+

189 273 124

H

-

+ -

+

113 16 199 818 753 6 702 108 125 230 569 579 153 736 1829 725

+ -

+

+ -

+ + + + -

+

+

+ -

Preußen

1842 1843

+

1848 1849 1850 1851

+

+ + +

67(-)

1856 1857 1858 1859

41 89 ( —) 119 160

1864 1865 1866 1867

+ +

274 ( - ) 551 199 ( + ) 64

1873 1874 1875

71 11 13 ( - ) 151 ( - ) 75 (+) 156 60 < - )

Differenz (D R . + oder + ) 512 521 223 144 215 166 100 44 15 61 170 150 105 171 237 129

-

-

+ + + -

+

+ -

+ + +

D R . Differenz (D R. + oder - )

-

1872

-

+

+ -

-

-

334 20

+

651 1182 461 149

+

709 1501 302 1004

+

113 642 1387

+

-

+

+ -

+ + -

+ -

+

4659

+

+

3040 99 320 567

+

-

A.-Preußen

-

270 59 631 749 456 103

2588 185 378 338

+

425 369 204 239

+ + +

431 316 248 275

+ + + +

336 185 329 124

+ +

316 164 269 99

+ +

3K-) 83 61 46

1896 1897 1898 1899

152 18(-) 36 ( —) 5

1904 1905 1906 1907

+

+

-

+ -

+ -

-

+

64 39 (+) 20 433 5 4 M - )

96 339 4 526 ( - ) 16 69 409 ( - ) 3272 452 86 ( + ) 58( +) 229 ( - )

D R . Differenz (D R . + oder

+ + +

1888 1889 1890 1891

+

-

+

+

+

19 24 66 60 ( - )

+

-

129 573 978 1387

150 318 144 23

+ +

-

+

+

1880 1881 1882 1883

-

805 1162 298 478

85 52 461 172

116 ( + ) 9( + ) 98 ( + ) 98 (+)

-

+ + + +

+ +

+

+ +

66 46 340 72 161 334 154 102

-

+ +

+ + + -

+ + -

19 6 121 100 11 16 10 79 6 53 44 36 20 19 60 25

440

Schriften N 1908

-

75 -

1909

-

84 -

1910

+

1911

+

6 6 4-

9 (—)

129 -

45

92 +

45 -

47

380 +

330 -

50

Die Differenzen sind hier so gerechnet, daß das geringere Plus als Minus, das geringere Minus als Plus gesetzt wird. Die eingeklammerten Vorzeichen bedeuten dabei, daß die Zahlen selber höher ( + ) oder niedriger ( - ) sind. Die Differenz ist 1844/1907 auf der N-Seite 18 mal

+

gegen 14 mal —, auf der H-Seite nur 13 mal + gegen 19 mal —. Die Schwankungen sind nach beiden Seiten ( + und —) überwiegend stärker in Alt-Preußen: von den 2 2 Minusabweichungen 14, von den 4 2 Plusabweichungen 25. Die Summen und Durchschnitte für Alt-Preußen sind von 1844 ab N Summen

H

Durch-

Summen

Durch-

Mithin der Wechsel der

schnitte

schnitte

Durchschnitte

1844/47

-

1112

-

278

1848/51

+ 2145

+

536

-

5 0 0 (s.o.)

+ 814

1852/55

-

1454

-

363

1856/59

+ 1509

+

377

-

899

+ 740

1860/63

+

772

+ 193

1864/67

+ 4027

+ 1007

-

184

+ 814

1868/71

-

1083

-

271

1872/75

+ 2054

+

513

-

1278

+ 784

1876/79

-

1079

-

270

1880/83

+

770

+

192

-

783

+ 462

1884/87

+

354

+

88

1888/91

+

635

+

159

-

104

+

1892/95

+

311

+

78

1896/99

+ 1237

+

309

-

81

+ 231

1904/07

+

+

243

-

829

+ 263

-

165

1900/03

-

81

-

20

1908/11

+

313

+

78

974

71

III. Für kürzere Zeitspannen läßt sich die Entwicklung im Gebiete des heutigen Deutschen Reiches auch mit den Entwicklungen der Nachbarländer vergleichen. Am nächsten liegt uns die Betrachtung Frankreichs,

weil

dessen Schicksale mit den deutschen teils parallel laufen, teils damit verwoben sind. Dabei wird das Gebiet des heutigen Frankreichs, ebenso wie das des heutigen deutschen Reiches, ins Auge gefaßt.

441

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung Tabelle 11. Anzahl der Eheschließungen (1843) 273 900 Inkrement = pro 10 T s

10

15

20

25

30

35

XIII IV XV XVI

1844 1845 1846 1847

268148 272037 258296 240665

XII X XIV II

1852 1853 1854 1855

271407 270317 261731 273795

XV III X XI

1860 1861 1862 1863

277606 293368 291678 289429

VIII VII XVI I

1868 1869 1870 1871

288817 291074 223705 262476

XIV XV VIII VI

1876 1877 1878 1879

291366 279094 279892 282776

III XIII VIII XIII

1884 1885 1886 1887

289555 283170 283208 277060

IV XI IX VII

1892 1893 1894 1895

290319 287294 286662 287915

VI IV XIV VII

1900 1901 1902 1903

299084 303469 294786 295996

=

-

=

+

=

-

=

-

5752 3889 13741 17631

=

-

-

=

-

-

=

-

=

-

=

+

=

-

=

+

=

=

-

=

+

= =

-

+

=

4603 1090 8586 + 12064

=

= =

=

-

=

-

8801 9394 1690 2249

+ +

=

-

=

-

=

496 2257 67369 + 38771

=

-

=

=

-

=

= = =

= =

9061 12272 + 798 + 2884

=

+

=

-

=

+

=

-

=

+

=

-

=

-

=

+

= =

+ +

=

-

=

+

5036 6385 38 6148 4861 3025 632 1253 3332 4385 8683 1210

= = = =

1848 1849 1850 1851

283446 267768 285714 276010

166 IX 40 II 317 II 461 XIII

1856 1857 1858 1859

272969 283562 294759 286407

370 I 1864 288028 338 XVI 1865 287954 57 XVI 1866 291640 77 XI 1867 288321

17 I 1872 352754 50 XVI 1873 321238 2314 XVI 1874 303113 + 1733 XI 1875 300427



=

+

=

+

=

-

=

+

=



= =

-

=

-

=

+

=

210 I 145 XV 505 I 682 XIV

+ +

=

=

Anzahl der Eheschließungen Inkrement pro = 10 T

+ +

=

-

=

+

301 421 28 103

XI V IX V

1880 1881 1882 1883

279046 282079 281060 284519

177 220 1 217

IX XII XII II

1888 1889 1890 1891

276848 272934 269332 285458

170 104 22 43

VI VII XII III

1896 1897 1898 1899

290151 291462 287179 295752

112 146 286 41

VI IV V III

1904 1905 1906 1907

298721 302623 306487 314061

= = = =

+ 42781 - 15677 + 17945 - 9704

=

826 + 10593 + 11197 8352

=

-

= = =

= = =

= = = =

= = = =

= = = =

= = = =

= = = =

+ -

1401 74 3686 3319

+ 90278 - 31516 - 18125 - 2686 + +

3730 3033 1019 3459

212 - 3914 - 3602 + 16126 + + +

2236 1311 4283 8573

+ + + +

2725 3902 3864 8269

= = = =

+ 1777 552 + 670 339 -

= =



=

+

=

-

=

-

=

-

=

+

=

30 388 395 283 48 2 127 113

• 3439

= =

-

=

-

893 564 88

=

= •

= =

-

=

+

=

-

=

-

=

-

=

+ + +

132 108 36 122 7 141 132 597

=

-

=

+

77 45 147 298

+ + + +

92 130 127 269

= =

= = = =

Wenn wir zunächst die Vorzeichen beobachten, so ergibt sich eine zwar unbedeutende Differenz, aber im gleichen Sinne wie im Deutschen Reiche. Es sind

40

unter N

unter H

15 + 17 -

16 + 16 -

442

Schriften

Der Unterschied tritt aber auch hier erheblich schärfer zu Tage, wenn die relativierten Inkremente auf ihren Durchschnitt bezogen werden. Dieser ist — viel geringer als im Deutschen Reich entsprechend der schwachen Volksvermehrung — + 37 pro Zehntausend. Daran gemessen, erhöht sich die Zahl der Minus-Vorzeichen auf der linken Seite um 3 (es kommen hinzu die Jahre 1868, 1878 und 1886) also auf 20, während sie auf der rechten Seite sich nicht verändert. Viel deutlicher aber wird die Parallele mit dem Deutschen Reiche, wenn auch hier die Summen der Inkremente jedes Jahrviertes betrachtet, und einander — nebst den Durchschnitten — gegenübergestellt werden. Es ergibt sich nämlich folgende Reihe: N Summe

H Summe

Durchschnitt

1844/47

-

1257

Durchschnitt -

315

1848/51

+ 1556

+ 389

1852/55

-

62

-

15

1856/59

+

470

+ 117

1860/63

-

166

-

41

1864/67

-

36

1868/71

-

514

-

128

1872/75

+ 1894

+ 473

1876/79

-

591

-

148

1880/83

+

62

+

15

1884/87

-

259

-

65

1888/91

+

317

+

79

1892/95

+

87

+

22

1896/99

+

273

+

68

1900/03

+

13

+

4

1904/07

+

618

+ 154

Oder, wenn nur die Differenzen

-

9

der Durchschnitte aufgereiht werden,

und der Durchschnitt des Jahrviertes, das hinter 1844/47 zurückliegt, = 0 angenommen wird: -

315

+ 704

-

404

+ 132

-

161

+

-

119

+ 601

-

621

+ 163

-

80

+ 144

-

57

+

-

64

+ 150

32

46

Der Wechsel ist also hier ebenso regelmäßig, wie in der gleichen Epoche im Deutschen Reiche, resp. in dessen heutigem Gebiete. Stellen wir die Durchschnitte oder deren Differenzen, wie sie für dies Gebiet gefunden wurden, neben die des heutigen Frankreich:

443

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung N Frankreich 1844/47 1852/55 1860/63 1868/71 1876/79 1884/87 1892/95 1900/03

-

H Frankreich

Deutsches Reich -

315 404 161 119 621 80 57 64

222 822 186 408 771 22 97 360

1848/51 1856/59 1864/67 1872/75 1880/83 1888/91 1896/99 1904/07

+ + + + + + + +

Deutsches Reich

704 132 32 601 163 144 46 150

+ + + + + + + +

655 836 17 552 480 79 226 255

Auch das zuletzt vollendete Jahrviert 1908/11 paßt in beiden Ländern der Regel sich an. In Frankreich sind die Jahres-Inkremente 1908 1909 1910 1911

+ 1580 = + 12 im Deutschen Reich - 3344 = - 7954 = - 251 „ „ - 6493 = + 23 = + 7 „ „ + 2269 = + 28 = + 4 „ „ + 6423 =

Summe

— 238

Summe

Durchschnitt der 4 Jahre — 60

- 60 - 129 + 46 + 129 — 14 —

4

Es kommen also auf die linke Seite die ferneren Differenzen: für Frankreich

für Deutsches Reich

- 216

- 259

Eine bedeutende Uebereinstimmung stellt sich auch heraus, wenn — ebenso wie es früher fürs „Deutsche Reich" geschah —, die 64 Jahre in 16 Gruppen nach der Höhe der Inkremente eingeteilt werden, so daß die 4 höchsten positiven die Nummer I, die 4 niedrigsten negativen die Nummer XVI erhalten, wie in der Tabelle vorgesehen. Werden die Nummern addiert, so stehen einander gegenüber j^j Jahrviert

1 3 5 7 9 11 13 15

Insgesamt

mit „ „ „ „ „ „ „

pj 48 36 39 32 43 37 31 31 297

Jahrviert „ „ „ „ „ „ „

2 4 6 8 10 12 14 16

Insgesamt

mit „ „ „ „ „ 3 „ 2 „

31 26 34 44 30 5 8 18

H mehr ( + ) oder weniger ( —) — 17 - 10 - 5 + 12 - 13 - 2 - 3 - 13

246

— 51

444

Schriften

Eine einzige Ausnahme von der Regel, daß die Summen auf der rechten Seite niedriger sind: und diese Ausnahme begegnet an der gleichen Stelle, wo sie früher fürs Deutsche Reich gefunden wurde, nämlich in der vierten Gruppe von 8 Jahren, und diese vierte Gruppe umfaßt in den Jahren 1868/75 die beiden Kriegsjahre 1870/71 und die Folgejahre: für beide Länder tief erschütternde Ereignisse. Im „Deutschen Reich" ist außerdem in der vorhergehenden Gruppe von 8 Jahren die Differenz zwischen den beiden Jahrvierten = 0, und auch hier ist die Wirkung von Kriegen, besonders des 1866er, erkennbar. Stellen wir die Differenzen neben einander: Frankreich

„Deutsches Reich'

-

17

-

29

-

10

-

32

-

5

0

+ 12

+ 10

-

13

-

-

2

-

5

-

3

-

16

-

13

-

17

21

so zeigen sie, außer an der zweiten Stelle, wo im „Deutschen Reich" eine Steigerung, in Frankreich Verminderung der Differenz eintritt, eine parallele Tendenz: die Differenz nimmt ab an der dritten, wird positiv an der vierten, dann wieder negativ an der fünften, sinkt an der sechsten und steigt von der sechsten zur siebten, steigt ferner von der siebten zur achten Stelle. Die Uebereinstimmung ist, auch in dieser Hinsicht, fast vollkommen. Mit Ausnahme der beiden schon bezeichneten Gruppen, ist die Differenz im „Deutschen Reich" jedesmal größer als in Frankreich.

IV. Wenn schon die Erscheinung in einem einzelnen Lande, durch eine lange Reihe von Jahren hindurch bewährt, sehr auffallend ist, um so mehr muß es Verwunderung erregen, wenn sie in zwei benachbarten großen Reichen gleichzeitig angetroffen wird. Durchaus ungerechtfertigt wäre aber die Vermutung, daß man sie nun auch noch anderswo, oder gar überall, wiederfinden sollte. In der Tat finde ich sie für Großbritannien und Irland vor 1872 — wo freilich die Daten zum Teil lückenhaft sind — nicht bestätigt; namentlich ist die Summe der Inkremente für das

445

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

Jahrviert 1 8 6 8 - 7 1 höher als die für 1 8 7 2 / 7 5 ( + 513 gegen + 341; anders, wenn Großbritannien allein betrachtet wird, da ergibt sich + 608 gegen + 618; es ist vorzugsweise die anhaltende Verminderung der Eheschließungen in Irland, seit 1865 auch ein Sinken der Relativ-Ziffer, ob5 gleich diese schon damals niedrig war, was hier auf die Verhältnisse einwirkt; indessen auch für England und Schottland läßt sich der hier untersuchte Wechsel nicht über 1868 zurück verfolgen: die beiden früheren Jahrvierte ergeben die Inkrementen-Summen + 3 2 6 und + 379, fügen sich also nicht in die Regel). Anders seit 1872. Ich ordne die Jahres10 zahlen, wie die früheren: H

N (1867: 2 3 1 5 1 4 )

15

20

25

30

IX

[1868 226516 =

-

4998 =

-

215

VII

1869 226391 =

-

125 =

-

5

II

1870 234176 =

+

7785 =

+ 344

I

1871 243091 =

+

8915 =

I 1872 253851 = + 10760 = V 1873 258093 =

+ 442

+

4242 =

+ 166

1874 252881 =

-

5222 =

-

+ 389 VIII 1875 251223 =

-

1658 =

-

IX

202 65]

V

1876 254841 =

+

3618 =

+ 144

II 1880 236833 =

+

7978 =

+ 348

X

1877 244891 =

-

9950 =

- 390

II 1881 245120 =

+

8287 =

+ 349

IX

1878 239696 =

-

5195 =

- 212

III 1882 253030 =

+

7910 =

+ 322

X

1879 228855 =

- 10841 =

- 452

VI 1883 254621 =

+

1591 =

+

VIII

1884 252992 =

-

1629 =

-

64

VI 1888 249186 =

+

2847 =

+ 115

X

1885 244226 =

-

8766 =

- 343

I 1889 261730 =

VIII

1886 241180 =

-

3046 =

-

124

IV

1887 246339 =

+

5159 =

+ 213

VII

1892 277335 =

+

1365 =

+

49

I 1896 296047 =

X

1893 267548 =

-

9787 =

- 353

IV 1897 303044 =

III

1894 275655 =

+

8064 =

+ 301

IV 1898 310029 =

+

6985 =

+ 230

V

1895 279704 =

+

4091 =

+ 148

III 1899 317581 =

+

7552 =

+ 243

IX

1900 311212 =

-

6369 =

- 200 VIII 1904 313051 =

-

3358 =

-

106

VI

1901 313309 =

+

2097 =

+

67

VII 1905 315026 =

+

1975 =

+

62

VI

1902 316570 =

+

3261 =

+ 104

III 1906 325778 =

+ 10752 =

+ 340

VII

1903 316409 =

-

161 =

-

IV 1907 332228 =

+

+ 198

5

63

+ 12544 =

+ 503

II 1890 271487 =

+

9757 =

+ 372

V 1891 275970 =

+

4483 =

+ 165

+ 16343 =

+ 585

+

+ 236

6997 =

6450 =

Was die Vorzeichen betrifft, so läßt sich auch das Jahrviert 1 8 6 8 / 7 1 zur Vergleichung heranziehen. Es ergibt sich in dieser Hinsicht sogar ein 35 besonders starker Kontrast, nämlich unter N

H

9 + 11 -

17 + 3 -

446

Schriften

Die Summen der Inkremente sind aber — daneben werden wieder deren Durchschnitte aufgezeichnet —

1876/79 1884/87 1892/95 1900/03

1872/75 1880/83 1888/91 1896/99 1904/07

- 910 D. - 227 - 318 D. - 79 + 145 D. + 31 - 34 D. 8

+ 341 D. + 85 + 1082 D. + 270 + 1155 D. + 289 + 1284 D. + 321 + 494 D. + 123

Die Differenzen der Durchschnitte sind also seit 1876 N -

H + + + +

312 349 253 329

auf der H-Seite mehr (+)

497 368 285 131

+ + + +

809 717 538 460

Werden auch hier die 40 Jahre von 1868 — 1907 nach der Höhe der Inkremente mit Nummern versehen (I —X), so ergeben sich die Summen N

H

H mehr ( + ) oder weniger (—)

19 34 30 25 28

23 13 14 12 22

+ 4 - 21 - 16 - 13 - 6

Die Differenz ist auch hier ein einziges Mal positiv, und wiederum an der gleichen Stelle (1868/75) wie in Frankreich und im Deutschen Reiche. Die folgende negative Differenz nimmt dann stetig ab; ob sie wieder in ein Plus übergeht, läßt sich nicht voraussagen. Wohl aber paßt auch hier das letztverflossene Jahrviert (1904/07) der Regel sich an. Die Zahlen und Inkremente sind nämlich: 1908 1909 1910 1911

319280 313302 320735 330227

= = = =

- 12948 = - 389 - 5978 = - 187 + 7433 = + 237 + 9492 = + 295

Die Summe der Inkremente also = — 44, oder im Durchschnitt —11. Es stellt sich also die Differenz des Durchschnitts von dem vorausgehenden auf — 134.

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

447

Es bleibt nun übrig, zu prüfen, ob und wie die dargestellte Periodizität mit anderen Erscheinungen zusammenhängen möge, d. h. ob sich auch ein regelmäßiger Wechsel der Bedingungen, die auf die Eheschließungen fördernd oder hemmend einwirken, an ihren Inkrementen gemessen, feststellen lasse.

V. 2 „Die Schwankung in den Eheschließungen eines Landes drückt die Ansichten aus, welche das Gros des Volkes von seinen Chancen in der Welt hegt". „Die Zahl der Ehen in einer Nation schwankt vielleicht [auch] unabhängig von äußeren Ursachen, aber es ist eine zulässige Deduktion [lies Induktion] aus den Tatsachen, daß die Listen der Verheiratungen in England die Perioden der Prosperität um weniges minder deutlich anzeigen, als die Kurse von Staatspapieren den Hoffnungen und Befürchtungen auf dem Geldmarkte Ausdruck geben. Wenn diese ein Barometer des Kredits, so sind jene das der Prosperität, zum Teil der gegenwärtigen, aber zum größeren Teil der zukünftigen, erwarteten, anticipierten". So sprach im Jahre 1847 Sir G. Graham, damals Registres-General, in seinem 8. Rapport (B. 25, Sess. 1847/48 p. I X und X X I I I ) über eine Erscheinung sich aus, deren Kern schon von Publizisten und Populationisten des 18. Jahrhunderts — es mögen nur Montesquieu und Süßmilch genannt sein — erkannt worden war. Die Feststellung wurde fast mit den gleichen Worten von Ernst Engel in der Einleitung zu den „Statistischen Mitteilungen aus dem Königreich Sachsen" 1852 wiederholt (worauf Horn Bevölkerungswissenschaftliche Studien aus Belgien S. 159 auf2

Im Anfange dieser Abhandlung (im ersten Heft dieses Bandes S. 150) ist zu lesen: „Erster Abschnitt: Eheschließungen", sodann unter I der Text S. 150—164 zu lesen. S. 161 sind rechts die Buchstaben H und N vertauscht, S. 163 ist neben 1859 + 331 statt + 137 zu lesen.

5 feststellen

lasse: Ende des ersten Teiles; Fortsetzung im 3. Heft, ab S. 767.

20 Montesquieu:

Vgl. dessen „Vom Geist der Gesetze", 23. Buch: „Über die Gesetze in

ihrem Bezug zur Zahl der Bewohner". 20 Süßmilch: Vgl. dessen „Die göttliche Ordnung in den Verwandlungen des menschlichen Geschlechts" (1741). 22 Ernst Engel: Vgl. Engel, 1852: 338 ff. 24 Horn: Vgl. Horn, 1854: I, 159. 2« zu lesen: Die genannten Korrekturen wurden in den entsprechenden Tabellen hier bereits ausgeführt (hier S. 432 bzw. S. 435)

448

Schriften

merksam machte). Unter den neueren Autoren hat diese wie andere Fragen gründlich erörtert G. v. Mayr. „Am nächsten aber liegt (gegenüber Betrachtung der Ursachen die etwa in der völkerpsychologisch bedeutsamen Aenderung der Neigung zum Familienleben überhaupt und in der objektiven Verschiebung demologischer Verhältnisse zu suchen sein) die Aufsuchung der Einflüsse, welche wirtschaftlichen Vorgängen, nicht sowohl auf den Hoch- oder Tiefstand der Trauungsziffer als solche, als vielmehr auf deren in den einzelnen Zeitabschnitten eintretende Aufwärts- oder Abwärtsbewegung zuzuschreiben ist. Daß die wirtschaftlichen Vorgänge die Eheschließungshäufigkeit beeinflussen, ist in unverkennbarer drastischer Weise an dem Rückgang der Ehen zur Zeit wirtschaftlicher Katastrophen zu ersehen. Der Gedanke liegt nahe, an der Vergleichung wirtschafts- und bevölkerungsstatistischer Kurven zu erproben, ob nicht auch in dauernder Weise ein Einfluß ökonomischer Verhältnisse erkennbar sei. In älterer Z e i t . . . . fand man in dem statistisch klargelegten Parallelismus von Getreidepreisen und Eheschließungen den Nachweis eines solchen Zusammenhangs. Die Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinung schien als eine allgemeine außer Zweifel; und doch hat auch sie schließlich nur als eine historische Kategorie sich erwiesen". Mayr verweist sodann auf die Veränderungen, die das Vordringen der Weltwirtschaft für die Landwirtschaft gehabt hat. „Dazu kommt weiter, daß mit der Zunahme des Industrialismus und mit der Hebung der allgemeinen Lebenslage der breiten Massen die Bedeutung, welche der Brotpreis im Haushalt dieser Massen hat, sehr zusammengeschrumpft ist, während auf der andern Seite die Frage ausgiebiger und gut gelohnter Arbeitsbetätigung in den Vordergrund tritt". Er macht auf die Arbeiten von Ogle und Juglar über den Parallelismus von Trauungsziffern und Produktionsgestaltung aufmerksam, sowie auf die Vergleichungen jener mit Ein- und Ausfuhrziffern, wie sie in den Berichten des Registrar-General für England und Wales angetroffen werden. Ich wende auch auf diese Erscheinungen die Methode der Inkremente an, die gerade durch Vergleichung solcher Tatsachen, die als — möglich oder wirklich — verursachende gedacht werden, mit denjenigen, die da27 „... in den Vordergrund 2« Ogle und Juglar:

tritt": Vgl. von Mayr, 1897: 3 8 5 f .

Vgl. William Ogle, On Marriage-Rates and Marriage-Ages, with spe-

cial reference to the Growth of Population, 1890; Clément Juglar, Influence de crises commerciales sur 1' état économique, 1896. 31 Berichten

des Registrar-General:

Vgl. den von v. Mayr (1897: 389) zitierten „57 th Annual

Report of the Registrar General in England", London 1895.

449

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

von abhängig, aber durch menschliches Wollen bedingt sind, ihren Sinn bewähren muß. Vergleichung der Roggenpreise, wie sie für das Gebiet des heutigen deutschen Reiches und für die Jahre 1841/86 in Band 4 4 Statistik des Deutschen Reiches S. 20*) Tafel I errechnet sind — die Ziffern fehlen freilich und müssen aus den Kurven abgelesen werden —, für die folgenden Jahre nur als preußische Durchschnittsziffern mir vorliegen, mit den Eheschließungsziffern, liefert, in Uebereinstimmung mit dem, was Mayr u. a. gefunden haben, ein zweifelhaftes Ergebnis. Es muß dabei freilich auch erwogen werden, daß die Durchschnittspreise und ihre Bewegung als solche keine reale Bedeutung haben; nur die Preise, die von A, B, C am Orte X wirklich für ihren Brotbedarf gezahlt werden, und die Veränderungen dieser Preise, können auf die Entschlüsse von A B C und also auf die Frequenz der Eheschließungen am Orte X wirken. Es ist daher ein sehr rohes Verfahren, wenn Durchschnittspreise als Maßstab angelegt werden. Dennoch lohnt es sich, die Beobachtung anzustellen, weil gerade die Veränderungen nach oben und nach unten ziemlich gleichartig sich einzustellen pflegen; mithin von den bestehenden lokalen Preisdifferenzen wenig abhängig sind. Von 1844—1863 korrespondieren unsere Jahrvierte mit den entgegengesetzten Bewegungen der Roggenpreise in der Weise, wie es die bekannten „Kurven" erwarten lassen, d. h. auf der N. Seite ist jedesmal ein durchschnittlich größeres Inkrement als auf der H.-Seite. Dort ist das Inkrement in den 3 Jahrvierten 1844/47 1852/55 1860/63, also in 12 Jahren, nur 2mal negativ, während es auf der H.-Seite in den 2 Jahrvierten 1848/51 1856/59, also in 8 Jahren, 5 mal dies Vorzeichen, das eine Abnahme des Preises anzeigt, aufweist (vgl. Tab. 1). Tabelle 1. Roggenpreise nach Statistik des D. R . Bd. 4 4 S. 2 0 * Tafel 1 und nach Stat. Jahrbuch für den Preuß. Staat 1 9 1 3 S. 2 6 5 , in M a r k pro 1 0 0 0 kg. I n k r e m e n t e % . (1843

135)

1844

- 20 =

-

1848

-

124 =

-

55,

1845

+ 20 =

+ 17,4

1849

-

16 =

-

15 8

1846

+ 55 =

+ 4 0'7 :

1850

+

7 =

+

82

1847

+ 35 =

+ 18,'4

1851

+

38 =

1852

+ 35 =

+ 269

1856

-

20 =

-

1853

+ 13 =

+

78

1857

-

65 =

— 308

1854

+ 47 =

-

15 =

-

10 7

+

+ 2 6'44 + 2 2 2, +

1858

1855

1859

+

2 =

+

15

5 =

14,

+ 41, 87

450

Schriften 1860

+ 27

=

+ 20i

1864

1861

+

1

=

0S

1865

1862

+

2

=

1863

-

22

=

1868

-

1

=

1869

-

41

=

+

+ h

1866

- 13j

1867

05 - 20« -h 0

"'1872

-

1873

-

+ + +

21

=

-

5

=

20

=

+ 42 + I61

56

=

15 0

+ 38s

+

4

=

"

24

=

+ 14 3

-

23

1870

0

=

+

6

=

+

3!

+ 13

=

+

1874

1871

«2

1875

-

32

=

-

I61

1876

+

8

=

+

48

+

49

=

+ 340

+

3

=

9

=

1878

-

34

+ b

1880

1877

=

-

1879

+

1

=

+

0

=

-b

4

=

-

1884 1885

-

1881

+

1882

-

41

=

+ 4« -2O3

1883

-

14

=

"

0

1888

=

1889

+ +

10

27

21

=

+ 80 + 15s

192 07

+

87

1886

-

9

=

-

63

1890

=

+

-

9

=

-

67

1891

+

14

1887

38

=

+ 223

1896

+ +

1

-

+

08

4

=

+

32

8,

1892

-

30

=

1893

-

43

=

14 3 - 24a

1897

1894

-

17

=

-

1898

+

19

=

+ 15 0

1895

+

3

=

+

12« 25

1899

-

2

=

"

0

=

-t-

0

1904

=

+

I5

=

-

I4

1905

+ +

2

2

13

=

+

97

10

=

+

29

=

+ 68 + 18 4

1900 1901

-

1902

+

2

=

+

14

1906

1903

-

11

=

-



1907

1908

-

6

=

-

32

1909

-

9

=

-

1910

-

21

=

-

5o 12 2

1911

+ 14

=

+

+

13

93

Durchschnittliches Inkrement der Jahrvierte auf der H-Seite N

H

mehr ( + ) od. weniger ( —)

1844/47

+ 15 4

1848/51

"

54

1852/55

+ 15i

1856/59

"

12 2

-20

s

+

280 8,

1860/63

+

28

1864/67

+

Ho

1868/71

"

32

1872/75

-

02

+

30

1876/79

"

30

1880/83

+

54

1884/87

-

39

1888/91

+ 24 + 13 7

1892/95

"

12,

1896/99

+

42

+ 17« + 16 3

1900/03

"

1,

1904/07

+

9,

+ 11 0

1908/11

"

27

30

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

451

Wenn aber von 1860 ab jedes Jahrviert mit jedem folgenden verglichen wird, so tritt die umgekehrte

Erscheinung in auffallender Weise zutage,

d. h. durchschnittlich fallende, oder doch (das erste Mal) schwächer steigende Preise in den ungünstigen — durchschnittlich steigende, resp. das erste Mal stärker steigende Preise in den günstigen Jahren! Umso merkwürdiger, daß der 4 + 4jährige Zyklus

fortdauert. D a ß dieser selbst we-

sentlich durch einen Zyklus im Ausfall der Ernte bedingt sei, ist eine Erklärung, die unmittelbar nahe liegt, wenn auch eine größere Deckung von Ernte-Zyklus und Wirtschafts-Zyklus keineswegs zu erwarten wäre. Undenkbar ist es aber nicht, daß zwar — nach wie vor — die gute industrielle Konjunktur durch gute Ernten, also relativ niedrige Korn-Preise, bedingt wäre (in den Ver. Staaten ist der Zusammenhang offenbar), daß aber die gute Konjunktur als solche die Tendenz eines Steigens dieser Preise als Folge vermehrter Nachfrage, bewirke, und daß in neuerer Zeit dieser Faktor — teils durch die zunehmenden Mengen industrieller Arbeiter, teils durch den vermehrten Import von Getreide — so entscheidend geworden sei, daß tatsächlich die 4 durchschnittlich besseren Jahre ein Steigen der Kornpreise mit dem Steigen aller anderen Preise, die 4 durchschnittlich schlechteren Jahre ein Fallen dieser Preise mit Fallen der Löhne usw. im Gefolge hätten und sich darin ausdrückten. Es wäre demnach zu erwarten, daß der Erhöhung der Getreidepreise eine Erhöhung der Preise anderer Lebensmittel parallel liefe (und umgekehrt). Um dies zu prüfen, verfolge ich, nach oben genannter Quelle, die Bewegung der Preise des Schweinefleisches als besonders wichtigen Volksnahrungsmittels, in Preußen seit 1872, in den 4jährigen Perioden, die wie bisher bezeichnet werden.

Tabelle 2. ( 1 8 7 1 1 1 3 Pf. für 1 kg) N

H

1873

+ +

1874

-

1

= -

07

1875

-

8

= -

60

7 0

= + = + = ±

49 0

0

= ±

0

1872

1876

+

5 =

+

4o

1880

1877

-

2 =

-

Ii

1881

+ +

1878

-

6 =

-



1882

+

64

1883

1879

-

8 =

-

9 13

6

= +

80

= + 10 6

6!

452

Schriften N 1884

-

8

=

1885

±

0

=

+

62 0

1886

-

1

=

-

o8

1890

+ 11

=

+

«6

1887

-

4

=

-

33

1891

-

=

"

64

1892

+

1

=

1896

-

6

=

-

47

+

1

=

+ +

Oy

1893

07

1897

+

8

=

+

66

1894

-

1

=

-

07

1898

+

8

=

+

62

1895

-

5

=

-

3s

1899

-

4

=

"

2,

1900

-

3

=

-

1904

-

7

=

-

50

+

9

=

69

1905

+ 23

=

1902

+ 10

=

+ +

22

1901

+ 17s + 77

1903

-

10

=

-

1908

+

1

=

1909

+ 11

=

1910

+

2

=

1911

-

13

=

1888

-

1

=

-

1889

+ 14

=

+ 122

9

72

1906

+ 12

=

67

1907

-

=

18

o8

-10,

+ o6 + 73 + h -

80

Durchschnittliches Inkrement der Jahrvierte: j_j

H-Seite mehr ( + ) od. weniger ( —)

1872/75

+ 297

187

1880/83

+ 27S

+ 462

-

1876/79

"

1884/87

"2

5 7

1888/91

+ 390

+ 647

1892/95

"

I77

1896/99

+ I30

+ 307

1900/03

+ I30

1904/07

+ 235

+ 365

1908/11

+ 027

-

}

Die Vergleichung mit den Roggenpreisen ist besonders darum interessant, weil diese beiden Lebensmittel (Roggenbrot und Schweinefleisch) als Gegenstände des Begehrs einerseits derselben Ursache (wachsender oder abnehmender Kaufkraft der Massen) unterliegen, andererseits aber in ihren Preisen negativ sich zueinander verhalten, weil hohe Preise des minder entbehrlichen Gutes — des Getreides — die Nachfrage nach dem entbehrlicheren — dem Schweinefleisch — schwächen müssen, niedrige Roggenpreise diese Nachfrage zu stärken, also den Preis zu erhöhen tendieren. In der Tat begegnet in einigen Jahren, so in dem charakteristischen Jahre 1891, als einem Jahre großen Ernteausfalls und enormer (im D. R . durch die Kornzölle verstärkter) Preissteigerung des Getreides, ein entgegengesetztes Vorzeichen, in jenem Jahre also ein Preisfall des Schweinefleisches; auch die Durchschnitte beider Jahrvierte 1900/03 und

453

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

1908/11 stehen einander so gegenüber, daß sie einen Fall des Roggenpreises, aber ein Steigen des Schweinefleischpreises anzeigen. Dennoch bleiben dort wie hier die N-Jahrvierte seit 1872 den H-Jahrvierten gegenüber mit durchschnittlichem Preisfall oder geringerer Steigerung, während die H-Jahrvierte durchschnittliche Steigerung, resp. geringeren Fall oder stärkere Steigerung aufweisen. Wenn nun der Zusammenhang mit dem Ernteergebnis, zumal wenn und weil die Welternte dabei in Betracht gezogen werden muß, schwer zu bestimmen sein wird, so ist doch keineswegs die Meinung, einen bedeutenden Einfluß dieses Ergebnisses auf die Wirtschafts-Zyklen in Frage zu stellen; die nähere Untersuchung wäre aber für den gegenwärtigen Zweck zu weitläufig. Wir müssen uns an die Wirtschafts-Zyklen als solche halten, um zu erforschen, ob sich ein Rhythmus entdecken lasse, der dem auffallenden Rhythmus in den Eheschließungen einigermaßen entspräche. Als erste Daten dafür, die seit 1860 festgestellt worden sind, benutze ich (A) die Angaben über den Wert sämtlicher Bergwerks-Erzeugnisse im heutigen Deutschen Reiche (resp. Zollgebiet), wie sie in den Stat. Jahrbüchern und im Stat. Handbuch für d. R. (bis 1905 inkl.) enthalten sind. Tabelle 3. S u m m e aller Bergwerkserzeugnisse im heutigen Deutschen Reiche resp. Zollgebiet — Wert in Millionen M a r k - Inkremente absolut und in %o 1860

N 125 9 = » +

1861 1862 1863

128 0 = 134 3 = 141 4 =

1868 1869

225 0 = 240 4 =

1870 1871

248 2 = 314 2 =

1876 1877 1878 1879

3 80 7 333 5 324 3 318,

1884

43 8 3 =

1885 1886 1887

439 9 = 430 5 = 448 8 =

= = = =

+ + + + + + +

=

•5 9 2,

=

63

=

7i

=

+ + + +

+ + +

H 49 17

1864 1865

164 3 189 0

48 53

1866 1867

198, 214 4

49 68

1872 1873 1874 1875

415 7 535y 505 7 416,

1880 1881 1882 1883

375 5 389 3 412, 436 5

4

1888

494 7

=

3 21 42

1889 1890 1891

555i 725« 775?

=

10«

=

15 4

=

78 66 0

= =

3 + 265

-

36 2

=

-

-

47 2 92 62

=

-

-

+ + -

+

1« h 94 18 3

=

-

=

-

= = = =

+ + -

+

86 124 27 19



= = =

+ + + +

22 9

=

24 7

=

91 16 3

=

=

+

=

+ 120 o 30 o 88 8

= = = = = =

= =

+ + + + + + + +

=

IOI5 = = = =

57 4

=

13, 23« 23«

=

45 9 60 4 70 5 50,

= = = = = =

+ 161 + 150 + 48 + 82 + 320 + 288 37 - 175 + 180 + 36 + 60 + 57 + 102 + 122 + 307 + 69

454

Schriften

1892 1893 1894 1895

7117 6703 6752 706s

1900 1901 1902 1903

12632 1313, 12358 13120

1908 1909 1910 1911

19708 19805 2008y 20856

= = = =

= = = =

= =

= =

- 640 " 414 + 4, + 313 + + +

2116 5 07 781 762

+ 125g + 97 + 282 + 77 s

82 58 + 7 + 46

1896 1897 1898 1899

786y 8593 938s 10516

+ + + +

802 726 796 1127

= = = =

+ + + +

113 92 92 120

+ 201 + 40 59 + 61

1904 1905 1906 1907

1363g = + 14177 = + 1637J = + 1844, = +

51g 539 2194 2078

= = = =

+ + + +

39 40 154 126

=

-

=

-

= =

= = = =

= = = =

= = = =

+ 68 + 4 + 14 + 37

Vergleichbar sind 6 X 8 = 48 Jahre. Der Unterschied zwischen der NSeite und der H-Seite tritt deutlich hervor. Dort 8 — gegen 16 + Hier 2 — gegen 22 + Die Gesamtsumme ist auf der N-Seite + 441, der Gesamtdurchschnitt also + 18. Die Gesamtsumme ist auf der H-Seite + 2245, der Gesamtdurchschnitt also + 93. Die erste Stelle (für d. J. 1860) ist interpoliert worden, und zwar vermutlich mit einem zu hohen Werte, da die spärlichen Angaben, die für Preußen eine Vergleichung der Jahre 1859 und 1860 zulassen, nur sehr geringe Steigerungen der Bergwerksbetriebe vermuten lassen. Das Hauptergebnis werde in folgender Uebersicht dargestellt: Summen der Inkremente und durchschnittliche Inkremente (in %o) der Jahrvierte durchschnittliches Inkrement auf der H-Seite mehr ( + )

N 1860/63 1868/71 1876/79 1884/87 1892/95 1900/03 1908/11

*+ + + + +

169 385 256 28 87 243 124

H = *+ 42 = + 96 = - 64 = + 7 = - 22 = + 61 = + 31

1864/67 1872/75 1880/83 1888/91 1896/99 1904/07 1912/15

+ + + + + +

oder weniger ( —)

441 396 333 600 417 358

= = = = = = ?

+ + + + + +

110 9 83 150 104 89

+ 68 9 + 3 + 147 + 143 + 126 +28

455

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

E b e n s o k ö n n e n wir (B) den Metallhüttenbetrieb

n a c h den a n g e g e b e -

nen Werten der J a h r e s e r t r ä g n i s s e seit 1 8 6 0 v e r f o l g e n u n d die a b s o l u t e n I n k r e m e n t e nebst den Verhältnissen dieser zu T a u s e n d berechnen. Tabelle 4. 5

Förderung des gesamten Metallhüttenbetriebs im Gebiete des heutigen Deutschen Reiches resp. Zollgebiets, nach dem Werte in Millionen M a r k

N 1860 1861 1862 1863

49! 47« 51« 545

1868 1869 1870 1871

71 2 74! 70! 748

1876 1877 1878 1879

108« 1083 103« 99,

1884 1885 1886 1887

1235 1294 1280 138]

1892 1893 1894 1895

1764 =

1557 1402 141«

1900 1901 1902 1903

2162 192« 1902 2078

1908 1909 1910 1911

255, 270, 2894 324i

= =

= = = = =

= = =

= = = =

= =

=

= = = = = =

= = =

=

*+ " + +

%0 28 ls 40 2,

= = = =

+ + +

30 = 2, = 40 = 47 =

" -

o4 = o3 = 47 = 37 =

- o8 + 5, - 14 + 10, - 13, -20« " 15s + 14 - 60 -23« " 24 + 17« + + +

484 150 I85 34 7

= = =

*

+ -

+ +

+ + -

+ -

-

+ -

=

+

=

-

=

-

=

-

=

+

=

-

=

-

=

-

=

+

= = = =



+ +

H 4« o5 4i 55

=

+

=

-

+ 128 + 192 " 37 + 5,

=

60 30 84 56

1864 1865 1866 1867

59j 58« 627 682

44 40 54 67

1872 1873 1874 1875

87« 1068 103, 1090

3 3 43 35

1880 1881 1882 1883

1160 1140 125« 1245

8 47 10 79

1888 1889 1890 1891

164] 167, 1905 1903

=

+ 260 + 38 + 22« - o2

73 117 99 10

1896 1897 1898 1899

1592 = 1667 = 1853 = 2222 =

+ 17« + 7S + 18« + 36,

=

27 109 12 92

1904 1905 1906 1907

223! 2643 3093 3043

+ 153 + 41 2 + 450 " 50

=

= = = =

= = = = = = = = = = =

= = = =

+ + +

+ I61 " 20 + 11« - Ii

= =

+ +

=

+ +

=

-

=

+

=

+

=

-

=

+

=

-

0//oo 84 8 70 87 169 219 34 57 161 17 101 9

=

+ + +

=

-

188 23 134 1

+ + + +

124 48 111 194

=

+ + +

=

-

73 184 172 16

= =

= = =

=

157 58 68 119

A u c h hier ist die erste Stelle eingeschaltet w o r d e n u n d z w a r v e r m u t lich wieder mit e i n e m zu h o h e n Werte. Vergleichbar sind d a n n a u c h hier 6 X 4

J a h r e a u f der N - S e i t e mit e b e n s o vielen a u f der H-Seite. — D e r

K o n t r a s t tritt n o c h erheblich s c h ä r f e r z u t a g e , s c h o n in den Vorzeichen:

456

Schriften auf der N-Seite

auf der H-Seite

14 -

6

10 +

-

18 +

und der Gesamtdurchschnitt ist sogar negativ auf der N-Seite. Die Summe der Inkremente ist nämlich dort — 104, mithin der Durchschnitt von 2 4 Jahren — 4, während die Summe auf der H-Seite + 2 0 9 3 , also im Durchschnitt der 2 4 Jahre + 87. Das Haupt-Ergebnis ist aber in dem vollkommenen Rhythmus enthalten, der sich bei Betrachtung der Summen des Inkrements und ihrer Durchschnitte wiederum ergibt, wenn sie einander gegenübergestellt werden. Summen der Inkremente und durchschnittliche Inkremente der Jahrvierte 1860/1907. Durchschnitte auf N

H

der H-Seite mehr ( + ) od. weniger (—)

Summen

Durch-

Summen

schnitt 1860/63

•••+ 1 7 0

1868/71

Durchschnitt

" + 42

1864/67

+ 233

+

58

+

16

+ 391

+

98

+

74

+

97

+ 24

1872/75

1876/79

-

84

-

21

1880/83

+ 236

+

59

+

80

1884/87

+ 108

+ 27

1888/91

+ 344

+

86

+

59

1892/95

-

279

-

70

1896/99

+ 476

+ 119

+ 189

1900/1903

-

56

-

14

1904/07

+ 413

+ 103

+ 117

VI. Reichlicher fließen die Quellen statistischer Daten, die für die wirtschaftliche Entwicklung charakteristisch sind, seit Begründung des Deutschen Reiches, also seit 1872. Eine Vergleichung dieses Anfangsjahres mit dem vorhergehenden ist zwar nur ausnahmsweise möglich, indessen steht eine sehr erhebliche Steigerung des wirtschaftlichen Lebens in diesem Jahre als allgemeine Tatsache fest: es war das eigentliche „Gründerjahr" und ließ neben der Siegerstimmung, von der die Unternehmungslust

an-

schwoll, die Wirkungen des Zuwachses an Umlaufsmitteln durch die französische Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franks deutlich erkennen. Wir betrachten zunächst (C.) die Ziffern des Deutschen

der Einfuhr

und

Ausfuhr

Reiches resp. des entsprechenden Zoll- oder (später) des

457

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

Wirtschaftsgebietes, und zwar den geschätzten Wert des Spezialhandels in Millionen M. Tabelle 5. Einfuhr und Ausfuhr. D. R. Zoll- resp. Wirtschaftsgebiet. Geschätzter Wert des Spezialhandels (Einfuhr + Ausfuhr) in Millionen Mark.

5

N

o//oo

Inkremente

10 1876 1877 1878 1879 15

20

25

30

1884 1885 1886 1887

H

Inkremente

1872 1873 1874 1875

5957 6720 6130 6134

= = = =

5821 6084 6415 6573

= = = =

*+ ca. 540 + 763 588 + 4

%0 = = = =

0

+ +

45 54

+

25

407 = 557 =

+ +

64 82

339 = 61 =

+ +

46 8

642 = 339 =

+ + + +

84 41 92 74

+ 382 = + 183 = - 68 = + 78 =

+ + +

62 28 10 11

1880 1881 1882

6517 = 5887 =

- 56 = - 630 = + 95 = + 397 =

- 8 - 96

1888 1889 1890 1891

6786 = 7343 = 7682 =

+ +

7743 =

+

8312 =

+

- 5 + 45

1896 1897 1898 1899

8651 = 9450 = 10152 =

+ + +

+ + +

1904 1905 1906 1907

12170 = 13278 = 14917 =

+ + +

719 = 1108 = 1639 =

16095 =

+

1178 =

5982 = 6379 =

1892

7377 =

1893 1894

7379 = 7337 =

1895

7670 =

+ +

366 2 42 333

= = = =

1900 1901 1902 1903

10796 10223 10619 11451

= = = =

+ -

644 = 573 =

+ +

396 = 832 =

1908 1909 1910 1911

14559 15719 16754 18232

= = = =

- 1536 = + 1160 = + 1235 = + 1277 =

+ 16 + 66 -

47

+ o2

63 53 39 78

1883

=

+ +

+ +

+ 100 + 130 - 88 ± 0



= = = =

6516 6699 6631 6709

s

263 = 331 = 158 =

799 = 702 =

+ 63 + 91 + 123 + 79

- 95 + 80 + 78 + 75

Bekanntlich sind diese Zahlen nur von 1880 bis 1906 untereinander einigermaßen vergleichbar; indessen ist die Umgestaltung der Statistik des Warenverkehrs mit dem Auslande, durch das vom 1. III. 1906 an geltende Gesetz, nicht so tiefgreifend, daß nicht wenigstens die „Gesamt35 Jahresergebnisse" vergleichbar bleiben (nach Stat. Handbuch für d. D. R. II. S. 8). Was aber die Jahre vor 1880 betrifft, so sind die Angaben zwar weniger zuverlässig, als die späteren, aber sie sind doch unter sich

458

Schriften

insofern vergleichbar, als sie nach den gleichen Grundsätzen aufgestellt und auf Grund eines besonderen statistischen Warenverzeichnisses geordnet sind. Durchaus unvergleichbar mit seinem Vorjahre (1879) bleibt nur das Jahr 1880. Wir bleiben hier auf Konjektur angewiesen. Wenn nun auch die Besserung, die gerade in diesem Jahre in mehreren Gebieten des Wirtschaftslebens, nach langer schwerer Depression bemerkbar ist, eine kleine Steigerung der Handelswerte wahrscheinlich macht, so glaube ich doch methodisch am besten gegen Einwände gesichert zu sein, wenn ich das Inkrement an dieser Stelle mit ± 0 eingesetzt habe. Auch so bleibt das Ergebnis in Uebereinstimmung mit den bisherigen Ergebnissen. In den 20 Jahren 1876/79, 1884/87, 1892/95, 1900/1903, 1908/11 begegnen 13 + 7 dagegen in den 20 Jahren 1872/75, 1880/83, 1888/ 91, 1896/99, 1904/07 17 + 1 - 2 0. Selbst wenn die 20 als Minus gerechnet würden, bliebe das Ergebnis noch merkwürdig genug, zumal da auch unter den positiven Inkrementen, auf der linken (N-)Seite 3 weniger als 20%o sind, auf der rechten (H-)Seite nur 1. Stellen wir aber wiederum die Summen der Inkremente und die Durchschnitte nebeneinander, so tritt eine neue Bestätigung hervor: N Summe + 91 - 22 7 + 127 + 138

H

Durchschnitt + 23 - 5 - 2 + 32 + 34

Summe + + + + +

142 124 200 291 356 >

Durchschnitt + + + + +

35 31 50 73 89

Durchschnitt auf d. Durchschnitt auf der N-Seite H-Seite mehr ( + ) mehr ( + ), oder weniger ( —) oder weniger ( —) als auf der H-Seite im vorausgehenden Quadriennium ? +

8

+ 55 + 75 + 57 ?

-

12 36 52 41 55

Einen ferneren Anhalt zur Beurteilung der Schwankungen des Wirtschaftslebens gewähren (D) die Betriebseinnahmen der vollspurigen Eisenbahnen, deren Entwicklung von 1872—1911 hier nach dem Stat. Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrg. 9, S. 104, nach dem Stat. H a n d buch für d. D. R. I. S. 298 und dem Jahrbuch Jahrg. 34 (1913) S. 121 mitgeteilt werden.

459

D i e Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung Tabelle 6.

Betriebseinnahmen der vollspurigen Eisenbahnen im Deutschen R e i c h e 1 8 7 2 — 1 9 1 1 in Millionen M a r k N

Inkrement

in %o

H [1871

Inkrement

in %o

602]

1872

670

=

+

68

=

+ 112

1873

745

=

+

75

=

+ 112

1874

792

=

+

47

=

+

62

1875

843

=

+

51

=

+

65

1876

857

=

+

14

=

+ 16

1880

886

=

+

20

=

+

23

1877

852

=

-

5

=

-

6

1881

922

=

+

36

=

+

40

1878

849

=

-

3

=

-

3

1882

969

=

+

47

=

+

51

1879

866

=

+

17

=

+ 20

1883

1005

=

+

36

=

+

37

1884

1015

=

+

10

=

+ 10

1888

1169

=

+

77

=

+

70

1885

997

=

-

18

=

-

17

1889

1267

=

+

98

=

+

83

1886

1024

=

+

27

=

+ 27

1890

1303

=

+

36

=

+

28 31

1887

1092

=

+

68

=

+ 66

1891

1344

=

+

41

=

+

1892

1347

=

+

3

=

+

2

1896

1588

=

+

90

=

+

60

1893

1407

=

+

60

=

+ 44

1897

1677

=

+

89

=

+

56

1894

1410

=

+

3

=

+

2

1898

1840

=

+ 163

=

+

97

1895

1498

=

+

88

=

+ 62

1899

1946

=

+ 106

=

+

51

1900

2031

=

+

75

=

+ 38

1904

2267

=

+ 105

=

+

48

1901

1973

=

-

58

=

-

28

1905

2437

=

+ 170

=

+

74

1902

2025

=

+

52

=

+ 26

1906

2628

=

+ 191

=

+

78

1903

2162

=

+ 137

=

+ 67

1907

2745

=

+ 117

=

+

44

1908

2698

=

-

47

=

-

1909

2843

=

+ 145

=

+ 53

17

1910

3036

=

+ 193

=

+ 68

1911

3271

=

+ 235

=

+ 77

Diese Tabelle zeichnet sich dadurch aus, daß sie kein einziges konjekturales Element enthält, da auch das Inkrement des Jahres 1872 urkundlich gegeben ist. Dagegen hat sie den kleinen Mangel, daß die Jahre nicht Kalender- sondern Rechnungsjahre sind; in den Verhältnissen der Jahre zueinander dürfte sich daraus kaum ein Unterschied ergeben. Es ist sogleich erkennbar, daß auf der N-Seite 5 mal, auf der H-Seite keinmal das Minus-Vorzeichen sich findet; wenn aber der gesamte Durchschnitt aller 173,5 Inkremente berechnet wird, der ^ = + 4,33 beträgt, so sind, außer den Minus-Stellen, unter diesem Durchschnitt auf der N-Seite noch 8 Stellen, auf der H-Seite (mit positivem Vorzeichen) 5, insgesamt also dort 13, hier 5 Jahre, wodurch der Kontrast deutlich hervortritt.

460

Schriften

Die Summen der Inkremente, deren Durchschnitte und die Differenzen dieser Durchschnitte sind hier: N Summen

H

Durchschnitte

27

+ 07

+ »6 + Ilo + 10 3

+ 2,

+ 18,

+ 45

+

+ 27 + 26

Durch-

Durchschnitte auf

Durchschnitte auf N-Seite

d. H-Seite mehr ( + ) oder weniger (—)

mehr ( + ) oder weniger ( —) als auf der H-Seite im vorausge-

Summen

schnitte

+ 35,

+ 7,

}

+ 15! + 21 2 + 27 0

+ 38 + 53

+ 3, + 32

+ 76

+ 23 4

+ 58

+ 40 + 32

henden Q u a d r i e n n i u m

-

b

-2«

?

- 13

Analog stellt sich ferner ein anderes Merkmal des Verkehrs dar, nämlich (E), die Porto-Einnahmen der deutschen Reichspost (ohne Telegraphen- und Telephon-Einnahmen). Tabelle 7. P o r t o e i n n a h m e n der Deutschen Reichspost in 1000 M . (Reichspostgebiet) Nach den Stat. J a h r b b . für d. D. R. N Inkremente in %o

1876

+

2121

1877 1878 1879

+ +

4339 3777 2854

1884 1885 1886 1887

+ +

+

>

+

+ 24 + 48 + 39 + 28

1880 1881 1882 1883

+

=

+ + + +

1888 1889 1890 1891

+ 8141 + 10468 + 7795 + 8389

=

+ 52

1896

+ 34 + 52 + 55

1897 1898 1899

+ 13877 + 19338 + 17652 + 16850

+ 36 + 41

1904 1905

+

+ 49 + 61

1906 1907

+ 22059 + 17491

= = =

=

+

6555 5575 5318 5693

1892

+

9494

1893 1894 1895

+

6498 + 10235 + 11510

=

1900 1901

+ 10387 + 12490

=

1902 1903

+ 16337 + 20111

+

H Inkremente in %o 1872 1873 1874 1875

= = =

= =

=

= =

53 43 39 40

=

+ 3861

=

+ +

3211 5723

=

+ + +

5494 5258 4806 5636

8315 + 24593

=

= = =

=

= =

= =

=

f '

+ + + +

50 51 40 69

+ + + +

54 49 43 48

+ + + +

56 68 47 48

+ 63

=

+ 83 + 70 + 62

=

+ 23

=

+ 67

= =

= =

+ 57 + 43

1872—1907.

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

461

N Inkremente in %o

1908 1909 1910 1911

+ + + +

15124 22525 16726 24541

= = = =

+ + + +

35 51 36 52

Hier ist freilich wieder das Inkrement des ersten Jahres ungewiß; indessen dürfte es mit + 5% wahrscheinlich viel zu niedrig angeschlagen sein, da die ersten Monate des vorausgehenden Jahres (1871) noch unter dem Einflüsse des Krieges standen, und eben das Jahr 1872 den außerordentlichen kommerziellen und industriellen Aufschwung mit sich brachte. Ferner hat sodann eine Korrektur für das Jahr 1900 eingesetzt werden müssen. Die Porto-Einnahmen schwollen in diesem Jahre nämlich von 285 4 7 9 0 0 0 auf 3 0 0 2 0 6 000 M . , also um 14,7 Millionen = 5,1% an. Dies wäre an und für sich keine ungewöhnliche und unwahrscheinliche Vermehrung. Tatsächlich ist sie aber zu einem erheblichen Teile durch die Verstaatlichung der Privatposten und die — z. T. dadurch bewirkte — Einführung neuer Postwertzeichen bedingt gewesen, ist also nicht alleinige Folge der allgemeinen Umstände des Verkehres, wie die sonstigen Inkremente. Ich habe, nach der „Statistik der Reichspostverwaltung für das Jahr 1900", die dort angeführten Beträge aus dem Verkaufe der neuen Marken und Postkarten auf 28,9 Millionen errechnet; wenn diese insgesamt abgezogen würden, so ergäbe sich sogar ein Minus gegen das Vorjahr, das freilich in der ganzen Reihe von Jahren einzig dastünde. Nun sind aber die höheren Beträge vorzugsweise aus dem Erlös der neu eingeführten größeren Wertzeichen (von 30 Pfg. bis 5 M.) gewonnen, und es muß angenommen werden, daß an derer Statt, unter gleichgebliebenen Verhältnissen, der Verkauf der kleinen Marken erheblich größer gewesen wäre (wobei zu erwägen, daß Briefmarken bekanntlich auch als Zahlungsmittel verwandt werden). Ich habe daher für richtig gehalten, nur den Erlös der dem Ortsverkehr dienenden (später durch „Reichsfinanzreform" wieder abgeschafften) Marken a 2 Pfg., Postkarten ä 2 und (mit Antwort) ä 4 Pfg., in Abzug zu bringen; dieser ergibt eine Summe von 4,340 Millionen M . , so daß — ohne diesen Betrag — die Porto-Einnahmen sich auf 295 866 000 Mark gestellt hätten, oder ein Inkrement gegen das Vorjahr von 10,387 Millionen = 3,6% herausspringen würde, das aber eher zu hoch als zu niedrig erscheint, wenn die erwähnten Veränderungen in die Rechnung eingesetzt werden. — Uebrigens ist noch zu bemerken, daß von 1896 ab die Zahlen sich nicht auf

462

Schriften

das Kalender- sondern auf das Rechnungsjahr beziehen. Eine Umrechnung mit Rücksicht darauf würde, wenn sie tunlich wäre, nur geringe Modifikationen der Inkremente ergeben. — Die Summen der Inkremente in den Quadriennien und deren Durchschnitte, nebst den Differenzen dieser Durchschnitte, sind folgende:

Summen + 13 9 + 17 5 + 19 3 + I87 + 17 4

H

N Durchschnitte + + + +

28 4„ 48 47

Durchschnitte auf d. N-Seite mehr ( + ) oder weniger ( —)

Durchschnitte a. d. H-Seite mehr ( + ) oder weniger (—)

Summen

Durchschnitte

+ 21 0 + 19 4 + 21 9

+ 52

?

+ 48 + 55

+ 2o

-2

4

+ 69

+ Ii + 2i

-0

4

+ 48

+ 0!

-2

2

-0

5

+ 27 8 + 19 0

-O7

+ 43

Endlich stellen wir noch als charakteristisches Merkmal für den Verlauf des ganzen Geschäftslebens (F) die Beträge der in Umlauf gelangten Wechsel, wie sie nach den Ergebnissen der Wechselstempelsteuer berechnet und auf den K. d. B. bezogen worden sind. Es sind die Wechsel gemeint, die im Deutschen Reiche ausgestellt, und die im Auslande ausgestellt wurden, aber im Deutschen Reiche in Umlauf gelangten. „Die Reichsbank hat auf Grund vorgenommener Erhebungen festgestellt, daß man der Wahrheit nahe kommt, wenn man von dem mit '/V/oo kapitalisierten Stempelbetrag einen Abzug von 10% macht". Diese Angabe, und die Tabelle selber für 1872 bis 1909, sind der Abhandlung „Wechsel" von G. Schanz im WB. der Volkswirtschaft II S. 1310 entnommen. Tabelle 8. Wechsel in Umlauf gesetzt im Deutschen Reich 1872—1907. — Durchschnittsbetrag auf den K. d. B. in Mark. Nach Berechnung G. Schanz in WB. d. Volksw. I S. 1310. N Inkremente in %o

1876 1877 1878 1879

287 283 255 253

= = = =

- 18 = - 59 - 4 = - 14 - 28 = - 99 - 2 = - 08

H Inkremente in %o 1872 1873 1874 1875

312 340 302 305

= = = =

+ ? = + ca. 100 + 28 = + 90 112 - 38 = + 3 = + 10

1880 1881 1882 1883

256 263 262 267

= = = =

+ + +

3 7 1 5

= = = =

+ + +

11 27 03 19

463

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung N Inkremente in %o

H Inkremente in %o

1884

263

=

-

4

=

-

15

1888

253

=

+

0

=

1885

258

=

-

5

=

-

18

1889

271

=

+ 18

=

1886

251

=

-

7

=

-

27

1890

285

=

+ 14

=

1887

253

=

+

2

=

+

8

1891

294

=

+

9

=

1892

284

=

-

10

=

-

34

1896

311

=

+ 18

=

1893

287

=

+

3

=

+ 10

1897

327

=

+ 16

=

1894

287

=

±

0

=

±

0

1898

356

=

+ 29

=

1895

293

=

+

6

=

+ 21

1899

379

=

+ 23

=

1900

416

=

+ 37

=

+ 97

1904

391

=

+ 11

=

1901

399

=

-

17

=

-

41

1905

422

=

+ 31

=

1902

372

=

-

27

=

-

67

1906

459

=

+ 37

=

1903

380

=

+

8

=

+ 21

1907

496

=

+ 37

=

1908

478

=

-

18

=

-

36

1909

469

=

-

9

=

-

21

1910

474

=

+

5

=

+ 10

1911

495

=

+ 21

=

+ 44

0

+ + + + + + + + + + +

71 51 31 61 51 88 64 29 79 87 80

Auch hier ist die Ziffer für 1871 unbekannt, also das Inkrement des folgenden Jahres konjektural. Aber gerade in diesem Falle ist eine sehr bedeutende Steigerung als Ausdruck des kommerziellen und industriellen Aufschwunges über allem Zweifel. Sie ist mit 1 0 % wahrscheinlich viel zu gering geschätzt, da wenigstens die erste Hälfte von 1871 noch stark unter den Wirkungen des Krieges gestanden hat. — Die beiden letzten Jahre sind in der Schanzschen Aufzeichnung noch nicht enthalten. Ich habe sie ergänzt nach Stat. Jahrb. für d. D. R . 35. Jahrg., S. 368. Indessen ist durch das Gesetz v. 15. VII. 1909 die Steuer für Wechsel von längerer Laufzeit als 3Ve Monat erhöht, und dadurch „eine weitere Unsicherheit in die Berechnung der Gesamtsumme hineingebracht worden" (.Lexis, H W B . Staatsw. 3 VIII, S. 668). Uebrigens ist diese Tabelle schon durch die Vorzeichen sehr ausgesprochen. Während in den 20 Jahren 1876/79, 1884/87, 1892/95, 1900/03, 1908/11 nur 7 + gegen 12 — und 1 0 vorkamen, so hingegen 17 + gegen 2 — und 1 0 in den 20 H-Jahren 1872/75, 1880/83, 1888/91, 1896/99, 1904/07. Noch stärker tritt der Unterschied zutage, wenn sämtliche Stellen auf den Gesamtdurchschnitt, als welcher sich + 1 5 ergibt, bezogen werden. Es stehen dann nämlich über diesem Durchschnitt auf der N-Seite 4 gegen 16 oder 20 gegen 8 0 % auf der N-Seite 15 gegen 25 oder 75 gegen 2 5 % .

464

Schriften

Die Summen der Inkremente und deren Durchschnitte, sowie die Differenzen dieser Durchschnitte sind: Differenzen der Durchschnitte

- 180 - 52

"45 - 13

+ lo

+ 02 - 0,

- o3 - o3

+ + + + +

8« 54 153 264 275

+ + + + +

22 la 38 66 69

+ + + +

? 5S 5, 67 67

Auf der N-Seite mehr

( + ) oder

weniger ( —)

-67 -26 -3, -64 -70

VII. Diese 6 verschiedenen Merkmale der ökonomischen Prosperität stimmen also sämtlich miteinander darin überein, daß sie seit 1872 — zum Teil aber sogar seit 1860 — bis 1911 einen regelmäßigen Turnus von 4 durchschnittlich „guten" und 4 durchschnittlich „schlechten" Jahren erkennen lassen, wenn ein durchschnittlich stärkeres und ein durchschnittlich schwächeres (resp. negatives) lnkrement als charakteristisch dafür gelten dürfen. Sie stimmen folglich in dieser Beziehung auch insgesamt mit der Bewegung der Eheschließungen im Deutschen Reiche und ebenso mit dieser Bewegung in den Nachbarländern Frankreich und England überein. Die ökonomischen Merkmale ließen sich noch vermehren, inländische und ausländische; es möge genügen, am Schlüsse noch 2 bedeutsame Parallelen für Großbritannien und Irland heranzuziehen. Hingegen für das Deutsche Reich soll noch auf eine andere überraschende Erscheinung hingewiesen werden, die gleich den Eheschließungen selber der Bevölkerungsstatistik angehört, und einen schon oft, wenn auch bisher mit geringen Ergebnissen, behandelten Gegenstand darstellt: nämlich auf die Sexualproportion der Geborenen im Deutschen Reiche, während der 4 0 Jahre 1872—1911, indem auch in dieser die Veränderungen von Jahr zu Jahr, also die — positiven oder negativen — Inkremente beobachtet werden. Ich habe die Proportion nicht wie es üblich ist, auf 100 weibliche Kinder mit einer Dezimalstelle, sondern auf 100 0 0 0 weibliche Kinder ( = auf 100 mit 3 Dezimalstellen) berechnet, und gebe zunächst die vollständige Reihe der Ergebnisse nebst den Urzahlen, so daß auch hier ein Nachrechnen mit geringer Mühe geschehen kann. 36 mit geringer

Mühe:

Im Original ist die folgende Tabelle aus Darstellungsgründen nicht,

wie hier, unmittelbar anschließend gedruckt worden, sondern, mit entsprechendem Hinweis, eine Seite weiter.

465

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung Tabelle 9. Geborene im Deutschen Reiche, deren Sexualproportion und die Inkremente der Sexualproportionen Jahr

Männliche Geborene

Weibliche Geborene

Verhältnis (auf 100 000 weibliche die männlichen)

1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911

871438 883 017 903 148 928 397 943433 935 885 918301 930194 908 579 898 996 911372 900673 924120 925 885 933 812 938 441 940917 945269 937448 980316 956743 992466 979076 998 926 1 0 1 8 075 1024510 1 0 4 3 752 1052278 1061052 1080180 1074310 1051877 1 0 7 5 457 1 0 5 5 396 1 0 7 2 870 1061978 1068 854 1048 356 1 0 1 9 644 992062

820786 832265 849 821 870194 887781 882661 866775 876546 855511 849690 858128 849200 869821 872747 880 686 887117 887461 893 168 882 813 922 843 900253 935798 925 220 942714 961670 966615 986139 993 006 999 602 1017656 1015103 994326 1 0 1 3 888 993 053 1011868 998 994 1 0 0 7 804 990001 963191 934970

106 170 106 098 106 274 106 688 106268 106029 105 944 106 120 106203 105 802 106204 106061 106242 106088 106032 105 785 106 023 105 833 106189 106227 106 274 106055 105 831 105 963 105 865 105 989 105 842 105 958 106146 106143 105 832 105 788 106072 106267 106028 106 304 106 057 105 894 105 861 106 105

5

10

15

20

25

30

35

40

45

Inkremen absolut *+ + + + + + + + + + + + + + + + + + +

250 72 176 414 420 239 85 176 83 401 399 143 181 154 56 247 238 187 362 38 47 219 224 132 98 124 147 116 188 3 311 44 284 195 239 276 247 163 33 244

466

Schriften

Von Relativierung der Inkremente ist hier abgesehen worden, weil die Zahlen, worauf sie zu beziehen wären, sehr wenig voneinander verschieden sind. Wenn die Inkremente wiederum, gleich allen bisherigen, in Gruppen zu 4 und 4 Jahren zusammengestellt werden, so ergibt sich N

H

N

H

1872'" + 2 5 0

1892

+

47

1896

-

1873

-

72

1893

- 219

1897

+ 124

98

1874

+ 176

1894

- 224

1898

-

1875

+ 414

1895

+ 132

1899

+ 116

147

1876

- 420

1880

+

83

1900

+ 188

1904

+ 284

1877

- 239

1881

- 401

1901

-

1905

+ 195

1878

-

85

1882

+ 399

1902

- 311

1906

- 239

1879

+ 176

1883

- 143

1903

-

44

1907

+ 276

1884

+ 181

1888

+ 238

1908

-

247

1885

- 154

1889

- 187

1909

-

163

1886

-

56

1890

+ 362

1910

-

33

1887

- 247

1891

+

1911

+ 244

38

3

Wiederum tritt der Gegensatz schon in den Vorzeichen deutlich hervor. Im ganzen stehen 21 — 19 + gegenüber, die Tendenz zur Ausgleichung ist also unverkennbar, ein positives und ein negatives Inkrement sind empirisch nahezu gleich wahrscheinlich. Auch wenn je 8 und 8 Jahre zusammengenommen werden, so tritt jene Tendenz zutage: in den ersten

8 Jahren sind 4 + gegen 4 —





zweiten „





3 +







dritten







5 +



5— 3—





vierten







3 +



5—





fünften „





4 +



4 -

In der H-Reihe aber stehen 13 + gegen 7 —, dagegen in der N-Reihe 6 + gegen 14 — und in jeder einzelnen der 5 Gruppen wiederholt sich dieser merkwürdige Unterschied. Es sind nämlich: + 1872/75 1880/83 1888/91 1896/99 1904/07 Summe

+

-

3 2

1 2

1876/79 1884/87

3 2

1 2

3

1

13

7 = 20

-

1

3

1892/95

1 2

3 2

1900/03 1908/11

1 1

3 3

6 + 14

467

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

Die Summen der Quadriennien und ihre Durchschnitte sowie die Differenzen dieser Durchschnitte sind: 1872/75 1876/79

-

568

1884/87

-

276

1880/83 1888/91 1892/95

-

264

1900/03

-

170

1908/11

-

199

1896/99 1904/07

+ 618 -

142

-

69

62

296

+ 127

-

54

+ 179

-

176

+

65

+ 110

-

41

+

87

-

-

179

-

+ 441 -

>

+ 154 -

-

66

-

42

-

50

5

+ 516

15

1

5

+ 129

VIR. Wenn also in Bezug auf die Regelmäßigkeit dieser Schwankungen eine so vollkommene Uebereinstimmung vieler, und zwar zum Teil nicht unmittelbar zusammenhängender Merkmale wechselnder Perioden von je 4 Jahren sich ergibt, so verlohnt es sich, zu untersuchen, ob diese Uebereinstimmung auch sich herausstelle, wenn sie auf andere Art miteinander verglichen werden, nämlich abgelöst von jenem Rhythmus, indem die Jahre einfach nach dem Grade, den das einzelne Merkmal darin aufweist, eingeteilt werden. Zu diesem Behuf wende ich das früher von mir (in dieser Zeitschrift Bd. X X X H. 2 und ausführlicher in Schmollers Jahrbuch X X X , 2, S. 271 — 292) beschriebene Verfahren an, wodurch das Verhältnis zwischen je 2 Reihen auf einen numerischen Ausdruck gebracht wird. Um es zu resümieren, so beruht dies Verfahren darauf, daß 1. jede Reihe in Gruppen mit je gleicher Zahl von Gliedern eingeteilt wird (z. B. 20 Glieder in 5 Gruppen a 4), 2. die Fälle des Zusammentreffens von Gliedern der einen Reihe mit den korrespondierenden der andern Reihe, 3. ebenso die Fälle des Zusammentreffens von Gliedern der einen Reihe mit den der korrespondierenden benachbarten der anderen Reihe notiert werden, 4. daß diese Fälle addiert werden, aber so daß diejenigen zu 2 einen höheren Wert erhalten, 5. und 6., daß ebenso die Fälle des Zusammentreffens von Gliedern der einen Reihe mit denen der entgegengesetzten Gruppen und der diesen benachbarten Gruppen, ebenso bewertet, aufgereiht werden, 7. daß die Summe der Fälle zu 5, und 6, von der Summe der Fälle zu 3 und 4 subtrahiert werden. Bei 17 das früher

von mir: Vgl. SHAgr. 1 9 1 0 c (vgl. T G 8).

18 Schmollers

Jahrbuch:

Vgl. Tönnies, 1909: 6 9 9 - 7 2 0 (TG 8).

468

Schriften

Einteilung von Reihen zu 20 Gliedern in 5 Gruppen und Bewertung der Fälle mit resp. 2 und 1 müssen alle Ergebnisse zwischen + 32 und — 32 sich bewegen. D a es nun hier jedesmal um 40 Jahre sich handelt, so sind wir in der Lage, je 2 Reihen zu bilden, von denen jede 20 Jahre, die erste also 1872/ 91, die zweite 1892/1911 umfaßt. Es bedeuten aber in der Tabelle 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Werte sämtlicher Bergwerks-Erzeugnisse im D. R. 1872/91 „ „ „ Hüttenerzeugnisse im D. R. „ „ „ des Spezialhandels im D. R. „ die Betriebseinnahmen der vollspurigen Eisenbahnen im D. R. „ die Portoeinnahmen der deutschen Reichspost im D. R. „ die Durchschnittsbeträge der in Umlauf gesetzten Wechsel im D. R. 7. die Höhe der Sexualproportion der Geborenen im D. R. „ 8. die Eheschließungen im D. R. „ Sodann I bis VIII jedesmal die gleichen Phänomene für die Jahre 1892/ 1911. Die einzelnen Ziffern aber bedeuten die relativierten Inkremente des gegebenen Jahres gegen das Vorjahr, in Promille (außer zu 7 und VII, wo die Inkremente nicht relativiert wurden s. oben.) Tabelle 10 a. 1 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891

A + A + E E E E D D A + C+ B+ C+ C + D + D C + B + B + A + B+

2 320 288 37 175 86 124 27 19 180 36 60 57 4 3 21 42 102 122 307 69

A + A + E B + C D E E A + EB + D D C + D B+ A + C+ B + C -

3 169 219 34 57 3 4 43 35 161 17 101 9 8 47 10 79 188 23 134 1

A A E D B C E D D C B

C

E E C A B A B D

+ 100 + 130 - 88 0 + 62 + 28 - 10 + 11 0 + 45 + 54 + 25 8 - 96 + 16 + 66 + 64 + 82 + 46 + 8

A A B B D E E D D C B

C

E E D B A A

C c

4 + 112 + 112 + 62 + 65 + 16 6 - 3 + 20 + 23 + 40 + 51 + 37 + 10 - 17 + 27 + 66 + 70 + 83 + 28 + 31

A B D A E C E E B B D

C

B D E D A A

C C

5 + 100 + 51 + 40 + 69 + 24 + 48 + 39 + 28 + 54 + 49 + 43 + 48 + 53 + 43 + 39 + 40 + 56 + 68 + 47 + 48

A A E C E D E D B B

c

B D D E C C A A B

6 + 100 + 90 - 112 + 10 - 59 - 14 - 99 8 + 11 + 27 3 + 19 - 15 - 18 - 27 + 8 0 + 71 + 51 + 31

7 A + C B + A + E E D B + C+ E A + D B + D C E B + D A + C+

250 72 176 414 420 239 85 176 83 401 399 143 181 154 56 247 238 187 362 38

A D E E E E D D C C A

C

A B C D B A B B

8 + 258 - 18 - 38 - 34 - 51 - 52 - 22 - 14 7 + + 5 + 34 + 7 + 21 + 17 + 10 - 4 + 16 + 33 + 15 + 10

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

5

10

1J

20

1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911

I E - 82 E - 58 D+ 7 C + 46 B + 113 B + 92 B + 92 A + 120 A + 201 C + 40 E - 59 C + 61 D + 39 C + 40 A + 154 A + 126 B + 68 E+ 4 D + 14 D + 37

II D - 73 E - 117 E - 99 C+ 10 A + 124 C + 48 B + 111 A + 194 D - 27 E - 109 D - 12 B + 92 B+ 73 A + 184 A + 172 D - 16 E - 157 C + 58 C+ 68 B + 119

Tabelle 10 b. IV V E - 47 E - 2 c + 52 D 0 D + 44 E + 34 E5 E - 2 C + 52 D + 45 B + 62 B + 55 A + 84 B + 60 A + 63 D + 41 C + 56 A + 83 A + 92 A + 97 A + 70 C + 74 C + 57 B + 62 C + 63 D + 38 E + 3 E 53 E - 28 D + 41 D + 39 D + 26 D + 49 B + 78 B + 67 B + 61 C + 63 C + 48 E + 23 A + 91 A + 74 A + 67 A + 123 A + 78 B + 57 B + 79 D + 44 D + 43 E 95 E - 17 E + 35 B + 80 C + 53 C + 51 B + 78 B + 68 D + 36 C + 75 A + 77 C + 52 -

-

Die Ergebnisse sind 1 2 = + 16 2: 1 1 3 = + 13 2: 3 1 4 = + 14 2: 4 1 5 = + 10 2: 5 1 6 = +21 2: 6 17 = + 8 2: 7 1 8 = + 19 2: 8

25

30

35

II III IV V VI VII Vili

5 5 5 5 5 5 5

1 2 3 4

= = = = 6 = 7 = 8=

= = = = = = =

+ + + + + + +

+ + + + + + +

7 4 4 5 19 2 10

10 7 3 5 17 7 6

VI E - 34 D + 10 D 0 D + 20 B + 61 B + 51 A + 88 B + 64 A + 97 E - 41 E - 67 C + 21 C + 29 B + 79 A + 87 A + 80 E - 36 D - 21 C + 23 c + 44

III

6: 1 6: 2 6: 3 6: 4 6: 5 6: 7 6: 8

= = = = = = =

= = = = = = =

II I = II III = II IV = II V = II VI = II VII = II Vili =

469

VII VIII C+ 47 D - 1 D - 219 D + 6 E - 224 B + 17 B + 132 C + 15 D - 98 A + 43 B + 124 A + 37 D - 147 B + 25 B + 116 B + 27 B + 188 C + 11 C - 3 E - 17 E - 311 E - 24 C - 44 C + 13 A + 284 A + 32 A + 195 C + 16 E - 239 B + 27 A + 276 D + 10 E - 247 E - 6 D - 163 E - 13 C - 33 D + 5 A + 244 A + 33

+ 16 + 13 + 17 + 7 + 13 + 1 + 6

3: 1 3: 2 3: 4 3: 5 3: 6 3: 7 3: 8

= = = = = = =

+ 13 + 13 + 15 + 3 + 10 1 + 7

4 4 4 4 4 4 4

1 2 3 5 6 7 8

= = = = = = =

+ 14 + 17 + 15 + 5 + 12 + 7 + 4

+ 21 + 13 + 10 + 12 + 17 + 1 + 12

7: 1 7: 2 7: 3 7: 4 7: 5 7: 6 7: 8

= = = = = = =

+ 8 + 7

8 8 8 8 8 8 8

1 2 3 4 5 6 7

= = = = = = =

+ 19 + 6 + 7 + 4 + 6 + 12 + 7

+ 7 +21 + 23 + 18 + 12 + 3 + 17

-

-

+ + + +

III I = III II = III IV = III V = III VI = III VII III VIII =

1 7 7 1 7

+ 4 +21 + 19 + 8 + 15 0 + 5

IV I = IV II = IV III = IV V = IV VI = IV VII = IV VIII =

+ 4 + 23 + 19 + 17 + 13 + 5 + 12

470

Schriften

V

I

=

+

5

VI:

I = + 19

VII

I = +

2

Vili:

I = + 10

V

II

=

+ 18

VI:

II = + 12

VII

II = +

3

Vili:

II = + 17

V

III

=

+

VI:

III = + 15

VII

III =

0

Vili:

III = +

V

IV

=

+ 17

VI

IV

= + 13

VII

IV

= +

5

Vili:

IV

= +

= +

4

Vili:

V

= + 16

= + 10

Vili:

VI

= + 13

8

V

VI

=

+

8

VI:

V

8

VII

V

V

VII

=

+

4

VI:

VII

= + 10

VII

VI

V

VIII

=

+ 16

VI: VIII

= + 13

VII

VIII = +

8

V i l i : VII

5

= + 12

= +

8

Es liegen je 2 8 Kombinationen (je 5 6 mit den Wiederholungen) vor, also insgesamt 5 6 , von denen je 7 und 7 zusammengehören, 8 X 14 mit den Wiederholungen. Neben den 5 6 verschiedenen Kombinationen oder Verhältnissen ist nur eine einzige Stelle negativ, und zwar so schwach wie möglich; eine andere weist 0 auf. Alle übrigen 5 4 Verhältnisse sind positiv,

der E r w a r t u n g gemäß.

In beiden Jahresgruppen sind die Verhältnisse des Kurven-Plus a m schwächsten, und unter ihnen ist sowohl die 0 als die — 1. In Wahrheit liegen diese Verhältnisse außerhalb der übrigen Beziehungen. Die Uebereinstimmung, so auffallend sie auch ist, w ä r e man a m ehesten geneigt, für zufällig zu halten. An der Spitze steht in der ersten Jahresgruppe die Summe der E r t r ä g e von Bergwerken im Deutschen Reich, die in der zweiten Jahresgruppe viel schwächere Verhältnisse aufweist und an die vorletzte Stelle rückt. Dagegen ist in dieser letzten Jahresgruppe die Summe der Werte sämtlicher Hüttenerzeugnisse von der dritten in die erste Stelle gerückt. Eine zulängliche Erklärung dafür vermag ich nicht zu geben 3 . Von dieser einen A u s n a h m e abgesehen, sind aber die beiden 3

Im Krisenjahre 1 9 0 1 ist die mittlere Belegschaft der Steinkohlenwerke noch von 4 1 3 , 7 auf 4 4 8 , 0 (in Tausenden) gestiegen, die Menge der Förderung hat nur von 1 0 9 , 3 auf 1 0 8 , 5 (in 1 0 0 0 Tonnen) a b g e n o m m e n , und der Wert pro T o n n e ist von 8 , 8 4 auf 9 , 3 5 M . erhöht worden. N o c h ausgesprochener tritt allgemeine Z u n a h m e bei den B r a u n k o h lenwerken zutage. Hingegen die Eisenerze zeigen schon 1901 eine bedeutende A b n a h m e sowohl der Z a h l der H a u p t - B e t r i e b e (von 7 1 2 auf 5 9 8 ) , als der mittleren Belegschaft (von 43 8 0 3 auf 4 0 8 0 2 Köpfe) als der M e n g e der Förderung (von 1 8 , 9 auf 1 6 , 6 Millionen Tonnen) und des Wertes dieser Förderung (von 7 7 , 6 auf 7 2 , 0 Millionen M . ) , wenngleich eine Steigerung des Wertes pro T o n n e (von 4 , 0 9 auf 4 , 3 5 M . ) . In dem ebenso starken Krisenjahre 1 9 0 8 dieselbe Erscheinung: die mittlere Belegschaft der Steinkohlenwerke steigt in 1 0 0 0 e n von 5 4 5 auf 5 9 1 , die Förderung von 1 4 3 , 2 auf 1 4 7 , 7 Millionen T o n n e n , der Wert von 1 3 9 4 auf 1 5 2 2 Millionen M . , also Wert pro T o n n e von 9 , 7 auf 10,3. In allen Stücken auch hier die Steigerung noch bedeutender bei B r a u n k o h l e n . Hingegen bei Eisenerzen sinkt die Z a h l der Betriebe von 6 3 0 auf 5 6 1 , die mittlere Belegschaft (in 1000en) von 5 0 , 0 auf 4 5 , 9 , die Förderung (in 1 0 0 0 T o n n e n ) von 2 7 , 7 auf 2 4 , 3 , der Wert von 1 1 9 , 2 auf 9 9 , 6 Millionen M . also der Wert pro T o n n e von 4 , 3 auf 4 , 1 M . Es ergibt sich aus diesen D a t e n , daß die a b n e h m e n d e Gestaltung in den

471

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

Jahresgruppen einander ähnlich genug. Von der Gesamtsumme aller Verhältnisse, die in der ersten Jahresgruppe =

+ 5 5 2 , in der anderen

=

+ 6 0 0 beträgt, machen annähernd in % die Summen zu 1: 18, „ I:

9,

zu 2: 14,

zu 3: 11,

zu 4: 13,

zu 5: 10,

zu. 6: 15,

„ II: 17

„ III: 12

„ IV: 15

„ V: 12,

„ VI: 15,

im Durch- 13 5

15 5

11 5

14 0

11 0

zu

7: 6,

zu

„ VII: 5,

15 5

8 : 11

„ VIII: 13

55

12 0

schnitt

Es sind mithin die Abweichungen vom Durchschnitt: in der ersten

+ 45

— ls

— 05

— 10

— 10

— 00

+ 05

— 10

- 4S

+ 15

+ 0S

+ 10

+ 10

+ 0o

- 05

+ 10

Reihe in der andern Reihe

Jede Abweichung ist im Verhältnis zu ihrem Durchschnitt in % 33

10

4

7

9

0

9

8

Mit der einzigen Ausnahme der ersten Stelle stehen also die Prozentsätze der Anteile an der Gesamtsumme in beiden Jahresgruppen einander recht nahe, was nur daraus gedeutet werden kann, daß die Verwandtschaft dieser Merkmale eine gewisse Stabilität besitzt, die sich im Wechsel der Jahre erhielt; es ist wohl darauf zu achten, daß die einzelnen Inkremente hier nur nach ihren Graden gruppiert worden sind und daß sie innerhalb der Jahresreihen völlig unabhängig voneinander sind. Die durchschnittlichen Verhältnisse sind a) in der ersten Jahresreihe 1. + 14,4: 2. + 11,3; 3. + 8,1: 4. + 10,6; 5. + 7,9; 6. + 12,3; 7. + 5,1; 8. + 8,7; b) in der andern Jahresreihe I. +

7,3; II. + 14,4; III. + 10,3; IV.

+ 13,3; V. + 10,9; VI. + 12,9; VII. + 4,6; VIII. + 11,6.

Werten der Summen aller Bergwerkserzeugnisse ihre Ursache darin hat, daß die Kohlenwerke der allgemeinen Regel in der Bewegung der Produktion nicht genau entsprechen. Man darf vermuten, daß in dem außerindustriellen Verbrauch der Stein- und Braunkohlen die Erklärung liegt. Die Ausfuhr

deutscher Steinkohlen blieb 1901 gegen 1900 na-

hezu konstant zu etwas verminderten Preisen: sie nahm zu nach dem Freihafen Hamburg, nach Belgien, Dänemark, Italien und besonders nach den Niederlanden. 1908 gegen 1907 nahm sie der Menge nach zu und blieb dem Werte nach ungefähr stabil, insbesondere nahm sie der Menge nach zu nach Belgien, Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und Oesterreich-Ungarn. Der Verbrauch der Kohlen zu außerindustriellen Zwecken ist offenbar in ziemlich hohem Grade von der Konjunktur unabhängig.

472

Schriften

M i t Ausnahme von 1 und 7 überall eine Erhöhung. Auch hier ist ersichtlich, daß, mit Ausnahme der ersten und etwa der zweiten Stelle, alle Verhältnisse eine gewisse Stabilität aufweisen, die am größten in denen von 6 und VI, d. i. denen des Wechselumlaufs ist. Die Stabilität zeigt sich hier auch in den meisten einzelnen Verhältnissen: 6:1 =

+ 21

6: 2 =

+ 13

VI: I =

+ 19

VI: II =

+ 12

4 =

+ 12

VI: IV =

6:

+ 13

8 =

+ 12

VI: VIII =

6:

+ 13

IX. Die Parallelen für Großbritannien und Irland sind in T a b . 11 und T a b . 12 enthalten. Sie beziehen sich erstens auf die Lohnstatistik 2. auf die Handelsstatistik des Vereinigten Königreichs. Die Tafel der Reallöhne ergibt unter N (links)

9 + 11 - ,

unter N (rechts) 16 +

3—10.

Die Summen der Inkremente, deren Durchschnitte und die Differenzen sind: N

H Durch-

Sum-

Durch-

men

schnitte

men

schnitte

1872/75 1876/79 1884/87

" 84 + 67

1892/95

+ 33

1900/93 1908/11

Die Differenzen der Durchschnitte

Sum-

-s7

sind: N

96

+ 24

-2i

1880/83

+ 11 8

+ 2,

1876/79

-4

+ ly + 08

1888/91

+ 109

+ 27

1884/87

"

1896/99

+

78

1892/95

-

- U -o,

1904/07

+

3,

+ 1» + o8

+

1900/03 1908/11

H 1872/75

?

S

1880/83

+ 5«

12

1888/91

+ 1(

h

~ h

1896/99

+ 1;

1904/07

+ 2;

In diesem Falle läßt sich auch die fehlende S u m m e des vorausgehenden Quadrenniums 1868/71 leicht ergänzen, da auch für diese J a h r e die IndexZiffern vorliegen: es sind 101, 107, 113, 120, oder die Inkremente ( 1 8 6 7 hat auch 101): 0, + 6 = + 5 , 9 , + 6 = + 5 , 6 , + 7 = + 6 , 1 ; die S u m m e ist + 19,6, der Durchschnitt = + 4 , 9 — so daß an den Stellen des Fragezeichens — 2 , 5 einzusetzen wäre, also ein abweichendes D a t u m , wie es (im 1. Artikel IV, S. 171) auch für die Eheschließungen festgestellt wurde. Im übrigen ist die Uebereinstimmung auch hier vollkommen. 31 (im 1. Artikel IV, S. 171): Hier auf S. 445.

473

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

Tabelle 11. Real-Löhne in Großbritannien und Irland 1 8 7 2 — 1 9 1 1 . Nach G. H. Wood Real rages and the Standard of comfort since 1 8 5 0 in Journal of the Royal Statistical Society. Jan. 1 9 1 3 App. III p. 220. 5 Die nach Geldlöhnen, Detailpreisen der Hauptlebensmittel Wohnungsmieten und Arbeitslosigkeit berechneten Reallöhne sind in IndexZiffern dargestellt, indem als Maßstab die des Jahres 1 8 5 0 = 1 0 0 gesetzt wurden; diejenige für 1 8 7 1 ist 120. Die Ziffern sind sogleich geordnet nach dem sonst bewährten Schema N

10

IndexZiffer

H

Inkrement relativiertes Inkrement

15

20

25

30

35

1876 1877 1878 1879

131 127 123 121

1884 1885 1886 1887

132 134 136 143

1892 1893 1894 1895

153 155 158 163

1900 1901 1902 1903

177 174 169 166

1908 1909 1910 1911

160 159 163 166

=

-

=

-

=

-

=

-

1 4 4 2

=

-

2

=

+ 2 + 2

=

+

=

= •

=

•=

+ +

=

7 6 2 3 5

=

+

1

=

-

=

-

=

-

3 5 3

= =

= =

=

- o

7

=

- 3

0

=

"



=

-

U

=

+

I5

=

+

I5

=

+ 5!

=

= =

+ h

=

+ 20 + 3,

=

=

+

o6

=

-

1/

=

- 2 ,

=

-

ly

-

=

-6

4

-

=

11 1 + 4 + 3

=

-0« + 25

=

+

lg

IndexZiffer

relativiertes Inkrement (in % )

Inkrement

1872 1873 1874 1875

121 127 131 132

= = = =

1 6 4 1

=

+o

= = =

+50 +3, +07

1880 1881 1882 1883

127 131 132 136

= +6 = + 4 = + 1 = + 4

= =

+50 +3,

1888 1889 1890 1891

149 155 162 159

1896 1897 1898 1899 1904 1905 1906 1907

+ + + +

8

=

+0

=

+30

= + 6 = + 6 = + 7 = - 3

=

+42

= =

+40 +45

=

-

170 169 169 176

=

+7

=

+43

1

=

- o «

= 0 = + 7

= ±0 = +4,

161 166 170 171

= - 5 = + 5 = + 4 = + 1

= = =

-30 +3, +24

=

+o

=

-

7

lg

6

474

Schriften

Tabelle 12. Summen der Ein- und Ausfuhr-Werte im Vereinigten Königreich, auf den Kopf der Bevölkerung bezogen: in d. (pence); deren Inkremente absolut und relativiert in %o der Summe des Vorjahres 1 8 7 2 — 1 9 1 1 . Nach Annual Reports of the Registrar General . . in England und Wales, z. B. 68 th 5 p. LV und Statistical Abstracts for the United Kingdom. Die Summe für 1 8 7 1 ist 4674. N

Jahr

Summen

Inkremente

1876 1877 1878 1879

4570 4625 4345 4282

= = = =

- 222 + 55 - 280 - 63

1884 1885 1886 1887

4609 4281 4090 4220

= = = =

+

1892 1893 1894 1895

4503 4251 4213 4299

= = = =

- 224 - 252 - 38 + 86

1900 1901 1902 1903

5117 5024 5020 5115

= = = =

+ 322 - 93 4 + 95

1908 1909 1910 1911

5655 5913 6497 6526

= - 679 = +258 = + 584 = + 129

349 328 191 130

Jahr

Summen

1872 1873 1874 1875

5040 5090 5028 4792

H Inkremente =

= = =

+ 366 + 50 62 - 236

in 0//oo des Vorjahres =

+ 78 + 90

=

-

=

-

=

12 47

in 0//oo des Vorjahres =

-

=

+ 12

46

15

=

-

60 14

1880 1881 1882 1883

=

-

70 71 44 31

1888 1889 1890 1891

4466 4798 4795 4727

47 56 9 20

1896 1897 1898 1899

4474 4473 4544 4795

1904 1905 1906 1907

5171 5401 5874 6334

=

=

-

=

+

=

=

-

=

-

=

+

=

+ 67

=

-

18

=

-

+

08 18

_

107

=

=

= =

= =

+ 45 + 98 + 19

10

4839 4593 4906 4958

= =

= =

= =

= =

=

= = =

= = =

=

+ 557 - 246 + 313 + 52 + 246 + 332 3 68 + 175 1 + 71 + 251 + 56 + 230 + 473 + 460

= = = =

= =

+ 130 - 50 + 68 + 10

+ 58 + 74

=

-

=

-

=

+ 40

=

-

= =

= = =

=

20

o6 14

+ +

02 16 55

+ + + +

11 44 87 78

25

30

35

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

475

Was die Tafel der Aus- und Einfuhrwerte für das Ver. Königreich betrifft, so finden wir zunächst an Vorzeichen auf der N-Seite (links) 8 + 12 auf der H-Seite (rechts) 13 + 7 — also den alten, immer wiederkehrenden Kontrast. Die Summen der Inkremente, deren Durchschnitte und die Differenzen der Durchschnitte: N

H

Die Differenzen der Durchschnitte

Sum-

Durch-

Sum-

Durch-

men

schnitte

men

schnitte

1872/75

+

28

+

sind: N

H

7

1872/75

? + 66

1876/79

-

108

- 27

1880/93

+ 158

+ 39

1876/79

-

34

1880/83

1884/87

-

154

- 38

1888/91

+ 117

+ 29

1884/87

-

77

1888/91

+ 67

1892/95

-

92

-

23

1896/99

+ 111

+ 28

1892/95

-

52

1896/99

+ 51

1900/03

+

66

+ 16

1904/07

+ 220

+ 55

1900/03

-

12

1904/07

+ 39

1908/11

+

62

+ 15

1908/11

- 40

Auch in diesem Falle läßt sich die Lücke ergänzen. Die Inkremente sind: + 1 3 2 = + 3 3 , + 3 9 = + 9 , + 7 8 = + 1 9 , + 4 7 1 = + 1 1 2 % o , in Summe + 1 7 3 oder im Durchschnitt + 4 3 , so daß für 1 8 7 2 / 75 — 36 sich ergäbe: wiederum eine starke Abweichung von der Regel, aber wiederum in Uebereinstimmung mit dem ebenso abweichenden Gange der Eheschließungen. Ich gebe auch hier noch eine Zusammenstellung der Reihen in 2 Jahresgruppen ä 20 Jahre, um die Verhältnisse der Reihen auf einen numerischen Ausdruck zu bringen. Hier bezeichnen 1868/71

1 und I, die Bewegung der Löhne 2 und II, die Bewegung des Handels 3 und III, die Bewegung der Eheschließungen Tabelle 13 b.

Tabelle 13 a. 2

1 1872

3

I

II

III

A

+

78

A + 442

1892

E - 37

E -

47

D +

C

+

9

B + 166

1893

B + 19

E -

56

E - 353

C

-

12

D -

202

1894

B + 20

D -

9

A + 301

1875

C + o8 A + 50 B + 3, D + o7

D

-

47

D -

65

1895

A + 3j

C +

20

C + 148

1876

D

D

-

46

C + 144

1896

A + 43

B +

40

A + 585

1877

E -3o

B +

12

E -

1897

D - 06

D -

1873 1874

_

07

390

02

49

B + 236

476

Schriften 1

1878

2

E -3i E -

u

I

3

E

-

60

C

-

E - 212

II 0

III

C +

16

B + 230

B +

55

B + 243

A +

67

E -

18

C +

C + 104 D -

5

D -

106 62

1898

C

E

-

14

E - 452

1899

A + 130

B + 348

1900

1881

A + So B + 3,

E

50

A + 349

1901

1882

D + 07

A +

A + 4x C + o6 D - ly

68

B + 322

1902

E -2,

D

1883

C + 30 D -

B +

10

C +

63

1903

C +

E

-

70

D -

64

1904

D - I7 E -30

08 18

D +

11

B +

44

D +

A +

87

A + 340

78

C + 198

1879 1880

1884 1885

U

-

E

-

71

E - 343

1905

D

-

44

D -

124

1906

1887

C + Ii C + A + 5,

B +

31

B + 213

1907

1888

B + 42

B +

58

C + 115

1908

1889

A +

74

A + 503

1909

1890

B + 40 A + 4S

C

-

A + 372

1891

E - 1«

D

-

06 14

C + 165

1886

A + 3i B + 24 C + o6 E -64

A +

1910

D -o« B + 25

1911

C + 1.

E

200 67

107

E -

398

B +

45

E -

187

A +

98

B + 237

C +

19

A + 295

-

Die Ergebnisse sind 4 :

4

1: 2 =

+ 11

I: II =

+

1: 3 =

+ 13

I: III =

+ 10

9

2: 3 =

+14

II: III =

+

5

Ich habe, um Raum zu sparen, der dadurch stark in Anspruch genommen würde, im allgemeinen darauf verzichtet, die einzelnen Aufmachungen, in denen die Reihen miteinander verglichen werden, im Drucke wiederzugeben. Es muß dafür auf die eingehende Darstellung in Schmollers Jahrbuch verwiesen werden, nach der jeder leicht selber die Vergleichungen anstellen oder nachprüfen kann. Indessen mögen hier, des Beispiels und der Veranschaulichung halber, die 2 X 3 Vergleichungen der auf S. 791 stehenden Reihen wiedergegeben werden.

A B C D E

A B C D E

A B C D E

1. A 1 1 1 1 3. A 1 2 1

5. A 2 1 1

B 1 1 1 1 B 3 1

B 2 1 1

1:2 C 2 1

D

E

1

1 2 1

1 1 1 1

1:3 C

D

E

1 1 2

1

1 1 1 1 2:3 C 2 2

D 1 2 1

3 E 1 1 2

A B C D E

A B C D E

A B C D E

2. A 2 2

4. A 1 2 1

6. A 1 1 1 1

B 3

1:11 C 1

1

2 1

B 1 1 1 1

B 1 1 1 1

D

E

1

1

1 2

1 2

I : III C 1

D 1

E

1 1 1

1 2

II:III c 1 1 1 1

D 1 1 1 1

1 1 1 1 E 1 1 2

477

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung

5

Auch hier sind also sämtliche Verhältnisse positiv, d. h. es überwiegt jedesmal, sowohl in der ersten wie in der zweiten Folge von 2 0 Jahren, die Zahl der Fälle, daß z. B. hohe Inkremente der Löhne und des Außenhandels unter sich und mit hohen Inkrementen der Eheschließungen, niedrige beiderseits mit niedrigen (oder negativen) zusammentreffen, über die Zahl der Fälle des entgegengesetzten Charakters.

Für Frankreich bin ich bisher nicht in der Lage gewesen, irgendwelche Daten zusammenzustellen, die zur Vergleichung mit den Linien der Inkremente der Eheschließungen geeignet wären. Ich lege daher am mei10 sten Gewicht auf die Erscheinungen, welche für das Deutsche Reich und für Großbritannien und Irland, und zwar insbesondere für die 4 0 Jahre 1 8 7 2 / 1 9 1 1 nachgewiesen worden sind. Denn in diesen 40 Jahren ist der Zusammenhang mit der industriellen Konjunktur für beide Länder klar gelegt und die regelmäßige Aufeinanderfolge von je 4 durchschnittlich Die Berechnungen sind wie folgt: in der Diagonale von rechts in 1, nach links liegen (d. h. es sind Fälle AA, BB, CC, DD, 5 = 10 EE) — diese Fälle werden ä 2 gerechnet (Hauptfälle) Neben der Diagonale von rechts nach links liegen {d. h. 7 es sind Fälle AB, BA, BC, CB, CD, DC, DE, ED) diese Fälle werden ä 1 gerechnet (Nebenfälle)

in 2,

in 3,

in 4,

in 5,

in 6,

5 = 10

7 = 14

5 = 10

7 = 14

6 = 12

9

8

8

9

6

19

22

Position Summen

17

In der Gegendiagonale von links nach rechts liegen (d. h. es sind Fälle AE, BD, CC, DB, EA) - auch diese Fälle werden ä 2 gerechnet (Hauptfälle) Neben der Gegendiagonale von links nach rechts liegen (d. h. es sind Fälle AD, BC, BE, CB, CD, DA, DC, EB) - diese Fälle werden wiederum ä 1 gerechnet (Nebenfälle)

0

6

2

3

4

7

5

Negative Summen

6

10

9

8

9

13

+ 11

+9

+13

+ 10

+14

+5

Die positiven Summen übertreffen die negativen Summen um

4 = 8

3 = 6

18 2 = 4

23 1=2

18 4 = 8

Beachtenswert ist, daß in diesen Beispielen jeder einzelne positive Hauptfall den entsprechenden negativen Hauptfall, jeder einzelne Nebenfall den entsprechenden negativen Nebenfall übertrifft, und zwar meistens erheblich übertrifft.

478

Schriften

besseren und je 4 durchschnittlich schlechteren Jahren während dieses Zeitraumes dürfte auf einleuchtende und nicht widerlegbare Weise dargetan sein. Gesetzmäßig mag dieser Gang sozialer Ereignisse in demjenigen Sinne genannt werden, wie überhaupt von Gesetzmäßigkeit irgendwelcher Ereignisse zu reden erlaubt ist: denn auch in Bezug auf Naturereignisse wissen wir von keinem Zwang, keiner absoluten Notwendigkeit,

sondern

nur von

der relativen

Notwendigkeit,

die aus

dem

regelmäßigen Hervortreten bestimmter Tendenzen folgt, die insoweit die Wiederholung gleicher Geschehnisse bedingen, als sie nicht in ihren Wirkungen durch andere Tendenzen modifiziert oder sogar aufgehoben werden. Ein wesentlicher Unterschied besteht in dieser Hinsicht zwischen Naturereignissen und Ereignissen des Kulturlebens nicht. Die einen wie die anderen denken wir als notwendig, weil und sofern als wir sie begreifen wollen. J e weiter die wissenschaftliche

Forschung ins Gebiet des Kul-

turlebens eindringt, umsomehr muß sie sich für diejenigen sozialen Ereignisse interessieren, die gleich Naturereignissen sich regelmäßig, wenn auch in mannigfachen Gestalten, wiederholen, weil sie auch die Grundlage bilden, auf der die Möglichkeit solcher Kulturerscheinungen ruht, die mehr durch das, was ihnen individuell eigentümlich ist, als durch das, was sie mit andern ähnlichen gemein haben, die Aufmerksamkeit der Erlebenden an sich ziehen; eine Aufmerksamkeit, die eben darum mehr einen ästhetischen und ethischen, als eigentlich wissenschaftlichen Charakter trägt, wodurch sie freilich an Wert und Würde nichts einbüßt, vielmehr in der Regel gewinnt. Wenn die Jahre 1912 und 1913 unseren Regeln gemäß, und zwar schweren Hemmungen zum Trotze, als Jahre des Aufstieges sich bewährten, so ist hingegen das J a h r 1914, nachdem 7 Monate verflossen waren, im höchsten Grade ein unregelmäßiges geworden. Höchst wahrscheinlich wird dadurch auch der Wechsel von Quadriennien, wie er hier aufgezeigt wurde, schlechthin unterbrochen werden, nachdem er auch sonst störenden Einflüssen durch Kriege immer ausgesetzt gewesen ist. Vielleicht ist aber die Vermutung nicht allzu gewagt, daß er sich später wiederherstellen, mit dem Frieden wieder aufleben werde.

Soziologie und Geschichte

i Soziologie und Geschichte: Zuerst in: Geisteswissenschaften. Wochenschrift (Buek, O. + Herre, P. [Hg.] 1913/14, 1. Jg., Heft 3 (15. Oktober, S. 5 7 - 6 2 ) . Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung. Jena (Fischer) 1926, S. 190—199; vgl. TG 17.

Eindrücke von Dänemark In Holstein und im südlichen Schleswig werden die Bahnhöfe von ehrwürdigen Bürgern, die eine weiße Binde am Arme und ein Gewehr meist neuester Konstruktion darum haben, bewacht. In Nordschleswig wird es anders. Die Wachen sind nicht nur der Zahl nach verstärkt, vier bis fünf anstatt zwei Mann, des öftern ein Offizier dabei, es sind auch richtige Soldaten, Landwehrleute, deren Typus unverkennbar ihre Heimat anzeigt .. wir nähern uns der Grenze. Wenn wir zu anderen Zeiten eine Landesgrenze überschreiten, so nimmt uns der Anblick, das Gehör und auch noch die allgemeine Empfindung des Neuen gefangen; in erster Linie ist uns das alles interessant, unterhaltend, anziehend. Heute überwiegt ein ganz anderes Gefühl. Wir verlassen den heimischen Boden, der eine neue Bedeutung während der letzten zwei Monate für uns gewonnen hat. Wir verlassen das Haus und den heimischen Herd, an dem uns so warm geworden ist. Wir waren mit allen einig in den gleichen Hoffnungen, Wünschen, Spannungen und Lösungen, in Leid und Freuden, ja in Ansichten und Meinungen, mit vereinzelten oder doch ganz geringen Unterschieden. Katholisch und protestantisch, Juden und Christen, Konservative und Demokraten, Kapitalisten und Sozialisten — keiner dachte und denkt nun mehr daran. Einmütigkeit, Brüderlichkeit, das Volk eine große Familie ... Und nun gehen wir ins neutrale Ausland. Es ist, als ob wir an einem kalten Herbsttage unser Haus verlassen, das noch die sommerliche Wärme in sich birgt, und von einem eisigen Nordwind ins Gesicht geschnitten werden ... Und doch ist auch hier alles erfüllt vom Kriege. Schon unterwegs ist es sichtbar und hörbar genug. Scharen von Soldaten fahren mit uns von Friedericia: über den kleinen Belt nach Fühnen, über den großen Belt nach Seeland. Es sind beurlaubte Reservisten verschiedener Truppengattungen: stattliche Leute mit frischen Bauerngesichtern, treuherzige Jüten, wohlgenährt und vergnügt; sie zerstreuen sich auf dem langen Fährschiff. Ich komme mit einer Gruppe ins Gespräch. Mein Däi Eindrücke von Dänemark: Zuerst in: Frankfurter Zeitung vom 24. 10. 1914, 2. Morgenblatt, Nr. 295, S. 1, Frankfurt am Main. Vgl. dazu eingehender den Editorischen Bericht, S. 6 9 4 - 7 0 4 .

Eindrücke von Dänemark

481

nisch im mündlichen Gebrauch ist schwach. Aber sie geben sich Mühe, mir verständlich zu werden und mich zu verstehen. Diese große Masse von Feinden können die Deutschen nicht „haln" meint einer, und die anderen stimmen ihm zu; ich höre deutlich heraus, daß ihnen das nicht unwillkommen ist. Ich sage ruhig, sie sollten nur warten, wir haben alle Ursache, zufrieden zu sein. Und als ich die Zahlen nenne der Russen, die im Kampfe gegen uns tot und verwundet wurden, dazu die der Gefangenen, machen sie erstaunte Gesichter, sie scheinen noch nichts davon gehört zu haben. Ich muß die Zahlen wiederholen. Dann aber kommen sie auf ihren Satz zurück. Und nun wagt sich einer hervor und spricht zu unserm Angriff auf Belgien. Ich sage: „Es war traurig, aber es war notwendig." „Es war nicht notwendig," schallt es mir entgegen. Und einer hebt wieder an, die Völker zu nennen, die wider uns verbündet seien. Er nennt auch die Japaner. Da reißt mir die Geduld ... Mit erhobener Stimme rufe ich aus: „ J a , ja, die Engländer meinen, uns mit wilden Horden zu erdrosseln, es wird aber nicht gelingen... Wir lassen uns nicht totschlagen! Und wenn man uns totschlagen will, so wehren wir uns mit allen Mitteln und fragen nicht nach Belgien. Und wenn es noch einmal so kommt, so machen wir es noch einmal so . . . " Natürlich antwortet mir ein Geräusch, das vielleicht mit einem schwachen Brüllen verglichen werden darf, mit Lauten, die mir unverständlich sind. Aus der Menge und aus einiger Entfernung tönt das Wort „tyske Rövn" (deutsche Räuber). Ohne darauf zu achten, habe ich mich inzwischen ein wenig zurückgezogen und spreche von etwas erhöhter Stelle noch einige allgemeine Worte, die beruhigend wirken: ich sei ein Freund von Dänemark, ich hoffe und glaube, daß Dänemark auf keine Weise in den Weltkrieg hineingezogen werde ... Dazu wird Bestätigung mit den Köpfen genickt. Nachher habe ich mich noch mit einzelnen der „tapperen Landsoldat e n " 1 , die mehr abseits stehen, unterhalten. Einer solchen kleinen Gruppe sage ich: ihr müßt nicht Deutschlands Verderben wünschen. Deutschlands Niederlage würde Dänemarks Verderben nach sich ziehen. Der eine versteht mein schlechtes Dänisch nicht; der andere „verdänt" es ihm. Wie ich das meine? Ich sage „in Handel und Verkehr, in ökono1

Das ist die volkstümliche Benennung der Mannschaften des dänischen Heeres. M a n findet an manchen Orten schöne plastische Bildwerke, die die „tapperen Landsoldaten" darstellen.

3 haln: Offensichtlich fehlerhafte phonetische Transkription von Tönnies, denn „haln" ist — auch nicht flektiert — kein dänisches Wort.

482

Schriften

mischer Hinsicht". Das leuchtet beiden jungen Burschen ein. Man hat immer den Eindruck von guter Schulbildung, die bekanntlich auf dem Lande in Volkshochschulen mit schönen Erfolgen fortgesetzt wird. Ein Dritter macht mir noch angenehmeren Eindruck, mit dem ich eine kleine Unterredung auf dem Bahnkorridor zwischen Korsör und Kopenhagen gepflogen habe; denn er sprach recht gut deutsch, es war ein Tischlergeselle aus Kolding, der ein J a h r lang in Hamburg gearbeitet hatte; er wolle auch wieder nach Hamburg zurück, wenn der Krieg vorüber sei. Ich besuche Dänemark nicht zum ersten Male. Im Herzogtum Schleswig aufgewachsen, habe ich überdies seit frühester Jugend vielfache Gelegenheit gehabt, mit dänischer Art und Sitte, mit dänischer Geschichte und Literatur einigermaßen vertraut zu werden. Heute bemerke ich, wie mir dies nützt, um zu einem richtigen Verständnis der Haltung zu gelangen, die Dänemark

im Kriege einnimmt. Die wenigen Tage, die ich jetzt

in Kopenhagen zubringe, konnten in dieser Hinsicht nur die Meinung bestätigen, die ich mir schon auf Grund meiner allgemeinen Kenntnis des Landes gebildet hatte. Die Dänen haben allen Grund, auf ihre nationale Kultur stolz zu sein. Die übliche Bezeichnung als „gammel D a n m a r k " (das alte D.) weist auf den 1000jährigen Bestand und das ebenso lange Ansehen des kleinen Inselreiches hin. Es hat frühzeitig der Reformation sich angeschlossen, hat an der Entwicklung des modernen Geistes in Wissenschaft und Technik lebhaften Anteil genommen, war Jahrhunderte lang als Seemacht bedeutend, ohne doch „durchkommerzialisiert" und wesentlich zum Industriestaat geworden zu sein; es befindet sich auch nicht auf dem Wege dazu, sondern hat vielmehr in der internationalen Arbeitsteilung als Produktionsstätte für edlere Agrikulturprodukte seine Spezialität gefunden, in der es eine vielbewunderte Höhe der Kultur erreicht hat. Es ist ein Hauptlieferant solcher Produkte für Großbritannien und auch für das Deutsche Reich geworden. 2 Die Art des Kapitalismus, die sich in dieser Produktion entfaltet, ist vom englischen Typus, der sich des Weltmarktes nicht mehr sicher fühlt, weit entfernt; er ist auf einen nahen, sicheren, ruhigen Absatz angewiesen. Er ist wesentlich auf dauernden Frieden gerichtet und eingerichtet. Es hängt offenbar damit zusammen, daß der

2

Die Ausfuhr nach G r o ß b r i t a n n i e n wird in der dänischen Handelsstatistik für 1 9 1 1 auf 3 5 3 , für 1 9 1 2 auf 3 7 3 Millionen Kronen bewertet, diejenige nach dem Deutschen Reich auf resp. 1 6 0 und fast 181 Millionen. J e n e ist also von 1 9 1 1 bis 1 9 1 2 nur um ca. 6 Prozent, diese um 13 Prozent angewachsen.

Eindrücke von Dänemark

483

Däne nicht mit überschwenglichen Hoffnungen und Ansprüchen in die Zukunft hineinschaut. Er ist mit einer gleichmäßigen, stetigen inneren Entwicklung zufrieden und wünscht nur, man möge ihn „zufrieden lassen". Er verweilt gern bei den Heldentaten seiner Vorfahren und legt auch großen Wert auf tüchtige körperliche Ausbildung, auf gründliche Erziehung zur Wehrhaftigkeit; aber er ist überzeugt, daß für ihn das Zeitalter der Kriege vorüber ist, und er hätte gerne gesehen, daß in der gesamten Kulturwelt eine solche Beruhigung eingetreten wäre. So findet er sich furchtbar aufgeschreckt durch die ungeheuren Ereignisse des Tages. Viel stärker als der Wunsch einer auch nur innerlichen Parteinahme ist in ihm das Verlangen nach Wiederherstellung des Friedens. Unter diesen Umständen war jeder Regierung ihre Politik vorgezeichnet. Wer da glaubt, daß die gegenwärtige Regierung durch irgendwelche Sympathie für eine der Großmächte sich bestimmen lasse, verkennt die Dänen ganz und gar. Das nationale Selbstgefühl und Selbstbewußtsein ist viel zu stark, um eine andere Politik aufkommen zu lassen als eine Politik der dänischen Lebensinteressen. Was dem Deutschen so oft mangelt, die Fähigkeit, seine Gefühle dem nüchternen Denken unterzuordnen, besitzt der Däne in nicht geringem Maße. Er hat Talent zum Politiker. Er ist daher auch entschlossen und konsequent in der einmal eingeschlagenen Richtung strengster Neutralität. Die dänische Presse steht wohl nur zu einem kleinen Teile auf der Höhe, die dem nationalen Geiste angemessen wäre. Die Minderwertigkeit mancher Zeitungen ist die Folge ihrer großen Menge, die doch zugleich von der Lebhaftigkeit des politischen Interesses zeugt. In Kopenhagen allein erscheinen 21 Tagesblätter, davon nicht wenige zweimal täglich! Die besseren darunter wünschen ihren Lesern zuverlässige Nachrichten über die laufenden Ereignisse zu bringen. Sie streben nach Objektivität. Wenn gleichwohl unsere Nachrichten von den feindlichen überwuchert werden, so hat das zunächst seinen einfachen Grund darin, daß drei Hauptstädte gegen eine stehen; denn Wien kommt für den Norden als direkte Nachrichtenquelle kaum in Betracht. Ein dänischer Rechtsanwalt, der offenbar keine ausgesprochenen deutschen Sympathien hegte — denen man hie und da doch begegnet — sagte mir, auf fünf Nachrichten der Tripel-Entente komme eine deutsche und österreichisch-ungari35 Tripel-Entente: Bündnisblock zwischen England, Frankreich und Russland, auf der Grundlage des frz.-russ. Zweibundes von 1894, der „Entente cordiale" von 1904 zwischen England und Frankreich sowie des Petersburger Vertrags von 1907 zwischen Russland und England in bezug auf Aufteilung der Interessensphären in Persien und Afghanistan.

484

Schriften

sehe. Von anderer Seite hörte ich indessen, es sei, dank der Arbeit der deutschen Gesandtschaft, schon erheblich besser geworden in dieser Beziehung. Man hat kein Gefallen an der Unwahrheit, selbst wenn ihr Inhalt gefallen sollte. So hat die Erfahrung schon mißtrauisch gemacht. Die Erkenntnis bricht sich sogar Bahn, daß die deutschen GeneralstabsBerichte die zuverlässigsten Berichte seien, die man haben könne. Harald Hö ff ding,

der gefeierte Philosoph, jetzt im 72. Lebensjahre

stehend, hielt am 2. Oktober die „Rustale". 3 Natürlich kam er auch auf den Weltkrieg zu sprechen. Er beklagte die Zerstörung des internationalen geistigen Zusammenwirkens. Eines Tages werde es, so trüb auch heute die Aussichten seien, wieder erwachen; nach dem schwersten Unwetter werde doch einmal der Himmel wieder blau. Und da könnte es wohl sein, daß die kleinen Länder, die treulich ihre Arbeit geleistet haben in der Zeit der Gefahren, ein Wort mitzusprechen haben werden, ein Wort der Wirkung. „Lasset, ihr jungen Studenten, diese Zeit der Unruhen und Gefahren euch die Weihe geben, damit ihr tüchtige Arbeiter werdet im Dienste eines Volkes. Denket nicht gering über euch selbst, nicht gering über euer Vaterland. So klein es auch ist, es bleibt, wie zuvor die Jahrhunderte hindurch, Platz, um zu wirken in geistigem und materiellem Streben. Gebt euer Scherflein dazu mit den besten Gedanken, die ihr fördern, den besten Arbeiten, die ihr einsetzen könnt. Damit hebet ihr eures Volkes Ehre und sein Recht auf Dasein." Das sind echt dänische Töne und Stimmungen unter der schweren Last dieser Tage. Sie haben sicherlich einen lebendigen Widerhall gefunden.

3

Im großen Studentenverein werden alljährlich zu Beginn des Wintersemesters die Ruserne — so heißen die neuen Studenten — feierlich begrüßt. Ein Professor hält dabei die Ansprache, das ist „Rustale". Das Wort Rus ist die Abkürzung eines lateinischen Particip. Futuri, z. B. Futurus.

Der Friede Mitten im ungeheuren Kriege wollen wir, müssen wir des Friedens gedenken. Nicht nur des vergangenen: es ist uns oft verkündet worden, wenn man den Frieden wolle, so müsse man zum Kriege rüsten; und im gleichen Sinne wurden oft die unermeßlichen und unaufhörlich steigenden Kosten des Heeres und der Flotte als eine Versicherungsprämie bezeichnet — freilich war die Versicherung etwas anders gedacht als sonst im bürgerlichen Leben, und Verhütungsprämie wäre wohl der richtigere Ausdruck: die Prämie sollte das Ereignis selber unwahrscheinlicher machen. Bewährt hat sich dieser Gedanke nicht. Wir haben die Rüstungen getragen, wir müssen auch den Krieg tragen, dem die Rüstungen vorbeugen sollten. Die siegenden Staaten können wenigstens mit dem Gedanken sich trösten, daß ihre gute, starke Rüstung ihnen den Sieg verschafft habe. Die Frage aber ist, ob es in einem solchen drei- oder vier- und fünffachen Kriege einen entschiedenen, dauernden Sieg geben könne. Natürlich wird davon das Wesen und die Dauerhaftigkeit des zukünftigen Friedens abhängen, und diese Frage ist die Daseinsfrage der europäischen Kultur. In dem Augenblick, wo dies geschrieben wird, blickt das deutsche Reich auf eine Reihe glänzender, ja blendender Erfolge seines Heeres zurück; und diese Erfolge eröffnen die Aussicht auf fernere Erfolge. Minder entschiedene, aber doch bedeutende Erfolge des österreichisch-ungarischen Heeres verstärken den Gesamteindruck, den der bisherige Veri Der Friede:

Zuerst in: Deutsche Arbeit. Zeitschrift für das geistige Leben der Deutschen

in Böhmen, 1914, 14. Jg., Heft 2 (November), S. 9 3 - 9 7 , Prag/Leipzig. Die Überschrift ist mit einer Anmerkung der Schriftleitung folgenden Inhalts versehen: „Wir geben die nachfolgenden Ausführungen des bedeutenden Soziologen, der nebenbei ein ausgezeichneter Kenner Englands ist, wieder als Ausdruck einer Meinung, die man jedenfalls, zumal bei dem Überwiegen anderer Anschauungen, auch gehört haben muß ehe man sich selbst eine Meinung bildet. Und wem derlei Erwägungen reichlich weit, über einen vorausgesetzten Sieg im Kampfe mit England hinaus, vorzugreifen scheinen, den machen wir auf die schönen Worte Friedrich Naumanns aufmerksam, die wir S. 111 anführen."

Vgl.

dazu:

Friedrich

Naumann

über

Deutschland

und

Frankreich,

ebd.,

S. 111 — 112. Diese Abhandlung erschien erneut in: Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für sozial-ethische Reformen, 1915, 23. Jg. (15. 12. 1915), S. 2 5 - 2 7 , Berlin (Bieber). Siehe auch den Editorischen Bericht, S. 702.

486

Schriften

lauf des Weltkrieges überall da hervorgerufen hat, wo die Tatsachen nicht verhüllt oder entstellt worden sind. Auch die Erfolge zur See sind bisher der deutschen Fahne günstig gewesen. Wenn gleich das Urteil voreilig ist, so begreift es sich doch leicht, daß die Stimmung des deutschen Volkes, getragen und ermutigt durch den sehr energischen Willen zum Siege, der im Heere und in der Flotte offenbar lebendig ist, den Sieg bereits für entschieden hält und sich des Triumphes freut. Die ungestüme Erregung der Gemüter, die sich vorzüglich und mit tiefer sittlicher Entrüstung wider England kehrt, wartet ungeduldig des Augenblicks, da sich, wie man meint, die gesamten Streitkräfte auf diesen am meisten verhaßten Gegner werfen und ihm, wie mit großer Zuversicht voraus verkündet wird, in kurzer Frist den Garaus machen werden. Auch ernsthafte Politiker glauben, daß ein Kampf auf Leben und Tod zwischen dem Deutschen Reiche und dem britischen Reiche bevorstehe; sie glauben, die historische Notwendigkeit eines solchen Kampfes zu erkennen; sie glauben, als Deutsche ihn gutheißen zu müssen, weil sie das Vertrauen hegen, daß der endliche Ausgang dem Deutschen Reiche das Übergewicht über das britische sichern werde. Sie verkündigen das letzte Stündlein der britischen Weltmacht. O b dies ein Glück für das Deutsche Reich sein würde, erörtern wir hier nicht. Auch nicht, wie ein solcher Siegespreis gedacht werden könne und wie man sich einbildet, daß die fernere Gestaltung der „Welt" aussehen werde, wenn also das Deutsche Reich mit seinen Anhängen nicht allein in Europa die führende Stelle einnähme, sondern auch die bisher von Großbritannien behauptete Vorherrschaft in den Meeren und über die andern Weltteile an sich gerissen hätte. Es genüge festzustellen, daß eine solche Wendung der Dinge im höchsten Grade unwahrscheinlich ist. Das Äußerste, was sich erwarten läßt, ist, daß die deutsche Seemacht, die auch ohne Experimente den Briten hinlänglich bekannt ist, als bedeutend und durch hervorragende Eigenschaften der Bemannung, des Geschützmaterials, besonders auch der Torpedos ausgezeichnet, auch in ernsten und erbitterten Kämpfen als ein schlimmer Gegner sich bewähren wird und daß der englischen Flotte die Genugtuung versagt bleibt, diesen Gegner völlig zu vernichten; so heiß ersehnt auch dieses Ziel dem ersten Lord der Admiralität und seinen Kollegen an der Themse erscheinen möge. Der eigentliche Zweck, um dessen Willen England seine Beteiligung an dem Weltkriege für notwendig gehalten hat, ist doch im Dogma vom europäischen Gleichgewicht gelegen, das von J o h n Bright

D e r Friede

487

einst das schäbige Idol der auswärtigen Politik Großbritanniens genannt wurde. In Wahrheit ist es nicht sowohl, wie unter unsern Politikern viele glauben, die Unzufriedenheit damit und der Neid, daß Deutschland zu groß geworden sei, sondern die Befürchtung, daß es zu groß werde, was auch einem liberalen und freihändlerischen Ministerium die Einmischung als durch die harte Staatsraison geboten erscheinen ließ. Und auch den verhaßten Staatsmännern wird man zugestehen müssen, daß sie das Verhältnis der Streitmacht eines mit Österreich-Ungarn verbündeten Deutschen Reiches zur Streitmacht von Frankreich und Rußland richtig eingeschätzt haben, soweit nach dem bisherigen Verlaufe des Krieges geurteilt werden darf; auch die Überlegenheit zur See stand von vornherein außer Zweifel, wenn England unbeteiligt blieb. Insofern bedeutet also die Haltung Englands den Ausdruck eines Respektes vor der bewaffneten Macht des Deutschen Reiches, der sich etwa dem Respekt vor Bonaparte (selbst nachdem dieser schon zur See geschlagen war) vergleichen läßt. Diesen Respekt könnte der deutsche Patriotismus füglich als eine Ehre, die seinem Reiche erwiesen wird, empfinden, wenn nicht die Erbitterung so stark überwöge. Freilich, zwischen rivalisierenden Mächten ist vom Respekt zur Feindschaft und dem ceterum censeo kein weiter Weg. Und doch hat man Grund zu bezweifeln, daß wirklich der auf Germaniam esse delendam gerichtete Wille, der sicherlich bei einigen Feldmarschällen und bei einer nicht geringen Zahl von Philistern vorhanden ist, sich lange genug und stark genug erhalten werde, um die Frage zwischen den beiden Reichen wirklich auf Sein oder Nichtsein zu stellen. Man darf erwarten, daß ein lebhaftes Bedürfnis des Friedens bald auf allen Seiten, und nicht am wenigsten im Vereinigten Königreich sich geltend machen wird. Möge man auch, in Ermangelung anderer Triumphe, einen Triumph in der zeitweiligen Vernichtung des deutschen Außenhandels, in der Besetzung verlassener Märkte erblicken: selbst wenn die Vernichtung der deutschen Flotte hinzukäme, so wäre noch sehr fraglich, angesichts der gegenwärtigen Verflechtungen der Weltwirtschaft, ob England auf die Dauer sich wirtschaftlich mehr genützt oder geschadet 1 auswärtigen

Politik

Großbritanniens:

D a z u der folgende H i n w e i s bei Trevelyan, 1913:

215: „If this p h r a s e of t h e ,balance of p o w e r s ' ... is t o b r o u g h t in o n every occasion t o stimulate this c o u n t r y t o w a r ... " (John Bright im H o u s e of C o m m o n s a m 31. M ä r z 1854 anläßlich des Krimkrieges, den er scharf verurteilt hatte). 22 Germania

esse delendam:

(lat.) [das] zu vernichtende D e u t s c h l a n d .

488

Schriften

haben würde. Es muß hier auf die Gedankengänge Norman Angells hingewiesen werden, der offenbar als „Die große Illusion" eben diesen Fall ins Auge gefaßt und studiert hat. Die Enttäuschung wird um so bitterer sein, je länger der Krieg dauert; und doch ist gerade eine lange Dauer das, was notwendig ist, um auch nur den täuschenden Schein hervorzurufen. Wenn Herr Asquith von möglichen zwanzig Jahren gesprochen hat, so erinnert dies an den Knaben, der in tiefer Finsternis lustig pfeift, um sich das Grauen zu vertreiben. Und der Triumph gleicht ein wenig dem des Einbrechers, der einen Weinkeller erbrochen hat und sich in der angenehmen Lage sieht, so viel Champagner zu trinken, als er mag. Er wird halbtot auf dem Boden des Kellers liegen bleiben. Mit dem Niedergang der deutschen Konkurrenz wird wie in einer kommunizierenden Röhre die Konkurrenz der Vereinigten Staaten und anderer Länder steigen. Wenn in Großbritannien das Volk und seine Meinung in Sachen der auswärtigen Politik unmittelbar wenig oder nichts vermag, so kann es doch mittelbar sich geltend machen durch die Wahlen zum Parlamente; und Neuwahlen schienen, ehe der Krieg ausbrach, infolge der irischen Krisis nahe bevorzustehen. Sollten sie wirklich im nächsten Jahre stattfinden, so wäre nicht unwahrscheinlich, daß das Programm „Friede" die Chancen für eine Tory-Regierung stark erhöhen würde. Die Partei wird vielleicht auf dieser Plattform die Arbeiterpartei und nicht wenige dissentierende Radikale in ihr Gefolge ziehen, und sie wird, um den Preis der Herrschaft, diesem Gefolge weite Einräumungen zu machen bereit sein. Es kann aber sogar ohne dies Programm die Opposition ans Ruder kommen; und die Verhandlung mit dem philosophisch gestimmten Mr. Balfour (der unserm Reichskanzler in dieser Beziehung ähnlich sieht) und mit dem glühenden Tarifreformer Bonar Law (der also das wirtschaftliche Heil vom britischen Zollverein mehr als vom Kriege erwartet) wird leichter und angenehmer sein, als sie mit den Herren Grey, Churchill und Asquith sein könnte, die ohnehin den größten Teil ihres Kredits Vgl. Angell, 1911: 78 ff.

i Norman

Angells:

6 Asquith:

Vgl. dessen sogenannte Guildhall-Rede (in London) vom 11. Sept. 1914. Vgl.

Der große Krieg 1914: 333. Hier heißt es: „England gab in jenen Tagen [die Julikrise 1914] eine edle Antwort auf diesen Appell [ein "Wort des jüngeren Pitt, wonach England durch seine Anstrengungen sich und Europa durch sein Beispiel gerettet habe während der napoleonischen Kriege] und steckte das Schwert nicht eher in die Scheide, als bis, nach einem Kampf von fast zwanzig Jahren, die Freiheit Europas gesichert war. Lasst uns hingehen und gleich ihnen handeln!"

Der Friede

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im Lande eingebüßt haben. Ob sie ihn durch den ferneren Verlauf des Krieges verbessern werden, steht freilich dahin. Natürlich wünschen sie den Krieg so lange hinzuziehen, bis es der Fall sein werde, aber ihr Wunsch wird schwerlich für die britische Nation Befehl sein. Das Friedenswerk wird allerdings unsäglich schwer sein. Vermutlich würde auch für das Deutsche Reich die Arbeit erleichtert, wenn zum Teil andere Personen, als diejenigen sind, denen bisher die diplomatischen Geschicke anvertraut waren, zur Führung der Angelegenheiten berufen würden. Denn ein hervorragender, scharfer politischer Verstand wird dafür erforderlich sein. Der Staatsmann, dessen Kunst die Kunst des Abwägens und Zumessens möglicher, wahrscheinlicher oder gewisser Vorteile und Nachteile, die Kunst der Vorsicht und der behutsamen Vergleichung von Machtverhältnissen, der Unterscheidung von Notwendigem und Nützlichem, Gefährlichem und Verderblichem ist, wird immer einen schweren Stand haben privaten und öffentlichen Meinungen gegenüber, und nicht den leichtesten gegen die Leidenschaften aufgeregter Patrioten. Er wird sich nicht fortreißen lassen durch die Agitationen derer, die das Evangelium des Hasses für die richtige Religion eines „Weltvolkes" zu halten scheinen. Die Politik verlangt einen nüchternen, klaren, überlegen urteilenden Kopf; ihre Aufgabe ist es nicht, Zorn und sittlichen Unwillen zu entladen, ist nicht, den Bösen oder für böse Gehaltenen zu züchtigen und zu strafen — ihre Aufgabe ist, das wahre Wohl des Volkes zu erkennen und dieser Erkenntnis gemäß zu wirken. Wie oft, wie eindringlich hat in diesem Sinne der gepriesene Heros deutscher Staatskunst sich ausgesprochen! Wie oft und wie vergeblich! Wenn er seine begeisterten Verehrer sich ansähe, so könnte er wohl mit Goethe sagen: „Die holden jungen Geister Sind alle von einem Schlag: Sie nennen mich ihren Meister Und gehen der Nase nach". Wir erblicken heute das europäische Staatensystem in unheilvoller, anscheinend unheilbarer Zerrüttung. Dem denkenden Beobachter kann es einige Beruhigung gewähren, wenn er diesen Zustand mit dem Zustande des deutschen Staatensystems, wie er vor fünfzig Jahren noch bestand, vergleicht. Heute kämpfen die ehemaligen Großmächte, Mittelstaaten und Kleinstaaten des Deutschen Bundes in Genossenschaft mit30 „... Und gehen der Nase nach": Vgl. „Zahme Xenien", in: Goethe, 1902—1912: IV, 64.

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Schriften

einander, wie es, solange als dieser Bund bestanden hat, niemals geschehen ist. Wohl aber haben sie, die doch äußerlich und innerlich einander sehr viel näher standen, als Deutschland und Großbritannien sich jemals stehen können, wider einander in blutigem Kriege gestritten; auch kann der Haß und die Wut und sittliche Entrüstung, die damals in Österreich, in Bayern, in Hannover und Schleswig-Holstein gegen Preußen und seinen alles zermalmenden Minister herrschten, von dem Haß, der Wut und sittlichen Entrüstung, die heute unter uns so ungestüm wider das „perfide Albion" laut werden, kaum übertroffen werden. Nach dieser Analogie ist also die Erwartung nicht bodenlos, daß vielleicht auf Grund eines vernünftigen Friedensschlusses in nicht ferner Zeit Deutschland und Großbritannien sich vertragen, ihre Machtsphären gegeneinander abgrenzen lernen, daß sie ihre Kulturaufgaben als im wesentlichen gleichartig und miteinander zusammenstimmend erkennen werden. Auch im politischen Leben hat der Satz Geltung, daß ein magerer Vergleich besser ist als ein fetter Prozeß; und im Geschäftswesen wiederholt sich der Vorgang oft genug, daß Konkurrenten, von denen der eine den andern vernichten zu müssen meinte, zuerst zu friedlichem Wettbewerb, dann sogar zu einem Kartell übergehen, um mit vereinten Kräften ihre gemeinsamen Werte geltend zu machen. Das deutsche Volk will einen ehrenvollen Frieden. Der deutsche Staatsmann kann keinen andern wollen. Aber er wird zugleich an möglichst sicheren und dauerhaften Frieden denken müssen. Die Frage ist, ob der Friede besser gesichert werde durch materielle oder durch moralische Mittel, ob durch Eroberungen oder durch Vertragsgesinnung. Bismarck hat 1866 das ausgezeichnete Beispiel gegeben gegen Österreich. Durch Verzicht auf Eroberung hat er den Bund eingeleitet, der sich bis heute bewährt hat. Niemals hat er weiser gehandelt als damals. Ehe der Staat seine heutige Ausbildung erhalten hatte, konnte man ungestraft erobern. Eroberungen bedeuteten nicht Vereinigung. Das Land, seine Verfassung, sein Recht, seine Verwaltung, alles blieb wie es war; das Land erhielt nur einen andern Oberherrn, nicht selten einen willkommeneren. Heute sind eroberte Länder schwerlastende Fremdkörper in einem Organismus. Sie nehmen überverhältnismäßige Kräfte in Anspruch und werden doch 26 gegen Österreich: Im Präliminarfrieden von Nikolsburg vom 26. Juli 1866, der den preußischen Sieg über Österreich beschloss, setzte Bismarck entgegen den Vorstellungen seines Königs eine maßvolle Behandlung des unterlegenen Gegners durch; so verzichtete er auf Annexionen österreichischen Gebietes.

Der Friede

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schwerlich assimiliert. Ungeheure Gefahren für den Frieden tragen sie immer in sich. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß der gegenwärtige Weltkrieg nicht nur — früher oder später — den heißen Wunsch und festen Willen zur Wiederherstellung des Friedens auslösen, sondern auch 5

die Idee des Weltfriedens und die Erkenntnis seiner wesentlichen Bedingungen neu beleben wird. Der humane Gedanke in der Welt wird sich zwar immer von neuem knebeln und ersticken lassen, aber er kann nicht vertilgt werden.

Eine Freidenker-Hochschule „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!" Wenn ein wackerer Zeitgenosse diese Worte von der Bühne vernimmt und an den Lippen des begeisterten Posa hängt, so fühlt er sich in finstere Zeiten zurückversetzt. Heute, meint er, braucht man Gedankenfreiheit nicht mehr zu verlangen. Sie ist durch die Staatsverfassung gesichert, ist geheiligt, ist unantastbar. Buchstäblich verstanden, ist die Freiheit zu denken es immer gewesen. „Gedanken sind zollfrei." Aber seine Gedanken auszusprechen, auszubreiten, für sie zu wirken, ihnen nachzuleben: die Neigung, das zu tun, Überzeugung und Pflichtgefühl, die dazu drängen, sind immer den stärksten Hemmungen begegnet, begegnen solchen Hemmungen auch heute. Die ungeheuren Konflikte und Kämpfe, die daraus entsprungen sind, stehen jedem vor Augen, der in den Büchern der Geschichte auch nur geblättert hat. Zwei Motive sind für die Verfolgung heterogener Meinungen über die „göttlichen Dinge" immer bestimmend gewesen: 1. daß solche Meinungen an und für sich verbrecherisch seien, weil sie eine Beleidigung der göttlichen Majestät enthalten; 2. daß aus ihnen eine staatsfeindliche oder wenigstens der bestehenden Staatsregierung abgeneigte, eine revolutionäre Gesinnung entspringe, daß „der Umsturz aller göttlichen und menschlichen Ordnung" aus den schändlichen Irrtümern folge. Im großen und ganzen gelten diese Ideen nicht mehr. Daß es sich beim Leugnen der Vorstellung, ein Jahwe oder ein Gottvater mit seinem Sohn und dem aus beiden hervorgegangenen Heiligen Geist throne im Himmel, vielleicht um einen traurigen Irrtum, aber nicht um einen strafwürdigen Frevel handele, darf ein rechtgläubiger Katholik zwar nicht zugeben, es ist aber doch die herrschende Anschauung geworden. Auch wird 1 Eine Freidenker-Hochschule:

Z u e r s t in: D a s Freie W o r t . F r a n k f u r t e r H a l b m o n a t s s c h r i f t

f ü r Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1914, 14. Jg., N r . 17/18 (1. u. 2. D e z e m b e r h e f t ) , S. 451—455, F r a n k f u r t a m M a i n (Neuer F r a n k f u r t e r Verlag). Die Überschrift w a r mit einer F u ß n o t e n a n m e r k u n g der R e d a k t i o n gekennzeichnet: „Vor A u s b r u c h des Krieges geschrieben!" 2 „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!":

Siehe Schillers „ D o n C a r l o s " , 3. A k t , 10. A u f t r i t t ,

32, S. 1 3 - 1 4 . 8 „Gedanken

sind zollfrei":

Vgl. Luther: „Von weltlicher Obrigkeit, wie m a n ihr G e h o r -

sam schuldig sei" [1523], in: Luther, 1898b: VII, 253.

Eine Freidenker-Hochschule

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die Revolution zwar häufig genug mit Irrlehren aller Art, auch mit religiösen, in Verbindung gebracht, aber verhältnismäßig selten in ursächlich enge Verbindung; man ist eher geneigt, das materielle Interesse der Agitatoren und Volksführer oder die Begehrlichkeit, Unersättlichkeit und Faulheit der großen Menge als Ursache der Umsturzbewegungen zu betrachten, wenn man die Ursachen der tatsächlichen Zustände und ihrer Übel nicht zugeben mag. Inzwischen ist, allen Widerständen und Anklagen zum Trotze, das wissenschaftliche Denken zu einer großen Macht geworden. Im Grunde huldigen ihm alle, die darauf Anspruch machen, an der Bildung des Zeitalters Anteil zu haben. Siegreich geworden ist es freilich nur auf dem Gebiete der Naturerkenntnis — die praktischen Anwendungen, der Nutzen springen hier in die Augen. In den Kulturangelegenheiten des Menschen hingegen genießt das wissenschaftliche Denken bisher geringes Vertrauen. Eben darum ist es noch verhältnismäßig schwach entwickelt. Raum, Luft, Licht fehlen ihm, die es zum Gedeihen dringend nötig hat. Unsere Universitäten haben Großes geleistet, auch im Gebiete der Geisteswissenschaften, der kritischen Geschichte, ja der Erkenntnis des sozialen und politischen Lebens. Sie waren einst Stätten, die den freien Gedanken bewußt hegten und pflegten, die jezuweilen auch den Kirchen und Staatsregierungen trotzten, die den Glauben an die Heilsamkeit der Aufklärung wachsen ließen und ausbreiteten. So wirken sie heute nicht mehr. Sie haben mehr und mehr den Charakter staatlicher Anstalten angenommen. Sie befleißigen sich einer korrekten Haltung, auch den Kirchen und den religiösen Glaubensvorstellungen gegenüber. Sie wissen, daß sie vorzugsweise zur Ausbildung von gehorsamen Dienern des Staates — also auch der Kirchen — und der Gesellschaft bestimmt sind. Die Anweisung wird ihnen aufgeheftet, daß sie zum „Patriotismus" erziehen sollen. Paulsen sagt in seinem schönen Buche über die deutschen Universitäten (1902): die Güter, zu deren Pflege die Universitäten berufen sind, greifen über die Grenzen der Länder und Nationen hinüber; die Wahrheit und die Wissenschaft seien ihrer Natur nach Hüter der Menschheit, wie sie denn auch durch das Zusammenarbeiten aller Völker, die am geistigen Leben der Menschheit teilhaben, geschaffen sind und noch heute alle Tage gemehrt werden. Paulsen will daher als das Letzte und Höchste, was die Universitäten dem öffentlichen Leben leisten können, ausspre30 schönen

Buche: Siehe Paulsen, 1902: 330 ff.

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chen, daß sie in ihrer Gesamtheit etwas wie das öffentliche Gewissen des Volkes in Absicht auf gut und böse in der Politik, der inneren wie der äußeren, sein — können. „Sollten" ist die Meinung — daß diese Forderung erfüllt werde, daß dieses Soll auch nur anerkannt werde, glaubt offenbar Paulsen selber nicht. Er verweist am Schlüsse dieses Kapitels (III, 3) auf die jüngste Entwicklung des deutschen Universitätswesens, die Häufung großer Einkommen, die Einfügung in die Lebensgewohnheiten der üppigen Gesellschaft, die Ausdehnung, die das Titelund Ordenswesen gewonnen habe, „und ähnliche Dinge". Er deutet an, daß man darin schwerlich eine Vermehrung der inneren Würde und Kraft, wohl aber eine Steigerung der Abhängigkeit von den Mächten dieser Welt erblicken kann, wodurch die deutsche Universität in Gefahr komme, ihrem Wesen untreu gemacht zu werden. Um als ein öffentliches Gewissen zu wirken, müßte die Hochschule vor allem die unbedingte Wahrhaftigkeit und Unabhängigkeit in Angelegenheiten des Gewissens, in Sachen der Gewissensfreiheit, in allen Fragen der Religionen und Weltanschauungen, nicht nur für sich wahren und in Anspruch nehmen, sondern auch nach außen hin vertreten, selbst wenn amtliche Stellungen, Rang und Einkommen dadurch aufs Spiel gesetzt würden. In Wahrheit läßt sie sich die Kollegenschaft eines auf den Antimodernisteneid verpflichteten, über die Lokalität des Höllenpfuhles dozierenden Gelehrten lieber gefallen, als diejenige eines streng wissenschaftlichen Vertreters der Marxistischen Wertlehre oder der radikalen Kritik des „Evangeliums". Die Extreme werden abgelehnt — der Theorie nach diejenige beider Seiten; in der Praxis gibt es kein Extrem nach der „positiven" Seite, das irgendwie angefochten würde, eher werden sie mit Ehren überhäuft — aber die Negation, das böse Prinzip, der leibhaftige Teufel, diese werden gebannt und so sehr als möglich ferngehalten. Ganz so wie sonst in der Politik verfahren wird. Und doch gilt heute wie sonst der Satz, daß die Negation das Prinzip der sozialen Entwicklung ist. Man mag diese Entwicklung beklagen und anklagen, man muß dann die ganze Geschichte der Neuzeit als eine Verirrung betrachten: dieser Standpunkt, der offizielle Standpunkt der römischen Kirche, läßt sich eher verteidigen als der Sinn derer, die heute dem fortschreitenden kritischen Bewußtsein Halt gebieten wollen. Ist es wahrscheinlich, daß gegen das Verbot des konfessionslosen Moralunterrichts in Bayern von deutschen Hochschulen aus Protest erhoben 36 Moralunterrichts

in Bayern:

D e r konfessionsfreie M o r a l u n t e r r i c h t w u r d e in Bayern

n a c h der ministeriellen V e r o r d n u n g v o m J a h r e 1905 über Privatanstalten u n t e r staatli-

Eine Freidenker-Hochschule

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werde? Würde es gelingen, sie zu einer Kundgebung für die Gewissensfreiheit der Dissidentenkinder in Preußen aufzurufen? Sind nicht die Universitäten innig verwachsen mit der offiziellen Politik, mit den Gesinnungen der herrschenden Kreise, die den gegenwärtigen Zustand unseres religiösen Wesens, den so viele außerhalb jener Stehenden als innerlich unwahr mit tiefem Leide empfinden, als normal und gesund darzustellen beflissen sind und um jeden Preis den Schein gewahrt wissen wollen? Eine Freidenker-Hochschule, wie ich die Akademie des freien Gedankens lieber nennen möchte, wird diesen Schein zerstören. Sie wird aussprechen, darstellen, lehren, was ist, sie wird die Konsequenzen des wissenschaftlichen, des philosophischen Bewußtseins rücksichtslos ziehen. Sie wird als eine moralische, reinigende Macht wirken, zunächst im Sinn der Aufrichtigkeit, der Wahrhaftigkeit und des frohen Bekenntnismutes, ferner aber im Sinn einer lauteren und hohen Sittlichkeit überhaupt, die nur auf solcher Grundlage wachsen kann. Sie wird zugleich eine Akademie für ethische Kultur sein, wie sie in den Anfängen der ethischen Bewegung vor mehr als zwanzig Jahren gedacht und erhofft wurde. Damals war die vorherrschende Meinung in diesem Kreise, es könne in solchen Bestrebungen die Weltanschauung aus dem Spiele bleiben, religiös Gläubige und Ungläubige könnten einträchtig für die Ethik zusammenwirken. Wenn diese Illusion zerstört ist, so haben die Gläubigen und die herrschenden Gewalten, die ihnen zur Seite stehen, mehr dazu beigetragen, als von der Gegenseite geschehen ist. „Keine Sittlichkeit ohne Religion" ist das Dogma, das jene verkünden, und sie sind darin einig, — nur daß jeder seine eigene Religion oder Konfession meint. 1 Die folgerichtiger 1

In einem „amtlichen Bericht über Äußerungen des kirchlichen" Lebens in einem Kreise evangelischer Gemeinden (wie in diesem Jahre gedruckt wurde) heißt es: Die Austrittsbewegung habe nur einen winzigen Bruchteil des deutschen Volkes der Kirche entzogen. „Ja, wenn die Kriminalstatistik zeigt, daß die Konfessionslosen sechsmal so schlecht dastehen wie die Kirchenglieder, so sehen wir, daß es im wesentlichen minderwertige Elemente sind, die sich von der Kirche lossagen. Was tut es, wenn der Frühlingswind morsche Äste bricht und dadurch Platz schafft für frisches Grün?" Der Verfasser ist ohne Zweifel mit seiner Kriminalstatistik in gutem Glauben gewesen.

eher Genehmigungspflicht stehend gesehen. Wird die Genehmigung nicht erteilt, gilt er als verboten. 2 Dissidentenkinder:

In Preußen die Kinder derjenigen Bürger, die sich von den großen

christlichen Konfessionen lossagten und über deren Befreiung vom Religionsunterricht Streit aufkam; vgl. „Ethische Kultur", 21. Jhg., Nr. 10 vom 15. Mai 1913, S. 73 f. 32 „ . . . Platz schafft

für frisches

Grün": Dieses Zitat konnte nicht ermittelt werden.

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Denkenden freilich halten jede, auch die von ihnen als falsch und abergläubisch verklagte Religion f ü r besser als gar keine Religion. Ein verzweifelter Standpunkt, in der Tat. Der vielleicht Bestreitung k a u m noch erheischt oder verdient. Die Freidenker-Hochschule wird freilich nicht umhin können, ihn gründlich zu prüfen und zu erörtern. Als eine Zent-

5

ralstelle f ü r A u f k l ä r u n g wird sie die Sonne in Winkel sich ergießen lassen, w o jetzt aus Mangel an Licht nur die blassen Pflanzen der Trübsal gedeihen. Denn das ist die Frucht der Erkenntnis, wenn sie zu ihrer vollen Blüte gelangt, nicht als fertiges Sein, sondern als werdende und sich entwickelnde: eine unerschütterliche Sicherheit und Freude in Hin- 10 gebung an die unendliche und ewige Macht, an die Energie des Alls, mit der wir uns selber verbunden wissen, an deren Sein wir uns beglückt erhalten, obgleich wir nicht zweifeln, daß Menschen und Welten untergehen.

Aus einem Kriegs-Briefwechsel Gegen Ende Oktober erschien in einer angesehenen Kopenhagener Zeitung ein längerer Artikel von einem Professor der Kopenhagener Universität, der sich mit der von einem andern bekannten Dänen 1 kurz vorher 5 vertretenen Ansicht, die den Dänen entschlossene Sympathie mit der deutschen Sache empfahl, auseinandersetzte. Der Artikel machte die in Dänemark vorherrschende, weniger günstige Auffassung geltend, tat dies aber in durchaus edlen Formen und mit warmer Anerkennung für die sittliche Kraft, die das deutsche Volk betätigt habe. Ein lebhafter Vor10 wurf wurde — wie das an so vielen Stellen, auch von unbefangenen Neutralen geschieht — wegen des Bruchs des Völkerrechts und des Angriffs auf das neutrale Belgien erhoben; dieser Vorwurf wurde zugleich gegen Prof. Harnack gerichtet, der nicht einmal, wie der Reichskanzler, das formale Unrecht habe anerkennen wollen. Der Verfasser machte die 15 deutschen, besonders die preußischen, Verfassungszustände für diese Politik verantwortlich, wodurch einem einzigen Manne das Recht der Entscheidung über Krieg und Frieden gegeben sei. Er meinte ferner, es sei unleugbar, daß es auch in Deutschland eine Kriegspartei gegeben habe, und erging sich in leisem Spott über die Kundgebungen deutscher Profes1

P. Nansen. Die ausdrückliche Empfehlung ging aber von seiner Übersetzerin aus. (Vgl. den Artikel in Heft 4, S. 244ff.).

l Aus einem Kriegs-Briefwechsel: Zuerst in: Deutsche Arbeit. Zeitschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen, 1915, 14. Jg., Heft 5 (Februar), S. 2 9 0 - 2 9 5 , Prag/ Leipzig. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, S. 703 f. 3 Professor: Der Artikel war in der „Nationaltidende" vom 25. Oktober 1914 abgedruckt, der Verfasser war Valdemar Vedel, Professor für allgemeine Literaturgeschichte. u Prof. Harnack: Die Antwort Adolf von Harnacks auf einen Brief englischer Theologen (vom 27. Aug. 1914) vom 10. Sept. 1914, in: Harnack; 1916: 296; vgl. auch Harnack, 1914. 13 Reichskanzler: Reichskanzler war Theobald von Bethmann Hollweg. 17 Krieg und Frieden: Das Entscheidungsrecht besaß nach Art. 11 Abs. 1 RV von 1871 nur der Deutsche Kaiser. Zur Erklärung eines Krieges war allerdings gem. Abs. 2 die Zustimmung des Bundesrates einzuholen. 18 Kriegspartei: Gemeint ist hier wohl der „Alldeutsche Verband", der 1891 gegründet wurde, überparteilich war und eine nationalistisch-imperialistische Politik vertrat.

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soren und anderer „Kulturgrößen", die dies als zu emphatisch leugneten. Namentlich wies er auf Houston Stewart Chamberlain hin, der bekanntlich besonders heftig behauptet hat, kein einziger Mensch im Deutschen Reiche habe den Krieg gewollt, und hinzufügte: „Wer das Gegenteil behauptet, lügt — sei es wissentlich oder unwissentlich". — Endlich berührte der Artikel noch die nordschleswigschen Verhältnisse und kritisierte die Maßregeln der preußischen Regierung. Ich habe darauf, weil ich das Vertrauen hatte, daß der mir persönlich bekannte Verfasser einer ruhigen Erwägung zugänglich sein werde, einen längeren Brief an ihn gerichtet, worin ich 1. darauf hinwies, daß auch in die dänische Presse abenteuerliche Ansichten über deutsche Verfassungszustände aus der englischen übergehen, obgleich die Unwissenheit der Engländer in bezug auf die für sie ausländischen Verhältnisse berüchtigt sei. Ich suchte 2. den Bruch der belgischen Neutralität durch die Notlage, in die das Deutsche Reich sich versetzt fand, zu rechtfertigen, indem ich die Harnacksche Ansicht zurückwies und das formale Unrecht anerkannte. Auch wies ich darauf hin, daß Belgien zuvor selbst seine Neutralität gebrochen oder doch verletzt habe. Ich bezeichnete 3. die Ausdrucksweise Chamberlains als Rhetorik, versuchte aber nachzuweisen, daß, wenn es Personen gegeben habe, die zugunsten des Krieges als solchen gestimmt waren, diese doch keinen politischen Einfluß gehabt haben, und daß es ganz gewiß nicht vom Kaiser, nicht vom Reichskanzler, schwerlich von irgendeinem Bundesfürsten oder Senator der freien Städte, auch nicht von einer nennenswerten Minderheit in einem deutschen Parlament gesagt werden kann, daß sie zur „Kriegspartei" gehörten. Zuletzt unternahm ich es, das Verhalten der preußischen Verwaltung zu den Nordschleswigern zwar nicht zu verteidigen, aber doch einer allzu einseitigen Auffassung der Schwierigkeiten, die dort vorliegen, zu begegnen, indem ich auf die üble Lage der deutschen Minderheit

in jenen

Distrikten hinwies. 1 Professoren: Vgl. z. B. „Aufruf an die Kulturwelt" vom 4. Okt. 1914, die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches" vom 16. Oktober 1914. Vgl. Aufrufe und Reden 1975: 4 7 - 4 9 u. 4 9 - 5 0 . 2 Chamberlain: Vgl. Chamberlain, 1915: 12. 6 nordschleswigschen Verhältnisse: Tönnies spielt hier vermutlich auf die Verhaftung von 300 Dänisch-Nordschleswigern zu Beginn des Krieges „aus Sicherheitsgründen" an (vgl. die dt. Propagandaschrift „Dänen an der deutschen Front. Nordmark- u. WeltkriegStreiflichter. Eine Denkschrift von Karl Strackerjan". Als Handschrift und während des Krieges vertraulich nur für Deutsche gedruckt, Hadersleben, Weihnachten 1915, S. 20).

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Es wurde mir auf diesen Brief eine freundliche Antwort zuteil. Der Inhalt dieser Antwort dürfte sich aus der hier mitzuteilenden Entgegnung ergeben. Sie verweilte hauptsächlich bei Belgien, und bei der Gefahr, die für alle neutralen Länder bestehe, sie betonte das gerechte Mißtrauen, das die kleinen Staaten gegen die großen zu hegen berechtigt seien, und erklärte, daß die Abwehr eines solchen Angriffes (wie des Deutschen auf Belgien) „fast alle" Mittel rechtfertige. Meine Antwort setzte sich nicht zum Ziele, den geehrten Ausländer zu „bekehren"; sie glaubte aber, daß eine streng sachliche Behandlung der Streitfragen des Eindruckes auf einen wissenschaftlich denkenden Mann nicht verfehlen werde. Diese Erwartung ist insofern bestätigt worden, als der Korrespondent zwar noch aufs neue starke Einwände erhoben hat, aber doch anerkannte, daß die mitgeteilten Gründe und Erwägungen ihm „viele Aufklärung gegeben haben" und ihm auch dann gegenwärtig blieben, wenn er seine andersartige Denkweise nochmals festzustellen versuche. Die folgende Erörterung möchte darum auch für weitere Kreise einiges Interesse haben, weil mancher Leser seinerseits in die gleiche Verlegenheit kommen dürfte, und weil es jedenfalls sich lohnt, Verständigung mit einem gerecht und ernst denkenden Meinungsgegner zu suchen.

Eutin i. H., d. 31. Okt. 1914 Zunächst möchte ich um Entschuldigung bitten, daß ich in meinem früheren Schreiben eine Wendung gebracht habe, die sich der Deutung aussetzte, als wollte ich Sie der Unkenntnis deutscher Verfassungszustände zeihen, während ich nur sagen wollte, daß Ihre Ausdrucksweise — in der „Nationaltidende" — diesen Schein nicht vermieden hatte, und daß sonst die dänische Presse — begreiflich genug in so erregter Zeit — sich von der englischen in diesen Dingen beeinflussen lasse, nicht zugunsten richtiger Erkenntnis. Sie meinen nun, ich werde kaum bestreiten, daß — verfassungsmäßig und namentlich tatsächlich — die preußische Regierung und deren höchste Spitze dem Willen der Mehrheit des Volkes ziemlich unabhängig gegenüberstehe. Wenn hier „Mehrheit" unterstrichen wird, so haben Sie

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recht. Das preußische Wahlrecht zum Hause der Abgeordneten gibt dem Willen der Mehrheit des „Volkes" — d. h. ja immer oder fast überall der Männer — keinen Ausdruck. Man kann aber nicht sagen, daß die Mehrheit des preußischen Volkes bewußt unzufrieden mit diesem Verfassungszustande ist. Erst seit etwa zehn Jahren hat sich diese Unzufriedenheit von der sozialdemokratischen Partei aus geregt, und dann auch weitere Kreise ergriffen; aber nur die S-D verlangt Übertragung des Reichs-Wahlrechts auf Preußen. Das Schwergewicht der politischen Gewalt liegt in Preußen beim grundbesitzenden Adel, der auch durch seine innige Verbindung mit Heer und Marine seine Macht verstärkt. Natürlich ist die Geld-Aristokratie, soweit sie nicht mit jenem verschmolzen ist oder verschmilzt, damit unzufrieden. Diese Unzufriedenheit ist tatsächlich etwas anderes als die (viel weniger laute zum Teil überhaupt lautlose) Unzufriedenheit der Volksmenge mit dem Verfassungszustande und der Verwaltung, soweit diese Unzufriedenheit überhaupt vorhanden ist. Der Monarch hat allerdings eine große Macht, die sich zuweilen an der Macht des Adels bricht, keineswegs immer mit ihm zusammen geht, zuweilen mehr der Geldaristokratie, zuweilen mehr der großen Menge sich zuneigt. — Sie sagen aber ferner, ich werde kaum bestreiten, daß auch die höchste Reichsgewalt von diesem preußischen Geiste beseelt, tatsächlich namentlich in der auswärtigen Politik eine viel größere Machtvollkommenheit als die Regierungssitzen der parlamentarisch regierten Länder innehabe. Dies bestreite ich allerdings, es sei denn, daß Sie gerade die Person des Monarchen meinen. Der König von Preußen hat als Deutscher Kaiser immer noch größeren Einfluß, als der König von England hat, selbst wenn er Eduard der VII. heißt. Im Deutschen Reich haben Kaiser, Reichskanzler und Bundesrat die Exekutive, der Reichskanzler ist allein verantwortlich. i preußische

Wahlrecht:

Nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht (seit 1849) wurde

die wahlberechtigte Bevölkerung eines Wahlbezirks so aufgeteilt, daß auf jede Gruppe ein Drittel des gesamten Steueraufkommens entfiel. Die erste Gruppe, zahlenmäßig am kleinsten, die aber über die großen Vermögen verfügte und daher auch entsprechend über das größte Steueraufkommen, war somit im preußischen Abgeordnetenhaus unverhältnismäßig stark repräsentiert, s Reichs-Wahlrechts:

Seit dem Mainzer Parteitag von 1900. Ein Antrag der SPD im Reichs-

tag vom 2. Dez. 1905 auf Einführung des Reichstagswahlrechts in allen deutschen Gliedstaaten wurde am 21. Februar 1906 abgewiesen. Danach initiierte die Partei Massenstreiks in Preußen, um ihre Forderung durchzusetzen (so im Januar 1908). Die „S-D" ist die SPD. 27 Reichskanzler:

Nach Art. 17 RV von 1871 werden die durch den Kaiser erlassenen

Anordnungen und Verfügungen durch den Reichskanzler gegengezeichnet, „welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt."

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Im Vereinigten Königsreich regiert das Kabinett und der an dessen Spitze stehende Premierminister ist, so lange er den Sitz inne hat, unabhängiger als der Kaiser, wenn auch verantwortlich wie der Reichskanzler. „Es ist auch völlig klar, daß die Leitung der auswärtigen Politik in den Händen einer kleinen, verantwortlichen Körperschaft liegen muß." (Die Regierung Englands, Sidney Low. S. 287.) — „Wir sind beinahe ebensosehr der Gnade zweier Männer preisgegeben, soweit die auswärtige Politik in Frage kommt, als ob wir die Einwohner einer kontinentalen Monarchie wären, wo die auswärtigen Angelegenheiten persönlich von einem halbautokratischen Kaiser und einem Kanzler geleitet werden, der dem Parlament nicht verantwortlich ist," sagt Herr Low weiter. Er hätte ebensogut sagen können: im D. R. sei man der Gnade von Kaiser und Kanzler in auswärtigen Angelegenheiten „beinahe" ebenso preisgegeben, als ob man im United Kingdom unter einer Kabinettsregierung lebte. Natürlich: das Unterhaus „kann" das Kabinett verleugnen; der Reichstag „kann" ebenso den Reichskanzler verleugnen — indem es Budget oder Teile des Budgets oder auch nur das Gehalt des Reichskanzlers verweigert 2 . — Welches System vorzuziehen sei, darüber mag man streiten. Daß das englische den Willen „der Mehrheit des Volkes" besser zum Ausdruck bringe, ist ein offenbarer Irrtum. Wie kommen die Wahlen zustande? In Großbritannien weit mehr als im D. R. durch den längsten Geldbeutel, durch Freibier usw. Dabei das System der einfachen Mehrheiten in den Wahlkreisen, so daß bei einer „three-cornered election" regelmäßig der Kandidat gewählt wird, der weniger als 1/2 der abgegebenen Stimmen erhalten hat; dazu die Pluralwahlrechte; die Überrepräsentation in Irland; die Universitäten, die City of London als Wählerschaften usw. usw. (Auch indirekter Zensus durch Bedingung des eigenen Haushalts.) — Ich habe hier Ihren Punkt 3 zuerst behandelt.

2

Der englische Premierminister kann im Namen eines einheitlichen Reiches naturgemäß viel unbeirrter und selbstherrlicher handeln, als Kaiser oder Reichskanzler, im Namen eines Reiches, das ein Bundesstaat ist. Auf die großen Einzelstaaten: Bayern, Württemberg, Sachsen muß fortwährend Rücksicht genommen werden.

n „... nicht verantwortlich ist": Vgl. Low, 1908: 287. 23 „three-cornered election": Die Reform-Akte von 1867 bestimmte, daß in einigen 20 Wahlkörperschaften, die je drei Abgeordnete ins Parlament sandten, kein Wähler mehr als zwei Kandidaten wählen sollte, damit ein Sitz der Minorität verbliebe (vgl. Low, 1908: 233, Anm. 1).

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Schriften

I. Strenge Beweise dafür, daß Belgien aufgehört habe, neutral zu sein, sind vielleicht noch nicht erbracht worden 3 . Aber mehr als Vermutungen sind sicherlich vorhanden. Ich weiß nicht, in welchem Aktenstück „auf Ehre" behauptet worden ist, daß die Sache „bewiesen["] sei. Das Material häuft sich noch fortwährend. Die subjektive Überzeugung war sicherlich an den leitenden Stellen — und Bethmann Hollweg ist jedenfalls ein durchaus ehrlicher Mann — so vollkommen, wie sie jemals von einem Richter verlangt wird, der das Recht hat, einen Menschen auf Grund freier Beweiswürdigung irgendeines Verbrechens schuldig zu erkennen (ich kenne das dänische Recht nicht genügend, es ist aber in allen modernen Gesetzgebungen die gleiche Bestimmung). — Da ich irgendwo die Verletzung der belgischen Neutralität traurig aber notwendig genannt hatte, schrieb mir ein unbekannter Herr, Leutnant a. D., Kriegsinvalide von 1870, wohnhaft in Köln: „Am 31. Juli war schon ein Regiment Franzosen bei Namur, unangefochten von den Belgiern!!" — Daß dies Tatsache ist, wage ich jedoch nicht zu behaupten. 4 II. Meine Ausführung über die Notlage war allerdings unvollständig. Sie bedurfte zu ihrer Ergänzung die Berufung auf die „Tatsache" (ich muß sie als solche betrachten), daß Belgien ein integrierendes Glied in der Konspiration der Triple-Entente, m. a. W. ein — wenn auch zunächst latenter — Feind des Deutschen Reiches war. — An und für sich ist natürlich kein Staat, ob groß oder klein, davor sicher, in einen Konflikt hineingezogen zu werden. Wenn einmal der Krieg entfesselt ist, so wird das (ohnehin immer strittige) Völkerrecht nur mühsam und mangelhaft aufrecht erhalten. England hat in seinen Kriegen von jeher das Völkerrecht mit Füßen getreten. Es verlangt aber die Beobachtung des Völkerrechts, sofern es ihm nützlich ist. Auch in diesem Kriege arbeitet es uner3

4

Seitdem dies geschrieben war, darf dieser Beweis als erbracht angesehen werden. Belgien hatte mit England eine Militär-Konvention abgeschlossen und dadurch seine Neutralität vollkommen preisgegeben und gebrochen. Es ist vor wenigen Tagen durch eine in der Nordd. Allgem. Zeitung publizierte eidliche Aussage bestätigt worden, daß französische Truppenkörper (wenn auch schwerlich ein Regiment) schon am 24. Juli nach Belgien geworfen wurden! —

29 Militär-Konvention: Es handelt sich hier nicht um ein formelles Abkommen, sondern um informelle Gespräche, die sowohl im Jahre 1906 zwischen dem belgischen Generalstabschef Ducarne und dem britischen Militärattache Banardiston als auch im Jahre 1912 zwischen Col. Bridges auf britischer und General Jungbluth auf belgischer Seite geführt worden waren. Formelle feste Abmachungen waren nicht vorgesehen; auch die belgische Regierung hat diese Gespräche offiziell nicht bestätigt.

503

Aus einem Kriegs-Briefwechsel

müdlich, um neutrale Staaten auf seine Seite zu ziehen. Das D. R . forderte von Belgien keine Bundesgenossenschaft, sondern nur die Gestattung

des Durchmarsches

und versprach

volle Entschädigung.

Besondere bei Belgien lag in seiner garantierten

Das

Neutralität — vgl. den

Wortlaut der englischen Kriegserklärung (Correspondence Nr. 159 — Schluß): „to uphold the neutrality of B. and the observance of a treaty to which Germany is so much a party as ourselves". Der Londoner Vertrag von 1839 war ausschließlich eine Frucht englischer Politik, die schon damals das Frankreich des Bürger-Königtums ins Schlepptau genommen hatte. Preußen hat diesen Vertrag unterzeichnet. Pr. als Großmacht ist nicht mehr vorhanden. Es gilt als selbstverständlich, daß das D. R . in die Staatsverträge Preußens eingetreten ist. Pro forma mag es sich von selbst verstehen. Der Sache nach versteht es sich nicht von selbst. Das D. R . von heute ist seinem Umfange und seinen Interessen nach etwas ganz anders als das Preußen von 1839. Zumal im Verhältnis zu England, und da es seit acht Jahren ein — wenn auch halb verholenes Bündnis mit den Feinden des D. R . unterhalten hat! — Was ist Belgien? Ein historischer Staat, wie Dänemark oder Schweden? Keineswegs, sondern ein Geschöpf der Revolution, also formalen politischen Unrechts, des Bruchs der Wiener Schlußakte, die das Königreich Holland, unter Garantie aller Mächte herstellte; auch dies ein Geschöpf englischer Manufaktur, die ihre gütige Hand über Gebiete hält, die der unselige 30 jährige Krieg endgültig — wie man annehmen muß — vom alten Deutschen Reiche getrennt hat, die aber wirtschaftlich, geistig, und zum Teil auch durch die Religion — das Rheinland ist katholisch wie der größte Teil von Belgien und 1/3 von Holland — jedenfalls mehr auf das D. R . als auf Großbritannien hingewiesen sind.

7 „... as ourselves":

„um die Neutralität und die Einhaltung eines Friedens aufrechtzuer-

halten, von dem Deutschland ein so bedeutender Teil ist wie wir selbst" (eigene Übersetzung). — Vgl. Grey an Goschen vom 4. Aug. 1914, in: Correspondence, 1914: 77. Es heißt dort übrigens nicht „is so much", sondern: „is as much". 8 Vertrag:

Im Londoner Vertrag von 1839 fiel der größte Teil Luxemburgs an Belgien.

Holland mußte Belgien anerkennen. 9 Bürger-Königtums: 19 Geschöpf

Die Herrschaft von Louis Philipp (1830—1848).

der Revolution:

Im Jahre 1830 erfolgte nach Aufständen in den südlichen,

heute belgischen Provinzen Hollands gegen die Zentralregierung im Norden die Sezession Belgiens. Versuche der Holländer, die Provinzen zurückzuerobern, scheiterten an der Intervention der Großmächte. Im Londoner Protokoll vom 15. November 1831 wurde Belgien als selbständiger Staat anerkannt.

504

Schriften

Was die N o t w e h r betrifft, so mag man über die sittliche

Berechtigung

der Mittel, zu denen die E i n w o h n e r von L ö w e n und anderer O r t e gegriffen haben, denken wie man wolle. Die praktische Frage ist, ob es klug ist, in solchem Falle, der Vorteile und Rechte sich zu begeben, die seit uralten Zeiten kraft ausdrücklicher oder stillschweigender Übereinkunft die kriegführenden Parteien einander einräumen. Wenn Bürger zu den Waffen greifen, aus den Häusern schießen, Verwundeten die Augen ausstechen — es soll in ca. 5 0 0 Fällen geschehen sein, eine dänische D a m e , die in Celle w o h n t , erzählte mir in Kopenhagen von einem besonders furchtbaren Falle — so mag das gut oder böse sein, sie werden die natürlichen und notwendigen Folgen auf sich nehmen müssen. Natürlich ist die R a c h e ; notwendig eine Züchtigung, zum abschreckenden E x e m p e l ; wie es denn auch glücklicherweise gewirkt hat. Schrecken kann nur mit Schrecken bekämpft werden. Die Notlage des D . R . wollen Sie nicht erkennen. Im D . R . weiß jeder M a n n und jede Frau, daß unsere Feinde das D . R . vernichten wollen. Eine große numerische Ü b e r m a c h t ist auf ihrer Seite. Sie rufen ihre Streiter aus Indien, der M o n g o l e i , aus Algerien usw. Wir müssen uns wehren, mit allen Mitteln, mit allen Kräften, die uns zur Verfügung stehen. Wenn Belgien nicht für uns sein wollte, so mußte es eben wider uns sein. Es war ein Werkzeug in den Händen unserer Feinde, das untauglich zu machen die Selbsterhaltung gebot. III. Auch ich anerkenne die zwangsmäßige Inkorporierung fremder ebenbürtiger Völker oder Volksteile als sittlich berechtigt nicht an. Aber mit moralischen Protesten verändern wir nicht die geltenden R e c h t e und die geltenden Anschauungen. Es ist nicht anders auf dem Gebiete des Privatrechts. Wir mögen dem Eigentum der Multimillionäre die Anerkennung verweigern und seine Ursprünge brandmarken, in der Praxis werden wir es doch anerkennen und heilig halten, es sei denn, daß wir praktische Anarchisten wären, die zu ihrem Unheil und zu niemandes Heil mit dem Gedanken der Verneinung Ernst zu machen versuchen. Ich mag mit Recht sagen: von dem Vermögen dieses M a n n e s k o m m t nach Recht und Billigkeit 1/4 Million mir zu, der ich immer nur kargen oder gar keinen Lohn für meine geistige Arbeit erhalten habe — die Gerichte werden unerbittlich sein in Anwendung ihrer

Regeln und die vollzie-

hende Gewalt jedes Staates wird den Schutz des „ungerechten

Mam-

m o n s " erzwingen. Die Rolle, welche Z w a n g und Gewalt in den menschlichen Dingen spielen, können wir nicht aufheben, vielleicht können wir durch geduldige Arbeit im Laufe von Jahrtausenden sie eindämmen. Aber

Aus einem Kriegs-Briefwechsel

505

damit ist noch wenig getan, so lange nicht auch die Überlegenheit, die durch List und Ränke geltend gemacht wird, ihrer Macht beraubt wurde. Um aber auf die Frage, von der wir ausgingen, zurückzukommen, so ist die Forderung, daß „ein" Volk oder „ein" Volksteil selbst bestimme, zu welchem Staate sein Boden — den Individuen ist ja die Option unter Bedingungen freigestellt — gehören solle, auch wenn sie anerkannt wird, unermeßlich schwer zu erfüllen. Sollen auch in dieser Beziehung die Minoritäten durch Majoritäten, die vielleicht auf unredliche Art gebildet werden, gezwungen werden? Was ist ein Volksteil? Soll jede politische Gemeinde für sich abstimmen? So gibt es ein Durcheinander, in dem sich keine Grenze ziehen läßt. Besser wäre wohl ein Staatensystem wie das von NordAmerika. Ich habe nicht gehört, daß irgendeiner der Staaten Stücke eines anderen zu annektieren wünschte, weil die Mehrheit der Einwohner dieses Stückes etwa der Abstammung nach dem ersten Staate angehören. Ebenso fehlen solche Bestrebungen gänzlich zwischen den Einzelstaaten des D. R. und zwischen den Kantonen der Schweiz, obgleich bei diesen letzteren auch die sprachlichen Verschiedenheiten eine Rolle spielen. — IV. Aus Stewart Chamberlains gesperrten Druck folgt nicht, daß irgendein Satz, der sonst in dem Hefte vorkommt, als Rhetorik gelten dürfe. Die Zusammenstellung ist wieder zufällig durch das Bedürfnis des Herausgebers bestimmt. Niemand anerkennt St. Ch. als einen wissenschaftlichen Mann, er gibt sich selber nicht dafür aus. Daß er seine Behauptung im besten Glauben aufgestellt hat, daß es ihm völlig ernst damit ist, daran zweifele ich nicht. Wenn er kritisch zu denken gewohnt wäre, so würde er wissen, daß er nicht für jede einzelne Person eintreten könnte, selbst wenn es sich nur um ein Volk von einer Million Einwohner handelte. Ich weiß wohl, daß ich Ihre Geduld und Aufmerksamkeit allzu sehr und zu lange in Anspruch nehme; vollends nachdem es schon durch meinen ersten Brief geschehen ist. Die außerordentlichen Umstände und mein tiefgefühlter Wunsch mit Vertretern der dänischen Nation, der ich innerlich sehr nahe stehe, zu einem leidlichen Verständnis zu gelangen, möge es entschuldigen. An den großen historischen Begebenheiten, die wir erleben, ist der einzelne so unschuldig wie an einem Erdbeben. Auch unsere Meinungen und moralischen Urteile verändern daran nichts. Wir können nur versuchen, die Wirkungen und Folgen erträglicher zu machen.

is Chamberlains

gesperrten

Druck:

Vgl. C h a m b e r l a i n , 1915: 12.

506

Schriften

PS. Ich muß noch folgende Bemerkung hinzusetzen. Sie schrieben, daß Sie kein „Notrecht" kennen, daß die Vernichtung anderer gleichwertiger sittlicher Güter für die Verteidigung eigener in sich begreife. Dies ist eine wohlbegründete Auffassung, sofern sie die Moral des Individuums betrifft. Es ist gewiß ethischer Heroismus, wenn ein Mensch sagt, und danach handelt: „lieber will ich untergehen — ja, will ich meine Kinder, meine Freunde dem Verderben weihen, als daß ich etwas tue, was ich für böse, für sittlich unerlaubt halte." Der Staat kann und darf sich einen solchen Heroismus nicht leisten. Für ihn ist die Selbsterhaltung in einem viel höheren und stärkeren Sinne als für das Individuum, sittliche Pflicht. — Sie unterstreichen, daß ein kleiner Staat seine Neutralität pflichtgemäß verteidigen müsse. Ich verstehe durchaus, daß ein solcher — eben um seiner Selbsterhaltung willen — diese Verteidigung gegen jede Verletzung für notwendig hält. Wenn es aber, wie Belgien, gegen die eine Seite sich hartnäckig wehrt, während es mit der andern insgeheim verbündet ist, so ist das nur daraus zu erklären, daß es eben auf siegreiche Hilfe von Seiten dieser anderen Seite mit Sicherheit rechnet, wie ja ohne Zweifel Belgien auf englisch-französische Hilfe gerechnet hat und noch rechnet. Was die Gefahren für kleine Staaten betrifft, so steht jedenfalls fest: das D. R. hat während der 43 Friedensjahre, wo es so mächtig dastand, keine Versuche gemacht, auch nur irgendeinen kleinen Staat durch Bündnisse, Konzessionen usw. an sich zu fesseln, geschweige denn die Unabhängigkeit irgend eines solchen Staates bedroht. Daß es auch das erstere versäumte, mache ich seiner Staatskunst durchaus zum Vorwurfe, aber es muß zur Entlastung von jedem Verdachte dienen, daß es das letztere irgendwie beabsichtigt habe.

Der letzte Sprung des alten Löwen Dies geistreiche Poem findet sich im „New Statesman" vom 12. Dezember 1914. Es ist ein Nachtrag zu den mehr prosaischen Aufsätzen, die der berühmte Dichter unter dem Titel „Common sense about the w a r " 5 als Beilage zu der genannten Wochenschrift herausgegeben hat (jetzt mit den Nachträgen in England für 6 d käuflich). Shaw ist ein Ire, aber kein nationalistischer, noch weniger freilich ein englischer Jingo. Deutlicher als seine übrigen Äußerungen zeigt dieser poetische Aufsatz, daß er den wirklichen Zusammenhang der Dinge intuitiv klar erfaßt hat, wenn10 gleich er ihn im Lichte eines Bewunderers der britischen Kraft und Größe sieht. (Der erste Absatz ist als belanglos weggelassen worden.) Aus dem authentischen Teil des französischen Gelbbuches erhebt sich ein Bild mit solcher Deutlichkeit, daß es für mich erstaunlich ist, daß noch kein Engländer es aus der amtlichen Korrespondenz, worin es eingehüllt ist, hervorgezogen hat. Man sieht nämlich deutlich darin den alten britischen Löwen, den Löwen von Waterloo, den Löwen von Höchstädt, den Löwen von Trafalgar, der nun seinen letzten, schrecklichsten und herrlichsten Sprung tut. Man sieht ihn mit seiner alten List, seinem alten Mut, seiner ungeschwächten Kraft, seinem alten wunderbaren Glück, seiner alten Erpichtheit, seinem alten versteckten und hinterlistigen Instinkt, der zur Not besser daran ist ohne große Männer, als seine Feinde mit solchen. — Jahrhundertelang hat der Löwe nun festgehalten an seiner einen Idee, nämlich, daß niemand zu Lande größer sein soll als England und niemand so groß zur See. Er hat nie danach gefragt, ob ein Nebenbuhler Englands besser oder schlechter als England war. Als die Schlacht bei Waterloo gewonnen war, sagte Byron: „Ich bin verflucht traurig" und Menschenfreunde und freiheitsliebende Männer sahen mit Bestürzung die Wiedereinführung der Inquisition und die Wiedereinsetzung einer schwächlichen und verbrecherischen Dynastie auf den Trümmern der freiheitlichen Gleichheit und Brüderlichkeit. Aber das achtete der Löwe gering: Englands Nebenbuhler lag im Staube, England beherrschte die Meere, Englands General (was schadete es, daß er ein Irländer war?) war der Herr Europas l Der letzte Sprung des alten Löwen:

Zuerst in: Deutsche Arbeit. Zeitschrift für das

geistige Leben der Deutschen in Böhmen, 1915, 14. Jg., Heft 6, März, S. 343—345, Prag/Leipzig. Die Ausführungen Tönnies' dienten als einleitende Bemerkungen zu einem Artikel von George Bernard Shaw, „The Last Spring of the Old Lion", erschienen im „New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature", vol. IV, No. 88, Dec. 12, 1914, S. 2 4 3 - 2 4 5 . Am Ende des gedruckten Textes heißt es: „Übersetzt von H. Hennings. Herausgegeben von Ferdinand Tönnies." Der Artikel Shaws wird hier in kleinerer Type abgedruckt; eB S. 704 f.

508

Schriften

und seiner Könige, die in seiner G e g e n w a r t nur zu flüstern wagten, wie eingeschüchterte Schulbuben. England, o b im R e c h t oder Unrecht, England übervoll von seiner eigenen, angestammten Fäulnis und Bedrückung, wie von seiner eigenen, angestammten G r ö ß e und Herrlichkeit, w a r ganz englisch aus dem K a m p f hervorgegangen und hielt das Gleichgewicht der M ä c h t e in seiner H a n d . Hundert J a h r e lang wußte von da ab kein Engländer, was es heißt, die M ö g l i c h k e i t einer feindlichen Invasion zu fürchten. M e h r als zwei M e n schenalter lang lag der L ö w e und sonnte sich und witterte keinen Feind, über den er nicht mit einem Klaps seiner Pfote H e r r werden konnte. D a n n stand wieder ein Nebenbuhler auf. Schrecklichere Schlachten als jene bei Waterloo wurden gegen denselben Feind geschlagen; aber es war nicht England, das sie gewann. D e r L ö w e erhob sich und fing an zu lauern. D e r alte Instinkt regte sich in ihm. Er hörte in der Ferne ein Lied: „Deutschland, Deutschland über alles" 1 und eine S t i m m e in seinem Innern sagte: „Niemals das, so lange ich l e b e " . D e r Nebenbuhler baute ein Kriegsschiff, noch ein Kriegsschiff und immer noch ein Kriegsschiff; er strebte offen nach der H e r r s c h a f t zur S e e . 2 D a s war das Ende. Von diesem Zeitpunkte an gab es für den Löwen nur Frage, nämlich wann

eine

er den Sprung tun sollte. Denn ein L ö w e mit jener einen Idee im

Herzen, mit jenem Bedürfnis tief in seinem Innern, muß schlau sein, er m u ß auf jeden Fall gewinnen; wie lange er sich auch duckt und zusammenkauert, bis der rechte Augenblick g e k o m m e n ist. In dem G e l b b u c h sieht man ihn k o m m e n . Deutschland mit Österreich und R u ß l a n d mit Frankreich schleichen leise hintereinander her, den Finger a m Abzug. Frankreich weicht dem K a m p f e aus, R u ß l a n d rüstet und richtet sich allmählich darauf, Österreich spekuliert darauf; alle, selbst Österreich, fürchten sich vor dem Rivalen des L ö w e n , vor Deutschland. Frankreich, das immer den Frieden zu erhalten sucht, findet schließlich, daß Deutschland ihm und R u ß l a n d Trotz bietet, daß es völlig sicher ist, den einen Gegner mit der rechten und den andern mit der linken H a n d niederwerfen zu k ö n n e n , daß es aber doch den Löwen fürchtet, weil es recht gut weiß, daß, wenn er Frankreich und R u ß l a n d zu Hilfe k o m m t , die Ü b e r m a c h t zu furchtbar sein wird, selbst für den Sieger von Sedan. Frankreich befragt nun den L ö w e n über diesen Gegenstand. D e r L ö w e , grimmig, aber vorsichtig, hat nichts dagegen, daß seine Flotten- und Heerführer mit den Heerführern Frankreichs R ü c k s p r a c h e nehmen, um zu erwägen, was möglicherweise eintreten kann und was dann zu tun ist. Plötzlich rempelt Frankreich Deutschland an, gibt Deutschland den Befehl, sich in M a r o k k o aus dem Staube zu machen. Deutschland wirft einen Blick auf den Löwen und sieht ihn, mit dem Schwanz furchtbare Ringe schlagend, sich zum Sprunge bereit machen. Die Ü b e r m a c h t ist zu groß: mit Verdruß und Ärger im Herzen m a c h t Deutschland sich aus dem Staube. Es ist zum erstenmal seit dem Emporsteigen seines Sternes erfolgreich eingeschüchtert worden. D e r L ö w e fühlt sich enttäuscht. N o c h einige weitere J a h r e des Wartens und der britische Steuerzahler kann die Geduld verlieren und sich weigern, die immer mehr anschwellenden Kosten für die Flotte zu bewilligen. Der alte Instinkt in ihm flüstert: „Jetzt, jetzt, ehe der

1

W i e es scheint, teilt S h a w das im Auslande verbreitete kindische Mißverständnis, als o b dieser harmlose Vers eine andere Bedeutung hätte, als die einer Liebeserklärung ans Vaterland!

2

Eine unrichtige Behauptung, wie immer man über die Flottenrüstungen denken mag. (Der Herausgeber.)

509

D e r letzte Sprung des alten L ö w e n

Nebenbuhler zu stark w i r d . " M a n hört Stimmen in den L o n d o n e r Straßen, die dies laut rufen. Aber es gibt ein weiteres Hindernis, mit dem der L ö w e rechnen muß: Wenn der Nebenbuhler nicht k ä m p f e n will, wird es nicht leicht sein, ihn anzugreifen. Und Deutschland will nicht k ä m p f e n , wofern der L ö w e sich nicht von Frankreich und R u ß l a n d trennt; aber es fühlt sich k r a n k wegen der Demütigung, die es erlitten hat, und weiß, daß nur das Abschrecken von weiteren Einschüchterungsversuchen sein sinkendes Ansehen wiederherstellen und seinen verwundeten Stolz heilen k a n n . D o c h m u ß es seinen Verdruß hinunterschlucken, denn bei jeder D r o h u n g zeigt Frankreich auf den L ö w e n und rettet den Frieden, den allein Frankreich ehrlich wünscht. Aber immer, wenn Deutschland sich demütigen läßt, fühlt der L ö w e sich enttäuscht. Österreich muß die Verwirklichung seiner B a l k a n pläne aufschieben, und R u ß l a n d weiß nicht bestimmt, o b es gefoppt oder vertröstet wird. D e r L ö w e brütet und brütet. Und tief in seinem Innern d ä m m e r t die Erkenntnis, daß Deutschland niemals in den K a m p f ziehen wird, wenn nicht — wenn . . . nicht — der L ö w e weiß nicht sicher was und will es auch nicht wissen; aber uninteressierte B e o b a c h t e r vollenden den Satz so: wenn Deutschland nicht überredet werden k a n n , daß der L ö w e eine Vorliebe für Deutschland gefaßt hat und auch ein wenig Friedensfreund geworden ist und nicht geneigt ist, Krieg zu führen. D a r a u f schickte das G l ü c k , das so selten dem L ö w e n untreu geworden ist, den Fürsten L i c h n o w s k y als deutschen Gesandten nach L o n d o n . Es w a r durchaus selbstverständlich, daß man den Prinzen, der ein reizender M a n n war und eine sehr reizende Frau hatte, mit der größten Liebenswürdigkeit behandelte. S o w a r denn unser Sir Edward Grey, der auch ein reizender M a n n ist, i m m e r bereit, bei Teegesellschaften ganz aufrichtig den Frieden zu predigen, den Frieden mit ganz E u r o p a , wenn nötig. D e r L ö w e w u ß t e in seinem Herzen, d a ß Grey die Handlungsweise der L ö w e n nicht kennt und sie auch nicht billigen würde, wenn er sie gekannt hätte, denn Grey hatte Ideen statt der einen

Idee. Und L i c h n o w s k y

w u ß t e so viel weniger von der N a t u r der Löwen als Grey, daß er tatsächlich meinte, wäre

der

Löwe.

Grey

D e r L ö w e sagte: „Dies ist nicht meine Sache. D a f ü r hat der H i m m e l

England Grey und L i c h n o w s k y b e s o r g t . " L i c h n o w s k y hielt Grey jeden Tag für einen größeren S t a a t s m a n n und überzeugte sich jeden Tag mehr davon, daß des L ö w e n H e r z sich geändert hatte und daß er freundlich wurde. Und Grey hielt L i c h n o w s k y vielleicht für einen N a r r e n , aber er war trotzdem liebenswürdig gegen ihn. D a n n w a r da Asquith, der glänzenden A d v o k a t , der M a n n , der weder sich an die Vergangenheit erinnern, noch die Z u k u n f t vorhersehen k o n n t e , sondern der stets ein M a n n aus Yorkshire war, mit alter englischer Unerforschlichkeit hinter dem spiegelgleichen G l a n z seines Genies, worin etwas von Löwenlist w o h n e n k o n n t e , ohne die O b e r f l ä c h e des Spiegels zu trüben. Asquith entdeckte plötzlich in sich einen unerklärbaren, aber ganz unwiderstehlichen Impuls, jene A b m a c h u n g e n mit den französischen Heerführern, die Deutschland erschreckt hatten, zu verhehlen und abzuleugnen. Er sagte zu Grey: „Sie müssen zu den Franzosen gehen und ihnen sagen, daß wir uns für nichts verbindlich gemacht h a b e n . " Grey, der liebenswürdige Friedensfreund, w a r entzückt. Er ging, und die Franzosen nahmen mit unerschütterlicher H ö f l i c h k e i t Notiz davon. Und dann begannen Asquith und Grey mit gutem Gewissen der Welt die Versicherung zu geben, d a ß der L ö w e nicht verpflichtet sei, Frankreich und R u ß l a n d zu helfen, wenn einmal der große Tag der A b r e c h n u n g 3 käme.

3

Im Original „des A r m a g e d d o n " , eine biblische Anspielung. M a n begreift, daß solche in England besser als bei uns verstanden werden. (Der Herausgeber.)

510

Schriften

Sie überzeugten die N a t i o n , sie überzeugten das Unterhaus, sie überzeugten ihr eigenes Kabinett und zuletzt — zuletzt — überzeugten sie auch Deutschland. Und der L ö w e kauerte sich wieder zusammen. Er w a r noch nicht ganz fertig, als der Teufel das G l ü c k hatte, den Erzherzog durch die H a n d eines M ö r d e r s niederzustrecken, und nun w a r Serbien endlich in Österreichs G e w a l t . Es w a r f sich auf Serbien. R u ß l a n d w a r f sich auf

Österreich,

Deutschland w a r f sich auf Frankreich, und nun e r h o b sich auch der L ö w e und sprang zu mit mächtigem Gebrüll, und blitzschnell packte er mit seinen Z ä h n e n und Klauen Englands Nebenbuhler und wird ihn nun, trotz aller Friedensfreunde oder Sozialisten in der ganzen Welt, nicht eher loslassen, als bis er ihn erwürgt oder ihn wieder auf sein WaterlooP o s t a m e n t gesetzt hat. D a s , ihr Herren von England, ist das Heldengedicht des Gelbbuches. Das war das Gebrüll, das eure Geschäftsleute vorgaben nicht zu hören, weil es sie so einschüchterte, daß sie den Deutschen versicherten, es w ä r e nur das Blöken einer Herde friedlicher Schafe, die von einem bösen W o l f angefallen würden. Ihr werdet euch viel k ü m m e r n um ihr Geschwätz über alte Verträge und um ihre Versicherungen, daß ihr nicht einer solchen Schlechtigkeit fähig seid, als es das H u r r a ist, w o m i t euer Anteil an des L ö w e n H e r z auf sein Brüllen a n t w o r t e t , und um ihre erbärmlichen Geschichten, wie jene alte Geschichte von dem kinderverschlingenden B o n a p a r t e ( „ B o n a y " ) , und um ihre tollen Lügen und Schmähungen des Feindes, der nun, wie ihr wißt, gegen alle Waffen, allein euer Schwert a u s g e n o m m e n , gefeit ist. Was mich betrifft, so verstehe ich es; ich freue mich darüber; ich erkenne die M a c h t und das Geheimnis, das darin steckt, und jede Saite meines Herzens hallt wider von dem Wunsche, daß des L ö w e n letzter K a m p f der schönste von allen sein möge und Deutschland der letzte Feind, der überwältigt w i r d . 4 Aber ich bin ein Sozialist und weiß recht w o h l , daß des L ö w e n Tage gezählt sind, und daß der tapferste L ö w e schließlich erschossen wird. Ich sehe vorher, daß sein Sieg nicht, wie die früheren Siege, ein J a h r h u n d e r t der Sicherheit bringen wird: Ich weiß, daß er eine Situation schaffen wird, die gefährlicher ist als die Situation vor einem halben J a h r e war, und daß diese Situation nur dadurch geklärt werden k a n n , daß jede westeuropäische N a t i o n jeden T r a u m der Weltherrschaft aufgibt. Ein in Grenzen eingeschlossener L ö w e ist schließlich nichts weiter als ein L ö w e im Käfig, und die Z u k u n f t hat keine Verwendung für L ö w e n , die im Käfig sitzen und die k ä m p f e n , um ihre eigenen Ketten zu verteidigen. In der Z u k u n f t müssen wir streiten nicht allein für England, sondern für das Wohlergehen der Welt. Aber trotz alledem ist der L ö w e ein altes, edles Tier, und seine Vergangenheit ist eine glänzende Vergangenheit, und seine Brut ist tapferer als je — zu tapfer in der Tat, um nichts anderes zu sein als Engländer contra m u n d u m . Ich nehme bei diesem letzten K a m p f , den er k ä m p f t , den H u t vor ihm a b und werde nicht aufhören, ihn zu schwingen, mögen auch erschreckte Küchlein piepsen.

Bernard

4

Shaw

Sehr gütig, werter H e r r Shaw. Sie werden aber zugeben, daß im K a m p f e zwischen M e n schen und wilden T i e r e n der M e n s c h es ist, der die O b e r h a n d zu behalten pflegt. (Anm. d. Herausgebers.)

[Englische Weltpolitik] In Nr. 69 vom 10. d. M. befindet sich eine wohlwollende, wenn auch ziemlich ironische Besprechung meiner kleinen Schrift über englische Weltpolitik-1 Ein „gewisser Wert", den der Kritiker dieser Schrift beimißt, wird ein recht ungewisser Wert durch die Charakteristik, die ihr zuteil wird. Richtig heißt es, daß ich eine Art Abriß der englischen Weltpolitik gebe durch Zitate aus Werken englischer Schriftsteller. „Dabei werden nur solche Zitate berücksichtigt, die eine scharfe Kritik der Methoden englischer Weltpolitik enthalten" — eine derartige Sammlung sei „natürlich völlig einseitig". Es sei mir gestattet, dazu folgendes zu bemerken: Die in dieser Kritik enthaltene Unterstellung, daß ich „aus Werken englischer Schriftsteller" mit Absicht ungünstige Urteile zusammengelesen, günstige Urteile unterdrückt habe, gibt von meinem Verfahren ein unrichtiges Bild. Ich habe von den Urteilen Seeleys über den Zusammenhang von „Krieg, Handel und Piraterie" einen getreuen Auszug gegeben und auf die Tatsache hingewiesen, daß Seeley weit davon entfernt ist, einen ungünstigen Eindruck von der englischen Politik hervorrufen zu wollen; ich habe darauf hingewiesen, daß er das „alte Kolonialsystem" als die eine Ursache bezeichnet, die Krieg und Handel gleichmäßig wachsen ließ (S. 15 meiner Schrift) und daß er diese Ursache im wesentlichen für einen überwundenen Standpunkt hält; er gesteht aber auch zu, daß ein klares und konsequentes neues System noch nicht an dessen Stelle getreten sei. (S. 21.) Ein solches neues System — ein förderatives — zu befürworten, ist eine Hauptabsicht seines Buches. Ich habe dazu bemerkt 1

Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung. Berlin. Springer. 1915. Preis 1 M .

i [Englische

Weltpolitik]:

Z u e r s t in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Z e n t r a l o r g a n der sozi-

a l d e m o k r a t i s c h e n Partei D e u t s c h l a n d s , Beilage, 32. Jg., N r . 77 v o m 10. M ä r z 1915, S. 1, Berlin. Der Titel s t a m m t wahrscheinlich von der R e d a k t i o n , die den Beitrag mit folgender A n m e r k u n g einleitete: „Wir halten folgende Z u s c h r i f t : " . — Über die Besprechung der Tönniesschen Schrift sowie ü b e r die G e g e n r e a k t i o n des „ V o r w ä r t s " vgl. den Editorischen Bericht, S. 706 ff. Beachte auch d a s in der F u ß n o t e g e n a n n t e Buch von T ö n n i e s hier auf den Seiten 11 — 109, a b g e d r u c k t mit E r l ä u t e r u n g e n . 20 (S. 15 meiner

Schrift):

23 (S. 21 j.-Hier S. 42.

H i e r S. 35.

512

Schriften

— und ich denke nicht, daß es bestritten werden kann — das alte Kolonialsystem stehe tatsächlich noch in voller Blüte gegenüber allen eroberten Ländern und Gebieten der Einflußsphäre (die ja auch Kolonien im wahren Sinne gar nicht sind). Es folgt — was ich nicht ausdrücklich betone —: wenn Seeley recht hat, so wirkt die alte Ursache fort, „die Krieg und Handel gleichzeitig wachsen ließ". Und dies ist der tatsächliche Befund. Für die neuere Geschichte (19. Jahrhundert) konnte ich mich nicht auf Seeley berufen, der als großer englischer Patriot, Imperialist und hochberühmte Autorität unter den Engländern dasteht. Ich habe aber mich fast ausschließlich an Schriftsteller gehalten, die ebenso eines unbestrittenen, wenn auch nicht alle eines ebenso bedeutenden Ansehens sich erfreuen. Ich habe z. B. aus M c Carthy nicht die ungünstigen Urteile über die Kriege und Expeditionen seit dem Beginn des Regimes der Victoria ausgesucht,

sondern die von mir mitgeteilten Urteile dieses Historikers

sind eben die Urteile, in denen er seine Ansichten und zugleich die geltende öffentliche Meinung über jene Begebenheiten zusammenfaßt. Der Kritiker meint: Um kein einseitiges und dadurch falsches Bild entstehen zu lassen, hätte ich darauf verweisen müssen, daß die kolonialpolitischen Methoden aller Länder zur gleichen Zeit ähnliche waren. Ich habe (S. 20) als Seeleys Meinung mitgeteilt, den Gründern des britischen Reiches sei, verglichen mit den Gründern anderer Reiche, eher ein besseres als ein schlechteres Zeugnis zu geben; namentlich das spanische sei noch ungleich mehr mit Grausamkeit und Raubgier befleckt. Und: die Verbrechen jener seien derart, wie sie beinahe allgemein gewesen sind in der Kolonialgeschichte. Ich habe dies nicht etwa bezweifelt. Ich habe nur hinzugefügt: „Vermutlich werden Spanier, Franzosen, Holländer zu einem etwas anderen Ergebnis der Abwägung dieser Verbrechen gegeneinander gelangen." Der Kritiker wird mir zugeben, daß diese Bemerkung psychologisch begründet ist. Ich selber enthalte mich des Urteils. Selbst wenn ich Historiker von Fach wäre und ein Urteil darüber für mich in Anspruch nähme, so würde ich nicht glauben, daß die Untersuchung, welche Nation die „größeren" Verbrechen begangen habe, erheblichen Wert haben könne. Der Kritiker glaubt an meine Absicht, daß ich den Nationalhaß nicht schüren wolle; aber die tatsächliche Wirkung (so meint er offenbar) werde auf zahlreiche Leser doch so sein, als ob ich es gewollt hätte. Ich 21 (S. 20): Hier S. 40.

[Englische Weltpolitik]

513

verweise den Kritiker auf die (ihm natürlich wohlbekannten) Worte, mit denen Marx „zur Vermeidung englischer Mißverständnisse" sich darüber erklärt, daß er „die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer keineswegs in rosigem Licht zeichne". 5 Endlich vermißt der Kritiker die Verallgemeinerung (auch in anderen Hinsichten als in bezug auf Kolonialpolitik). Was ich aus Seeley anführe über die Zusammenhänge von Krieg und Handel, ist schlechthin allgemein. Mich wundert nur, daß der Kritiker die darin enthaltene Bestätigung einer vielberufenen „Geschichtsauffassung" nicht bemerkt zu ha10 ben scheint. Uebrigens aber wollte und mußte ich mich an mein Thema halten. Mein Thema war „England". Gerade weil ich viele redlich denkende Engländer kenne und achte, weil ich überzeugt hin, daß viele ganz ehrlich an die sittlichen Beweggründe der englischen Politik glauben, so habe ich die Frage aufgeworfen: „Was sagt die Geschichte, was sagt eure 15 eigene Geschichtsschreibung dazu?"

2 „zur

Vermeidung

englischer

Mißverständnisse":

Im V o r w o r t zur ersten Auflage des

„ K a p i t a l " spricht M a r x (1867: XI) von der „Vermeidung möglicher M i ß v e r s t ä n d n i s s e " .

Adolf Wagner Zum 80. Geburtstag (25. März 1915) Daß hervorragende Gelehrte und Denker ein hohes Alter erreichen und in ihrem hohen Alter noch forschen und denken, schaffen und wirken, ist nicht ein ganz seltenes Ereignis. Man hat zu vermuten gewagt, daß ein wohlgebautes, kräftiges Gehirn zuweilen auf die übrigen Lebensorgane gesunderhaltend zurückwirke, wie denn Wechselwirkung zwischen den Teilen wesentliches Merkmal der Lebewesen ist. Ein hohes Alter! Wie merkwürdig erscheint es gerade heute, da wieder einmal die „Zeit", oder sollen wir sagen, das Völkerschicksal, auf einen Höhepunkt gelangt ist, von dem aus wir in weite Ferne vergangener Jahre zurückzuschauen uns aufgefordert fühlen, in ebenso weite Ferne zukünftiger vorauszublicken wünschen! Wer die letzten 50 Jahre, von Anfang her schon als gereifter Mann, erlebt hat, in Deutschland durchlebt hat, wer sogar diese ganze Zeit hindurch tätigen Anteil genommen hat, beobachtend, denkend, schreibend und redend, der ist schon dadurch selber ein Stück lebender Geschichte und wird uns an dieser großen Weltwende ehrwürdig als Zeuge und als Herold. Adolf Wagner gehört noch jener Generation an, die in ihren Knabenjahren den Untergang des vormärzlichen deutschen Wesens, die Schneeschmelze, die als Völkerfrühling gepriesen wurde, aber auch den herben Nachwinter der Reaktionszeit empfunden und gespürt hat. Gleich der Jugend von 1815, strebte die der fünfziger Jahre nach der deutschen Einheit, so sehr sie auch uneinig und zumeist unklar war über Möglichkeit und Mittel, sie zu erreichen. Alle standen unter dem lebendigen Einfluß der nationalen Bewegung, die am Feuer der deutschen Burschenschaft — sie wollte in diesem Jahre ihr Jubelfest begehen — sich entzündet hatte, und von deren Herden fortwährend ernährt wurde. Auch Wagner ist in seiner Gesinnung immer ein typischer Deutscher gewesen, und in seines Wesens Art ein echter Süddeutscher, seiner fränkischen Herkunft gemäß, wenn auch der Professorensohn in akademischer Luft der i Adolf Wagner: Zuerst in: Kieler Zeitung vom 25. 3. 1915, Nr. 141, Morgenblatt, S. 2 - 3 , Kiel.

Adolf Wagner

515

Georgia Augusta aufgewachsen ist. Es war wohl ein Zufall, der ihn das erste Feld für seine reiche Tätigkeit in Wien finden ließ, wo er 1858 — 1863 in der Handelsakademie gewirkt hat; aber zum Teil mochte es daher kommen, daß er, wenn auch nicht im eigentlich politischen Sinne, ein „Großdeutscher" geblieben ist. Die Trennung zwischen Reich und Oesterreich hat er zwar als ein notwendiges Schicksal, aber doch mit tiefem Schmerz empfunden und mußte daher das neue Bündnis, vollends dessen Bewährung in gemeinsamer Not, die Waffenbrüderschaft unserer Tage, mit wahrer Genugtuung begrüßen. Wagner wirkt nun seit 45 Jahren in der Reichshauptstadt. Kurz vor Ausbruch des damaligen großen Krieges war er dahin berufen. Vorher hatte er das Wanderleben des deutschen Professors geführt. Von Wien nach Homburg, nach Dorpat, nach Freiburg i. B., überall energisch tätig, erfolgreich, einflußreich, in Berlin allmählich als Fixstern erster Größe in die sich erweiternde Welt ausstrahlend. Und doch nicht eigentlich als Schulhaupt. Die ruhige Beflissenheit und Werbesinnigkeit, die dazugehört, „Schule zu machen", ist nicht seine Sache. Er ist zu sehr Mann des Temperaments, der leidenschaftlichen Ueberzeugung, der deduktiven Logik und Lehre, Politiker und Reformator — das alles freilich auf dem tiefen und sicheren Grunde eines überwältigenden Wissens, eines unermeßlichen, restlosen Fleißes, einer vollkommenen Hingebung an die Sachen. Das sind durchaus bedeutende Eigenschaften, die ihrer Wirkung auf den Zuhörer vielleicht noch mehr als auf den Leser gewiß sind — und nach Zehntausenden mag wohl die Zahl seiner Zuhörer zählen: fast alle Staatsmänner und Diplomaten, die im letzten Menschenalter zu erheblicher Geltung gelangten, dürften dazu gehören. Man wird fragen, ob nicht etwas Widersprechendes darin gegeben sei: Leidenschaftliche Ueberzeugung, deduktive Logik und Lehre? Der lebendige Mensch ist immer die Einheit von Widersprüchen; das vereinigende Band ist der Geist, das Temperament und der Charakter — die intellektuelle und moralische Persönlichkeit. J e stärker diese, um so vollkommener die Einheit. Wagner ist vor allem eine starke Persönlichkeit, ein ganzer Mann. Das emsige Denken und Grübeln über schwere, vielleicht unlösbare Probleme ist im allgemeinen ebenso wenig nach dem Geschmack künstlerisch gestimmter, sinnlich weicher Naturen, wie das geduldige, mühsame, trockene Forschen, das Arbeiten mit langen Zahlenreihen, das behutsame Tasten im Dunkel oder Dämmerlichte. Und doch gehört zum ii großen

Krieges:

Gemeint ist der Deutsch-Französische Krieg 1870/71.

516

Schriften

Gelingen im Forschen und Denken auch so etwas wie ein künstlerischer Sinn und Geist und eine intuitive Kraft, die man oft als Genialität erkannt und gefeiert hat; vor allem der heftige Drang und Enthusiasmus des

Erkennenwollenden.

Wagner ist von der Statistik ausgegangen. Er wandelt in den Spuren Quetelets, um „die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar freiwilligen Handlungen der Menschen" festzustellen (1864). Leider ist dies selten gewordene Werk nicht über eine Untersuchung der Trauungen und der Selbstmorde in verschiedenen Ländern hinausgekommen. Studien dieser Art haben, aus Ursachen, die leicht erkennbar sind, nur ein kleines Publikum. Adolf Wagners großer Ruf wurde zunächst durch seine Arbeiten über Finanzwesen begründet, die von der Peelschen Bankakte ausgehend (über die seine Göttinger Doktor-Dissertation von 1853 handelte) in dem großen System der „Finanzwissenschaft" gipfelten, das von den Grundbegriffen bis zur Steuergeschichte, von 1877 bis in unsere Tage, zum Teil in neuen Auflagen, eines der unentbehrlichen Handbücher für den theoretischen und praktischen Politiker geworden ist. Diesen starken Faden hat der rüstige Gelehrte also von Jugend auf bis ins Greisenalter gesponnen, und hatte eben, im vorigen schwülen Sommer den größeren Teil einer Neuauflage des ersten Bandes in Arbeit, als sein Assistent Herr

6 Spuren Quetelets: Das angesprochene Werk Wagners heißt „Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen vom Standpunkt der Statistik aus" (1864). In dieser Schrift bezieht sich Wagner vor allem auf Quetelets Schriften „Sur l'homme et le dévelopement de ses facultés, ou essai de physique sociale", 2tome 1835; sowie auf „Du système social et des lois qui le régissent", 1848 (vgl. Wagner, 1864: 50 f.). 12 Finanzwesen: Siehe von Wagner u. a.: „Beiträge zur Lehre von den Banken" (1857); „Die Ordnung des österreichischen Staatshaushaltes, mit besonderer Rücksicht auf den Ausgabeetat und die Staatsschuld" (1863); verschiedene Artikel in: „Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre", bearb. v. H. Rentzsch (1866); „System der deutschen Zettelbankgesetzgebung unter Vergleich mit den ausländischen. Zugleich ein Handbuch des Zettelbankwesens", 2 Abt. (1870, 1873); „Raus Lehrbuch der Finanzwissenschaft" (mehrere Ausgaben); „Deutsches Reichsfinanzwesen" (1872); „Finanzwissenschaft" (Grundlegung der Politischen Ökonomie) (mehrere Ausgaben). Vgl. Wagners Buch „Die Geld- und Credittheorie der Peel'schen Bankacte" 1862. — Die Bankakte wurde 1844 durch die Regierung Robert Peel verabschiedet. Sie basierte auf der sog. Currencytheorie, nach der die gleichmäßige Ab- und Zunahme des

12 Bankakte:

Barvorrates als Kriterium der Bewegungen einer metallischen Zirkulation entscheidend sei. Die Einlösbarkeit von Banknoten durch die Bank von England sollte verbürgt werden.

Adolf Wagner

517

Dr. Breithaupt, einberufen wurde, der heute von seiner schweren Kopfwunde noch nicht genügend wiederhergestellt ist, um seine Tätigkeit wieder aufzunehmen. M ö g e er recht bald dazu imstande sein! Da der greise Gelehrte leider im Genüsse seines Augenlichts beschränkt ist, so kann er der Hülfe beim Lesen und Schreiben nicht entraten. Wenn es nun bei der „Finanz" sich um Dinge und Fragen handelt, die wenigstens so alt sind wie der moderne Staat, so haben die Zeitbewegungen, die während der letzten 4 0 Jahre, mehr als zuvor, das Gebäude der bürgerlichen Gesellschaft erschüttern, den Theoretiker Wagner in eine andere Richtung gedrängt. Die soziale Frage hat an sein Gemüt und an seinen Verstand sich gewandt. Sie hat in dem Schüler Reu's und dem Freihändler alten Stils eine vollkommene Umwälzung seiner Gedankenwelt hervorgerufen. Ein einzelner Mann, der seine einsamen Wege unerschrocken und durchdringend suchte, hat mächtig dazu geholfen: der pommersche Gutsbesitzer Karl Rodbertus, „den er sehr verehrt, ohne seine sozialistischen Doktrinen anzunehmen", so heißt es im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (3. Auflage, Band 8, S. 531). Es ist richtig: einfach an- und aufgenommen hat er sie nicht, er hat sie mit anderen, auch den Marxischen Lehren zusammen, gründlich geprüft und nicht ohne Skepsis, mannigfach verarbeitet, immer von dem Wunsche beseelt, zu vermitteln „zwischen Individualismus und Sozialismus" und auf die Gesetzgebung unmittelbar in einem Sinne zu wirken, der den gerechten Ansprüchen der Arbeit gerecht werde und die Schäden, die der Kapitalismus mit sich bringe, energisch beschneide. In dieser Absicht hat Wagner als neue „Grundlegung" der Nationalökonomie vorzugsweise die inneren Zusammenhänge von Volkswirtschaft und Recht sich angelegen sein lassen, und ist — der politisch konservative Mann — als Haupttheoretiker des „Staatssozialismus" vorzüglich durch eine radikale Theorie und Kritik des Privateigentums berühmt und für manche ein wenig verdächtig geworden. Die Verbindung zwischen diesen Lehren und der Finanzwissenschaft stellt Wagners Forderung einer sozial wirksamen Steuerpolitik dar. Entschiedenstes Eintreten für Ausdehnung der Erbschaftssteuer,

i Breithaupt:

Georg Wolfgang Breithaupt hatte 1915 bei Adolph Wagner in Berlin zum

Dr. phil. promoviert. Der Titel seiner Dissertation lautet: „Das öffentliche Armenrecht in Preussen und dem Reich". 10 soziale

Frage: Vgl. Wagner, 1871.

11 Schüler 15 sehr

Reu's: Korrekt: Rau's.

verehrt:

Vgl. den Art. im Handwörterbuch der Staatswissenschaften „Wagner,

Adolph Heinrich Gotthilf" (Red.), 1911, S. 5 2 9 - 5 3 6 .

518

Schriften

wie insbesondere für eine Reichserbschaftssteuer, bedeutete und bewirkte einen starken Gegensatz gegen seine konservativen „Parteifreunde", wie denn auch sonst seine scharfe Polemik am schärfsten gegen „rechtsstehende" Sozialpolitiker und Anti-Sozialpolitiker, wie weiland Freiherrn von Stumm, sich zu wenden Veranlassung gehabt hat. 5 Für den Mann, der so mitten im großen Strom des sozialen und politischen Lebens steht, ist es wichtig, und es wird für die Allgemeinheit von hohem Wert sein, daß er noch rüstig und tätig an der Neugestaltung des Gemeinwesens teilnehmen wird, die der Friede notwendig im Gefolge haben muß. Dies haben wir nicht nur innig zu wünschen alle Ursache, 10 sondern auch zu hoffen gerechten Grund.

5 Freiherrn

von Stumm:

Vgl. Wagners Polemik „Mein Konflikt mit dem Freiherrn von

S t u m m " (Aufsätze aus der ,¡Zukunft", mit Erweiterungen), 1895.

Wie viele Einwohner hatte das Deutsche Reich am 1. Januar 1915, wie viele wird es am Ende des zweiten Kriegsjahres zählen? Nach der letzten Volkszählung (vom 1. Dezember 1910) war die ortsanwesende Bevölkerung des Reiches 64 925 993 Köpfe stark. Sie hatte von 1900—1910 durchschnittlich jährlich um 1 , 4 1 % zugenommen: dies ist aber nicht der Durchschnitt der Gesamtzunahme, sondern gleichsam der Zinsfuß, dessen Ertrag in jedem Jahre zum Kapital geschlagen wurde. Wenn dieses relative Wachstum sich unverändert fortgesetzt hätte, so wäre die Volkszahl

im zweiten



im dritten



(bis 1. Dezember 1911) um ungefähr 915 530, (bis 1. Dezember 1912) 928 350, (bis 1. Dezember 1913) „ 941450,

im vierten



(bis 1. Dezember 1914)

im ersten folgenden Jahre

954760

Köpfe gewachsen, dazu wären noch gekommen für den Monat Dezember 1914 ungefähr 76 000. So würde sich eine Einwohnerzahl von 68 7 4 2 090 für den 1. Januar 1915 ergeben. Wäre der Zustand des Friedens geblieben, so hätten wir diese Zahl nur wenig zu vermindern nötig gehabt, um der Wirklichkeit recht nahe zu kommen. Eine Verminderung wäre auch dann nötig gewesen, weil die Rate der Vermehrung in den letzten 4 Jahren etwas geringer gewesen sein wird als im vorausgehenden Jahrzehnt; denn der Überschuß der Geborenen über die Gestorbenen, der im Durchschnitte dieses Jahrzehntes auf 1000 Einwohner 14,3 betragen hatte, war im Jahre 1911 nur 11,3, 1912 12,7. An diesem Rückgang ist natürlich der vielerörterte Geburtenrückgang mitschuldig. Für 1911 aber vorzugsweise die durch den heißen Sommer erhöhte Sterblichkeit des Jahres. Die Vermehrung der gesamten Volksmenge wird aber außer durch jenen Überschuß noch durch das Mehr oder Weniger der Aus- und Eini Wieviele

Einwohner

hatte das Deutsche

Reich am 1. Januar

1915: Zuerst in: Weltwirt-

schaftliches Archiv, 1915, 1, Bd. 5 (Chronik + Archivalien), S. 3 7 4 - 3 7 9 , Jena (Fischer).

520

Schriften

Wanderung bewirkt. Im normalen Verlaufe konnte man aber dies Verhältnis, den Ergebnissen der letzten Volkszählungen gemäß, beinahe außer acht lassen. Nachdem die überseeische Auswanderung unbedeutend geworden ist (ca. 25 000 jährlich) gleichen sich Ein- und Auswanderung ungefähr aus: das Jahrfünft 1905/10 ergab durchschnittlich jährlich einen Wanderungsverlust von 0,5 auf 1000 oder etwa 30 000 insgesamt, beide vorhergehende Jahrfünfte aber einen Gewinn durch Wanderungen von 0,3 und 0,2 oder von etwa 12—16 000. Die letzten Jahre haben bei überwiegend günstiger Konjunktur wieder einen so starken Zuzug ausländischer Arbeiter und auch stark vermehrten Reiseverkehr mit sich gebracht, so daß man bei Annahme eines Gleichgewichts zwischen Zunahme und Abnahme durch diesen Faktor der Wahrheit sehr nahe kommen dürfte. Daher wird sich die wirkliche Zahl der Bevölkerung für einen Zeitpunkt vor Ausbruch des Krieges, also am nächsten für den 1. August 1914, auch durch Hinzufügung der Überschüsse der Geborenen über die Gestorbenen hinlänglich genau berechnen lassen. Von diesen Zahlen müssen die letzten selbst berechnet werden, weil sie in dem Augenblicke da dies geschrieben wird, fürs Deutsches Reich noch nicht bekannt geworden sind 1 . Wohl aber sind sie für 1913 und das erste Vierteljahr 1914 bekannt, soweit sie sich auf Preußen beziehen, und die genannten Überschüsse für Preußen verhielten sich zu denen fürs Deutsche Reich: 1 9 0 8 wie 6 5 5

1 9 1 1 wie 6 6 5

1909

»

651

1912

1910

"

661

zu Tausend.

»

654

Wir werden daher der Wahrheit nahe kommen, wenn wir folgern, daß dies Verhältnis für 1913 und die ersten 7 Monate von 1914 etwa 658 — der Durchschnitt jener 5 Verhältnisse — gewesen sei. Nun ist aber für 1914 die Bewegung der Bevölkerung auch in Preußen nur für das erste Quartal bekannt. Für die folgenden 4 Monate muß auch sie errechnet werden. Wir können sie natürlich ebensogut fürs Deutsche Reich direkt errechnen. Der Überschuß der Geborenen über die Gestorbenen ist regelmäßig etwas größer im zweiten als im ersten Quartal (weil die Winter1

Sie werden sonst im D e z e m b e r jeden J a h r e s für das vorausgegangene J a h r , zuerst im „Reichsanzeiger", dann im vierten Vierteljahrsheft der Statistik des D . R . b e k a n n t gem a c h t . D u r c h den Krieg ist dies verzögert worden und (wenn ich nicht irre) bis heute (22. Februar 1915) nicht geschehen.

Wie viele Einwohner hatte das Deutsche Reich am 1. Januar 1915

521

Sterblichkeit ihn drückt) und zwar ungefähr im Verhältnis von 103 : 100. Da nun in Preußen der Überschuß des ersten Quartals 1914 127368 betrug, so dürfen wir ihn für das zweite Quartal auf 131132 schätzen; derjenige des Monats Juli ist aber regelmäßig erheblich größer (ungefähr im Verhältnis von 115 : 100) als der Durchschnitt der vorhergehenden 6 Monate (weil die Gesamtsterblichkeit geringer wird, trotz des Steigens der Säuglingssterblichkeit). Für Preußen betrug aber der Überschuß 1913 550764, 1914 im ersten Vierteljahr 127 368, für das zweite Vierteljahr schätzen wir ihn auf 131132 und für den Monat Juli auf rund 50000; für die ersten 7 Monate ergibt sich die Summe von 308 500. Werden die entsprechenden Zahlen fürs Deutsche Reich nach dem Verhältnis 658 : 1000 berechnet, so kommt diejenige für 1913 auf 836 990, für die ersten 7 Monate 1914 auf 468 966. Es ist dann folgende Summe zu ziehen: Überschuß der Geborenen über die Gestorbenen im Deutschen Reich: Dezember 1910 1911 1912 1913 Januar bis Juli 1914 Summa =

71216 739945 839 887 836990 468 966 2951004

Diese Summe zum Ergebnis der Volkszählung des 1. Dezember 1910 hinzugefügt, ergibt für den 1. August 1914 die Zahl 67 882 997. Indessen wird diese Zahl für den Termin des Hochsommers noch etwas zu erhöhen sein. Wenn wir im allgemeinen annehmen, daß Ein- und Auswanderung während der letzten Jahre einander die Wage gehalten haben, so wird doch für den Sommer — besonders die Erntezeit — eine Mehreinwanderung ausländischer Arbeiter anzunehmen sein. Vermutlich empfängt auch das Deutsche Reich mehr Vergnügungs- und besonders Badereisende vom Auslande, als es dem Auslande in der Reisesaison abgibt. Wenn wir daher für den 1. August eine runde Zahl von 68 Millionen Einwohner annehmen, so dürfte diese nicht zu hoch geschätzt sein. Durch unsere Volkszählungen wird alle 5 Jahre die Zahl der „ortsanwesenden" Volksmenge ermittelt. Um also mitgezählt zu werden, muß ein Deutscher sich in der kritischen Nacht (in der Regel 30. November bis 1. Dezember) innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches befinden, und alle Nichtdeutschen werden mitgezählt, wenn sie dieser Anforderung Genüge tun.

522

Schriften

Gerade in diesen Beziehungen haben nun seit dem 1. August 1914 ungeheure Veränderungen stattgefunden. Nur mit ziemlich entfernten Schätzungen können wir ihren Umfang ermessen. In runden Zahlen gesprochen, mögen etwa 3'/2 Millionen Individuen das Reichsgebiet verlassen haben, darunter etwa 3'A Millionen zum Heereskörper (wenigstens mittelbar) gehörige, die übrigen als Ausländer, die in ihr Heimatland einberufen wurden oder geflohen sind usw. Dazu kommen Gefangene, die auf deutschem Boden gemacht und in ausländisches Gebiet überführt worden sind; deren Zahl ist aber nicht so groß, daß sie nicht in der genannten Zahl einbegriffen gedacht werden könnte. Dieser Verminderung steht nun ein Zuwachs gegenüber, der sich zusammensetzt 1. aus denen, die als Verwundete, Kranke, als Heerespflichtige, Kriegsfreiwillige usw. auf deutschen Boden zurückgekehrt sind, 2. aus den etwa 6 0 0 0 0 0 Kriegsgefangenen, die in deutschem Gewahrsam sich befinden, 3. aus den feindlichen Truppen die noch auf deutschem Boden stehen. Von allen drei Kategorien sind diejenigen abzuziehen, die inzwischen verstorben sind; von der ersten auch, die inzwischen wieder, oder überhaupt erst, als Soldaten die Grenzen überschritten haben. Die Gesamtsumme darf auf rund 1 Million geschätzt werden. Demnach hätte die Gesamtzahl der „Einwohner" eine Verminderung um V/T. Million erlitten. Hinzu käme aber wiederum der Uberschuß der Geborenen über die Gestorbenen vom 1. August bis 31. Dezember, wenn es einen solchen gegeben hätte. Die Zahl der Geborenen ist durch den Krieg noch nicht beeinflußt, außer insofern als die Zahl der Fehlgeburten durch die Aufregungen und Gemütsbewegungen

der letzten Monate vermehrt

sein

dürfte. Da nun ohnehin der Rückgang der Geburten noch anhält, so wird die Gesamtzahl der Neugeborenen diejenige kaum übertroffen haben, die zwei Jahre früher in diesen Monaten das Licht der Welt erblickt hat — das sind rund 7 9 2 0 0 0 . Diesen stehen nun die Gestorbenen gegenüber, die jedenfalls erheblich vermehrt zu denken sind, obschon die außerhalb Landes Gefallenen und sonst Verstorbenen nicht eingerechnet werden dürfen. Auch innerhalb der Landesgrenzen sind viele gefallen und sonst infolge des Krieges gestorben; die Verminderung der vorher eingeführten Kriegsgefangenen durch den Tod gehört auch dazu. Überdies wird die Säuglingssterblichkeit die immer einen so großen Teil (ca. 30 % ) der allgemeinen Sterblichkeit ausmacht, eher höher als weniger hoch, infolge des Krieges, gewesen sein; ohnehin wird das warme Wetter des Augustmonates sie gesteigert haben. Man wird daher nicht allzu weit von der Wirklichkeit sich entfernen, wenn man für diese 5 Monate einen

Wie viele Einwohner hatte das Deutsche Reich am 1. Januar 1915

523

Überschuß der Gestorbenen von wenigstens 100 000 ansetzt. — Demnach hätte im ganzen die Volkszahl seit dem 1. August eine Verminderung um 2,6 Millionen erlitten, wäre also am 1. Januar 1915 auf 65,4 Millionen zurückgesunken, d. i. ungefähr auf den Stand, den sie um die Mitte des Jahres 1911 gehabt hat. Ganz anders wäre freilich das Ergebnis, wenn der Begriff der Solloder rechtlichen Bevölkerung wiederaufgenommen würde, der bei den deutschen Volkszählungen völlig aufgegeben, bei den französischen (population légale) noch festgehalten wird. In Zeiten, wie der gegenwärtigen, klaffen die beiden Begriffe — Wohnbevölkerung und ortsanwesende, rechtliche und faktische Bevölkerung — sehr weit auseinander. Ideell gehören die in Feindeslanden kämpfenden Brüder in ganz besonderem Sinne zu uns, und die ungebetenen gefangenen Gäste oder gar Invasionstruppen ganz und gar nicht zu uns. Wenn wir den Überschuß jener auf etwa 2 V* Millionen, gemäß den früheren Schätzungen, setzen, wobei die Verstorbenen, aber nicht die als Gefangene in Feindeslanden befindlichen, abgesetzt werden, so wäre die in diesem Sinne reelle Volksmenge des Deutschen Reiches wieder auf 67,6 Millionen erhöht. Dabei ist, ebenso wie bei den früheren Schätzungen, wo es sich um den Abzug handelte, nicht gerechnet, daß die Zahl der Truppen durch Einziehung und freiwillige Stellung von Deutschen, die im Auslande ihren Wohnsitz hatten oder vorübergehend sich aufhielten, vermehrt worden ist, vermutlich um wenigstens 'A Million. So käme die Gesamtzahl doch wieder auf beinahe 68 Millionen Wohnbevölkerung, wenn diese Heimgekehrten dazu geschlagen werden. Das Ergebnis der „Bewegung" dieser Wohnbevölkerung im laufenden Jahre 1915 wird nun freilich — selbst wenn der Krieg nicht über die Mitte des Jahres hinaus dauern sollte — sehr ungünstig sein. Die Zahl der Geborenen wird von Monat Mai an sich außerordentlich stark vermindern. Wenn auch die Kriegstrauungen im August und darüber hinaus zahlreich gewesen sind, so wird doch die Zahl der aus diesen jungen Ehen hervorgehenden Kinder nicht sehr groß sein; ein erheblicher Teil dieser Ehen wird nur Kinder legitimieren, die schon vorher erzeugt waren, also auch ohne diese Eheschließungen geboren wären. Dagegen wird die Zahl der Todesfälle, zumal wenn sie auf jenen außer Landes befindlichen Teil mitbezogen wird, eine sehr starke Vermehrung aufweisen. Das Ergebnis zu schätzen, hat kaum einen Wert, weil es zu unsicher ist. Zu berücksichtigen wäre, daß die Minderzahl der Geborenen auch die Todesfälle vermindert, weil die Neugeborenen in so hohem Grade zur

524

Schriften

Sterblichkeit beitragen. Wenn die Verminderung der Geborenen — nach Analogie von 1871 — auf mindestens 10 % zu schätzen sein wird, so daß die Gesamtzahl etwa 1,7 Millionen betragen wird, so wird auch die Zahl der als Säuglinge Sterbenden wenigstens 10 % weniger betragen, also gegen ca. 280 000, die für 1914 anzusetzen wären, etwa nur 250 000. Bei Berechnung der leider zu erwartenden Sterblichkeit der in den Altersklassen 17—45 stehenden Männer ist ferner zu erwägen, daß diese Altersklassen auch sonst etwa 80 000 zur Gesamtzahl der Verstorbenen eines Jahres beitragen. Wenn nun der Krieg das ganze Jahr hindurch währen und die Kriegssterblichkeit durch Wunden, Krankheiten, Ertrinken usw. etwa in der bisherigen Stärke sich erhalten sollte — wir dürfen aber hoffen, daß sie relativ geringer sein wird, wenn auch wiederum zu fürchten ist, daß die Krankheiten als Todesursachen der Soldaten im Sommer zunehmen — so würden jene Altersklassen eine Gesamtsterblichkeit von 370 000, also eine Mehrsterblichkeit von etwa 290 000 aufweisen. Wenn dagegen die verringerte Zahl der gestorbenen Säuglinge mit 30 000 in Anschlag gebracht wird, so wäre anzunehmen, daß die Gesamtzahl der Verstorbenen um etwa 260 000 größer würde, als sie sonst sich stellte, wenn wir sie gemäß der Sterblichkeitsrate der letzten Jahre auf 18 Promille schätzen. Es kämen dann auf 68 Millionen etwa 1200000, also würde die Gesamtzahl durch die Opfer des Krieges auf 1460 000 anschwellen, oder auf etwa 21,5 Promille, eine Höhe der Gesamtsterblichkeit, die noch im ersten Jahrfünft des Jahrhunderts im Deutschen Reiche geltend war; das Mehr fiel freilich vorzugsweise auf die Säuglinge, deren Sterblichkeit teils als Folge des Rückganges der Geburten, teils aus anderen Ursachen seit dem Anfange des Jahrhunderts sich vermindert hat; während die Sterblichkeit der Erwachsenen auch vorher schon allmählich geringer geworden ist. — Immerhin würde, nach dieser Rechnung, auch das Jahr 1915 noch einen Überschuß der Geborenen, also einen Nettogewinn von etwa 240 000 Köpfen erreichen. Wenn wir also der Hoffnung uns hingeben, daß am Schlüsse des Jahres 1915 die Krieger — mit Einschluß der Kriegsgefangenen, soweit sie dann noch leben, aber mit Ausnahme etwa von Okkupationsarmeen — heimgekehrt, alle unwillkommenen Fremden aber hinausgeworfen sein werden, so wird alsdann die ortsanwesende Volksmenge immerhin nur wenig hinter 68 Millionen zurückbleiben, die sich freilich nach Geschlecht und Alter etwas anders gliedern werden als die ca. 65 Millionen, die 5 Jahre früher vorhanden waren.

Wie viele E i n w o h n e r h a t t e das D e u t s c h e Reich a m 1. J a n u a r 1915

525

Nachtrag: Während die Revision des Satzes dem Verfasser vorliegt, ist das 4. Vierteljahrsheft zur Stat. d. D. R. erschienen. Es betrug danach der Überschuß der Geborenen über die Gestorbenen 1913: 833 800, ist also oben um 3190 zu hoch geschätzt worden. Auch ist Heft 2 der (preu5 ßischen) Medizinalstatistischen Nachrichten erschienen. Danach betrug der Überschuß in Preußen für das 2. Quartal 1914: 138 167, ist also oben um 7035 zu niedrig geschätzt worden. („Aus Ostpreußen sind zwar infolge des Kriegsausbruchs von einer Anzahl von Standesämtern die dieser Statistik zugrunde liegenden Zählkarten nicht eingegangen, doch 10 ist der Ausfall nicht so erheblich, daß er für die Staatsziffern merklich ins Gewicht fällt".) Auf das Reich, mit dem Verhältnis 658 : 1000 berechnet, ergibt sich 479 529 oder 10563 mehr als oben angegeben. Die obige Summe wäre also noch um 3528 (10 563 — 5035) zu erhöhen.

2 4. Vierteljahrsheft:

Tönnies bezieht sich auf den Artikel „Bewegung der Bevölkerung

(Eheschließungen, G e b u r t e n u n d Sterbefälle) im J a h r e 1913", in: Viertel)ahrshefte zur Statistik des D e u t s c h e n Reichs, hgg. v. Kaiserlichen Statistischen A m t e , 23. Jg., 1914b, H . 4, S. 3 1 - 3 7 . 4 Heft 2: „Medizinstatistische N a c h r i c h t e n " , im A u f t r a g des H e r r n Minister des I n n e r n , hgg. v. Königlichen Preußischen Statistischen L a n d e s a m t s , 6. Jg., 1914/15, H . 2, S. 301, Berlin 1915.

An die Eheleute Webb Offener Brief an die Herausgeber des „New

Statesman"

Geehrte! In der Nummer des „New Statesman" vom 15. Mai werfen Sie die Frage auf, welche die wahren Beweggründe der Versenkung der „Lusitania" seien; die offizielle Rechtfertigung des „Verbrechens" werfe wenig Licht darauf. An der Antwort, die Sie dann erteilen, wundert mich nur eins: daß Sie nicht auf den Gedanken gekommen sind, die wahre Absicht sei gewesen, englische Schriftsteller, die bis dahin noch leidlich vernünftig waren, um den Verstand zu bringen. Wenn dies wirklich die Absicht gewesen wäre, so könnten die Urheber der Kriegstat sich rühmen, daß ihre Absicht erreicht sei. Unter dem Titel „Die Pflicht der Alliierten" schreibt einer der Autoren in Ihrer früher so gescheiten Wochenschrift so vollendeten Unsinn, daß ich zweifle, ob ein neutraler Irrenarzt nicht glauben würde, es handle sich um einen törichten Scherz, anstatt einem in Freiheit befindlichen Geisteskranken zuzutrauen, daß er es im Ernste geschrieben habe. Daß dieser Schriftsteller erklärt, die Behauptung, daß dieser Krieg ein Ringen der Zivilisation versus Barbarei, sei jetzt durch „Uebereinstimmung der Welt" zu einer Trivialität (truism) erhoben, ist noch das geringi An die Eheleute Webb: Zuerst in: Vossische Zeitung vom 20. 6. 1915, 4. Beilage, S. 1 — 2, Berlin. Die englische Fassung erschien unter dem Titel: A German Defence of the Lusitania Crime. To the Editor of the New Statesman, in: The New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature vom 26. Juni 1915, vol. 5, Nr. 116, S. 2 6 9 - 2 7 1 . Die Redaktion der „Vossischen Zeitung" hat den Text Tönnies' wie folgt eingeführt: „Der ,New Statesman' ist eine Londoner Wochenschrift, die seit April 1913 als Organ der wissenschaftlich-sozialistischen Fabier-Gesellschaft erscheint. Ihre Leiter sind Herr Sidney und Frau Beatrice Webb, deren wertvolle sozialpolitische Schriften auch in deutschen Uebersetzungen weithin bekannt geworden sind. Z u den Spitzen der Zeitschrift gehört auch der Dichter Bernard Shaw, der als geborener Ire seinen britischen Freunden auch über den Krieg so recht unangenehme Wahrheiten gesagt hat. Der ,New Statesman' hat rasch einen hohen Rang in der öffentlichen Geltung gewonnen und ist dessen wert." Vgl. auch den Editorischen Bericht, S. 708 f.

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ste. Der ekelhafte Cant, womit dann fortgefahren wird: „Aus diesen Erwägungen ergibt sich eine Schlußfolgerung, die viele Leute, wir (der Geisteskranke) eingeschlossen, uns lange sehr gesträubt haben, anzuerkennen, aber sie scheint unausweichlich: nämlich, daß am Ende dieses Krieges Deutschland aufhören muß, zu existieren" — dieser Cant ist einem Manne, der „in his senses" ist, nicht zuzutrauen. Ich will die vernünftigen Leser dieses Schreibens nicht mit den ebenso langweiligen wie einfältigen Einzelheiten aufhalten, in denen die freundliche Gesinnung näher begründet und ausgeführt wird. Sie haben allerdings nur psychiatrisches Interesse und sind keiner Widerlegung wert. Daß aber der „New Statesman" diesen Artikel an hervorragender Stelle druckt, läßt leider vermuten, daß auch in der Redaktion eine gewisse Störung eingetreten ist, und das ist kein Wunder. Wir alle leiden im Gemüte unter den Erfahrungen dieses Krieges. Daß auch Nichtkämpfer in jedem Kriege — mittelbar und unmittelbar — an Leben, Gesundheit, Vermögen vielfachen Schaden erleiden, ist nichts Neues, aber es wirkt immer wieder tief erschütternd, so oft es uns nahe tritt. Niemanden kann es überraschen, daß, wer sich in das Gebiet eines Seekrieges begibt, Gefahr läuft, sein Leben zu verlieren; warum sollte in dieser Hinsicht der Seekrieg vom Landkriege sich unterscheiden? Daß die Agentur der Cunard-Linie Hunderte von Passagieren in ein Schiff aufnahm, das mit 5400 Kisten Munition beladen war, sie aufnahm, obgleich öffentlich davor gewarnt worden war, obgleich sie wußte, daß Unterseeboote nicht in der Lage sind, Schiffe, die Konterbande führen, in einen Hafen zu bringen, daß sie also nach Kriegsrecht sie zu zerstören befugt sind — das mögen die amerikanischen Passagiere und ihre Hinterbliebenen ebenso mit der Cunard-Linie ausmachen, die Uebertretung des amerikanischen Gesetzes, das verbietet, Explosivstoffe und Passagiere zusammen an Bord zu führen! — Bedauern und beklagen werden wir die Unglücklichen immer — darüber sind keine Worte zu verlieren, wer Mitgefühl hat, hegt es lieber im stillen. Ich für meine Person lasse sogar, angesichts einer so furchtbaren Katastrophe, lieber die Vorwürfe schweigen, die ohne Zweifel auch diejenigen verdient haben, die des Unterseeboot-Krieges, die insbesondere der Gefahr für die „Lusitania" zu spotten sich angelegen sein ließen: das waren sehr bekannte englische Zeitungen, wohl auch englische Minister und andere Wortführer der öffentlichen Meinung. Ich begnüge mich, die Tatsachen reden zu lassen. Tatsache ist, daß die deutsche Regierung und Heeresleitung sich den Vereinigten Staaten gegenüber erboten haben, den U-Boot-Krieg einzu-

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stellen, wenn die großbritannische Regierung die von den Vereinigten Staaten vorgeschlagene Bedingung annehmen werde: nämlich an amerikanische Agenten für die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung Getreide ausliefern zu lassen, damit diese Zivilbevölkerung nicht dem Hungertode ausgesetzt sei. Ist diese Tatsache den Lesern des „New Statesman" bekannt? In der Nummer vom 20. März heißt es: „Man ist überrascht, zu finden, daß die amerikanische Presse . . . die Legende umlaufen macht, daß Deutschland Wilsons Vorschlag so gut wie (practically) angenommen habe. Was Deutschland wirklich tat, war, daß es sich, unter Bedingungen, erbot, neutrale Kauffahrer nicht zu senken und deren Seeleute nicht zu ersäufen. Es wurde gleichzeitig bedeutet, daß man fortfahren werde, britische Kauffahrer zu senken und deren Seeleute zu ersäufen. Aber das letztere ist ebenso ungesetzlich und ebenso unhuman wie das frühere; und einer britischen Regierung möge man zugute halten, wenn sie mindestens ebensosehr darüber empört ist." Ich glaube nicht, daß hier eine bewußte Lüge vorliegt. Ich nehme nicht an, daß Nicht-Gentlemen unter Ihren Mitarbeitern sind. Eher möchte ich vermuten, daß die Geistesverwirrung Ihres Mitarbeiters hier schon ihre ersten Spuren wahrnehmen läßt. Denn wenn er bei gesunder Vernunft war, so mußte er wissen, daß es selbstverständlich niemals die Absicht gewesen ist, neutrale Schiffe anzugreifen; daß eben deshalb Ihre Regierung den Führern Ihrer eigenen Kauffahrer, die sie nicht zu schützen vermag, geraten hat, neutrale Flaggen zu hissen; was gerade der Hilfskreuzer „Lusitania" bei früherer Gelegenheit wirklich getan hat. Objektiv ist es eine grobe Unwahrheit, die den Lesern des „N. St." aufgebunden wurde. Niemand wundert sich — so sehr man es beklagen möge — wenn in einer belagerten Stadt Frauen und Kinder dem Hungertode erliegen oder durch Seuchen umkommen, die infolge der Belagerung ausbrechen. O b die Frauen und Kinder dem feindlichen Lande, ob einem neutralen, einem befreundeten oder sogar dem eigenen Lande angehören — macht das einen Unterschied? Wird die Belagerung von irgendeiner kriegführenden Partei eingestellt, weil sie weiß, daß unter den Ausgehungerten neutralen Ländern angehörige Frauen und Kinder sich befinden? „Aber" s Hungertode ausgesetzt sei: Vgl. die Proklamation der Reichsregierung vom 2. Feb. 1915. 16 „... darüber empört ist": Vgl. „New Law for New Circumstances", in: „New Statesman", IV, No. 102, 20. März 1915: 581.

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— werdet Ihr antworten — „das sind Ausnahmefälle." „Wenn eine Festung der Belagerung entgegensieht, so wird man nach Möglichkeit Frauen und Kinder aus ihr entfernen." „Es sind doch immer nur einzelne Teile eines im Kriegszustande befindlichen Volkes, die von dessen Feinde den Schrecken des Belagerungs-Zustandes ausgesetzt werden." In der N u m m e r des „New Statesman" vom 8. Mai lesen wir unter „Comments": Es sei unleugbar, daß durch die letzten Ereignisse auf den Kriegsschauplätzen zeitweilig eine Welle der Depression sich auf die englischen Seelen gelegt habe. Aber da liege eine unrichtige Beurteilung zugrunde. Wie Herr Belloc vor kurzem bündig erklärt habe: anzunehmen, d a ß die Alliierten während der letzten 6 Monate keinen Fortschritt gemacht haben, weil ihre Gräben noch dort liegen, wo sie damals waren, sei gerade so töricht, wie es gewesen wäre, anzunehmen, daß Moltke keinen Fortschritt gemacht habe gegen Ende des Jahres 1870, weil seine Belagerungslinien um Paris 3 Monate lang unbewegt blieben. „Die Operationen der Verbündeten gegen die Zentralmächte", — so schließt diese Auslassung — „sind ihrem Wesen nach eine Belagerung, wenn auch noch nicht eine vollkommene Belagerung, und um unvernünftige Schwankungen von Pessimismus und Optimismus zu vermeiden: sollte diese Tatsache dem Publikum immer aufs neue zum Bewußtsein gebracht werden." Jawohl, und auch wir wollen uns diese Tatsache immer aufs neue ins Bewußtsein zurückrufen. Keine bessere Ermutigung zum erfolgreichen U-Bootkriege, keine bessere Bestärkung im guten Gewissen, womit er geführt wird, kann es geben als die Erinnerung an diese von Euch in so liebenswürdiger Form hervorgehobene Tatsache! — Warum — entschuldigt die unbescheidene Frage — gedachtet Ihr selber nicht in der folgenden N u m m e r dieser Tatsache, da Ihr Euch so beflissen zeigt, die wahren Beweggründe (the real motives) zu erkennen, die zur Vernichtung der „Lusitania" geführt haben?! Aber nein. Ihr gedachtet jener Tatsache nicht. Ihr meint, die Belagerten müssen f r o m m und artig sein, sie müssen, ehe sie einen Ausfall machen, den Belagerern einen Parlamentär schicken, der etwa zu sagen hätte: „Ihr lieben, hochgesinnten Belagerer, werdet Ihr in Eurem untadligen und musterhaften sittlichen Bewußtsein vielleicht gestatten, daß wir einen kleinen Ausfall machen? Wir wollen Euch so wenig als möglich zu Leide tun, und vor allem 7 „Comments": Vgl. New Statesman, V, No. 109, 8. Mai 1915: 97. 27 folgenden Nummer: Vgl. New Statesman, V, No. 110, 15. Mai 1915: 121 (ungezeichneter Kommentar).

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. . . es sind doch keine Frauen und Kinder in Euren Reihen? Oder gar amerikanische Frauen und Kinder? Wenn dem so wäre, so würde sich ganz von selbst verstehen, daß wir auf jeden Angriff verzichten, daß wir Eure gütige Belagerung standhaft und ohne Murren, als eine Schickung Eurer

Vorsehung, ertragen, und der Hungersnot,

die uns noch in der

,Times' vom 31. März d. J . als sicher bevorstehend angekündigt wurde, im Vertrauen auf ein anständiges Begräbnis,

das Ihr den Verhungerten

mit Eurer bekannten Humanität sicherlich gewähren werdet, als Eure ergebenen Diener entgegensehen." Wenn wir also uns in unser Schicksal ergeben, dann wollt Ihr uns achten, nicht wahr? Dann wollt Ihr unser Reich nicht völlig vernichten, sondern es vielleicht unter Eurem gnädigen Schutze fortbestehen lassen? Natürlich, nachdem wir für die belgischen „Greuel" gehörig abgestraft worden sind, für die Abwehr des freundlichen und ehrlichen Willkommensgrußes, den die unschuldigen Belgier nebst Frauen und Kindern unseren Soldaten geboten haben? — Aber, anstatt so auf eine nachsichtige Behandlung nach dem Hungertode zu rechnen, kommen diese Barbaren, kommt dies Potsdam, dieser ruchlose preußische Militarismus, vor dem Hungertode, ganz lebendig und wohlgenährt, und schießt ein mit Munition und Passagieren beladenes britisches Schiff zunichte! Mit Munition beladen, die doch nur dazu bestimmt war, sie, diese Hunnen, zur Vernunft zu bringen und ihnen einen ehrlichen Soldatentod, den sie wahrlich nicht verdient haben, zu verschaffen! Gewiß: nur deutsche Nichtswürdigkeit, angefeuert durch die Lehren eines Bernhardi, eines Treitschke, eines Nietzsche, konnte so handeln — außer der kostbaren Munition und anderen Schätzen, die das Schiff barg, auch Menschenleben vernichten!! „Die Bedeutung — so drückt Euer sinnreicher Schriftsteller sich aus — der Versenkung der „Lusitania" liegt darin, daß sie ein lebendiges Bild, nicht der Schrecken des Krieges, sondern der Schrecken der Barbarei heraufbeschwört: einer Welt, worin die Moralität, die wir jahrhundertelang für gesichert hielten, aufgehört hat, vorhanden zu sein!" Eure Moralität hat aufgehört zu existieren: die M o ralität der Buccaneers, der Flibustier, der Brüder der Küste. — „Link'd with one virtue and a thousand crimes" (Byron), die Moralität der Leute, die im Sklavenhandel die Säule ihres Reiches erkannten, die Moralität eines Clive, eines Warren Hastings, die Moralität des Bombar32 „...vorhanden 34 (Byron):

zu sein": Vgl. New Statesman, 1915: 124.

Zur Auflösung des Zitats vgl. hier S. 34.

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dements von Kopenhagen, des Raubes der dänischen Flotte im Zustande des Friedens, die Moralität des Opium-Krieges, die Moralität der Aristokraten, die mit Wort und Tat die Sklavenhalter in Amerika unterstützten, die Moralität der Konquistadoren, die indische Gefangene vor den Mund ihrer Kanonen spannten, die, nach den Worten Eures Disraeli, Nena Sahib zum Muster nahmen, das der britische Offizier nachzuahmen hatte; die Moralität, die aus „finanziellen Gründen" Alexandria bombardierte und harmlose Bauern von Denshawai zum Tode, zu Kerkerstrafen und zu Peitschenhieben (jedesmal 50) verurteilte, die Moralität, die um des Goldes in Johannesburg willen die Transvaalrepublik und die südafrikanische Republik (welche James Bryce kurz zuvor als einen Musterstaat beschrieben hatte) mit überlegener Räuberfaust zerstörte, die Moralität des Lord Kitchener, der die Konzentrationslager erfunden hat, in denen die Sterblichkeit zeitweilig 196,8 vom Tausend war. Genug von dieser Moralität! Schade, daß sie von den barbarischen Deutschen allzu gut gekannt wird, um nicht im Vergleiche mit ihr lieber unmoralisch heißen zu wollen! „Aber niemals, werdet Ihr sagen, hat doch britische ,Moralität' etwas getan, was mit der Versenkung der ,Lusitania' auch nur vergleichbar wäre." Auch diese Meinung werde geprüft an den Tatsachen: „Am 5. Oktober 1804 wurde, nachdem die britische Regierung ausdrücklich Befehl erteilt hatte, die vier in Cadix erwarteten Schiffe der spanischen Silberflotte ,wegzunehmen', diese Flotte vor Cadix durch vier britische Fregatten angehalten. Der spanische Kommandeur wurde aufgefordert, sich zu ergeben, und, obgleich er völlig ungerüstet zum Widerstande war, verweigerte er die Uebergabe, bei Gleichheit der Streitkräfte auf beiden Seiten. Ein kurzer, aber heftiger Kampf folgte, wobei eins der spanischen Schiffe, das auch einige Passagiere an Bord hatte (die ,Mercedes'), in die Luft flog, die übrigen drei wurden aufgebracht, mit einem Barschatz, der auf 1 Million Lstr. geschätzt wurde." So erzählt der Oxforder Professor H. W. Wilson (Cambridge, Modern History, Vol I, S. 217—218). In einem älteren Werke (Hughes, Continuation of Hume 6 Nena Sahib: Es handelt sich hierbei um einen Hindustani (,Herr Großvater'), Spitzname von Dundhu Dauth, dem Adoptivsohn des letzten Marathenführers. Er war einer der Führer des Militäraufstandes von 1857/58; vgl. McCarthy, 1880: III, 66 (zit. Disraeli). Ii James Bryce: Vgl. Bryce, 1900: 33, 3 0 7 - 3 1 1 . 32 Hughes: Thomas Stuart Hughes setzte die von David Hume („The History of England, From the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688", 1754—1762) und Tobias George Smollett („History of England", 1757), begonnene „History of England"

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and Smoket IV, S. 81/82) wird über die 30 umgekommenen Passagiere erzählt: „Ein Herr, der mit Frau, vier Töchtern und fünf Söhnen sich auf der Heimkehr nach Spanien befand, war mit einem der Söhne an Bord einer anderen Fregatte, und die beiden hatten das schreckliche Los, Zuschauer der Katastrophe zu sein, die in einem Augenblicke ihre teuersten Angehörigen von ihnen trennte und sie eines großen Vermögens beraubte, das während eines Aufenthaltes von 25 Jahren in Südamerika erworben war." Es war gewiß traurig, werdet Ihr sagen, aber es waren doch immerhin nur neun Personen! Dagegen „Lusitania"! „Daß die neun Personen, die sich auf einem Kriegsschiff befanden, umkommen mußten, das gehörte eben zu den normalen Schrecken des Krieges." Schrecken des Krieges?? Um Vergebung! Der Angriff der spanischen Silberflotte durch vier englische Fregatten, auf Befehl der englischen Regierung, geschah im FriedenU Der britische Gesandte befand sich in Madrid, er hatte allerhand „Beschwerden" vorzubringen, über die er mit dem spanischen Minister verhandelte — im Zustande des Friedens überrumpelte der englische Admiral die mit Silber beladenen Schiffe eines neutralen Staates, im Zustande des Friedens ließ er die Fregatte, auf der sich allermindestens fünf Frauen und vier junge Männer oder Knaben befanden, in die Luft fliegen! Und das war, so sagt der noch lebende britische Historiker H. W. Wilson, „durch die Umstände gerechtfertigt"!! Eure Logik — die politische Logik einiger Briten ist hervorragend — wird vielleicht finden: eigentlich hätte das Deutsche Reich sich auch im „Frieden" mit England befunden; denn ein wahrer Kriegszustand sei nur zwischen zivilisierten Völkern möglich; da nun Deutschland kein zivilisiertes Volk ist, da das Deutsche Reich sogar zur Vernichtung bestimmt ist, also „in der Idee" gar nicht mehr existiert, so folgt Ich gratuliere zu Eurer Logik und Eurer gesamten übrigen Philosophie. Ihr ergebener Ferdinand

Tönnies

(Designed as a continuation of Mr. Hume's History, 8 vols., 1793) von der Thronbesteigung Georgs III. an fort (1834 ff). i Smoket: Richtig: Smollett. 22 „... Umstände gerechtfertigt": Vgl. Wilson, 1906: 218.

Gemeinschaft

und

Individuum

i Gemeinschaft und Individuum: Zuerst in: Die Tat. Sozial-religiöse Monatsschrift für deutsche Kultur (Diederichs, E. + Hoffmann, K. [Hg.]), 1914/15, 6. Jg., S. 4 0 1 - 4 0 9 , Jena (Diederichs). Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung. Jena (Fischer) 1926, S. 2 0 0 - 2 0 8 ; vgl. TG 17.

[Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit] Geehrte

Redaktion

Ihre Fragen sind schwer zu beantworten. Auch bei uns Gelehrten im Deutschen Reiche überwiegt das Bewußtsein, daß wir unseren Staat vor der Vernichtung schützen müssen, die ihm von so vielen Seiten angedroht wird, noch alle anderen Gedanken. Wir, die der älteren Generation angehören, glauben nicht, daß wir die Wiederherstellung der kulturellen Verbindungen zwischen unserer und den feindlichen Nationen erleben werden. Es ist uns sehr schmerzlich, aber wir müssen uns mit Entsagung darein ergeben. Einen Trost gewährt die Betrachtung, daß es vielleicht gelingen wird, die Verbindungen zwischen der deutschen Kultur und solchen Ländern, die uns nicht feindlich sind, um so inniger zu gestalten. Ich denke dabei besonders an die skandinavischen Länder. Mir liegen diese auch räumlich nahe, da ich im (vormaligen) Herzogtum Schleswig geboren und erzogen, an der Kieler Universität tätig bin. Aber näher liegen sie noch meiner Seele. Ich fühle mich der skandinavischen Sinnesart und Denkungsart verwandt: je älter ich werde, desto mehr. Ich mache dabei keinen Unterschied zwischen Schweden, Dänen und Norwegern, und hoffe, daß diese Nationen immer mehr lernen werden, sich als geistige Einheit, unbeschadet ihrer Besonderheiten, zu fühlen. Um so mehr wird man versuchen können, das Band fester zu knüpfen, das auch jetzt schon diese hochbegabten Nationen mit der deutschen Nation verknüpft, die ja selber etwas wesentlich Ideelles ist und weit über die Grenzen des politischen Reiches hinausweist: die Deutschen in Oesterreich, in der Schweiz, in Rußland, in Nord-Amerika, und die

i [Der Wiederbeginn

geistiger

Gemeinschaftsarbeit]:

Reichs-Deutschen,

Zuerst ohne Titel [der Beitrag ist

überschrieben: „Kiel, im Mai 1915. | An die Redaktion des Svenska Dagbladet | Stockholm."]

in: Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für sozial-ethische Reformen, 1915, (15.

7. 1915), 23. Jg., S. 1 0 5 - 1 0 6 , Berlin (Bieber). Dieser Beitrag stellt eine Antwort Tönnies' auf eine Umfrage der schwedischen Zeitung „Svenska Dagbladet" unter Vertretern der Wissenschaft, Literatur und Künste dar, welche Folgen der Krieg für die „internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kultur" herbeiführen könne. Der Brief des Chefredakteurs Helmuth, der im Editorischen Bericht abgedruckt ist (S. 709 f.), datiert vom 6. Mai 1915.

[Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit]

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Oesterreicher, deutschen Schweizer usw., die über den ganzen Erdball verbreitet sind, nehmen daran Teil. Auch die gebildeten Skandinavier, Holländer, Ungarn und andere Ausländer haben schon immer, genießend und mitwirkend, an unserer Literatur und Kunst, a m gesamten deutschen Geistesleben, teilgenommen, wie die Deutschen an ihrem, soweit es uns zugänglich wurde. Eben dies aber kann und sollte erweitert und vertieft werden: die Deutschen müssen die skandinavischen Länder, ihre Sprachen und ihre reichen Kulturschätze, besser kennen lernen; das vermögen sie nicht durch flüchtige Vergnügungsreisen, sondern nur durch emsige Arbeit und Studium. Ferner können Konferenzen und Kongresse dazu helfen. J e weniger wahrscheinlich es ist, daß im L a u f e der nächsten 10—15 J a h r e das allgemeine internationale Leben — das freilich immer zum guten Teile ein Scheinleben gewesen ist, schon weil es an einer allgemein verstandenen und anerkannten Sprache mangelt — wieder erwachen wird; um so mehr sollte auch hier der Weg des geringeren Kraftmasses beschritten werden, und dieser ist damit gegeben, daß die Nationen, deren Sprachen verwandt, die durch N a c h b a r s c h a f t und Verkehr auf einander angewiesen sind, sich enger zusammenschließen und in jedem Sinne einander besser verstehen lernen. Darüber hinaus gehen meine persönlichen Wünsche und H o f f n u n g e n nicht, und ich glaube, daß die meisten meiner Altersgenossen ebenso oder wenigstens ähnlich denken und fühlen. Die jüngere Generation wird und muß weiterstreben. Sie wird bald ernstlich versuchen wollen, den normalen Austausch zwischen den Kulturen des Erdballs neu zu schaffen und auszubauen, so unmöglich das auch im Augenblick erscheinen möge. Jedenfalls darf angenommen werden, daß Anbahnungen allmählich geschehen werden, und dazu wird es der Vermittelung bedürfen. Z u r Vermittelung zwischen Deutschen, Oesterreichern, Ungarn einerseits, Engländern andererseits, werden die Skandinavier vorzugsweise berufen sein, wie zur Vermittelung zwischen jenen und den Franzosen die Schweizer, Holländer, vielleicht auch Spanier, Rumänen u. a. Vor allem aber — so denke ich — wird es die schöne A u f g a b e der Frauen

sein — und vorzugsweise wieder der Frauen in den neutralen

Ländern — zwischen den feindlichen und einander tief entfremdeten N a tionen zu vermitteln und versöhnend zu wirken. Die Erstarkung der Frauenbewegung, auch politische Erstarkung, wird mittelbar eine der großen Folgen des Weltkrieges sein.

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Wie die Sabinerinnen sich einst, nach der römischen Sage, zwischen die Schlachtreihen warfen und die Vereinigung der Feinde bewirkten, so wird die Frauenwelt Europas viel lebhafter und wirksamer als bisher, ihr Interesse für den europäischen und den Weltfrieden in die Wagschale werfen. Immer ist der Fortschritt der sittlichen Kultur vorzüglich das Werk des weiblichen Geschlechtes gewesen und mit der Verbesserung seiner sozialen Lage und geistigen Bedeutung Hand in Hand gegangen. Die moderne Zivilisation hat das weibliche Geschlecht zwar in mancher Beziehung gehoben, aber durch die allgemeine Mechanisierung und Veräußerlichung, durch den praktischen Materialismus der Lebensgestaltung, hat sie es ungebührlich in den Hintergrund gedrängt. Die Frauenbewegung sollte sich immer mehr dessen bewußt werden, daß ihre wichtigste Aufgabe ist, eine Gegenbewegung dagegen zu vertreten und zu befördern. Ihre natürliche und historische Mission ist es, für die Kultur der Familie, der Kinderpflege und Erziehung, für Verschönerung und Verzierung des geselligen Lebens, für die Pietät und Zartheit in den Beziehungen der Menschen zu einander, kurz für Gesittung und Sittlichkeit, zu wirken und zu streiten. Eben darum auch für den Frieden! Im Augenblick ist vielleicht der Haß und Abscheu gegen die feindlichen Nationen mindestens ebenso stark bei den Frauen, wie bei den Männern; unter den Männern pflegen die nicht-mitkämpfenden diese Gefühle mehr als die kämpfenden, die keine Zeit dafür übrig haben. Auch sonst nehmen die Frauen mit ihrem Gemüte den lebhaftesten Anteil am Kriege: zum Teil in freudigen Hochgefühlen. Mit Stolz und Bewunderung blicken sie auf den Heldenmut ihrer Söhne und Gatten. Ueberhaupt spricht die Tapferkeit mächtig anregend zu ihrer Phantasie. Auch ihre edelsten Neigungen werden geweckt durch Anregungen und Gelegenheiten zu werktätiger Hilfe, ja zu aufopfernder Pflege, die nicht geringere Tapferkeit, Ausdauer, Selbstüberwindung in Anspruch nimmt, als der bittere Kampf selber. Und wenn wir nach den Wirkungen des Krieges auf die Frauen fragen, so dürfen wir diese Anregungen und Gelegenheiten, im Sinne des weiblichen Gemütes, zu den erfreulichen Wirkungen rechnen. Aber weit überwiegend sind die Leiden, die jeder Krieg, und dieser Krieg in unerhörter Weise, über die Frauen bringt. Von Not und Entbehrungen nicht zu reden, die sie mit Männern und Kindern teilen. Die Schmerzen der Seele fallen auf ihre weicheren Seelen schwerer. Wir brauchen nicht zu versuchen sie zu schildern. Durch ganz Europa und darüber hinaus geht die Erschütterung des Jammers der Wittwen, der Trä-

[Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit]

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nen der Mütter, Schwestern und Bräute. — Ob man erwarten darf, daß die Menschheit jemals aufhören wird, Waffen der Zerstörung und Vernichtung gegen einander, gegen die Werke der Menschheit zu gebrauchen? Die Frage zu lösen versuchen wir nicht. Aber das dürfen wir sagen: je ungeheurer die Uebel der heutigen Kriege, je gewaltiger die Zurüstungen dazu, um so größer muß auch die Gegenorganisation werden, die so grenzenlosem Leid vorzubeugen, es abzuwehren und zu heilen sich befleißigen wird. Selbst wenn die Verbindungen wiederhergestellt würden, die von den Vertretern der Wissenschaften, der Literatur, der Künste zwischen den Nationen geknüpft waren, so würden sie in diesem Sinne wenig vermögen. Die Erfahrung lehrt uns in unwidersprechlicher Weise, daß eben auch zu ihrem Gedeihen der Friede unerläßliche Vorbedingung ist. Darum werden alle geistigen internationalen Bestrebungen in erster Linie auf Erhaltung des Friedens abgestimmt sein müssen, und — ich wiederhole es — zur Vermittlung und Versöhnung sind erstens die neutralen Völker, zweitens die Frauen durch die Natur der Dinge und durch das Sittengesetz berufen. In Hochachtung Ihr ergebener Ferdinand

Tönnies

Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht In der Aprilnummer der New Yorker Monatsschrift „The Standard", April 1915 (Organ der ethischen Union Amerikas und ihres Sprechers Felix Adler) schreibt Hester D. Jenkins über dieses Thema: In dem jetzigen Kriege, der so mannigfache Seiten für die Betrachtung bietet, ist wahrscheinlich niemandes Standpunkt in Amerika so wenig gewürdigt worden und auch so wenig bekannt, wie der der Türken. Allgemein hat man vorwurfsvoll gefragt: „Weshalb mußte die Türkei an diesem Kriege teilnehmen? Sie hat lediglich Selbstmord begangen." Jedermann war überzeugt, daß Deutschland die Türkei zur Teilnahme an dem Kriege veranlaßt habe, und die meisten Leute in Amerika waren der Ansicht, daß die Türken sich nicht zu einem Bündnis hätten verleiten lassen sollen, das so wenig für sie paßte. Den größten Teil der Schuld an dem Ausbruch des Krieges hat man auf den Rassenund Völkerhaß in Nordeuropa, sowie auf den französischen „Revanche"-Gedanken und den englischen „Handelsneid" geschoben 1 , aber an irgendwelche nationale Gesichtspunkte der Türkei hat niemand bei uns gedacht. Vielmehr haben wir es allgemein mit Befriedigung aufgenommen, daß man der Türkei „erlaubt" hat, in Europa zu verbleiben, daß man sie großmütig behandelt und sie nicht mit Sack und Pack hinausgetrieben hat, und haben geglaubt, daß sie die Rolle des „kranken Mannes in Europa" mit Bescheidenheit hätte spielen und dankbar das hätte entgegennehmen müssen, was die christlichen Nationen ihr bewilligten. Aber durfte man erwarten, daß irgendein Volk sich zu einer so demütigen Haltung bequemen würde, besonders ein Volk, das ein ausgedehntes Weltreich gegründet, das Mittelländische Meer in ein türkisches verwandelt, den größten Herrschern Europas seine Forderungen diktiert hat und welches noch an der Spitze einer großen religiösen Gemeinschaft, des Islam, steht? Die Türken sind ein sehr stolzes Volk. Jeder Christ, der unter ihnen gelebt hat, weiß, daß sie sich für edler als alle Nicht-Moslems halten. Jahrhunderte der Eroberung und der Beherrschung christlicher Untertanen haben einen ungeheuren Hochsinn in ihnen großge1

Es ist beachtenswert, daß wir dies von einem Anglo-Amerikaner vernehmen. Erkennbar ist daraus, daß diese Ansicht und Einsicht viel weiter verbreitet ist unter den Gebildeten der Union, als die feile und nichtswürdige große Presse es ahnen läßt. Anm. des Hg.

1 Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht: Zuerst in: Deutsche Arbeit. Zeitschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen, 1915, 14. Jg., Heft 12, September, S. 692—695, hier S. 692. Der abgedruckte Text endet mit: „(Übersetzt von H. Hennings. Herausgegeben von F. Tönnies)". Es ist dies die Übersetzung des größten, von der deutschen Zensur freigegebenen Teils eines Artikels der amerikanischen Historikerin Hester D. Jenkins über besagten Gegenstand, der dem Herausgeber nicht vorlag. Wiedergegeben sind hier die einleitenden Worte von Tönnies in normaler, die Ausführungen Jenkins' in kleinerer Type; eB S. 710 f.

Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht

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zogen. Das Verhältnis der Herrschenden zu den Beherrschten war, nach der Ansicht der früheren und fähigen Sultane, etwa so, wie das des gerechten Herrn zu seinen gehorsamen Sklaven. Die Aufgabe der Türken, wie sie sie auffaßten, war zu erobern und zu unterjochen. Alle organisierten christlichen Mächte waren ihre Feinde. Die Türkei hatte sich um einen Platz an der Sonne bemüht und ihn auch erhalten, und nun sah sie mit Verachtung auf alle schwächeren Völker herab und unterjochte sie. Im 16. Jahrhundert war die Türkei der mächtigste Staat in Europa und wurde besser regiert als die Staaten Franz des Ersten, Heinrichs des Achten und Karls des Fünften. Dann kam der Umschwung. Unter schwächeren Sultanen, die nicht die Eigenschaften der ersten großen türkischen Herrscher besaßen, begann die Türkei zu sinken, während gleichzeitig die christlichen Staaten langsam emporstiegen, so daß um die Wende des 17. Jahrhunderts die Türkei ihre stolze Sonderstellung eingebüßt hatte. Durch den Carlowitzer Frieden im Jahre 1699 wurden die Grenzen der Türkei bis an die Donau zurückverlegt, und sie stand nun — eine allmählich sinkende Macht — einem großen Gegner des Nordens gegenüber — Rußland. Der Kampf zwischen diesen beiden Völkern hat bis auf den heutigen Tag gedauert und ist den Türken eine bittere Erinnerung. Die Türkei hat gegen diesen Feind manch tapferen Krieg durchgefochten, aber der Bär ist, wenn er auch gelegentlich zurückgeworfen wurde, erbarmungslos und siegreich vorgedrungen. Seitdem Peter der Große, der in seinem großen russischen Hause Fenster haben wollte, St. Petersburg baute, als ein Fenster nach Europa zu, aber seine Augen auf den großen südlichen Hafenplatz, Konstantinopel, richtete, hat die russische Politik jene ersehnte Stadt nie wieder aus dem Gesichtskreis verloren. Und das wissen die Türken. Wen sie auch sonst noch hassen oder fürchten mögen, Rußland ist stets ihr Erzfeind. Diesen Gedanken bringt auch eine berühmte türkische Schriftstellerin, eine Graduierte der Universität in Konstantinopel, zum Ausdruck, welche am 28. November (1914) in der türkischen Zeitung „Tanin" schrieb: „Dieser Krieg war eine absolute Notwendigkeit; nur hätte er, anstatt heute, dreißig Jahre später ausbrechen mögen. Seit meiner Kindheit habe ich das gewußt, denn ich kenne den rachedurstigen Geist meines Volkes. Ich erinnere mich noch an die Geschichten, die unser zirkassischer Diener erzählte, als ich Kind war, wie lebhaft er uns die Bedrückung und die tadelnswerten und brutalen Taten der ,Moskoffs' gegen unsere Brüder in Rußland schilderte, und wie sehnsuchtsvoll die letzteren auf die Ankunft der Armee des Kalifats warteten." Ein Beweggrund also dafür, daß die Türkei in diesen Krieg eingetreten ist, ist der tiefe Haß gegen und die Furcht vor Rußland und die verzweifelte Hoffnung, den russischen Vormarsch zu hindern. Eine andere historische Entwickelung, welche die Türkei als bitteres Unrecht empfindet, ist die Politik der Einmischung, die Europa seit anderthalb Jahrhunderten geführt hat. Eine bestimmte Gestalt erhielt diese Politik bei dem Friedensschluß von Katschuk Kainardji im Jahre 1774, als die christlichen Mächte das Recht der Protektion über die christlichen Untertanen der Türkei beanspruchten und „Reformen" forderten. Rußland betrachtete sich als der Protektor aller orthodoxen „Rayahs" oder Christen, Frankreich als der Beschützer der katholischen Rayahs, während England sich in der Haltung gefiel, die Interessen der Protestanten wahrzunehmen und Reformen im allgemeinen zu wünschen. Seitdem hat die Türkei ihre Selbständigkeit so gut wie verloren. Durch Konferenzen, entsprechende Noten und Vorschläge aller Art hat man es dahin gebracht, der Türkei vorzuschreiben, wie sie ihre eigenen Untertanen regieren soll. Ferner, wenn die Türkei in einen Krieg hineingetrieben worden war oder ihre Untertanen sich empörten, dann durfte

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sie siegen, aber beim Friedensschluß zeigte es sich dann, daß die Mächte sich entschlossen hatten, so zu handeln, als ob die Türken besiegt worden wären. So stand z. B. Griechenland auf, wurde von den Türken geschlagen, aber dann gaben die Mächte den Griechen die Freiheit. Wir haben uns gewöhnt, diese Handlung vom christlich-griechischen Standpunkt aus zu betrachten, aber wenn wir patriotische Türken gewesen wären, würden wir sie kaum als gerecht empfunden haben. Diese beständige Einmischung hat die Türken sehr aufgebracht. „Es ist", so schreibt Benjamin Bedrossian im „Orient", einer kleinen amerikanischen Zeitschrift in Konstantinopel, „eine sehr seichte Ansicht, zu meinen, daß die türkische Regierung sich unüberlegt in diesen Krieg gestürzt hat oder hineingetrieben wurde. Dieser Krieg wird nicht nur als ein Verteidigungskrieg, sondern auch als ein Befreiungskrieg angesehen." In demselben Artikel gibt er noch folgende Äußerungen von drei namhaften türkischen Schriftstellern wieder: Yussuf Bey Aktschura schrieb: „Als Kenner der Geschichte weiß ich von keinem Krieg, der so gerecht und so richtig ist, wie der gegenwärtige Krieg des Islam und der Osmanen gegen die Triple-Entente. Während diese Mächte, wie sie erklären, für das Prinzip der nationalen Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen und bereit sind, für die Verwirklichung dieses Prinzips ihr Blut zu vergießen, kämpfen auch wir für eben dieses Prinzip, für die Freiheit der türkischen Rasse und des Islam, und für diese Güter bringen wir unser Leben zum Opfer." Agha Oghlu Ahmed drückte sich aus wie folgt: „Die türkische Expeditionsarmee, die nach Westen vordringt, bringt die Botschaft der Befreiung und des Lebens den in jenen westlichen Gegenden wohnenden Moslems, und jene nach Osten vordringende Armee bringt dieselbe Botschaft zu den Türken und Moslems, die dort wohnen. Moslems dürfen keine Sklaven sein und nicht unter fremder Botmäßigkeit stehen." Ein Dichter bringt denselben Gedanken in etwas anderer Form zum Ausdruck: „Erwache aus deinem Schlaf, o Türke! Der Tag des Heils ist gekommen; die Türken aus der Trübsal zu erlösen und ihnen wieder Wohlfahrt und Heil zu bringen, ist für jedermann ein heiliges Ziel." Die Türkei zu regieren mit ihren sich bekämpfenden Rassen, Religionen und Nationalitäten ist eine äußerst schwierige Sache. Europa glaubt, daß die Sultane diese Aufgabe schlecht erfüllt haben, und vielleicht hat Europa recht. Aber Europa wird von den Türken verabscheut, weil es unter dem Vorwand, den Rayahs zu helfen und Reformen durchzusetzen, immer seine eigenen Interessen verfolgt hat. England und Frankreich haben sich als die Freunde der Türkei aufgespielt, aber das Land hat durch sie manche schöne Provinz verloren. Der einzige Grund, weshalb sie nicht in die Aufteilung der Türkei einwilligten, die Rußland kurzerhand vorschlug, war der, daß sie die Vorteile fürchteten, die Rußland davon haben werde. Dies alles erregte große Erbitterung. Man braucht sich daher nicht zu wundern, wenn die Türkei glaubt, daß vielleicht dieser Krieg ihr eine Möglichkeit geben könne, die unerträgliche Last der europäischen Einmischung abzuschütteln. So hob sie die „Kapitulationen 2 " auf und verlangte den Gebrauch des türkischen Rechts in türkischen Ländern und die Vorteile ihrer eigenen Postanstalten und Gerichtshöfe. 2

Bestimmungen, nach denen die Angehörigen fremder Staaten nicht der Gerichtsbarkeit des Landes unterworfen sind, in dem sie wohnen.

Anm. d. Übers.

35 die Rußland davon haben werde: Hier anschließend im Original eine ca. 17 Zeilen umfassende unbedruckte Fläche, die wohl auf Zensurmaßnahmen deutscher Behörden zurückzuführen ist.

Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht

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Es m ö c h t e klug gewesen sein, sich mit diesen vernünftigen Errungenschaften zufrieden zu geben, aber die seit J a h r h u n d e r t e n gepflegten Gefühle der Verachtung für den NichtM o s l e m , der sich als ein so falscher Freund und so bitterer Feind gegen die Türkei erwiesen hatte, die Gefühle der Furcht vor der russischen E r o b e r u n g , des Grolles über den durch die M ä c h t e auferlegten Z w a n g und die beständigen unbilligen Forderungen, alles dies loderte e m p o r in einer ungeheuren F l a m m e , ähnlich der, welche die nördlichen N a t i o n e n in B r a n d gesetzt hatte. N o c h ein letzter F a k t o r m u ß schließlich erwähnt werden, nämlich die religiöse Feindseligkeit. D e r M o s l e m ist genau so überzeugt von den Vorzügen seiner Religion vor der unsrigen, wie wir durchdrungen sind von den Vorzügen des Christentums, und er ist ein tief religiöser M e n s c h . Ich wende lieber nicht den Ausdruck fanatisch

auf ihn an, denn es

ist b e k a n n t , daß wir dieses Wort nicht b r a u c h e n , wenn wir von dem christlichen Glaubenseifer sprechen. D a s B a n d gemeinsamer religiöser G e f ü h l e ist bei allen M o s l e m s sehr stark entwickelt, und sie finden, daß die Christen unverschämt und ungerecht gegen sie gewesen sind. Dieselbe Ansicht hat ein gebildeter indischer M o s l e m , A c h m e d Abdullah, im „ F o r u m 3 , " O k t o b e r 1 9 1 4 , ausgesprochen. Er schreibt: „Wir (Moslems) haben lange genug eine Reihe vorsätzlicher moralischer Beschimpfungen und materieller Schädigungen von Seiten eines selbstsüchtigen, lügenhaften, heuchlerischen Christentums erduldet, aber wir sind i m m e r n o c h in der Lage, eine ungeheure T a t k r a f t zu entfalten, wenn es sich um den Islam hand e l t . " Dieser Krieg ist also in gewissem Sinne ein heiliger Krieg. Aber ein heiliger Krieg oder J i h a d ist in unseren Tagen nicht mehr eine so haßerfüllte Sache, wie wir geneigt sein m ö c h t e n , anzunehmen. U m dies zu erkennen, brauchen wir nur den Befehl zu lesen, den der O b e r k o m m a n d i e r e n d e der vierten Armee an die Bevölkerung Palästinas erlassen hat. „Palästina liegt unmittelbar in der Operationslinie des kaiserlichen Heeres, dem die Aufgabe zugefallen ist, mit G o t t e s Hilfe Ägypten zu befreien. Die Bevölkerung Palästinas hat daher mehr als die anderer Gebietsteile die Pflicht, an der Verteidigung des Vaterlandes und an dem heiligen J i h a d teilzunehmen. Diese Pflicht gebietet die A n b a h n u n g und Aufrechterhaltung herzlicher Beziehungen und unlöslicher Freundschaftsbande zwischen allen Teilen der o t t o m a n i s c h e n Bevölkerung. Die geringste Handlung, wodurch diese freundschaftlichen Beziehungen verletzt werden k ö n n t e n , wird streng bestraft werden. Ich fordere daher alle m o h a m m e d a n i s c h e n Rassen auf, die ja die Mehrzahl bilden, durch die Unterhaltung herzlicher Beziehungen zu den israelitischen und christlichen Elementen ihre patriotische Gesinnung zu beweisen. Die Untertanen unserer Bundesgenossen, sowie diejenigen befreundeter und neutraler Staaten sind unsere geehrten G ä s t e . Z u einer Z e i t , w o wir in einen K a m p f auf Leben und T o d verwickelt sind, ist es unsere Pflicht, diese Personen besser zu behandeln denn je. Der C h a r a k t e r zeigt sich am deutlichsten in großen und ernsten Zeiten; in unserem nationalen Interesse aber liegt es, uns die Freundschaft und Sympathie aller Rassen des Landes zu sichern, und dieses Ziel läßt sich nur in der angegebenen Weise erreichen. G u t , Leben, Ehre und besonders die individuellen R e c h t e der Angehörigen jener Staaten, mit denen wir Krieg führen, sind auch unter dem Schutz unserer nationalen Ehre. Ich werde daher nicht die geringsten Übergriffe gegen diese Personen dulden. Ich fordere die gesamte Bevölkerung Palästinas auf, sich nach dieser B e k a n n t m a c h u n g zu richten. M ö g e G o t t dem Islam den Sieg verleihen." 3

Einer amerikanischen Zeitschrift.

A n m . des H g .

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Die Türken also haben sich zur Teilnahme an diesem Krieg entschlossen, weil sie der üblen Behandlung in der Vergangenheit gedachten, weil sie Rußland fürchten, über das Betragen der Christen 4 empört sind, und weil sie hoffen, unabhängig zu werden, u m innerhalb ihrer eigenen Grenzen auf ihre Weise leben zu k ö n n e n . Sie sind natürlich gegen die Verbündeten, zunächst und vor allem gegen Rußland, aber k a u m weniger gegen Frankreich und England erbittert. Sie haben gegen Deutschland geringere Beschwerden, als gegen irgendeine andere europäische Macht. Deutschland hat mit Glück sich der Türkei freundschaftlich bewiesen; es hat allerdings wertvolle finanzielle Zugeständnisse verlangt, aber es hat nie eine Teilung des Reiches versucht oder vorgeschlagen. Unter denen, die in diesem Weltkrieg leiden müssen, wird, wie es scheint, die Türkei nicht am wenigsten beteiligt sein, und wir lassen ihr ein wenig Gerechtigkeit widerfahren, indem wir versuchen, ihren S t a n d p u n k t kennen zu lernen.

4

Nämlich der Engländer und ihrer Genossen. Siehe unten.

10 oder vorgeschlagen:

Anm. des Hg.

Hier folgend im Original eine ca. 7 Zeilen umfassende unbedruckte

Fläche, die wohl auf Z e n s u r m a ß n a h m e n deutscher Behörden zurückzuführen ist.

Vor hundert Jahren Man darf wohl sagen, daß auf der ganzen Erde das Bewußtsein gegenwärtig ist, an einer Weltwende zu stehen. Man drückt dies Gefühl aus, indem man sagt, bald daß wir in einer großen, gewaltigen Zeit leben, bald daß es eine furchtbare, schreckliche, von ungeheuren Spannungen erfüllte Zeit sei. Für den Denker und Beobachter ist es vor allem eine hohe, eine hochragende Zeit, wie ein Gipfel, von dem aus man Umschau in weite Fernen hält und hinunterblickt in die Niederungen des alltäglichen Lebens und Strebens. Auf solcher historischen Bergeshöhe sieht man vor allem zurück auf den Weg, den man durchmessen hat, sieht man voraus in die dunkle Zukunft, die nur durch Hoffnungen erhellt wird. Ein solches hohes Jahr gab es auch vor hundert Jahren. Versetzen wir uns in den Anfang des Jahres 1815, so ist freilich der Unterschied von unseren Tagen der, daß wir wissen, in einer ungeheuren Krisis noch mitten inne zu stehen, während man damals sie überwunden zu haben zuversichtlich glaubte. Ein großes gemeinsames Gefühl ging durch ganz Europa und darüber hinaus: das Gefühl, von einer schweren Last befreit zu sein. Man atmete auf, denn der Gewaltherrscher, der fünfzehn Jahre lang, fast immer siegreich, nach allen Seiten hin seine Kriege geführt hatte, war zu Boden geworfen. Jetzt erwartete, erhoffte, wollte man dauernden Frieden. Darin waren die Nationen untereinander einig, in jedem Staate waren Volk und Regierung darüber einig. Die Einmütigkeit war um so größer, da es eigentlich keinen besiegten Staat gab. Nur ein Mann war der Besiegte: Napoleon. Denn von ihm wollten ja die Herrscher Europas auch Frankreich befreien und Frankreich seinen rechtmäßigen König wiedergeben. Darum war der Pariser Friede vom 30. Mai 1814 von den alliierten Mächten mit Ludwig dem i Vor hundert

Jahren:

Zuerst in: Deutsche Rundschau, 1915, 42. Jg., Bd. 165, Heft 2,

S. 297—308, Berlin (Paetel). Offensichtlich handelt es sich hierbei um die Druckfassung eines Vortrages, den Tönnies am Sonntag, den 2. Mai 1915, im Kieler „Schloß-Hotel" gehalten hatte. Vgl. dazu in der SHLB die Notizbücher Tönnies' von 1915 (Signatur: Cb 54.41:54). 28 Pariser Friede:

Die Friedensverhandlungen begannen am 9. Mai 1815. Er erbrachte eine

gemäßigte Politik gegenüber Frankreich. So kamen etwa das Elsass sowie die „Saar" an Frankreich.

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Achtzehnten geschlossen, obgleich dieser gar nicht den Krieg geführt hatte, der Krieg vielmehr zu seinen Gunsten geführt worden war. Nicht mit Napoleon wurde der Friede geschlossen, denn dieser hatte neunzehn Tage früher auf seinen Thron verzichten müssen, und nur wie zum Hohn war ihm die Herrschaft über die kleine Insel Elba vergönnt worden. So war gewissermaßen ganz Europa Siegerin. Zunächst freilich nur die alliierten Mächte, an deren Spitze Rußland, dem sich Schweden, Preußen und Österreich nacheinander angeschlossen hatten. Diejenige Großmacht aber, die seit 1793 fast ununterbrochen zuerst gegen die französische Republik, dann gegen das Kaiserreich im Kriege gelegen hatte, blieb im Hintergrunde, sie war bis dahin nur durch Subsidien beteiligt: Großbritannien. Und doch war kein Staat so sehr Sieger, wie Großbritannien es war. Für Großbritannien bedeutete die Niederwerfung Napoleons den Triumph über Frankreich selbst, über die französische Kolonial- und Weltmacht, die es als seinen Rivalen seit mehr als hundert Jahren mit allen Mitteln, zu Wasser und zu Lande, in Europa und in Amerika und in Asien, planmäßig und rücksichtslos bekämpft hatte. Gegen England hatte Napoleon den Kontinent unter seinem Szepter oder doch unter seinem Einfluß vereinigen wollen, hatte den großen Gedanken gefaßt, die britische Macht an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen: in ihren Handelsinteressen. Von Berlin aus hatte der siegreiche Kaiser im November 1806 jenes Dekret erlassen, wodurch die Kontinentalsperre begründet wurde. Es erklärte die britischen Inseln in Blockade und verbot allen Handel mit englischen Waren; auch neutrale Schiffe, die einen englischen Hafen angelaufen hätten, durften Frankreich und die mit ihm verbündeten Länder nicht berühren: Schiff und Ladung wurden für verfallen erklärt. Englische Gegenmaßregeln führten in den folgenden Jahren zu immer höherer Steigerung und Verschärfung des Systems, an das Europa sich allmählich gewöhnte, wie sich jetzt Deutschland und Österreich an die Absperrung vom Ozean gewöhnen müssen. Und die Gewöhnung war damals sehr viel leichter; erstens, weil der Welthandel und die große Industrie noch wenig entwickelt waren; zweitens, weil der Schmuggel in einem Umfange wirksam wurde, wie er heute nicht mehr denkbar ist. Die Ausschließung des britischen Wettbewerbs kam der einheimischen Industrie in Frankreich und in Deutschland zu24 Kontinentalsperre begründet am 21. Nov. 1806.

wurde: Die Verkündigung der Kontinentalsperre erfolgte

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gute, die Ausschließung des Handels mit Kolonialwaren förderte den Anbau und die Verarbeitung heimischer Landesprodukte. Die deutsche Leinenweberei konnte, unangefochten durch den Wettbewerb der schon mit Maschinen hergestellten Baumwollwaren, ihren Rang behaupten, obgleich ihr der Weltmarkt verschlossen war. Zugleich nahm die Fabrikation der Baumwolle selbst, in Frankreich und Deutschland bedeutsame Anfänge. Die große Teuerung des Kaffees veranlaßte dazu, Zichorie zu bauen; die größte und dauerndste Bedeutung aber unter den Folgen der Kontinentalsperre hat die Erfindung gewonnen, aus der unscheinbaren Rübe den bisher nur aus dem Zuckerrohr gewonnenen Süßstoff herzustellen. Freilich verhinderte der allgemeine wirtschaftliche Druck das Wachstum dieser wie anderer gewerblichen Tätigkeiten so lange, als die Unruhen der Kriege dauerten; aber andererseits brachte die Befreiung von der Sperre und der Friede nicht lauter Segen. Das Übergewicht der jungen englischen Großindustrie machte sich nun rasch und erdrückend geltend. Der Kontinent und besonders Deutschland wurde mit den neuen, billigen Waren überschwemmt. Schon für das einzige Jahr 1814 hat man berechnet, daß ein Wert von etwa fünfundsechzig Millionen Mark in Gespinsten und Geweben aus Baumwolle von Großbritannien nach Deutschland eingeführt wurde, und so wurde bald die heimische, besonders die schlesische Leinenindustrie vom Markte verdrängt. Die Unterbietung geschah planmäßig. Die englischen Fabrikanten und Kaufleute ließen sich sogar zeitweilige Verluste nicht verdrießen, um sich den Boden für ein um so gewinnreicheres Geschäft zu ebnen. Zugleich hemmte die englische Gesetzgebung, durch das agrarische Interesse beherrscht, die Korneinfuhr aus Deutschland. So war also im handelspolitischen Sinne England der Sieger, man kann wohl sagen, der alleinige Sieger. Es war aber auch, wenigstens scheinbar, die Entscheidung gefallen in einem Kampfe der Ideen, der innerpolitischen Systeme, der Parteien und der hinter den Parteien stehenden sozialen Schichten. Man blickte zurück auf einen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren, der mit den epochemachenden Ereignissen von 1789 eingesetzt hatte. Mit Napoleon lag die Revolution am Boden, als deren gewaltiger Vertreter er galt, der sie gebändigt hatte. Denn freilich hatte er ihr Fesseln angelegt, um ihre Gedanken desto sicherer und rücksichtsloser durchzuführen. An der Hinrichtung des unglücklichen Königs, dem der junge Leutnant einst den Fahneneid geschworen hatte, war er persönlich

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unschuldig; aber fünfzehn Jahre nachher sah er in Erfurt ein Parterre von Königen zu seinen Füßen. Die Demütigung für das erbliche Fürstentum war noch größer. Die Revolution war zuerst gegen den fürstlichen Absolutismus, sodann gegen die herrschenden Stände, die Geistlichkeit und den Adel, gerichtet, die der fürstliche Absolutismus selber seit Jahrhunderten gedrückt und eingeengt hatte, freilich nicht ohne zugleich Teile von ihnen an sich zu ketten und sich dienstbar zu machen. Nun (1814) erhob sich wieder das getretene Fürstentum; mit ihm erhob sich die Aristokratie, beide hatten den gemeinsamen Gegner kennen gelernt, sie schlössen sich um so enger zusammen, sie waren entschlossen, in festem Bunde miteinander alle liberalen, demokratischen, umstürzlerischen Regungen und Bestrebungen niederzuhalten, sie wollten die alte Gesellschaft, den alten Staat, das ancien régime, wie man in Frankreich sagte, wieder einsetzen, wiederherstellen. Die Epoche der Restauration sollte beginnen. In diesem Sinne wollte man das europäische Staatensystem, das Napoleon zerrüttet hatte, aufs neue ordnen. Von diesem Gedanken erfüllt, war im September 1814 der große europäische Kongreß in Wien zusammengetreten. Es war eine europäische Versammlung, wie sie niemals zuvor erlebt worden war. Die großen und kleinen Monarchen waren persönlich erschienen, außerdem alle hervorragenden Staatsmänner. Die vier freien Reichsstädte, die in Deutschland übriggeblieben waren, die Schweiz und ihre einzelnen Kantone, der Papst und die abgesetzten Fürsten, die Reichsritterschaft und die säkularisierten Stifter des weiland Heiligen Römischen Reiches, darunter das protestantische Bistum Lübeck, viele andere Korporationen, religiöse Gemeinden — so die Frankfurter Juden — Berufsgruppen, wie die deutschen Buchhändler, hatten Vertreter entsandt. Alle Welt erwartete Wiederherstellung zertrümmerter Rechte, Anerkennung geschädigter Interessen oder aber Fortschritt und Verbesserung im Geiste der neuen Zeit. Aber im Vordergrunde stand doch die neue Gestaltung der Karte Europas, die schon der Pariser Friede vorgezeichnet hatte. In der Hauptsache handelte es sich um Verteilung der Beute, und darüber ging natürlich die Einigkeit bald in die Brüche. In den ersten Monaten vertrug man sich leidlich, aber die Arbeiten schritten nicht vorwärts. Wien war eine vergnügte Stadt, damals wie heute. Kaiser Franz machte den Wirt mit Glanz und Freigebigkeit trotz der zerrütteten Finanzen seines Staates; man amüsierte sich prachtvoll. Die Aristokratie Europas zeigte, daß sie die Kunst i in Erfurt: Fürstentag zu Erfurt vom 24. Sept. bis 14. Okt. 1808. 2i freien Reichsstädte: Frankfurt am Main, Bremen, Hamburg, Lübeck.

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des Lebensgenusses durch die Wirrsale der Zeit für sich gerettet hatte. Nachdem das Volk so viel gelitten, für Haus und Herd und für seine Fürsten gekämpft hatte, mußten doch die Fürsten und ihre Genossen in der Pracht und Herrlichkeit von Bällen, Redouten, Feuerwerken, Karussellen, Jagden, Wagen-, Reiterzügen, Schlittenfahrten, Paraden, Komödien und Aufführungen aller Art für die Schmerzen ihrer Untertanen entschädigt werden. Und das geschah reichlich. Berühmt wurde der Witz eines vornehmen Diplomaten: „Der Kongreß tanzt, aber er kommt nicht vorwärts." Indessen fehlte es nicht an Intrigen, an Spannungen; ja, es traten bald heftige Gegensätze zutage. Im Anfange des Jahres 1815 wurde das Auseinanderfallen des scheinbar geeinigten Europas, der Ausbruch eines neuen Krieges befürchtet. Die beiden großen Fragen, über die man sich nicht einigen konnte, waren die sächsische Frage und die polnische Frage. Der König von Sachsen hatte an dem Bündnis mit Napoleon festgehalten; sein Land schien ihm verloren zu sein. Preußen hatte schon am 8. November das benachbarte Königreich in Besitz und Verwaltung genommen, und die Einverleibung galt manchem als gesichert. Der entthronte König sollte ein schönes Gebiet am Rhein als Entschädigung erhalten. Das geteilte Polen blieb eine Ruine. Aus den preußischen Bestandteilen hatte Napoleon das Großherzogtum Warschau gebildet, das er an den Rheinbund angliederte. Z u m Großherzog machte er den König von Sachsen; es war also nunmehr herrenloses Gut. Der Zar Alexander der Erste fand, es sei für ihn gerade gut genug. Er war ein sonderbarer Schwärmer, von Freiheits-, ja Revolutionsideen angesteckt und zugleich ein frommer Romantiker. Er wollte ein neues Königreich Polen herstellen und diesem eine freie Verfassung geben, natürlich unter seinem Zepter. 7 Witz: Das Wort wurde dem österreichischen Feldmarschall Karl Josef Fürst von Ligne in den Mund gelegt; es stammt aber nicht von ihm. Nach Jacob Grimm soll de Ligne ursprünglich gesagt haben: „Le congrès danse beaucoup, mais il ne marche pas" (Brief an Wilhelm Grimm vom 23. Nov. 1814, in: „Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit", Weimar 1881, S. 386). 15 König von Sachsen: Friedrich August, König seit 1806, abgesetzt 1813 und erneut seit 1815. 21 Großherzogtum Warschau: Entstanden 1807 in Personalunion mit Sachsen (bis zum Wiener Kongreß). 22 Rheinbund: Er wurde 1806 auf Initiative Napoleons gegründet und unter dessen Protektorat gestellt; er umfasste 16 süd- und westdeutsche Territorien, die sich am 1. August 1806 vom Reich lossagten. 24 Alexander der Erste: Russ. Zar von 1801 — 1825.

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Begreiflich, daß diese Pläne, die der Zar mit Leidenschaft verfocht, auf heftigen Widerstand stießen. Rußlands Macht und Umfang schien den übrigen europäischen Mächten schon groß genug: schon hatte es begonnen, die Türkei zu verkleinern; erst Napoleons Feldzug hatte es zum Friedensschluß nach dreijährigem Kriege veranlaßt. Aber in die Einigkeit der Mächte gegen den Zaren kam ein verhängnisvoller Riß: Preußen, das in seinen Ansprüchen auf Sachsen von Rußland unterstützt wurde, ging ins russische Lager über. Metternich, dem Vorsitzenden des Kongresses, war dies willkommen, ebenso Talleyrand, der aus seiner heimlichen Rolle als Vertreter Frankreichs allmählich in den Vordergrund trat und das Prinzip der Legitimität in die Wagschale warf. Ihnen und Lord Castlereagh, dem Vertreter Großbritanniens, galten nun der Zar und der König von Preußen wegen ihrer Prätentionen als Adepten der Revolution. Am 3. Januar 1815 schlössen Österreich, Frankreich und England ein Bündnis, natürlich zur Verteidigung; die ehemaligen Rheinbundstaaten schlössen sich an. Preußen, dessen Staatskanzler Hardenberg nicht damit einverstanden war, sich mit Rußland zu isolieren, gab nach. Auch der Zar verstand sich zu einigen Einräumungen und gab die Festung Thorn an Preußen zurück. Diese Verhandlungen waren noch nicht zum förmlichen Abschluß gediehen, der Kongreß genoß die Freuden des Karnevals, aber es gab lange Sitzungen dazwischen: es war am Schluß einer Nachtsitzung, am 7. März, als Fürst Metternich ein dringliches Schreiben des Generalkonsuls in Genua empfing; er glaubte nicht, daß die Eile so sehr ernst zu nehmen sei. Man stelle sich seine Überraschung vor beim Lesen der Depesche, deren Inhalt war, daß Napoleon Bonaparte die Insel Elba verlassen habe. Am 11. März traf die Nachricht ein, daß er zehn Tage vorher den Boden Frankreichs wieder betreten hatte. Er riß Nation und Heer im Sturme mit sich fort. Nach zwanzig Tagen eines Triumphzuges durchs Land hielt er seinen Einzug in Paris. Nun war der Kongreß mit einem Schlage wieder einig, der Zar und Metternich fielen sich in die Arme. Der Feldzug in Belgien, die Schlacht bei Waterloo oder Belle Alliance am 13. Juni erstickten die wieder aufflackernde Flamme des großen Cäsaren, ließen seinen Stern für immer erlöschen. 4 die Türkei zu verkleinern: Russland führte von 1806—1812 Krieg gegen das osmanische Reich und besetzte dabei Bessarabien sowie die Fürstentümer Moldau und Wachei. Erst der Friede von Bukarest vom 28. Mai 1812, bei dem sich Russland mit dem Erwerb von Bessarabien zufrieden geben mußte, sowie der dann folgende Feldzug Napoleons gegen Russland in der zweiten Jahreshälfte 1812 beendeten — vorläufig — diesen Konflikt.

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Die Verhandlungen in Wien nahmen alsbald einen rascheren und entschiedeneren Fortgang. Sie drehten sich nun hauptsächlich um die Neugestaltung Deutschlands. Im ersten Pariser Frieden war schon bestimmt worden, „die deutschen Staaten werden unabhängig und durch ein föderatives Band vereinigt sein". Es kommt uns heute sonderbar vor, daß der europäische Kongreß Deutschland seine Verfassung geben sollte; aber nichts erschien damals so selbstverständlich, ja, es wurde nicht für möglich gehalten, anders als unter europäischer Garantie die vierunddreißig Souveräne und vier freien Städte unter einen Hut zu bringen. Die größte Schwierigkeit lag zunächst nicht bei den zwei Großmächten; es waren die mittleren Souveräne, der von Bayern und noch mehr der von Württemberg,

neue Könige, von Napoleons

Gnaden geworden,

die am

schwersten sich dazu verstanden, von ihrer kostbaren Souveränität etwas abzutreten. So wußte die Auffassung der Rheinbundskönige das vorgeschlagene Bundesgericht zu hintertreiben. Wiederum mutet es uns seltsam an, zu hören, daß der Freiherr vom Stein sich an den Zaren wandte, um ihn zu bewegen, die deutschen Fürsten daran zu erinnern, was sie der Einheit und der Freiheit der Nation schuldig seien. Er, der Alleinherrscher aller Reußen, wolle sich für die Grundsätze der Freiheit und Einheit verwenden, damit Deutschland aufhöre, ein weiter Sammelplatz von Unterdrückern und Unterdrückten zu sein. „Die Verhandlungen über den Bundesvertrag", so schrieb er am 4. November, „hatten bisher keinen andern Erfolg als den, von seiten Bayerns und Württembergs ein System des Ehrgeizes gegenüber den Fürsten und freien Städten, der Vereinzelung gegen den Bund und des Despotismus gegen ihr eigenes Land ans Licht zu bringen, ein System, welches den Rechten, die sie ansprechen können, den Grundsätzen der geselligen und Bundeseinrichtung, dem Glück der Regierten, der innern Ruhe, dem Wohle Europas widerspricht." Stein machte außerdem die kleineren Staaten mobil, die das Bedürfnis der Stärkung durch die Zentralgewalt empfinden mußten.

3 Pariser Frieden:

Vom 30. Mai 1814. Die wichtigsten Ergebnisse: Frankreich behielt seine

Grenzen vom 1. Jan. 1792, vorgesehen war eine Föderation der deutschen Staaten sowie die Einberufung eines Kongresses nach Wien. 5 förderatives i i mittleren

Band vereinigt: Souveräne:

Vgl. Häusser, 1857: IV, 659.

Maximilian I. Joseph, seit 1799 Kurfürst von Pfalz-Bayern, König

von Bayern von 1806 — 1825; Friedrich, seit 1797 regierender Herzog von Württemberg, seit 1803 Kurfürst, von 1 8 0 5 - 1 8 1 6 König von Württemberg. 18 schuldig IV, 797.

seien:

Vgl. Stein an Alexander I. vom 4. Nov. 1814, zit. in Häusser, 1857:

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Stein war von Anfang an dafür gewesen, nach Möglichkeit das alte Reich mit dem Kaiser an der Spitze wiederherzustellen. Man konnte zweifeln, ob es jemals aufgehört hatte zu sein, man sah aber das förmliche Ende darin, daß der Kaiser die Krone niedergelegt hatte. Von Rechts wegen hätten die Kurfürsten einen neuen Kaiser wählen müssen. Das wirkliche Ende lag darin, daß Napoleon nach der Gründung des Rheinischen Bundes dem Regensburger Reichstag erklären ließ, er anerkenne kein Deutsches Reich mehr. Da es nun galt, die Gewaltschöpfungen des Korsen rückgängig zu machen, da man die Prinzipien der Legitimität und der Restauration heilig sprach, so hätte nichts näher gelegen, als das Heilige Reich wieder ins Leben zu rufen. Gleichwohl stellten sich die Staatsmänner einhellig auf den Standpunkt, daß die Lebensbedingungen des alten Reiches schon seit Jahrhunderten untergegangen seien. Diese Todeserklärung ist gewiß das merkwürdigste Beispiel für die fast natürliche und doch durch menschliches Wollen bedingte Vernichtung eines historisch höchst bedeutenden politischen Gebildes. Aber eine einheitliche Exekutive schien doch für den neu zu stiftenden Bund unerläßlich notwendig, auch denen, die dahingestellt sein ließen, ob es eine lebenslängliche oder eine erbliche Würde sein sollte. Schwieriger war die Frage, wer Träger des Kaisertums sein solle. Stein hatte sich dahin ausgesprochen, man müsse versuchen, Österreich zur Übernahme zu bestimmen und, falls sich dieses jetzt weigere, bei guter Gelegenheit auf Österreich oder aber auf Preußen zurückkommen. Der Plan wurde von Rußland und seinem gewandten Geschäftsträger, dem Griechen Kapodistrias, warm empfohlen. Den entschiedensten Widerstand setzte der Natur der Sache nach Preußen entgegen. In Hardenbergs Namen verfaßte Wilhelm von Humboldt eine Denkschrift, worin er dem Vorschlage nicht nur das Sonderinteresse der preußischen Politik, sondern das Interesse Deutschlands selber als Grund entgegenstellte. Die Erörterungen über die Frage dauerten lange, die Vorschläge waren mannigfach, unter anderm wurde der Ge7 Reichstag:

Mitteilung Napoleons vom 1. Aug. 1806 an den Regensburger Reichstag,

dass er das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nicht mehr anerkenne. 23 auf Preußen 24 Kapodistrias:

zurückkommen:

Vgl. Stein, zit. in: Hausser, 1857: IV, 806.

Johannes Graf Kapodistrias setzte sich in seiner Denkschrift für die Schaf-

fung einer Oberhauptswürde in einer deutschen Verfassung ein (Pertz, 1851: IV, 735-39). 27 Denkschrift:

Sur le rétablissement de la dignité Imperiale en Allemagne [Gegen Steins

Denkschrift über die deutsche Kaiserwürde] vom 3. März 1815. In: Pertz 1851: IV, 7 5 2 - 7 5 5 . Zit. in: Hausser, 1857: IV, 811.

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danke geltend gemacht, Franz den Zweiten zum Kaiser, Friedrich Wilhelm den Dritten zum König von Deutschland zu wählen. Die Verhandlungen schwankten, zwei Verfassungsentwürfe, die Humboldt im Februar vorlegte, wurden langsam beraten; aber in diese zäh-flüssige Masse brachte erst das stürmische Wiedererscheinen Napoleons auf der Bühne lebhaftere Bewegung, ja ungeduldige Eile. Die Vertreter der Kleinstaaten verlangten, daß nunmehr die wesentlichen Grundlagen eines die Rechte aller Teile sichernden Bundesvertrages in gemeinsame Beratung genommen, der Vertrag in Wien selbst abgeschlossen und nicht allein den Bundesgliedern ihre Selbständigkeit und Integrität garantiert, sondern auch den deutschen Staatsbürgern eine freie, geordnete Verfassung gesichert werde. Der Geist, der aus diesem Entwürfe spricht, war freilich nicht der Geist oder Ungeist der Bundesakte, wie sie wirklich wurde, und schon der Auszug aus ihren beiden früheren Entwürfen, den Hardenberg und Humboldt zuerst im April, sodann in modifizierter Gestalt im Mai vorlegten — die vierzehn Artikel —, enthielt den Gedanken der Einheit, wie den der bürgerlichen Freiheit, nur in erheblicher Abschwächung. Metternich legte dann seinen Gegenentwurf vor, den unvollkommensten und unfreisinnigsten nennt ihn Häusser, der während der mehr als siebenmonatlichen Verhandlungen aufgetaucht sei. Und dieser wurde nun die eigentliche Grundlage. Aus einem Kompromiß ist dann die Verschmelzung des preußischen mit dem österreichischen Entwurf hervorgegangen; in den Grundzügen aber überwog der österreichische, der nicht einmal eine nähere Bestimmung über die landständischen Rechte, nicht einmal die Garantie der Verfassungen, nicht die Gewährung unparteiischer Rechtspflege, keine genauere Feststellung der Aufgabe des Bundesgerichts enthielt. Das Bundesgericht selber wollten beide Entwürfe einführen; auch Hannover, Sachsen, Kurhessen, beide Mecklenburg, Oldenburg, die sächsischen Fürstenhäuser und Lübeck wünschten ausdrücklich diesen Schlußstein (so hatten Hardenberg und Humboldt es bezeichnet) in das deutsche Rechtsgebäude einzufügen. Der entschiedene Widerspruch Bayerns hat es noch im letzten Augenblick verhindert. Die ent3 Verfassungsentwürfe:

Zweiter Plan Wilhelm von Humboldts vom Dez. 1814, vorgelegt

am 10. Feb. 1815. 7 Kleinstaaten

verlangten:

In einer Note vom 22. März 1815 — siehe Häusser, 1857: IV,

819. 14 früheren

Entwürfen:

Verfassungsplan in 14 Artikeln vom April 1815, revidierte Fassung

von Friedrich von Hardenberg vom 1. Mai 1815. 19 Häusser:

Vgl. Häusser, 1857: IV, 824.

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scheidenden Verhandlungen dauerten vom 23. Mai bis zum 8. Juni. Am 10. Juni wurde die deutsche Bundesakte von den Bevollmächtigten der deutschen Fürsten und freien Städte unterzeichnet. Am 24. Juni überreichte der Freiherr vom Stein wiederum dem Zaren eine Denkschrift, worin es heißt: „Jedermann, der sein Vaterland liebt und dessen Glück und Ruhm wünscht, ist berufen zu untersuchen, ob der Inhalt dieser Urkunde entspricht der Erwartung der Nation, der Größe ihrer Anstrengungen, ihrer Leiden, der Tatkraft und Beschaffenheit des Geistes, der sie, jene zu machen und diese zu ertragen, in Stand setzte, ob sie in dieser Urkunde die Gewähr ihrer bürgerlichen und politischen Freiheit findet und so weiter." „Unsere neueren Gesetzgeber", heißt es in der Denkschrift ferner, „haben an die Stelle des alten deutschen Reiches mit einem Haupte gesetzgebender Versammlung, Gerichtshöfen, einer innern Einrichtung, die ein Ganzes bildete, einen Deutschen Bund gesetzt ohne Haupt, ohne Gerichtshöfe, schwach verbunden für die gemeine Verteidigung. Die Rechte der Einzelnen sind durch nichts gesichert, als die unbestimmte Erklärung, daß es Landstände geben solle, ohne daß etwas über deren Befugnisse festgestellt ist; und doch eine Reihe Grundsätze über die Rechte jedes Deutschen, worunter man die Habeas Corpus, die Abschaffung der Leibeigenschaft ausgelassen hat, und welche durch keine schützende Einrichtung verbürgt werden." Er faßt dann seine Kritik, die noch auf die Bildung und Handlungsfähigkeit des Bundestages und auf das Bündnisrecht der Einzelstaaten eingeht, in den Worten zusammen: „Von einer so fehlerhaften Verfassung läßt sich nur ein sehr schwacher Einfluß auf das öffentliche Glück Deutschlands erwarten, und man muß hoffen, daß die despotischen Grundsätze, von denen mehrere Kabinette sich noch nicht losmachen können, nach und nach durch die öffentliche Meinung, die Freiheit der Presse und das Beispiel zerstört werden, welches mehrere Fürsten, besonders Preußen, geben zu wollen scheinen, indem sie ihren Untertanen eine weise und wohltätige Verfassung verleihen." Die letzten Worte Steins verraten, daß er dem König, der ihn einst als einen widerspenstigen Staatsdiener von sich gestoßen hatte, mehr Einsicht und Willen zutraute, als dieser Monarch besaß. Offenbar baute 21 „ . . . verbürgt werden": Vgl. Pertz, 1851: IV, 4 4 4 - 4 4 6 . 3z gestoßen hatte: Der Freiher vom Stein wurde von König Friedrich Wilhelm III. am 3. Jan. 1807 als preußischer Staatsminister entlassen, nachdem er in Denkschriften auf eine energische Neuordnung der Staatsspitze gedrängt hatte. Neuerliche Abberufung im Nov. 1808 (auf Veranlassung Napoleons), nachdem Stein im Okt. 1807 mit Billigung Napoleons als Leiter der gesamten Verwaltung erneut eingesetzt worden war.

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Stein darauf, daß das ausdrückliche Versprechen einer allgemeinen Nationalvertretung, wie es in der preußischen Verordnung vom 22. Mai 1815 enthalten war, gehalten würde. Obgleich Stein erst 1831 verstorben ist, hat er doch die Einlösung dieses Versprechens nicht erlebt, die erst durch eine Revolution erzwungen werden mußte. Im übrigen aber haben die Diagnose wie die Prognose des Staatsmannes recht behalten. Zwei Tage nach der Stiftung dieses Deutschen Bundes wurde ein anderer Deutscher Bund begründet, ein Bund der Jugend, den man wohl als einen Gegenbund bezeichnen kann. Denn in ihren Anfängen wie in ihrer ganzen Entwicklung ist die Deutsche Burschenschaft, die am 12. Juni 1815 in dem Musenstädtchen Jena ihre Weihe empfing, die Verneinung des Deutschen Bundes und seines volksfeindlichen Geistes gewesen. Ihre Verfassungsurkunde und ihr Leben, das nur unter steten Hemmungen, Verfolgungen, Verlästerungen fortschritt, waren durchweht „von dem großen Gedanken an ein gemeinschaftliches, allumfassendes Vaterland". Und doch wollte und sollte es der Geist des Christentums sein, der diesem Gedanken die Weihe gab; der Geist des Christentums, der wiederum auf andere Art sich in den Seelen der Herrscher

spiegelte, die einige

Monate später (26. September 1815) das „Heilige Bündnis" (La Sainte Alliance) schlössen, ein Bündnis, das in sanften Worten, im Namen der Gerechtigkeit, der frommen Liebe und des Friedens die menschlichen Institutionen befestigen und ihre Unvollkommenheiten heilen wollte. Ein sonderbares Mißverständnis verwechselte bald diese heilige Allianz mit dem gleichfalls noch im Jahre 1815 geschlossenen „großen Bündnis" der vier Mächte, an dem England teilnahm, das sich jenem „Denkmal politischer R o m a n t i k " (so bezeichnet es Alfred Stern) fernhielt. Dies große Bündnis war ausgesprochenerweise gegen den Geist der Revolution gerichtet und beherrschte Jahrzehnte hindurch die europäische Politik, während das „heilige" Bündnis im Hintergrunde blieb und nur in Wahnvorstellungen dieser Politik eine Verklärung lieh. — Wenn man sich auf einen Zeitgipfel der Vergangenheit stellt, so ist diese Stellung sehr verschieden von derjenigen, die wir heute einnehmen können. Von dort aus übersehen wir auch ein Stück Geschichte, das damals noch Zukunft war. So läßt sich an dem, was folgte und sich

2 preußischen Verordnung: Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes. 15 „... allumfassendes Vaterland": Vgl. Verfassungsurkunde der Jenenser Burschenschaft, zit. Stern, 1913: I, 449. 26 „Denkmal

politischer

Romantik":

Vgl. Stern, 1913: I, 41.

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entwickelte, der Wert jenes Werkes messen, das der Wiener Kongreß voller Zuversicht in seine Dauer geschaffen hat. Die Restauration in Frankreich brach nach fünfzehn Jahren zusammen und hat sich niemals wieder erholt, auch ist es nicht wahrscheinlich, daß es je geschehen werde. Überhaupt hat es sich als ein Irrtum erwiesen, wenn die Staatsmänner von 1815 wähnten, dem Drachen der Revolution den Kopf zu zertreten, wenn sie glaubten, das europäische Staatensystem so wiederherzustellen, daß Ruhe und Friede gesichert sei. Zwar dauerte es nach Waterloo fast vierzig Jahre, bis ein neuer Krieg zwischen Großmächten zum Ausbruch kam. Aber von bürgerlichen Unruhen, von Staatsveränderungen und Revolten ist die erste wie die zweite Hälfte des Jahrhunderts erfüllt gewesen. Merkwürdig, daß gerade der Süden Europas, der doch von dem zersetzenden Geiste und Gifte der Philosophie und der Aufklärung am wenigsten berührt war, die Fahne des Umsturzes am frühesten wieder entfaltete. Schon im Jahre 1820 brach in Spanien von der Armee aus der Aufruhr aus, der bald in eine allgemeine Revolution gegen die feudalen und kirchlichen Ordnungen überging; auch auf Portugal und von da auf Brasilien griff die Bewegung rasch über. Ebenso erhob sich das Volk in Unter-Italien — das Königreich Neapel und Sizilien war dem Bourbonenkönig Ferdinand zurückgegeben worden — und bald auch in Piemont, in Modena und Padua. Jahrelang währten die Unruhen auf diesen beiden südlichen Halbinseln, aber keineswegs ruhiger war um dieselbe Zeit die Balkanhalbinsel. Ein langwie3 Frankreich: Die Julirevolution von 1830 brachte die Abdankung des Bourbonen Karl X. 9 neuer Krieg: Gemeint ist der Krimkrieg (1853 — 1856). 16 Spanien: Truppenrevolten und Aufstände der Liberalen, Niederlage der Anhänger einer absolutistischen Monarchie, 1822 frz. Intervention. 18 Portugal: Im Jahre 1821 rebellierten Teile der Truppen, die König Johann VI. (König 1816 — 1826) zwangen, eine Verfassung zu gewähren, die aber 1823 wieder abgeschafft wurde. 19 Unter-Italien: Die Carbonariverschwörung von 1820, wobei allerdings die breiteren Schichten des Volkes sich nicht anschlössen. Österreichische Truppen setzten den monarchischen Absolutismus wieder in Rang und Stellung. 20 Ferdinand: Ferdinand I., König beider Sizilien (1759—1825), war seit dem Wiener Kongress anerkannt. 21 und Padua: Die revolutionären Aufstände 1831 unter dem Eindruck der Julirevolution in Frankreich. Parma, Modena, die Romagna, die Mark Ancona sowie Teile des Kirchenstaates schlössen sich im Feb. 1831 als „Vereinigte italienische Provinzen" zusammen, die jedoch nur wenige Wochen Bestand hatten. — In Piemont brach 1834 ein Aufstand aus, den der von Giuseppe Mazzini gegründete Bund „Giovine Italia" initiierte; auch dieser wurde bald niedergeschlagen.

Vor hundert Jahren

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riger Krieg bezeichnete den Abfall Griechenlands von der Türkei, der 1829 zum Frieden von Adrianopel und 1831 zur Begründung des Königreichs Griechenland führte. Ein sonderlich weises und staatsmännisches Werk meinte der antirevolutionäre Kongreß geleistet zu haben durch die Wiederherstellung und Vergrößerung des Königreichs der Niederlande, nachdem Österreich als Entschädigung für Belgien das lombardisch-venetianische Königreich, auch Dalmatien erhalten hatte. Aber kurz nach der Pariser Julirevolution wurde auch in Brüssel der Umsturz siegreich. Die katholisch-ultramontane Partei und die liberale Partei hatten sich auf der Barrikade vereinigt. Ein neuer Kleinstaat, das Königreich Belgien, wurde von Frankreich aus begründet und empfing durch eine Londoner Konferenz die Garantie der Großmächte. Es war eine althergebrachte Maxime der englischen Politik, daß die Niederlande unter keinen Umständen wieder in die Hände Frankreichs fallen dürften. So ist denn seitdem Belgien von der britischen Weltmacht mit besonderer Zärtlichkeit als ihr strategischer Vorposten auf dem Festlande betrachtet worden. Die Erfolge der französischen und der belgischen Revolution ermutigten auch die Polen zum Aufstand. Es war dem idealistisch wohlmeinenden Zaren Alexander, dem 1825 der harte Nikolaus folgte, nicht gelungen, ihre Ansprüche auf Freiheit und Unabhängigkeit zu befriedigen. Am 25. Januar 1831 sprach der polnische Reichstag die Entthronung des Kaisers Nikolaus und des Hauses Romanow aus. Der Aufstand wurde blutig niedergeworfen, Polen verlor seine Verfassung, seinen Reichstag und seinen Reichsrat und kam als russische Provinz unter das Regiment der Knute. In Rußland selbst hat es das Jahrhundert hindurch unablässige politische Gärung und vielfachen Meuchelmord, Verschwörungen, Verbannungen und Hinrichtungen gegeben. Zu einer Staatsveränderung hat die dumpfe Bewegung erst im neuen Jahrhundert geführt, nachdem die offenbar gewordene Revolution gewaltsam unterdrückt und verstümmelt 2 Adrianopel: Dabei erhielt Rußland die Donaumündung sowie Schutzrechte über Griechenland zugesprochen. 19 Aufstand: 1830 in Warschau, Absetzung der russischen Dynastie, Niederschlagung 1831. 20 Nikolaus: Die Aufrechterhaltung der zaristischen Autokratie war Nikolaus I. oberstes politisches Prinzip; außenpolitisch verfolgte er rücksichtslos die Unterdrückung revolutionärer Bewegungen. 31 Revolution: Gemeint die Revolution von 1905, die zur Einführung einer jedoch nur scheinkonstitutionellen Duma führte.

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worden war. Die russische Autokratie hat die Formen eines Verfassungsstaates angenommen. Auch in Skandinavien glaubten die Wiener Diplomaten einen dauerhaften Zustand zu schaffen, nachdem schon im Kieler Frieden vom 14. Januar 1814 Dänemark das lange mit ihm verbunden gewesene Norwegen an Schweden abgetreten hatte. Auch diese Schöpfung bewährte sich nicht, wenngleich auch hier erst im zwanzigsten Jahrhundert die entscheidende Wandlung eingetreten ist. Schon mehr als fünfzig Jahre früher war die ähnlich geartete Verbindung Dänemarks mit den Herzogtümern in die Brüche gegangen und 1864 völlig gelöst worden. Um den Blick nach dem Süden zurückzuwenden, so genügt es, daran zu erinnern, daß Italien im neunzehnten Jahrhundert durch eine Folge von Revolutionen, inneren und äußeren Kriegen sich zu einem einheitlichen Staate entwickelt hat. Die österreichische Herrschaft ist verdrängt worden, alle kleinen Staaten, zuletzt auch der Kirchenstaat, haben weichen müssen. Die Schicksale der Balkanhalbinsel

sind gleichfalls durch eine fortlau-

fende Umwälzung bezeichnet, die erst vor zwei Jahren einen vorläufigen Abschluß gefunden hat. Auch Spanien und Portugal blieben von Unruhen und Bürgerkriegen erfüllt. Portugal bis zum heutigen Tage, nachdem dort im Jahre 1910 eine republikanische Verfassung sich durchgesetzt hat. Und endlich unser liebes Deutschland! Der unauflösliche Deutsche Bund zur Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit Deutschlands und Unverletzlichkeit der einzelnen Bundesstaaten hat fünfzig Jahre lang 4 Kieler

Frieden:

Grönland, die Faröer-Inseln sowie Island blieben bei Dänemark, Groß-

britannien behielt Helgoland. Zudem mußte sich Dänemark verpflichten, ein Kontingent von 10.000 Mann für die Nordarmee gegen Napoleon abzustellen. 14 österreichische

Herrschaft:

Nach dem Frieden von Mailand 1849 behielt Österreich die

Hegemonie über Italien, in seinem Besitz befand sich Lombardo-Venetien. Im Gefolge des preußischen Sieges über Österreich 1866 fiel Venetien an Italien; der Trentino und Istrien verblieben allerdings bei Österreich. 18 vorläufigen

Abschluß:

Gemeint ist der im Aug. 1913 abgeschlossene Friede von Bukarest

(als Folge des 2. Balkankrieges zwischen Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite sowie als Folge des überraschenden Angriffs Bulgariens auf Serbien im Juni 1913): Bulgarien verlor Mazedonien und die Dobrudscha; Kreta fiel an Griechenland; Albanien wurde selbständig. Bis auf einen kleinen Rest war die Türkei ganz aus Europa verdrängt worden. 19 und Bürgerkriegen

erfüllt:

In Spanien die Bürgerkriege 1847—1849 (2. Karlistenkrieg),

1 8 7 2 - 1 8 7 6 (3. Karlistenkrieg, 1873 Ausrufung der ersten Republik, 1874 Restauration der Bourbonenherrschaft unter Alfons XII.). In Portugal herrschte vor 1910 der Diktator Joao Franco ( 1 9 0 6 - 1 9 0 8 ) .

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bestanden. Nachher sind aus dem einen Deutschland zwei Reiche geworden, die nach einer tiefgehenden Spaltung sich zu einem festen Bündnis wieder zusammengefunden haben: das Deutsche Reich vermehrt gegenüber dem Bestände des Deutschen Bundes um die polnischen Provinzen Preußens, um das Herzogtum Schleswig, um die Frankreich entrissenen, aber ehemals zum Deutschen Reiche gehörigen Provinzen Elsaß und Lothringen, deren Wiedergewinnung für Deutschland schon 1814 die preußischen Staatsmänner vergebens gefordert haben — die englische Politik wollte schon damals eine zu große Schwächung Frankreichs nicht zulassen und machte das europäische Gleichgewicht dagegen geltend — vermehrt endlich um die kleine Felseninsel Helgoland, die., einst verachtet, zu so großer Bedeutung gelangt ist. Wenn also die äußere Staatsentwicklung ganz andere Wege eingeschlagen hat, als die Fürsten und Diplomaten von 1815 es gewollt und geahnt haben, so gilt das gleiche von der inneren

Entwicklung, die mit der

äußeren überall die stärksten Zusammenhänge erkennen läßt. Auch hier ist das geworden, was jene während der ersten Hälfte des Jahrhunderts und lange darüber hinaus, mit allen Kräften, mit gesetzlichen und ungesetzlichen, mit materiellen und ideellen Mitteln zu verhindern

sich heiß

bemüht haben: eine Teilnahme des Volkes an der gesetzgebenden Gewalt im Staate, auf breitester Basis. Auf dem Felsen des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes ist das Deutsche Reich gegründet worden. O b man dies gutheißen und erfreulich finden oder es beklagen und verabscheuen möge, die Tatsache läßt sich nicht bestreiten und wird nicht ohne die tiefsten Erschütterungen sich rückgängig machen lassen. Man hat das allgemeine Wahlrecht ein Äquivalent, ein Gleichgewicht der allgemeinen Wehrpflicht genannt. Die allgemeine Wehrpflicht war eine Idee der französischen Revolution, die von Preußen unter Führung des genialen Scharnhorst aufgenommen und eingeführt wurde. Damals eine kühne Neuerung, ist sie heute dem Volke in Fleisch und Blut übergegangen. Eine Gedankenbildung, die heute noch einen revolutionären Anstrich hat, weil sie der Zukunft eine hohe Aufgabe stellt, weist in die Erweiterung und Verallgemeinerung der allgemeinen Wehrpflicht, in eine allgemeine Dienstpflicht

für alle Männer, auch solche, die nicht mit der

Waffe dem Vaterlande zu dienen geeignet sind, und für alle Frauen:

die

8 vergebens gefordert haben: Von Metternich auf der 2. Pariser Friedenskonferenz, nach der endgültigen Besiegung Napoleons, 1815 verworfen, durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als Reichslande dem Deutschen Reiche eingegliedert.

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allgemeine Dienstpflicht als die Pflicht zu arbeiten für das Gesamtwohl — eine Pflicht, die als sittliche Pflicht jeder in seinem Berufe sein Leben lang hat; aber der Staat macht die sittliche Pflicht zu einer Rechtspflicht. Die Ereignisse, unter deren Eindruck wir stehen, die ungeheuere Notwendigkeit der Zusammenfassung und Organisation aller Volkskräfte fordern uns auf, diesen Gedanken schon jetzt scharf ins Auge zu fassen, ihm mutig zu begegnen und seine Folgerungen nicht zu scheuen. Die Folgerungen sind: Erweiterung, Verstärkung der Volks-Rechte, auch Erweiterung und Verstärkung der Rechte der Frauen, Eröffnung politischer Rechte, politischer Freiheit auch für das weibliche Geschlecht. Man hat es einer Denkungsart, die vor hundert Jahren unter den Gebildeten vorwaltete, die in der französischen Revolution zum Durchbruche kam, zum Vorwurfe gemacht, daß sie immer zuerst und am meisten von den Rechten des Menschen und des Bürgers sprach, von natürlichen und zu gewährenden Freiheiten, von der Gleichheit und Gleichberechtigung der verschiedenen sozialen Schichten. Man habe — so ist oft gesagt worden — die Pflichten darüber vergessen oder doch nur von sittlichen Pflichten, nicht von den Rechtspflichten gesprochen, die doch notwendig den politischen und bürgerlichen Rechten die Wage halten müssen. Seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht haben wir mehr und mehr auch dieser bürgerlichen Pflichten kennen gelernt: die Schulpflicht, die Pflicht, als Schöffe und Geschworener zu dienen, die Versicherungspflicht usw. Das deutsche Volk wird bereit sein, den Umfang und Inhalt seiner Pflichten gegen den Staat noch bedeutend erweitern zu lassen, weil und sofern das Heil und die Sicherheit des Vaterlandes, aber auch das innere Gedeihen, die natürliche und sittliche Gesundheit des Zusammenlebens es fordert oder sogar gebietet. Dem aber muß es entsprechen, daß auch dem Volke Vertrauen geschenkt, daß ihm Rechte gegönnt werden, die dem einzelnen, Mann oder Frau, ein staatsbürgerliches Bewußtsein geben und befestigen. Vor hundert Jahren fand die Zeit, was staatsmännische Erkenntnis angeht, ein kleines Geschlecht, das die Zeichen der Zeit nicht zu deuten, ihnen nicht mit Verständnis zu begegnen wußte. Es gab wohl einsichtige, tiefer blickende, von sittlichem Ernst tief erfüllte Staatsmänner wie Stein, Wilhelm Humboldt und auch einige der großen Generäle: als Gneisenau und Boyen. Aber nicht ihr Geist, sondern der Geist Metternichs war es, der die Geschicke der Völker, insbesondere diejenigen des deutschen Volkes, lenkte und bestimmte. Metternichs, dem ein berühmter Histori38 berühmter

Historiker:

Vgl. Hausser, 1863: IV, 584.

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ker Anmut der Formen, elastischen Geist, vornehme Leichtfertigkeit des Wesens, schlaue, gewandte Art ohne sittlichen Ernst und wahre staatsmännische Tiefe zuschreibt. Die echten und rechten Menschen mußten im Hintergrunde bleiben, 5 weil sie nicht genau so dachten, wie es damals guter Ton war, zu denken und für allein zulässig, allein anständig galt. Möge sich ähnliches nicht wiederholen!

Die historisch-geographischen

i Die historisch-geographischen

Richtungen

Richtungen

der Neuzeit:

der Neuzeit

Zuerst in: Weltwirtschaftliches

Archiv (Harms, B. [Hg.]), 1915, Bd. 6, Heft 2, S. 3 0 7 - 3 1 9 , Jena (Fischer). Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung. Jena (Fischer) S. 2 2 3 - 2 3 5 . Vgl. TG 17.

1926,

Deutschlands Platz an der Sonne Ein Briefwechsel englischer Politiker aus dem Jahre 1915 Vorwort Peccasse enim se non anguntur, obiurgari moleste ferunt: quod contra oportebat, delicto dolere. correctione gaudere. Cic., Lael. de amic., c. XXIV.

Die hier vorgelegten englischen Meinungsäußerungen (aus der Londoner Wochenschrift „The New Statesman") über das Thema „Deutschlands Platz an der Sonne" dürfen eine politische Bedeutung in Anspruch nehmen. Der an der Spitze stehende Artikel von Sir Harry Johnston ist zwar ausgesprochen deutschfeindlich, aber er ist doch aus nüchterner Erwägung der Tatsachen hervorgegangen und sticht dadurch sehr vorteilhaft ab gegen das schwachsinnige Gewäsch, dessen sich sogar namhafte Historiker und Politiker über Nietzescheanismus und dergleichen schuldig machen 1 . Sir Harry Johnston ist ein Kenner Afrikas. Er war zuletzt Generalkonsul in Uganda. Er ist immer für humane Behandlung der Neger eingetreten. Sein im Jahre 1910 erschienenes Buch über die Neger in Afrika genießt hohen Ansehens. 1

Auch im „New Statesman" wird vorzugsweise solches Gewäsch zutage gefördert.

3 Vorwort: Zuerst in: Ferdinand Tönnies (Hg.), Deutschlands Platz an der Sonne. Ein Briefwechsel englischer Politiker aus dem Jahre 1915, Berlin (Springer) 1915, S. IIIIV. Es handelt sich bei der Edition um Äußerungen der beiden englischen Publizisten H. H. Johnston und E. D. Morel, beide ausgewiesene Kenner der Verhältnisse in den englischen Kolonien, sowie um einen Anonymus, der sich den Namen „Anglo-French" zugelegt hatte. Alle drei Artikel erschienen im „New Statesman". Näheres im Editorischen Bericht, S. 7 1 1 - 7 1 3 . 7 Cic., Lael. De amic., c. XXIV. „Gefehlt zu haben macht ihnen nämlich keine Pein, den Tadel aber ertragen sie mit Unlust. Dabei sollten sie sich doch umgekehrt über ihr Vergehen betrüben und sich über die Zurechtweisung freuen." Vgl. Cicero, 1898: 192. Das Motto steht im Buch auf S. II vor Tönnies' Vorwort. 19 Buch über die Neger: Siehe Johnston, 1910.

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Der hier mitgeteilte Artikel ist für uns vorzüglich merkwürdig durch die Antworten, zu denen er Anlaß gegeben hat. Sein Hauptgegner, der sich als sein persönlicher Freund vorstellt, Herr E. D. Morel, ist gleichfalls ein bekannter Schriftsteller über afrikanische politische Fragen und war während der letzten Jahre Sekretär der Congo Reform Association. Er hat mehrere Schriften über den Kongo und ein Buch über Nigeria verfaßt, von dem die Times gesagt hat: „Die Schrift ist klar, und die Ansichten darin sind kühn. Herrn Morels persönliche Eindrücke umfassen manche gewaltige Gedanken und Anregungen. Sein Buch hat überhaupt hervorragenden Wert für den Forscher wie für den praktischen Politiker." Endlich besitzen wir von ihm ein wichtiges Werk „Morocco in diplomacy", London 1912, worin er — vor Ausbruch des Krieges — die Gedanken viel ausführlicher dargestellt und begründet hat, die in den hier mitgeteilten Briefen wiedererscheinen. Daß er diese Gedanken auch jetzt noch ohne Einschränkung vertritt, macht seinem Mut und seiner Aufrichtigkeit Ehre. Das letzte Stück rührt von einem anonymen in Paris lebenden Verfasser her, dessen beißende Ironie vielleicht auf englische von cant benebelte Seelen noch reizvoller wirkt als Morels bitterer Ernst 2 . Aber Ernst wie Ironie sind uns wertvoll als deutliche Zeichen, daß Wahrheit und Gerechtigkeit sich nicht unterdrücken lassen. Ein Mann wie Morel wird den Vorwurf unpatriotischer Gesinnung über sich ergehen lassen müssen, der so oft diejenigen trifft, die das wahre Wohl ihres Landes erkennen und verfechten. In Wahrheit ist es der unerschrockene Tatsachen-Sinn, der 2

Bemerkenswert ist folgendes: Zu jeder Kundgebung Morels

hat die Redaktion der Wo-

chenschrift kritische Anmerkungen gemacht (die letzte habe ich als unerheblich ausgelassen, sie rief noch eine bündige Schlußantwort Morels dem Briefe des Anglo-French 6 Buch über Nigeria:

hervor). Einer Anmerkung zu

hat sich dieselbe Redaktion gänzlich enthalten.

Die Werke Morels über den Kongo heißen: „The British case in

French Congo; the story of a great injustice, its causes and lessons" (1903); „The c o m mercial' aspects of the Congo question" (1904); „The future of the Congo; an analysis and criticism of the Belgian government's proposals for a reform of the condition of affairs in the Congo" (1909). Das von Tönnies angesprochene Buch über Nigeria heißt „Nigeria, its peoples and its problems" (1911). 7 die Times gesagt hat: Siehe: Times Literary Supplement, 10. Jg., No. 516 vom 30. Nov. 1911, S. 487. 12 ein wichtiges S. 5 7 7 - 5 8 4 .

Werk:

Vgl. dazu unten Tönnies' Text „Marokko und der Weltkrieg",

Deutschlands Platz an der Sonne

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ihn wie so manche Engländer und Schotten auszeichnet, und seine Absicht ist im wie vor dem Kriege nur darauf gerichtet, „auszusprechen was ist" — die nackte und häßliche Wirklichkeit seinem Volke und der Welt vor Augen zu führen, daß die britische Politik des liberalen Kabinetts seit 9 Jahren nicht nur beflissen gewesen ist, das Deutsche Reich einzukreisen, sondern auch die Ubergriffe Frankreichs, seine offene Verletzung dessen, was öffentliches Recht für Europa geworden war (der Algeciras-Acte), gutgeheißen und unter seinen Schutz genommen hat, lediglich um den billigen Ansprüchen Deutschlands auf einen Platz an der Sonne entgegenzuwirken. — Die Belehrungen der beiden englischen Politiker sind vorzüglich geeignet, auch in neutralen Ländern, ja in Österreich und in Deutschland, diejenigen Friedensfreunde aufzuklären, die noch in dem kindlichen Wahne leben, es handle sich in dieser welthistorischen Katastrophe darum, daß der brave „Westen" in Deutschland die „Demokratie" vermisse und es für seine Aufgabe erachte, den preußischen Militarismus auszurotten. „Respekt vor den Rechten anderer Nationalitäten" verlangen die Mörder der irischen Nationalität, vor den Rechten kleiner Staaten die Unterdrücker Indiens, Ägyptens, Persiens, vor den Rechten der unteren Klassen die Herren des Landes, in dem die Klassenscheidung ein Abgrund ist, die in anderen Ländern einen tiefen Graben darstellt. Quis tulerit Gracchos —?

5 liberalen Kabinetts: Gemeint ist das Kabinett Asquith' (7. April 1908 — 5. Dez. 1916). 8 Algeciras-Acte: Vom 7. April 1906; Unterzeichner waren: Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Spanien, die USA, Frankreich, Großbritannien, Italien, Marokko, Niederlande, Portugal, Russland. Mit ihr wurde die sog. 1. Marokko-Krise beigelegt: Festschreibung der Souveränität Marokkos, der Unabhängigkeit des Sultans und der Beachtung des Grundsatzes wirtschaftlicher Freiheit. Die Akte bedeutete die Ausschaltung deutscher Wirtschaftsinteressen in dieser Region. Ein bereits am 3. Okt. 1904 geschlossenes Geheimabkommen zwischen Frankreich und Spanien (mit englischer Billigung) hatte jedoch die Interessen Frankreichs in bezug auf Marokko festgeschrieben: Spanien wurde darin der Gebietsstreifen mit Ceuta und Melilla zugeschrieben, während Frankreich den Rest erhielt. 21 Quis tulerit Grqcchos: Vollständig lautet dieser lat. Spruch „Quis tulerit Gracchos de seditione querentes?" („Wer ertrüge die Gracchen, die im Aufruhr Klage erhoben?"). Im übertragenen Sinne ist gemeint: „Wer hört auf den, der das, wogegen er eifert, selber tut?" (vgl. Juvenal; 2, 24).

Die Sozialpolitik nach dem Kriege Was die deutsche Sozialpolitik unter dem Einflüsse einer mächtigen Volksbewegung vor dem Kriege geleistet hat, das ist uns allen in lebendigem Bewußtsein. Und es hat sich schon die Ansicht verbreitet, daß diesen Leistungen ein gut Teil von dem verdankt werden muß, was das deutsche Volk in diesen ungeheuren Kämpfen an Willenskraft und Tatkraft, an Duldenskraft und Schaffenskraft bewährt hat und noch bewährt. Wir Heimgebliebenen hoffen und warten nun, „die Kränze in der H a n d " (nach einem Dichterworte) auf die Heimkehr der Sieger. Wir glauben nicht, wir wünschen nicht einmal, daß die Parteikämpfe verschwinden, daß der Klassenkampf aufhören oder auch nur lahm und zahm werden möge; denn ohne Widerspruch und Streit gibt es kein Leben, keine Entwicklung, keinen Fortschritt. Aber mit allem Ernste wollen wir danach streben, daß über allen Gegensätzen der Interessen und Meinungen nicht wieder vergessen werde: wir waren und sind ein einiges, einmütiges Volk im Widerstand und Angriff gegen die Feinde dieses unseres Volkes, darum auch einmütig nach innen, im Gedanken an das gesunde Leben, das Blühen und Gedeihen dieses unseres Volkes. Verbannt ist die Rede vom inneren Feinde: ein Organismus, in dessen Eingeweiden ein innerer Feind sein Wesen hat, kann eine so gewaltige Lebensbetätigung nicht wirken, wie das Deutsche Reich sie gewirkt hat. Die Ausbreitung des sozialistischen Gedankens muß als Zeichen der Rüstigkeit und Heilheit gedeutet werden, als eine Gegenwirkung gegen die verwüstenden Folgen der großen bürgerlich-kapitalistischen Umwälzung, die seit 4 Jahrhunderten der Weltverkehr und Handel, im 19. Jahrhundert aber mit unermeßlich verstärkter Gewalt der technisch-wissenschaftliche Fortschritt in den Grundlagen des gesamten sozialen Lebens hervorgerufen haben. i Die Sozialpolitik nach dem Kriege: Zuerst in: Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, hgg. von Dr. Friedrich Thimme und Carl Legien, Leipzig (G. Hirzel), S. 147—158; erneut in: Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für sozial-ethische Reformen, 1915, 23. Jg. (15. u. 22. 10. 1915), S. 1 5 3 - 1 5 5 u. S. 1 6 2 - 1 6 4 , Berlin (Bieber). Vgl. auch den Editorischen Bericht; S. 714 f. 9 „die Kränze in der Hand": Aus dem Gedicht „Gräber an der Küste" von Theodor Storm (1927: 362): „Schon hatten wir zu festlichem Empfang | Mit Kränzen in der Hand das Haus verlassen."

Die Sozialpolitik nach dem Kriege

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Nach dieser wissenschaftlichen Erkenntnis muß sich alle zukünftige Sozialpolitik richten, sie muß davon erfüllt sein. Nach wie vor, ja mehr als bisher, muß in ihr walten, was Kant das einzige schlechthin Gute in der Welt genannt hat: ein guter Wille. Aber dieser gute Wille darf sich nicht selber verwechseln mit dem Geiste der Wohltätigkeit und gnädigen Gunst, der auch dem Schwachen und Unbemittelten etwas gönnen will, der sich herabläßt zu den „unteren Klassen" — er muß mit dem Wissen verbunden sein, daß es einmal und zunächst sich handelt um Gerechtigkeit, die einem jeden gibt, was ihm gebührt (Suum cuique!), sodann aber um die Selbsterhaltung des ganzen Volkes, der „oberen" und „mittleren" Schichten nicht minder als des Proletariats, insofern nämlich, als jene nicht bloß aus Individuen bestehen, die mit ihrem Eigentum schalten und walten nach ihrem Belieben, sondern als sie Glieder sind des lebendigen Körpers der Nation, durch dessen Leben auch ihr Leben ernährt und erhalten wird. In den zündenden Schlagworten: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" hat die neue bürgerliche Gesellschaft ihren Idealismus ausgeprägt, der die Tore sprengen sollte, hinter denen sie sich eingeschlossen fühlte, die Tore der feudalen Ordnungen des Mittelalters und der Vorrechte („Privilegien"), in denen der absolutistisch-merkantilistische Staat von jenen Ordnungen zu bewahren und zu schützen suchte, was zu seiner eigenen Stütze notwendig schien, obgleich er selber schon im Wachstum der bürgerlich-kommerziellen Gesellschaft die stärkeren Wurzeln seiner Kraft gefunden hatte. Das große Motto der Revolution war zugleich das Motto für die Entfaltung des großbürgerlichen Reichtums in der großen Industrie, der als Nationalreichtum der Epoche ihren Glanz und ihre tiefen Schatten verlieh. Die bürgerliche Gesellschaft forderte und erzielte Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Niederlassungs- und Eheschließungsfreiheit, in weitem Umfange auch, durch Gestaltung der nationalen Wirtschaftsgebiete, Freiheit des Handels und Verkehrs. Die bürgerliche Gesellschaft forderte Gleichheit vor dem Gesetze und Gleichheit des Gesetzes in den nationalen, durch Verfassungen vereinheitlichten Staaten. Sie wollte dadurch

3 was Kant:

Vgl. „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", darin: „Erster Abschnitt.

Ubergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen", darin der erste Satz: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als ein guter Wille." (Kant, 1 9 0 6 : 10).

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jedem den Weg zum Wohlstand in Grundbesitz und Kapitalvermögen bahnen, jedem den Aufstieg zu öffentlichen Aemtern, zu höherer Geistesbildung, zu freien Berufen eröffnen, jedem — wenigstens jedem stimmfähigen Mitbürger, und wenigstens nach dem Maße seiner Steuerkraft — das Recht geben, an der Gesetzgebung durch Vertreter oder durch Wort und Schrift an der öffentlichen Meinung gestaltend mitzuwirken. Die bürgerliche Gesellschaft forderte Brüderlichkeit zunächst in weltbürgerlichem Sinne, der durch christliche Lehren vorbereitet war: Achtung von Menschenrechten und Menschenwürde, wohlwollende und wohltätige Gesinnung gegen die Aermsten und Geringsten, ja gegen die Verworfenen; in der praktischen Anwendung aber verengte sich auch diese Forderung dahin, daß sie vorzugsweise die Bedeutung gewann, den jungen Nationalgeist, insbesondere als Kampfgenossenschaft nach außen hin — in den Heeren Napoleons —, aber auch als bürgerlich-nationales Selbstbewußtsein, zu fördern. Befruchtet haben diese Vernunft-Ideen das öffentliche Leben Europas und der anderen Weltteile mehr oder minder, am meisten wohl das der „neuen Welt". Sie haben gedient teils zur Verwirklichung allgemein menschlicher, teils und mehr aber der darin enthaltenen nationalen und politischen Institutionen; am meisten aber haben sie gedient — wie in den Vereinigten Staaten am deutlichsten erkennbar — die Herrlichkeit und Vorherrschaft des Kapitals im Lichte des natürlichen Rechts, der Humanität und der Aufklärung, erstrahlen zu lassen. Der tiefste Grund der sozialen Arbeiterbewegung ist darin gelegen, daß sie die bürgerliche und kapitalistische Bewegung zugleich fortsetzt und ihr eine neue Wendung, eine Wendung gegen sie selber gibt. Darum haben auch für jene die Schlagworte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihre Bedeutung nicht eingebüßt, sie sind nicht erloschen und werden nicht erlöschen, so lange als das Leben der bürgerlichen Gesellschaft ihnen Nahrung gibt. Aber sie hatten bisher vorzugsweise einen formalen und äußerlichrechtlichen Sinn; darum blieb die Freiheit — der Liberalismus — im Vordergrund, und die Brüderlichkeit blieb ein Schatten. Sie gewinnen aber im neueren, im kritischen und synthetisch-positiven Bewußtsein einen materiellen und innerlich-rechtlichen oder einen sozial-ethischen Sinn und werden dadurch die Leitgedanken einer vom höchsten Geiste des Zeitalters getragenen Sozialpolitik. Die Freiheit ist für die heutige Arbeiterschaft am wichtigsten und wertvollsten als Freiheit der Assoziation oder Koalition. Diese bewegt

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sich durchaus auf dem Boden der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, sie überwindet deren „Individualismus" durch sich selber. Aber wie die allgemeine bürgerliche Freiheit durch die Verbindung mit dem freien und beweglichen Eigentum ihre umgestaltende Macht entfaltet, so gewinnt durch eine analoge Verbindung die Gewerkschaft und die Genossenschaft ihren sozial-ethischen und — das Wort braucht niemand zu erschrecken — kommunistischen Inhalt. Die Gewerkschaft ist, auch wenn sie von ihrem Vermögen Zinsen gewinnt, wesentlich ein Verein zu gegenseitiger und gemeinsamer Hilfe. Auch wenn sie selbst zur Kapitalistin wird, bleibt doch ihr Zweck antikapitalistisch: Hilfe im Kampfe des vereinzelten Arbeiters gegen die Uebermacht des Kapitals, Zusammenschluß zu gemeinsamen („kollektiven") Arbeitsverträgen, Unterstützung der Arbeitslosen, der Ausständigen oder Ausgesperrten, Schirmung der Familie, der Frauen und Kinder, zumal der weiblichen und jugendlichen Arbeitskräfte, die im Arbeitsmarkte den schwächsten Widerstand leisten. Unmittelbarer noch ist der antikapitalistische Wert und die sozial-ethische Zukunftsbedeutung der Genossenschaft. Nachdem die Erfahrung gelehrt hat, daß die Produktiv-Genossenschaft als Unternehmung Vermögensloser entweder im Kapitalwesen untergeht oder (öfter) seinem Wettbewerbe erliegt, ist die Organisation des Konsums mehr und mehr als der richtige Weg erkannt und beschritten worden: die Konsumvereine und vollends die Konsumvereine der Konsumvereine — die Großeinkaufsgesellschaften — können rasch die schwachen Kräfte vieler Einzelner zu einer Stärke zusammenschweißen, die auch Produktions-Genossenschaften zu tragen vermag. Man bringt hervor, was man braucht — die produktive Arbeit dient nicht mehr dazu, um durch Absatz der Ware an fremde und ferne Nachfrage Gewinn zu erzielen, sondern um das lebendige und nahe Bedürfnis zu befriedigen. Nachdem der Tauschwert zur Alleinherrschaft gelangt ist und viele Schönheit, Würde und Sicherheit des Lebens zerstört hat, wird der Gebrauchswert in seine Rechte wieder eingesetzt. Wenn auch bisher nur in geringem Umfange — verglichen mit der Gesamtmasse der Industrie und vollends der Landwirtschaft — so ist doch schon der Beweis der Möglichkeit einer solchen Organisation der Konsumenten von prinzipieller Bedeutung und der Keim einer freien Konkurrenz, in die das System genossenschaftlicher Arbeit mit dem System der freien Konkurrenz und der vom Kapital abhängigen Arbeit tritt. Weise Sozialpolitik wird daher, wenn sie sich auch nicht berufen fühlen mag, Gewerkschaften und Genossenschaften unmittelbar zu fördern

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und zu begünstigen, sicherlich ihnen gegenüber eine wohlwollende Neutralität beobachten und ihnen mindestens ebenso viel Freiheit und Spielraum gönnen, wie anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unternehmungen, besonders also wie den Vereinigungen des Kapitals, gegen deren monopolistische Tendenzen und Machteinflüsse sie ein wertvolles, ja notwendiges Gegengewicht darstellen. Hier möchte also die Anwendung des Prinzips des Gehenlassens (laisser faire) und der Parität geboten sein, das in so manchen Bezügen dem heutigen Staate angesichts der mannigfachen Bestrebungen und Meinungen seiner Bürger angemessen ist. Uebrigens gibt es mehr als ein Gebiet, wo Schutz der persönlichen Freiheit des Arbeiters und der Arbeiterin zu den positiven Aufgaben der Sozialpolitik gehört. Es ist das natürliche Bestreben vieler Arbeitgeber, ländlicher und industrieller, besonders auch großer Bergwerksunternehmungen, zuweilen in Gestalt von Wohlfahrtseinrichtungen, eine gewisse Hörigkeit durch vertragsmäßige Bindung des Dienstverpflichteten zu erneuern. Im Gesindewesen, dem solche Arbeitsverhältnisse nahe verwandt sind, hat sich ein Stück persönlicher Abhängigkeit erhalten, das in der häuslichen Gemeinschaft seinen Grund und auch seine innere Rechtfertigung haben kann. Ebenso behält das Lehrlingswesen im Handwerk und in Kleinbetrieben des Handels und Verkehrs seinen guten Sinn, das aber um so mehr — hier wie dort — gegen Ausbeutung und Mißhandlung geschützt werden muß. In diesen Verhältnissen ist freilich mehr von der sittlichen Bildung des Hausherrn und der Hausfrau, wie des Lehrmeisters, als von gutgemeinter Gesetzgebung zu erwarten. Die persönliche Freiheit des erwachsenen Menschen ist aber so sehr die Grundlage und Voraussetzung jedes sittlichen Bewußtseins geworden, daß der Staat die notwendigen Folgerungen daraus nicht scheuen, also auch den Landarbeitern die Koalitionsfreiheit nicht um scheinbarer Gefahren willen vorenthalten darf. Ferner muß aus dem Grundsatze eine weitgehende Freiheit der Selbstverwaltung abgeleitet werden, die als ein Gegengewicht gegen den Schematismus der Bürokratie die heilsamste Schule für den staatsbürgerlichen Gemeinsinn darstellt und recht eigentlich der politischen Volkserziehung dient, deren Bedürfnis um so stärker wächst, je mehr das Volk lernen muß, auch im großen durch die Personen seines Vertrauens sich selbst zu regieren. Mehr noch als die Freiheit ist es Gleichheit, die durch sozialethische und sozialpolitische Gesichtspunkte ein neues Gesicht erhält. Wenn die

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Februar-Erlasse des regierenden deutschen Kaisers (1890) die Gleichberechtigung des Arbeiters mit dem Unternehmer als unerläßliche Forderung wie mit scharfer Kante ins öffentliche Bewußtsein rückten, so war damit etwas ausgesprochen, was im rechtlichen Sinne selbstverständlicher Inhalt der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung längst geworden war; die Bedeutung war im sittlichen Sinne enthalten, sie war ein Appell an das Gewissen der Begüterten und Bevorzugten, war Hinweisung darauf, daß sie nicht sich als Herrenstand fühlen dürfen, daß hinter den sozialen Unterschieden des Vermögens und Einkommens die Volksgemeinschaft lebendig bleiben soll, und daß es eine Pflicht des im ethischen Sinne Gebildeten ist, sich in die Lage des Anderen, auch des etwaigen Gegners, zu versetzen, eine Pflicht, die aus der Pflicht zur Selbsterkenntnis unmittelbar fließt. Der in diesem Geiste erzogene Mensch wird zu Anschauungen, Bestrebungen, Kämpfen, die seinen Meinungen und Interessen widerstreiten, mit dem ernsten Willen zum Verständnis sich stellen, er wird die Gleichberechtigung des sozial Geringeren in sein Gefühl aufnehmen und dadurch auch dem unvermeidlichen Klassenkampfe mit gelassenem und versöhnlichem Sinne begegnen. Aber die Idee der Gleichheit hat für die Sozialpolitik eine viel größere Tragweite. In ihrem Zeichen ist der Sozialismus geboren. Sie verlangt nichts Geringeres als eine Ausgleichung der Unterschiede des Vermögens und des Einkommens. Freilich glaubt auch der kühnste Utopist nicht mehr an die Möglichkeit, auch der einfältigste kaum an die Ersprießlichkeit einer Aufteilung oder sonstwie hergerichteter mechanisch abgegrenzter gleicher Portionen von Gütern für jedermann oder für jede Haushaltung. Schon der Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Friedrich Engels, sagt von jeder Gleichheitsforderung, die über die Forderung der Abschaffung der Klassen, den wirklichen Inhalt der proletarischen Gleichheitsforderung, hinausgehe, sie verlaufe notwendig ins Absurde. Und doch behält das Streben nach Gleichheit in jenem Sinne: i Februar-Erlasse: Diese Erlasse vom 4. Feb. 1890 basierten auf einem sozialpolitischen Programm, das Wilhelm II. am 24. Jan. 1890 dem preußischen Kronrat vorgetragen hatte. Insbesondere verlangte das Programm die Einführung des Arbeitsschutzes (Verbot der Sonntagsarbeit, Einschränkung der Kinder- und Frauenarbeit) sowie die Einberufung einer internationalen Konferenz zu diesen Problemen. Es war erst Bismarck, der dieses Programm ablehnte, der, in der Hoffnung, das Programm werde so gebremst, den Inhalt eher radikalisierte, indem er der Erwartung auf eine gesetzliche Verankerung von Arbeitervertretungen in den Betrieben Vorschub leistete. 27 Friedrich Engels: Vgl. Engels, 1904: 104.

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als Ausgleichung und Ausfüllung der Kluft zwischen Reichtum und Armut, nicht nur seine ethische Richtigkeit, sondern Gleichheit, so verstanden, ist auch ein notwendiges Ziel sozialpolitischen Wollens. Das Ideal eines menschenwürdigen Daseins für jedes Kind einer deutschen Mutter, darum für jede Familie, die sich durch Mitarbeit am Schaffen materieller und ideeller Güter ein Recht auf Anteil am Nationalvermögen und Volkseinkommen erworben hat, bedarf als Ideal der Anerkennung nicht mehr, es hat schon die Festigkeit eines Glaubens für sich gewonnen, der darauf Häuser bauen möchte. Häuser auch im eigentlichen Sinne! Denn die Behausungs- und Wohnungsfrage stellt eines der größten, der dringendsten Probleme für eine erleuchtende Sozialpolitik dar, sofern es dieser um die Bedingungen der leiblichen und seelischen Gesundheit des Volkes zu tun ist. Auch ist schon weit in die Kreise der mittleren und sogar der oberen Volksschichten die Notwendigkeit der Bodenreform als einer gewaltigen, dringenden Aufgabe eingedrungen, d. i. einer Rechtsgestaltung, die letzten Endes das Privateigentum an den „Produktionsmitteln", zunächst aber an dem gemeinsamen heiligen Gute der Erde, seiner Willkür entkleiden und der Macht berauben soll, es als Mittel der Bereicherung auszunutzen, anstatt es in Verbindung mit seinen wesentlichen Zwecken im Dienste eines lebendigen Volkstums zu erhalten. Eine solche Verbesserung des Rechtes, wodurch das Privateigentum dem Gemeineigentum untergeordnet wird, gehört aber auch in allgemeinerer Zielsetzung zum eigentlichen Inhalt einer Sozialreform, die dieses Namens würdig sein will. Wie in besonders eindringlicher und überzeugender Weise der Altmeister des staatssozialistischen Denkens, Adolph Wagner, gelehrt hat und noch lehrt, an der Eigentumsfrage darf sich, wer der sozialen Frage entschlossen ins Antlitz schaut, nicht scheu vorbeidrücken; als Denker und als Staatsmann muß er danach streben, den Gedanken durchzusetzen, daß es kein absolutes Privateigentum gibt, sondern daß es wie alles Privatrecht durch das öffentliche Recht und das Lebensbedürfnis der Volksgemeinschaft bedingt bleibt. Tatsächlich ist — wie eben Wagner eindringlich hervorhebt — diese Wahrheit im Enteignungsverfahren und in der Begrenzung des sog. geistigen Eigentums — das doch in seiner sittlichen Begründung ein echteres Eigentum ist als das Eigentum am Boden und am Kapital, zumal wenn dieses sich in Massen zusammenballt — längst zur Anerkennung gelangt. Gleichwohl ist die sozialpolitische Anwendung dieser Wahrheit mit tiefen inneren Schwierigkeiten 25 Adolph

Wagner: Vgl. Wagner, 1893: 7 4 3 - 7 4 5 .

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besetzt. Einer der nächsten gangbaren Wege liegt — wiederum nach Wagner — in der Steuergesetzgebung. Wir wissen alle, welche Krise aus der Forderung einer Reichserbschaftssteuer entsprungen ist. Die Betrachtung dieser Krise ist darum hier nicht angezeigt, weil sie auch Fragen der auswärtigen und Welt-Politik zu berühren nicht umhin könnte. Wenn aber neuerdings — und nicht allein in uns. Lande — eine energische Besteuerung der Kriegsgewinne zur populären Forderung geworden ist, so liegt darin eine sehr bedeutsame Anwendung jener wichtigen Wahrheit. Denn es wird die sittliche Berechtigung dieser Gewinne in Frage gestellt; ja, sie wird geleugnet: das öffentliche Gewissen empört sich dagegen, daß ungeheure Reichtümer aus einem allgemeinen Notstande gesogen werden, die Ungleichheit der ökonomischen Folgen des Krieges wird als tiefe Ungerechtigkeit empfunden und der Ruf nach gerechter Ausgleichung erhebt sich mit elementarer Gewalt. Aber der Forscher kann hierin nicht etwas Vereinzeltes, kaum eine Ausnahme erkennen. Es liegt nur ein besonders auffallender Fall einer allgemeinen Erscheinung vor. Alles, was dem Volke, oder doch großen Volksteilen Schaden, ja Verderben bereitet, bringt Einzelnen hohe Gewinne, regelmäßiges, gesichertes Einkommen, dessen sittliche Berechtigung schweren Bedenken unterliegt. Es gehört zum Wesen des Kapitalismus, daß er jede Gelegenheit ohne Skrupel ergreift, die ihm materiellen Vorteil in gewisse oder wahrscheinliche Aussicht bringt. Hier und da setzt schon die heutige Gesetzgebung gewisse Schranken; aber im großen und ganzen ist noch die sogenannte Volkswirtschaft „sich selbst überlassen", obgleich sie zum Teile darauf beruht, daß auch schmutzige Geschäfte für gut gehalten werden, daß auch der auf Ausbeutung, auf gewissenlosen Schiebun2 nach Wagner:

Vgl. Wagner, 1880, 4 5 5 - 4 8 0 : „5. Abschnitt. Die finanzwissenschaftliche

Bildung des Steuersystems. I. Die Erwerbssteuer. C. Die Besteuerung des Erwerbs durch Anfall und durch Werthzuwachs ohne eigene persönliche wirthschaftliche Leistung (Conjuncturengewinns- und Erbschaftsbesteuerung)". 3 Reichserbschaftssteuer:

Diese Steuer (als Erbanfallsteuer mit Besteuerung der Abkömm-

linge und Ehegatten) sollte durch die Finanzreform von 1909 eingeführt werden. Im Reichstag scheiterte sie allerdings an den Stimmen der Konservativen und des Zentrums. 7 Besteuerung

der Kriegsgewinne:

Diese wurde in fast allen Staaten erhoben bzw. auch

gesetzlich verankert: so in Deutschland, Österreich-Ungarn und in Frankreich erst 1916, in England 1915 und in den USA 1917. Die Definition von Kriegsgewinnen war einheitlich: der den Einzelwirtschaften zufließende Konjunkturgewinn. In fast allen Staaten war die Bemessungsgrundlage das Mehreinkommen bzw. der Mehrgewinn gegenüber den Friedensjahren; in Deutschland war Grundlage der Vermögenszuwachs, aber nur in Bezug auf Einzelpersonen.

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gen, auf lügenhaften Reklamen begründete Profit gleichsam heilig gesprochen wird; um von Wucher und Betrug, die nur in ihren einfältigeren Gestalten oder gröbsten Auswüchsen das Strafgesetz zu fassen versucht, zu schweigen. Die Sozialpolitik kann sich der Betrachtung und Erkenntnis nicht entziehen, daß alle Arten von Laster durch das Streben nach Gewinn sorgsam gepflegt werden. Selbsthilfe vermag dagegen nicht wenig; aber an Staatshilfe sollte es nicht fehlen, wo alle Aufgaben der Sozialpädagogik im Spiele sind, wo die Frage nicht zu umgehen ist, ob wirklich der Reichtum an beliebigen Gütern, die Zugänglichkeit beliebiger Genüsse ein sittliches Gut sei, wie zumeist in unbesonnener Weise und beinahe als selbstverständlich angenommen wird. Wenn nun die Brüderlichkeit im liberalen Systeme fast wie ein verwahrlostes Kind an die Seite geschoben wird, oder eigentlich gesprochen, vorzugsweise als Phrase ihren Platz behauptet, so steht sie hingegen im sozialistischen Gedanken als die Vollendung und Erfüllung da. Man möchte erinnern an die christlichen Ideale, die man ehemals die theologischen Tugenden nannte: „Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, nun aber ist die Liebe die größte unter ihnen." So ist Brüderlichkeit der Gesinnung das, was den sozialethischen Gedanken ihre Weihe gibt, und wenn sie in einem weiten und losen Sinne der ganzen Menschheit gelten soll, so wird sie doch eher zu einer Wirklichkeit, wenn sie auf eine Volksgemeinschaft sich bezieht, wenn sie dem hohen Anspruch sich anpaßt, aus der Nation so etwas wie eine große Familie zu gestalten. Das lehrt die harte Not, und wir erfahren es in schweren Tagen, wie Kampfgenossenschaft die Gemüter eint, wie man rasch umlernen muß, wenn man geglaubt hat, die Zugehörigkeit zu einem Vaterlande, einem Staate, sei etwas Geringes und Zufälliges, das sich im Wirbelsturme ungeheurer Schicksale nicht bewähren könne. Es hat sich bewährt und hat sich als notwendige Lebensbedingung tief ins Bewußtsein der Mitlebenden gesenkt. Daß es nur nicht auf die grimmigen Monate der Schützengräben, auf die Tage des Hangens und Bangens in schwebender Pein beschränkt bliebe! Etwas muß hinübergerettet werden von der Kameradschaft in die friedlichen Zeiten, die wir für Kinder und Enkel zu bereiten hoffen, das Gedächtnis muß sie erhalten, aber nicht das Gedächtnis allein, auch die zunehmende Erkenntnis und Einigung über den gebotenen Fortschritt der Sozialpolin angenommen wird: Hier Ende des ersten Teiles, der Schluss wurde in der Nr. 21 (1. Nov. 1915) der „Ethischen Kultur" auf den S. 1 6 2 - 1 6 4 abgedruckt. 17 Glaube, Liebe, Hoffnung: Vgl. Korinther (1, 13, 13).

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tikl Sie möge uns lehren, das Volk auch nach innen als eine auf Gedeih und Verderb verbundene Genossenschaft zu verstehen und zu lieben, eine Tischgenossenschaft, in der nicht einer dem andern den Bissen im Munde mißgönnt, sondern jeder satt wird, indem er sich des Sattwerdens des Anderen freut. Eitle Träumerei? J a freilich, eine so riesige Tafelrunde läßt sich nicht mit dem Blicke des guten Wirtes überschauen, aber etwas kann doch der gute Volkswirt dazu leisten, daß dem Mangel gewehrt, daß der Not vorgebeugt werde, und daß ein Zuviel der Einen nicht allzu dreist vom Zuwenig der Anderen sich abhebe. Hat nicht eine Organisation der Zufuhr, eine planmäßige Verteilung sich hier als möglich erwiesen? Und diese Erfahrung soll uns nicht verloren sein. Wenn im Anfange des Krieges die Entschlossenheit fehlte, die durchgesetzt hätte — und wirklich war in sozialdemokratischen Zeitungen sogleich die Forderung erhoben worden —, die gesamte Ernte mit Beschlag zu belegen, wo war die Ursache? Die Ursache war doch wohl, daß der soziale Gedanke noch nicht tief genug in den Seelen der Regierenden Wurzel geschlagen hatte. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn nicht die Sozialpolitik im Deutschen Reiche während der letzten 15 Jahre nur in schleichendem, fast verstohlenem Gange fortgeschritten wäre. Der Gedanke, daß Alle für Einen, Einer für Alle stehen und gehen muß — mit einem Schlage war er da. Er gilt aber in normalen Zeiten so gut wie in außerordentlichen und gefährlichen. Die Gefahr, daß Menschen verkommen, weil ihnen die guten Lebensbedingungen fehlen, weil sie nicht Luft und Licht und Nahrungsmittel, Obdach und Kleider in gehöriger Menge und in gehöriger Güte erhalten, besteht fortwährend; und mehr als die Gefahr: in wievielen Fällen kann man das sichere Verderben voraussehen! Von den Gefahren des Seelenlebens, die zum guten Teil im Gefolge des materiellen Elends sich herausstellen, andererseits aber gerade mit dem Ueberfluß und auch für die arbeitende Klasse und ihre Kinder mit unvernünftigem Gebrauch mannigfacher Genußmittel verbunden sind, wollen wir hier nicht reden. Die materielle Not ist immer das, was am dringendsten nach Abwehr und Hilfe schreit, und wo die bloß gelegentliche Unterstützung durch Wohltätigkeit, ebenso wie die behördliche Armenpflege selber mit so schweren Uebeln verbunden sind, so oft erniedrigend wirken, weil sie als erniedrigend empfunden werden. Eines der nächsten Ziele der Sozialpolitik ist es, soviel als möglich die Wohltätigkeit — es sei denn, daß sie in persönlichem Wohlwollen ihre inneren Gründe hat — und die Armenpflege überflüssig zu machen. Unsere Versicherungsgesetzgebung hat in dieser Beziehung anerkannte, bedeutende Wirkungen

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geübt. Die Wirkungen werden noch größer sein, wenn die dürftigen Anfänge einer Versicherung der Witwen und Waisen in großem Stile ausgebaut werden, wenn die Versicherung des Alters auf das vollendete 65. Lebensjahr zurückgeschoben wird; das größte Problem aber bleibt die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. O b auch sie als Sozialversicherung durch Reichsgesetz möglich und wünschenswert ist? Die Meinungen darüber sind nicht hinlänglich geklärt. Vielleicht wird die Organisation der Arbeit in anderen Formen sicherer und ersprießlicher der Arbeitslosigkeit vorbeugen oder ihre Schäden zu heilen vermögen. Denn die Organisation ist die Aufgabe, wie im Kriege, so im Frieden. Wenn das Deutsche Reich durch seine militärischen wie durch seine volkswirtschaftlichen und finanziellen Einrichtungen die bewundernden Blicke der Welt auf sich zieht, so muß es um so mehr sich aufgefordert fühlen, das große Beispiel einer Sozialreform zu geben, die auch in Friedenszeit wenigstens den Willen kundgibt, ein einig Volk von Brüdern zu sein und zu werden. Freilich dürfen wir uns nicht verhehlen, daß die ersten Jahre, vielleicht die ersten Dezennien nach dem Kriege, selbst wenn dieser den erhofften günstigen Ausgang nimmt, uns und unseren Nachkommen außerordentlich große Lasten auflegen, daß sie von uns, daß sie auch von der Menge des werktägigen Volkes Opfer und Entsagung fordern werden. Die Sozialpolitik nach dem Kriege wird nur im engen Zusammenhange mit der gesamten Volkswirtschaft, mit der Handels- und der Finanzpolitik ihr Programm entfalten können. Werden diese ihr entgegenkommen? In gewissem Maße hemmend, verlangsamend. Aber in einigem Maße doch auch fördernd, beschleunigend. Hemmend: denn woher sollen die Mittel genommen werden, so lange als es gilt, den gesamten Bau der Volkswirtschaft wieder aufzurichten, die Fäden und Drähte neu zu knüpfen, die sie mit der Weltherrschaft verknüpften? Wenn es gilt, die Opfer des Krieges selber oder ihre Hinterbliebenen zu ernähren, den Erwerbsunfähigen mehr als die Notdurft, vielmehr ein Dasein zu verschaffen, das ihrem Verdienste um das Vaterland angemessen sei? Hier ist ein Gebiet, auf dem das patriotische Pflichtgefühl sich betätigen soll, wo es keinen Zwiespalt der Parteien geben darf, wo die allgemeine Dankbarkeit ihre Ehre dareinsetzen wird, großen und freien Sinn zu bekunden, und alles Kleinliche als ihrer unwürdig von sich zu weisen. Auch der Kapitalismus wird seine gewohnte Energie wieder betätigen, seine gewohnten Bahnen wieder beschreiten müssen, er wird vielleicht mehr noch als bisher über die sozialpolitischen Lasten klagen und möglichst große Freiheit für sich in Anspruch nehmen, um desto erfolg-

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reicher konkurrieren zu können. Der soziale Gedanke wird ihm nach wie vor nicht sympathisch sein und bald als unpraktische Schwärmerei der Kathedersozialisten, bald wieder als etwas erscheinen, was der öffentlichen Meinung als noch ärger und gefährlicher vorgestellt werden kann. Und doch fördernd, beschleunigend? Offenbar. Denn es ist schon fast einmütige Meinung darüber vorhanden, daß die finanzielle Wiederherstellung, soweit ihr nicht Kriegsentschädigungen dienen werden, die Vermehrung und Ausdehnung von Staats-, richtiger Reichs-Betrieben erfordern, und daß den Widerstand privater Interessen, die sich dagegen wehren mögen, die Notwendigkeit brechen wird. Als Monopole sind solche Betriebe unpopulär, und ein scharfer Fiskalismus hat oft genug dahin gewirkt, die Lage der Arbeiter in ihnen eher ungünstiger als günstiger im Vergleich mit Privatbetrieben zu gestalten, zumal in bezug auf persönliche Freiheit, Koalitionsfreiheit usw. Aber man darf sagen: es lag nicht am Prinzip, sondern an der Methode. Die Methode war — und ist noch zum größten Teile — dem Kapitalismus entlehnt, obgleich die stärkste Triebfeder des Kapitalismus, die Konkurrenz, mehr noch als in syndizierten und vertrusteten Betrieben, wegfällt. Wenn der 2. Februarerlaß Kaiser Wilhelms (1890) den Wunsch aussprach, die staatlichen Bergwerke sollten bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt werden, so wissen wir, daß dieser wie mancher monarchische Wunsch nur mangelhaft erfüllt worden ist. Aber der Wunsch zeigt doch die Richtung an, in die das staatliche Eigeninteresse immer mehr gehen muß, je mehr der Staat sich selbst erkennt, je mehr das Volk im Staate sich selber erkennen lernt, je mehr also der Staat ein Volksstaat wird. Und dazu sind doch die Verstaatlichungen eine der, man darf vielleicht sagen, die hohe Heerstraße. „Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung." So schrieb Engels vor bald 40 Jahren und er fügte hinzu: „Diese Lösung kann nun darin liegen, daß die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, daß also die Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel." Heute dürfen wir sagen: die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte wird tatsächlich anerkannt, wenn auch dem „Also" noch unermeßliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Ungeachtet aller Hemmungen ist aber eine rein fiskalische Verstaatlichung nicht eher 29 so schrieb

Engels: Vgl. Engels, 1904: 300.

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möglich. Jede öffentliche Aneignung von Produktionsmitteln wird von nun an immer in einigem Maße sozialistisch sein, teils infolge jener Erkenntnis und Anerkenntnis, teils unter dem Atmosphärendruck der wachsenden Mitwirkung der Arbeiterklasse an der Gesetzgebung und den Staatsgeschäften, d. h. ihrer Teilnahme an der politischen Macht. Mehr und mehr werden daher die Arbeiter dafür mitsorgen, daß diese Gewinne zur Deckung wahrer Staatsbedürfnisse, also wahrer Gemeinbedürfnisse, also auch ihrer eigenen Bedürfnisse, verwandt werden, wie denn die Erhaltung der Wehrkraft ohne Zweifel ein solches nationales Bedürfnis ist, nicht minder aber die großen Kulturaufgaben des Staates, für deren Erfüllung wiederum gesunde Finanzen unerläßliche Vorbedingung sind. Wenn heute in ihren Genossenschaften und deren Eigenbetrieben die Genossen das Bewußtsein unmittelbar ergreifen, daß sie für sich selber, auch dann arbeiten, wenn sie keine „Dividenden" herausziehen, so werden und müssen sie lernen, den Staat und das Reich als eine große, als die Gesamtgenossenschaft zu verstehen und zu würdigen, worin sie sich bewegen als in ihrem eigenen Hause; denn das ist doch der tiefste Sinn, in dem wir die „soziale Frage" zu lösen versuchen können: daß dem Volksgenossen wieder eine Heimat geschaffen werde, daß der Besitzlose am Gemeineigentum und in der Gemeinwirtschaft sein Eigentum und seine Wirtschaft erkenne und finde, daß an die Stelle der Regierung über Personen die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen treten solle. Auf den Wegen zu diesem Ziele werden wir vielen Widerständen nach wie vor begegnen; wir werden manchen Irrweg einschlagen, wir werden sogar durch Irrlichter uns täuschen lassen; und doch werden wir, auch im dunklen Drange, uns des rechten Weges wohl bewußt sein, wenn wir im Geiste nationaler Brüderlichkeit wirken — denn, um zum Schluß noch ein anderes Goethewort anzurufen: „Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste".

29 Goethewort: Vgl. Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre", Jubiläumsausgabe, 1902— 1912: Bd. 18, S. 259 f.

Marokko und der Weltkrieg Mancher von uns hat den Ausbruch des Krieges wie einen harten Schlag vor den Kopf empfunden. Die Wirkung war betäubend. Nichts war schwerer als klar zu denken, Erinnerungen wach zu halten, Ursachen und Wirkungen zu scheiden, den Einflüssen blinder Leidenschaft zu wehren. Hatte Rußland die Hauptschuld? oder war England der eigentliche Urheber des Weltbrandes? Waren der französische Chauvinismus und das Bedürfnis nach Rache, das Verlangen die Provinzen zurückzugewinnen, die am tiefsten liegenden Ursachen des europäischen Unheils? Hatte unsere eigene Diplomatie versäumt, diesem Unheil rechtzeitig vorzubeugen? Hätte es abgewehrt werden können, wenn Österreich-Ungarn mit geringerer Buße für den politischen Meuchelmord von Serajewo sich hätte genügen lassen? wenn wir längst vorher hellere, stärkere Kundgaben unserer Friedensliebe uns nicht hätten verdrießen lassen? War der kleinen Schar von Überpatrioten, die mit dem Gedanken des Krieges zu spielen schien und die eine selbstbewußtere, entschiedenere Politik auch auf die Gefahr hin heischte, daß sie als Herausforderung gedeutet würde, nicht scharf genug begegnet worden? Mußte der Bau einer deutschen Flotte notwendig das Inselreich zu unserem Feinde machen? oder waren es vielmehr die Ziffern unseres Ausfuhrhandels, der vielfach siegreiche Wettbewerb deutscher Waren, was den britischen Geschäftsmann empört und gereizt hatte? oder hatten alle diese Dinge zusammengewirkt zu der furchtbaren Katastrophe? Mußte die Schuldfrage verstummen vor dem großen gewaltigen Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt? — Unsere Betrachtungen und Erwägungen traten bald zurück hinter der Teilnahme, mit der wir die Unsrigen ins Feld und auf die See begleiteten, hinter Bewunderung und Trauer, Siegesfreuden und Spannungen, hinter Zorn und Entrüstung über Bosheit und Lügen der grimmigen Feinde. Aber wir haben auch klarer sehen gelernt, als wir damals zu sehen vermochten. Mehr als alles Denken und Erörtern haben dazu geholfen i Marokko und der Weltkrieg: Zuerst in: Die neue Rundschau. Freie Bühne für modernes Leben, 1915, 26. Jg., Heft 11, S. 1 5 4 0 - 1 5 4 6 , Berlin (Fischer). Vgl. dazu „Das Recht auf Kolonialbesitz", S. 5 8 5 - 5 9 0 ; eB S. 715 f.

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die Enthüllungen aus den belgischen Archiven. Unter dem Vorwande, daß es sich um notwendige Verteidigung handle, hatte Großbritannien sich die Bundesgenossenschaft des angeblich neutralen Staates gesichert: Belgien war ein Gerät in seiner Hand geworden. Dies haben die Brüsseler Dokumente, welche im November und Dezember die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" veröffentlichte, für den zukünftigen Historiker unzweifelhaft ergeben. Daß die Verteidigung nur ein Vorwand war, kann freilich nicht bewiesen werden; aber nur politische Kinder können glauben, daß die Sorge für Belgiens Wohl die britischen Vorbereitungen hervorgerufen habe, und daß die Staatsmänner, die sogar dem Burenkrieg einen Schein des Rechtes zu geben verstanden, nicht gewußt hätten, daß die belgische Regierung ihre Neutralität preisgab, preisgeben mußte — notgedrungen, hilflos, wie ein armes Mädchen seine Frauenehre dem Notzüchtiger preisgibt. Aber die neuen Enthüllungen haben uns mehr gelehrt. Die belgischen Gesandten in Berlin, Paris und London waren sicherlich keine Freunde und Förderer der deutschen Politik. Aber sie erkannten klar, daß die englische Politik ihrem Lande zum Verderben gereichen mußte. Mit merkwürdiger Einsicht, in noch merkwürdigerer Ubereinstimmung geben sie ihren gerechten Sorgen Ausdruck, erkennen sie die wirkliche Lage und täuschen sich nicht über die wahren Beweggründe. Wir sehen nun, was wir bisher nur ahnten: genau zehn Jahre vor dem schrecklichen Ausbruch des Sturmes ist der Wind gesät worden: das herzliche Verständnis zwischen Frankreich und England kam dadurch zustande, daß die beiden Staaten über den zukünftigen Raub zweier Mittelmeerländer sich einigten: welche Großmut übte der Brite! Nur das bißchen Ägypten wollte er für sich, dafür gab er Frankreich Marokko, dessen Unabhängigkeit und territoriale Integrität ihm fast so „heilig" gewesen war, wie etwa diejenige Belgiens — gab ihm Marokko und obendrein die Revanche! Großmut, nichts als Großmut — denn was hatte England von dem Revanchekriege? Den konnte es doch nur uneigennützig wünschen, nur um Mariannens schöne Augen strahlen zu machen? Der belgische Diplomat sieht unerbittlich scharf: „Die wahre Ursache des Hasses des Engländers gegen Deutschland ist die Eifersucht, hervorgerufen durch die außergewöhnlich rasche Entwicklung der deut-

5 Brüsseler

Dokumente:

32 belgischer

Diplomat:

s. oben S. 103. Baron Jules Greindl, der belgische Gesandte in Berlin, an Baron

Favereau (belg. Minister des Äußeren) vom 18. Feb. 1905, in: Belgische Aktenstücke, o. J: 2.

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sehen Handelsflotte, des deutschen Handels und der deutschen Industrie." So geschrieben im Februar 1905. Und die Ereignisse entwikkelten sich in entsprechender Weise. M a r o k k o ist der Knotenpunkt. Marokko sollte Deutschland reizen, mußte Deutschland reizen; England, selbstlos wie immer in Handelsangelegenheiten, wollte sich von seinem neuen Freunde die Tür zusperren lassen, nur damit sie auch Deutschland zugesperrt würde; dahinter lauerte die Hoffnung, das deutsche Reich werde sich zu einem Angriffskriege drängen lassen, zwingen lassen — dann hatte ja Frankreich seine Revanche, und die Rolle des Verteidigers gegen einen frivolen Angriff obendrein, dazu mußte dann natürlich England seinen frommen Segen und seinen selbstlosen Beistand geben! Da galt es denn sich beizeiten Belgiens anzunehmen, Belgiens, dessen in London tätiger Geschäftsträger am 23. März 1907 „die ganze Kraft der englischen Diplomaten auf die Isolierung Deutschlands gerichtet fand"; und der Gesandte selber, einige Wochen später, der belgische Gesandte am Hofe von St. James: „Es ist klar, daß das amtliche England im stillen eine deutschfeindliche Politik betreibt, die auf eine Isolierung abzielt. Aber es ist sicher sehr gefährlich, die öffentliche Meinung in so offenbarer Weise zu vergiften, wie es die unverantwortliche Presse tut." Die Herren wußten wohl, daß die Presse nicht aus eigenem Antriebe das Gift ausstreute; sie kannten die eigentlichen Giftmischer, sie wußten, was um dieselbe Zeit ein anderer aussprach: die von König Eduard, unter dem Vorwande, Europa vor einer eingebildeten deutschen Gefahr zu sichern, geführte Politik „habe eine nur allzu wirkliche französische Gefahr ins Leben gerufen, die in erster Linie Belgien bedrohe"! Und, zwei Jahre später: „Es kann niemandem entgehen, daß der Weltfriede niemals ernstlicher bedroht war, als seitdem der König von England ihn zu festigen trachtet." „Der König von England." — Ist es ein Zufall, daß gerade der ehemalige „Prinz von Wales", der unter diesem Namen in Alphonse Daudets

13 Geschäftsträger:

Emile-Ernst Baron de Carder de Marchienne (1906 — 1910 belg. Bot-

schafter in Paris), an den belg. Minister des Äußeren vom 28. März 1907 (nicht 23. März, wie bei Tönnies), in: Belgische Aktenstücke, o. J.: 28. is Gesandte:

Vgl. Graf de Lalaing an Minister des Äußeren vom 24. Mai 1907, in: Belgi-

sche Aktenstücke, o. J.: 35 f. 2« „ . . . zu festigen

trachtet":

Vgl. Baron von Greindl an Minister des Äußeren vom 13.

Feb. 1909, in: Belgische Aktenstücke, o. J.: 65. 30 Alphonse

Daudets

Roman:

(Der König von England); vgl. „Les rois en exil. Roman

parisien", Paris 1880. Der Prince of Wales, der spätere Eduard VII., pflegte in Paris sehr

580

Schriften

Roman „Les rois en exile" eine ebenso lächerliche wie verächtliche Rolle spielt, der überall als Schürzenjäger und Spieler schlimmster Sorte — mit notorischen Falschspielern in freundschaftlicher Kompanie — berüchtigt war, ein Individuum, das jeder höheren Kultur bar, von Kunst und Wissenschaft nichts wußte und nichts wissen wollte, wohl aber für neue Moden in Hosen und Westen ein warmes Interesse hegte und das gefeierte Vorbild aller Dandies, Gecken und Narren wurde — ist es ein Zufall, sage ich, daß gerade dieser Mensch, in einem Lande, das sich rühmt, Musterland freier, volkstümlicher Verfassungen zu sein, der Giftmischer gewesen ist, dem Europa die Drachensaat zu verdanken hat, an der Millionen seiner Bewohner, an der unermeßliche Werte zugrunde gehen? Es war kein Zufall; denn dieser Lebemann war ein vorzügliches Werkzeug in den Händen anderer, er ist zutreffenderweise der Commis voyageur der englischen Bourgeoisie genannt worden, die das Germaniam esse delendam auf ihren Kurszettel geschrieben hatte. Ihm lag wohl nicht daran, den Krieg einzufädeln, er wußte kaum, was er tat, es war ihm aber auch ziemlich gleichgültig, was er anrichtete, wenn es nur gelang, den verhaßten Neffen zu demütigen und zu ärgern, das ist vielleicht der stärkste Beweggrund des degenerierten Menschen gewesen. Schlechter als eines Louis XV. wird sein Charakterbild in der Geschichte dastehen. Es hat Engländer gegeben, nicht ganz wenige, die sich seiner schämten. Es hat auch Engländer gegeben, denen die ruchlose Politik, welche sich an seinen Namen knüpfte, ein Greuel war, die das Unheil voraussahen, das daraus entsprießen mußte. Diese erkannten auch die Bedeutung von Marokko zu rechter Zeit. Unter ihnen ragt ein Mann hervor, den ich schon Gelegenheit gehabt habe, deutschen Lesern vorzustellen: er hat offen Verwahrung eingelegt gegen die offizielle und populäre englische Darstellung der Kriegsursachen. 1 Ihm verdanken wir eine im Jahre 1912 abgeschlossene Geschichte der Marokko-Frage, die eine Schutzschrift für 1

Vgl. Deutschlands

Platz an der Sonne.

Ein Briefwechsel englischer Politiker aus dem

Jahre 1915. Herausgegeben von Ferdinand Tönnies. Berlin, Julius Springer.

gute persönliche Kontakte zu den vertriebenen Bourbonen und Orleanisten, die nach 1871 von den republikanischen Regierungen Frankreichs die Erlaubnis erhalten hatten, in ihre Heimat zurückzukehren. 9 der Giftmischer: 13 Commis

Gemeint ist der engl. König Eduard VII.

voyageur:

18 den verhaßten 30 Deutschlands

(frz.) Handlungsreisender.

Neffen:

Gemeint ist Kaiser Wilhelm II.

Platz an der Sonne:

Siehe dazu hier S. 561 — 563.

Marokko und der Weltkrieg

581

die deutsche Politik in dieser Angelegenheit bedeutet, deren Wert um so größer ist, weil die Persönlichkeit des Verfassers ihn vor jedem Verdacht unlauterer Beweggründe schützt, weil er unantastbar dasteht als ein Mann, dem es um die Wahrheit und zugleich um die Erhaltung des Friedens ehrlich zu tun gewesen ist. Die Eroberung von M a r o k k o durch Frankreich, unter dem Beistande Englands, dies mißtönige Vorspiel des Weltkrieges, ist das Thema des Buches „Morocco in diplomacy" von E. D. Morel. In seinem ersten Teile stellt Morel nacheinander die Verhältnisse der Hauptmächte (England, Frankreich, Spanien, Deutschland) zu M a r o k k o vor den entscheidenden Ereignissen dar, sodann (2. Teil) das (1912 noch) geltende europäische Völkerrecht in bezug auf das Reich des Scherifen, wie es die Algeciras-Akte begründet hatte, das aber in fortschreitender Weise von Frankreich verletzt wurde. Der dritte Abschnitt schildert die Antezedentien der Akte, mit besonderer Betonung der geheimen Abmachungen zwischen Frankreich, Spanien und England, wodurch, im stärksten Widerspruch gegen die öffentlich bekanntgegebenen Verträge, die Zerstörung der Unabhängigkeit und Integrität von M a r o k k o beschlossen war. Im vierten Abschnitt wird über die erste (1905), im fünften über die zweite Intervention Deutschlands (1911) und die dadurch sich ergebende anglo-deutsche Krisis berichtet. Die einundzwanzig Anhänge geben alle Aktenstücke in englischer Sprache wieder. In der Vorrede des Buches, datiert vom 29. Februar 1912, heißt es: „Es ist jetzt kein Geheimnis mehr, ja es ist von mehreren Abgeordneten und Marineoffizieren öffentlich verkündet worden, daß die britische Regierung völlig entschlossen war, (im Juli 1911) die Franzosen mit Waffengewalt gegen die Deutschen zu unterstützen und sogar bestimmte Vorbereitungen zu Wasser und zu Lande in dieser Absicht getroffen hatte." Er verweist in einer Anmerkung dazu auf die unbestreitbaren Tatsachen: 1. daß die britische Regierung der französischen versichert hatte, sie könne auf Unterstützung durch englische Flotte und englische Landmacht rechnen; 2. daß diese Versicherung über alles hinausging, was damals oder später als vertragsmäßige Pflicht gegen die französische Republik zugestanden war; 3. daß die Sache der französischen Regierung ihrem Wesen nach schlecht war, weil sie auf Verletzung eines internationalen Vertrages durch Frankreich

beruhte; 4. daß diese Verletzung geschah mit Billigung des britischen auswärtigen Amtes und aus geheimen Abmachungen zwischen den Re-

is in dieser Absicht

getroffen

hatte:

Vgl. Morel, 1915a: Vorrede, XVIII.

582

Schriften

gierungen Englands, Frankreichs und Spaniens entsprang, die im Jahre 1904 getroffen waren, wovon aber das englische Volk, und die Welt, nichts wußte bis November 1911; 5. daß die Haltung des britischen auswärtigen Amtes im ersten und am meisten kritischen Stadium der deutsch-französischen Verhandlungen so beschaffen war, daß sie die Wahrscheinlichkeit eines Bruches zwischen Frankreich und Deutschland beträchtlich erhöhte. — Das ganze Buch Morels ist eine ungemein sorgfältige, unwiderlegbare Beweisführung für diese Sätze. Besonders wertvoll ist die Hinweisung auf einen Vorfall, von dem Morel meint, er müsse den deutschen Staatsmännern nur zu klar die schon in der ersten Krise (1905) von gewissen Leuten an die Beilegung englisch-französischer Zwistigkeiten geknüpfte sehr besondere Deutung offenbart haben. Bald nach seinem Sturze habe sich Herr Delcassé von einer Pariser Zeitung (dem „Gaulois", der in seiner Nummer vom 12. Juli 1905 darüber berichtet) aushorchen lassen und folgendermaßen sich ausgesprochen: „Welche Bedeutung hätte die junge deutsche Flotte im Falle eines Krieges, worin England, das sage ich Ihnen mit vollkommener Zuversicht, auf unserer Seite gegen Deutschland stünde? Was würde werden aus Deutschlands Häfen, aus seinem überseeischen Geschäft, aus seiner Handelsmarine? Sie würden vernichtet werden. Das ist es, was der vorbereitete und wohlberechnete Besuch des britischen Geschwaders in Brest bedeuten würde, und der Gegenbesuch des französischen Geschwaders in Portsmouth wird die Demonstration vollständig machen. Das Einvernehmen zwischen beiden Ländern und die Verbindung ihrer Flotten stellt eine so furchtbare Maschinerie des Seekrieges her, daß weder Deutschland noch eine andere Macht wagen würde, so überwältigenden Streitkräften zur See sich zu stellen." Aber Schlimmeres — fährt Morel fort — sollte folgen. Im Oktober trat Herr Stephan Laurence, der wohlbekannte Publizist, in den Spalten des „Matin" mit einer Art von Protokoll über die heiß erregte Schlußsitzung des französischen Kabinetts, die den Rücktritt Delcassés zur Folge hatte, hervor: Delcassé, der mit einer Stimme in der Minorität blieb, habe seine Kollegen unterrichtet über Englands Bereitschaft, sobald ein 7 13 27 29

beträchtlich erhöhte: Vgl. Morel, 1915a: XVIII, Anm. 1. Delcassé: Théophile Delcassé war frz. Außenminister 1898 — 1905. „ . . . zur See sich zu stellen": Vgl. Morel, 1915a: 94. Laurence: Es handelt sich hier um Stéphane Joseph Vincent Lauzanne, zur fraglichen Zeit Chefredakteur des „Matin". Der Artikel stammt vom Okt. 1905. Der „Matin" wurde 1884 gegründet und war im Allgemeinen regierungsfreundlich eingestellt.

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Marokko und der Weltkrieg

Bruch zwischen Frankreich und Deutschland erfolgen sollte, seine Flotte zu mobilisieren, den Kieler Kanal zu besetzen und 1 0 0 0 0 0 Mann in Schleswig-Holstein zu landen. „Ein sonderbar formuliertes Dementi" — fährt Morel fort — „wurde in England zum besten gegeben. Delcassé verweigerte die Auskunft. Herr Jaurès, dessen Ehrlichkeit von niemandem bezweifelt wird, erklärte, daß ihm genau derselbe Bericht unmittelbar nach der Sitzung von einem Mitgliede des Kabinetts gegeben worden sei." „Es gehört eine gewisse Dreistigkeit dazu" — so schließt der redliche Schriftsteller das Kapitel über den deutschen Fall von 1905 —, „angesichts dieser Vorfälle, Deutschland als den Angreifer in der MarokkoSache zu beschreiben." Eins der interessantesten Kapitel (Kapitel 7) schildert die fortschreitende Verletzung der Algeciras-Akte, seitdem sie im Juni 1906 durch den Sultan ratifiziert wurde: „In den fünf Jahren — bis Juli 1911 — war sie im Effekt, obgleich ohne internationale Sanktion, in Stücke gerissen und in Makulatur verwandelt worden, teils als Ergebnis innerer Bedingungen in Marokko, hauptsächlich aber als das äußere Ergebnis der politischen Handlungen Frankreichs, die von Großbritannien unterstützt wurden (und in minderem Grade von Spanien), verbunden mit den Machenschaften der internationalen Finanz, die, durch das Medium der französischen Regierung ausgeübt, die innere Lage Marokkos in weitestem Umfange beeinflußten. Die finanzielle Erdrosselung

Marokkos nennt Morel

diese Machenschaften alsbald (Seite 43) und macht handgreiflich klar, wie die Integrität der Gebietshoheit dabei „über Bord gehen" mußte. In den Worten des ausgezeichneten französischen Publizisten F. de Pressense stellt das fünfzehnte Kapitel die wahre Geschichte der Expedition nach Fez dar, die Pressensé eine schmutzige Tragikomödie nennt, und fährt dann fort: „So beschaffen war die Handlungsweise, mit der das britische auswärtige Amt nichts eiliger zu tun hatte, als sich diplomatisch zu identifizieren. Und nicht das allein, sondern auf sich zu nehmen und einem übel unterrichteten britischen Publikum glaubhaft zu machen die Verteidigung aller der internationalen Konsequenzen, die aus jener Handlungsweise folgten, und unter dem Deckmantel eines vagen Geredes über b r i tische Interessen' (wo solche ganz und gar nicht im Spiel waren), briti-

7 von einem Mitgliede

des Kabinetts:

11 „ . . . in der Marokko-Sache 24 „über Bord gehen":

Vgl. Morel, 1915a: 95.

zu beschreiben":

Vgl. Morel, 1915a: 95.

Vgl. Morel, 1915a: 37, 39 (,financial Strangulation").

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Schriften

sehe Interessen derartig aufs Spiel zu setzen, daß ein europäischer Weltbrand daraus entspringen konnte" (Seite 121). Geschrieben 1912. Über die Frage, ob Deutschland recht gehabt habe, den „Panther" nach Agadir zu senden (Kapitel 16), sagt Morel unter anderem: „Hätte Deutschland Krieg haben wollen, so wäre sein Kurs ihm deutlich vorgezeichnet gewesen, (den es nicht einschlug) und es ist einer der schandbarsten Züge in der fortwährenden Mißleitung des britischen Publikums zugunsten einer von Anfang an unmoralischen Diplomatie gewesen, daß die Sache dargestellt wurde, als ob Deutschland, das in Wahrheit herausgefordert worden war, sowohl in der Krise von 1905 als in der Krise von 1911 — beide Krisen waren ganz und gar durch jene Diplomatie herbeigeführt — auf Krieg hingearbeitet hätte." In seinem Schlußkapitel (Kapitel 23: „Ein Appell von Vorurteil an Vernunft") wirft der Verfasser, nachdem er in eingehendster und durchsichtigster Weise den Verlauf der beiden Krisen geschildert hat, die Frage auf: „Können wir (Briten) Deutschland zermalmen?" und antwortet mit der Gegenfrage: „Glaubt wirklich ein denkender Brite, daß wir Deutschland unterdrücken können, daß wir die Werke jener mächtigen Menschen-Maschine zu hemmen vermögen, den Strom jener wachsenden Bevölkerung anzuhalten, ihre Entwicklung in streng umschriebene Grenzen zu bannen, fast 70 Millionen durch einen erfolgreichen Krieg zu zerschmettern oder zu zermalmen vermögen?" Er läßt keinen Zweifel darüber walten, daß dieser Glaube ihm im höchsten Grade töricht erscheine, und er wetzt seinen Hohn an der blinden und plumpen Politik, die er Sir Edward Grey zum Vorwurf macht. Endlich solle das englische Volk weiser werden und darauf bestehen, ein gewisses Maß effektiver nationaler Kontrolle über „unsere eigene auswärtige Politik" zu verlangen. Geschrieben 1912. Es wäre höchst wünschenswert, daß das Buch Morels — wenn auch nur im Auszuge — in sieben Sprachen übersetzt und daß ein englischer Auszug in Amerika verbreitet würde. Es ist ein Aufklärungsbuch von unwiderstehlicher Kraft, weil von unwidersprechbarer Wahrhaftigkeit. Es ist ein Spiegel, worin man die Züge selbstsüchtiger und intriganter Politiker erblickt, die ein verruchter Mensch und ein verruchter Zweck zu einer Verschwörung geeinigt hatte, die 1914/15 ihre Früchte trug. Denn in Marokko liegt der Ausgangspunkt jener Lage, die unsere Heere nach Belgien und ins Herz Frankreichs zu marschieren genötigt hat. 2 (Seite 121): In d e m vorliegenden Band von Morel auf S. 108 f. 12 „ . . . auf Krieg hingearbeitet

hätte":

22 „ . . . zermalmen

Vgl. M o r e l , 1915a: 183 (Kap. 25).

vermögen":

Vgl. M o r e l , 1915a: 115 (Kap. 18).

Das Recht auf Kolonialbesitz Eine Diskussion englischer Kolonialpolitiker über die Zukunft der deutschen Kolonien In drei Nummern des „New Statesman" (Nr. 1 2 7 - 1 2 9 , 11., 18., 25. Sept.) hat Sir Harry Johnston, ein angesehener englischer Kolonialschriftsteller und Afrikakenner, unter dem Titel „Unsere Kolonialpolitik" seine Ansichten über die zukünftige Gestaltung der Dinge in Afrika entwickelt. Der leitende Gedanke ist, daß den Deutschen „um des Weltfriedens willen" kein Schutzgebiet und keine Einflußsphäre bleiben oder wiedergegeben werden dürfe. Er geht die einzelnen Gebiete Afrikas durch und weiß sie rasch zu erledigen (Togo z. B. wird zwischen französisch Dahome und der britischen Goldküste geteilt) — bis auf Ostafrika. Hier bleibe noch einiges zu tun übrig, und es müsse im voraus festgelegt werden, daß es hauptsächlich im Interesse seiner zehn Millionen Neger und Negroiden regiert werden solle. Alle Teile des deutschen Afrika seien mit natürlichem Reichtum irgendwelcher Art wohl ausgestattet, „und in diesen Gegenden könnten wir füglich eine sehr ausgedehnte Geschäftstätigkeit entfalten". „Wir würden unter unsere Herrschaft mehr Gold, mehr Zinn, Kupfer, Kohle und Oel hervorbringende Gebiete bringen, mehr Landstriche für Kautschuk, Kakao-, Kaffee- und Teepflanzungen, sowie ausgedehnte Baumwolle-, Mais- und Faserstoff-Areale". Dagegen will er, nachdem das Deutsche Reich aller seiner Macht entblößt sein werde, das Prinzip des Freihandels aufrecht erhalten, „sodaß ein Deutscher in allen Teilen der Welt unter der britischen Flagge oder unter britischem Einfluß ebenso frei sein Geschäft machen kann wie ein Brite, ein Australier, ein Südafrikaner, ein Neuseeländer, ein Kanadier, ein i Das Recht auf Kolonialbesitz: Zuerst in: Hamburgischer Correspondent vom 25. 12. 1915, 185. Jg., Nr. 657, Morgen-Ausgabe, 3. Beilage, S. 1, Hamburg. Der Titel stammt wohl von der Redaktion, ebenso die dem Titel folgende Bemerkung: „Mitgeteilt von Professor Ferdinand Tönnies, Kiel". Der von Tönnies übersetzte Brief Morels, dieser in kleinerer Schrift hier abgedruckt, ist eingeleitet durch die Wendung: „Mitgeteilt von Professor Ferdinand Tönnies — Kiel"; eB S. 716. 4 drei Nummern des „New Statesman": Die Artikelserie dort trägt den Titel „Our colonial policy" [siehe Bibliographie].

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Schriften

Amerikaner, ein Franzose oder ein Russe." Er will auch die Behandlung der Iren und besonders die der nichtkaukasischen Rassen im britischen Weltreich gründlich reformieren — nach dem Grundsatz, daß alle „Potsdamerei" daraus verbannt werden solle. Das britische Reich, meint er, arbeite hin auf das Endziel eines Bundes der Menschheit, indem es die zurückgebliebenen Rassen zur Gleichheit mit den Europäern erziehe. „Wenn wir aber versuchen, gegen diese Prinzipien wahren Christentums zu arbeiten, wenn wir versuchen, Absolutismus, Rassentyrannei, Beraubung und jene Politik zu erneuern, die Tasmanier und Botokuden ausrottet, die ein großes Land seiner prachtvollen Fauna zum Amüsement gedankenarmer weißer Männer oder gar zum Putz gedankenloser weißer Frauen beraubt, die da herrliche Wälder zerstört zum unmittelbaren Vorteil von Spekulanten, oder die Energie der Weißen und der Farbigen gleichermaßen lähmt durch Alkohol, zum Nutzen etlicher schottischer und irischer Destillateure und ihrer Vettern im Parlament ... dann werden wir das britische Reich viel sicherer und geschwinder zusammenschrumpfen sehen, als unter dem Druck des Preußentums — weil schließlich wir selber nichts anderes als Preußen sein werden." Sonderbar, daß die Beispiele des verhängnisvollen Tuns nicht preußisch, sondern echt britisch sind. Ein guter naiver Herr, dieser Sir Harry ... Mit dem Ziel, die Gleichberechtigung der Neger herbeiführen zu wollen, scheint es ihm aber nicht sehr dringlich zu sein, denn in dem ersten der drei Aufsätze wendet er sich lebhaft gegen den „Moralismus", der kurz gesagt in dem Grundsatz besteht, daß den Negern in Wirklichkeit Afrika gehöre und daß man („Afrika für die Afrikaner") ihnen helfen müsse, sich selbst zu regieren. Daran knüpft der folgende Brief E. D. Morels an, der am 2. Oktober im „New Statesman" gedruckt wurde, und — wie man auch über seine Ansichten urteilen möge — die ganze Ueberlegenheit eines Denkers über den bloßen Gesinnungs- und Biedermann zutage treten läßt. Den Standpunkt Morels zur Frage der Kriegsursachen lernt man aus dem von mir herausgegebenen, seinerzeit vom „Hamburgischen Correspondenten" in dem Artikel „Das Kardinalproblem" (24. Juni 1915) besprochenen früheren Briefwechsel mit Sir Harry Johnston („Deutschi „... ein Russe": 9 Botokuden:

Vgl. J o h n s t o n , 1915c: 563.

Südamerikanischer

Indianerstamm

in

Espirito Santo u n d M i n a s Gerhais, is „ . . . Preußen

sein werden":

Vgl. J o h n s t o n , 1915c: 589.

den

brasilianischen

Provinzen

Das Recht auf Kolonialbesitz

587

lands Platz an der Sonne." Berlin, Springer, 1915, Preis 50 Pfg.) und durch sein Buch, das vor dem Kriege unter dem Titel „Marocco in diplom a c y " erschienen, neuerdings wieder herausgegeben wurde als „Ten years of secret diplomacy". (Ich habe Auszüge daraus in der „Neuen Rundschau" November-Heft 1915 mitgeteilt). Dem was in der Vorrede meines kleinen Heftes über seine Person berichtet wurde, sei noch hinzugefügt, daß er für sein Buch über Nigeria die Silber-Medaille der Society of Arts erhalten hat. Uebrigens ist es interessant, zu bemerken, wie auch ein so ehrlicher, kluger und tapferer Mann unter dem Druck der öffentlichen Meinung sich hat krümmen müssen. Im Jahre 1912 („Marocco") ist er noch ausgesprochen deutschfreundlich und sehr kritisch gegen die französisch-englische Politik. In der ersten Phase des Krieges nimmt er sich noch kräftig, aber wesentlich apologetisch unserer Sache an („Platz an der Sonne"). Im vorliegenden Brief ist nur die nüchterne Erwägung geblieben, daß es töricht sei, die deutsche Nation oder das Deutsche Reich „vernichten" zu wollen. Der Brief Morels ist an den Herausgeber des New Statesman gerichtet und lautet, mit unwesentlichen Kürzungen folgendermaßen: Sehr geehrter Herr! Ich bestreite nicht Sir Harry

Johnstons Begriffsbestimmung dessen, was er „Moralis-

mus" nennt und ich stimme ihm aufrichtig bei, daß bei Erwägungen über die Zukunft Afrikas (welches, wie alles andere beim Schluß des Krieges im Schmelztopf liegen wird) in erster Linie die Interessen und Rechte der eingeborenen Bevölkerung zur Geltung kommen sollten. Als ein Verwaltungs-Problem angesehen, kann Afrika ungefähr in zwei Teile geteilt werden: das gemischte Afrika, wo die weiße und die schwarze Rasse beide gedeihen können, und das schwarze Afrika, wo die Rolle der weißen Rasse, für eine so lange Zeit, wie man voraussehen kann, auf die eines Leiters und Aufsehers beschränkt sein wird. Im schwarzen Afrika — unvergleichlich der wertvollste Teil der Weltwirtschaft — ist das Problem, welches den zivilisierten Mächten gegenübersteht, wesentlich das, zu entscheiden, ob die Eingeborenen in ihrer Arbeit frei sein oder ausgebeutet werden sollen; ob die Politik sich der Unterstützung und der Entwicklung der Eingeborenen-Industrien zuwenden soll, oder ob die natürlichen Schätze des Landes sogleich auf den Weltmarkt gebracht werden sollen durch die Vermittlung europäischer, kapitalistischer Unternehmungen, mit Hilfe der am Platz gedungenen Arbeit des Eingeborenen. Eine dritte Möglichkeit ist der Ersatz von „gedungen" durch „gezwungen". Das letzte System wurde unter der Leopoldischen Herrschaft im Kongo unter den vorher genannten Voraussetzungen bis in seine letzten Ergebnisse verfolgt: nämlich zu einem Wiederaufleben des Sklavenhandels in anderer Form. Was die angeführte Alternative betrifft, so bin ich ein überzeugter Anhänger des ersten Prinzips. Ausnahmen können vorkommen, wo beide Methoden gleichzeitig anwendbar sind. Was l Deutschlands 5 1915 mitgeteilt:

Platz an der Sonne:

Siehe hier S. 5 6 1 — 563.

Siehe oben S. 5 7 7 - 5 8 4 .

588

Schriften

sittlich richtig ist, ist hier zugleich staatswirtschaftlich klug; der Schlüssel zur Lösung des Problems ist Grundbesitz für die Eingeborenen. Das Problem selbst ist an sich von ungeheurer Wichtigkeit für Afrika und Europas Beziehungen zu Afrika. Es ist so unendlich viel wichtiger als die Frage, welche Mächte die obersten Rechte ausüben sollen, sodaß ich aufrichtig wünsche, es könnte für sich erörtert werden, abgesehen von der Zukunft europäischer territorialer Herrschaft im dunklen Kontinent; und daß diejenigen von uns, die in dieser Beziehung der gleichen Meinung sind, fähig sein möchten, unsern Einfluß darauf zu konzentrieren, daß jene Politik von allen unabhängigen Mächten festgehalten würde. Darum bedaure ich so sehr, daß Sir Harry Johnston dieses Problem mit dem der Ausübung der afrikanischen territorialen Staatsgewalt in der Zukunft zusammenwirft. Sein Vorschlag, Deutschland auszuschließen von jeder Anteilnahme an der territorialen Gewalt, scheint mir falsch und unausführbar. Von dem Gesichtspunkt der Interessen der eingeborenen Bevölkerung würde es zu rechtfertigen sein, wenn die deutsche Regierung sich in Afrika viel schlechter gezeigt hätte als die anderer Mächte, welche in Afrika territoriale Rechte ausüben oder ausgeübt haben. Aber das ist nicht der Fall. In der deutschen Verwaltung ist nichts zu vergleichen mit dem schrecklichen Trauerspiel des Kongo-Freistaats und des französischen Kongo, der in so auffallendem Kontrast zu der französischen Staatsverwaltung im Norden des Weltteils steht. Die deutsche Regierung in Afrika hat gewisse offenkundige Fehler gehabt. Aber sie verbesserte sich stetig. Die letzten beiden höchsten Kolonialbeamten waren aufrichtige Reformer. Der letzte hat persönlich das britische und deutsche Gebiet besucht (das ist mehr, als was irgend ein britischer Kolonialsekretär je getan hat) und er hat offen seine Bewunderung ausgesprochen über unsere Politik in Nigeria. Er stand im Begriff, die deutsche Politik im gleichen Sinne zu orientieren, als der Krieg ausbrach. Eine bedeutende geistige Strömung war in Deutschland entstanden unter der Führerschaft von Westermann und Vohsen zugunsten des ersten der oben besprochenen Systeme. Die Verwaltung von Negergebieten war für Deutschland ein ganz neues Problem. Es lernte durch seine Fehler und zog Nutzen daraus. Ein entschiedenes Ziel seines Einflusses im Gegensatz zu dem anderer europäischer Mächte, ausgenommen der britischen, war seine Aufrechterhaltung der offenen Tür für den internationalen Handel, und das hat einen wichtigen indirekten Einfluß auf die Interessen der Eingeborenen. Von dem Gesichtspunkt des Wohles der Eingeborenen wäre daher eine Politik, die Deutschland von Afrika ausschließen wollte, nicht gerechtfertigt. Von einem weiteren Gesichtspunkte aus wäre es sehr kurzsichtig. Gesetzt den Fall, daß die Verbündeten schließlich in der Lage wären, so zu handeln wie Sir Harry Johnston es empfiehlt, sie würden, wenn sie so handelten, nicht die Saat eines dauernden Friedens, sondern erneuten Konfliktes säen. Es ist eine moralische, physische und strategische Unmöglichkeit, eine elementare Kraft, wie das deutsche Volk sie verkörpert, in Fesseln zu legen. Das kann schlechthin nicht geschehen. Ich vermute, daß kein lebender Engländer mehr, oder wenigstens mit mehr Lob als ich, über viele Erscheinungen der französischen Regierung in ihrem großen afrikanischen Reich geschrieben hat. Aber es ist nur nötig, dieses Problem, zum Beispiel der Zukunft der französischen und deutschen Herrschaft in Afrika in dem harten und kalten Licht der Zahlen zu betrachten, um sich zu vergegenwärtigen, wie nutzlos der Gedanke ist, daß je ein dauernder Friede unter den Nationen unter einer Abmachung bestehen kann, nach welcher, während sich nichts in der Handelspolitik Frankreichs in Afrika ändert, französische Herrscherrechte sich dort noch weiter ausdehnen würden, und Deutschland gänzlich von Afrika ausgeschlossen sein sollte.

589

Das Recht auf Kolonialbesitz

Als der Krieg ausbrach, betrugen Frankreichs Kolonien in Afrika eine Fläche von 4 4 2 1 9 3 4 (englische) Quadratmeilen, einschließlich der afrikanischen Inseln, aber

außer

Marokko (wenn man Marokko mitrechnet, ist das Ganze um 2 1 9 0 0 0 (englische) Quadratmeilen vergrößert. Mit anderen Worten, Frankreichs afrikanische Besitzungen sind fast eine Million Quadratmeilen größer als die Fläche der Vereinigten Staaten. Auf dieser ganzen Fläche läßt Frankreich, ausgenommen wo es durch Verträge beschränkt ist, fremde Waren nur unter den erschwerendsten Bedingungen ein. Vor dem Kriege stieg Frankreichs Außenhandel auf 583 488 000 Pfd. Sterl.; seine Bevölkerung betrug (1911) 39 6 0 1 5 0 9 ; der Ueberschuß von Sterbefällen über Geburten betrug (1911) 34 869. Deutschlands Schutzgebiete in Afrika betrugen 9 3 1 1 6 0 Quadratmeilen; sein ausländischer Handel stieg auf 9 8 2 6 1 5 000 Pfd. Sterl.; er ist in 22 Jahren um 201 Prozent gewachsen (im Verhältnis doppelt so rasch als selbst der englische Außenhandel). Seine Bevölkerung betrug (1910) 6 4 9 2 5 993, und sein Geburten-Ueberschuß (1910) 7 4 0 4 3 1 . Nun, sollen diese Zahlen nicht etwa empfehlen, daß eine Nation mit einer großen, sich ausdehnenden Bevölkerung und einem sich phänomenal entwickelnden Außenhandel, eine Nation, die immer mehr abhängig wird von eingeführten Rohstoffen für den Gebrauch ihrer Industrie-Bevölkerung, jetzt eine andere Nation aus ihrem Besitz setzen sollte, eine Nation mit einer weit kleineren und stillstehenden Bevölkerung, die sehr viel weniger abhängig ist von eingeführten Rohstoffen, die sich aber schließlich doch ihr Gebiet in der tropischen Welt durch das Blut und das Gut ihrer Söhne erworben hat. Dagegen wäre es töricht zu erwarten, daß irgend ein vernunftgemäßer Plan von Wiederherstellung in Europa ausgehen könne von einer Politik, die beabsichtigte, die zahlreichere und industriell machtvolle und ausgedehnte Einheit aus einem Gebiet in derselben tropischen Welt auszuschalten. Wenn es den Verbündeten gelingen sollte, Deutschland zu einer unbedingten Waffenstreckung zu zwingen, dann würden sie in der Tat in der Lage sein, Bedingungen nach ihrem Belieben zu stellen. Aber sie können nicht das deutsche Volk, oder die industrielle Leistungsfähigkeit dieses Volkes zerstören. Daher fürchte ich, daß die Art von „Strafe", welche Sir Harry Johnston gern Deutschland auferlegen möchte, eine Strafe sein würde, die nicht nur das deutsche Volk, sondern ebensowohl das britische und das französische Volk treffen würde. Mit welchem Recht könnte auch Frankreich veranlaßt werden, zu Deutschland zu sagen: „Ich mit meinem 40-Millionen-Volk beanspruche das Recht, in Afrika 4

Millionen

Quadratmeilen zu besitzen, wo ich Eure Waren nicht zulasse, und ich beanspruche das Recht, meine Besitzungen weiter auszubreiten; aber ich versage Euch mit Eurem 68-Millionen-Volk und eurer zunehmenden Geburtenzahl und Eurem Außenhandel das Recht, einen einzigen Zollbreit Landes in Afrika zu behalten?" Oder, durch welchen Rechtsgrund könnte Britannien veranlaßt werden, zu Deutschland zu sagen: „Meine Fahne weht über einem Fünftel der Erdoberfläche; aber obgleich Eure Bevölkerung größer ist, als meine und sich rascher vermehrt, obgleich Euer Handel dem meinen gleich ist, versage ich Euch nicht allein das Recht, einen Zoll Landes in Afrika zu besitzen, sondern ich beanspruche für mich das Recht, wenn es mir so paßt, mein ganzes, ungeheuer großes Gebiet mit einer Schutzzollmauer zu umschließen gegen Euch?" Dieser Weg führt nicht zum Frieden, sondern zum endlosen Streit; das wäre keine Staatskunst, sondern Tollheit, die den Völkern nur neue Lasten brächte. Ich bin mir vollständig bewußt, daß Sir Harry Johnston gegen eine Schutzzollmauer um das Reich ist, weil er einsieht — oder früher einzusehen schien —, daß solche Politik mit einem völligen Mißerfolg für das britische Gemeinwohl enden würde. Aber gewiß muß Sir Harry Johnston einsehen, daß die Mächte, welche zu allererst seinem Vorschlag beistimmen werden,

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Schriften

Deutschland aus dem afrikanischen Territorialbesitz auszuschließen, auch die allerersten sein werden, für welche jener Zollschutzwall das höchste Ideal ist. Ich bin völlig überzeugt, daß es Sir Harry Johnstons aufrichtiger Wunsch ist, den afrikanischen Markt nicht für Deutschlands Handel zu schließen. Aber schlägt er dann vor, Frankreichs schutzzöllnerische Politik in seinen überseeischen Besitzungen zu ändern? Und was dann? Sir Harry Johnston weiß besser als die meisten, daß vom Standpunkt der Nationalökonomie gesprochen, die raison d'être der französischen Kolonial-Unternehmungen wesentlich darin besteht, gewissen Gruppen von französischen Finanzgrößen und Spekulanten Gelegenheit zu geben, sich Reichtum zu erwerben durch besondere Privilegien und Monopole, fiskalische und andere. Jener Gelegenheit beraubt, würde die Begeisterung für koloniale Abenteuer in Paris sich ungemein ändern (ausgenommen in militärischen Kreisen, wo gewisse Teile der französischen Kolonien als ausgezeichnetes Erziehungsland und als Mittelpunkt für die Aushebung von kolonialen Kontingenten betrachtet werden), und außerhalb Paris gibt es in Frankreich wenig oder keine Begeisterung für überseeische Besitzungen. Ihr ergebener usw. E. D.

Morel.

III. Rezensionen

Havelock Ellis, Geschlecht und Gesellschaft. Grundzüge der Soziologie des Geschlechtslebens Autorisierte deutsche Ausgabe, besorgt von Hans Kurella. I. Teil. Würzburg 1910, Kurt Kabitzscb. 324 S. Das vorliegende Werk, dessen Original im Mai 1910 in Philadelphia unter dem Titel „Sex in relation to society" erschien, bildet den 6. Band der „Studien zur Psychologie des Geschlechtslebens" desselben Verfassers. Er beschäftigt sich in diesem und dem folgenden Bande mit den Beziehungen des Geschlechtslebens zur Gesellschaft unter mannigfacher Bezugnahme auf die Grundprinzipien der Sexualpsychologie, also in Anbetracht der Bedürfnisse der komplexen menschlichen Gesamtpersönlichkeit unter Einnahme des psychologischen Gesichtspunktes. Ausgehend von der Bedeutung der „Ahnenwahl" für das Kind und vom Zukunftsglauben an eine planmäßige Elternauslese für den Kulturmenschen will der Verfasser die Mutter als den wichtigsten Aszendenten des Kindes erweisen. Wie im ganzen Werke klären auch hier historische Belege, die in großer Zahl herangezogen werden, über die in Betracht kommenden Verhältnisse auf. Nachdem die Frauenfrage in ihrer ursprünglichen Stellung zur Mutterschaft gestreift ist, geht Ellis auf die Säuglingssterblichkeit und die Fürsorge für Schwangere und junge Mütter ein, wobei auch die Frage des Geschlechtsverkehrs nach erfolgter Befruchtung betrachtet werden muß. Die Sorge für die Mutter wird als eine besonders wichtige Aufgabe der Gesellschaft festgestellt und auf die Bedeutung der Verstaatlichung der Gesundheitspflege hingewiesen. Nachdem die heutigen Maßnahmen der Gesetzgebung auf dem behandelten Gebiete kritisiert worden sind, unter starker Betonung, daß Individualismus wie Sozialismus gleichermaßen am Mutterschutz interessiert seien, spricht der Verfasser über das Stillen der Kinder, ferner die Fortschritte der Mutterschutzbewegung und betont endlich die Wichtigkeit der Mutterschule, um die Bewegung zu unterstützen, welche die Mutter

i Ellis: Z u e r s t in: Schmollers J a h r b u c h f ü r Gesetzgebung, V e r w a l t u n g u n d Volkswirtschaft 1912, 36. Jg., S. 3 8 6 - 3 9 2 , M ü n c h e n / L e i p z i g ( D u n c k e r & H u m b l o t ) . Vgl. auch den Editorischen Bericht. S. 716 f.

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Rezensionen

zur Ausübung ihrer natürlichen Funktionen dem Kinde gegenüber tüchtiger machen will. Die Bedeutung der Mutter für das Aufziehen des Kindes begegnet uns auch wieder bei den folgenden sich mit der geschlechtlichen Aufklärung befassenden Ausführungen, deren Notwendigkeit der Verfasser nach eingehenden Auseinandersetzungen über medizinische, psychologische und pädagogische Dinge entschieden bejaht, während er das Unterlassen einer behutsamen Aufklärung aus vielen Gründen für gefährlich hält. Die Mutter sei die berufene Führerin des Kindes, wenn es beginnt, nach geschlechtlichen Dingen zu fragen, bis zur Pubertät, von wo an die Schule einzutreten habe. Dieses Alter verlangt ganz besondere Fürsorge. Nachdem die Verfehlungen der anfänglichen Frauenbewegung gestreift worden sind, wird auf die Übel einer schlechten Gesundheitspflege der Mädchen hingewiesen. Nach Aufhellung der Tatsache, daß die herrschende Tradition in sexuellen Dingen zwei Auffassungen vermischt, die von der Unreinheit des Sexuellen und die der Heiligkeit der dem Gatten vorzubehaltenden Organe des Weibes, kommt der Verfasser wiederum auf die Bedeutung der Aufklärung während der Pubertät zurück, wobei auch der gute Einfluß des Arztes oder der Ärztin besprochen wird. Die Neigung der Pubertätszeit zum Schönen, das dem Menschen in dieser Zeit besonders aufgeht, unterstütze alle edlen Bestrebungen der Erzieher in mannigfacher Weise. Der Einfluß des Vertrautseins mit der Nacktheit gibt Anlaß zu ausführlichen historischen Rückblicken insonderheit auf die Antike, wobei auf den großen Unterschied zwischen Griechenland und R o m aufmerksam gemacht wird. Die ungeheure Bedeutung des Christentums verlangt natürlich eine besondere Betrachtung dieser Macht, zumal der christliche Einfluß mit seiner Bekämpfung des Fleisches noch heute wirksam ist. Jedoch zeigt der Verfasser, wie verhältnismäßig wenig das Christentum auf die Verhüllung im Mittelalter außerhalb der Klöster eingewirkt hat. Der Sieg der gegen die Nacktheit gerichteten Bewegung fällt ins 19. Jahrhundert, wo ihre Verbannung zugleich im wesentlichen Sache der Konvention wurde. Die Tendenz zur Prüderie, die an sich sehr alt ist, tritt aufs deutlichste in Erscheinung. Jedoch zeigt dasselbe 19. Jahrhundert auch die Ansätze zu einer neuen Auffassung der Nacktheit, die in vielen Stimmen zum Ausdruck kommt, wobei übrigens kaum betont zu werden braucht, daß Schamlosigkeit mit Kleiderlosigkeit wenig zu tun hat. Die Frage der Nacktheit ist dadurch kompliziert, daß die feststehende Überlieferung zweifellos Lüsternheit großgezogen hat. Immerhin sind für Ellis

Havelock

Ellis, Geschlecht und Gesellschaft

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die großen Vorteile der Nacktkultur unverkennbar, er bespricht sie in manchen Erscheinungen und sucht ihren Wert abzuschätzen. Diese Ausführungen haben von selbst zu dem Problem der Wertung der Geschlechtsliebe geführt. Denn die Stellung zur Nacktheit ist von großer Bedeutung für die Gesamtauffassung des Geschlechtstriebes. Es folgt ein Rückblick auf das Mittelalter und die außerordentliche Verachtung, die man auf Seiten der Kirche für das Geschlechtliche hatte. Ellis kommt bei der Gelegenheit auf die mancherlei Konflikte bergende Nachbarschaft der Genitalien und der Exekrationsorgane zu sprechen und vertritt als Schüler moderner Naturwissenschaft die überall gleiche Dignität des Stoffumsatzes, ja er findet in diesen Beziehungen etwas Heiliges und Bedeutungsvolles. Ellis sucht nun zu belegen, daß im Christentum ursprünglich sehr lange keine strenge Verachtung des Körperlichen stattgefunden hat. Er entnimmt diesen Nachweis aus wissenschaftlichen Gründen, denn für seine Auffassung ist er unwesentlich: „Natur und Humanität bestehen vor der Bibel und werden sie überleben." Nach einem Seitenblick auf Islam und Indien, denen das Geschlechtsleben heilig ist, geht der Verfasser auf die Tatsache ein, daß die Reformation das Geschlechtsleben wieder in seine Stelle als natürliche Erscheinung eingesetzt, ihm aber doch den Charakter des tierischen angeheftet hat, welch letzterem er ausführlicher widerspricht. Liebe im sexuellen Sinne ist ihm eine Synthese von Lust und Freundschaft. Ellis wendet sich gegen die Auffassung der Liebe als eines flüchtigen Wahnes, sie ist nicht unwirklicher als das Leben selbst. Auch unsere psychische Struktur beruhe in einem gewissen Maße auf der Liebe. Daß die Keuschheit die Würde der Liebe bedingt, steht für Ellis von vornherein fest. Es fragt sich, wie sie aufzufassen ist. Die Keuschheit wird sodann historisch betrachtet und der Forscher gelangt dazu, daß ihm die prinzipielle Bewahrung starrer sexueller Abstinenz und eine inhaltlose, keine sittlichen Qualitäten involvierende Jungfernschaft nur als ein Zerrbild der Keuschheit erscheint. Die notwendige Tugend der Keuschheit ist seiner Auffassung nach eine Übung der Selbstbeherrschung, eine Stärkung des Charakters und Willens und dient direkt der Kultivierung des schönsten sexuellen Lebens. Ellis definiert in zielbewußter Weise Askese sodann als die hohe Entwicklung der Selbstbeherrschung, die, keineswegs notwendigerweise für alle Zeit, die Befriedigung des Geschlechtstriebes hemmt, und Keuschheit als das richtige Verhältnis zwischen den erotischen und den anderen Anforderungen des Lebens. 16 „... werden sie überleben":

Vgl. Ellis, 1910: 132.

5 96

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Die Tradition gestattet nicht, die Beziehungen zwischen Liebe und Keuschheit vom biologischen und abstrakten Standpunkt aus zu betrachten. Die Tradition schuf einmal den Begriff der Fleischeslust, sodann das Problem der geschlechtlichen Abstinenz. Die von der Kirche getragenen Anschauungen über die Fleischeslust führten zur Behandlung der sexuellen Moral als einer Geldsache. Der Verfasser kritisiert die noch heute umlaufenden Schätzungen der Abstinenz und verlangt den positiven Standpunkt der Askese und Keuschheit in dem oben dargelegten Sinne; die Abstinenz sei jedenfalls nicht moralisch zu nennen und gehe auch an dem kulturfördernden Einfluß der Geschlechtsliebe vorbei. Positive Tugend beginne erst da, wo die Beherrschung des Geschlechtstriebes über die Starrheit der Abstinenz hinweggekommen und nicht mehr leidlich eine vorsätzliche Abweisung der Übel der Sexualität ist, sondern eine klarbewußte Annahme der Güter dieser Lebensmächte wurde. Ellis glaubt auch zu sehen, daß die Abstinenzfrage immer mehr an Bedeutung verlieren wird. Das Hauptinteresse des Bandes sammelt sich um das letzte Kapitel, das eigentlich nicht hineingehört; es ist im Original das neunte, und liegen also ein siebentes und ein achtes dazwischen, der Übersetzer hat aber für gut gehalten, dieses neunte vorweg zu nehmen und das siebente daraus zu machen. Es trägt die Überschrift „Sexualethik", und der Verfasser läßt eine Erörterung der Prostitution und der Geschlechtskrankheiten vorhergehen, worauf sich auch die anderen Seiten dieses neunten Kapitels zurückbeziehen. Was aber hier unter dem Namen der Ethik oder näher: der „praktischen" Ethik vorgetragen wird, ist seinem Inhalte nach, was John St. Mill Ethologie nennen wollte, die Lehre von der sittlichen Praxis oder den Tatsachen der Moral, eine Lehre, die der „theoretischen" Sittenlehre als notwendige Grundlage dienen müsse. Gerügt muß dabei werden, daß Verfasser die Betrachtung der „Sitten" (dessen was tatsächlich getan zu werden pflegt) nicht deutlich unterscheidet von Betrachtung der sittlichen Urteile (dessen was tatsächlich über das Getane gedacht und gesagt zu werden pflegt). Er nennt dies traditionelle Ethik und behauptet, sie folge immer der Praxis nach, was jedenfalls eine unrichtige Verallgemeinerung ist. Alsbald legt er Gewicht darauf, festzustellen, es gebe bisher keine auf die spezifischen sexuellen Tatsachen gegründete allgemein anerkannte Sexualmoral. Was dafür gelte, sei in Wirklichkeit „ein Bastard aus der Vereinigung einer kapitalistischen 25 Ethologie:

Vgl. Mill, 1874 („A System of Logic", Book VI: „On the Logic of the Moral

Sciences", ch. V: „Of Ethology, or the Science of the Formation of Character", §§ 4—6).

Ellis, Geschlecht und Gesellschaft

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mit einer primitiven ästhetischen M o r a l " ; keiner dieser Faktoren habe vitale Beziehungen zum Leben der Sexualität. Diese Pseudomoral führe auf der einen Seite zu einer heimlichen und heuchlerischen Laxheit, auf der anderen stütze sie einen starren und unlebendigen Kodex, dessen Vorschriften so wenige konsequent befolgen können, daß die theoretische Ethik zu einer leeren Form entartet. Um nun die wirklichen Sitten darzustellen, erörtert Verfasser die Probeehe, das Fenstern und das ganze Bereich vorehelicher, aber zur Einleitung der Ehe bestimmter Verhältnisse, um die Ursachen der Zwangsehe mit der Hörigkeit der Frau in Verbindung zu bringen und zu dem Schlüsse zu gelangen, der moderne Mann sei nicht mehr für eine dominierende Rolle in den Beziehungen seiner Frau gegenüber ausgerüstet. Die heutige Bewegung, die darauf ziele, die sexuellen Beziehungen von einer übertriebenen Fesselung an feste und willkürliche Vorschriften zu befreien, wäre unmöglich gewesen, wenn nicht in ihrem Geleite sich ein Sinn für persönliche Verantwortlichkeit entwickelt hätte; diese sei die zentrale Tatsache der Sexualethik, und die Sexualethik das letzte Gebiet, worauf jene sich ausdehne. Unerläßliche Bedingung: wirtschaftliche Unabhängigkeit. In reifer Kultur erwerben die Frauen einen immer höheren Grad sowohl von jener (der Verantwortlichkeit) als von dieser (der Unabhängigkeit). Es bedeutet den Verzicht darauf, die Verantwortlichkeit auf die Schultern des Mannes abzuwälzen. Der Geschlechtsakt ist an und für sich keine soziale Tatsache, sondern ein privater physiologischer, vielleicht auch ein geistiger Akt. Aber die Geburt eines Kindes ist ein sozialer Akt. Die Hauptverantwortung für alle Umstände der Kindererzeugung muß die Gesellschaft der Mutter übertragen, wenn sie auch befugt ist zu verlangen, daß die Vaterschaft in jedem Falle vom männlichen Partner anerkannt werde. — Der Verfasser will „die Konsequenzen der neu erworbenen moralischen Verantwortlichkeit der Frauen" entwickeln; aber man erkennt leicht, daß auch seine Sympathie, sein moralisches Urteil diese bejaht, daß er für tiefgehende Neuerungen der Sitte und der sittlichen Ideen im Sinne eines Nachlasses der Strenge gegen die Frau eintritt. Es ginge über die Grenzen dieses Referates hinaus, den Wert solcher Ansichten zu diskutieren. Ich möchte nur bemerken, daß ich einen tiefliegenden Irrtum in ihren Voraussetzungen finde: als ob nämlich die geltenden Anschauungen über Ehe und geschlechtliche Sittlichkeit ausschließlich oder doch hauptsächi „...

primitiven

ästhetischen

29 Verantwortlichkeit

Moral":

der Frauen:

Vgl. Ellis, 1 9 1 0 : 2 2 2 f .

Vgl. Ellis, 1 9 1 0 : 2 6 6 .

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lieh von den Männern getragen würden. Sie fließen vielmehr aus dem Willen der Frauen, namentlich sofern sie auf das Verhalten der einzelnen Frau selber sich beziehen; dieser weibliche Kollektivwille ist ein Esprit de corps; wie der ritterliche Korpsgeist auf die Ehre der Tapferkeit, so bezieht sich der weibliche auf die weibliche Ehre, insbesondere auf die Keuschheit der Jungfrau. Daß diese als Ehre empfunden und gedacht wird, folgt eben aus dem Bewußtsein der zentralen Bedeutung, die das Geschlechtsleben für die Seele des Weibes hat. Ihre weibliche Ehre ist ihre Freiheit; dem Manne, dem sie ihren Leib hin gibt, räumt die Frau — wie auch immer im positiven Gesetze ihre Stellung beschaffen sei — eine Macht über sich ein, die ihrem Wesen nach dauert, sie hat sich ihm in gewisser Weise ewig gefangen gegeben; wenn nicht dem Individuum, so doch dem anderen Geschlechtswesen, dem Manne als solchem; ihr Stolz wehrt sich dagegen, einem anderen als dem sie ein Recht auf solchen Dauerbesitz geben wollte, diese Macht einzuräumen. Und die Solidarität der Frauen — soweit denn diese reicht, was immer durch ein gewisses Standesbewußtsein bedingt ist — verlangt, daß ein so wichtiges Recht nur gelte, sofern es anerkannt sei, also öffentlich bestätigt, geweiht, so sehr als möglich gesichert. Hierin ist noch gar keine Rücksicht auf die Erzeugung von Kindern enthalten. Es handelt sich um die sittliche Bedeutung des Verhältnisses von Mann und Weib. Auch strenge Sittenrichterinnen werden unter Umständen das nicht-geweihte, rein private Verhältnis als „Gewissensehe" anerkennen; man erinnere sich wie die englische gute Gesellschaft die Verbindung der George Eliot (Miß Evans) mit G. Lewis gutgeheißen hat. Das allgemeine Urteil muß sich an die Regel halten; und es gibt kein offenbares äußeres Merkmal dafür, daß das Verhältnis als dauerndes und ernstes gemeint sei, außer der Ehe. — Unser Autor will die weibliche Geschlechtsfreiheit durch den Begriff der Verantwortlichkeit ethisch rechtfertigen; er meint damit, daß die Frau nur sich selber Rechenschaft schuldig sei, für die „Gemeinschaft" sei der Geschlechtsakt ebensowenig ein Anlaß zur Kenntnisnahme, wie irgendein anderer privater physiologischer Akt; es sei impertinent, wenn nicht empörend, hier zu inquirieren (S. 265). Er scheint nicht erwogen zu haben, daß dieser Akt immer wenigstens einen Mitwisser, und zwar des anderen Geschlechtes, hat, und daß, selbst bei sicherer Verschwiegenheit des Mitwissers, die Tatsache intimen Verkehrs, zumal wenn die25 (Miß

Evans):

M a r y A n n Evans lebte von 1854 bis 1878 mit d e m Schriftsteller G. H .

Lewis in „freier E h e " z u s a m m e n .

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Ellis, Geschlecht und Gesellschaft

ser — was immer wahrscheinlich ist — wiederholt geschieht, nicht leicht verborgen bleiben kann. Herr Ellis beruft sich darauf, daß gerade die Frau wegen ihres größeren Schamgefühls Verheimlichung fordere; der Akt habe mehr als jeder andere Zurückgezogenheit und Geheimnis nötig. Er vergißt, daß Sicherung vor Augen und O h r e n nicht Sicherung vor dem G e d a n k e n , dem Verdacht, ja der Gewißheit, bedeutet, und daß es nur selten des Inquirierens bedarf, um eine begründete Meinung in diesem Punkte zu gewinnen. D a ß in unseren Ehesitten sich starke Symptome der Auflösung bem e r k b a r m a c h e n , dafür zeugt auch Dasein und Inhalt dieser Schrift. Dieser Prozeß ist sicherlich unaufhaltsam. Eine Gesundung der M o r a l , gerade auch in bezug auf das Geschlechtsleben, läßt sich nur aus der Tiefe des Volkes, daher vielleicht aus der arbeitenden Masse, erwarten. D e n n , so mannigfach auch die psychologischen Ursachen sind, die gegen die aufgerichteten

Schranken

der

„traditionellen"

Ethik

anstürmen,

die

stärksten entspringen immer aus der Üppigkeit des Lebens in den oberen Gesellschaftsschichten, aus der Verweichlichung des Willens infolge von M ü ß i g g a n g . D e r tatkräftige M e n s c h , männlich oder weiblich, erträgt diese Schranken williger, zumal wenn er ihre allgemeine Notwendigkeit, ihren Wert erkannt hat. Und das wesentliche Interesse, das beide Geschlechter, besonders aber das weibliche, an Erhaltung oder Wiederherstellung strengerer sexueller Sitte haben, wird sich daraus von neuem als volkstümliches behaupten. G e w i ß ist die Entsagung zuweilen furchtbar, die einem jungen Weibe, dessen ganze Natur auf Mutterschaft dringt, von jener Sitte zugemutet wird; und wenn der liebe G o t t aus dem Spiele gelassen wird, so ist Nachsicht natürlich und sittlich geboten. Aber in der Nachsicht selber ist schon die Kränkung enthalten; die Wurzeln der S c h a m und des Gewissens liegen zu tief! Die Institutionen der Sitte behalten ihre M a c h t , auch wenn die Denkungsart sich verändert. Jungfrauen, die nicht ehelos, kindlos leben wollen, sollten in Gegenden auswandern, w o sie höchstwahrscheinlich zur Ehe begehrt werden. Bekanntlich ist in allen Kolonialländern das numerische Verhältnis der Geschlechter ungleich günstiger für die Frauen, als in unserem alten müden Westeuropa 1 . 1

Z . B. stehen in den Ver. Staaten je 100 ledigen Mädchen, 15 und mehr Jahre alt, ca. 137 gleich alte ledige Jünglinge und Männer gegenüber, in Westaustralien sogar ca. 3 5 0 , im Deutschen Reiche 109, in Großbritannien 9 4 — 9 5 . Zwischen verwitweten und geschiedenen Personen sind, wie bekannt, die Verhältnisse allgemein ungünstiger, die Unterschiede sind geringer. Und doch kommen auch hier in Westaustralien auf 100 w. 95, im Deutschen Reiche nur 3 4 m. — Klarer könnten die Ehechancen noch zutage treten, wenn die unreifen Jünglinge ebenso wie Greise und Greisinnen abgezogen würden.

Rudolf Goldscheid, Höberentwicklung und Menschenökonomie

i Goldscheid:

Zuerst in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissen-

schaft (Hinneberg, P. [Hg.] 1912, 33. Jg., S. 1 5 9 5 - 1 5 9 8 . Berlin (Weidmannsche Buchhandlung) 1912. Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, III. Sammlung. Jena (Fischer) 1929, S. 4 5 4 - 4 5 7 ; siehe T G 19.

Past. Jobs.

Forberger,

Moralstatistik u. Konfession (Flugschriften des Ev. Bundes Nr. 315 — 317.) Halle 1911. Berlin, Verl. des Ev. Bundes.

Moralstatistik des Königr. Sachsen Ebd. 1912. Die erste Schrift behandelt nach kurzer Einleitung 1. Kriminalität und Konfession, 2. Ehe und Konfession, 3. Selbstmord und Konfession. Sie ist polemisch gehalten, und zwar apologetisch, besonders gegen Behauptungen, die von dem tüchtigen Statistiker Krose S. J . , ausgehen. Sie glaubt beweisen zu können, daß die Protestanten, wie sie in wirtschaftlicher und kultureller Beziehung den Katholiken unzweifelhaft überlegen seien, so auf dem Gebiete der Kriminalität, in Deutschland sowohl als in anderen Ländern günstiger stehen. Ebenso gelangt der Verf. zu verhältnismäßig günstigen Schlüssen in der zweiten Betrachtung, und wenn er in der dritten nicht leugnen kann, daß der Selbstmord bei den Protestanten im allgemeinen häufiger, vielfach weit häufiger ist, so glaubt er die Ursache vor allem in Volkstum, Bildung, Beruf, Wohnort, wirtschaftlich-sozialer E n t w i c k l u n g suchen zu dürfen; da außerdem der Selbstmord sehr oft durch Geisteskrankheit verursacht werde, so sei ein moralstatistischer Vergleich nur von sehr bedingtem Werte. ,Für alle moralstatistischen Zahlen, die bei einem Vergleiche der Protestanten und der Katholiken in Frage kommen, gilt der Satz: Wenn man, wie gerechterweise notwendig ist, die einflußreichen Faktoren des Wohnortes, des Berufes,

i Forberger: Zuerst in: Theologische Literaturzeitung, 1913, 38. Jg., S. 274—276, Leipzig (Hinrich'sche Buchhandlung). Die beiden Titel sind wie folgt bibliographiert: Forberger, Past Johs.: Moralstatistik u. Konfession (Flugschriften des Ev. Bundes Nr. 315—317.) (93. S.) 8°, Halle 1911. Berlin, Verl. Des Ev. Bundes. M . 1 - ; und: Moralstatistik des Königreich. Sachsen (53 S.) 8°. Ebd. 1912. M . 10 Krose:

80.

Pastor Johannes Forberger bezog sich dabei auf die folgenden beiden Schriften

Kroses: „Der Selbstmord im 19. Jahrhundert" (1906) sowie „Religion und Moralstatistik" (1906).

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der Kinderzahl usw. mit berücksichtigt, so ergibt sich, daß die Protestanten auf allen Gebieten der Sittlichkeit viel günstiger stehen, als es nach den bloßen Gesamtzahlen scheint' (S. 91). Nach den bloßen Gesamtzahlen darf man überhaupt nicht urteilen, und der Verf. tut es immer noch zu sehr. Wenn er S. 32 den ,Einfluß' der Konfession auf die Kriminalität aus den Daten des deutschen Reiches, und 32/34 sogar auch aus denen von Österreich-Ungarn bewiesen zu haben glaubt, so ist er im Irrtum. Wenn er sonst im ganzen mit Einsicht die verschiedenen Faktoren analysiert, so ist doch ein richtiges Urteil über die rohen Zahlen noch schwieriger als er glaubt. Auch ist die Erörterung S. 36, wie weit die Kriminalstatistik als Maßstab der Sittlichkeit gelten könne, nicht ausreichend. — In dem Abschnitte über uneheliche Geburten in Preußen stellt Verf. einen auffallenden, aber durch die amtliche Statistik verschuldeten Irrtum Kroses fest. Er ,erklärt' sodann die Mehrbelastung der Protestanten durch Umstände, die zu deren ,Entlastung' dienen, bespricht ferner im gleichen Sinne das außerpreußische Deutschland und andere Länder, kommt (unter VI) auf Prostitution und Geschlechtskrankheiten, auf die Zahl der ehelichen Geburten (VII), endlich auf Ehescheidungen (VIII), ein Gebiet, ,auf dem sich Zahlen ergeben, die, wenn sie wirklich beweiskräftig wären, den Einfluß des Protestantismus in der Tat in ein schlechtes Licht setzen würden.' Verf. meint: um die wirkliche Zerrüttung der Ehen zu beweisen, müßte eine Statistik der getrennt lebenden Ehegatten neben der Ehescheidungs-Statistik einhergehen. Ich bemerke dazu, daß auch diese nur ein Symptom bedeuten würde. Und wenn er meint, es sei als sicher anzunehmen, daß auf katholischer Seite die Zahl der Separirten größer sei, so möchte ich mit großer subjektiver Gewißheit das Gegenteil behaupten. Ähnlich wie die Ehescheidung, betrachtet Verf. natürlich den Selbstmord. Nur als ein äußerst relativer Gradmesser, und auch das nur im Zusammenhang mit der gesamten Kulturentwicklung und dem Volkscharakter, könne die Selbstmordzahl angesehen werden; sie sei als Maßstab noch weniger geeignet als andere einzelne moralstatistische Zahlen. Weniger als die der Strafprozesse etwa wegen Hausfriedensbruch, Beleidigung, leichter Körperverletzung — auch die gefährliche' ist zum großen Teil viel harmloser, als die Delikte sind, die unsere Studierenden sich fortwährend ungestraft zu Schulden kommen lassen — Sachbeschädigung u. a., um von den Vergehungen gegen Sonntagsruhe u. dgl. zu schweigen? — Die Moralstatistik ist eine Eisfläche, auf der Viele zu Falle kommen. P. Forberg bewegt sich darauf nicht ohne Geschick, er hat die Kunst erlernt und läßt es im allgemeinen bei ihrer Anwendung an der

Past. Jobs.

Forberger,

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Moralstatistik des König v. Sachsen

nötigen Vorsicht nicht fehlen. Daß er dennoch nicht immer mit genügender Kritik verfährt, ist offenbar zum guten Teile durch die polemische Absicht verschuldet. Ein treffendes Urteil begegnet auf der letzten Seite (92). Es heißt dort: ,Die Protestanten zeigen im allgemeinen mehr die Vorzüge wie die Fehler, die durch die moderne Entwicklung des geistigen wie des wirtschaftlich-sozialen Lebens begründet sind, während die Katholiken mehr die Vorzüge wie die Fehler der von der modernen Entwicklung noch weniger erfaßten Kulturperiode aufweisen'. Ich glaube, wenn Verf. von diesem Satze ausgegangen

wäre, so hätte sein schätzbarer Fleiß

noch reinere Ergebnisse gezeitigt. Auch das zweite Schriftchen ist verdienstlich. Schon das Vorwort bekundet eine sinnreiche Würdigung der ,Zahlenwüsten der Statistik'. Der Text handelt von Stammesmischung, Bevölkerungsdichte, Beruf und Einkommen, Altersaufbau, Zahl der Frauen; sodann von Straffälligkeit; unehelichen

Geburten;

schlechtskrankheiten,

Rückgang

der Geburtenzahl;

Unzuchtsverbrechen;

Prostitution,

Ehescheidungen;

Ge-

Selbst-

mord; Trunksucht; endlich von kirchlicher Sitte, religiöser Bewegung, kirchlichen und wohltätigen Stiftungen und Sammlungen. Als Gesamtergebnis wird festgestellt (S. 53): Sachsen zeige auf der Grundlage eines Ruhe und Ordnung, Betriebsamkeit und Vermittelung aller Gegensätze liebenden, weichen, verständigen und gesitteten Volkscharakters, die typischen moralstatistischen Erscheinungen eines in der modernen kulturellen und wirtschaftlich-sozialen

Entwicklung weit vorgeschrittenen

Landes. Schade für die Anwälte ostelbischen Geistes, daß dies Land mit seinen sozialdemokratischen Mehrheiten sich nicht als ein Abgrund der Sittenlosigkeit und Verwilderung darstellen läßt. — Die Tätigkeit eines Geistlichen auf diesem Gebiete möge mit Genugtuung begrüßt werden. Seit dem herrlichen Johann Peter Süßmilch haben nicht wenige Theologen den Wert und die Reize dieser Volksforschung empfunden. Auch im 19. Jahrhundert hat ein Theologe, Alexander von Oettingen, mit bewunderungswürdigem Fleiße um die Moralstatistik sich Mühe gegeben. Schon durch treue Einzelbeobachtung ihrer Kirchspiele könnten manche — dafür begabte — Pfarrer unsere immer noch sehr mangelhafte Erkenntnis des wirklichen Volkslebens erheblich bereichern, zumal wenn

30 von Oettingen:

Vgl. dessen Werk „Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre" (2

Bde., 1 8 6 8 - 1 8 7 4 ) ; der 1. Teil in der 3. Auflage u. d. T. „Die Moralstatisnk in ihrer Bedeutung für eine Sozialethik" ( 1 8 8 2 ) .

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sie dabei streng auf Feststellung von Tatsachen, oder doch auf schärfste Unterscheidung von Tatsachen und Schlüssen, ihre Aufmerksamkeit richten wollten. Denen, die zu solchen Studien geneigt sind, können beide wohlfeile Werkchen Forbergers aufs beste zur Einführung und Förderung empfohlen werden.

s

Hans

W. Gruhle,

Die Ursachen

der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität Abhandlungen aus dem Gesamtgebiete der Kriminalpsychologie (Heidelberger Abhandlungen). Herausgeg. von K. v. Lilienthal u. a. Heft 1. Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität. Von Hans W. Gruhle. Berlin, Julius Springer 1912 Die hier vorliegende Studie beruht auf der Untersuchung von 105 schwer verwahrlosten Knaben, die Zwangszöglinge der Flehinger Anstalt in Baden gewesen sind oder noch sind. Ein großer Teil (etwa 'A) des umfangreichen Bandes ist durch Lebensbeschreibungen dieser 105 angefüllt, und diese sollen das Hauptstück des Werkes bilden, zu dem der allgemeine Teil nur gleichsam die Einleitung gebe. Dieser größere Teil behandelt nach einer kurzen (eigentlichen) Einleitung im 1. Abschnitt die Verhältnisse der Verwandten und der Umgebung, im 2. das Schicksal und die Persönlichkeit des Kindes, im 3. Milieu und Anlagen. Der erste Blick in das Buch macht uns gewiß, daß der Verfasser mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit verfahren ist. Man kann Zweifel hegen, ob die möglichen Ergebnisse der Untersuchung von 105 Individuen in richtigem Verhältnis zu dem hohen Aufwand von Fleiß und Mühe stehen. Ein etwas zu starkes Vertrauen in die sog. statistische Methode, namentlich in Prozent-Berechnungen und graphische Darstellungen begegnet hier, wie so oft in neueren Schriften dieser Art. Wenn z. B. nach S. 17 unter den 105 14 vaterlose Uneheliche waren, und unter den übrigen 91 der Geburtsort von 79 Vätern bekannt war, so hat es kaum einen Wert, darzustellen, daß von diesen 79 2 = 2,53 Proz. in Bayern rechts d. Rh. und 1 = 1,26 Proz. in Bayern links d. Rh. geboren waren, usw. Ebenso führt es in eine kaum noch belehrende Mikrologie, wenn 3 Hans W. Gruhle: Zuerst in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, 1913, Bd. 2, Heft 5/6, S. 6 9 0 - 6 9 4 , Berlin (Springer); eB S. 717f. s Anstalt: Großherzogliche Badische Zwangs-Erziehungsanstalt in Flehingen (in der Nähe von Bretten im damaligen Kreis Karlsruhe gelegen) für - in der Regel — katholische Jünglinge. Die Anstalt hatte das ganze Großherzogtum als Aufnahmegebiet. Erst am 1. Jan. 1901 wurde sie von der Zentralleitung des Landesverbandes der badischen Bezirksvereine für Jugendschutz und Gefangenenfürsorge dem badischen Staat übergeben.

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S. 28/29 dargestellt wird, daß es von 83 bei 105 Müttern gelang, sicheren Aufschluß über ihr kriminelles Vorleben zu erlangen; daß von diesen 48 = 57,84 Proz. nicht bestraft waren usf. und wenn dann dies Ergebnis gar noch in schraffierten Parallelogrammen abgebildet wird! Ebenso haben die Zusammenstellungen S. 39/40 über elterliche Trunksucht nach allerhand Beobachtungen an Verbrechern deutscher und außerdeutscher Länder fast keinen Wert; der Verf. hält es selber für recht wahrscheinlich, daß die großen Verschiedenheiten nicht allein dem Material, sondern wesentlich der Methodik der Untersucher entstammen. In der Tat lehren diese und viele ähnliche Mitteilungen in erster Linie, wie dürftig es um unsere wirkliche Kenntnis und Erkenntnis dieser Dinge bestellt ist, wie wenig auch nur das Bedürfnis bisher empfunden worden ist, die Beobachtung der Menschen und ihrer sozialen Zustände auf einigermaßen sichere Grundlagen zu setzen. Was hier zu tun notwendig wäre, geht weit über die Kräfte eines einzelnen Mannes hinaus; um so mehr wollen wir begrüßen, was ein solcher hier wirklich geleistet hat. — Der erste Abschnitt beschäftigt sich fast ausschließlich mit den Eltern: ihrem Geburtsort (s. o.), dem Lebensalter zur Zeit der Erzeugung des Kindes, ihrer Unehelichkeit, ihrem Beruf, Militärverhältnis, ihrer Kriminalität, Trunksucht, geistiger Abnormität, körperlichem Siechtum, und dem Zusammentreffen der 4 zuletzt genannten Belastungen. Endlich wird noch über die Kriminalität der weiteren Verwandten, über Erwerbsverhältnisse und Kinderzahl berichtet. Im zweiten Abschnitt hören wir dann (S. 57—204) von Geburt und Gebürtigkeit der Knaben selber, also von Unehelichen und Verwaisten, von ihrem letzten Wohnort, ihrem Verhalten in der Schule, von Beschäftigung und Wohnungsverhältnissen, endlich sehr eingehend von ihrer Kriminalität. Ihre Persönlichkeit wird dann nach körperlichem Befund, nach geistiger Gesundheit und Charakterologie beschrieben. Der dritte Abschnitt will den Ursachen der Verwahrlosung nachgehen. Eine Stufenfolge von 5 Schichten wird entworfen, auf der Unterscheidung beruhend, ob diese (1) allein im Milieu, (2—4) weniger oder mehr auch in der Anlage, oder endlich (5) nur in der Anlage gefunden wurde. Die letzte Gruppe (22 in den 105 umfassend) deckt sich ungefähr mit der sonst umlaufenden Vorstellung vom geborenen Verbrecher; Verf. meint aber, dieser Ausdruck sei schon für die brutalen rohen energischen, aktiven Typen „allgemein üblich" (ich glaube nicht, daß dies mit Recht gesagt wird; von allgemeiner Uebung wird man hier nicht reden können, so lange, als alles kontrovers und mangelhaft analysiert ist); es seien aber auch verhältnismäßig harmlose Jungen in dieser

Hans W. Gruhle, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität 6 0 7

Gruppe A. Verwahrlosungs-Ursachen und Belastung werden in ihrem Zusammenhange betrachtet, die Belastung der genannten Gruppen sodann je für sich, und im Anschluß daran die der Abnormen, der gut und schlecht Begabten, der Rohen und sehr Aktiven. Sodann werden die Beziehungen von Eigenschaften, Lebensumständen und Lebensführung erwogen. Hier werden die Gruppen der Unehelichen, der Verwaisten, der Stadt- und Landkinder, der Verbrecherkinder, und nach den verschiedenen Verwahrlosungssymptomen orientierte, endlich die psychologischen Gruppen gebildet. Manche Ergebnisse hier und an anderen Stellen sind interessant, wenn auch die Kleinheit der Zahlen vor Verallgemeinerung warnen muß. — In seinem Schlußworte weist der Verfasser selbst auf die doppelte Schwierigkeit hin, die ihm erwachsen sei, wo sein Problem andere Probleme durchschneide. Solche andere Probleme seien die Beweglichkeit der Bevölkerung, die Ursache der Loslösung des Jugendlichen von Eltern und Heimat, die Erwerbs- und Einkommensverhältnisse der Familie, die Wohnungsnot und manche verwandter Art. Zum ersten habe der Umfang der Studie nicht zugelassen, diesen anderen Problemen nachzugehen. Sodann aber habe er sich mit den Methoden und Ergebnissen der Disziplinen, denen diese Probleme angehören, überhaupt mit den Methoden und Tatsachen der Soziologie, nicht hinlänglich vertraut gefühlt. Er meint daher auch, seine Studie bleibe ein erster Versuch, der erst durch künftige Arbeiten anderer Forscher Bedeutung erlangen könne. So ehrlicher und treffender Selbstkritik läßt sich kaum etwas hinzufügen. Der Wert dieser minutiösen und mit peinlicher Sorgfalt geführten Untersuchungen wird allerdings einmal durch die kleine Zahl der Objekte, mehr aber noch durch den Mangel an allgemeinen Gesichtspunkten für die Erläuterung des Gegenstandes beeinträchtigt. Verwahrlosung wie Kriminalität müssen auch unter dem Gesichtswinkel betrachtet werden, daß ihre Verfolgung und Behandlung zu den Kampfmitteln gehören, die von Staat und Gesellschaft vorzugsweise gegen die unteren sozialen Schichten gebraucht und angewandt werden. Es darf nicht auf bösen Willen zurückgeführt werden, aber es liegt in der Natur der Sache, daß die Behörden — um so allgemein zu sprechen — ein scharfes Auge für Laster und Vergehungen haben, die in diesen Schichten deutlich zu Tage treten, während im Vergleiche damit die besitzenden Klassen als tugendhaft und makellos in hellem Lichte glänzen. Für das Kind einer wohlhabenden Familie ist die Versuchung, durch Diebstahl außerhalb des Hauses sich einen Genuß zu verschaffen, kaum vorhanden, und wenn es im

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Rezensionen

Hause von Freunden vorkommt, so wird es nachsichtig beurteilt und vorsichtig verheimlicht werden. Ähnlich steht es mit anderen dummen und schlechten Streichen, zu denen im allgemeinen die ,besseren' Kinder stärker geneigt sein dürften, denn sie sind zum guten Teile üppiger, übermütiger, dreister, und wissen bald, daß die Gefahr, ins „schwarze Loch" zu kommen, für sie sehr gering ist. Ärgste Verwahrlosung zeigte sich vor etwa 10 Jahren — nach dem Inkrafttreten des geltenden preußischen Fürsorgegesetzes — bei dem Sohne des königlichen Polizeipräsidenten einer bekannten preußischen Großstadt; so arge, daß sie auch öffentlich bekannt wurde. Von Einleitung des Zwangs-Erziehungsverfahrens war — „natürlich" wird jeder sagen, der sich ähnlicher Fälle erinnert — nicht die Rede. Man denke auch an die Fälle, wo höhere Töchter im Backfischalter verfrühte Neigungen für reizende Leutnants allzu deutlich — durch Besuche in deren Zimmer u. a. — an den Tag legen; sie scheinen in Großund Garnisonstädten nicht ganz selten zu sein, — ich habe aber noch nicht gehört, daß eine Fürsorge-Erziehung aus solcher Ursache beantragt wäre; obgleich die höheren Töchter zu den Prostituierten ein bekanntes Kontingent stellen, und der Prostitution soll doch die Fürsorge-Erziehung kleiner Mädchen vorbeugen ... Soll sie wirklich? Wollen Staat und Gesellschaft im Ernste die Prostitution verhindern? Oder etwa nur Landeskinder, deutsche Staatsangehörige, vor ihr bewahren? Aber man ist doch auch darüber einig, den Mädchenhandel als ein scheußliches Verbrechen zu bekämpfen? — Und nun stelle man sich einmal vor, diese Bemühungen hätten Erfolg, die Rekrutierung der gewerbsmäßigen Unzucht hörte auf ... man stelle es sich vor und denke darüber nach. Eher läßt sich an den Ernst glauben, womit man der Kriminalität und ihrer Vermehrung wehren will. Aber Kriminalität und Prostitution hängen bekanntlich aufs innigste miteinander zusammen. Einer der Zusammenhänge ist auch der, daß die Kriminalität der gegebene Ausweg für den ist, der zugleich liederlich und arm, nicht in der Lage ist, die Mittel für ein ausschweifendes Leben aus des Vaters Tasche, aus eigenem Vermögen, oder durch sogenannte ehrliche, d. h. um das Strafgesetz sich herumdrückende Geschäfte zu decken. Daß nun die Fürsorge-Erziehung der Armut vorbeuge, wird gar nicht in Anspruch genommen; ob der Liederlichkeit? die Chancen dafür sind verschwindend gering. Ein durchaus verbessertes Milieu vermag sicherlich auf die Bildung anderer Charaktere hinzuwirken, als sie in Schmutz und Not, in den Winkeln der Großstadt sich entwickeln. Solche Verbesserung ist gegeben, wenn ein rechtschaffenes Ehepaar auf dem Lande ein armes Kind der Gasse wie ein

Hans W. Grüble, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität

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eigenes aufzieht und pflegt; zumal wenn solches Ehepaar die Freude an eigenen Kindern nie gekannt hat. Von dem preußischen Zöglingsbestande, der auf Grund des Gesetzes vom 2. VII. 1900 „endgültig überwiesen" war, fanden sich in Anstalten untergebracht 5511, in Familien 1421. 1 Daß die Anstalten, selbst wenn die übliche Pädagogik nicht durch Einpauken von Bibelsprüchen, Gebet und Prügeln, ihre sittlichen Erfolge suchte, bessere Menschen hervorbringen sollten, ist eine grobe Illusion. Vielmehr müssen diese Anstalten notwendigerweise als Infektionsherde wirken. Wenn gleichwohl ihre „Erfolge" gerühmt werden, so darf man mit Sicherheit sagen, daß der Erfolg eines nicht kriminellen Lebenswandels in der großen Mehrzahl der Fälle, auch wenn die Kinder in ihren alten Verhältnissen geblieben wären, sich hätte beobachten lassen; ja ich behaupte, in einer größeren Zahl von Fällen. Die „Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern, der sonstigen Erzieher oder der Schule" (§ 1 Abs. 3 des Gesetzes) war bei 5168 von den 8008 preußischen Individuen die alleinige Ursache der Überweisung; nur etwa 30 v. H. waren gerichtlich bestraft; und was für Lappalien führen oft zu Strafgerichten gegen Kinder wie gegen Erwachsene! Die „Unzulänglichkeit der Erziehung" aber ist ungemein schwer zu beurteilen; wenn alle unzulänglich erzogene Menschen Verbrecher würden, dann freilich sähe es übel aus. Das natürliche Gefühl, der gesunde Menschenverstand, die allmähliche Reifung des Charakters, das gegenseitige Beispiel, die Kameradschaft, daher heute in bedeutendem Maße die „Gewerkschaft", und in Verbindung damit leidliche Erwerbsverhältnisse und die Möglichkeit rechtzeitiger Eheschließung — das sind die Hauptfaktoren, die den Menschen zu gesetzlichem Verhalten veranlassen; und sie wirken trotz der Anstaltserziehung, die unter allen Umständen eine schwere Belastung des Bewußtseins darstellt, auch weil sie das Vermögen, sich in der Welt zu orientieren, mit Menschen und Dingen, auch mit „Geld", umzugehen, außerordentlich schwächt; dazu dann die Verdumpfung, Verdummung und Verbitterung des Gemütes, die eine regelmäßige Folge solcher Erziehung ist; für die Empfindung von Kindern sind diese Anstalten Strafanstalten, mögen sie noch so sehr — was sicherlich nur bei einem kleinen Teile der Fall ist — in humanem Geiste geleitet werden. Gedanken dieser Art werden auch durch das vorliegende Buch angeregt. In Baden stellen die Anstaltszöglinge viel mehr als in Preußen eine Auslese der übleren Elemente dar. Der Verfasser teilt mit (S. 2 Anm. 3), 1

N u r in Schleswig-Holstein die Mehrheit (91 gegen 79), sonst k a u m Vs in Familien!

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Rezensionen

daß in Preußen 1908 83,8, in Baden 1907 nur 39,5 v. H. der Fürsorgebefohlenen in Anstalten untergebracht waren. Die hohe Ziffer in Preußen ist für den Geist der preußischen Verwaltung und Gesetzgebung charakteristisch. Ich habe schon in kritischen Betrachtungen über den Entwurf des Gesetzes von 1900 (Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik XV, 3 und 4, S. 458 ff. und S. 510 ff.) den Geist, aus dem dies Gesetz geboren ist, als recht fragwürdig dargestellt, und dem durchschnittlichen Vormundschaftsrichter die Befähigung, so tiefgehende Befugnisse, wie sie ihm dies Gesetz verleiht, in ersprießlicher Weise auszuüben, abgesprochen. An das Überwiegen der Anstaltserziehung habe ich dabei nicht einmal gedacht; heute fürchte ich, daß es allzuviele Amtsrichter gibt, die gerade diese Art der „Fürsorge" mit reichlichen Prügeln für die geeignete Art halten, einen ungeratenen Jungen, insofern dieser nicht ihrer eigenen Gesellschaftsklasse angehört, zu bändigen und zu „bessern". Unser Autor gibt S. 128 als einen Nebenbefund seiner Studien die Feststellung, daß jedenfalls die Fürsorgeerziehung nicht verhindere, daß auch bei den Fürsorgezöglingen, auch den Verwahrlosten, die Strafdichte mit zunehmender Rückfälligkeit wächst. Zugleich hebt er die oft vergessene Tatsache hervor, daß die Möglichkeit des Straffalls bzw. des Rückfalls für eine große Anzahl jugendlicher Personen auf Jahre hinaus durch ihre Internierung aufgehoben oder doch sehr vermindert wird, und deutet an, daß die Erfolge der „Fürsorge" durch die Nichtabnahme der Gesamtkriminalität der Jugendlichen 2 , zumal auch ihrer Rückfälligkeit, in trauriger Weise illustriert werden.

2

Verf. hat freilich nur die Reichskriminalstatistik bis 1906 herangezogen. Seitdem ist allerdings eine A b n a h m e sogar in den absoluten Zahlen jugendlicher Verurteilter eingetreten, von 5 6 2 7 7 auf 51 325 (1910), A b n a h m e von ca. 7 Proz., diese A b n a h m e ist aber viel geringer bei den für diese Kriminalität am meisten charakteristischen Delikten gegen das Vermögen (von 3 9 4 9 6 auf 38 101 = ca. 3 Proz.) und speziell bei „ D i e b s t a h l " fast = 0. (1906: 2 7 4 4 3 , 1910: 2 7 3 7 2 . ) Die große wirtschaftliche Krisis von 1908 ab hat belastend dagegen gewirkt.

Ernst Troeltscb, Gesammelte Band

1, Die

Tübingen

i Troeltsch:

Soziallehren

der

christlichen

Schriften Kirchen

und

Gruppen,

1912

Zuerst in: Theologische Literaturzeitung (Schürer, E. + Harnack, A. [Begrün-

der], 1914, 39. Jg., Nr. 1 (3. Januar), Sp. 8 - 1 2 , Leipzig (Hinrich'sche Buchhandlung). Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, III. Sammlung. Jena (Fischer) 1929, S. 4 3 2 - 4 3 8 ; siehe T G 19.

Richard

M. Davis, Psychological Interpretations of society

(Studies in history, economics and public law, edited by the Faculty of Politicai Science of Columbia University. Vol. XXXIII, No. 2.) New York 1909, Columbia University Longmans Green & Co. Agents, 260 S. Den Nucleus der Schrift bildet ein Bericht über Gabriel Tardes Sozialphilosophie: dieser Bericht, aus einer Doktordissertation hervorgegangen, erfüllt die ersten drei Kapitel (VI —VIII) des zweiten Abschnittes. Da nun Tardes Hauptwerk die „Nachahmung" zum Gegenstande hat, so schließen Kapitel über Ziel und Grenzen der Nachahmung und über Nachahmung und Suggestion in der „Gesellschaft" (IX u. X) bequem sich an, und mit einem Kapitel über den sozialen Prozeß (XI) wird der Abschnitt „Soziale Funktion" beschlossen. Es geht nach kurzer Einleitung (Kap. I), ein erster Abschnitt (Kap. II —V) über den sozialen Geist (S. 15 — 83) voran und ein dritter gibt in vier Kapiteln (XII bis XV) die „Anwendungen". Tarde war durch die Jurisprudenz (er entstammte einer uralten Richterfamilie der Dordogne) zur Erforschung der Kriminalität und von dieser zum Studium des allgemeinen sozialen Lebens fortgeschritten. Der Esprit, durch den die Nation sich auszeichnet, hat in ihm nochmals einen glänzenden Vertreter gefunden. Aber dieser Geist ist gebunden durch wissenschaftlichen Ernst, durch die Vornehmheit einer Denkernatur und umfassender philosophischer Bildung. So vorzügliche Eigenschaften nehmen den Leser gefangen; wenn er sich aber von den ersten Eindrücken zu befreien vermag, so wird er bald finden, daß Tarde nicht geleistet hat, was er zu leisten vermeinte. Die eigentliche Soziologie — namentlich die Theorie der sozialen Verhältnisse und Verbindungen — hat er kaum berührt; aber dadurch wird sein Verdienst um die Psychologie des sozialen Lebens nicht vermindert. Mit Recht schätzt der amerikanische Autor dies Verdienst hoch; und doch gelangt seine eingehende Kritik zu dem richtigen Ergebnis (S. 191), daß die Lehre, welche Nachahmung als Basis 1 Davis: Zuerst in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1914, 38. Jg., S. 9 6 8 - 9 7 1 , München/Leipzig (Duncker & Humblot). 7 Tardes Sozialphilosophie:

Vgl. Gabriel Tarde, 1895.

Richard

M. Davis,

Psychological Interpretations of society

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der Gesellschaft darstelle, nur eine erleuchtende Halbwahrheit sei. Vorher schon findet er, Tarde habe den Terminus „Nachahmung" schließlich so weit verallgemeinert, daß er einen bestimmten Sinn einbüßte und die fundamentale Argumentation sich in einem Zirkel bewegte (S. 150). Und doch hat der Kritiker, wenn ich nicht irre, versäumt darauf zu achten, daß Tarde (in der Vorrede zur zweiten Auflage der Lois de l'imitation) ausdrücklich eingesteht, sein Buch enthalte eine Lücke: er habe darin nicht von einer „Form der Imitation" gesprochen, die er gleich darauf „Contre-Imitation" nennt (die Neigung, genau das Gegenteil zu tun von dem, was das Vorbild tut), und dieser Gedanke führt in ein anderes geistreiches Werk des Verfassers hinüber, ohne doch darin zu gehöriger Geltung zu gelangen 1 . Übrigens ist die Verbesserung und Ergänzung, die in vorliegender Schrift der Theorie Tardes zu Teil wird, überwiegend glücklich und zeugt von nicht geringem Scharfsinn wie von gediegener Kenntnis. Er widerlegt die ausschließliche Zurückführung sozialer Ähnlichkeiten auf die (wie immer ausgedehnte) Nachahmung durch Hinweisung darauf, daß immer eine gewisse Menge hereditärer Ähnlichkeit mitspiele; daß sie ferner das Ergebnis physiologischer Auslese von angeborenen Tendenzen sei; daß darauf auch bleibende Organisation für wechselseitiges Zusammenwirken zwischen ähnlichen Organismen beruhen könne. Sodann beschreibt und beschränkt er die von Tarde übermäßig betonte Wirkung der Suggestion im sozialen Leben; zunächst auf Grund der in Amerika vorzüglich beliebten psychologischen Experimente. Er gibt zu, daß die modernen Anhäufungen der Menschen und der Einfluß der Verkehrsmittel Bedingungen geschaffen habe, die in manchen Stücken der Suggestion günstig seien; anderseits sei eine bedeutende Gegenwirkung in den geistigen und institutionellen Bewegungen und in den Bestrebungen der „besten Männer" vorhanden. Ferner sei überhaupt „Ähnlichkeit" so wenig als Verschiedenheit das typische Ergebnis sozialer Aktion; beide seien nur Phasen der adaptiven Reaktion; darin, sofern sie in Wechselwirkungen geschehe, liege das Wesen des „sozialen Prozesses". Dieser soll näher bestimmt, soll definiert werden. Aber „ein komplexer sozialer Begriff hat so viele Definitionen als er Aspekte bietet; und er bietet so viele Aspekte, als wir Interessen haben" (S. 195). Es wird daraus gefolgert, 1

L'opposition universelle. Essai d'une theorie des contraires. Paris 1897, Alcan.

6 Lois de l'imitation:

Vgl. Tarde, 1900: XI-XII.

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Rezensionen

daß unser Fundamentalbegriff des sozialen Lebens einen hohen Grad von Allgemeinheit haben müsse, und daß spezifische Prinzipien für die Ausdeutung des sozialen Prozesses vermöge der subjektiven Kriterien, die aus sozialen Druckverhältnissen und menschlichen Interessen entspringen, auszulesen seien. Der Anpassung, als dem sozialen Prozeß in seiner Vollendung, gehen Hervorbringung von Ähnlichkeit oder Verschiedenheit als unmittelbare Prozesse voraus, zu dieser Hervorbringung wirken aber mehrere Unterprozesse (als: Vererbung, biologische, physiologische Auslese, suggestive und rationale Nachahmung zur Hervorbringung von Ähnlichkeit, die beiden ersten ebenso von Verschiedenheit; warum erwähnt er nicht Tardes Gegen-Nachahmung und den Wunsch, sich abzuheben, sich auszuzeichnen?); solche Unterprozesse also wirken zusammen — dahinter liegen fundamentale Elemente, wodurch alle Prozesse organischen Lebens bedingt sind: kosmische, geologische, geographische, biologische, „rassische", psychologische und historische. — Die „Anwendungen" stellen zunächst psycho-soziale Prinzipien auf, nämlich 1. Genetische Ordnung bedeutet nicht notwendig kausale Ordnung. 2. Ideen und soziale Institutionen dauern unabhängig von ihrem Ursprünge oder ihren ursprünglichen Zusammenhängen. 3. Prinzip der Wechselwirkung. 4. Produktive und selektive Prozesse bewirken den physischen und den sozialen Fortschritt. Der richtige Weg, Probleme der Gegenwart wissenschaftlich zu behandeln, ist ihre Analyse, um Tendenzen aufzuweisen; in historischen Phänomenen muß entsprechender Weise der „Prozeß" gesucht werden. Damit geschieht der Übergang zur „Psychologie in der Auslegung der Geschichte" (K. 13). Hier wird die Schwierigkeit des Begriffs der Ursache vorgeführt. Die Bestimmung als notwendigen Antezedens müsse ergänzt werden durch die Einschränkung: „aus dem Gesichtspunkte unseres speziellen Interesses". Näher liegen die Korrelationen der Tatsachen. Das Prinzip der „unabhängigen Dauer" wird gegen die ökonomische Erklärung der Geschichte geltend gemacht, die ein Versuch sei, von der menschlichen Gesellschaft eine vollständige Erklärung zu geben, vermöge einer unvollständigen Theorie der menschlichen Natur. Über die öffentliche Meinung handelt ein folgendes Kapitel (14). Im eigentlichen Sinne des Wortes dürfe sie für das soziale Analogon rationalen, selbstbewußten Wollens, des höchsten psychischen Typus individueller Aktivität, gelten 2 . 2

So h a b e ich zuerst 1887 die öffentliche M e i n u n g erklärt: G e m e i n s c h a f t u n d Gesellschaft, S. 270 ff. (2. Aufl. S. 284 ff.) Prof. Alessandro

Bonucci,

L'orientazione psicologica

dell'etica e della filosofia del diritto p . 276 zitiert diese Stelle.

Riebard

M. Davis, Psychological Interpretations of society

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Das 15. und letzte Kapitel betrachtet die soziale Bedeutung der Persönlichkeit. Vier Bedingungen „der psychologischen Quantität, die wir Größe nennen", werden erörtert (suggestiver Einfluß des Menschen selber, des Ranges, des Berufes, der Überlieferung). Die Leistung ist nicht entscheidend. Größe kann einer Linse verglichen werden, durch die das soziale Bewußtsein seinen Brennpunkt findet. Wenn die Leistung ins Auge gefaßt wird, so tritt das biologische Moment, die erbliche Begabung in den Vordergrund. Aber stark wirksam, um Begabungen sozial in die Höhe zu bringen, ist auch das Bedürfnis, die Nachfrage der Gesellschaft. Dazu kommen Erziehung und Milieu, um die Chancen zu verbessern oder zu verschlechtern. Anderseits gestaltet jeder Mensch, um so mehr der bedeutende Mensch, das Milieu (die selektiven Kriterien) für andere und in einigem Maße für sich selber. Jeder ist in einem gewissen Grade sowohl Produzent als Produkt. Und die psychologische Soziologie muß die soziale Bedeutung des durchschnittlichen wie des Ausnahmemenschen durch eine und dieselbe Analyse bestimmen. Aus diesem kurzen Auszuge dürfte hervorleuchten, daß eine tüchtige Gedankenarbeit vorliegt, die geeignet ist, den noch immer nicht großen Bestand sozialpsychologischer Erkenntnis zu erhöhen. Das abgegrenzte Gebiet ist wie mit Tardes, so auch mit demjenigen Simmeis verwandt, von dem auch Verfasser in einem kurzen Absatz (S. 136) Notiz nimmt. D a ß alle drei Autoren an der rechtsphilosophischen, die ich als die wirkliche reine Soziologie behaupte, vorbeigehen, tut dem Werte dessen, was sie geleistet haben, keinen Eintrag. — Der Anhang vorliegender Schrift gibt eine Bibliographie der Tardeschen Bücher und Artikel, und eine ausgelesene Zahl von biographischen und kritischen Artikeln über ihn 3 .

3

Ich möchte dazu bemerken, daß ich im deutschen Sprachgebiete der erste gewesen bin, der von den Lois de l'Imitation ausführliche und kritische Mitteilung gemacht hat (1891) in den Philosoph. Monatsheften Bd. 29, von anderen Schriften Tardes in den Jahresberichten des Archivs für systematische Philosophie IV, H. 2, S. 247 und VIII, H. 2, S. 268. Die frühere Abhandlung wird genannt in dem trefflichen kleinen Aufsatz über Tarde von D. Gusti in diesem Jahrbuch X X X (1906), S. 973, der überhaupt, auch zu sonstiger Ergänzung der Bibliographie, verglichen werden möge.

20 mit demjenigen 2« möchte

Simmeis

dazu bemerken:

verwandt:

Vgl. Simmel, 1890; 1895; 1896; 1898.

Vgl. Tönnies, 1891, 1896, 1898 ( T G 3 u. 4).

33 Gusti: Vgl. Gusti, 1906: 9 7 3 - 8 8 .

Dr. O. Kürten, Statistik des Selbstmordes im Königr. Sachsen Mit 2 schemat. Darstellgn. u. e. Übersichtskarte. (Ergänzungshefte zum Deutschen Statist. Zentralblatt Heft 3.) Leipzig, B. G. Teubner 1913. 5 Eine durch 79 Tabellen illustrierte sehr eingehende Untersuchung in 16 Kapiteln, die eine wirkliche Bereicherung der moralstatistischen Literatur darstellt. Richtig wird aber am Schlüsse darauf aufmerksam gemacht, daß die Herstellung des Urmaterials für die Beobachtung dieser Ereignisse (und das gilt für viele ähnliche) noch durchaus unzulänglich 10 ist. Der Verf. macht Vorschläge für die Verbesserung. Von seinen Ergebnissen möge hervorgehoben werden, daß die sonst ziemlich allgemeine Erfahrung höherer Selbstmordfrequenz der Protestanten für das Königreich Sachsen nicht zutrifft. Verf. behält sich das Urteil über diese Erscheinung vor. Vermutlich hängt es mit der abweichenden Berufs-Vertei- 15 lung der Konfessionen zusammen.

1 Kürten: Zuerst in: Theologische Literaturzeitung, 1914, 39. Jg., S. 509, Leipzig (Hinrich'sche Buchhandlung). Die bibliographischen Angaben des Buches sind in der Theologischen Literaturzeitung noch ausführlicher: „(VIII, 145 S.), gr. 8°".

Vladimir

G. Simkhovitch,

Marxismus

gegen

Sozialismus

i Simkhovitch: Zuerst in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft (Hinneberg, P. [Hg.]), 1914, 35. Jg. (8. August), S. 2 0 3 2 - 2 0 3 3 , Berlin (Weidmann'sche Buchhandlung). Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, III. Sammlung. Jena (Fischer) 1929, S. 4 6 1 - 4 6 3 ; siehe TG 19.

Charles A. Ellwood,

Sociology in its psychological aspects

New York and London. D. Appletor and Company. 1912. XIV, 417 S. Dem Verf. bedeutet Soziologie das Studium der biologischen und psychologischen Faktoren im sozialen Leben, mit Bezug auf gewisse Probleme, insonderheit die Probleme der sozialen Organisation und sozialen Entwicklung. Das Buch soll aber nur den Teil der soziologischen Theorie darstellen, der unmittelbar auf Psychologie beruht, weil dieser Teil die stärkste praktische Bedeutung habe für die Entwicklung einer Soziologie, die zugleich als Basis für die speziellen Sozialwissenschaften und für die Konstruktion gesunder Sozialpolitik dienen könne. Ungeachtet dieser Beschränkung will es jedoch eine „Theorie der Gesellschaft" zur Geltung bringen. „Eine Gesellschaft ist eine Gruppe von Individuen, die ein kollektives Leben vermittels mentaler Wechselwirkung führen." Dies alles steht in der Vorrede. Das Werk selber kommt mit seinem 6. Kapitel auf die psychologische Basis der Soziologie, nachdem zuvor (Kap. 1, „Verschiedene Begriffe der Soziologie und der Gesellschaft", der „Gegenstand und die Probleme der Soziologie" (II), die Beziehungen der Soziologie zu andern Wissenschaften (III) und zur Philosophie (IV) sowie die wissenschaftlichen Methoden der Soziologie (V) erörtert worden sind. Nachdem alsdann Kap. VII den Ursprung der Gesellschaft betrachtet hat, will das VIII., das in zwei Unterkapitel zerfällt, als fundamentale Tatsachen für die psychologische Soziologie 1. die soziale Koordination, 2. die soziale Selbstbeherrschung darstellen. Die folgenden Kapitel behandeln die Rolle des Instinkts (IX), die des Gefühls (X) und die des Verstandes (XI) im sozialen Leben. Daran schließt sich (XII) die Theorie der sozialen Kräfte, (XIII) die Rolle der Nachahmung und XIV, die der Sympathie im sozialen Leben. So wird das Kapitel (XV) über den sozialen Geist, das soziale Bewußtsein, die öffentliche Meinung und den populären Willen vorbereitet. Endlich folgen noch (XVI) die Formen der Verbindung, (XVII) die Theorie der soi Ellwood: Zuerst in: Weltwirtschaftliches Archiv, 1914, Bd. 4, S. 4 4 7 - 4 5 0 , Jena (Fischer). Die bibliographischen Angaben des Buches sind im Weltwirtschaftlichen Archiv noch ausführlicher: „Ellwood, Charles A., Ph. D. Professor of Sociology in the University of Missouri".

Charles

A. Ellwood,

Sociology in its psychological aspects

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zialen Ordnung, (XVIII) die des sozialen Fortschritts; den Abschluß bildet Kap. X I X über das Wesen der Gesellschaft. Von dem reichen Gedankengehalte des Buches kann diese Skizze seines Planes keine Vorstellung mitteilen. Ohne dem Verdienste vieler einzelner Ausführungen Abbruch tun zu wollen, muß ich mir genügen lassen, zu dem gesamten Geiste des Werkes eine kritische Stellung einzunehmen. Auf die leichteste Art wird sich diese ergeben, wenn ich an die Erwähnung anknüpfe, die der Verf. meiner Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft" im Kap. X V I über die „Formen der Verbindung" gewidmet hat. Er behandelt hier verschiedene „Klassifikationen" dieser Formen und flicht jene Erwähnung in den Abschnitt über Giddings'

Klassifikation

hinein. Diese sei auf ein Prinzip gegründet, das „oft" in soziologischen Schriften gebraucht worden sei, nämlich daß es zwei große Typen der Verbindung gebe, 1. natürliche genetische Gruppen, deren Mitglieder mehr oder weniger durch Bande physischer Vererbung und die natürliche Umgebung verknüpft seien; 2. künstliche, absichtliche (purposive) Gruppen, deren Mitglieder auf der Basis eines mehr oder minder bestimmten, jedenfalls bewußten Vorsatzes, verbunden und deren Verbindung mehr oder weniger bestimmt determiniert sei durch diesen bewußten Vorsatz. Bemerkt werde dazu noch, daß Giddings

sowohl als die anderen hier

genannten Soziologen erheblich später als der Referent aufgetreten sind. In „etwas ähnlichem Geiste" wie ich wolle Prof. Baldwin „wahre Gesellschaften" auf die zweite Art der Assoziationsformen einschränken. „Obschon wir die Implikation von Tönnies und Baldwin nicht anerkennen können, daß natürliche genetische Gruppen nicht wahre Gesellschaften seien, so ist es doch offenbar, daß solche Gruppen in ihrer Organisation von den künstlichen funktionellen Gruppen sich unterscheiden, deren Bestimmung ist, wohl-definierten Zwecken im sozialen Leben zu dienen. Es mag daher zweckmäßig sein, eine Klassifikation der Formen der Verbindung auf diese Unterscheidung zu gründen. Während die Unterscheidung fehlerhaft ist, wenn sie zur Grundlage gemacht wird, die Betrachtung natürlicher sozialer Gruppen von der Soziologie auszuschließen, so ist es andererseits eine sehr nützliche Unterscheidung für die Klassifikation der Formen der Verbindung" (S. 349).

11 Giddings' Klassifikation: Der Zusammenhang, auf den sich Ellwood bzw. Tönnies bezogen, findet sich in den „Elements of Sociology" (1893). 22 Baldwin: Bei Baldwins Arbeit, auf die sich Ellwood bezog, handelt es sich um „Social and Ethical Interpretations of Mental Development" (1897).

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Rezensionen

Einem so starken Mißverständnis der Ideen meines 1887 zuerst erschienenen Buches bin ich noch kaum begegnet. Nichts konnte mir ferner liegen, als die „natürlichen Gruppen" von der Soziologie ausschließen zu wollen. Auf Klassifikation war mein Absehen überall nicht gerichtet, wenn auch solche sich an jene Begriffe anknüpfen läßt. Ich wollte und will behaupten, daß die Mannigfaltigkeit sozialer Erscheinungen, besonders der sozialen Verhältnisse und Verbindungen, die für mich den eigentlichen Gegenstand der theoretischen Soziologie ausmachen, auf die zwei Typen bezogen werden muß, deren Wesen fast in allen enthalten ist, wenn auch die meisten sich deutlich nach dem Gepräge des einen oder des andern unterscheiden. Die Typen selber sind synthetische Begriffe, deren Konstruktion also eine freie Leistung des Denkens ist; es sind erkenntnistheoretische Geräte, deren Gebrauch sich nicht von selbst versteht, sondern Behutsamkeit und kritisches Denken in Anspruch nimmt. Niemand wird die Analyse des Wassers so verstehen, als ob das Wasser „eingeteilt" würde in Wasserstoff und Sauerstoff; in der Soziologie haben wir es aber nicht einmal mit wägbaren Elementen zu tun. Erst in seinem Schlußkapitel kommt Ellwood auf das „Wesen der Gesellschaft" und erörtert die drei großen historischen Theorien dieses Gegenstandes, als welche er unterscheidet 1. die Kontrakt-, 2. die organische und 3. die psychologische Theorie — wenn er die Güte gehabt hätte, in diesem Zusammenhange meines Werkes zu gedenken, so wäre er mir vielleicht besser gerecht geworden. Wenn es nicht über die Grenzen einer Besprechung hinausginge, so möchte ich im Anschluß an diese Ausführungen — in denen er natürlich seine psychologische Theorie als den beiden anderen Ansichten überlegen hinstellt — meine eigene Auffassung darlegen. Verf. definiert (s. o.) „Gesellschaft" als eine Gruppe von Individuen, die ein kollektives Leben vermittelst geistiger Wechselwirkungen (mental interactions) führt. Ich finde darin eine Umschreibung der allgemeinsten Tatsachen menschlicher Kultur, die unsere Erkenntnis zu fördern wenig geeignet ist. Das soziologische Begreifen fängt erst da an, wo in das Innere der sozialen Wesenheiten hineingesehen wird; das Problem ist: als was stellen sich Verhältnisse und Verbindungen in den Seelen derer dar, die sie eingehen und für sich bilden, in derem Wollen sie beruhen? Daß sie überhaupt ihr eigentliches Wesen in Vorstellung und Willen ihrer eigenen Subjekte haben, daß davon ihr Dasein für andere, also auch ihr Dasein für den Theoretiker, unterschieden werden muß — das ist der springende Punkt, den ich in diesem wie in so vielen anderen

Charles A. Ellwood,

Sociology in its psychological aspects

621

Büchern vergebens suche. Verf. hat recht, wenn er das 161. Kapitel in dem Satze resümiert: „die Formen der Verbindung sind Ausdrücke des geistigen Verhaltens (of the mental attitude) der Individuen in einer Gruppe gegeneinander" (S. 351). Aber weil er dies geistige Verhalten nicht erforscht hat, inwiefern es den „Gruppen" selber oder der „Gesellschaft" zugrunde liegt, ihr Dasein konstituierend, darum bleibt sein ganzes Buch aus Betrachtungen über Sozialpsychologie zusammengesetzt, ohne in die Soziologie hineinzudringen. Darum ist auch die „Kontrakttheorie" unzulänglich verstanden, als ob sie nur eine Ansicht, ein Einfall wäre; in Wahrheit handelt es sich um den sehr ernsten Versuch, die Autorität eines gemeinsamen Willens förmlich zu begründen, die in allen Verhältnissen und Verbindungen enthalten ist: wenn man diese Aufgabe nicht würdigt, so bleibt man an den Oberflächen der „Gruppen" oder „Gesellschaften" haften. Es ist das wertvolle Element in Dürkheims Lehren, daß er zu dieser Einsicht vorgedrungen ist, indem er das Charakteristische der sozialen Tatsache darin erblickt, daß sie „etwas Äußeres in bezug auf die individuellen Bewußtseine" sei und daß sie eine „zwingende" Aktion auf eben diese Bewußtseine ausübe oder auszuüben vermöge; wenn er daher als fundamentale Regel aufstellt, die sozialen Tatsachen als „Dinge" zu behandeln, um die Soziologie objektiv zu gestalten. Herr Ellwood nähert sich an manchen Stellen seiner redlich durchdachten Schrift der richtigen Auffassung; so, wo er über die soziale Koordination und Kooperation, über kritische und konstruktive Perioden in der Geschichte, über den Rhythmus von Individualisierung und Sozialisierung einsichtig redet (Kap. VIII); noch mehr vielleicht in der Fortsetzung dieses Kapitels, die der „sozialen Selbstbeherrschung" gewidmet ist; bezeichnend für die Mängel der Anlage bleibt aber, daß hier der Gegenstand „Gruppenwille und Gruppenindividualität" auf 1 lA Seiten abgehandelt wird.

1 161. Kapitel: Richtig: 16. Kapitel.

Franz Klein, Das Organisationswesen

der

Gegenwart

i Klein: Zuerst in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1914, Bd. 38, S. 878 — 882. Erneut in: Soziologische Studien und Kritiken, III. Sammlung, Jena (Fischer) 1929, S. 3 5 3 - 3 5 8 ; siehe TG 19.

Henri F. Secretan, La population et les mceurs Lausanne et Paris 1913. Librairie Payot et Cie. Die Einsicht, aus der ein Buch hervorgeht, verrät sich in der Regel unmittelbar durch die Wahl des Themas und die Stellung oder wenigstens die Formulierung des Problems. Darum nimmt das vorliegende Werk schon durch den ersten Absatz der Vorrede für sich ein: „Die wachsende oder abnehmende Dichtigkeit der Bevölkerungen ist ein — vielleicht allzu sehr vernachlässigtes — Element der großen historischen Krisen." Es ist allerdings an dem, daß ein wissenschaftliches Verständnis der Geschichte durch unsere Unkenntnis über die Bewegung der Bevölkerung in hohem Grade gehemmt wird. Mehr als zwei Dritteile des Buches handeln von der Entvölkerung des römischen Reiches, von der Wirkung die Gesetzgebung, Sklaverei und Freilassungen, vor allem auch die christliche Religion darauf gehabt habe, und von den sozialen Umwandlungen, die der Fall des westlichen Reiches nach sich gezogen hat. Wer sich für diese Dinge interessiert, wird wohl daran tun, sich von dem gelehrten und scharfsinnigen Autor darüber belehren zu lassen. Mit einer Ausführlichkeit, die mir etwas zu weit getrieben scheint, wird die Widerlegung des berühmten französischen Historikers Fustel de Coulanges ins Werk gesetzt. Dieser hat gegen die bis dahin allgemein angenommene Meinung von der Entvölkerung des römischen Reiches in seinen letzten Jahrhunderten Stellung genommen. Er gibt zwar die Verminderung der freien Bevölkerung zu, meint aber, daß übrigens nicht das römische Reich, sondern Germanien zur Zeit der Invasion entvölkert gewesen sei. Er beruft sich teils auf die innere Unwahrscheinlichkeit, teils auf den Mangel an genügenden Zeugnissen für die gewöhnliche Meinung, und sucht dagegen zu beweisen, daß gegen Ende des 2. Jahrhunderts p. C. Germanien „beinahe leer gewesen" sei. Mir war die These Fustels von vornherein etwas verdächtig in bezug auf ihre Motive. Es war daher erfreulich, zu gewahren, daß Verf. selber zu dem Schlüsse kommt l Secretan: Zuerst in: Weltwirtschaftliches Archiv, 1915, Bd. 5, S. 415—417, Jena (Fischer). Im Original fälschlich „mocurs". 8 großen historischen Krisen: Vgl. Secretan, 1913. 28 beinahe leer gewesen: Vgl. Fustel de Coulanges, 5 1924: 300.

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Rezensionen

(S. 110): „Fustel de Coulanges erörtert die Frage der germanischen Invasion mit einer kaum zurückgehaltenen Leidenschaft, wodurch die Seelenruhe des Historikers getrübt wird" ... „Die Idee, daß das germanische Blut in die gallische Rasse eingedrungen sei und daß die germanischen Institutionen dazu beigetragen haben, die soziale Organisation Galliens umzugestalten, ist ihm sichtlich antipathisch" ... „Er hat eine Art von Eigenliebe, ja von Leidenschaft darein gesetzt, die beiden Thesen zu verteidigen: 1. daß im 5. Jahrhundert die Volksmenge des Reiches noch auf der Höhe, vielleicht sogar im Wachsen, 2. daß Germanien zu dieser Zeit eine Wüste, durchschweift von hungernden Horden gewesen sei." Man finde in Fustels Briefen nur Texte, die diesen Thesen mehr oder weniger günstig seien. — Verf. sagt nicht mit Worten, daß andere Texte unterdrückt worden sind, es folgt aber unweigerlich aus dem ganzen seiner Beweisführung. Diese geht dahin, daß die Entvölkerung das Ergebnis aus mehreren Ursachen, einer der offenbaren Faktoren des Niederganges von Rom gewesen sei 1 . Sie allein erkläre (S. 94) die unaufhörliche Einwanderung von Germanen als Soldaten und Kolonisten, die allmähliche Verarmung des Reiches und die große Anstrengung, die es den Barbaren kostete, sich neue Königreiche daraus zurechtzuschneiden. Mit ihr sei die Abwanderung aus den Städten und Rückkehr zur agrikolen Lebensweise Hand in Hand gegangen 2 . Die 1

Aus der deutschen gelehrten Literatur über den Gegenstand wird nur Seeck einmal zitiert (S. 139 f.) weil er in entgegengesetztem Sinne wie Fustel über die Entvölkerung Galliens in den letzten Jahrhunderten des Reiches sich ausgesprochen habe. Beloch wird nicht genannt. Man findet freilich bei ihm (Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt 1886) und Klio (Bd. III, 1903) das von unserem schweizerischen Autor zugrunde gelegte Material (besonders Ammianus Marcellinus, Salvianus, Polybios) noch kaum verwertet. Ob es sonst von deutschen Gelehrten geschehen, ist mir nicht bekannt; es scheint nicht so zu sein.

2

Beloch erinnert (a. a. O. Klio, III, S. 471) an Hume's berühmten Aufsatz „on the populousness of ancient cities" von 1753, ohne aber auf die Literatur einzugehen, die ihm vorausging und die durch ihn hervorgerufen wurde (Montesquieu, Wallace u. a.).

29 Beloch: Vgl. Beloch, 1903: 4 7 1 - 4 9 0 . 29 Hume's berühmten Aufsatz: „Essay on the Populousness of Ancient Nations", in: Essays moral, political and literary by David Hume. Edited, with preliminary dissertations and notes by T. H. Green and T. H. Grose, London 1875, S. 381—443. Der Essay erschien nicht, wie Tönnies angibt, 1753, sondern bereits ein Jahr früher. 3i Wallace: Die frz. Übersetzung dieses Werkes veranlasste Montesquieu — wahrscheinlich deswegen, weil er sich für bevölkerungspolitische Fragen interessiert hatte, wie seine beiden Werke „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence" [Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer] (1734) sowie „De l'esprit des lois" [Über den Geist der Gesetze] (1748) zeigen. Wallaces Entgeg-

Henri F. Secrétan, La population et les mœurs

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Merkmale der abnehmenden Dichtigkeit der Bevölkerung nebst der langsamen Wiederzunahme im Mittelalter, unter besonderer Bezugnahme auf Gallien, in dessen Gebiet die römische Zivilisation eine lebhafte Nachblüte erfahren hatte, ist eingehend im 3. Kapitel erörtert. Hier kommt Verf. zu dem Schlüsse (S. 301), das feudale Mittelalter, mit seinem Brigantentum, seinen rohen Sitten, seinen unzureichenden Verkehrsmitteln, der Sklaverei, dem rudimentären Handel, dem vorwiegenden Ackerbau nebst Hausgewerben, seiner Mannigfaltigkeit von Dialekten, seiner Polyarchie, der Zerfallenheit des Lebens und der politischen Zersetzung, die es charakterisieren, erkläre sich wesentlich durch eine langwierige Menschenarmut. Das ist denn freilich eine oberflächlich gefaßte Verallgemeinerung, wie denn auch sonst die Geschichtsphilosophie des Autors sich kaum über landläufigen Liberalismus erhebt. Was aber dem Wert seiner Gedankengänge im übrigen keinen Eintrag tut. Im 4. Kapitel wird die gegenwärtige Bewegung der Bevölkerung dargestellt. Es werden „einige der Ursachen" geprüft (S. 310f.), welche die Geburtlichkeit in einem zivilisierten Lande, dessen gesamter Boden angeeignet und angebaut ist, beschränken; dabei wird Frankreich vorzugsweise zum Beispiel genommen, demnächst auch Deutschland, Italien und die Schweiz. Verf. gelangt zu dem Schlüsse, das Wachstum des Instinkts der individuellen Selbsterhaltung scheine, in unserem gegenwärtigen sozialen Zustand, als schließliche Wirkung die Verminderung der Geburten zu haben. Er drückt dies mehrmals auch dahin aus, das Gefühl der individuellen Sicherheit in der Zivilisation sei eine Hemmung, weil umgekehrt das Gefühl der Unsicherheit in rohen Zuständen eine Förderung der Propagation. Manche anderen Gesichtspunkte fügen sich daran, die mehr oder weniger ausgesprochen die Gründe wiederholen, die schon im 18. Jahrhundert regelmäßig für den zu langsamen Fortschritt der Bevölkerung angeführt wurden. Eine mehr induktive Betrachtung über die Geburten im Kanton Wallis und in der Stadt Lausanne beschließt das Kapitel. Sie macht darauf aufmerksam, daß der konfessionelle Faktor in der Schweiz keineswegs die ihm von Julius Wolf zugeschriebene Bedeutung hat. Eingehender hat dies der Züricher Statistiker Brüschweiler erwiesen. In Wahrheit ist es eine der hastigen Verallgemeine-

nung auf Hume erschien 1753 mit dem Titel „A Dissertation on the Numbers of Mankind in Ancient and Modem Times, with an Appendix containing Observations on the same Subject, and Remarks on Mr. Hume's Discourse on the Populessness of Ancient Nations." 32 Bedeutung hat: Vgl. Wolf, 1912: 2 3 0 - 2 3 4 . 33 Brüschweiler: Vgl. z. B. Brüschweiler, 1913; Thomann/Brüschweiler, 1909.

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Rezensionen

rungen, von denen es in der Sozial Wissenschaft wimmelt. — Das 5. und letzte Kapitel des Buches handelt über Recht und Gewalt. These: das Recht existiert nicht, außer sofern es der Ausdruck einer Gewalt ist (force). Nicht eben neu, aber geistreich durchgeführt. Sehr solide ist die Gedankenbildung freilich nicht. Psychologisch und soziologisch nicht tief 5 genug begründet, was denn freilich auf 55 Seiten kaum möglich war. Das Kapitel paßt aber auch nicht recht ins Buch hinein, dessen Zusammenhänge auch sonst zuweilen lose sind, so daß es im ganzen nach den verheißenden Anfängen ein wenig enttäuscht. Immerhin eine beachtenswerte wohldurchdachte Studie. 10

Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung Eine sozialphilosophische

Untersuchung,

3. verb. Auflage, Leipzig

1914

i Stammler: Zuerst in: Weltwirtschaftliches Archiv (Harms, B. [Hg.]), 1915, 1. Bd. 5, S. 4 9 3 - 5 0 2 , Jena (Fischer). Erneut abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken, III. Sammlung. Jena (Fischer) 1929, S. 4 3 8 - 4 4 8 ; siehe TG 19.

Geza von Hoffmann, Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika München 1913, J. F. Lehmanns Verlag. Mit einer Figur im Text. XII u. 237 S. Geb. 4 Mk., geb. 5 Mk.

Friedrich Ludwig Gerngroß, Sterilisation und Kastration als Hilfsmittel im Kampfe gegen das Verbrechen München

1913, ]. F. Lehmanns

Verlag. 42 S. 1,20 Mk.

Der erste Autor will vorzugsweise durch den Teil seines Buches, der die Durchführung und die Erfolge der in Amerika schon eingeführten rassenhygienischen Maßnahmen behandelt, Neues bieten. Die „Grundlehren der Rassenhygiene", die im ersten Abschnitt dargestellt werden, sind „nur für den eugenisch nicht geschulten Leser gedacht". Sie unterscheiden sich aber auch dadurch von früheren Behandlungen des Gegenstandes, daß sie auf die von Mendel ausgehende experimentelle Vererbungslehre gegründet sind. Verfasser erkennt die oft hervorgehobene Tatsache an, daß die wissenschaftliche Erforschung der Vererbungsgesetze mit der Wiederentdeckung der früher unbeachtet gebliebenen Untersuchungen des österreichischen Mönches zu Beginn dieses Jahrhunderts erst in Angriff genommen sei (S. 10 u. 11). Er zieht aber nicht ausdrücklich die (unumgehbare) Folgerung, daß eben deshalb alle früheren Spekulationen über Vererbung und darauf aufgebaute Theoreme veraltet und wertlos geworden sind. — Die Frage der Notwendigkeit der Rassenhygiene wird aufgeworfen (S. 11 u. 12). Das bekannte Argument: der Charakter unserer Kultur hebe die Grundbedingung der Entwicklung, die natürliche Auslese beim Menschen auf. „Zahlenmäßige Nachforschungen haben ergeben, und die alltägliche Beobachtung bestätigt es, daß sich *die untersten Schichten der Bevölkerung, darunter die Verbrecher —, die Minderwertigen aller Art*, viel rascher vermehren als die tüchtigen Bestandteile der Bevölkerung" (S. 11). Eines der beliebten i Hoffmann: Beide Rezensionen zuerst in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1915, 39. Jg., S. 9 9 4 - 1 0 0 1 , München (Duncker & Humblot).

Géza von Hoffmann

und Friedrich Ludwig

Gerngroß

629

angeblichen „Ergebnisse der Statistik". In Wirklichkeit ist zwar die ehrenwerte, das Reservoir der Volkskraft (auch der geistlichen und sittlichen) darstellende Unterschicht fruchtbarer als die — stärker mit degenerativen Elementen durchsetzte — obere Klasse der Gesellschaft. Die unterste Schicht aber, die auch den Abhub dieser oberen in sich enthält, ist wesentlich unfruchtbar. Schon wegen ihrer großenteils vagierenden, meist ehelosen oder ehegetrennten Lebensweise. Der Herr Verfasser weiß es von den Dirnen (S. 81); er kennt auch das Argument des Amerikaners Searcy, daß Eheverbote zwar wünschenswert sind, aber nur die stark entarteten Familien treffen, die sowieso aussterben (S. 80 u. 180). Von der natürlichen Auslese, als Grundbedingung der Entwicklung, die angeblich durch die Kultur aufgehoben wird, liegt schon eine unkritische Auffassung zugrunde, wenn nicht zwischen den (unzweifelhaften) konservativen Wirkungen solcher Auslese und ihrer (problematischen) umbildenden, artenbildenden Wirkungen unterschieden wird. Es ist hier nicht der Ort, dies eingehender zu erörtern. Im zweiten Kapitel wird die rasche Verbreitung rassenhygienischer Ideen in den Vereinigten Staaten geschildert: die Öffentlichkeit wird durch Vorträge und Vereine in diesem Sinne erzogen, es gibt einen nationalen Ausschuß, ja ein staatliches Amt für diese Studien; ebenso (in Chicago) eine Versuchsanstalt für geistig Leidende, die Schaffung einer Bundes-Versuchsstelle ist angeregt worden. Ebenso wirken private Veranstaltungen: Rockefeiler jun. hat eine solche begründet, es gibt die VoltaAnstalt für Taubstumme und das Eugenics Record Office, das 1910 in Cold Spring Harbor, Long Island, New York, gegründet wurde und vorzugsweise mit der Sammlung familiengeschichtlicher Tatsachen sich beschäftigt. Das dritte Kapitel erörtert die Regelung der Ehe im rassenhygienischen Sinne und betrachtet zwei verschiedene Einwände, die dagegen, und zwar namentlich gegen Eheverbote erhoben werden. Im Anschluß daran wird der Stand der Gesetzgebung und deren Erfolg, wird die Forderung von Gesundheitszeugnissen und das Verbot der Rassenmischung besprochen. Im vierten Kapitel sodann wird das Unfruchtbarmachen „Minderwertiger", insbesondere die neueren Methoden operativer Eingriffe dargestellt und empfohlen, die Einwände wiederum durchgenommen, die sich dagegen geltend gemacht haben; und wiederum der Stand der Gesetzgebung, sowie der öffentlichen Meinung in den Verei24 Volta-Anstalt:

„The Volta Bureau for the Increase and Diffusion of Knowledge Relating

to D e a f " w u r d e von Alexander G. Bell, dem Erfinder des Telefons, gegründet.

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Rezensionen

nigten Staaten beschrieben. Ein fünftes Kapitel über „Auslese der Einwanderer" beschließt den eigentlichen Text des Buches, dem sich aber noch umfangreiche Anhänge anschließen, worin die einschlägigen rassenhygienischen Gesetze im Wortlaut mitgeteilt werden (Anhang I — III), endlich eine sehr eingehende Bibliographie des Gegenstandes, die vorzugsweise, aber nicht ausschließlich, amerikanische Schriften und Abhandlungen anführt, von denen die meisten in Europa schwer zugänglich sein dürften. Die Publikationen sind sorgfältig eingeteilt und zum Teil kurz charakterisiert. Was ist nun das Ergebnis in bezug auf Durchführung und Erfolge der Eheverbote und Sterilisationen? A. Eheverbote. Die Gesetze werden nicht eingehalten; sie sind unwirksam; sie sind tote Buchstaben; die Öffentlichkeit billigt diese Gesetze nicht; die Wertlosigkeit derartiger Verbote wurde offenbar; sie nützen sehr wenig, werden einfach umgangen usw. So lauten die mannigfachen, vom Verfasser gesammelten Zeugnisse, denen gegenüber „lobende Äußerungen sich darauf beschränken, ihren erzieherischen Wert und ihre allgemein abschreckende Wirkung hervorzuheben". Als Beweis dafür gilt, daß keine Fälle vorkommen, also keine Gelegenheit für die Anwendung sei. (Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß es sich um Possen handelt.) B. Sterilisierungsgesetze — in größerem Umfange bisher erst in den Staaten Indiana und Kalifornien durchgeführt. Im letztgenannten Staate ist die Sache öfters gemacht worden, meist mit Einwilligung der Patienten oder ihrer Verwandten; insbesondere geschahen in den staatlichen Irrenanstalten und Schwachsinnigenheimen seit November 1910 268 Unfruchtbarmachungen, dazu eine im staatlichen Gefängnisse zu Falsom. „Im allgemeinen übt die Operation auf jeden eine mehr oder weniger günstige Wirkung aus" usw. In Connecticut sind die Vorstände der beiden Irrenanstalten und des staatlichen Gefängnisses angeblich Gegner der Maßnahme und berichteten, daß die Ausführung wegen der feindseligen Haltung der Öffentlichkeit unterblieben sei. Auch in mehreren anderen Staaten gibt es dergleichen Gesetze; sie werden aber gar nicht oder so gut wie gar nicht angewandt. Wie sich erwarten ließ. Wenn auch in der Darstellung Hoffmanns die besondere Frage, wie der Reproduktion und Vermehrung minderwertiger und schlechter Volksteile vorzubeugen sei, von dem allgemeinen Problem der Rassen21 Kalifornien: Vgl. Hoffmann, 1913: 85; Gesetz von 1909. 27 weniger günstige 'Wirkung aus: Vgl. H o f f m a n n , 1913: 102.

Céza von Hoffmann

und Friedrich

Ludwig

Veredlung sich abhebt, so behandelt Dr. Gerngroß,

Gerngroß

631

offenbar ein Jurist,

von jener besonderen Frage ein besonderes Stück, nämlich das kriminalpolitische 1 . Auch hier werden in Kürze A. frühere Versuche, als Aussetzung und Eheverbote, B. die amerikanischen Gesetze nebst den Gründen, die für und wider sich geltend machen, es werden die Methoden der

1

Bei diesem Autor (S. 6/7, vgl. S. 10) „lehrt die Statistik uns" ausdrücklich, daß sich die geistig und körperlich Minderwertigen in weitaus stärkerem Maße fortpflanzen als die Normalen. „So berichtet C. Sharp (wo wird nicht gesagt; nach Hoffmann ist Sharp ein Hauptvertreter der Sterilisierung, ehemaliger Arzt der Reformatory in Jeffersonville, Indiana; die Titel seiner Schriften sind bei Hoffmann zu finden), daß die Klasse der geistig Minderwertigen, zu welchen er geborene Verbrecher, Schwachsinnnige, Geisteskranke und Epileptiker rechnet, sich in den letzten 30 Jahren mehr wie doppelt so schnell vermehrt hat als die gesamte Bevölkerung". Wahrscheinlich nach den Ergebnissen des amerikanischen Zensus. Nehmen wir einmal an, diese seien zuverlässig und glaubwürdig, obwohl bekanntlich solche Zählungen mit starken Fehlerquellen behaftet sind. Es liegt dann natürlich die Tatsache vor, daß in den Vereinigten Staaten, wie überall, wo das moderne und großstädtische Leben sich entwickelt hat, diese Entwicklung in starker Häufung der Nervenfälle niederschlägt. Aus dieser Tatsache wird gemacht, daß die Minderwertigen sich stärker fortpflanzen! „Die Lehren der Statistik" einmal wieder. Als Lehrer der Statistik halte ich für meine Pflicht, die Lernenden „vor den Lehren der Statistik" oft und eindringlich zu warnen. Nach den Zusammenstellungen des Preußischen Ministeriums des Innern waren von dem Zugange 1911/12 unter 4047 männlichen Zuchthausgefangenen 1740 = 43 v. H. verheiratet und 6575 » Gefängnisgefangenen 2397 = 36 v. H. f verheiratet " " 5972 " Korrigenden 2069 = 34 v. H. J gewesen Zur Vergleichung liegt mir eben vor (aus dem Jahre 1891) die Zahl der Lehrer an den öffentlichen Volksschulen in Preußen: es waren nämlich damals unter 6 2 2 7 2 solchen (männlichen) Lehrern 42 195 = 67 v. H. verheiratet und verheiratet gewesen.

8 Sharp: Dr. Harry C. Sharp, Chirurg am Jeffersonville State Reformatory (Indiana), begann 1899 mit der Vasotomie (operative Durchtrennung des Samenleiters) an 176 Männern, die diese Operation wünschten (bis zur Inkraftsetzung des ,Sterilization Act' von 1907 in Indiana). Die Titel seiner Schriften sind: „Rendering Sterile of Confirmed Criminals and Mental Defectives" (1907); „The Sterilization of Degenerates" (1908), „Vasectomy, a Means of Preventing Defective Procreation" (o. J.). Vgl. Hoffmann, 1913: 71, 75. 22 Zusammenstellungen des Preußischen Ministeriums: Siehe die entsprechenden Zahlen im Statistischen Jahrbuch für den preußischen Staat 1914 (1915: 5 1 3 - 5 1 8 ) . 27 Zahl der Lehrer: Vgl. die Zahlen in: Preußische Statistik, 1893, Bd. 120; S. 151, und ebd., S. 112: „A. Die öffentlichen Volksschulen in den einzelnen Provinzen und Regierungsbezirken des preußischen Staates, mit Unterscheidung der Schulen in den Städten und auf dem Lande, nach Erhebung vom 25. Mai 1891" (Tab. XVII).

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Rezensionen

Sterilisation, andere als rassenhygienische Gründe dafür (Kinderreichtum, krankhafter Geschlechtstrieb, medizinische Gründe) vorgeführt und die Schlußfolgerung gezogen (S. 16), es sei nur zur Verhinderung minderwertigen Nachwuchses die Unfruchtbarmachung, auf Anordnung

Ist die Z u s a m m e n s e t z u n g der Altersklassen sehr verschieden? Von den 25jährige 1 0 4 0 5 = 16 6 2 2 7 2 Lehrern waren unter 25/30jährige 14038 = 22

V. V.

H„ H.

Von den 4 0 4 7 Zuchthausgefangenen waren unter

25jährige 25/30jährige 25jährige 25/30jährige 25jährige

689 857 2362 1450 559

= = = = =

17 21

V. V.

H„ H.

36 V . H . , 22 V . H . 6 V. H „ waren unter 5 972 Korrigenden . . . . 25/30jährige 425 = 7 V . H. N u r bei den Gefängnisinsassen — zumeist Untersuchungsgefangenen, da hier die dem Justizministerium unterstehenden Strafgefängnisse nicht in Betracht k o m m e n — erklärt sich die größere Menge der Ledigen durch stärkere Vertretung der jüngeren Altersklassen. Aber auf die 51 867 über 25jährigen Lehrer k a m e n 41 604 veheiratete usw. = 80 v. H . ; wenn nun auch a n g e n o m m e n wird, d a ß die unter 25jährigen Gefängnisinsassen alle ledig waren (was nicht wahrscheinlich ist, da verfrühte Ehen gerade in der tiefsten Schicht relativ häufig vorkommen), so wären doch unter 4213 über 25jährigen nur 2397 = 57 v. H . — (Die Altersschichtung der Zuchthausinsassen ist in dieser Beziehung der der Lehrer gleich; die der Korrigenden ist aber weit höher, also präsumtiv weit ungünstiger für die Ehelosigkeit.) N u n die Häufigkeit der Kinder. 6 5 7 5 Gefängnisgefangenen

Die 42 195 verheirateten

waren unter

hatten „lebende Kinder" 123 048 oder 291 : 100, hatten „eheliche Kinder" Die 1 7 4 0 verheirateten Zuchthausgefangenen 3 742 oder 215 : 100. u. verheiratet gewesenen hatten „eheliche Kinder" Die 2 397 verheirateten Gefängnisgefangenen 3 909 oder 163 : 100. u. verheiratet gewesenen hatten „eheliche Kinder" Die 2 0 6 9 verheirateten Korrigenden 2 4 4 5 oder 118 : 100. u. verheiratet gewesenen Der verhältnismäßig geringe Abstand der Zuchthausinsassen erklärt sich daraus, daß gerade neuerdings, da die Verurteilungen in Zuchthausstrafen f o r t w ä h r e n d abnehmen, unter den so Verurteilten die aus normalen bürgerlichen Verhältnissen stammenden M ä n n e r verhältnismäßig stärker vertreten sind: als Meineidige, Brandstifter, Totschläger, senil demente Sittenverbrecher usw. — D a ß — wie bei den Lehrern — nur die u. verheiratet gewesenen

Lehrer

lebenden ehelichen Kinder gezählt sind, habe ich a n g e n o m m e n . Es werden noch bei den Zuchthäuslern 204, bei den Gefängnisinsassen 104, bei den Korrigenden 14 „uneheliche Kinder" der M ä n n e r genannt: dies hat keine Bedeutung, es werden meistens uneheliche Kinder ihrer Frauen sein. D a ß die Vagabunden und G a u n e r viele außereheliche Kinder erzeugen, ist schon d a r u m unwahrscheinlich, weil sie fast ausschließlich mit prostituierten Weibern sich paaren. Übrigens ist natürlich die Kindersterblichkeit in dieser Hefe des Volkes enorm.

Géza

von Hoffmann

und Friedrich

Ludwig

Gerngroß

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der Staatsgewalt hin, berechtigt. Dies führt (sub 9, S. 17—19) auf das „gesetzliche Strafmittel". Hier wird gelehrt (an der Hand Birkmayers), zwischen Strafe und sichernder Maßnahme müsse streng unterschieden werden: Aufgabe der Strafe sei Repression, Aufgabe der sichernden M a ß n a h m e Prävention. Diese müsse tunlichst vermeiden, was die Strafe anstrebe: für den Betroffenen ein Übel zu sein. „Demnach ist es von erheblicher Bedeutung zu entscheiden, ob die Sterilisation (auch Kastration) von Verbrechern auch als Strafe dienen und ebenso wie die Freiheitsentziehung zwei von einander verschiedene Funktionen, die der Vergeltung und die der Sicherung, erfüllen kann." Weil nun eine solche Operation in ihrer Wirkung auf den Delinquenten unberechenbar und unübersehbar in ihren Folgen sei, so sei sie schon aus diesen Gründen als Strafe ungeeignet; es verstoße aber auch gegen unsere ethischen Anschauungen, die Umstände, die den Eingriff als ungeeignet erscheinen lassen (nämlich die wahrscheinlichen oder gewissen nachteiligen Folgen) zur Begründung seiner Vornahme (da ja die Strafe ein Übel sein soll) dienen zu lassen. Hingegen bei einer sichernden Maßnahme, die auf dem Rechtsgrunde beruhe, daß die Gesellschaft sich selbst erhalten will, sei die Absicht durchaus nicht auf ein Übel für das Individuum gerichtet, wenn auch ein solches in der Regel zur Erreichung des Zweckes unvermeidlich sein werde. In Anknüpfung hieran wird unter C (S. 19 — 33) die Unfruchtbarmachung de lege lata, unter D (S. 34—39) dieselbe de lege ferenda behandelt. Der erste der beiden Abschnitte erörtert vorzugsweise die Einwilligung des Verletzten, und zwar (sub 10) die Versuche, deren Bedeutung aus den tatsächlichen Bestimmungen des R S t G B . zu entwikkeln, sodann (sub 11) den Wirkungsgrad der Einwilligung, endlich (sub 12) die Erfordernisse der Einwilligung. Die scharfsinnige Auseinandersetzung kommt zu dem Schlüsse, die Frage, unter welchen Umständen eine Person fähig sei, wirksam in eine Körperverletzung einzuwilligen, lasse sich nicht gesetzlich regeln, ihre Lösung werde vielmehr jeweils Sache des richterlichen Ermessens sein. Was aber zweitens die Vornahme zu Heilzwecken (sub 13) betrifft, so werden die erforderlichen Voraussetzungen — Krankheit, Wahrscheinlichkeit der Heilung durch die Operation, nicht entgegenstehender Wille des Patienten — selten alle gegeben sein. Hieraus folgt also (im Abschnitt D sub. 14) die Notwendigkeit der 2 Birkmayers:

Vgl. Birkmayer, 1910.

23 de lege ferenda-,

(lat.) vom zukünftigen Rechtsstandpunkte aus; der vorherige lateinische

Terminus lautet übersetzt: vom geltenden Rechtsstandpunkte aus.

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Erlassung besonderer Gesetze. Des Verfassers Vorschlag (sub 15) für eine gesetzliche Einführung der Regelung will das Anordnen der Sterilisation den Zivilkammern der Landgerichte übertragen, welche die Entscheidung nach vorgängiger kontradiktorischer Verhandlung fällen sollen. Die juristische Analogie biete das Verfahren der Entmündigung dar. Z u m Schlüsse wird noch die Frage berührt, ob Verschweigen des Umstandes bei nachher eingegangener Ehe diese Ehe anfechtbar mache. Dies wird gemäß RGE. vom 11. April 1906 verneint. — Anerkennenswert ist es, daß der Verfasser die Sache mit gehörigen rechtlichen Kautelen umgeben will. Daß sie auch so doch schweren Bedenken unterliegt, verhehlt er sich offenbar nicht. Noch weniger dürfte er sich darüber täuschen, daß die gesetzliche Einführung solcher Maßregeln ungemein starken Widerständen begegnen wird. O b die erzielbaren Wirkungen die Überwindung dieser Widerstände lohnen werden? Aus dem Hoffmannschen Buche ist zu ersehen, daß auch in Amerika besonnene Mediziner und andere Kritiker die bisherige Kenntnis der Vererbungsgesetze für unzureichend halten, um so gewaltsame Eingriffe in das Recht des Menschen über seinen Leib und seine Person zu begründen. In der Literatur über die Mendelschen Regeln wird fortwährend darauf aufmerksam gemacht, daß deren Anwendung auf die äußerst verwickelte Erblichkeit von Merkmalen (zumal solchen psychischer Art), bei den höheren Organismen, insbesondere also beim Menschen, unendlich schwierig ist. Daß eben diese Regeln, so leicht sich auch der erste Autor damit abfindet, für die gewisse Voraussage minderwertiger Nachkommenschaft minderwertiger Personen günstig sind, wird man nicht zugeben können. Wenn jener richtig sagt (S. 9): „Die verborgene Eigenschaft kann Geschlechtsfolgen hindurch verborgen bleiben, bis sich bei einer vom rassenhygienischen Standpunkte unglücklichen Ehe zwei Keimzellen mit solchen verborgenen Anlagen treffen und beim erzeugten Sprößling dann die Eigenschaft zum Durchbruch kommt," so gilt das natürlich auch von verborgenen guten Eigenschaften, bei einer von demselben Standpunkte betrachtet glücklichen Ehe. Auch liegen die edelsten Eigenschaften oft dicht neben solchen, die zu Wahnsinn, Schwachsinn, Vagabondage, Prostitution und Verbrechen führen, wobei nicht vergessen werden darf, daß je nach der sozialen Lage und den ökonomischen Verhältnissen, an die Stelle der drei genannten sozialen Erscheinungen Faulheit, Liederlichkeit und andere

s gemäß RGE. vom 11. April 1906: Vgl. Juristische Wochenschrift, 1906, Nr. 15, S. 389.

Géza von Hoffmann

und Friedrich

Ludwig

Gerngroß

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moralische Nichtswürdigkeit treten oder (genauer) die glücklichen Umstände das Individuum davor bewahren, die Schwelle zu überschreiten, die von diesen zu jenen hinüberführt. Die nahe Verwandtschaft hochwertiger mit minderwertigen Merkmalen tritt erfahrungsmäßig außerordentlich häufig in der Unbrauchbarkeit von Menschen, die von bestveranlagten (wenn auch meistens mit irgendwelchen Krankheitsanlagen behafteten) Eltern abstammen; tritt ebenso hervor in der höchst auffallenden Verschiedenheit von leiblichen Geschwistern. Goethes einzige Schwester war psychisch nicht normal, ihr Leben lang der Gemütskrankheit nahe. Paul Heyses einzige Schwester war schwachsinnig, ebenso die einzige Schwester von Lotte Hegewisch, die zwar kein Genie war, aber doch der Freundschaft H. v. Treitschkes und anderer bedeutender Männer sich erfreute. Beispiele dieser Art ließen sich leicht häufen. Von den Nachkommen großer Männer und Frauen nicht zu reden. Am ehesten möchte ich noch als vernünftig gelten lassen, diese Gewaltsamkeit ins Strafensystem aufzunehmen. Daß manche Individuen diese Strafe willkommen heißen würden, ist kein triftiger Einwand dagegen. Es trifft auch auf andere Strafarten, sogar in einzelnen Fällen auf die Todesstrafe zu. Und um eine modifizierte (nicht qualifizierte) Todesstrafe sollte es sich in der Tat handeln. Das Sorna ließe man leben, aber das Keimplasma würde getötet. Wie bei allen Strafen wäre für Staat und Gesellschaft das Strafgesetz, die Androhung der Strafe und die Wirkungen dieser Drohung viel wichtiger als die Vollziehung der Strafe im einzelnen Falle, wenn auch der rassenhygienische Wert dieser Maßregel hoch geschätzt würde. Es müßte damit gerechnet werden, daß die Aussicht und Gefahr, durch gewisse Taten oder Untaten außer anderen — für sehr viele Individuen ohne Zweifel weniger schrecklichen — Strafen auch diese Strafe auf sich herab zu beschwören, die abschreckende Kraft des Strafgesetzes verstärken wird; und das ist es, worauf es für die Kriminalpolitik, deren Aufgabe Sicherung an Leib und Leben, Eigentum und Ehre ist, allein ankommen sollte. Gewiß: viele einzelne, zumal jene, des Goethes 10 Heyse

einzige einzige

Schwester: Schwester:

Cornelia Goethe (1750—1777). Es handelt sich nicht um Paul Heyses Schwester (er besaß

keine), sondern um seinen älteren Bruder Ernst (gest. 1866), der in seiner Pubertätszeit auf das Niveau eines Dreijährigen zurücksank. 11 Hegewisch:

Gemeint ist Karoline Hegewisch, verheiratet mit dem Historiker F. C. Dahl-

mann. Charlotte (Lotte) Hegewisch, Tochter des altliberalen schleswig-holsteinischen Publizisten Franz-H. Hegewisch, führte in Kiel einen stadtbekannten Salon; sie war liberal eingestellt, befürwortete aber die preußische Annexion Schleswig-Holsteins.

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nen die Sterilisierung nicht unangenehm, ja erwünscht wäre (bei Frauen am ehesten zu erwarten), werden durch diese verstärkte Strafandrohungen so wenig wie durch die bisherigen sich abhalten lassen, ihren Neigungen und Leidenschaften zu folgen, die sie ins Verbrechen, zumal als Rückfällige, führen. Aber bei so nichtswürdigen Subjekten würde dann eben die Vollziehung ihren eigenen Zweck — der von dem der Bedrohung unabhängig ist — erfüllen. Auch die Todesstrafe hat bekanntlich den vielen Verbrechen, auf die sie ehemals gesetzt war, keineswegs wehren können; aber sie hat — wie die Rassenhygieniker sowohl als manche Strafrechtsreformer mit Grund hervorzuheben pflegen — wahrscheinlich dadurch in vielen Fällen günstig gewirkt, daß sie gewissen Individuen die Fortpflanzung, oder wenigstens die fernere Fortpflanzung, abgeschnitten hat. Und die Androhung des Sexualtodes würde, gleich der des Somatodes, immerhin eine höchst energische Warnung, ein gewaltiges Memento bedeuten, das wohl geeignet wäre, dazu beizutragen, im allgemeinen Bewußtsein die verbrecherische Laufbahn als eine Hölle erscheinen zu lassen, vor deren Nähe auch mancher Elende oder Verworfene sich hütet, solange er noch einen Funken von Ehrgefühl in seiner Seele trägt. Denn gerade auf das Ehrgefühl würde die Gefahr einer solchen Strafe bei sehr vielen Individuen beider Geschlechter stärker als die Gefahr der Freiheitsstrafe zu wirken geeignet sein. Ich weiß nicht, ob ich als Gesetzgeber mich entschließen würde, eine solche Strafe ins Gesetzbuch aufzunehmen. Aber ich würde mich eher dazu entschließen, als die Verfügung solcher Gewalttat auf Grund eines privatrechtlichen Verfahrens zu bewilligen. Vor allem spricht folgender Gesichtspunkt, wenn die Wahl gestellt ist, zugunsten des Strafrechts. Das Strafrecht kann viel leichter gerecht, d. h. ohne Ansehen der Person, verfahren. Tatsächlich fehlt es auch hier nicht an Rücksichtnahmen, und schon der Umstand, daß reiche Leute so viel leichter ohne Verbrechen ihren Lüsten fröhnen können, auch viel leichter Verbrechen zuzudecken vermögen, begründet Ungerechtigkeit. Auch der Richter wird oft in Gefahr sein, Personen, die ihm sozial nahe stehen, oder die einen Rang einnehmen, der ihm selber Ehrfurcht einflößt, zu schonen. Aber das Ideal der Gerechtigkeit ist im Strafrecht selber lebendig ausgeprägt; und zwar nicht nur im Prozeß, sondern im Inhalt des Strafrechts. Im bürgerlichen Recht bringen nur die Formen des Prozesses es zur Geltung. Inhaltlich hat einer so viel Recht als er Macht, d. h. vor allem als er Vermögen oder doch Geldmittel zur Verfügung hat. Die sogenannte freiwillige Gerichtsbarkeit, namentlich das Vormundschaftswesen, steht freilich in der

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und Friedrich Ludwig

Gerngroß

637

Mitte zwischen privatem und öffentlichem Recht, und der Entmündigung will ja der juristische Befürworter der Sterilisierung das Verfahren nachgebildet wissen. Aber niemals wird es sich dabei um die Anwendung eines unerbittlichen und allgemein gültigen Gesetzes handeln, so wenig wie bei den strafbaren Handlungen, die nur auf Antrag oder sogar nur in den Formen des Zivilprozesses verfolgt und abgeurteilt werden. Es wird immer der Willkür ein weites Tor offen stehen. Wahrscheinlichkeit steht dafür, daß vermögende oder sonst mächtige Personen, sei es durch sich selber oder durch ihre Verwandten, des nötigen Schutzes teilhaftig würden, die wirksamen Rechtsmittel anzuwenden wüßten, selbst wenn die betreffenden Behörden ebenso willens wären, gegen sie ein dergleichen Verfahren einzuleiten wie gegen die armen Teufel. Ich habe aber den Eindruck, und es hat alle psychologische Vermutung für sich, daß die Befürworter solcher Maßregeln an die Anwendung für gebildete und „anständige" Leute — obgleich doch auch solche in den Gefangenenund Irrenanstalten angetroffen werden, deren Insassen der juristische Autor (S. 38) im Auge hat — gar nicht denken oder nie gedacht haben, daß sie selber vor dem Gedanken zurückschrecken würden, das Ertragen solcher Schmach etwa auch einem hocheleganten Lebemann und den vornehmen Eltern dieses Lebemannes zuzumuten. Jedenfalls wären diese weit mehr, als wenn es sich um einen Strafprozeß handelte, Himmel und Erde dagegen aufzubieten in der Lage, was eben der arme Teufel und seine Eltern nicht wären.

Emil Sidler-Brunner, Englische Politik in neutraler Beleuchtung Bern. Verlag von A. Franke. 1915 Ein Schweizer von angesehenem Namen, der viele Jahre in England gelebt hat und mit Engländern dauernde Verbindungen unterhält, erhebt seine Stimme, um gegen die dreiste Behauptung, daß die deutsche Mentalität von einer krankhaften Entartung befallen sei, entschiedenen Widerspruch einzulegen. Es ist ihm aufgefallen, daß unter englischem Einfluß auch in anderen Ländern gerade die „Intellektuellen" eine Leidenschaftlichkeit in der Verfemung der Deutschen bekunden, die nachgerade die charakteristische Färbung des Fanatismus angenommen habe. Diese Beobachtung hat ihn veranlaßt, um „nach guter Schweizerart" zu einem ruhigen und sachlichen Urteil zu gelangen. Die „Dialektik" der sechs Oxforder Gelehrten, die das Oxford Survey of the British Empire verfaßt haben (offenbar sind es dieselben „Gelehrten", deren Flugschrift Why we are at war den Lesern der „Englischen Weltpolitik in englischer Beleuchtung" vorgestellt wurde), „mit den Taten der englischen Politik zu vergleichen und einer freimütigen Kritik zu unterwerfen". Er findet, daß England über Diplomaten verfüge, die es vorzüglich verstehen, „to work upon the feelings", auf die Gefühle und dadurch auf die Meinungen einzuwirken. Er kann sich vorstellen, mit welchen

2 Englische

Politik

in neutraler

Beleuchtung:

Z u e r s t in: Vossische Z e i t u n g v o m 13. 8.

1915, 3. Beilage, S. 1. Berlin. Vgl. a u c h den Editorischen Bericht S. 718. 14 Oxforder

Gelehrten:

D a s „ O x f o r d Survey of the British E m p i r e " u m f a ß t sechs Bände:

„The British Isles and M e d i t e r r a n e a n territory"; „Asiatic territories"; „ A f r i c a n territories"; „ A m e r i c a n territories"; „Australasian territories"; „General Survey", alle O x f o r d 1914. H e r a u s g e g e b e n w u r d e er von d e m G e o g r a p h e n A. J. H e r b e r t s o n u n d d e m Sekretär der „British Association for the A d v a n c e m e n t of Science", O . J. R. H o w a r t h . L a u t V o r w o r t stehen geschichtliche Aspekte nicht im Vordergrund. Die e n t s p r e c h e n d e n H i n weise von Sidler-Brunner bzw. Tönnies treffen d e m n a c h nicht zu. Siehe d a z u hier a u c h die Titel „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" (S. 11 — 109) sowie „Englische Weltpolitik" (S. 5 1 1 - 5 1 3 ) . 18 „ . . . Kritik 20 „to work

zu unterwerfen": upon

the feelings":

Vgl. Sidler-Brunner, 1915: 7. Vgl. Sidler-Brunner, 1915: 18.

Emil Sidler-Brunner,

Englische Politik in neutraler Beleuchtung

639

Augen die englische Kriegspartei die Verletzung der belgischen Neutralität wahrgenommen habe. „Wer sich jedoch erinnert, wie England sowohl in der Vergangenheit als auch in neuerer Zeit durch seine Handlungsweise gezeigt hat, daß ihm die machiavellische Staatsraison unentwegt zur Richtschnur dient, wird sich dadurch nicht bestechen lassen, sondern als Antwort auf den Charakter der Maßnahmen hinweisen, die England zur Vernichtung der deutschen Konkurrenz und zur Aushungerung des deutschen Volkes getroffen hat." (S. 18.) Noch verschließe die Germanophobie den Franzosen und Russen die Augen, so daß sie die eigentlichen Ziele der Engländer nicht zu erkennen imstande sind. Erst bei der großen Abrechnung werde die Ernüchterung eintreten. „Wann wird diese Abrechnung kommen? Nicht bevor sich die Einsicht durchgerungen haben wird, daß Deutschland und Oesterreich-Ungarn durch ihre Widerstandskraft ihre Existenzberechtigung bewiesen haben und der Allianz ihrer Feinde selbst ohne das aktive Eingreifen ihres dritten Verbündeten die Wage zu halten vermögen" (S. 20). Dies war geschrieben, ehe der dritte Verbündete durch aktives Eingreifen gegen seine Verbündeten unsterblichen Banditenruhm gewann. Aus der Betrachtung dessen, was England ist und was es noch werden will, leitet der ehrliche Neutrale das Recht ab, von englischer Megatomanie zu sprechen. Er stellt ihr eine Betrachtung von Deutschlands Kraftquellen entgegen und k o m m t zu dem Ergebnis: „Wenn die Deutschen nicht ein geistig freies und lebenskräftiges, von Idealen getragenes Volk wären, so hätten sie unmöglich in Kunst und Wissenschaft, in Kriegsbereitschaft und wirtschaftlicher Kraft und Unternehmungslust, in sozialer Fürsorge und einer musterhaften Rechtspflege so reiche Früchte hervorbringen können" (S. 28). Er schließt mit dem Wunsche, es möge den Bemühungen der Neutralen, „die nicht zu hassen brauchen", gelingen . . . „die Glut des fanatischen Hasses zu dämpfen und so den Boden für eine künftige Verständigung vorzubereiten" (S. 32). Den zweiten Teil der kleinen Schrift bilden „Aeußerungen von Staatsmännern und staatswissenschaftlichen Autoritäten im Auszug". Das Büchlein hat in der Schweiz, wie man aus Besprechungen der angesehensten Zeitungen erkennt, schon gute Früchte getragen, was teils ihrem Gehalt, teils ohne Zweifel der unantastbaren Person

34 „ . . . Autoritäten

im Auszug":

Vgl. Sidler-Brunner, 1915: 8.

640

Rezensionen

des Verfassers zu verdanken ist. — Wer dazu in der Lage ist, sollte für Verbreitung dieser Schrift - das Exemplar kostet 1 Fr. = 80 Pf. - in anderen neutralen Ländern, wo die deutsche Sprache verstanden wird, sorgen, so in Holland und Skandinavien, aber auch in den Vereinigten Staaten. 5

Adolf Menzel, Naturrecht und Soziologie

i Adolf Menzel: Zuerst in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft (Hinneberg, P. [Hg.]), 1915, 36. Jg., Nr. 34, 21. August, Sp. 1 7 6 1 - 1 7 6 3 . Berlin (Weidmann'sche Buchhandlung) 1915. Erneut in Soziologische Studien und Kritiken, III. Sammlung. Jena (Fischer) 1929, S. 4 5 0 - 4 5 1 . S. T G 19.

Publications of the American Sociological Society Vol. VIII. Problems of social assimilation. Published . . by University of Chicago Press, Chicago Iii., 1913, VI, 183 S.

the

Ein Bericht über den 8. amerikanischen „Soziologentag" (wie wir sagen würden), der in Minneapolis vom 27. bis 30. Dezember 1913 gehalten 5 wurde. Die Soziologie wird in Amerika nicht streng von Sozialpolitik und Sozialreform geschieden. So enthält die Eröffnungsrede des Präsidenten Small einen auffallend scharfen Angriff auf den „Kapitalismus", und Robert A. Woods stellt die „ N a c h b a r s c h a f t in sozialer Rekonstruktion" dar (man erinnert sich der Nachbarschaftsgilden Stanton Coits und 10 verwandter „ethischer" Bestrebungen). Außerdem wird über mehrere „formlose Konferenzen" berichtet, die sich auf die Stellung der Soziologie im öffentlichen Leben, in Schulen und Universitäten beziehen. Den H a u p t i n h a l t des Bandes bilden die sechs Vorträge über Assimilation, von denen der erste die Assimilation des amerikanischen Indianers behan- 15 delt, die ferneren T h e m a t e sind: der steigende nationale Individualismus; die Rassenassimilation in sekundären G r u p p e n , die Lage in preußisch Polen als Experiment der Assimilation; Amerika und China; Assimilation auf den Philippinen, gedeutet nach der Assimilation in Amerika. 1 American Sociological Society: Zuerst in: Weltwirtschaftliches Archiv, (Harras, B. [Hg.]), 1915, Bd. 6, S. 4 5 6 - 4 5 7 . Jena (Fischer). « Small: Die Eröffnungsrede trug den Titel „A vision of social efficiency. Presidential Address" (Small, 1913: 1 - 1 3 ) . 9 Woods: Der Vortrag war überschrieben mit „The neighborhood in social reconstruction" (Woods, 1913: 1 4 - 2 8 ) . 10 Nachbarschaftsgilden: Siehe Stanton Coit: Neighbourhood Guilds; an Instrument of Social Reform, 1891. 14 Vorträge: „The Assimilation of the American Indian" (Fayette A. Mackenzie, Ohio State Univ.), S. 37—48; „The rising national individualism" (H. A. Miller, Olivet College), S. 49 — 62; „Racial assimilation in secondary groups. With particular reference to the negro" (R. E. Park, Univ. of Chicago), S. 66—83; „The Prussian-Polish situation: An experiment in assimilation" (W. I. Thomas, Univ. of Chicago), S. 84—99; „An outline of social study for elementary schools" (John M . Gilette, Univ. North Dakota), S. 101 —119; „,Social assimilation': America and China" (Ch. R. Henderson, Univ. Chicago), S. 131 — 139; „Assimilation in the Philippines, as interpreted in terms of assimilation in America" (Jenks, Univ. Minnesota), S. 140—158.

Publications of the A m e r i c a n Sociological Society

643

Gar manches Merkwürdige und Interessante, wenn auch nur in kurzen Andeutungen, ist in diesen Vorträgen enthalten. Es wird konstatiert, daß die Union bis 1866 eine halbe Billion Dollars in Indianerkriegen ausgegeben habe. „Wir schlachteten Indianer ab um den Preis von einer Million Dollar das Stück", und doch habe sich die Politik der Ausrottung als relativ unnütz erwiesen. Auch jetzt sei der Indianer nicht ins nationale Leben eingemeindet worden, und das werde nicht geschehen, bis man ihm volle Rechte in der amerikanischen Gesellschaft gebe und volle Verantwortlichkeit von ihm verlange. Ein langes Studium hat den Redner zu der Überzeugung gebracht, daß das Indianerproblem nicht gelöst werden könne ohne die Initiative und Mitwirkung des Indianers selbst. Auch H. A. Miller (the rising national individualism) gibt wichtige Gesichtspunkte. Neu ist mir einiges, was er über die Böhmen in Amerika mitteilt: „Die überraschendste Form nationalen Geistes in Amerika wird von den Böhmen zum Ausdruck gebracht in ihrer organisierten Propaganda für das Freidenkertum". „In der Stadt Chicago gibt es mehr als 27000 Einwohner, die vierteljährliche Beiträge zahlen für die Unterstützung von Sonnabends- und Sonntagsschulen zum Unterricht in der böhmischen Sprache und Freidenkertum." Gewiß merkwürdig, wenn man sich erinnert, daß auch die erste große und erfolgreiche Revolte gegen die römische Kirche von den Czechen ausging. — Die Unterscheidung primärer und sekundärer Gruppen folgt Charles H. Cooley. Natürlich ist die amerikanische Nation eine sekundäre Gruppe. Natürlich beziehen sich die Ausführungen hauptsächlich auf die Neger. Was über die ehemalige Sklaverei erzählt wird, ist nicht eben neu. Eine Hauptwirkung der Befreiung sei die Freizügigkeit gewesen. Die Abwanderung veranlaßte das System der peonage (kontraktliche Bindung an die Scholle), „das in gemilderter Form heute noch in den Südstaaten vorhanden ist". Eine andere Folge war, daß die Neger sich mehr zusammenschlössen, ein einheitliches Bewußtsein gewannen und so die Scheidung zwischen sich und den Weißen vollständiger machten. Hübsch ist folgende Mitteilung — auch von 5 einer Million

Dollar das Stück:

Vgl. das Referat von M a c k e n z i e , in: Publications of the

American Sociological Society, 1913: 39. 12 Miller:

Vgl. Miller, 1913: 53.

20 Revolte:

G e m e i n t sind die Hussitenkriege ( 1 4 1 9 - 1 4 3 6 ) .

22 Cooley:

Vgl. U. a. „Social O r g a n i z a t i o n . A Study of the Larger M i n d " 1909; hier v. a.

Tl. I u n d die Definition von „ p r i m a r y g r o u p s " , S. 23 (zit. n a c h „The T w o M a j o r W o r k s of Charles H . Cooley ... with an I n t r o d u c t i o n " by R. C. Angell, 1956). D e r H i n w e i s auf Cooley findet sich in d e m R e f e r a t von W. E. Park in einer A n m e r k u n g auf S. 65.

644

Rezensionen

„weltwirtschaftlichem" Interesse. Früher spielten Negerkinder mit weißen Puppen. Es gab zwar auch Negerpuppen, aber sie waren für Herrenkinder und verkörperten nicht das Idealbild des Negers von sich selbst. Vor einigen Jahren bestellte ein farbiger Verlagsbuchhändler in Deutschland „richtige" Negerpuppen und gründete eine Gesellschaft für deren Vertrieb. Die neuen Puppen waren Mulatten mit regelmäßigen, aber etwas nach dem hergebrachten Negertypus modifizierten Zügen. „Es war eine schmucke, zierliche, gutgekleidete, wohlanständige und würdige Puppe"; später sollen etwas dunklere Schattierungen, mehr nach dem vollen Negertypus hin, aufgekommen sein, aber nicht weniger niedlich und schick. Diese Puppen haben jetzt einen weiten Absatz in allen Teilen der Vereinigten Staaten. (Man stellt sich leicht vor, wie der unlautere Kriegswettbewerb englischer Fabrikanten auch hinter dies Geschäft sich gemacht hat; ob mit Erfolg?) Der Vortragende verallgemeinert seine Beobachtungen, die sich auch auf europäische Verhältnisse erstrecken, dahin: „unter Bedingungen individueller Freiheit und individuellen Wettbewerbs haben gedrückte Rassengruppen die Tendenz, die Gestalt von Nationalitäten anzunehmen". Auch der Vortrag über preußisch Polen ist im ganzen sachkundig, wenn gleich der Verfasser nicht weiß, daß die Landarbeiter in Preußen kein Koalitionsrecht besitzen. — Recht interessant sind auch die knappen Ausführungen von Charles Richmond Henderson über die Beziehungen zwischen Amerika und China. Der einsichtige Mann erhofft eine allmähliche Umgestaltung chinesischer Ideale, chinesischer Ethik, Bildung, Diplomatie, chinesischen Handels — durch amerikanische Einflüsse; und auf den Einfluß der Sozialwissenschaft setzt er die entschiedenste Hoffnung. — Daß auch die Bemerkungen über Philippinos, wie über die Assimilation innerhalb der Vereinigten Staaten, Bedeutsames für uns enthalten, braucht kaum gesagt zu werden. Als die Bedingungen, von denen die Assimilation in Amerika — und entsprechenderweise auf den Philippinen, nämlich innerhalb ihrer — abhänge, zählt A. E. Jenks auf: 1. guter Wille auf Seiten der zu Assimilierenden; 2. die englische Sprache als allgemeines Verkehrsmittel; 3. gemeinsame Erziehung; 4. gemeinsame Religion; 5. gemeinsame erreichbare Hoffnungen; 6. das staatsbürgerliche Bewußtsein; 7. die physische und menschlich-soziale Umgebung. — Redner kommt zu dem Schlüsse, daß es mit 9 würdige Puppe: Vgl. das Referat von Park, in: Publications of the American Sociological Society, 1913: 78. 1« die Gestalt von Nationalitäten anzunehmen: Vgl. ebd. (S. 82).

Publications of the American Sociological Society

645

diesen Bedingungen auf den Philippinen mäßig stehe, außer mit dem sehr gleichförmigen natürlichen und ethnischen Milieu, sofern sie auf sich selber angewiesen seien. Dagegen werde die Fortsetzung der amerikanischen Politik einen erheblichen Grad von innerer Assimilation (Ni5 vellement) erzielen. Auch die pädagogischen Anregungen, die der Band enthält, sind beachtenswert.

6 Anregungen: schools",

Vgl. z. B. von John M. Gilette, „An outline for social study for elementary

S. 101 — 119,

S. 1 2 0 - 1 3 0 .

sowie

„Round

Table: Sociology

in the Normal

School",

Apparat

Editorischer Bericht Erster Teil: Allgemeines Der Band 9 der Tönnies-Gesamtausgabe enthält die veröffentlichten authentischen und autorisierten Texte von Ferdinand Tönnies aus dem Zeitraum 1911 — 1915 (Monographien — Schriften — Rezensionen). Dabei ist auch ein Text, der unter dem Pseudonym „Normannus" erschienen ist — einem Decknamen, den Tönnies zwischen 1895 und 1913 bevorzugt für Artikel in der Frankfurter Zeitschrift „Das Freie Wort" verwendete. Bei einigen Texten aus dem Englischen tritt Tönnies lediglich als Herausgeber in Erscheinung; seine Absicht war es, die mitgeteilten Ansichten aus politischen Gründen seinen deutschen Lesern nicht vorenthalten zu wollen. Bei der Wiedergabe erscheinen die einleitenden Worte von Tönnies, die Texte aus fremder Feder selbst dagegen in der Regel nicht; Erläuterungen finden sich im jeweiligen Textbericht des Editorischen Berichtes. Zweiter Teil. Auf der Grundlage der sorgfältigen Werkverzeichnisse von Else Brenke (1936) und Rolf Fechner (1992) wurde nochmals systematisch nach weiteren Veröffentlichungen gesucht, ganz besonders im Zeitschriftenbereich. Funde sind nicht ausgeblieben („Neutralität und Politik"; 1911, hier S. 1 4 4 - 1 5 3 ; „John Lubbock", 1913, hier S. 3 5 9 - 3 6 0 ; „Englische Weltpolitik", 1915, hier S. 511 — 518); in Blick auf Tages- oder allgemeine Wochenzeitungen können weitere indes nicht ausgeschlossen werden. Alle gedruckten Texte als Grundlage der edierten Texte wurden im Original geprüft, wobei sich das Textumfeld oft als äußerst aufschlussreich erwies. Schriften, die später in von Tönnies selbst veranstalteten Sammelbänden erschienen sind, werden in diesem Band im Inhaltsverzeichnis kursiviert aufgeführt. Die Leserschaft wird auf die entsprechenden Bände 15, 17 und 19 der T G verwiesen, die diese Sammelbände enthalten. Nicht-authentische Schriften und nicht-autorisierte Diskussionsbeiträge, mitunterzeichnete Aufrufe, Vereinsverlautbarungen, Einladungen, Preisausschreiben etc. bleiben grundsätzlich unberücksichtigt. Diskussionsbeiträge von Tönnies in den „Verhandlungen" der Deutschen Soziologentage werden hier als autorisiert angesehen, da Tönnies als Präsidiumsmitglied der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie" Einsicht in

650

Apparat

die Protokolle und Druckvorlagen haben konnte und sicherlich auch hatte, wie die umfangreichen

Materialien im Tönnies-Nachlass

der

Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek (Signatur: Cb54:61) nahelegen. Desgleichen bringt die T G keine Texte in fremde Sprachen, sofern sie nicht von Tönnies selbst erstellt oder autorisiert worden sind, und wenn die Texte bereits in deutscher Sprache vorliegen. Dagegen werden die fremdsprachlichen authentischen Texte im Editorischen Bericht in deutscher Sprache wiedergegeben. Dieser Band ist — wie die gesamte T G — chronologisch werden

jedoch

drei

Abteilungen

gebildet:

aufgebaut. Es

„I. Monographien"



„II. Schriften" — „III. Rezensionen", innerhalb derer die Texte wieder chronologisch angeordnet sind. Der Unterschied der Abteilungen ist formaler Natur: „Schriften" sind alle Texte, die weder „Monographien" noch „Rezensionen" sind; „Rezensionen" sind alle Buchbesprechungen, die keinen eigenen Titel aufweisen. Eine gewisse Schwierigkeit bereitete die Einordnung des Drucks „Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie (als Manuskript gedruckt)" (aus dem Jahre 1911, hier S. 3 — 10); nach Rücksprache mit dem Herausgeberkollegium wurde dieser skizzenhafte Text in die Abteilung „Monographien" aufgenommen: so schmal er auch ist, hat er doch monographische Form! Titellose Schriften, z. B. Diskussionsbeiträge, die als von Tönnies autorisiert gelten können — in diesem Band etwa die Redebeiträge auf den beiden Soziologentagen („Schutz der Schwachen", S. 197—199; „Das stoischchristliche

Naturrecht",

S. 2 0 0 - 2 0 5 ;

„Nation

und

Nationalitäten",

S. 3 7 2 - 3 7 3 ; „Die moderne Nation", S. 374; „Der Begriff der Nation", S. 375) —, erhielten jeweils eine Überschrift vom Editor, die sich am Sachgehalt des jeweiligen Vortrags, auf den sich Tönnies bezogen hat, ausrichtet. Alle nicht-authentischen Überschriften erscheinen stets in eckigen Klammern

(vgl. z. B. Tönnies 19131: „[August Bebel]", hier

S. 3 6 1 —368). Die bandinterne Reihenfolge beurteilte bei vieldeutiger Quellenlage der Herausgeber, bei den erfahrungsgemäß oft variierten tatsächlichen Erscheinungsdaten von Zeitschriften hielt er sich in der Regel an das offizielle Datum. Ein Inhaltsverzeichnis

nach

Sachgebieten

findet sich auf den Seiten

I X — X I . Ein derartiges Verzeichnis nach dem Pertinenzprinzip war vom Herausgeberkollegium

nicht zwingend vorgeschrieben

worden.

Dem

Editor dieses Bandes erschien dies jedoch sinnvoll; so vermag der Benut-

651

Editorischer Bericht

zer dieser Ausgabe durchaus herauszulesen, mit welchen Gegenständen sich Tönnies zu welchen Zeiten häufiger oder weniger häufig befasst hat, um gewisse Rückschlüsse auf den Schaffensprozess Tönnies' zu gewinnen. Mehrfachnennungen erwiesen sich hier als nicht zweckmäßig.

Wiedergegeben

wird der Originaltext

grundsätzlich ohne

herausgeberi-

sche Eingriffe. Orthographie und Satzzeichen folgen also den historischen Vorlagen. Doch ist zu beachten: (1) Fehlende Überschriften der Abt. II („Schriften") wurden vom Herausgeber neu gebildet und in eckige Klammern gesetzt (s. o.); (2) am Zeilenende wird auch der edierte Text nach der Rechtschreibreform vom 1. August 1998 getrennt; (3) der gelegentlich redaktionell gesetzte Punkt nach Überschriften (auch bei Tabellen) wurde grundsätzlich fortgelassen; (4) eindeutige, zweifelsfreie Druckfehler wurden in der Regel stillschweigend korrigiert, in Zweifelsfällen wurde jedoch nicht in den Text eingegriffen, sondern am Seitenende annotiert; (5) Hervorgehobenes unterschiedlichen Typs (Sperrungen, Fettdruck, Kapitälchen etc.) wurde sämtlich kursiviert. Beachtet werden muss aber, dass in Frakturtexten die dort in Antiqua gesetzten Fremdwörter nicht als hervorgehoben angesehen worden; sie sind hier also recte gesetzt; (6) findet sich im Text eine hochgestellte Zahl, so liegt eine Original-Fußnote von Tönnies vor; eine solche Note wird innerhalb eines jeden Textes mit hochgestellter Ordnungszahl neu durchgezählt und auf der gleichen Seite am Fuß des Originaltextes wiedergegeben. Editorische

Noten

zur Texterläuterung finden sich durch einen Halb-

strich abgesondert ebenfalls auf der betreffenden Seite. Sie sind doppelt markiert: durch die tiefer Lemma,

gestellte

Zeilenzahl,

sowie durch ein

kursives

d. h. durch ein sinnvolles Textbruchstück, bezogen auf die der

Erläuterung bedürftige Stelle. Die auch sonst wohl nützlichen len finden sich, im Fünfertakt, stets

am Innenrand

Zeilenzah-

und zählen Über-

schriften und Tönniessche Fußnoten, nicht aber Leerzeilen mit. In den Fußnoten des Herausgebers wird (1) bei jedem Text zunächst die Quellenangabe sowie eine kurze Notiz über den Überlieferungskontext mitgeteilt. Auf komplexere Zusammenhänge der Texterstellung gibt der „Zweite Teil" des Editorischen Berichtes erschöpfender Auskunft (s. u.). (2) Umfangreichere Varianten — in diesem Bande aus den Handexemplaren Tönnies' bzw. aus seinen Manuskripten — werden hier nur auszugsweise mitgeteilt. Für weitere Informationen sei auf das „TönniesForum" (1/2000) verwiesen. Ferner werden (3) heute wenig geläufige

652

Apparat

Begriffe oder Zusammenhänge erklärt. Wo es sich um Personen handelt, wird der Leser grundsätzlich — wenn eine Erläuterung sich nicht schon am Seitenende als opportun erweist — auf das Personenverzeichnis verwiesen. Zwischen dem, was in der Leserschaft vorausgesetzt werden darf, und dem, was der mit der Sache vertraute Herausgeber weiß und wissen könnte, wird in den seltensten Fällen Deckungsgleichheit bestehen. Unausweichlich sind deshalb sowohl übertriebene Knappheit als auch Ausführlichkeit des jeweils zu Erläuternden. Der Herausgeber bittet die Leser um Nachsicht, wenn er ihm Vertrautes einer näheren Erklärung nicht für nötig hält, der Leser aber gerade hic et nunc einen Hinweis erwartet, der ihm mühseliges Nachschlagen ersparte: Er hat versucht, hier einen erträglichen Mittelweg zu finden, der beiden Seiten gerecht zu werden verspricht. Im Zweifelsfall hat er sich auf die Seite der Leserschaft zu schlagen bemüht und wohl mehr erklärt, als vielleicht erforderlich. Schließlich werden (4) da, wo Tönnies seine Quellen nannte — oder diese erkannt werden konnten — seine Wiedergaben geprüft und wesentliche Abweichungen notiert. Grundsätzlich wurde dabei die von Tönnies benutzte Ausgabe herangezogen. Wo dies nicht möglich bzw. rekonstruierbar war, hat der Herausgeber eine wahrscheinliche Quelle benutzt. Beispielsweise ist im Falle des Nachweises der Goethe-Zitationen die „Jubiläums-Ausgabe" von 1902—1912 konsultiert worden. Die Tönnies eigene (nicht immer stete) Terminologie wird nicht weiter erörtert; man konsultiere ihn selbst oder die Sekundärliteratur und beachte auch das Sachregister (S. 791 —808). In der Regel wird in den editorischen Anmerkungen die amerikanische Zitierweise („Harvard-Notation") verwendet (z. B.: Haeckel 1899: 116); die Auflösung erfolgt in der Bibliographie (S. 719 — 761). (5) Editorisch sind auch die orientierenden Kopfzeilen über den Seiten.

Zweiter Teil: Zu einzelnen Texten Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie (Tönnies 1911a, hier S. 3 - 1 0 ) Es war um 1905/06 die Absicht von Tönnies — darin unterstützt vom Universitätskuratorium — in Kiel die Fächer Statistik und „Gesellschaftslehre" aufzubauen und zu vertreten. Ab dem Wintersemester 1903/04 dehnte sich Tönnies' Lehrtätigkeit auf beide Gebiete aus, über

Editorischer Bericht

653

die er semesterweise jeweils las. Der sehr naheliegende Vorschlag der Universitätsleitung, beim zuständigen preußischen Kultusministerium um die Einrichtung eines entsprechenden Extraordinariats zu ersuchen, wurde jedoch nach einigem Hin und Her abschlägig beschieden. Stattdessen wurde — unter vehementer Unterstützung des gerade nach Kiel berufenen Nationalökonomen Bernhard Harms, dem Tönnies sehr schnell freundschaftlich zugeneigt war — Tönnies Ende des Jahres 1908 mit der Übernahme des vakanten Extraordinariats für „Wirtschaftliche Staatswissenschaften" betraut, und zu Beginn des Sommersemesters 1909 erfolgte auf sein Drängen hin die Bestallung zum Ordentlichen Honorarprofessor. Von da an las Tönnies, bis zu seiner Emeritierung, „in regelmäßigem Turnus" (Eduard Georg Jacoby, S. 109, auf dessen Bericht sich diese vorstehenden Mitteilungen stützen) sowohl über theoretische als auch über praktische Nationalökonomie. Seine statistischen Übungen blieben davon allerdings unberührt. Zu Tönnies als Statistiker vgl. unten S. 6 8 8 - 6 9 1 .

Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung (Tönnies 1915a, hier S. 1 1 - 1 0 9 ) Das Handexemplar von Tönnies (SHLB, Cb54. xt 13) macht die handschriftlichen Zusätze wie die Streichungen deutlich, die Tönnies vorgenommen hat; sie stehen ganz im Zeichen einer geplanten zweiten Auflage. Ein Indiz dafür ist ein von Tönnies erstelltes separates Blatt, das seinem Handexemplar aufliegt. Es ist aus dem dem Herausgeber vorliegenden Material nicht ersichtlich, warum eine zweite Auflage nicht zustande kam. Die wichtigste Ergänzung betrifft den Einschub eines Kapitels über den Amerikanischen Krieg (1812 — 1814). Dieses sollte als neuntes Kapitel, nach dem Abschnitt über Der Raubzug gegen Dänemark [hier S. 55 — 62], neu hinzukommen. Entsprechend hat Tönnies sodann die Kapitelzählung bis zum Kapitel über Ägypten [hier S. 87—94] durchgeführt. Dies ist das 16. Kapitel in der gedruckten Fassung; nach der neuen Zählung wäre dieser Abschnitt Kapitel 17, Tönnies hatte aber die 17 durchgestrichen und darüber die 18 geschrieben — das lässt vermuten, dass zwischen den Kapiteln Der indische Aufstand [hier S. 84—86] und Ägypten ein zusätzliches Kapitel vorgesehen war. Um welche Thematik es sich dabei handeln sollte, war nicht zu ermitteln.

654

Apparat

Die zahlreichen Veränderungen am Textkorpus, die Tönnies in seinem Handexemplar vorgenommen hatte, können im Rahmen dieser Ausgabe nicht detailliert ausgeführt werden. Ihr wesentlicher Gehalt soll jedoch nicht unerwähnt bleiben und im Folgenden in nuce paraphrasiert werden: Die Anmerkung 2 auf S. 6 des Originals [hier S. 22 f.], die sich auf den „Cant" bezieht, ist gestrichen worden. Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich eine ganzseitige Liste von Zitaten aus dem Werk Thomas Carlyles, die den „Cant" betreffen. In dem Kapitel Die Eroberung Indiens [hier S. 45 — 52] gibt Tönnies eine Charakterisierung der Ostindischen Kompanie durch den englischen Staatsmann Charles James Fox von Corruption und Unbill bezeichnet wieder, der diese als Senkgrube habe. Im Kapitel Der Raubzug gegen Dänemark [hier S. 55 — 62] wird die Anmerkung 1 auf S. 39 im Original [hier S. 61] durch ein Zitat aus

der grossen Flottengeschichte

(The Royal Navy. A History, vol. 5) er-

gänzt, wonach der Angriff auf Kopenhagen notwendig gewesen sei. Ebenso erfolgt hier ein Hinweis Tönnies' auf den „Raub" von Helgoland. Ein längerer Zusatz an dieser Stelle bezieht sich auf die Darstellung von Holland Rose, Pitt and the Great War (s. Bibliographie), der nur von Napoleons Eroberungsgeist spricht, doch sei dieser es doch gewesen, der aus Abwehr und Verteidigung gehandelt habe, nachdem England die Kontinentalsperre erfand. Der „grosse Krieg" von 1793 — 1815 sei von England in der Absicht geführt worden, sich die Alleinherrschaft zur See Übermacht zu spüzu gewinnen. Spanien habe zuerst diese gewaltsame ren bekommen. So die Aufbringung der spanische Silberflotte vor Cadiz im Oktober 1804 durch vier englische Fregatten (vgl. auch hier S. 531 f.). Tönnies zitiert hierbei britische Historiker wie Herbert Wrigley Wilson und Sir Archibald Alison, die beide das britische Vorgehen rechtfertigten. Im neu eingefügten Kapitel über den amerikanischen Krieg 1812—1814 führt Tönnies u. a. aus, dass die USA zu energische[n] Gegenmassregeln gegenüber den Beeinträchtigungen Englands und Frankreichs genötigt gewesen seien. Während Napoleon nachgiebig gewesen sei, habe England sich weiterhin stur und steif verhalten. Anhand des Berichts von Sir Archibald Alison (Bd. XII, 1855) schildert Tönnies die wichtigsten Kriegsereignisse. Der S. 41 im Original (hier S. 65 f.) wird ein Zitat von Alison beigefügt — treffend, wie Tönnies bemerkt —, wonach demokratische Institutionen eine Nation aggressiv (in der Handschrift unterstrichen) machen würden; man brauche nur auf die zahlreichen Eroberungskriege Eng-

Editorischer Bericht

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lands im Orient hinzuweisen. Im Kapitel Der Opiumkrieg und fernere Händel mit China [hier S. 71 — 76] wird zusätzlich der holländische Gesandte Dedel — nach Charles Greville — zitiert, wonach es der damalige Premierminister Henry John Palmerston fertig gebracht habe, alle Nationen durch Insolenz und Gewaltsamkeit England zu entfremden. Auch die englischen Historiker, so Tönnies, würden dies bestätigen, obgleich sie dieses Urteil nicht unbedingt gelten lassen würden. Am Schluss des Abschnitts über den Burenkrieg (im Original S. 71, hier S. 98 f.) wird Winston Churchill erwähnt. In einer zusätzlichen Passage zitiert Tönnies aus dem DNB, wonach dessen Vater, Lord Randolph Henry Spencer Churchill, ein unverschämtes Betragen attestiert werde (S. 22); ein Mann von dürftiger und oberflächlicher Bildung. Nach Tönnies dürfte Herr Winston der windige Sohn seines Vaters sein. Links der Seite 71 oben gegenüberliegend wird Herbert Spencer zitiert („Der südafrikanische Krieg", in: „Erfahrungen und Betrachtungen", 1904; das Buch liegt jedoch nur auf Englisch vor), der behauptet habe, der Krieg gegen die Buren habe England in jeder Weise geschädigt. Es gebe nach Spencer noch ein unhöflicheres Wort als Angriff, der diese kriegerische Ausdehnung kennzeichne. Was das Kapitel über Persien betrifft, so zitiert Tönnies in seinem Handexemplar ausführlicher aus dem Buch „The Strangling of Persia" des Amerikaners W. Morgan Shuster. Tönnies gibt Passagen wieder, in denen Shuster Anklage gegen England und Russland erhebt, eine uralte Nation zerrieben und unterdrückt zu haben. Auf zynische Weise habe sich das persische Volk am „russischen Interesse" wie am „englischen Handel" auszurichten. Die Selbstbestimmung der persischen Nation werde mit Füßen getreten. Schließlich hat Tönnies den letzten Absatz der Schrift, der eine Analogie zwischen dem Minotaurus und dem ,,vielgenannte[n] englische[n] König der neuesten Zeit" herstellt, ersatzlos gestrichen. Das mag wohl auch als Reaktion auf wenigstens einen Einwand hin geschehen sein. So gab Eduard Rosenbaum von der Handelskammer Hamburg zu bedenken, dass diese Anspielung auf Eduard VII. ein „Sprung in die Sphäre privaten Lebens und privater Moral" sei; die Wirkungen des Buches würden „umgebogen", „insbesondere, da dies das letzte Wort ist." (Cb54.56:677II: Rosenbaum an Tönnies vom 18. März 1915). Dass es sich bei diesem König der neuesten Zeit tatsächlich um Eduard VII. gehandelt habe, hat auch Tönnies' Kollegen Ignaz Jastrow zu starker Vermutung Anlass gegeben. Dieser schrieb an Tönnies: „Dass in dem

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ganzen religiös gefärbten Kreis ein Mann mit lasterhaftem Lebenswandel ungestraft Führer der Nation wird, ist wohl doch sonst noch nicht vorgekommen." (Cb54.56:426,04: Jastrow an Tönnies vom 10. Februar 1915). Soweit die wichtigsten Veränderungen am Textkorpus, die Tönnies in seinem Handexemplar vorgenommen hatte. Im Tönnies-Forum (2000, 9. Jg., 1. Heft) kann der interessierte Leser die „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" in der Form einer Zweitauflage, wie sie Tönnies nach den Korrekturen und Ergänzungen seines Handexemplares plante, vergleichend zur Kenntnis nehmen. Im Tönniesschen Nachlass (Cb54.45:32: Exzerpte und Inhaltszusammenfassungen) befindet sich ein Exzerptheft, das Auszüge aus der für den Sachzusammenhang herangezogenen Literatur enthält. Nicht alles ist dann später direkt oder als Paraphrase in den Text eingegangen; u. a. hat Tönnies größere Auszüge erstellt aus folgenden Werken: William E. H. Lecky's „History of the 18th Century" (London 1892); Justin McCarthys Buch (Leipzig 1879, 1880); Richard Prices „Observations" (Rotterdam 1776); Charles Bruces „The broad Stone of Empire" (London 1910); Bryan Edwards Buch über die britischen Kolonien (Dublin 1793); Harold W. V. Temperley's „Life of Canning" (London 1905); „Parliamentary Register" (London 1 7 7 5 - 1 8 0 4 ) ; Robert K . D o u g l a s ' „Europe and the Far East" (Cambridge 1904), aus dem zitierten Werk von Hosea B. Morse („The international Relations of the Chinese Empire", London 1910), aus John Holland Rose's „Pitt and the national Revival" (London 1909). Auf seine Schrift hin hat Tönnies mannigfachen brieflichen (und wohl auch mündlichen) Zuspruch erfahren; das belegen jedenfalls die Briefeingänge im Nachlass. Der Tenor einiger weniger scheint wert genug, hier mitgeteilt zu werden: Ein Justizrat Dr. Baumert aus Spandau schlägt so z. B. Tönnies vor, „in ähnlicher Weise durch eine Flugschrift das Verhalten Englands Friedrich dem Grossen gegenüber während des siebenjährigen Krieges besonders darzulegen." Tönnies würde sich durch die Abfassung einer solchen Flugschrift „weiter um unser Vaterland sehr verdient" machen (Cb54.56:441: Baumert an Tönnies vom 14. April 1915). Offensichtlich hatte Tönnies ausweichend geantwortet, denn Baumert erneuerte am 26. April 1915 seinen Wunsch. Georg Geliert von der „Deutschen Gesellschaft zur Verbreitung guter Jugendschriften und Bücher e. V." in Berlin, deren Ehrenpräsident der ehemalige Reichskanzler Bernhard von Bülow war, bat um eine Abdruckgenehmigung der einen oder anderen Stelle „aus Ihrem gerühmten Buch", und zwar für „ein für die

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reifere Jugend geeignetes Merkbuch ..., in dem die bedeutendsten deutschen Persönlichkeiten über den Weltkrieg sprechen" (Cb54.56:287,18: Geliert an Tönnies vom 31. März 1915). Tönnies muss diesem Ersuchen jedoch ablehnend gegenübergestanden haben, denn das im Juni 1915 erschienene Werk „Das Eiserne Buch" enthält keinen Beitrag Tönnies', weder aus der „Englischen Weltpolitik" noch aus irgendeinem anderen Bande. Der Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, Arnold Wahnschaffe, übermittelte den Dank des Reichskanzlers über diese Schrift (Cb54.56:859,05: Wahnschaffe an Tönnies vom 15. Februar 1915). Es seien abschließend noch einige Sätze über die unmittelbare Wirkung nach dem Erscheinen der Broschüre in wissenschaftlichen und publizistischen Kreisen angefügt. Die Schrift wurde nicht nur in vielen Zeitungen und Zeitschriften besprochen, sondern durchweg überaus positiv bzw. als wegweisend aufgenommen. Es erscheinen mehr oder weniger ausführliche Hinweise in Zeitschriften und Zeitungen wie „Das Freie Wort" (Mai 1916), „Die Hilfe" (23. Sept. 1915), „Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung" vom 26. März 1915 (Beilage zu Nr. 156), im „Hamburger Fremdenblatt" Nr. 106 vom 17. April 1915 (Abend-Ausgabe), „Der Tag" (Berlin) vom 11. April 1915 (unter dem Titel „Britische Schmach" von Dr. E. Jenny), „Die Post" vom 16. Februar 1915 („Das ,stolze' England"), „Deutsche Volkswirtschaftliche Correspondenz" vom 11. Mai 1915, „Leipziger Volkszeitung" vom 25. März 1915 („Weltpolitik und Moral"). Sogar die deutschsprachige in Schanghai erscheinende Zeitung „Nachrichten" brachte unter dem Titel „Cant und Spleen der Weltpolitik" am 23. Juli 1915 eine von Friedrich von der Leyen verfasste ausführliche Besprechung. Gustav von Schmoller hat es sich nicht nehmen lassen, die Schrift in seinem „Jahrbuch" vorzustellen (Schmollers Jahrbuch, Bd. 39, 1915, S. 9 8 3 - 9 8 5 ) . Karl Kautsky widmete dem Büchlein eine längere kritische Besprechung in der „Neuen Zeit" vom 27. 8. 1915. Tönnies lasse die „englische Beleuchtung" „durch geschwärztes Glas gehen und" weise „dann auf ihre Düsterkeit hin." (S. 701). Paul Natorp berief sich in seinem Artikel „Eine Warnung vor Illusionen" in der Zeitschrift „Dokumente des Fortschritts", in welchem England das Ziel seiner Angriffe ist, in einer Anmerkung (S. 131) ausdrücklich auf Tönnies' Schrift. Übersetzungen erschienen ins Niederländische (Engeische wereldpolitick naar Engeische Geschiedshrijvers. Amsterdam: W. Verschluys, 1915) sowie ins Englische (Warlike England as seen by herseif. New York: G . W . Dillingham, 1915). Die Übersetzung ins Niederländische wurde

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Apparat

von Tönnies' Amsterdamer Kollegen Sebaldus Steinmetz angeregt. Er hoffe, dass eine solche dazu beitragen möge, „unser Publikum über Englands Politik aufzuklären, was sehr nötig ist". „Einige kleine Änderungen haben wir uns mit Rücksicht auf unser Publikum erlaubt." Welche das seien, wird nicht mitgeteilt (Cb54.56:787: Steinmetz an Tönnies vom 24. April 1915). Heinrich Somogyi aus Budapest erklärte sich „so frei", bei Tönnies um das Recht einer Übersetzung ins Ungarische zu ersuchen, denn das Werk habe in Ungarn „Aufsehen erregt" (Cb54.56:777: Somogyi an Tönnies vom 27. März 1915). In einer Karte vom 1. April gab Tönnies seine Zustimmung (vgl. Schreiben Somogyi an Tönnies vom 12. April 1915; die Übersetzung erfolgte jedoch nicht.).

Rudolf Euckens „Grundbegriffe

der Gegenwart"

in neuer

Fassung

(Tönnies 1911b, hier S. 1 1 3 - 1 1 8 ) Eduard Georg Jacoby (1971, S. 143) schreibt zu diesem Text: „In die nie verstummende Erörterung von Determinismus und Willensfreiheit griff Tönnies außer in dieser Darstellung [gemeint ist das Hobbes-Buch, hier das erste Kapitel „Die Anthropologie" — A. M . ] eines ihrer Höhepunkte, nämlich die Kontroverse des Hobbes mit dem Bischof von Bramhall, noch bei zwei weiteren Gelegenheiten ein; in beiden Fällen in dem klaren Bewußtsein, daß es sich um ein Vorfeld soziologischer Erkenntnis handele." Die erste Gelegenheit sei die Besprechung von Georg Simmeis „Einleitung in die Moralwissenschaft" gewesen (Bd. 1 erschien 1892, die Rezension Tönnies' ein Jahr später in der „Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane"; vgl. T G 3). „Die zweite Gelegenheit ergab sich in dem Titelaufsatz in der Deutschen Literaturzeitung über die neue Fassung von Rudolf Euckens mit dem Nobelpreis für Literatur [1908 — A. M . ] ausgezeichneten „Grundbegriffen der Gegenwart".

Der erste allgemeine

Rassen-Kongreß

(Tönnies 1911g, hier S. 1 5 4 - 1 5 6 ) und

Der erste internationale

Rassenkongreß

in London.

Eine

Umschau

(Tönnies 1911n, hier S. 1 8 5 - 1 9 5 ) Vom 26. bis zum 29. Juli 1911 fand an der Universität London der „Erste allgemeine Rassenkongreß" (First universal Races Congress) statt. Tönnies hat sich in mehreren kleineren Beiträgen dazu geäußert; er selbst hat

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auf diesem Kongress einen Vortrag gehalten, über den unten (S. 663 ff.) gesondert berichtet werden soll. Ebenso getrennt wird unten (S. 661 ff.) über den besonderen Kontext des Zeitungsbeitrages „Vorurteile gegen den Rassenkongreß" (hier S. 157—159) zu informieren sein. Der Rassenkongress ging auf einen Vorschlag zurück, der auf einer Konferenz der International

Union

of Ethical

Societies

in Eisenach gemacht worden war. Diese Union 1896 durch den First International

Ethical

Um 1909 setzte sich diese Union

Congress

in Zürich gegründet.

aus fünf nationalen Organisationen

zusammen, darunter war auch die Deutsche Kultur,

am 3. Juli 1906

wurde im September

Gesellschaft

für

Ethische

deren engagiertes Mitglied Tönnies war, der auch zum Zustande-

kommen des Ethical

Congress

beigetragen hatte. Präsident zum fragli-

chen Zeitraum war der Deutsch-Amerikaner Professor Felix Adler (New York); als Vorsitzender des Exekutivausschusses amtierte der Gründer der Gesellschaft für ethische Kultur, der Astronom Wilhelm Foerster, Generalsekretär war der Engländer Gustav Spiller. Das Ziel der

Union

war „die Geltendmachung der entscheidenden Wichtigkeit des ethischen Beweggrundes in allen Beziehungen des Lebens [...] unabhängig von allen theologischen und metaphysischen Gesichtspunkten." (Zit. nach dem M o t t o auf dem offiziellen Briefvordruck der

Union).

Ende 1908 wurden die ersten gewichtigen Aktivitäten in dieser Richtung sichtbar, doch bereits Anfang 1909 hielten die führenden Repräsentanten der Union die Zeit für die Abhaltung eines derartigen Kongresses noch nicht für reif genug. Das Bedürfnis, sich dieses Themas in einem größeren interkontinentalen Rahmen anzunehmen, blieb aber weiterhin bestehen, so dass die Exekutive der Union ihre vormalige Entscheidung nicht nur überdachte, sondern auch wieder zurücknahm. Dies geht sowohl aus dem Report

of Executive

Council

(Record of the Proceedings,

1911, S. 6) als auch aus einem Brief von Spiller an Tönnies vom 17. Mai 1909 hervor (Cb54.65:05). Die Botschafter von China, Japan, Persien und der Türkei in London hätten versprochen, ihr Möglichstes zu tun, dass dieser Kongress stattfinden könne, ebenso hätten Zulus, Indianer, Neger und andere ihre Zustimmung gegeben. Ein weiterer Brief Spillers an Tönnies (vom 25. Oktober 1909, ebd.) ließ zwar durchblicken, dass es im Sommer offensichtliche Schwierigkeiten gegeben habe; doch schienen sie beseitigt, und der Generalsekretär zeigte sich recht erfreut darüber, dass der Kongress besonders in Deutschland auf eine beträchtliche Resonanz gestoßen sei.

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Schirmherren aus nicht weniger als 50 Staaten konnte er vorweisen, darunter 35 Parlamentspräsidenten, die Mehrheit der Mitglieder des „Ständigen Schiedsgerichtshofes" und die Delegierten der „Zweiten Haager Konferenz", zwölf britische Gouverneure und acht Premierminister, ungefähr 130 Professoren des Völkerrechts, führende Anthropologen und Soziologen und andere. Vor allem im eigenen Land fand der Kongress große Unterstützung; Präsident war Philipp J . Weardale; die Liste der Vizepräsidenten wurde angeführt durch den Premierminister, gefolgt von einer Reihe von Ministern und Politikern. „Das „General Committee", dem Felix Adler präsidierte, umfasste 930 Persönlichkeiten aus 34 Ländern, davon 71 aus Deutschland. Dominierend blieb aber das angelsächsische Element: Der Anteil der Vertreter des Empire und der Vereinigten Staaten betrug über 50 Prozent (eigene Erhebungen anhand der Teilnehmerliste [Papers 1911, S. X V I I - X L V I ] ) . Der Zweck des Kongresses bestand einfach darin, „to discuss, in the light of science and the modern conscience, the general relations subsisting between the peoples of the West and those of the East, between socalled white and so-called coloured peoples, with a view to encouraging between them a fuller understanding, the most friendly feelings, and a heartier co-operation." (Papers, 1911, S. XIII). Man war der Überzeugung, dass der herkömmliche Zustand des Misstrauens und der Abschottung einem allgemeinen Wunsche nach engerer Bekanntschaft und vertiefterer Kenntnis voneinander weichen solle, unter ausdrücklichem Ignorieren tagespolitischer Differenzen. Die Organisatoren versuchten peinlich genau, eine Nähe zu irgendwelchen politischen Programmen oder Reformen zu meiden; die Referenten konnten freilich ihre Überzeugungen frei äußern und ihre Standpunkte erläutern. Dem Generalthema waren acht Sessionen gewidmet: (1) Fundamental Considerations; (2) Conditions of Progress (General Problems); (3) Conditions of Progress (Special Problems); (4) I: Special Problems in Inter-Racial Economics; II: Peaceful Contact between Civilisations; (5) The modern Conscience in Relation to Racial Questions (General); (6) The modern Conscience in Relation to Racial Questions (The Negro and the American Indian); (7) Positive Suggestions for Promoting Inter-racial Friendliness; (8) Positive Suggestions for Promoting Inter-Racial Friendliness (cont'd). Die einzelnen Vorträge, 59 an der Zahl, sind in dem Literaturverzeichnis der Papers vollständig abgedruckt. Der Beitrag von Tönnies (genauer siehe unten S. 664 ff.) war in der vierten Session, Teil II, zu hören. Der Bericht des „Executive Council", die Resolutionen, die gefasst wurden, sowie

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die Zusammenfassung der Ansprachen und Debattenbeiträge sind im Record (s. Bibliographie) abgedruckt. Tönnies war eine der entscheidenden Bezugspersonen der Organisatoren in Deutschland. Schon relativ früh ist er in die Planungsphase einbezogen worden (Brief Spiller an Tönnies vom 17. Mai 1909, s. o.). So sollte er sich um weitere Adressen in Deutschland bemühen. Spiller schrieb Tönnies u. a.: „As a Sociologist and a friend of the Ethical Movement you are exceptionally fitted to assistance in Germany and more generally." (Brief vom 25. Oktober 1909, s. o.). Sein „freundlicher Rat wäre uns sehr erwünscht" (Spiller an Tönnies vom 22. Januar 1910). Tönnies hat diese Offerte dankbar angenommen (Spiller an Tönnies vom 4. November 1909). Am 22. Mai 1911 schrieb Spiller Tönnies, dass die Organisatoren auf ihn schauten und auf jene, die ihn, Tönnies, unterstützten, um ein lebendiges Interesse an diesem Kongress hervorzurufen und um Freunde dieser Angelegenheit zu überreden, nach London zu reisen (Spiller an Tönnies vom 22. Mai 1911). Spiller dankte Tönnies dafür, dass dieser bereit sei, für die „Ethische Kultur" einen Artikel über die Ziele des Rassenkongresses zu schreiben; dieser Artikel ist hier auf 5. 154—156 abgedruckt. Ferner hat Spiller Tönnies nahe gelegt, einen weiteren Artikel über die Arbeit des Kongresses für „Die Dokumente des Fortschritts" zu schreiben, der auch in „Les Documents du Progrès" erscheinen würde. Der Bittsteller hielt dies für extremely well (Spiller an Tönnies vom 12. September 1910). Tönnies selbst war Sekretär für Deutschland. Mit Spiller erörterte Tönnies auch die Frage, einen Ausschuss aus der Taufe zu heben, um in Deutschland, in Berlin, einen Kongress ähnlichen Charakters zu organisieren (Spiller an Tönnies vom 12. April 1911; vom 1. bzw. 20. Dezember 1911). Aus dem TönniesNachlass geht hervor, dass die Sache offenkundig bis Anfang 1913 verfolgte wurde, sich dann aber später wohl im Sande verlaufen hat.

Vorurteile gegen den Rassenkongreß

(Tönnies 1911h, hier S. 157—159)

Dieser Artikel war eine Reaktion Tönnies' auf eine Auseinandersetzung innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) über die Frage, ob er sich auf dem Kongress in London offiziell als Delegierter der Gesellschaft vorstellen dürfe. Tönnies hatte dieses in einem Schreiben an den Vorstand der DGS vom 1. Juni 1911 beantragt (Cb54.61:1.1 [Akten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie], darin die hier verwende-

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ten Materialien). Der Kongress habe zwar keinen streng wissenschaftlichen Charakter, sondern sei bestimmt durch „ethisch-humane Motive"; doch werde sein wissenschaftliches Interesse für Soziologie wie Anthropologie bedeutend sein. Tönnies hielt es „nicht für unangemessen", dass die DGS „bei dieser Gelegenheit ein Zeichen ihres Daseins" von sich gebe. Konnte sich Georg Simmel diesem Antrag gegenüber nicht verschließen (Schreiben an den Vorstand vom 4. Juni 1911), so machte insbesondere der Rassentheoretiker Alfred Ploetz massivste Vorbehalte geltend, denen sich u. a. Alfred Vierkandt und Werner Sombart anschlössen (Ploetz an den Vorstand vom 7. Juni, Rundschreiben von Vierkandt an die Vorstandsmitglieder vom 14. Juni, Sombart an den Vorstand vom 16. Juni 1911). Ploetz klassifizierte den Kongress als eine rein „philanthropische Demonstration". Er predige sowohl eine „Harmonie zwischen den Rassen" als auch die Anschauung ihrer Gleichheit; da dieser letztere Punkt aber eine wissenschaftliche Behauptung darstelle, die Wissenschaft aber herausgestellt habe, dass die Rede von der Rassengleichheit falsch sei und überdies Vertreter eben dieser gegenteiligen Meinung auf dem Kongress nicht zugelassen seien, dürfe hier eine wissenschaftliche Vereinigung nicht repräsentiert werden. Da der Kongress nur einen Anstrich von Wissenschaftlichkeit besitze, sei das Resultat, „den Leuten reichlich Sand in die Augen" zu streuen. Vierkandt kam in seiner Einwendung zu dem Schluss, dass durch eine offizielle Beteiligung der Eindruck erweckt werden könnte, „als ob wir in Fragen wie denjenigen der Rassengleichheit einen bestimmten Parteistandpunkt einnehmen". Und bei Sombart hinterließ das Programm des Kongresses „einen fürchterlichen Eindruck"; für ihn schien klar gewesen zu sein, dass es sich offensichtlich darum handele, „unangenehme Realitäten mit einem Wust von Redensarten zuzudecken", dazu habe man sich die „schlimmsten Phraseure aus aller Herren Länder" geholt. Gegen diese Insinuationen ist der Artikel von Tönnies gerichtet, insbesondere gegen die Einlassungen Ploetz', der die anderen Stellungnahmen erst induzierte. Tönnies hat der DGS-Geschäftsstelle in Berlin ein Exemplar seiner Verteidigung übermittelt (Rundschreiben des Sekretärs an die Vorstandsmitglieder vom 8. Juli 1911). Man muss diese Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt einzuordnen versuchen, dass der Rassegedanke ein Hauptgegenstand der Diskussionen auf dem ersten Kongress der D G S 1910 in Frankfurt am Main gewesen ist, auf dem Ploetz eine heftige Kontroverse ausgelöst hatte. Dazu jedoch im Einzelnen unten (S. 678 f.) an geeigneter Stelle.

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Science and Art, Literature and the Press (Tönnies 1911),

hier S. 1 6 3 - 1 7 5 )

Tönnies erhielt von Gustav Spiller im M a i 1 9 1 0 die Einladung, einen Beitrag für den Rassenkongress vorzubereiten (Spiller an Tönnies vom 2 4 . M a i 1 9 1 0 ) ; dieser sollte nicht mehr als 4 3 0 0 Wörter umfassen und bis zum 15. Dezember des Jahres eingereicht sein (vgl. ebenso Spiller an Tönnies vom 13. September und vom 2 2 . November). Der Beitrag sollte vorzugsweise auf Englisch oder Französisch geschrieben werden; aber auch in einer anderen Sprache konnte er abgeliefert werden. Tönnies sollte zum T h e m a A Word

in Explanation

sprechen, wobei sich Spiller

auf einen beigefügten Prospekt — der nicht auffindbar war — bezog. Aus einem weiteren Schreiben — wahrscheinlich wiederum von Gustav Spiller,

eigentümlicherweise

mit

dem

Datum

vom

24. Mai

1910

versehen — geht hervor, dass Tönnies dafür gedankt wurde, einen Beitrag zum T h e m a „The Press, literature, art, and science" vorzubereiten. In dem Schreiben heißt es: „All we want is a general idea of h o w far the influences referred to in the paper have grown to be international and inter-racial, and, what is of equal importance, h o w far they are tending in such a direction." A m 2 7 . April wurden Tönnies die Korrekturfahnen zugesandt, mit der Bitte, diese lediglich nach Rechtschreibung und Satzzeichen zu prüfen und sie 2 4 Stunden nach Erhalt zurückzusenden (Spiller an Tönnies vom 2 7 . April 1 9 1 1 ) . Nach Ende des Kongresses hielten es die Organisatoren für „very desir o u s " , dass der nunmehr vorliegende Band, der die Referate und Diskussionsbeiträge enthielt, in der Presse besprochen werde. Tönnies wurde vorgeschlagen, für ihn die entsprechenden Schritte zu arrangieren (Spiller an Tönnies vom 3. August 1 9 1 1 ) . Im Tönnies-Nachlass ( C b 5 4 . 4 2 : 1 5 ) findet sich ein auf Englisch abgefasstes handschriftliches M a n u s k r i p t (13 unpaginierte Blätter) mit diversen Korrekturen; es ist allerdings unvollständig und umfasst lediglich die hier abgedruckten Seiten 163 bis 168, Zeile 10 (S. 2 3 3 — 2 3 7 , Zeilen 18/ 19 des Erstdrucks). Im Unterschied zu den handschriftlichen Zusätzen

bei der Englischen Weltpolitik in englischer Beleuchtung erweckt dies Manuskript keineswegs den Eindruck, als ob eine etwaige Neubearbeitung, etwa für eine deutsche Publikation, geplant gewesen sei. Abgesehen davon gibt es auch kein H a n d e x e m p l a r Tönnies' mit möglichen Umarbeitungen, die darauf hindeuten könnten. Es handelt sich um ein M a n u skript, das die üblichen Vermerke des Urhebers enthält: Streichungen,

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Apparat

Zusätze, Umstellungen, stilistische Verbesserungen, Marginalien. Was letzteren Punkt anbelangt, so war Tönnies hierbei recht zurückhaltend. Der Text lautet auf Deutsch (Übersetzung von A. M . ) :

Wissenschaft und Kunst, Literatur und Presse „Darf man aber wohl behaupten, dass jede wissenschaftliche Frage, wo sie auch zur Sprache komme, jede gebildete Nation interessiere, wie man denn auch wohl die scientifische Welt als einen einzigen Körper betrachten darf...". Es war Goethe, der diese Worte kurz vor Ende seines Lebens schrieb, als er die Anschauungen von Geoffroy Saint-Hilaire untersuchte, die in ihrer Eigenschaft als Vorläuferin des Darwinismus heute so interessant geworden sind. Indem er so fragte, drückte der große Dichter eigentlich nur das aus, was auch die Überzeugung all jener kosmopolitischen Denker war, die im Zeitalter der Aufklärung, oder, wie es manchmal auch bezeichnet wird, im philosophischen Jahrhundert, zur Blüte kamen. Tatsächlich war es natürlich die europäische Zivilisation, die sie im Visier hatten; es war allenfalls die kaukasische oder weiße Rasse, die sie untersuchten, als sie über die Einheit der Menschheit räsonnierten. Doch brachten schon Handel und Schifffahrt entferntere Teile näher heran; von der Entdeckung Amerikas bis zur Erforschung Australiens hatte eine Anzahl abenteuerlicher und berühmter Reisen lange die eifrige Aufmerksamkeit der Europäer in Anspruch genommen und zur Erweiterung ihres Bewusstseinshorizontes beigetragen. Dies bedeutete, darüber nachzudenken, unterschiedliche Gewohnheiten und Gebräuche, Aberglauben und Religionen zu vergleichen; gleichzeitig begannen die Philosophen, im Namen des Naturrechts und der natürlichen Religion auf kühne Weise zu formulieren, was sie als das wahre Rechtssystem und das wahre Prinzip der Religion ansahen. Sie enthüllten die mannigfachen korrumpierenden und gelehrten Einflüsse in der modernen Zivilisation und setzten sich für eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Natur ein. Einfachheit erschien als bester Prüfstein für Echtheit, und was einfach und natürlich war, wurde als berechtigt erachtet, universal zu werden. Dies also führte sie dazu, verschiedene Stufen und Stadien des zivilisatorischen Lebens zu vergleichen, besonders die Gewohnheiten des bäuerlichen Lebens mit denen der großen Städte sowie die Lebensweise primitiver Stämme mit jenen Nationen, in denen Kunst und Wissenschaft, Wohlstand und Luxus dominierten. Sie ent-

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deckten, nicht ohne eine gewisse Verblüffung, antike Zivilisationen, die sich sehr von unseren eigenen unterscheiden, und sie stellten eifrig heraus, dass diese in gewisser Hinsicht den unseren überlegen seien. Selbst die Religion hörte auf, als eine wirkungsmächtige trennende Kluft betrachtet zu werden, als ob das Christentum den Gipfel moralischer Erhabenheit repräsentierte. Was lange als heidnische Unwissenheit verschmäht oder bemitleidet worden ist, kehrte sich dahin um, eine tiefgründige Weisheit zu enthalten, von der die Christen von Neuem lernen müßten, wie sie es schon von den Griechen und Römern taten. So wandte der Westen seine Augen zurück nach dem Osten, und China vermittelte bald einen überwältigenden Eindruck einer lang etablierten und gleichzeitig hoch veredelten und rationalen Zivilisation. Rationalismus war der Geist des Zeitalters, und wenn die Philosophen das Natürliche priesen, geschah dies bloß deswegen, weil die Vernunft für sie das Ziel zu haben schien, frühere Zivilisationen zu restaurieren (gegründet auf natürlicher Freiheit und Gleichheit), befreit von Vorurteilen und Aberglaube und sie danach einzurichten, mittels Regierenden, die von gerechten philosophischen Prinzipien erfüllt seien, Ziel eines allgemeinen Friedens und eines allgemeinen Glücks, das als der wahre Gegenstand geistigen und moralischen Fortschritts angesehen wurde. Sowohl Voltaire als auch Christian Wolff wiesen in diesem Geiste der Wertschätzung auf China hin, während Montesquieu und andere das große soziologische und historische Interesse an China betonten. Später nahmen Comte und seine Nachfolger das Argument des Rationalismus auf, das China als ein Modell einer geistigen und moralischen Herrschaft erscheinen ließ. In der Zwischenzeit ergossen sich die meisten verläßlichen Informationen über diese wunderbare Zivilisation aus unterschiedlichen Richtungen. Die römisch-katholische Kirche wetteiferte mit ihrem erbittertsten Gegner, der modernen Philosophie, um diese kosmopolitischen Empfindungen und Entwicklungen. Das missionarische Interesse wurde ein mächtiger Antrieb in der gründlichen Erforschung von Völkern, die so wenig Neigung zeigten, ihren angestammten Glauben und ihre eigene Moralvorstellung zugunsten der europäischen preiszugeben. Immerhin ist es den Jesuiten hoch anzurechnen — erst die Portugiesen, danach die Italiener, später hauptsächlich die Franzosen —, dass es ihnen gelang, sich den chinesischen Gewohnheiten und Bräuchen anzupassen, sogar hinsichtlich des religiösen Zeremoniells. So sind sie im Stande gewesen, einen tieferen Einblick in die wahren Quellen dieser Lebensumstände und Sitten zu gewinnen, eine Erkenntnis, die sie eifrig

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in einer Reihe von gelehrten Werken mitteilten, zur Überraschung Europas. In Bezug auf China wurden diese Missionare zu Lehrern Europas; in Gestalt von Aposteln der Wissenschaft — so M. Martin — hatten sie in Peking Fuß gefasst. Protestantische Missionare sind ihnen in dem Vorhaben gefolgt, die Fortschritte der westlichen Wissenschaft in China einwirken zu lassen. Auf der einen Seite weitete sich die Kenntnis über China beständig aus. Seit die große geographische, historische, chronologische und politische Beschreibung Chinas und der chinesischen Tartaren von Jean Baptiste du Halde im Jahre 1733 erschien, gleichsam vorbereitet durch Magellan, le Comte und Silhouette und gefolgt von den Erinnerungsschriften der Missionare in Peking über die Geschichte, die Wissenschaften, die Künste, die Sitten und Gewohnheiten der Chinesen, ist die Literatur über diesen Stoff rapide angewachsen. Die Europäer sind so jetzt in der Lage, ein allgemein anerkanntes Urteil über den Charakter und die Errungenschaften dieser gewaltigen und äußerst bemerkenswerten Nation zu fällen, Erkenntnisse, die, in den Worten von Sir Robert Douglas, lange Zeit auf nebulöse Legenden und ungewisse Gerüchte begrenzt blieben. Was über China gesagt worden ist, lässt sich in gewisser Weise auch auf Japan anwenden. Doch ist der Unterschied zwischen dem größeren und kleineren Reich hinreichend bekannt. Der Aufstieg Japans in den Rang einer modernen Nation, seine Europäisierung, ist als eine der erinnerungswürdigsten Ereignisse des letzten Jahrhunderts berühmt geworden. Das Anwachsen der Bildung, das in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten augenscheinlich gewesen ist, ging dieser erstaunlichen Entwicklung voran. Japan hat mit einer eindrucksvollen Schnelligkeit und erstaunlichem Erfolg die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften übernommen. Aber wir müssen jetzt eine Tatsache beleuchten, die in ihren Konsequenzen sogar den großartigen Aufstieg Japans vielleicht weit übersteigt. Das Erwachen Chinas zieht alle seriösen Betrachter des Fernen Ostens in den Bann. Vor einigen Jahren, vor dem Ausbruch des Boxer-Aufstandes, spielte Sir Alfred Lyall, im Gegensatz zu anderen Autoren, auf die Möglichkeit an, dass der japanische Krieg, den er als einen Wendepunkt in der chinesischen Geschichte ansah, zu einer Erneuerung anstatt zu einer Dekadenz oder Auflösung des Reiches führen könnte. Einige Jahre später, nach der Demütigung, die China durch die europäischen Mächte erfuhr, wies Sir Robert Hart, einer der wenigen Europäer, die China aus eigener langer Anschauung und sorgfältiger Beobachtung kennen, mit Nachdruck auf die „andere Denk-

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schule" hin. Es sei, so sagte er, eine sehr kleine Minorität, „aber sie ist im Wachsen begriffen, sie akzeptiert Tatsachen, sie erkennt, was den Wandel fördert, die die Augen vor dem Leben in anderen Ländern nicht verschliesst, die fragt, was von außerhalb eingeführt und auf den Baumstamm Chinas aufgepfropft werden kann, und die aufhört, Neuerungen nur deswegen zu verdammen, weil sie neu sind, oder fremde Dinge zu scheuen, bloß weil sie fremd sind." Es war in dieser besonderen Situation, dass die Kaiserwitwe entschied, auf die Reformbestrebungen zu drängen, und dass ein Erlass verkündet wurde, der besagte, dass das, was China ermangelt, am besten aufgefüllt werden kann durch das, was der Westen in Fülle besitzt. In der Tat ist Tsu Hsi, zusammen mit dem nominellen Kaiser, seitdem verschwunden; aber die Richtung der Bewegung hat sich nicht geändert. Im Gegenteil, sie hat an Stärke zugenommen, und sie scheint unmittelbar vor ihrem Erfolg zu stehen. Ihr sichtbarstes Element ist zweifelsohne ihre Forderung nach wissenschaftlicher Verbesserung, die das junge China für den Sinn empfänglich macht, nicht nur mit Japan, sondern auch mit dem stolzen Europa selbst in Wettstreit zu treten. Höhere Bildung ist die Losung des Tages im Fernen Osten, soviel wie im Vereinigten Königreich oder im Deutschen Reich. Schwärme chinesischer Studenten gehen jährlich nach Japan, wo ihnen die europäische Zivilisation und Bildung beigebracht werden; aber kleinere Gruppen zieht es auch nach Europa, meist der medizinischen Ausbildung wegen, die vom Osten immer mehr geschätzt wird. Wir verstehen, dass chinesische Studenten in Europa und Amerika zu Hunderten und in Japan zu Tausenden gezählt werden mögen. Doch sind die Ergebnisse der Ausbildung im Ausland nicht überall hinsichtlich des Ehrgeizes der Chinesen zufriedenstellend ausgefallen. Es scheint, dass sich Lokalitäten westlicher Bildung etablieren, aber es gibt ernsthafte Hürden zu überwinden. Ein waschechter chinesischer Absolvent — so wurde kürzlich in der Contemporary Review herausgestellt — scheint wahrscheinlich kein Gewicht auf europäisches oder amerikanisches Denken zu legen. Es ist zweifelhaft, aus gutem Grund, ob es dereinst eine Anzahl ausgebildeter Chinesen geben wird, um das Schicksal einer Institution in die Hand zu nehmen, wie es eine Pekinger Universität der westlichen Wissenschaft beanspruchen würde. Andererseits würde der Stolz der Mandarine gerade die Vorstellung einer fremdländischen Kontrolle mit Verachtung strafen. Deswegen ist kürzlich das Projekt einer Hongkonger Universität diskutiert worden; eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Position

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in England hat erklärt, dass dieses Projekt eine intellektuelle Entwicklung verspreche, für das es keinen Präzedenzfall gebe. Eine bedeutende Summe ist bereits für die Durchführung dieses Projektes aufgetrieben worden und ein beträchtlicher Betrag davon ist den Chinesen zugewiesen worden, von denen gesagt wurde, sie hätten diese Idee mit Enthusiasmus aufgenommen. Wenn es sich als erfolgreich erweisen sollte, dürfen wir getrost erwarten, den materiellen und moralischen Einfluß des britischen Weltreichs augenscheinlich vergrößert zu sehen; denn es würde helfen, das Englische zur Sprache der Diplomatie und der Kultur im allgemeinen im Fernen Osten zu machen, wie es bereits für den Handel der Fall ist. Kein Wunder, dass die englische Regierung, vor allem das Kolonialministerium, diesen Plan billigt und ihn kräftig befördert. Der jetzige Gouverneur von Hongkong steht mitten unter den Hauptbefürwortern. Hongkong besitzt in der Welt die beste Lage als Hafen. Von dem Projekt sagt man, es ruhe auf breiten Schultern. „Ex occidente lux", verkündete vor einiger Zeit der Gelehrte Taw Sein Ko, und es verhält sich tatsächlich so, dass im ganzen Reich Schulen und Colleges aus dem Boden sprossen, die es hoffen ließ, dass das eigentliche Erwachen Chinas begonnen hatte. Neulich beglückwünschte der Hochkommissar Tuan Fang in einer Adresse an den Missionsrat in New York die amerikanischen Missionare, den Fortschritt des chinesischen Volkes vorangetrieben zu haben. Er sagte, sie hätten das Licht der westlichen Zivilisation in jeden Winkel und jede Ecke des Reiches getragen. Die Chinesen seien ein vornehmes und das Zeremoniell verehrendes Volk, sogar einer der Führer der Reformbewegung könnte diese Worte allenfalls in einem höflichen Sinne ausgesprochen haben. Man weiss genau, dass sie im allgemeinen die Entfernung der fremden Missionare wünschen; aber dies würde sicherlich nicht die Preisgabe der ausländischen Bildung bedeuten. Europäische Wissenschaft und technische Leistungsfähigkeit werden ihren Einfluß wie in Japan vergrößern. Aber wie werden sie sich in diesen Ländern entwickeln? Werden sie zu hoher Blüte fortschreiten? Werden diese Orientalen in ihrer ungestörten Geistesfrische uns in der Verbreitung und Anwendung der Wissenschaft übertreffen? Werden sie sich durch alle Wirrnisse einer kapitalistischen Entwicklung hindurchwinden, die für uns schwierige Probleme mitsichbringt? Oder werden sie es besser können als wir, die Geister zu zähmen, die sie gerufen haben? Nicht unähnlich China und Japan sowie den kleineren Nationen, die von ihnen hinsichtlich ihrer Entfernung von der europäischen Kultur abhängen, unterscheidet sich Indien von ihnen in mehreren auffälligen

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Wesenszügen weit. Zum Ersten war es für die westliche Welt nie gänzlich unbekannt. Durch das ganze sogenannte Mittelalter verliefen die Handelsströme entlang wilder Wüsten von Indien bis zu den Häfen der Levante, dann nach Venedig und den übrigen italienischen Städten am Mittelmeer, die die Handelsbrücken für den größeren Teil Europas einnahmen. Selbstverständlich vermochten nur die edelsten Waren die Kosten auf dieser langen, langwierigen und gefährlichen Reise zu tragen. Indiens sagenumwobener Reichtum schenkte Europa die Gewürze eines tropischen Klimas und Produkte von hoch verfeinerter einheimischer Kunst, von dem es umgekehrt im allgemeinen Silber als Zahlungsmittel erhielt. Mit dem Fall Konstantinopels wurde dieser Verbindungsweg blockiert, mit dem Ergebnis, dass der europäische Handel den Seeweg in dieses geheimnisumwitterte Land zu entdecken suchte. Der Name Westindien erinnert noch an die verschiedenen Resultate dieses Kampfes. Trotz dieser frühen handelswirtschaftlichen Vorkehrungen verblieb Indien bis vor kurzem, fast wie China und Japan, unter einem Schleier des Mysteriösen verborgen. Es war alleine die britische Verwaltung, die sich darum bemühte, die vorherrschende Ignoranz der Europäer gegenüber dieser bedeutenden Region zu vermindern, die, nicht weniger als Europa selbst, eine große Zahl unterschiedlicher Länder umfasst. Zudem, wie es hinsichtlich Chinas festgestellt worden ist, so war es auch im Falle Indiens die Bewunderung, die auf einer recht unvollkommenen Kenntnis beruht, und die den Vorzug vor eingehender und scharfsinniger Erforschung bekam. In diesem Falle handelte es sich um eine besondere Bewunderung, mit einer ganz bestimmten Tendenz, die beinahe traditionell wurde. Die Religionen Indiens und die mit ihnen verknüpften philosophischen Systeme wurden seit dem 18. Jahrhundert in vermehrtem Maße europäischen Intellektuellen zugänglich und versetzte Etliche in Ehrfurcht. Aber hier war es nicht die rationalistische Tendenz, die sie wie in der Aufklärung durchdrang, sondern die romantische Reaktion auf die Vorrangstellung eines ernsten und kühlen Intellektualismus der Grund eines singulären Interesses, eines Interesses, das Indien seit Beginn des 19. Jahrhunderts so anziehend für die gelehrte Schicht werden ließ, die die Herzen der Dichter, Philosophen und Historiker mit einem Enthusiasmus erfüllte, die darin eine fast übernatürliche Weisheit in den frühen Schriften der Sanskritliteratur erblickten und manchmal von dem ursprünglichen Volk träumten, verglichen mit der Verschlechterung und dem Verfall späterer Zivilisationen. Die Glorifizierung einer toten Vergangenheit führte zu einer Voreingenommenheit gegenüber jenen davon weit entfernt exi-

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stierenden, wobei beides tief in der menschlichen Natur wurzelt. Wenn nicht die Wiege der Menschheit, die noch von der Mehrheit der Gelehrten im Heiligen Land gesehen wird, so wurde doch die Ursprungsheimat der Arier um den Himalaja herum vermutet. Die vergleichende Sprachwissenschaft wies die Identität der Wurzeln des Sanskrit mit dem Griechischen, dem Lateinischen, dem Germanischen, dem Slavischen und dem Keltischen nach. Selbst zu Max Müllers Zeit existierte, wie er festhielt, eine verschwommene Anhänglichkeit, die sich mit dem Namen Indiens verband, wenn nicht im Land seiner Herrscher, so doch in Frankreich, Deutschland und Italien, sogar in Dänemark, Schweden und Russland. Der bedeutende Orientalist verwies auf Rückerts „Weisheit des Brahmanen" als eines der schönsten Gedichte der deutschen Sprache, indem er feststellte, dass von jemandem, der Sanskrit studiert, vermutet werden darf, in die tiefen und dunklen Geheimnisse der alten Weisheiten eingeweiht zu sein. Ein gewisser Anteil dieser Zuneigung ist noch vorhanden. Wenigstens in Deutschland betrachteten die Schüler Schopenhauers, unter denen Paul Deussen mit großem Respekt erwähnt werden muss, die Vedaphilosophie und die Upanischaden als die frühesten Quellen jener ewigen Wahrheit vom Wesen und dem Schicksal der Menschheit, die, in Bezug auf sie, ihren neueren Propheten in Kant gefunden hat und vollkommener in Schopenhauers Interpretation der Welt hervorgetreten ist. Der pantheistische Zug der modernen Philosophie erweckt das pantheistische Denken Indiens. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts sagte jemand, dass der Pantheismus die geheime Religion des gebildeten Deutschen sei. Es dürfte gesagt werden, der Pantheismus sei die erklärte Religion des gebildeten Hindu. Und da pantheistische Denker immer einen Hang zum Mystizismus hatten und Mystiker häufig dem Okkultismus frönen, so überrascht es nicht zu beobachten, dass unsere Spiritualisten und sogenannten Theosophen ihre Blicke auf den heiligen Orten und auf das Tal des Ganges richteten, um ehrfurchtsvoll die Erscheinung eines verborgenen Bewußtseinsschatzes anzuschauen, von dem sie manchmal denken, sie entdeckten darin das, was esoterischer Buddhismus oder das Licht Asiens genannt wird. Der ursprüngliche Buddhismus hat auch in jüngster Zeit in Europa und Amerika eine wachsende Zahl von Anhängern gefunden, und ebenso hat es in Indien selbst eine tiefgehende Erneuerung gegeben, wovon die Maha-Bodhi-Gesellschaft in Kalkutta ein Zeugnis ist. Von diesen religiösen und metaphysischen Gesichtspunkten abgesehen, hat jedoch das Ansehen der frühen indischen Kultur den Weg für eine gelassene und kritische Erforschung des Landes

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und seiner Bewohner freigegeben, seiner Vergangenheit und Gegenwart, einschließlich der Aussicht auf ihre problematische Zukunft, zu einer sorgfältigen Untersuchung ihrer Sitten und Gebräuche, ihres Rechts, ihrer Verwaltung, ihrer religiösen und philosophischen Systeme. So hat Indien großenteils zu gewissen bedeutenden Generalisierungen beigetragen, die zu dauernden Elementen der charakteristischen modernen (obwohl in ihren Grundlagen alten) Wissenschaft, Soziologie genannt, führen. „Indien", konstatierte Sir Henry Maine schon 1875, „hat der Welt die vergleichende Philologie und vergleichende Mythologie geschenkt"; er zögerte, eine andere Wissenschaft zu benennen, der er so viele wertvolle Anregungen verdankte, und er zeigte sich unschlüssig, die vergleichende Rechtswissenschaft zu nennen, „da, sofern sie je existierte, diese weit über das Gebiet des Rechts hinausgeht". Ich glaube nicht, dass es einen triftigen Grund gibt, etwas gegen den Ausdruck vergleichende Soziologie einzuwenden, obwohl dies nicht nur die Erforschung der Frühgeschichte, der Entwicklung und des heutigen Standes des Rechts und der Institutionen bedeuten würde, sondern des sozialen Lebens überhaupt, einschließlich der Konsequenzen der angeborenen Neigungen, der Verhaltensweisen und Gebräuche, der ursprünglich übernommenen Denkweisen und Glaubensinhalte. Soziales Leben als Problem ist das Problem moralischer Existenz, das, in einem weiteren Sinne, das friedliche Dasein eines Volkes meint. Dies kann nicht verstanden werden außer von jenen, die eine wahre Einsicht in die Wechselwirkungen materieller Bedingungen und geistiger Auffassungen besitzen, die beide darin konkurrieren, das Schicksal der Menschheit zu bestimmen. Ebenso wird von Indien gesagt, es sei im Erwachen begriffen. Wir erfuhren in letzter Zeit eine ganze Menge über indische Unruhen. Es ist bemerkenswernicht meine Aufgabe, auf den politischen Aspekt dieser ten Bewegung einzugehen. Geistig und moralisch gesehen scheint ihre Bedeutung dadurch ausgedrückt zu sein, dass die Idee des Fortschritts begonnen hat, die grundlegenden Axiome durcheinanderzuwirbeln, an denen nahezu alle Orientalen bis jetzt unerschütterlich festgehalten haben. Denn diese verkörperten die Idee, dass die Vergangenheit verehrungswürdig, dass der Tradition zu gehorchen sei, dass die Menschen nichts besser tun könnten, als den moralischen Grundsätzen ihrer Ahnen zu folgen. Exponenten des Prinzips des Fortschritts neigen dazu, respektlos auf die Vergangenheit zu blicken und die Wahrheit zu vergessen, dass das Überleben eine Prüfung der Stärke und der Richtigkeit darstellt, dass organische Strukturen im allgemeinen durch Auslese der Besten gewach-

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sen sind und durch den Kampf ums Dasein, und dass dies, in weitem Maße, sowohl vom sozialen als auch vom individuellen organischen Leben abhängt. Doch bedeutet Leben selbst Wandel; und ein radikalerer Wandel bedeutet ein lebhafteres Lebensdrama, eine erneute Anpassung an neue Lebensbedingungen. Es ist dieses Fortschrittsideal, wie Sir H. Maine gezeigt hat, die die Engländer auf Indien anwandten; sie geben das weiter, was sie erhalten haben. „Es besteht kein Grund zu der Annahme" — mit diesen Worten schloß er seine erinnerungswürdige Rede, die er an der Universität Cambridge gehalten hatte — , „warum das Prinzip des Fortschritts, wenn es Zeit hat zu arbeiten, sich nicht in Indien entwickeln sollte, so wundervoll wie es in irgendeiner anderen Gesellschaft der Menschheit wirkt." Wir haben schon begonnen, einige dieser wunderbaren Wirkungen zu sehen. Indien europäisiert sich schnell, so gewaltig die Hindernisse sind, die ihm infolge seiner brahmanischen Tradition in den Weg gelegt werden. Stets finden wir die Frage nach der Auflösung der Kasten vor (was bedeutet, die niederen Kasten den oberen anzunähern), nach der Emanzipation der Frauen, der Emanzipation vom gesellschaftlichen Gebrauch der Gewohnheiten und des Aberglaubens. Das Universitätswesen hat den Effekt einer zersetzenden Institution. Ob dies, im ganzen, für gut oder schlecht gehalten wird: die Bewegung wird sich auf lange Sicht als unwiderstehlich und unwiderruflich erweisen, wobei es keine Rolle spielt, mit welch starker Reaktion sie vorübergehend rechnen muß. Alle vernünftigen Europäer werden zweifellos immer mit Bewunderung auf Indiens geistige und moralische Schätze blicken; sie werden vorbereitet sein, Teile davon von den Einwohnern dieses wunderbaren Volkes zu übernehmen; sie werden bereit sein, Angehörige des Hinduvolkes willkommen zu heißen, wann immer diese begierig darauf sind, an den Wundern unseres eigenen wissenschaftlichen und technischen Fortschritts teilzuhaben. Natürlich gilt diese Maxime für alle Rassen der menschlichen Familie. Bis jetzt haben wir nur vom Fernen Osten gesprochen, welcher mehr oder weniger das Objekt der kürzlich erfolgten Entdeckungen und westlichen Einflüsse gewesen ist, über den aber noch unvollkommene Kenntnis zu verfügen sogar unsere eigenen meisterhaften Gelehrten betroffen sind. Ganz verschieden gestaltet sind die Beziehungen Europas zum Nahen Osten und zu Nordafrika, deren historische Charakterzüge entschieden orientalisch sind. Die Wurzeln unserer eigenen Künste und Wissenschaften liegen in diesen Weltgegenden. Denn das hervorragendste Element der europäischen Kultur ist in Griechenland entwickelt worden,

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Griechenland wiederum war der Schüler Ägyptens und Asiens, obwohl sein Genius bei weitem diese in den Schatten stellte. Den Phöniziern verdankt der Westen die Erfindung der Buchstaben, den Chaldäern die Anwendung der frühen Begründungen der Astronomie, den Assyrern allgemein die Fruchtbarmachung aller semitischen Verbesserungen. In einer späteren Epoche des römischen Imperiums erhielt dieses alles aufsaugende Reich eine neue Religion, die aus einer Mixtur aus jüdischer Theologie und griechischer Philosophie oder Mystizismus bestand, wobei das Kreuz die Sonne des konkurrierenden Mithraskultes überdeckte. In der Tat wurde die Synagoge das Modell der christlichen Kirche. Die Juden haben aus unterschiedlichen Quellen einen großen Wissensanteil der antiken der modernen Welt vermittelt. Sie sind, mit ihrer erstaunlichen Kraft der Aneignung fremder Gebräuche, Sprachen und Denkweisen, schon immer die großen kosmopolitischen Vermittler gewesen. Doch im Mittelalter wurde der Einfluß der Araber stärker und systematischer; sie entwickelten auf der iberischen Halbinsel die erste verhältnismäßig wissenschaftliche Zivilisation nach dem Fall des westlichen Imperiums. Sie erneuerten und erweiterten die astronomische, geographische und physiologische Erkundung; sie trieben die medizinische Wissenschaft voran; und durch ihre Übersetzungen wurde Aristoteles dem christlichen Mittelalter vertraut gemacht. Ihre eigenen spekulativen Metaphysiker, vor allem Avicenna und Averroes, traten als kraftvolle Anreger und Fermente der mittelalterlichen Scholastik auf. Aber auch in der Mathematik und den induktiven Wissenschaften machten sie beträchtliche Fortschritte; schließlich behalten wir, unter dem Namen Algebra und Chemie (ursprünglich Alchimie), die Reste unserer Verpflichtung ihnen gegenüber. Und standen nicht die Araber in ständigem Kontakt mit China? Empfingen sie nicht ein Gutteil ihres Wissens und ihrer Institutionen von den Persern? Waren sie nicht, zusammen mit den Byzantinern, die gemeinsamen Erben der römisch-hellenistischen Welt? Und war Byzanz selbst nicht zu ihnen wie ein Pflegevater? Entdecken wir hier nicht die ursprüngliche Einheit und die gegenseitige Interdependenz der orientalischen und westlichen Wissenschaft? Sowohl in den schönen Künsten als auch in der Wissenschaft und im Handelswesen hat eine friedliche Verbindung der Rassen immer ihren Feindseligkeiten und ihrem Hass entgegen gearbeitet, weil die Menschen dazu neigen, das zu schätzen, was ihnen neu vorkommt, und fremde Errungenschaften den ihrigen als überlegen betrachten. Fremde Künstler und Handwerker sind oft eingeladen worden, Kathedralen und Paläste

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zu erbauen, Statuen zu errichten und Bilder zu malen. Herausragende Techniken und Fertigkeiten hatten schon immer die Angewohnheit, nie an festen Plätzen zu verweilen, und sogar Meister waren bereit gewesen, von anderen Meistern zu lernen. Der Handel verbreitete Vorbilder und führte diese von auswärts ein, Stilarten wurden durch andere Stilarten modifiziert — so zum Beispiel die römische Architektur durch die Mauren. Bald nach der ersten Weltumsegelung finden wir Spuren des chinesischen und japanischen Stils in der französischen und italienischen Barock-Architektur, und früh im 18. Jahrhundert kam „China" an den europäischen Höfen in Mode. Bis vor kurzem erweiterte sich der künstlerische Einfluß immer mehr, das moderne Europa verhielt sich rezeptiv und schwärmerisch in seiner Voreingenommenheit, alles Orientalische wirkte auf einen Sinn von Groteske und Bizarrheit, der manchmal sich zu einer morbiden Höhe innerhalb einer Volkskultur erhebt, möglicherweise nicht weniger im Osten als im Westen. Es trifft zu, dass die Kunst ein nationales oder zumindest ein rassisches Gepräge besitzt. Aber die Literatur, infolge ihrer intellektuellen und moralischen Bezüge, ist im wesentlichen menschlich in ihrer Art, trotz der Unterschiede der Sprachen. Es war Goethe, der den Begriff „Weltliteratur" eingeführt hatte. Indem er Herder folgte, der die „Stimmen der Völker" gesammelt hatte, bekannte er, dass seine frühere Vorliebe für das Volkstümliche im Alter nicht verschwunden ist; in der Lyrik und im Drama versuchte er, aus fremdländischen Quellen die Quintessenz des immerdaseienden Schönen zu ziehen. Er erfand die Lieder von Suleika, als Imitation der persischen Dichtkunst, und von Sakontala sagt er, dass er sich seit Jahren mit Bewunderung darin versenkt habe. Mit hoher Wertschätzung erwähnte er auch andere indische Dichtungen, und sogar das chinesische Drama oder Liedgut war seiner Aufmerksamkeit gewiss. Mit Überzeugung erklärt er, dass in dieser gegenwärtigen „bewegtesten Epoche", wenn die Kommunikation auf so großartige Weise begünstigt ist, bald eine Weltliteratur erwartet werden kann. Was würde er von unserer Zeit sagen, wenn er sogar zu seiner Zeit Zeitschriften und Zeitungen als ein Mittel der Vermittlung erwähnt, durch die eine Nation nicht allein lernen mag, was in anderen Nationen politisch passiert, sondern auch über deren Charakter des moralischen und intellektuellen Lebens erfährt? In Goethes Ansicht würde dieses vergrößerte Wissen helfen, unsere Einschätzung von Fremden erweitern, „warum wir eine Nation immer weniger achten, als sie es verdient", weil wir nur äußerliche

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Aspekte betrachten, die uns widerwärtig oder zumindest lächerlich erscheinen. Diese Worte sind heute genau so wahr wie vor über neunzig Jahren, als sie niedergeschrieben wurden. Obwohl die Kommunikation zwischen den Völkern sehr stark angewachsen ist und die Möglichkeiten sich vergrößert haben, obwohl die Presse heute von einem Ende der Welt zum anderen geht, müssen wir bekennen, dass unser Wissen kärglich ist, dass die vorhandenen Sichtweisen sogar von Staatsmännern und anderen, die entschiedenerweise zu den kultivierteren Klassen gehören, oft beschränkt sind, dass ein dummer nationalistischer Stolz und eine eben solche Ausschließlichkeit oftmals durch absurde Definitionen des nationalen Charakters unterstützt wird, durch kindische Vorurteile über Angewohnheiten und Sitten und Denkgewohnheiten, die sich von unseren eigenen unterscheiden, durch antiquierte Ansichten, die nie an der Erfahrung getestet wurden, und, vor allem, durch Ignoranz. Was muss getan werden, um die friedlichen Beziehungen zwischen den Nationen und Rassen in dieser Hinsicht stärker und effektiver zu gestalten? Ich erlaube mir, die folgenden Ratschläge zur Erreichung dieses Zieles vorzuschlagen: 1. Eine Universalsprache sollte als gemeinsame Sprache aller Kulturen geschaffen werden. Ich plädiere keinesfalls zugunsten irgendeiner Innovation, der es sogar vor einer künstlichen Sprache bange wird; aber ich glaube, dass Latein, die antike lingua doctorum, in einer neuen Form wiederbelebt werden sollte. 2. Wir sollten tun, was wir können, die Überproduktion unbedarfter Literatur in unserer eignen Sprache zu entmutigen und zu verhindern und dahin zu kommen, Übersetzungen von Meisterwerken aus allen nationalen Literaturen zu fördern. 3. Das Übersetzen selbst muß eine Kunst und als solche kultiviert werden. Übersetzungen werden zumeist auf eine plumpe und unbeholfene Art angefertigt, manchmal durch Leute, die nicht die geringsten grammatischen Kenntnisse über die Sprache besitzen, aus der sie übersetzen. 4. Das Studium der fremden Länder und Nationen sollte durch Stipendien, Reisevergütungen und andere Mittel ermutigt werden. Ein Austausch von Gastprofessoren ist weniger wert als der Austausch von Studenten. Besonders sollte es westlichen Studenten erlaubt sein, ein oder zwei Jahre im Osten zu verbringen, im Blick darauf, mit den Sprachen und Gewohnheiten der Inder, Chinesen, Japaner, Siamesen, Perser, Abes-

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sinier oder Ägypter vertraut zu werden. Keine andere Aufgabe sollte ihnen gestellt werden als diese sehr wichtige. 5. Eine internationale Akademie der sozialen und moralischen Wissenschaft muss gegründet werden, um all unsere Studien und Anstrengungen dieser Art zu bündeln. Dies würde jene Gefühle menschlicher s Solidarität und Brüderschaft begünstigen, die von allen Hochreligionen als auch von den rationalistischen und Moralphilosophien gelehrt worden ist, denen diese Religionen ihre Höherrangigkeit verdanken. 6. Eine Reorganisierung der Presse sollte, im Blick auf die Förderung freundlicherer Gefühle zwischen Nationen und Rassen, von Statten ge- 10 hen, mittels einer bewussteren Erkundung deren wahrer Verdienste und Besonderheiten; sowie eine allgemeine Wertschätzung aller vornehmen Unternehmungen hinsichtlich der moralischen und intellektuellen Verbesserung der Menschheit. (vorgelegt auf Englisch) is

[Bewegung der Eheschließungen in den Jahren 1843 bis 1907] (Tönnies 19111, hier S. 1 7 7 - 1 8 3 ) Es handelt sich bei diesem Text um einen Vortrag Tönnies' auf der konstituierenden

Versammlung

der

„Deutsche(n)

Statistische(n)

Gesell-

schaft, Abteilung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie", die am 17. Juni 1911 im alten Stadtverordnetensaal in Dresden stattgefunden hat. Es sind erste Ergebnisse seiner Forschungen zu dieser Thematik. Diese sind in dem großen Aufsatz von 1914/15 (s. u. S. 693 f.) weiter vertieft worden (vgl. auch den Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Deutschen Statistischen Gesellschaft vom 22. und 23. Oktober 1912 in Berlin, hier S. 337 f.). Die Titelgebung des Vortrags ist in der „Niederschrift der Verhandlungen" nicht einheitlich: In der Tagesordnung (S. 1 des Erstdrucks) lautet die Überschrift Die Entwickelung

ßungen im Deutschen

der

Eheschlie-

Reich. Die „Niederschrift" endet mit: Der Vorsit-

zende [Prof. v. Mayr] dankt dem Redner für seinen Vortrag und eröffnet hierauf die Diskussion. An dieser beteiligten sich Ludwig v. Bortkiewicz, Johannes Rahts, Hellmuth Wolff, Moritz Neefe, O t t o Landsberg, Johannes Feig und Emil Eugen Roesle. Über das daran sich anschließende Schlusswort Tönnies' gibt die „Niederschrift" wie folgt Aufschluss (S. 7 des Erstdruckes):

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„Professor Tönnies führt im Schlußwort aus, dass die Diskussionredner in der Hauptsache nur hervorgehoben haben, was seine Untersuchungen nicht zu geben vermögen, dass sie seiner Ansicht nach aber nicht genügend gewürdigt haben, was diese tatsächlich bieten. Dass die Unterscheidung der Eheschließenden nach Alter, Beruf, nach ihrem Wohnsitz in Stadt oder Land und nach anderen Verhältnissen für die Erkenntnis der Ursachen der Schwankungen in der Eheschließungshäufigkeit von größter Bedeutung sei, leugne er nicht. Aber wenn man diese Unterscheidungen von ihm gefordert habe, so habe man von ihm etwas verlangt, was nicht existiert, was die Statistiker vorläufig, wenigstens für das ganze deutsche Reichsgebiet und für längere Zeiträume, nicht geben können. Der Wechsel nach Perioden sei doch geradezu frappant. Daß eine periodische Bewegung der Heiratsziffern statistisch nachgewiesen und in auffälligem Einklang mit der gleichen rhythmischen Entwicklung des Wirtschaftslebens gebracht werden kann, sei doch außerordentlich bemerkenswert. Es handle sich bei seinen Untersuchungen um grosse Massenerscheinungen und Massenwirkungen, die sich bei einzelnen Gruppen von Eheschließenden sicherlich nicht finden. Auch die politischen Katastrophen, die mehr stoßweise wirken und naturgemäß in den Jahresziffern zum Ausdruck kommen, und andere Faktoren wie die Schwankungen in der Geburtenzahl, stören die regelmäßige Aufeinanderfolge der Perioden nicht. Voraussagen für die Zukunft lassen sich natürlich nicht machen und habe er auch unterlassen. Es handle sich nur um das Ergebnis statistischer Beobachtungen und Untersuchungen auf Grund des vorhandenen Tatsachenmaterials für eine ganz bestimmte Zeit. O b sich der Rhythmus auch in der Zukunft fortsetze, könne erst die Erfahrung lehren. Was die Methode der Inkremente betreffe, so liege eben ihr Vorzug darin, dass sie der Abweichung vom Durchschnitt zur zahlenmäßigen Darstellung periodischer Entwicklung nicht bedarf. Und wenn beanstandet werde, dass er die absoluten Zahlen zugrunde gelegt habe, so zeige sich ja der regelmäßige Wechsel bei den Relativziffern in noch viel auffallenderer Weise, insbesondere der Unterschied in der Häufigkeit negativer Vorzeichen auf der einen, positiver auf der anderen Seite, der sogar auch in jeder Gruppe von 16 Jahren, wenn der ganze betrachtete Zeitraum in vier solche geteilt wird, hervortrete. Keineswegs um sein Argument zu stärken, sondern lediglich, um der kritischen Erwägung willen, dass die absoluten Zahlen für sicherer gelten müssen, habe er diese in den Vordergrund gestellt."

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Tönnies betrachtete die Beschäftigung mit statistischen Problemen als eine Art Anwendungsgebiet der allgemeinen theoretischen Soziologie. Seine Lehrtätigkeit in Kiel gibt eine Vorstellung davon, wie sich Tönnies seit 1888/89 mit Themen vornehmlich aus der Moral- und Bevölkerungsstatistik auseinandergesetzt hat; so übernahm er auch die statistische Abteilung des Staatswissenschaftlichen Instituts. Auf seine (wie auch auf die Georg von Mayrs) Initiative ging die Gründung der Deutschen Statistischen Gesellschaft im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zurück. Auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Statistischen Gesellschaft ist Tönnies als Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Soziologie durch Zuwahl in den Vorstand aufgenommen worden (vgl. Niederschrift der Verhandlungen, 1913, S. 1).

[Schutz

der Schwachen]

(Tönnies 1911p, hier S. 197 — 199)

Nachdem auf dem 1. Deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main der Vorsitzende Werner Sombart die Debatte zum Vortrag von Alfred Ploetz eröffnet und einige Bemerkungen dazu gemacht hatte, meldeten sich vor Tönnies der Psychiater Robert Sommer (Giessen), Rudolf Goldscheid, Prof. Gerhart von Schulze-Gävernitz (Freiburg), Prof. Leopold von Wiese (Hannover) sowie der Reichstagsabgeordnete Dr. Heinz Potthoff. Nach Tönnies sprachen Frau Henriette Fürth (Frankfurt) sowie Max Weber, dem das Schlusswort erteilt wurde und der dabei mehrmals von Ploetz unterbrochen wurde. Schließlich ergriff nochmals Ploetz das Wort. Dieser wandte sich vehement gegen den aufkommenden Eindruck, als habe es die wissenschaftlich betriebene Hygiene mit Werturteilen zu tun, deren Erkenntnisziel die Untersuchung der kausalen Erhaltungsbedingungen des Lebens sei (Protokoll S. 157). Ploetz meinte, dass die Kritiker seiner Ansichten nicht genügend „zwischen der wahllosen Ausscheidung von Individuen und zwischen der selektorischen" unterschieden hätten (S. 158). Später ging der Referent auf die Einwände Tönnies' ein: „Ich habe jedoch gesagt, als ich den Prozeß der Auslese und Selektion in der Rasse besprochen habe: Hauptsächlich sind bei diesen Erörterungen außer den physischen auch intellektuelle und moralische Eigenschaften heranzuziehen sowie ihre Parallelen usw. ich habe das ausdrücklich betont." (S. 160). Darauf Tönnies: „ A b e r es ist nicht der mögliche Konflikt hervorgehoben worden." (ebd.). Ploetz: „Ich kann doch nicht jedesmal die Litanei wiederholen [...], dass diese Auslese nicht

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bloß mit physischen, sondern auch mit psychischen Dingen [...]" (ebd.). Tönnies: „Ich frage: War Moses Mendelssohn eine Variante?" (ebd.). Rudolf Goldscheid mischte sich an diesem Punkte ein mit der Frage: „Wäre die Gesellschaft besser daran, wenn Moses Mendelssohn ausgelesen worden wäre?" (ebd.). Ploetz verneinte und fuhr u. a. fort: „Da die einzelnen Anlagekomplexe natürlich einigermaßen unabhängig von einander sind, so kann es selbstverständlich vorkommen, dass ein Mensch von großen geistigen Gaben in einem schwachen Körper geboren wird. Aber weshalb das ein besonderer Vorteil für ihn sein soll, sehe ich nicht ein." (S. 161). Das Protokoll vermerkt hier: „(Zwischenrufe)". Tönnies antwortet auf die Einlassung Ploetzens unmittelbar: „Das sage ich ja!". Ploetz entgegnete: „Sie sagen, der heutige Zustand müsse im Grunde erhalten bleiben, damit es eine Anzahl großer Geister gibt, die in einem schlechten Körper stecken." Darauf Tönnies: „Keine Spur davon, sondern ich sage: Sie konstatieren den Konflikt, Sie sagen also, die Gesellschaft erhält die Schwachen. Ich frage: Meinen Sie damit, sie erhält die schlechthin Schwachen, oder meinen Sie, die körperlich Schwachen." Alle seien damit gemeint, so Ploetz. Tönnies: „Gewiß. Wenn sie [die Gesellschaft — A. M.] aber den physisch Schwachen erhält, so erhält sie dadurch möglicherweise auch den geistig Starken oder Gesunden." Laut Protokoll kam es zu Zwischenrufen und einer Unruhe (S. 161). Der Versammlungsleiter Sombart eröffnete daraufhin erneut die Diskussion, in die sich allerdings Tönnies nicht mehr einmischte. Sie wurde nur noch von Ploetz und Max Weber bestritten (S. 161-165).

[Das stoisch-christliche

Naturrecht]

(Tönnies 1911q, hier S. 200 — 205)

Tönnies war der Erste, der auf dem 1. Deutschen Soziologentag in Frankfurt die Rednerliste zur Diskussion über das Referat von Ernst Troeltsch eröffnete. Danach meldete sich Max Weber zu Wort, der einiges zu den Ausführungen Tönnies' sagen wolle. Tönnies habe sich „in immerhin weitgehendem Maße als Anhänger der ökonomischen Geschichtsdeutung, wie wir statt materialistische Geschichtsauffassung sagen wollen, bekannt.". Das Eingreifen ökonomischer Entwicklungen auf die religiösen Beziehungen dürfe man sich allerdings nicht so einfach vorstellen: „Ich glaube, vielleicht in letzter Linie mit Tönnies vielfach einig zu sein; aber bei dem, was er gesagt hat, lag doch in einigen seiner Bemerkungen ein Versuch, einer allzu geradlinigen Konstruktion."

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(S. 196). Darauf Tönnies: „Vorläufig!" (ebd.). Später machte Weber gegen die Ansicht Tönnies', im Mittelalter sei auf dem Boden der Städte die Kirchenauffassung durchlöchert worden, geltend, „daß die Machtstellung des Papsttums grade [...] auf den Städten ruhte [...] Die Zünfte Italiens waren das katholischste, was es überhaupt gegeben hat in der Zeit der großen Kämpfe. Der heilige Thomas und die Bettelorden waren gar nicht möglich auf einem anderen Boden als auf dem der Städte [...]" (S. 197). Der Einwurf Tönnies': „Sie [die Bauern — A. M.] revoltierten gegen den Benediktinerorden." (ebd.). Weber bestätigte dies, fügte aber hinzu: „aber vom Boden der Städte aus". Er fuhr fort: „Der hochgespannteste Kirchengedanke sowohl wie der Sektengedanke [...] sind erst auf dem Boden der Städte im Mittelalter [...]" — hier wurde er von Tönnies unterbrochen: „Die Franziskaner haben sehr bedeutende Beziehungen zu den Sekten/" (ebd.). Das sei richtig, aber schon auf die Dominikaner treffe diese Perspektive nicht mehr zu. Die Christianisierung des Mittelalters sei allein auf dem Boden der Städte erfolgt, so die These Webers in seinen nachfolgenden Ausführungen, soweit diese sich auf den Beitrag Tönnies' bezogen (S. 197—198).

Bürgerliche

und politische

Freiheit (Tönnies 1920, hier S. 223 — 236)

Diesen Text veröffentlichte Tönnies zuerst 1912; eine zweite Auflage, die sich lediglich durch eine Literaturergänzung (Albert Schäffle, Otto Bähr und Joseph v. Held, s. u.) unterschied, folgte 1914. 1920 wurde die Abhandlung erneut gedruckt; diese Fassung letzter Hand dient hier als Textgrundlage. Sie unterscheidet sich von der Ausgabe erster Hand durch die Erweiterung des Literaturverzeichnisses: Price, Observations; Schäffle, Bau u. Leben des soz. Körpers, Bähr, Rechtsstaat; Held, Staat u. Gesellschaft; Montagu, The limits of individual liberty; Hasbach, D. moderne Demokratie; Lecky, Democracy and liberty; Merkel, Fragmente zur Sozialwissenschaft sowie die Literaturangaben von Bryce, Bonucci und Tönnies. Ferner fehlen in den ersten beiden Auflagen naturgemäß alle Hinweise auf die Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 (hier S. 228 ff.) sowie der Hinweis auf die bolschewistische Revolution 1917 (hier S. 230). Wesentlicher ist die Erweiterung der dritten Auflage gegenüber den beiden ersten um zwei Passagen: „Während des Weltkrieges [...] bei öffentlichen Schaustellungen u. dgl. für zulässig erklärt" (hier S. 231 f.) und die „Schlussbetrachtung" (hier S. 233 ff.).

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In der abgedruckten Fassung nicht enthalten sind die beiden folgenden Passagen im Abschnitt A 4 („Über die Koalitionsfreiheit", im Original auf S. 233 ff.): In Deutschland stand ihnen [den modernen Betriebsformen — A. M.] das buntscheckige Vereins- und Versammlungsrecht, wie es sich in Preussen auf Grund einer Verordnung' (11. III. 1850), in mehreren Staaten durch Ausführungs-Gesetze zu den Bundestags-Beschlüssen vom 13. Juli 1854 gestaltet hatte, entgegen. Die zweite Passage ist der Schluss desselben Abschnitts (S. 245 im Original): Wenn aber die Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeitgeber dem Gewerberecht angehört, so kann dieses auch nicht umhin, die besonderen wirtschaftlichen Gefahren ins Auge zu fassen, die dem Zusammenschluss von Betrieben zu Kartellen und vollends zu monopolistischen Trusts anhaften mögen. — Die Vorstellungen von den Gefahren politischer Vereine und Versammlungen knüpften sich ehemals hauptsächlich an die Tätigkeit der Klubs in der französischen Revolution. In der Restaurationszeit nach 1815, wie in derjenigen nach 1848, wurden die Prinzipien des Polizeistaats gerade in dieser Sphäre wieder mächtig. Mit dem Erstarken der politischen Freiheit, insbesondere durch Verallgemeinerung des parlamentarischen Wahlrechts, haben aber jene Prinzipien wiederum nachgeben müssen. Schließlich enthielten die beiden früheren Auflagen den folgenden „Exkurs" (im Original auf den Seiten 245 — 246): Der Liberalismus, als politische Willens- und Gedankenrichtung, hat sich immer viel stärker für bürgerliche als für politische Freiheit interessiert; ja er hat seine Postulate lange auf jene allein bezogen. Gerade den unumschränkten und aufgeklärten Fürsten hielt er für berufen, Duldung zu üben und die Bekenntnisfreiheit, Gedankenfreiheit zu schützen; auch das durch und durch liberale volkswirtschaftliche System der Physiokraten wollte (nach Rodbertus' Ausdruck [in einem Brief an R. Meyer vom 19. August 1873, in: Rodbertus 1882: 313 - A. M.]J den Freihandel im Absolutismus'. Die Bewegung, die zum konstitutionellen Staate hinstrebte, ging unabhängig von diesen Ideen ihren Weg. Sie hatte zwar eine gemeinsame Basis in der naturrechtlichen Lehre von der Volkssouveränität und von der Begründung des Staates durch Verträge; aber praktisch

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Apparat

stärker war im 18. Jahrhundert ihre Verbindung mit den nur durch Usurpation der Monarchen verdeckten ständischen Verfassungen, daher die Beziehung auf das englische Muster, worin eine solche Verfassung sich erhalten und bedeutend entwickelt hatte. An diesem Enthusiasmus für politische Freiheit nahmen daher auch die alten herrschenden Stände, Klerus und Adel, soweit sie nicht durch die Höfe zermürbt waren, lebhaften Anteil. Und der bürgerliche Liberalismus verlangte zunächst nichts, als Gleichstellung des Bauern- und Bürgerstandes, der in der geldbesitzenden Schicht seine natürlichen Führer anerkannte, mit den alten Ständen, wenn auch von da ein kurzer Schritt zu der Forderung ging, dass sie in ihm, als dem allgemeinen nationalen Staatsbürgertum, aufund untergehen sollten. Der dritte Stand wollte dann „alles" sein und erklärte seine Versammlung als Nationalversammlung. — Gleichwohl haben in den meisten Verfassungen, die im 19. Jahrhundert gebildet wurden, die alten Herrenstände durch das Zwei-Kammern-System ihren Einfluss zu erhalten gewusst; mit den Oberhäusern dieser Art konkurrieren nur die ersten Kammern, die in den Bundesstaaten das föderative Prinzip darstellen, und eine freie Nachbildung in Gestalt des französischen ,Senats'.— Das 19. Jahrhundert ist aber, ausser durch die Restauration und ihre Kompromisse mit der Revolution, durch das Emporsteigen des Proletariats auch politisch charakterisiert, das die liberalen Prinzipien im Sinne der Volkssouveränität aufnimmt, sie also in radikaler und demokratischer Richtung erweitert. Ihm steht die politische Freiheit, d. h. ihre Verallgemeinerung, im Vordergrunde seines Strebens; mit der bürgerlichen Freiheit ist es nicht zufrieden und sieht insbesondere in der wirtschaftlichen vorzugsweise die Macht der Starken über die Schwachen, die Freiheit der Ausbeutung. Er fordert und erlangt vom Staate Schutz dagegen, und erstrebt ihre Vernichtung durch Uebergang des Bodens und des Kapitals auf die Gesamtheit; der wirtschaftlichen Freiheit setzt sich die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit entgegen. Der politischen Kräfte, die in den Massen gären, bemächtigt sich zeitweilig die Monarchie und mit ihr die alten Herrenstände, indem der Caesarismus auf Grund des ,Suffrage universel' sich etabliert, um die Bourgoisie zu drücken. So konnte die Ausdehnung der politischen Freiheit als „französische" Freiheit der „englischen" gegenübergestellt werden, jene wurde und wird — wenn demokratisch gestaltet — als Absolutismus und Willkürherrschaft (,Tyrannei') der jeweiligen Majorität bezeichnet. Die zentralisierte Verwaltung gilt als ihr hervorstechendes Merkmal, das sie mit dem fürstlichen Absolutismus gemein habe. Dagegen sagte im Sinne des

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älteren Liberalismus (und als Gedanken des Freiherrn v. Vincke) aus der Erkenntnis, dass die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe, sei die preussische Städte-Ordnung hervorgegangen [in Niebuhr: „Vorwort" zu Frhr. v. Vincke 1815: 2 — A. M.]. Diese Denkungsart führte in Frankreich Tocqueville, in Deutschland Gneist weiter. Seitdem hat aber auch in England der demokratische Gedanke und der Einfluss der Massen starke Fortschritte gemacht, wenn auch noch nicht bis zum allgemeinen Stimmrecht: neuerdings (1911) besonders durch die Beschränkung der politischen Macht des Oberhauses, wogegen diese von den heutigen englischen Konservativen, mit denen die Altliberalen verbunden sind, als Hort der bürgerlichen Freiheit behauptet wurde. Herbert Spencer verklagte die Ausdehnung der (wenn auch demokratischen) Staatsgewalt als ,neuen Toryismus' [vgl. Spencer 1884: 1 — 17 — A. M.]; Sozialismus war ihm nur ein anderes Wort dafür. Der Fortschritt des sozialistischen Gedankens hat aber bewirkt, daß sowohl die Tory- als die Whig-Partei jetzt, in Spencers Sinne, das Individuum und seine bürgerliche Freiheit gegen den Staat, und nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die Verbindungen der Individuen ausspielen, wenigstens soweit es sich um Arbeiter-Verbindungen handelt. Immer offenbarer konzentriert sich gerade in England die politische Entwicklung um den Kampf zwischen der besitzenden und der Arbeiterklasse. Andererseits begegnet sich dieser Liberalismus in der Verneinung des Staates und aller Zwangsgemeinwirtschaften mit derjenigen kommunistischen Richtung, die an die Selbsthülfe der Arbeiterklasse appelliert und im theoretischen Anarchismus ihren konsequentesten Ausdruck sucht. — In Nebenländern ist die politische Freiheit als Stimmrecht auch auf Frauen ausgedehnt worden; und diese Ausdehnung steht in England wahrscheinlich nahe bevor. Sie wird freilich zunächst eher im altliberalen und aristokratischen als im demokratischen Sinne geschehen. Aber das Fortschreiten der Demokratie wird sich auch hier als unaufhaltsam erweisen, zunächst als Kompensation, aber auch als mögliches Heilmittel gegen die von der wirtschaftlichen Entwicklung getragene Plutokratie. Die daraus entspringenden Parteikämpfe werden nur durch sittliche und intellektuelle Momente gemildert werden können.

[Judentaufen]

(Tönnies 1912e, hier S. 242—244)

In einem Brief vom 18. November 1911 informierte der Initiator Artur Landsberger Tönnies darüber, dass im Frühherbst ein „Büchlein" von

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Apparat

Werner Sombart mit dem Titel „Judentaufen" erscheinen werde, in dem dieser „auf drei ihm von mir gestellte Fragen, denen er in seinem Buche „Die Juden und das Wirtschaftsleben" aus dem Weg ging, Antwort giebt." Im Anschluss daran sollten weitere Äusserungen zu diesem Thema von einigen Persönlichkeiten abgedruckt werden. Es sei nun Sombarts und sein, Landsbergers, Wunsch, auch Tönnies möge sich der Beantwortung der gestellten Fragen nicht entziehen. Das Sombart'sche Manuskript stehe ihm „zur Einsicht jeder Zeit zur Verfügung".

Nachreden

des Kassenkongresses

(Tönnies 1912g, hier S. 247—250)

Der Artikel nimmt Bezug auf einen Beitrag des Philosophen und Pädagogen August Döring, „einer

der Senioren

der ethischen

Bewegung",

so

Tönnies: „Die ethische Bewegung und der vorjährige Rassenkongreß (in: Ethische Kultur, X X . Jg., Nr. 8, 15. April 1912, S. 5 7 - 5 8 ) . Döring hatte die Frage aufgeworfen, ob der Kongress seinem geschichtlichen Charakter, der in der internationalen ethischen Bewegung begründet sei, genügt habe. Er kritisierte, dass dieses „zukunftreiche, die Einheitlichkeit der Kultur für alle Zeiten verbürgende Prinzip der ethischen Bewegung nicht mit einem

auch

Worte zur Erwähnung gekommen ist" (S. 58). Dagegen

habe die religiöse Frage eine unverhältnismäßig weitaus größere Rolle gespielt. Am Beispiel der verschiedenen Seiten der Missionstätigkeit der christlichen Kirchen versuchte Döring in einem zweiten Schritt zu zeigen, dass die dabei zugrundegelegten Prinzipien für eine ethische Vervollkommnung aller Rassen und Völker kaum ausreichten.

Deutscher Adel im neunzehnten

Jahrhundert

(Tönnies 1912i, hier S. 2 5 9 - 2 8 6 ) Am 19. April 1912 erkundigte sich der Redakteur der „Neuen Rundschau", Samuel Saenger, bei Tönnies, ob er sich mit diesem Thema beschäftigen könne, damit der Artikel noch im Sommerheft erscheinen möge. „Das Thema ist ja eben so interessant wie zeitgemäß." Später bittet Saenger Tönnies, den Aufsatz nicht über 16 Seiten hinaus auszudehnen (Brief vom 5. Juni 1912). Am 8. Juni muss Tönnies offensichtlich den Artikel für das Augustheft in Aussicht gestellt haben; das geht jedenfalls aus einem Schreiben Saengers an Tönnies vom 9. Juni 1912 hervor.

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Saenger teilt Tönnies ferner mit, dass er den Verleger Samuel Fischer überreden wolle, das Honorar auf 300 Mark zu erhöhen. Tönnies hatte den Aufsatz noch vor Ende Juni 1912 zu Ende gebracht und ihn dem Verlag eingesandt, was Saenger „freudig überrascht" hat. Dieser schlug nun einige kleinere Änderungen, Auslassungen und Kürzungen gerade im ersten Teil des Manuskriptes vor, da nach seinem Gefühl „Ihr Material [...] nicht ganz kristallisiert" habe (Saenger an Tönnies vom 26. Juni 1912, Cb54.56). Die zweite Hälfte könne „ungefähr" so bleiben wie sie sei, besonders am Schluss würde er nichts ändern: „der ist durch die verhaltene Ironie der Kritik sehr wirksam". Der vorliegende Aufsatz werde seine Wirkung nicht verfehlen. Übrigens machte Saenger bereits in einem früheren Schreiben (vom 11. Juni 1912) Tönnies den Vorschlag, die beiden „Adels"-Artikel (vgl. hier S. 119 — 141 und S. 259 — 286) in einem Sonderdruck als selbständige Schrift bei S. Fischer erscheinen zu lassen.

Individuum

und Welt in der Neuzeit (Tönnies 1913c, hier S. 299—332)

Zu diesem Aufsatz findet sich im Nachlass Tönnies' ein Handexemplar (xt 116: Nr. 1 — 2), in welchem die Seiten 55, 60, 61, 62, 65 und 66 der Druckfassung fehlen. Die ersten beiden Blätter von Nr. 1 enthalten Aufzeichnungen, die sich wohl auf die Arbeiten Tönnies' über englische Politik beziehen; die weiteren Notizen, Anmerkungen und Varianten stammen aus den Jahren 1916 ff., wie aus diversen Datierungen einzelner Blätter hervorgeht. Nr. 2 enthält einzelne Blätter aus der 1915 erschienenen Schrift „Die historisch-geographischen Richtungen der Neuzeit", die Tönnies 1926 in seine „Soziologischen Studien und Kritiken. Zweite Sammlung" aufnahm, und die in TG 17 abgedruckt wird. Am Anfang der handschriftlichen Notizen finden sich Eintragungen, die auf die ja erfolgte Weiterbearbeitung von „Gemeinschaft und Gesellschaft" hinzudeuten scheinen. Ein paar Beispiele mögen dies illustrieren: Zu S. 39 ED (hier S. 301): Objektive u. subjektive

Allgemeinheiten.

Die subjektiven w[nd], ideellen liegen vermutlich in d[er], w.[nd] die objektiven mehr vermutlich in der Vergangenheit Jene: 1. oekonom.[isch]

Weltwirtschaft,

Weltverkehr

Zukunft,

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Apparat

2. politisch] Weltrepublik 3. geistig: Weltliteratur, Weltsprache,

Weltreligion

Zu S. 42 ED (hier S. 304f.): Die Ausdrücke des Individualismus sollen hier zuvörderst ihren allgemeinen Umrissen nach dargestellt werden. Diese dienen zugleich als Programm für die nähere Ausführung des Gedankens. Die Bewegung geht immer aus von den Herren; diese Bewegungen rufen aber notwendig Gegenbewegungen der Beherrschten hervor. Zu S. 43 ED (hier S. 305 f.): Hier sind, der Handschrift nach zu urteilen, wenigstens zwei unterschiedliche Schichten von Marginalien zu bemerken, die zeitlich unterschiedlich fixiert zu sein scheinen: 1. D. Herr 2. D. Gedrückte 3. D. Fremde I2 A: Reiche B: d. polit. Führer C. d. geistige Führer Was das Individuum

allgemein

bezeichnet

1. Bewusstheit seines Könnens, seiner Kraft und Macht 2. Denken in scharfer Scheidung von Zweck und Mitteln. 3. Beweglichkeit, Bewegung meiner selbst und seiner Machtmittel u. Absicht nach zu denken innerhalb, ausserhalb, ueber A, den sozialen Verhältnissen A,

ökonomischer

B.

politischer

Art.

Art

G. geistig-moralischer B.

Art

Typus Grundherr und Bauer = Meister u. Geselle (Lehrling) = Gläubiger und Schuldner? Fürst und Untertan = L'individu et l'Etat Geistliche Laien. (Ehe. Eltern u. Kinder)

der sozialen Samtschaften. am leichtesten herauszubekommen die Abwanderung, Auswanderung A. biologisch begründeter:

Typus Volk (Sippe,

Stamm)

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ökon. Familie polit. Volk moral. Beruf — Stand B. psychologisch:

Sprachgau, Landsm[a.nn]sch .[aft]

die interessanteste Klasse C. eigentlich soziologisch Stand C. den sozialen Verbänden A. ökonom.

Adel (Korporationen)

Typus

Klan, Dorfgemeinde Freimeister

— Zunft

[•••]

B. politi.

»

G. moral.

»

Eine Aufhebung und Umkehrung der Arbeit usw.

Gemeinwesen, „fremd" ist [..], die „Monarchie" als Gesamtheit, als Einheit z. B. die dänischen und preußischen Kirche, Orden der Differenzierung

der Teilung

Zu S. 44 ED (hier S. 307) finden sich Aufzeichnungen, von denen viele wieder getilgt worden sind. Das Meiste befaßt sich mit dem Thema der sozialen Differenzierung (vom Herrn, den Bauern, dem Gedrückten etc., wie schon hinsichtlich S. 43 ED). Z u S. 45 ED (hier S. 308 f.): Die Bulle Innocenz VIII. [Summis desiderantis] üb. d. Hexenwahn ist v. 1484. ./. Der Glaubenszwang einzubegreifen? Unglaube als Gefühl, als Verbrechen. Verbindung mit ihren Geisterwesen (Atheismus dagegen). Verpflichtung gegenüber der zunehmenden Skepsis: Der Geistliche als Herr der „Gewissen" — in gutem Glauben, aber auch ohne solchen — Die Individualität der Geistlichen — ausgebildet im Kampf u[m] die Reformation. Eifer gegen Eifer.

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Apparat

D. Jesuitenorden wurde gestiftet zu dem Zwecke die ganze Menschheit dem alleinseligmachenden Kreuz zu unterwerfen [oder: der alleinseligmachenden Kirche] d. K[öni]g g[e]g[en] d. KetzerPodest zu sitzen D.[as] Streben nach Freih[ei]t [...] 1. Fürstensouveränität 2. Gedrückte [...] 3. Fremde [...] Die Emancipationen 1. Geistliche (Klerus) — Jesuitismus — 2. d. Laie (Ketzer) 3. d. Freidenker Mann der Wissenschaft Großbürger Minister Im politischen Gebiete: a, d. Fürst — der Adlige — der (Beamte) Staatsmann b, d Untertan — der Soldat — der Staatsgläubige Im geistig-moralischen a, d.[er] Geistliche — der Richter — der Lehrer — b, d. Laie — der Anwalt — der Schriftsteller c, d. Heterodoxe — d. Parteiführer — d. Freidenker Danach folgen Exzerpte und Zitate aus der Literatur: längere Passagen aus Werner Sombarts Werk „Der moderne Kapitalismus" sowie dessen „Die Juden und das Wirtschaftsleben", Lujo Brentanos „Anfänge des modernen Kapitalismus", Georg Brodnitz' „Englische Wirtschaftsgeschichte", William Cunninghams Arbeiten „Alien Immigrants to England" und „The Progress of Capitalism in England".

[Der statistische Hochschulunterricht] (Tönnies 1913d, hier S. 3 3 3 - 3 3 6 ) Die Äusserungen Tönnies' beziehen sich auf den zweiten Punkt der Tagesordnung. Dieser Tagesordnungspunkt war dem Thema „Der statistische Hochschulunterricht" vorbehalten (Niederschrift, S. 6—14, S. 50 — 62). Dazu führte im Vorfeld der Tagung die Deutsche Statistische Gesellschaft eine Erhebung zu einer Enquête durch; die Berichtssemester waren das Sommersemester 1911 und das Wintersemester 1911/12; die

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Erhebung ist abgedruckt ebd., S. 45—49 („Ergebnisse der Umfrage über den statistischen Unterricht an den deutsch-sprachigen Hochschulen"). Die Kommission, die diese Enquete erarbeitete, wurde auf der Tagung 1911 in Dresden eingesetzt. Der von Ferdinand Schmid (Leipzig) erarbeitete Fragebogen ging an 74 Hochschullehrer, „die größtenteils bei einer Umfrage bei den Hochschulsekretariaten als Dozenten der Statistik bezeichnet worden waren." (Niederschrift 1913, S. 2). Insgesamt gab es 56 Rückmeldungen. Die Zusammenstellung der Ergebnisse erfolgte durch Dr. Hellmuth Wolff (Halle). Sein Referat — der Tagesordnungspunkt 2 vom 22. Oktober 1912 — trug den Titel „Der statistische Hochschulunterricht" und ist abgedruckt in der „Niederschrift", 1913, S. 64—66. Schmid, der als erster Referent für dieses Thema bestellt worden war (Niederschrift 1913, S. 6—11), stellte die „Folgerungen in Form von Forderungen für den statistischen Hochschulunterricht" heraus, während Wolff als zweitem bestelltem Referenten die Aufgabe übertragen worden war, „als Einleitung dazu die Ergebnisse der Statistik über den statistischen Hochschulunterricht und im Wesentlichen Ort, Art und Gegenstand der statistischen Vorlesungen" zu betrachten. (So Wolff, Niederschrift 1913, S. 64). Das Referat von Wolff soll hier nur in so weit erwähnenswert sein, als es sich auf die Kieler Situation bezog: So gehöre Kiel zu den sieben Universitäten, die ein „sog. großes Kolleg in Statistik" mit drei Stunden statistischer Vorlesungen und „dazu mindestens eine Stunde statistische Übungen" anböte (S. 64). „Einführung in die Statistik" biete Tönnies an, ebenso kündige er „separat" „Moralstatistik" (S. 65) an. Tönnies sei Vertreter einer „soziologischen Auffassung" von Statistik, einer Richtung neben einer kulturwissenschaftlichen und einer naturwissenschaftlichmathematischen. In Kiel sei die Statistik Pflichtkolleg „überhaupt nur" für die Promotion in Nationalökonomie (S. 66). Laut Umfrage las Tönnies im Sommersemester 1911 über „Moralstatistik" zweistündig, privatissime (17 Hörer), dazu „Übungen in Bevölkerungs- und Moralstatistik" zweistündig gratis (elf Hörer). Im Wintersemester 1911/12 kündigte Tönnies eine „Einführung in das Studium der Statistik" an, einstündig, privatissime (57 Hörer), ebenso „Übungen (wie oben)", zweistündig gratis (22 Hörer); vgl. Niederschrift, 1913, S. 48. Die Hörerschaft setzte sich dabei wie folgt zusammen: Von den 17 Hörern der Vorlesung über „Moralstatistik" (1911) waren acht Kameralisten, sechs Juristen, einer Mathematiker sowie zwei „Sonstige". Die 57 Hörer der „Einführung in das Studium der

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Apparat

Statistik" (1911/12) setzten sich aus 18 Kameralisten, 25 Juristen, einem Mathematiker, zwei Philosophen und elf „Sonstigen" zusammen (Niederschrift, 1913, S. 49). Das Referat von Schmid bezog sich auf eine knappe Darstellung der „vorliegenden Ergebnisse dieser Enquête (vgl. Niederschrift 1913, S. 6). Zusammengefasst brachten seine Ausführungen den beklagenswerten Zustand des statistischen Unterrichts an den deutschsprachigen Universitäten zum Ausdruck: Der Lehrumfang sei zu gering, und es würden zu wenig Prüfungen abgehalten. Dies sei im Zeichen eines „gewaltigen Aufschwungfs]" (S. 7) der statistischen Wissenschaft wie Praxis seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr hinnehmbar. Einen der Hauptgründe für diesen Zustand erblickte der Referent in dem Fehlen jeglichen statistischen Wissens innerhalb der Juristenausbildung (S. 8); daher sei an den Universitäten ein statistisches Pflichtkolleg für angehende Juristen einzurichten; dies setze allerdings voraus, dass „an allen größeren Universitäten ordentliche Lehrkanzeln für die Statistik" bestünden (S. 9). Zum Schluss seiner Rede bat Schmid die Versammlung um Annahme von Beschlüssen, die im Folgenden kurz referiert werden sollen, da nur so die Antworten Tönnies' hierzu verständlich werden: I. Die Mangelhaftigkeit des statistischen Hochschulunterrichts wird festgestellt. II. Als Abhilfemaßnahmen werden empfohlen: 1. Pflichtkolleg für Juristen (3—4 Wochenstunden); 2. Einrichtung von Lehrstühlen für Statistik an den größeren, von Extraordinariaten an kleineren Universitäten; 3. der Unterricht in Statistik soll anschaulich gehandhabt werden; 4. ausreichende Regelung des Prüfungswesens: Statistik solle für die angehenden Juristen Prüfungsfach werden; Statistik solle als Promotionsfach anerkannt werden; die Prüfungen sollen von Experten der Statistik abgenommen werden; 5. auf eine angemessene Vertretung der Statistik im übrigen Unterrichtswesen solle hingearbeitet werden; III. diese Beschlüsse sollen durch den Vorstand der Gesellschaft allen betreffenden Regierungen mit der Bitte um Berücksichtigung zugeleitet werden (ebd., S. 11). Neben Tönnies weist das Protokoll die weiteren folgenden Personen aus, die Erklärungen abgaben: Robert Wuttke (Dresden), Gustav Adolf

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Günther (Berlin), August Wilhelm Busch, Carl Ballod, Eugen Würzburger, Gustav Lange, Hellmuth Wolff. In der Diskussion empfahlen Tönnies, Wuttke und Albert Hesse die Streichung von Punkt II. 1.: Die Belastung der Juristen mit neuen Pflichtveranstaltungen führe „zu einer Art von öffentlicher Demoralisation. Wir müssen zufrieden sein, wenn den Verwaltungsjuristen der Besuch statistischer Übungen auferlegt wird." (ebd., S. 13). Ebenso beantragt Tönnies die Streichung von Punkt II.3.: Vorschläge über die Art des Unterrichts könnten nicht gemacht werden; dies müsste „dem Takt und den Prinzipien" des Dozenten überlassen

bleiben. „Ich verzichte persönlich gern auf anschauliche Hilfsmittel und will vor allen Dingen logisch denken, die Statistik kritisch aufnehmen lernen." (ebd., S. 13). Zu Punkt II.4. bemerkt Tönnies, dass die Kieler Verhältnisse befriedigend seien. Hinsichtlich der Empfehlung, eine praktische statistische Fachprüfung für die „mittleren Kanzlei- und Rechnungsbeamten" (S. 11) einzuführen, plädierte Tönnies auf Streichung des entsprechenden Passus in den Beschlüssen (S. 13). Schließlich sprach er sich für die Streichung von Punkt II.5. aus; der Absatz wurde mit 14 gegen 9 Stimmen gestrichen (ebd., S. 14). Abschließend verabschiedete die Mitgliederversammlung aufgrund des Referates von Ferdinand Schmid u. a. die folgenden Beschlüsse (vgl. Niederschrift, 1913, S. 64): „I. Die Deutsche Statistische Gesellschaft empfiehlt Nachstehendes: 1. An den größten Universitäten sollen ordentliche Lehrkanzeln für die Statistik bestehen, an den übrigen Universitäten aber etatmäßige außerordentliche Professuren für die Statistik entweder für sich oder in Verbindung mit einem verwandten Fache eingerichtet werden. 2. Der Unterricht in der Statistik soll mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet werden. 3. Das Statistische Prüfungswesen ist ausreichend zu regeln. 4. Auf eine angemessene Vertretung und Pflege der Statistik bei den volkstümlichen Hochschulkursen, den staatswissenschaftlichen Fortbildungskursen und den Forschungsinstituten ist hinzuwirken. II. Der Vorstand der Gesellschaft wird ersucht, diese Beschlüsse den betreffenden Regierungen mit der Bitte um geneigte Berücksichtigung zu übermitteln."

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Apparat

[Der Rückgang

der Geburten

und Sterbe fälle]

(Tönnies 1913e, hier S. 3 3 7 - 3 3 8 ) Diese Diskussion fand anlässlich der Mitgliederversammlung der „Deutschen Statistischen Gesellschaft" am 23. Oktober in Berlin statt. Prof. Moritz Neefe (Breslau) stellte den Antrag, eine Kommission, „bestehend aus Optimisten und Pessimisten" [im Bezug auf den Geburtenrückgang bzw. auf die Sterblichkeitsrate], einzusetzen, eine Art Sammelstelle für Literatur und amtliche Veröffentlichungen (S. 24 f.). Nach kurzer Debatte wurde der Antrag zurückgezogen. In der weiteren Diskussion meinte Karl Oldenberg gegen Tönnies, dass es sich nicht nur um „westfälische Fabrikdörfer, sondern auch um Berliner Vororte" handele (S. 25).

John Lubbock

(Tönnies 1913k, hier S. 3 5 9 - 3 6 0 )

Dieser Artikel geht auf die Anfrage des Redakteurs Samuel Saenger zurück, Tönnies solle einen „kleinen Nekrolog" auf Sir John Lubbock schreiben; er kenne ihn ja genauer. Saenger wußte freilich nicht, ob Lubbocks Lebenswerk beträchtlich genug sei, „um die Erinnerung daran über seinen Tod hinaus festzuhalten". (Cb54.56: Brief Saenger an Tönnies vom 29. Mai 1913).

Nationalgefühl

(Tönnies 1914e, hier S. 4 0 4 - 4 1 2 )

In einem Brief vom 8. Juni 1914 schrieb der Herausgeber des „Staatsbürger", Kurt A. Gerlach, dass ihn die Übersendung des Manuskripts sehr gefreut habe: „Welch echtes Zeichen seines Wertes, daß er noch heute so lebendig und zeitgemäß wirkt." Er wolle ihn gerne „bei Gelegenheit" bringen (Cb54.56). Gerlach stand mit Tönnies seinerzeit (1911 — 1915) in lebhaftestem Briefkontakt. Er zeigte sich „sehr glücklich", dass Tönnies solch eine große „Anteilnahme" am „Staatsbürger" zeige (ebd.). Gerlach war ein junger Privatdozent der Staatswissenschaften in Kiel, der Tönnies viel zu verdanken hatte. Den „Staatsbürger", den es seit 1910 gab, übernahm Gerlach vom 1. Oktober 1913 an als Herausgeber (vgl. dessen Brief an Tönnies vom 4. Sept. 1913, Cb54.56). Darin deutete Gerlach Tönnies gegenüber an („unter uns gesagt"), dass er beabsichtige,

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die Zeitschrift „in immer entschiedenere Bahnen" zu lenken; er bitte daher Tönnies um rege Mitarbeit; davon zeugen für die Jahre 1913 und 1914 fünf Beiträge aus dessen Feder (vgl. hier S. 377 ff., 394 ff.).

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung (Tönnies 1914g, hier S. 4 1 9 - 4 7 8 ) Der Text geht auf den Vortrag zurück, den Tönnies in der ersten Versammlung der Deutschen Statistischen Gesellschaft am 17. Juni 1911 in Dresden gehalten hatte (vgl. o. S. 676f.). Im Tönnies-Nachlass findet sich ein Handexemplar dieser Schrift (xt 135); die handschriftlichen Anmerkungen Tönnies' darin sind unerheblich; sie beziehen sich durchgehend auf rein zahlenmäßige Veränderungen, die der Autor wohl später angebracht hat, um seine Statistiken auf den jeweils neuesten Stand zu bringen. Von werkgeschichtlich größerem Interesse freilich ist ein Vorwort Tönnies' zur beabsichtigten Weiterführung dieses Artikels. Das Manuskript (Cb54.34) umfasst zwei maschinenschriftlich verfasste Seiten. Aus dem Kontext ergibt sich, dass dieses Vorwort nach 1919 zu Papier gebracht worden sein muss. Zu Beginn macht Tönnies geltend, dass es auf die Kriegsjahre zurückzuführen sei, dass seine Abhandlung weder damals noch seitdem irgendwelche Beachtung gefunden habe. In der von ihm für zweckmäßig erachteten Methode lasse er sich jedoch nicht beirren. Doch nun handele es sich um eine neue Ausgabe, die nicht nur Berichtigungen und Streichungen enthalte, sondern auch ein neuer Text sei hinzugekommen, der zur Erläuterung und Ergänzung diene. Die Abhandlung nehme auch in ihrer abgeänderten Fassung lediglich einen strengen wissenschaftlichen Wert in Anspruch. Tönnies wiederholt die im Text von 1914 geschriebenen, aber in der Neufassung gestrichenen Worte, daß schon das Jahr 1914 im höchsten Grad ein unregelmäßiges Jahr geworden sei. Niemand habe damals vermuten können, welchen „ungeheuren Umfang, welche Zerrüttung der Krieg haben würde, noch weniger, welch ein furchtbarer Friedenschluß [mit dem Deutschen Reich — A. M.] erfolgen" würde. Weiter schreibt Tönnies: Der unerhörte auf eine nicht erschöpfte Kriegspsychose schliessenlassende Umstand, daß der Friedenschluss in die Form eines lügenhaften [dann gestrichen] Strafprocesses gekleidet wurde ... diese himmelschreiende [später eckig eingeklammert, am linken Rand durch die Marginalie die nicht mit Ehren ersetzt] Tatsache wird sicherlich eines

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Apparat

Tages zu einer vollen Besinnung und gründlichen führen

müssen

soziale

Reform

Fehltritte

[...]. Im Deutschen Reiche sei es der richtige auf höherer

Stufenleiter

Diktates Weg,

die

wiederaufzunehmen. Manche

seien in dieser Hinsicht begangen worden, zum größten

zurückzuführen auf die Schwierigkeit stände.

Revision des

der Probleme und heftigen

Teil

Wider-

Doch bestehe kein Grund, die Hoffnung fahren zu lassen.

Soweit feststellbar, ist dieses Manuskript in der Folgezeit nie veröffentlicht worden. Vgl. zu dem veröffentlichten Artikel den Hinweis der Redaktion in: Deutsches Statistisches Zentralblatt, VII, 1915, S. 11, wo Tönnies' Studie kurz angezeigt wird. In der Anmerkung 2 heißt es dazu: „Fortsetzung und Schluß der Abhandlung hätten schon im September in Band 39 Heft 2 des ,Archivs für Sozialwissenschaft' gedruckt werden sollen. Sie enthalten Vergleichungen der nachgewiesenen Periodizität mit Periodizitäten anderer, vorzugsweise ökonomischer Art, soweit sie zu erlangen möglich gewesen ist. Durch den Krieg wurde die Publikation verzögert. Es erscheint jetzt Band 40 des ,Archivs', der zwei ,Kriegshefte' enthält. Nach deren Abschluß soll Band 39 wieder aufgenommen werden. Demnach darf im Laufe des Jahres die Publikation des ergänzenden Manuskripts erwartet werden."

Eindrücke

von Dänemark

(Tönnies 1914i, hier S. 480—484)

Dieser Text fußt auf Erlebnissen und Beobachtungen einer vierwöchigen Reise Tönnies' — zusammen mit Prof. Baron Cay von Brockdorff — nach Dänemark und Schweden, die vom 2. bis zum 26. Oktober 1914 dauerte (s. u.). Die Reise diente dazu, in den beiden neutralen nordischen Ländern auf die Wahrung der deutschen Interessen begünstigend einzuwirken. Das geht jedenfalls aus einer Erklärung des damaligen Rektors der Universität Kiel, Gerhard Ficker, vom 25. September 1914 hervor (vgl. C b 5 4 . 1 5 : 0 5 ) . Dort heißt der Rektor das gemeinsame Vorhaben der beiden Professoren gut, „in den neutralen Staaten für eine objektive Aufklärung über unsere gerechte deutsche Sache zu wirken.". Er möchte „das Unternehmen im vaterländischen Sinne gefördert wissen.". In einem weiteren Schreiben vom 5. Oktober 1914, als Tönnies bereits unterwegs war, betonte der Rektor aufs Neue, dass die Aufklärungsarbeit „qualifiziert" sein müsse. So wolle er „doch nicht glauben", dass der Minsterialdirektor Schmidt (vom preußischen Kultusminsterium,

bei

dem Tönnies, neben dem Auswärtigen Amt, wegen seiner Reise ebenfalls

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vorgesprochen hatte) die Angelegenheit nach „Objektivität" und „Nichtobjektivität" bewertet habe, wenn es sich um vaterländische Dinge handele. Es sei wohl „selbstverständlich", „daß man das Wohl des Vaterlandes zur Richtschnur macht.". Schließlich habe England die öffentliche Meinung „geradezu vergiftet". Die englische Lüge müsse aus der Welt geschaffen werden. (Cb54.56:267,ll: Rektor Ficker an Tönnies vom 5. Oktober 1914). Bereits in einem Brief an Max Weber vom 22. September 1914 hatte Tönnies angekündigt, „mit einem jüngeren Kollegen dereinst nach Skandinavien zu reisen, wo wir versuchen wollen, den feindlichen Einflüsterungen etwas entgegenzusetzen [...] Auch die Gelehrtenrepublik Deutschlands wird [...] unter dem englischen H a ß zu leiden haben, der überall unter uns zu Tage" trete. Kurt Albert Gerlach, ein enger Freund Tönnies', Mitersteller des Indexes der 2. Auflage von Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. dazu die Vorrede Tönnies') und Herausgeber der Zeitschrift „Staatsbürger" (s. u.), ist in einem Schreiben an Tönnies vom 23. September 1914, also etwa eine Woche vor Tönnies' Abreise, auf dessen Unternehmung zu sprechen gekommen. Er hat diese als einen „höchst wichtigen Plan" bezeichnet und angedeutet, mit seiner Frau Christiane „heute Abend [...] noch einmal nach[zu]denken", wie die entsprechenden Mittel beschafft werden könnten. In einem Postscriptum räumt Gerlach ein, dass es gegenwärtig schwer anginge, seinen Vater damit zu behelligen, der gerade „eine große Summe" in eine Kriegsanleihe investiert habe und dass dieser daher auf öffentliche Gelder verweisen würde. Entschieden sagt Gerlach: „Sie sind [unterstrichen im Original] kein bezahlter Agent, und das ist doch das wesentliche.". O b man aus „reichen Professoren etwas herausholen ließe", wisse er nicht (Cb54.56). Auch aus Göttingen erreichten Tönnies aufmunternde Worte. Der seinerzeitige Prorektor der Universität, C. Runge, beglückwünschte Tönnies, dass dieser eine solche Initiative ergriffen habe (Cb54.56:686,18: Schreiben vom 9. Okt. 1914). Es erscheint höchst bemerkenswert, dass Tönnies noch im Oktober 1934 in einem Bericht über die „Gründe meiner Entlassung aus dem Amte am 29. Septembr. 1933" seine nationale Gesinnung zu einem großen Teil mit dieser Skandinavienreise in Verbindung zu bringen suchte. Deswegen habe er eine jahrelang gepflegte grosse Arbeit, über die ich schon einen Verlagsvertrag im Jahre 1907 geschlossen hatte, abgebrochen. In dem Bericht heißt es weiter, dass die Reise nach Absprache mit dem damaligen Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Arthur

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Zimmermann, unternommen wurde. Für diese (und auch für spätere Reisen) habe er keinerlei Vergütung bezogen (Cb54.15:03). Folgt man dem Bericht, dann hat Tönnies auf dieser Reise den Plan für die Abfassung der Schrift über die „englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" (hier S. 11 — 109) gefasst, zu deren Vollendung er sich noch mit seiner Frau anschließend für zehn Tage in Berlin aufgehalten habe. Dem Notizkalender Tönnies' (Cb54.11:01 —30) von 1914 kann der ungefähre Verlauf der Reise entnommen werden. Soweit entzifferbar wörtlich, gelegentlich in paraphrasierter Form, wird der Reiseverlauf nachgezeichnet:

2. Okt.: abends 'A9 Ankunft in Kopenhagen. — 3. Okt.: vormittags deutsche Gesandtschaftskanzlei. — 4. Okt.: vormittags bei Anton Thomsen; nachmittags 4—6 bei Graf Brockdorff-Rantzau. — 5. Okt.: vormittags in d. Königl. Bibliothek; Besuch von Thomsen. — 6. Okt.: vormittags Besuch bei Höffding; abends 9 Uhr Kaffee beim Gesandten. — 7. Okt.: Früh 6 Uhr mit Dr. Ulrich auf Gotenburg; Frühstück bei Graf Brockdorff-Rantzau mit Prinz Wittgenstein. — 8. Okt.: Abreise nach Malmö, 1 Stunde in Malmö, um 4 Uhr in Lund. — 9. Okt.: 8.30 Uhr Reise von Lund nach Stockholm, unterwegs Lektüre von Paul Rohrbachs „Der deutsche Gedanke in der Welt". — 10. Okt.: mit Baron Brockdorff in der deutschen Gesandtschaft (vormittags), Empfang durch Herrn v. Lucius; nachmittags Empfang durch den Gesandten v. Reichenau. — 11. Okt.: vormittags im Nationalmuseum. — 12. Okt.: vormittags in der Königl. Bibliothek; nachmittags Besuch bei Pastor Fahlbeck. — 13. Okt.: vormittags in der Bibliothek; 8 Uhr abends Vortrag im großen Saal des Grand Hotel (Erfolg), ßr.[avo]s u. Beifall; Frau Danielson u. Familie, Konsul Goldbeck-Löwe u a m. — 14. Okt.: Einladung von Prof. Fahlbeck; Besuch bei Adolf Burland. — 15. Okt.: nachmittags Einführung bei Graf Douglas, abends bei Fahlbeck (dessen Geburtstag). — 16. Okt.: vormittags im Nordisk Museum; nachmittags im Nobel-Institut; 7 Uhr mit Brockdorff beim Grafen Douglas, auch Hjärne anwesend (Interessanter Abend). — 17. Okt.: mit Brockdorff nach Lund, dann nach Uppsala, nachmittags Besuch bei Hjärne, Prof. Reinhold Geijer. — 18. Okt.: vormittags Treffen mit Goldbuck-Löwe und den Deutschen aus Petersberg; halb drei Uhr Prof. Geijer; 7 Uhr Abreise nach Stockholm; Ankunft Göteborg 7 Uhr vormittags (19. Okt.); Besuch bei Minister v. Reichenau. — 19. Okt.: 1 Uhr Prof. Steffen; Unterhaltung mit Geijer u. a. über Engländer und Marx; Störung „Musik"!. — 20. Okt.: vormittags Fitger jun.

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u. sen. „Lange Gespräche"; nachmittags Abreise nach Kopenhagen; Ankunft dort 'All Uhr; Brockdorff schon abgereist. — 21. Okt.: 12 Uhr bei Höffding Frühstück; Dr. Großmann (ein Russe) nachmittags bei P.[astor/ Lampe; abends im herein deutscher Reich sangehöriger". — 22. Okt.: mittags bei P. Lampe; nachmittags in der Gesandtschaft. — 23. Okt.: vormittags Arbeit in der Bibliothek; nachmittags Besuch Höffding im Hotel. — 24. Okt.: vormittags in der Bibliothek; 2 Uhr Frühstück mit Graf Rantzau u. mit Dr. Lilienthal u. Prinz Wittgenstein; A5 Mittagessen m. Höffding. — 25. Okt.: Regenwetter; vormittags Prof. Vedel wegen des Artikels in der „Nationaltidende" [hier s. S. 703 f.] (vergebens), dann bei Dr. Thomsen. Aber z[u] Hause Brief an Vedel. — 26. Okt.: Abreise 11 Uhr durch Falster, Gedser, Warnemünde, Rostock, Lübeck; 11 Uhr in Eutin. Tönnies hat über diese Reise in einem achtseitigen Bericht (Cb 54.15:05), datiert vom 2. November 1914, adressiert an Magnifizenz! Hochgeehrte[n] Herr[n] Prorektor der Kieler Universität, Rechenschaft abgelegt. Die Ausführungen Tönnies', soweit sie dieses Vorhaben betreffen, umfassen den Teil „B." der handgeschriebenen Aufzeichnungen; darin macht Tönnies Erläuterungen über allgemeine Probleme deutscher Überzeugungsarbeit in Skandinavien und gibt gelegentliche Ratschläge. Der mit „B." bezeichnete Teil soll hier vollständig wiedergegeben werden. B. Am ersten Oktober begaben wir, d. h. Prof. Baron v. Brockdorff und ich, uns auf die Reise, trafen aber — nach langwieriger Fahrt in Militärzügen, bis zur dänischen Grenze — erst am 2ten abends in Kopenhagen ein. Unterwegs auf dänischem Boden, nahmen wir mehrfach Gelegenheit, kleinere Debatten anzuknüpfen, u. a. mit Trupps von Soldaten, die als beurlaubte Reservisten von Jütland sich nach Seeland begaben. So hatte ich eine ganz interessante Aussprache mit solchen, die aus ihrer deutsch-feindlichen Gesinnung kein Hehl machten. Als ich einige darauf aufmerksam machte, sie müßten nicht die Niederlage des Deutschen Reichs wünschen, denn es würde eine solche auch Dänemark zum Verderben sein, da wurden sie stutzig, und ließen sich erklären, wie das zu verstehen sei: i. Handel usw. — Es war unsere Absicht, in Kopenhagen eine deutsche Versammlung anzuberaumen, und den Versuch zu machen, die sehr mannigfachen Schichten von Deutschen, die dort zum großen

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Apparat

Teil seit langem, zum Bebufe gedeihlicher Wechselwirkung mit dem Vaterlande, zu organisieren. Indessen wollten wir nur im Einvernehmen mit der Gesandtschaft handeln. Am Sonntag den 4ten hatten wir eine lange Unterredung mit dem Gesandten, Herrn Grafen von BrockdorffRantzau, zu dem wir beide schon persönlich Beziehungen hatten. Seine Exzellenz überzeugte uns davon, dass unsere Gedanken in Kopenhagen nicht ausführbar seien; er gab dafür sachliche und persönliche Gründe. Vor allem sei die Lage der Deutschen in der dänischen Hauptstadt unter gegenwärtigen Zeitläuften zu schwierig; und es sei außerordentlich gefährlich, irgendwelchen Gegensatz zwischen Deutschen und Dänen auch nur anzudeuten; die Deutschen selber würden sich am meisten davor fürchten — wenn wir eine Versammlung anberaumten, so werde „niemand" kommen. Diese Ansicht wurde mir später durch Herrn P. Lampe, den sehr ortskundigen und seinerseits unermüdlich im deutschen Sinne tätigen Prediger der deutschen S. Petri-Gemeinde, durchaus bestätigt. In Folge dieser Eröffnungen haben wir also jenen Gedanken aufgegeben. Wir waren dann nur auf wenige Tage in Kopenhagen und begaben uns von da nach Schweden. Während jener Tage, und ebenso bei zweitem Aufenthalt in Kopenhagen vom 21. —25. Oktober — Herr v. Brockdorff nahm eine andere Route von Stockholm durch Schweden, und war, als ich zum 2ten Male in Kopenhagen eintraf, schon heimgereist — habe ich noch mehrere Konferenzen mit dem Kaiserlichen Gesandten gehabt, deren Gegenstand die zweckmäßige Bekämpfung der englischen Propaganda im neutralen Ausland, besonders in Skandinavien, bildete. Ebenfalls habe ich mit Herrn Pastor Lampe Beratungen gepflogen, die sich auf Zustände der Kopenhagener Deutschen bezogen. Von ihm eingeführt, wohnte ich einer Abend-Zusammenkunft des „Vereins deutscher Reichsangehöriger"bei, die nur schwach — von etwa 15 Personen — besucht war. Der Gedanke, so etwas wie eine Gesamt-Vertretung aller deutschen Vereine — es gibt davon eine große Anzahl, wenn auch nur wenige „rein deutsch" sind — zu schaffen, fand dort zwar Anklang, die Ausführung wurde aber als sehr schwierig vorgestellt und, so meinte man, müßte jedenfalls langsam vorbereitet werden. Pastor Lampe hält die Ausschließlichkeit, die durch den Namen „Verein deutscher Reichsangehöriger" ausgedrückt wird, nicht für zweckmäßig. Er meint, wenn dieser Verein „deutscher Klub" heiße, so wäre die Teilnahme viel größer, und wenn dann naturalisierte Dänen (die natürlich zahlreich sind) teilnehmen, so wäre das für die deutschen Interessen und gerade jetzt sei

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die Bekämpfung feindlicher Anstrengungen vorteilhaft. Ich kann dem nur zustimmen. Am letzten Tage vor meiner Abreise habe ich noch Gelegenheit genommen, etwas zu beginnen, was in vielen Fällen geschehen könnte und geschehen sollte, aber zum mindesten eine aufmerksame Beobachtung dänischer Zeitungen zur Voraussetzung hätte. Hier folgt nun die Schilderung einer Episode, die in einem anderen Zusammenhang mitgeteilt wird (s. u. S. 703 f.). Der Bericht fährt dann mit der Schilderung der Begebenheiten in Schweden fort: Auch in Stockholm fanden wir eine freundliche Aufnahme bei dem Kaiserlichen Gesandten, Herrn von Reichenau. Seine Exz• hieß die Veranstaltung eines Vortragsabends willkommen, und half dazu, indem er veranlaßte, daß die „deutsche Gesellschaft" zu dem Abend des 13ten Oktober ihre Damen mitbrachte, und dass die deutsch-schwedische Vereinigung mit ihren Damen zu diesem Abende eingeladen wurde. Wir hatten mit dieser Vereinigung einen besonderen Abend ins Auge gefaßt, und Baron Brockdorff, der schon einen Tag früher als ich in Stockholm eingetroffen war, hatte Vorbereitungen dazu geschaffen. Dann aber wurde bekannt, daß die „Deutsch-Schweden" durch ihren Vorstand mit der französisch-schwedischen Union eben ein Abkommen getroffen hatte, dass beide während des Krieges von Kundgebungen irgendwelcher Art absehen wollten. So blieb es bei dem einen Abend, der in sehr befriedigender Weise verlief. Wir waren von der deutschen Gesellschaft zum Essen geladen, nachher fanden dann in dem glänzenden Saale des Grand Hotel die Vorträge statt. Der Gesandte hatte gewünscht, daß diese keine politische Färbung hätten. Ich sprach zuerst über die schwedisch-deutschen Handelsbeziehungen und deren neuere Entwicklung, über den Handelsvertrag von 1906, die Ausfuhr schwedischer Erze, um dann auf die allgemeinen und alten Kulturbeziehungen zwischen Schweden und Deutschland einzugehen. Baron Brockdorff führte dies näher aus in betreff literarischer und künstlerischer, auch pädagogischer Beziehungen, und knüpfte daran eine packende Darstellung des deutschen Geistes der Ordnung und Zucht, nach seinen eigenen Beobachtungen während der Mobilisierungs-Tage; dies letzte Stück riß den größten Teil der Versammlung zu lebhafter Begeisterung fort. Aber auch sonst wurde uns starker Beifall zu Teil, der auch nachher, von vielen einzelnen Personen in Form persönlichen Dankes ausgesprochen wurde. Auch Exz. von Reichenau, der die Versammlung leitete, gab diesem Ausdruck. Unter den etwa 300

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Anwesenden waren auch der deutsche General- und der Vizekonsul, auch eine Reihe von hoch angesehenen Schweden, als Prof. Montelius, Prof. Hjaerne, General von Geijer u. a. Alle Stockholmer Zeitungen brachten z. T. ausführliche Berichte.— Ich hätte nun sehr gewünscht, auch mit anderen deutschen Kreisen der Stockholmer Bevölkerung in Verbindung zu treten. Leider erwies sich unsere Zeit als zu knapp, und diese war wieder durch unsere knappen Mittel bedingt. So haben wir, zumeist jeder für sich, uns begnügt, einzelne persönliche Beziehungen zu pflegen. Ich besuchte noch den mir von 1904 aus Amerika bekannten Naturforscher Svante Arrhenius und den früheren Professor zu Lund, Pontus Fahlbeck, der jetzt in der Nähe von Stockholm wohnt. Bei Fahlbeck brachte ich auch einen Abend zu. An ihm lernte ich einen besonders warmen Freund der Deutschen und des Deutschtums kennen. Er gab mir einen Abdruck seines Artikels aus dem von ihm herausgegebenen „Statsvetenskapling Tidskrift". Dieser Artikel, der ohne für jetzt ein Heraustreten aus der Neutralität zu befürworten, prinzipiell den vor etwa 2 Jahren von Fahlbeck in die Debatte geworfenen Gedanken eines Anschlusses ans Deutsche Reich (den „Dreibund"), der „Allianz" festhält, gab Anlaß zu einer Interpellation in der zweiten schwedischen Kammer. Wir wurden zusammen noch empfangen vom Reichsmarschall, früheren Minister des Auswärtigen, dem Grafen Douglas, an den wir von Berlin aus eine private Einführung erhalten hatten. Tönnies spielt hier auf ein Empfehlungsschreiben von Ernst Sander vom 5. Oktober 1914 an, der über Graf Douglas-Langenstein, den Sohn des Reichsmarschalls, die Verbindung angebahnt hatte; auch hat Sander Tönnies ersucht, den schwedischen Kultusminster Dr. Westman aufzusuchen (Cb54.56:698: Sander an Tönnies vom 5. Oktober 1914). Der Empfang wäre schon früher geschehen, wenn nicht GrafD. abwesend gewesen wäre. Wir wurden noch auf den Abend des 16ten, des letzten, den wir in Stockholm zubrachten, eingeladen, und trafen dort eine Reihe von Würdenträgern, u. a. den gegenwärtigen Kultusminister Dr. Westmann, und den früheren Minister, auch vorm. Gesandten in Berlin, Herrn Trotta [?]. Mehrere dieser Herren nahmen Gelegenheit, uns auf die von ihnen bedauerte Verstimmung hinzuweisen, die durch das Aufbringen schwedischer Holzschiffe verursacht wurde; dies machte um so mehr Eindruck auf uns, da die Gesellschaft ausgesprochen deutschfreundlich war, Hr. Graf Douglas nennt sich sogar einen „Deutschen" (er ist im Badischen geboren); es wurde uns versichert, daß unser

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Editorischer Bericht

Vortragsabend auch in weiteren Kreisen, die nur durch die Zeitungen und durch persönliche Mitteilungen davon erfuhren, einen guten Eindruck gemacht habe.— Ich hielt es für geboten, von dem Inhalte der Gespräche, in Betreff des Verfahrens gegen schwedische Schiffe, dem kaiserlichen Gesandten, Kenntnis durch ein Schreiben zu geben. Wie sehr es einsehenswert war, eine rasche Reparatur eintreten zu lassen, — die dann auch geschehen ist — erfuhr ich auch in Gotenburg, das ich auf der Rückreise nach Kopenhagen berührte (mein Reisegefährte war schon vorher dort gewesen), durch ein langes Gespräch mit Herrn Fitger sen., einem deutschen Kaufmann aus Bremen, der seit 30 Jahren in Gotenburg ansässig, nunmehr mit jugendlichem Eifer die deutschen Interessen vertritt; er hat sich in eine Polemik über den Gegenstand (jene Aufbringung) mit der deutschfeindlichen Göteborg Posten eingelassen, und sandte mir seine gut geschriebene Widerlegung der Anschuldigungen, die von dieser Zeitung losgelassen waren.— In Uppsala, wohin ich mich zunächst von Stockholm begab ( während Brockdorff nach Lund gereist war), besuchte ich die emeritierten Professoren Hjaerne und Geijer, und hatte besonders mit dem Erstgenannten lange, für mich förderliche Unterredungen. Hjaerne gilt als ein vorzüglicher Kenner Rußlands und der russischen Geschichte. Er glaubte, daß die Russen bald „mit ihrem Latein zu Ende" sein würden. Ew. Magnif. sehr ergebener

Ferdinand

Tönnies

In Stockholm hielt Tönnies, neben von Brockdorff, der über die Zusammenhänge mit der schwedischen Kultur sprach, am 13. Oktober einen Vortrag, der auf die handelspolitischen Zusammenhänge zwischen Schweden und Deutschland, aber auch auf die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Nationen einging. Über diese beiden Vorträge berichtete der schwedische Korrespondent der „Vossischen Zeitung", Dr. Paul Müller-Heymer, in der Ausgabe vom 13. Dezember 1914 (Sonntagsbeilage No. 50 zur Vossischen Zeitung No. 633) unter dem Titel „Deutschschwedische Kultur- und Handelsbeziehungen". Von Tönnies' Vortrag liegt ein handschriftliches Manuskript aus dem Nachlass vor (Cb54.42:12). Bei dem handschriftlichen Manuskript Tönnies' handelt es sich um 8 Blätter (4°). Die obere Hälfte des ersten — unpaginierten — Blattes enthält Berechnungen, die sich offenkundig auf den Stockholmer Vortrag bezogen haben und die hier weggelassen werden, sowie einen Literaturhinweis: Aperçus statistiques intern.x Gustav Sundbärg. ii année. Stockh. 1908. Eine Überschrift fehlt, der handschriftliche Text be-

702

Apparat

ginnt in der Mitte des ersten Blattes mit dem Satz Das Deutsche und das K[öni]gr.[eich] Schweden parallele

zeigen

in mancher

Reich

Bezieh[un]g

die

Ein Abdruck des Manuskriptes ist im „Tönnies-

Entwicklung.

Forum" vorgesehen. Müller-Heymer hat aus Tönnies' Manuskript für seinen Bericht weite Passagen verwendet, soweit diese sich auf die wirtschaftlichen und handelspolitischen Aspekte von Tönnies' Rede bezogen. Die Bemerkungen Tönnies' zur Kulturgeschichte und -politik sind in dem Zeitungsbericht weggelassen worden, mit großer

Wahrscheinlichkeit

deshalb, weil ja Brockdorff-Rantzau schon darüber referiert und MüllerHymer darüber ebenfalls informiert hatte. Tönnies führte hierzu aus, daß aus dem Handelsverkehr der persönliche Verkehr erwachse, wenn die Bedingungen günstig seien. Die Schleswig-Holsteiner fühlten einen starken Zug nach herrliche

Halbinsel

Skandinavien. besuchen,

Kein ohne

Schleswig-Holsteiner

wird

nicht nur von Bewunderung

diese für

die

erhabene

Natur, die sie in sich birgt, für dies stolze glänzende

sondern

auch

werden.

Die Schleswig-Holsteiner würden — dank unserer verwandten

von lebhafter

Sympathie

für seine

Bewohner

Stockholm, erfüllt

zu

Volkssprache — viel leichter ein Verständnis des schwedischen Idioms und daher wohl auch seines reichen Schrifttums aufbringen. Diese Kulturbeziehungen seien älteren Datums, wohl seit der Kirchenspaltung. Daran schließen sich Äußerungen über die Bedeutung Gustav Adolfs in den deutsch-schwedischen Beziehungen an (Cb54.42:12).

Der Friede

(Tönnies 1914j, hier S. 4 8 5 - 4 9 1 )

Ursprünglich bot Tönnies diesen Artikel, der im November 1914 in der Zeitschrift „Deutsche Arbeit" erschien, der „Neuen Rundschau", in der er während der Jahre 1908 bis 1917 bevorzugt politische Themen veröffentlichte, zum Abdruck an, jedoch lehnte deren Redakteur Samuel Saenger ihn ab: Die Stimmung und die Verhältnisse würden leider nicht nach Frieden aussehen, „und ich fürchte, dass Ihre Hindeutungen auf die Möglichkeiten eines vernünftigen Friedens von der grausamen Logik der Tatsachen nicht angenommen werden." Wohl ließe sich „in einigen Wochen" übersehen, ob es publizistisch angebracht sei, „sich grundsätzlich mit dem Frieden zu befassen." (Brief Saenger an Tönnies vom 17. September 1914, C b 5 4 . 5 6 ) .

Editorischer Bericht

703

Aus einem Kriegsbriefwechsel (Tönnies 1915y, hier S. 497—506) Diesen „Kriegsbriefwechsel" führte Tönnies mit dem dänischen Gelehrten Valdemar Vedel, jenem „Professor der Kopenhagener Universität" (s. den Text oben S. 497); die Äußerungen von Peter Nansen in deutscher Sprache erschienen zuerst im Berliner Tageblatt vom 19. 10. 1914 (Abendausgabe, Nr. 532, 43. Jg.), erneut in „Deutsche Arbeit", 14. Jg., 1914/1915, S. 2 4 4 - 2 4 8 (vgl. Bibliographie). Hermann Ulimann, der Schriftleiter der „Deutschen Arbeit", hatte Tönnies bereits im November 1914 gebeten, „etwas über die nordischen Erfahrungen" in der Zeitschrift zu berichten (Cb 54.56: 838: Ulimann an Tönnies vom 17. November 1914). Der Artikel Vedels in der Kopenhagener Zeitung „Nationaltidende" war nicht erhältlich. In dem erwähnten Bericht an den Kieler Universitätsrektor (s.o., S. 697 ff.) führt Tönnies zu dieser Angelegenheit aus: In der angesehenen Nationaltidende vom 24. Oktober fand ich nämlich einen langen Artikel, verfaßt von dem mir persönlich etwas bekannten Professor Valdemar Vedel über und gegen im Berl.[iner/ Tagebl.[att/ bekannt gewordenen Auslassungen des Professors und Schriftstellers Pes ter Nansen. Ich suchte daraufhin am folgenden Tage /am 25. Oktober, s. o.] den Prof. Vedel persönlich auf, und da ich ihn verfehlte, schrieb ich ihm einen ausführlichen Brief, der sich mit den (von ihm ange..) Themen: preußischen und deutsche Verfassung, Belgien, deutsche Kriegspartei, nordschleswigsche Frage, beschäftigte. Heimgekehrt erhielt IO ich von ihm eine höfliche knappe Antwort, auf die ich nun eine — noch nicht abgesandte — eingehende Erwiderung geschrieben habe. Ich glaube, daß meine Argumente des Eindruckes nicht ganz verhehlen werden. Auf den Aufsatz von Tönnies antwortete Vedel zweimal. Auf einer Postkarte vom 27. Oktober 1914 stellte er klar fest, dass „die Verhältnisse einen fruchtbaren Meinungsaustausch wohl kaum gestatten" würden (Cb54.56). Es sei ihm „unmöglich", „die Beweise wegen B.felgien] für mehr als Vermutungen" zu halten. Ebenso sei es ihm „unmöglich, eine wirkliche ,Notlage' im juristischen und sittlichen Verstände" anzuerkennen. Tönnies könne ferner nicht bestreiten, dass die preußische Regierung und deren höchste Spitze „verfassungsmäßig und namentlich tatsächlich" „der Mehrheit des Volkes ziemlich unabhängig gegenüberstehe und dass auch die höchste Reichsregierungsmacht, von diesem

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Apparat

preussischen Geiste beseelt, tatsächlich namentlich in der Aussenpolitik, eine viel grössere Machtvollkommenheit als die Regierungsspitze der parlamentarisch-constitutionellen Länder innehabe." In einem längeren Schreiben vom 10. November 1914 verdeutlicht Vedel nochmals seine kritischen Bemerkungen zu Tönnies' Aufsatz (Cb54.56): Er halte es für einen Anschlag auf seine Menschenwürde, einem unverantwortlich agierenden Staatsoberhaupt wie dem Deutschen Kaiser Vertrauen entgegenzubringen und von solch einem „Machthaber abhängig zu sein". Den Überfall auf Belgien nennt Vedel „schrecklich" bzw. „ein so unmenschliches Zertrampeln einer kleinen Nation" und durch nichts zu rechtfertigen. Auch von so etwas wie einer „Notlage" für das Deutsche Reich könne nicht gesprochen werden; man könne dem Stärkeren kein „Expansionsrecht" einräumen, dies würde uns „in den Zustand des rechtlosen, nackten Kampfes ums Dasein" zurückwerfen. Auch ziehe das Argument nicht, Belgien sei kein „historischer Staat", eher eine Frucht englischer Politik. Schließlich stellt Vedel die Frage, ob es wirklich ein geltendes „Recht des Krieges" gebe, vergleichbar der „sittlich-praktischen Berechtigung mit der Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft".

Der letzte Sprung des alten Löwen (Tönnies 1915c, hier S. 507 — 510) Die Redaktion der „Deutschen Arbeit" war sehr darum bemüht, von Tönnies Übersetzungen aus dem „New Statesman" zu bekommen und abzudrucken, sofern entsprechende Artikel in dieser Zeitschrift sich kritisch mit der englischen Politik befasst hatten. „Solche Übersetzungen werden immer sehr willkommen sein", schrieb Hermann Ullmann, der leitende Redakteur, am 19. Februar 1915 (und wiederholt später) anlässlich der Übersendung des Shaw'schen Artikels an Tönnies. Er könne sich in dieser Knappheit keine wirksamere Aufklärung denken „(die dabei durch ihren streng sachlichen Ton wohltuend von manchen anderen [...] absticht)" (Cb54.56:05). Der Abdruck dieses Artikels muss in Deutschland wohl große Wellen geschlagen haben und durch die ganze Presse gegangen sein, wenn man den Worten Ulimanns an Tönnies vom 8. Mai 1915 Glauben schenken will (Cb54.56:06; vgl. auch das Schreiben Ulimanns vom 9. Juni 1915, Cb54.56:07). Tönnies, der Shaws Reaktion auf den „authentischen Teil des französischen Gelbbuches" — das nämlich das wahre Gesicht des „alten britischen Löwen" (siehe hier S. 507) zeigt, „der nun seinen letzten, schreck-

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lichsten und herrlichsten Sprung tut" (ebd.), diesmal gegen den gefährlichen Nebenbuhler aus Deutschland — in Deutschland in der Übersetzung seines Mitarbeiters Heinrich Hennings zugänglich machte, konnte es sich nicht versagen, sein Vorwort zu dem Shawschen „Poem" um einige Anmerkungen zu einzelnen Passagen kritisch zu erweitern. Zu Shaws, Aussage „Er [der 'Löwe' — A. M.] hörte in der Ferne ein Lied: ,Deutschland, Deutschland über alles'" merkt Tönnies an: „Wie es scheint, teilt Shaw das im Auslände verbreitete kindische Mißverständnis, als ob dieser harmlose Vers eine andere Bedeutung hätte, als die einer Liebeserklärung ans Vaterland!" (S. 508). Shaw schrieb weiterhin: „er [der Nebenbuhler — A. M.] strebte offen nach der Herrschaft zur See" — dazu Tönnies' Fußnote: „Eine unrichtige Behauptung, wie immer man über die Flottenrüstungen denken mag." (ebd.). — Shaw: Der englische Premierminister Asquith und der Außenminister Grey hätten „mit gutem Gewissen der Welt die Versicherung" gegeben, „daß der Löwe nicht verpflichtet sei, Frankreich und Rußland zu helfen, wenn einmal der große Tag der Abrechnung käme." (S. 509). Dazu Tönnies: „Im Original , des Armageddon, eine biblische Anspielung. Man begreift, dass solche in England besser als bei uns verstanden werden." (ebd.). Indem sich England auf Deutschland geworfen hatte — nachdem sich Österreich auf Serbien, Rußland auf Österreich und Deutschland auf Frankreich geworfen habe —, habe sich der ,Löwe' „mit mächtigem Gebrüll" erhoben und „blitzschnell" „mit seinen Zähnen und Klauen Englands Nebenbuhler" gepackt „und wird ihn nun ... nicht eher loslassen, als bis er ihn erwürgt oder ihn wieder auf sein Waterloo-Postament gesetzt hat." Dies sei das „Heldengedicht des Gelbbuches" (S. 510). Shaw meinte nun, „daß des Löwen letzter Kampf der schönste von allen sein möge und Deutschland der letzte Feind, der überwältigt wird." Tönnies dazu polemisch: „Sehr gütig, werter Herr Shaw. Sie werden aber zugeben, daß im Kampfe zwischen Menschen und wilden Tieren der Mensch es ist, der die Oberhand zu behalten pflegt." (ebd. S. 510). Das „Gelbbuch" wurde übrigens von der französischen Regierung nach Beginn des Krieges 1914 herausgegeben, um ihre Aktionen in einem günstigen Lichte erscheinen zu lassen. Alle unmittelbar am Krieg beteiligten Nationen — Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland, England, Belgien, Serbien — suchten in ihren jeweiligen Veröffentlichungen von selektiertem Aktenmaterial (so genannten „Farbbüchern") die Öffentlichkeit über ihre „Unschuld" an der Entstehung des Krieges zu „unterrichten"; tatsächlich dienten sie aber der propagandistischen Beeinflussung.

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Apparat

/Englische

Weltpolitik] (Tönnies 1915d, hier S. 5 1 1 - 5 1 8 )

Die Reaktion von Tönnies bezieht sich auf die Kritik von Karl Kautsky in der „Neuen Zeit" vom 27. 8. 1915: Tönnies lasse die „englische Beleuchtung" „durch geschwärztes Glas gehen und" weise „dann auf ihre Düsterkeit hin." (S. 701). Seiner Ansicht nach habe der von Tönnies ausführlich zitierte Seeley „nicht die besondere Politik Englands, sondern die Politik einer besonderen Periode" beschrieben. Habe Seeley die Weltpolitik Englands mit der anderer Staaten verglichen, so sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass niemand sich durch moralische Skrupel habe beunruhigen lassen, „aber daß die [Skrupel — A. M.] der Konkurrenten Englands noch fragwürdiger gewesen sei." (S. 701). Kautsky hatte weiterhin kritisiert, dass „bloße Urteile", wie sie Tönnies gesammelt habe, keine „Beweise" seien, „sie können nicht Argumente, sondern nur Objekte der Wissenschaft sein." Denn, so Kautsky: „Aber selbst wenn die englischen Stimmen, auf die er sich beruft, bezeugten, was sie nicht bezeugen wollen; wenn sie die englische Weltpolitik nicht deshalb verurteilten, weil sie Folgen zeitigte, die jede Weltpolitik zeitigen muß, sondern deshalb, weil Weltpolitik, von Engländern betrieben, eine besonders schurkische Form dieser Politik wird, was würde das an sich schon bezeugen?" (S. 701). Als solche, also als Objekte, seien „die scharfen Urteile vieler Engländer über die äußere Politik ihrer jeweiligen Regierung allerdings bemerkenswert", wenn man die radikale Opposition der englischen Radikalen betrachte; denn diese ,englische Beleuchtung' der englischen Weltpolitik (werfe) durchaus kein düsteres Licht auf das englische Volk [...], vielmehr die Selbständigkeit und Energie seiner Opposition auch während des Krieges aufs hellste erstrahlen" lasse. (S. 701). Diese Seite der Frage sei Tönnies nicht bewusst geworden (S. 702). Nur einmal sei er aus der Rolle des Anklägers in die des Verteidigers gedrängt worden, und zwar im Falle des Bruchs der dänischen Neutralität 1807. Kautsky zitierte dabei — als eine Entlastung Englands — aus dem Werk des deutschen Historikers Wilhelm Oncken, „Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreichs und der Befreiungskriege", in dem Verständnis für die englische Haltung aufgebracht worden war (S. 702). Kautsky schrieb zu diesem Neutralitätsbruch: „Neutralitätsbrüche sind keine Seltenheit in der Geschichte. Einzig steht jedoch diese Verurteilung da, die ein von England verübter Neutralitätsbruch in England selbst fand. Diese Art ,englischer Beleuchtung' der ,englischen Weltpolitik' ist sicher eine außerordentliche Erscheinung. Sie scheint ein anderes Licht zu werfen,

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als Tönnies lieb ist. Er vertraut nicht darauf, daß sie für sich allein die gewünschte Wirkung hervorrufen werde, und fühlt sich plötzlich gedrängt, eine Verteidigung des jüngsten deutschen Vorgehens in Belgien anzuschließen." (S. 703). Eine „sonderbare Theorie" findet es Kautsky, dass Tönnies von einem Durchzugsrecht von Kriegsparteien durch neutrales Gebiet ausgegangen sei (bei Tönnies im ED S. 39, hier S. 61 f.). Habe Tönnies eigentlich überlegt, „welches die Konsequenzen dieser Lehre [seien]? Die Schweiz liegt im Zentrum Europas, so, daß Frankreich, wenn es im Krieg mit Oesterreich ist, diesem nur auf dem Wege durch die Schweiz ,beikommen' kann [...] Will Tönnies für diese Fälle ein Durchzugsrecht durch den neutralen Staat behaupten?" (S. 703). Warum müsse dann Deutschland durch Belgien marschieren, grenze dies doch unmittelbar an? Tönnies habe als Begründung auf die französischen Maasbefestigungen verwiesen (hier S. 62): „Wieso unser friedlicher Professor der Staatswissenschaften in Kiel zu dieser genauen Kenntnis der französischen Maasbefestigungen kommt, teilt er uns nicht mit." (S. 704). Kein Militär würde eine so positive Behauptung wagen. Nach Tönnies habe man das Recht auf Durchzug durch neutrales Gebiet, wenn Befestigungen des Feindes auftauchten, deren frontale Bezwingung nicht sicher sei. „Wenn die Engländer der Ueberzeugung sind, sie könnten den deutschen Stellungen in Flandern und Nordfrankreich ,gar nicht beikommen' [ED S. 39, hier S. 62 — A. M.], es sei denn, dass sie an der holländischen Scheidemündung eine Armee landeten und sie durch Holland marschieren ließen, dann gibt Tönnies den Engländern dieses Recht." Kautsky fährt unmittelbar fort: „Diese Konsequenzen liegen auf der Hand für jeden, der ein bißchen über das Bereich seiner Nase hinausblickt. Und weiter blicken ist gerade die Aufgabe des Theoretikers." (S. 704). Er solle nicht als Advokat einer Sache auftreten, sondern als Forscher sich der Wahrheit verpflichtet fühlen. Überall habe der Krieg unter den Gelehrten das Forscherinteresse erstickt, „und das advokatorische Bedürfnis zur Alleinherrschaft unter ihnen gebracht." (S. 704). Damit würden sie aber tief unter jene Praktiker herabsinken, die sich bisher von theoretischem Interesse freizuhalten wussten. „Sie werden jetzt die kurzsichtigsten von allen." (ebd.). Der Praktiker hingegen, selbst der „kurzsichtigste", würde „objektiver und vielseitiger als der Theoretiker" sein, „der nur mit Abstraktionen", aber nicht mit konkreten Widerständen oder mit „wechselnden Faktoren" rechnen würde. Werde ein Theo-

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Apparat

retiker „kurzsichtig", dann würde er in ein „Extrem von Einseitigkeit und Verblendung" geraten. Kautsky erklärt sich so, „dass gerade die Professoren in diesem Kriege eine Fülle von Verkehrtheiten zutage gefördert haben [...] Das gilt selbst für die Besten unter den Professoren." Seine Kritik schließt Kautsky mit den beiden Sätzen: „Vor den Friedensleistungen des Professors Tönnies haben wir großen Respekt. Seine Kriegsleistungen können wir nur mit Kopfschütteln aufnehmen." (S. 704). (Alle kursivierten Stellen in Kautskys Original gesperrt gedruckt).

[An die Eheleute Offener Brief an die Herausgeber

Webb. des „New

Statesman"]

(Tönnies 1915g, hier S. 5 2 6 - 5 3 2 ) Die englische Fassung des Briefes, den Tönnies zuerst in der Vossischen Zeitung vom 20. Juni 1915 veröffentlichte, druckte die Redaktion mit einem längeren Kommentar (New Statesman, vol. V, no. 116, 1915, S. 271 — 272). Er beginnt mit den Worten, die für den gesamten Tenor des Textes stehen mögen: „There is probably no one in this country of any shade of opinion who believes that the crime of sinking the Lusitania is capable of any sort of defence or extenuation; but if there were such, this letter would, we imagine, finally dissolve their doubts. When a men of Professor Tönnies' knowledge, ability, and breath of mind is driven to descend to such a level of controversy, his case must be bad indeed. The letter does not even convince the reader that the Professor himself really believes in that case." (p. 271). Weiter heißt es u. a.: „The sinking of the Lusitania was only incidentally a crime against the laws of war, it was, above all, a crime against the laws of humanity, which know nothing of ,contraband' and such technicalities." (p. 272). Der Schriftsteller Erich Lilienthal schrieb Tönnies am 12. Juni 1915, dass er es nicht glaube, dass der „New Statesman" Tönnies' Brief abdrukken werde, „dazu ist der New Statesman in der letzten Zeit zu sehr umgeschlagen". Aber vielleicht habe der Brief doch die beabsichtigte Wirkung „und trägt dazu bei die Menschen dort etwas zur Besinnung zu bringen." (Cb54.56). Er habe auch darüber mit dem Prinzen Wittgenstein „eingehend" gesprochen. Dieser habe die gleichen Bedenken gegenüber der Möglichkeit eines Abdrucks in einer englischen Zeitschrift geäußert. Doch glaube Lilienthal, „dass es praktischer wäre derartige Ar-

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beiten in englischer Sprache einzuschicken." Es ist nicht eindeutig ermittelbar, ob Tönnies den Brief an den „New Statesman" auf Deutsch oder auf Englisch geschrieben hat, nach obiger Briefstelle wohl auf Deutsch.

[Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit] (Tönnies 1915j, hier S. 5 3 4 - 5 3 7 ) Der Brief des Chefredakteurs des „Svenska Dagbladet" hat den folgenden Wortlaut: „Svenska Dagbladet. Stockholm, den 6. Mai 1915. Klara Södra Kyrkogata 6 An Herrn Professor Ferdinand Tönnies, Kiel. Herr Professor! Welche Folgen wird der Krieg für die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Kultur herbeiführen? In welchem Maße wird es, nach dem einstigen Friedensschluß, auf Schwierigkeiten stoßen, die Verbindungen wiederherzustellen, welche die Vertreter der Wissenschaften, der Literatur und der Künste zur Förderung geistiger Interessen geknüpft haben, die aber jetzt zerrissen sind auf Grund der Interessen- und Gefühlsgegensätze, die während des Krieges zu Tage getreten und verschärft worden sind? Dies sind Fragen, die sich allen geistigen Arbeitern in allen Ländern Europas aufdringen. Mit besonderer Unruhe und Kümmernis machen sie sich doch in den neutralen Ländern geltend, wo natürlich die Sorge für das, was trotz aller politischen Gegensätze für die europäische Kultur gemeinsam ist, nicht aus vitalen nationalen Rücksichten in den Hintergrund zu treten braucht. Für Schweden, dem der stets heikle und unter diesen Umständen außerordentlich schwierige Auftrag gestellt ist, die Nobelpreise an die Auserwählten der Wissenschaft und der Dichtkunst zu verteilen, sind diese Fragen von ganz besonderer Aktualität. Die Zeitung Svenska Dagbladet, die in der schwedischen Presse speziell mit den Angelegenheiten der wissenschaftlichen und literären Interessen betraut ist, hat es daher wünschenswert gefunden, zu versuchen, eine Umfrage [...] in Erfahrung zu bringen

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Apparat

welche Stimmungen vorherrschen, welche Wünsche gehegt werden und welche Vorbehalte in Aussicht stehen, alles in der Hoffnung, daß diese Aussprüche zu einer Klarlegung der Situation beitragen können [...] Mit vorzüglicher Hochachtung Helmuth, Chefredakteur des Svenska Dagbladet." Das Manuskript traf Ende Juni 1915 in der Redaktion der „Ethischen Kultur" ein. Ihr Redakteur Rudolf Penzig bekundete Tönnies gegenüber, dass es für die „Ethische Kultur" wie ein „Fest" sei, „wenn die Leser Ihren — leider selten aufleuchtenden — Namen lesen." (Cb54.56: Penzig an Tönnies vom 29. Juni 1915). In einem Brief vom 3. August 1915 teilte Minna Cauer, die Herausgeberin der Zeitschrift „Die Frauenbewegung", Tönnies mit, dass sie sich „erlaubt" habe, einen Teil von Tönnies' Antwort in ihrer Zeitschrift erscheinen zu lassen. Sie schrieb dann u. a.: „Die Frauen müssten Ihnen ausserordentlich dankbar sein, dass Sie so viel von ihnen erwarten. Erlauben Sie mir, dass ich etwas skeptischer denke und zürnen Sie mir deswegen nicht." (Cb 54.56: 182). Gleichzeitg bat Minna Cauer Tönnies, dieser möge doch „einmal einen kleinen Artikel für meine Zeitschrift [...] schreiben." Denn: „da Sie in Ihrer Antwort an das schwedische Blatt an die Frauen appellieren, tun Sie es doch auch einmal an die deutschen Frauen." Der Sache könne Tönnies „einen grossen Dienst erweisen". Auszüge der Antwort Tönnies' erschienen unter dem Titel „Ein interessanter Briefwechsel", in „Die Frauenbewegung", 1. August 1915, Nr. 15, 21. Jg. 1915, S. 5 7 - 5 8 .

Die türkischen

Ziele nach amerikanischer

Ansicht

(Tönnies 1915k, hier S. 5 3 8 - 5 4 2 ) Hester D. Jenkins führte zu Beginn ihres Aufsatzes aus, dass jedermann in Amerika der Ansicht sei, Deutschland habe die Türkei zur Teilnahme am Kriege veranlasst. Den „größten Teil der Schuld" am Kriegsausbruch habe man dem „Rassen- und Völkerhaß in Nordeuropa" sowie dem französischen ,Revanche'-Gedanken gegeben. Dazu Tönnies als Herausgeber

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in einer Anmerkung: ,Es ist beachtenswert, dass wir dies von einem [sie!] Anglo-Amerikaner vernehmen. Erkennbar ist daraus, dass diese Ansicht und Einsicht viel weiter verbreitet ist unter den Gebildeten der Union [d. h. der USA — A. M.], als die feile und nichtswürdige Presse es ahnen läßt.' (S. 692). Die Verfasserin nennt vier Gründe als Hauptmotiv für den Kriegseintritt der Türkei, nämlich: „Die Türken also haben sich zur Teilnahme an diesem Krieg entschlossen, weil sie der üblen Behandlung in der Vergangenheit gedachten, weil sie Rußland fürchten, über das Betragen der Christen [dazu die Anmerkung Tönnies': „Nämlich der Engländer und ihrer Genossen."] empört sind, und weil sie hoffen, unabhängig zu werden, um innerhalb ihrer eigenen Grenzen auf ihre Weise leben zu können." (S. 695). Jenkins stellt fest, dass die Türkei gegenüber Deutschland „geringere Beschwerden" habe „als gegen irgendeine andere europäische Macht." (ebd.).

Ein Briefwechsel

Deutschlands Platz an der Sonne. englischer Politiker aus dem Jahre 1915. (Tönnies 1915n, hier S. 5 6 1 - 5 6 3 )

Vorwort

Der erste Beitrag (S. 1 — 7) dieser von Tönnies herausgegebenen Sammlung, „War Britannien Deutschland im Wege?", stammt von Harry H. Johnston und erschien im „New Statesman" vom 6. Februar 1915. Johnston rechtfertigte die britische Verpflichtung Belgien gegenüber: „Die Besitzergreifung Belgiens ruhig hinzunehmen, hätte bedeutet, uns widerstandslos der deutschen Suprematie auszuliefern" (S. 6). Grundtenor seines Artikels ist, dass es als unwahr betrachtet werden müsse, der Krieg sei Deutschland aufgezwungen worden; ebenso sei es unwahr, dem Deutschen Reich seien seine legitimen Absatzmärkte und Garantien verwehrt worden (S. 7). — Tönnies machte zu diesem Beitrag zwei interpretatorische Anmerkungen. Die erste bezog sich auf den Passus „[...] oder (wie in England) man greift Ministerien und Minister an oder läßt sich durch anti-deutsche Vorurteile so irreführen [...]" (S. 1). Dazu Tönnies: „Der Leser bemerke wohl, dass dieser Autor diese Auffassung als auf antideutschem bias beruhend darstellt." (ebd.). Die zweite Anmerkung bezieht sich auf die Stelle: „Er [gemeint ist der amerikanische Präsident Woodrow Wilson — A. M.] spricht von uns [d. h. von England — A. M.], als ob wir ebenso sehr für diesen entsetzlichen Krieg verantwortlich wären wie Deutschland." (S. 6). Dazu die Anmerkung Tönnies':

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Apparat

„Man bemerke wohl: für diesen (ohne Zweifel subjektiv ehrlichen) Engländer ist es beinahe ein Bruch der Neutralität, daß Hr. Wilson den englischen Standpunkt nicht rund und voll sich zu eigen macht!!" (ebd.). Der zweite Artikel (S. 8 — 13) lautet „Deutschlands Platz an der Sonne" und stammt aus der Feder von Edmund D. Morel; dieser erschien in Form eines Leserbriefes im „New Statesman" vom 13. Februar 1915. In dieser Entgegnung werden vor allem die beiden Marokkokrisen von 1905/06 und von 1911 in den Vordergrund gerückt und gesagt, Deutschland habe „niemals" die Absicht gehabt, Frankreich Marokko abzunehmen (S. 10). In Deutschland müsse man den Eindruck gehabt haben, „dass das offizielle England entschlossen sei, selbst auf die Gefahr eines Krieges hin, Deutschlands Übersee-Expansion [...] auch in ökonomischer Hinsicht zu bekämpfen" (S. 11). Die Marokko-Angelegenheit sei weiterhin eine „eiternde Wunde in den Beziehungen zwischen beiden Ländern" (S. 12). Tönnies hat auch die entsprechende Anmerkung der Redaktion des „New Statesman" abgedruckt. Diese lässt sich so zusammenfassen: Morel habe offensichtlich das britische Weißbuch nicht gelesen; „denn dieses enthält ein so klares und bestimmtes Eingeständnis Deutschlands über seine Absicht, Frankreich Marokko abzunehmen, wie man nur immer von einem Diplomaten ein solches erwarten kann." (S. 13). Als Drittes werden die Reaktion Johnstons („New Statesman" vom 20. Februar 1915) sowie die Entgegnung von Morel (ebd.) abgedruckt (S. 14—15 bzw. S. 15 — 16), in denen nochmals die unterschiedlichen Positionen ausgetauscht werden. Morel betont in seinem Brief, dass in dem besagten Dokument Nr. 85 (in: Eduard Bernstein, Hg.: Dokumente zum Weltkrieg 1914. III: Das englische Blaubuch, Berlin 1915, S. 40 f.) nach dem Deutschland sein Eingeständnis offenlege, Frankreich Marokko abzunehmen „kein Wort über Marokko" enthalten sei (S. 16). Die „eiternde Wunde" sei nach wie vor vorhanden. Die berühmte Rede von Lloyd George am 20. Juli 1911 habe viel zur Vergiftung der deutschenglischen Beziehungen beigetragen. Wieder fügte die Redaktion des „New Statesman" den Äußerungen Morels einen Zusatz an, den Tönnies abdrucken ließ (S. 17). Sie machte geltend, dass nicht von einer „vergifteten" Atmosphäre gesprochen werden könne; dies sei „völlig falsch und irreführend" (S. 17). Die Beziehungen seien niemals herzlicher als zuvor gewesen.

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Der vierte Artikel ist ein Leserbrief von Morel („New Statesman" vom 27. Februar 1915), S. 18 — 22. Hier machte Morel geltend, dass der Streit um Marokko tiefere Einschnitte in die bestehenden Verhältnisse vor allem in Deutschland hervorgerufen habe; er habe den Einfluss der militaristischen Kreise in Deutschland über Gebühr gesteigert und den Einfluss von Kaiser und Reichskanzler (Theobald von Bethmann-Hollweg) geschwächt, deren Einfluss „in der Richtung des Friedens" ging (S. 20). Die Einmischung Englands zu Gunsten von Frankreich habe bei der deutschen öffentlichen Meinung den Glauben hinterlassen, dass Deutschland darin eine Bedrohung habe erkennen müssen; mitnichten seien in den Marokkokrisen englische Interessen in irgendeiner Weise tangiert gewesen. Der fünfte und letzte Artikel stammt von einem Anonymus, der sich „Anglo-French" nannte, und der im „New Statesman" vom 27. Februar 1915 abgedruckt wurde (in der Tönnies-Sammlung S. 23 — 26). Deutschland habe versucht, einen Krieg zu vermeiden. „Der Krieg mit Rußland sei Deutschland nicht aufgezwungen." Hierzu die Anmerkung von Tönnies: Das Urteil des sonst so unbefangenen Verfassers gegenüber den ungeheueren Massen, die Rußland mobil machte, und bei der Ausdehnung der preußisch-russischen Grenze, ein rasches Handeln von deutscher Seite war! (S. 25). In einer Schlussbemerkung teilt Tönnies mit: „Die hier mitgeteilten Aktenstücke sind zum größeren Teil übersetzt worden von Herrn H. Hennings, zum kleineren vom Herausgeber, der das Ganze revidiert hat und die Verantwortung für genaue und sinntreue Wiedergabe auf sich nimmt." (S. 26). Erich Lilienthal (s. o.) bedankte sich am 12. Juni 1915 „herzlich" für die Zusendung dieser Schrift, die „vielleicht noch wirkungsvoller sein" werde als die „Englische Weltpolitik" (Cb54.56: Lilienthal an Tönnies). Tönnies war darum zu tun, auch diese Broschüre mit Hilfe des Auswärtigen Amtes zu verbreiten. Dies geht aus einem Schreiben an Johann Sass von der Bibliothek des Auswärtigen Amtes vom 8. April 1915 zurück. Dieser gab bereits zwei Tage später Antwort: er habe die Angelegenheit über den Legationsrat Heilbron an die „Zentralstelle für Auslandsdienst" weitergeleitet — offensichtlich aber mit negativem Resultat. Sass teilte Tönnies jedenfalls am 19. April mit, dass er nichts mehr unternehmen könne. Er wünsche, „dass diese wichtigen und wertvollen Dokumente nun auf dem Wege über einen Verleger baldmöglichst in die Öffentlichkeit gelangen." Der Verlag Springer würde „doch wohl ohne weiteres bereit sein, die Sache zu nehmen...". (Cb54.56:701: Sass an Tönnies vom 10. April, vom 19. April, vom 29. Mai 1915).

714 Die Sozialpolitik

Apparat

nach dem Kriege

(Tönnies 1915o, hier S. 564—576)

Die beiden Herausgeber des Buches „Die Arbeiterschaft nach dem Kriege", Friedrich Thimme und Carl Legien, schrieben im „Vorwort" (S. III—IV) u. a.: „Aber nichts kann wichtiger sein, als sich heute schon über die Möglichkeit und die Bedingungen einer geistigen Arbeitsgemeinschaft zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Geisteswelt klar zu werden. Dieser Erkenntnis verdankt die vorliegende Schrift ihre Entstehung. In ihr haben sich eine gleiche Anzahl bürgerlicher Gelehrter und sozialdemokratischer Schriftsteller zusammengefunden, um die Probleme der künftigen Stellung der Arbeiterschaft im neuen Deutschland gemeinsam zu erörtern." (S. III). Die Initiative zu dieser Publikation ging von Friedrich Thimme und dessen Freund Hermann Oncken, dem Heidelberger Historiker, aus. Das kann jedenfalls einem Brief Thimmes an Tönnies vom 10. Juni 1915 entnommen werden (Cb54.56:822). Thimme instruierte darin Tönnies, dass es beabsichtigt sei, „den berechtigten Wünschen der Arbeiterschaft nach dem Frieden im Sinne von Dankbarkeit, Gerechtigkeit und Klugheit entgegenzukommen.". Über die Gewerkschaften solle die Schrift in „hunderttausenden" von Exemplaren verbreitet werden. Nun fehle jedoch ihm, Thimme, ein Beitrag vom bürgerlichen Standpunkt aus über „Die Sozialpolitik nach dem Kriege". Eigentlich wollte er dafür einen Staatsmann mit dieser Aufgabe betrauen, u. a. den ehemaligen preußischen Minister Hermann von Berlepsch gewinnen, was jedoch nicht gelungen sei; auch andere hätten abgesagt, z. B. auch Gustav von Schmoller; doch dessen Beitrag, ein schon in der Wiener „Neuen Freien Presse" veröffentlichter, habe zu sehr die Gewerkschaften gegen die sozialdemokratische Partei ausgespielt und sei deswegen bei Legien durchgefallen. Nun bat Thimme Tönnies, einen Aufsatz von etwa XA bis 3A Bogen zum besagten Thema beizusteuern, „der in programmatischer Weise die Aufgaben der künftigen Sozialpolitik unter Zugrundelegung der Erscheinungen des Krieges darlegte". Wünschenswert wäre es, wenn dies unter Hervorhebung ethischer Gesichtspunkte geschehen würde. Die Abfassung solle allerdings möglichst bald erfolgen, denn an eine Veröffentlichung sei bereits für Anfang Juli 1915 gedacht worden. Thimme hoffe auf eine Niederschrift „im Laufe einiger Tage". Insgesamt enthält der Band Aufsätze von 2 0 Autoren: 1. Hermann Oncken (Die Deutschen auf dem Wege zur einigen und freien Nation, S. 1 — 11), 2. Gustav Noske, Redakteur der Volksstimme in Dresden (Der

Editorischer Bericht

715

Krieg und die Sozialdemokratie, S. 12 — 20), 3. Friedrich Meinecke (Sozialdemokratie und Machtpolitik, S. 21 — 31), 4. August Winnig, Mitglied der Hamburger Bürgerschaft, zweiter Vorsitzender des Deutschen Bauarbeiterverbandes (Der Krieg und die Arbeiter-Internationale, S. 32—41), 5. Gerhard Anschütz (Gedanken über künftige Staatsreformen, S. 42—57), 6. Philipp Scheidemann (Zur Neuorientierung der inneren Politik, S. 5 8 - 6 7 ) , 7. Paul Hirsch, M . d. A., Stadtverordneter in Charlottenburg (Gemeindeverfassung, S. 68 —80), 8. Ernst Francke, Stadtrat, Herausgeber der Sozialen Praxis (Die Mitwirkung der Arbeiter an den öffentlichen Aufgaben in Deutschland, S. 81 — 89), 9. Carl Legien, M . d. R . , Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands (Die Gewerkschaften, S. 90—97), 10. Edgar Jaffe (Die Vertretung der Arbeiterinteressen im neuen Deutschland, S. 98 — 114), 11. Hugo Heinemann, Rechtsanwalt beim Kammergericht Berlin (Vom Arbeiterrecht nach dem Kriege, S. 1 1 5 - 1 3 0 ) , 12. Waldemar Zimmermann (Verbrauchswirtschaft und Arbeiterbewegung nach dem Kriege, S. 131 — 138), 13. Paul Lensch, M . d. R. (Die Neugestaltung der Wirtschaftsordnung, S. 139—146), 14. Ferdinand Tönnies, ..., 15. Robert Schmidt, M . d. R. (Neue Wege in der Sozialpolitik, S. 159—166), 16. Ernst Troeltsch (Die Kirchen- und Religionspolitik im Verhältnis zur Sozialdemokratie, S. 167—183), 17. Paul Umbreit, Redakteur des Korrespondenzblattes der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands (Die Arbeitslosenfürsorge und der Krieg, S. 184—193), 18. Paul Natorp (Die Wiedergeburt unseres Volkes nach dem Kriege, S. 1 9 4 - 2 0 6 ) , 19. Heinrich Schulz, M . d. R. (Die Schule nach dem Kriege, S. 207 — 221), 20. Friedrich Thimme, Bibliotheksdirektor des preußischen Herrenhauses (Gemeinsame Arbeit, der Weg zum inneren Frieden, S. 222—232). Der Herausgeber hat die Verfasser der Aufsätze 1, 3, 5, 8, 10, 12, 14, 16, 18, 20 der bürgerlichen, die der übrigen der sozialdemokratischen Seite zugeschlagen (Vorwort, S. IV).

Marokko

und der Weltkrieg

(Tönnies 1915p, hier S. 577—584)

Samuel Saenger, der Redakteur der „Neuen Rundschau", bat Tönnies am 25. September 1915, „die Arbeit" — wobei unklar bleibt, um welche es sich dabei handelt — „durch ein paar neue Zitate aus dem Morel" zu erweitern. Tönnies solle sich diese Sache durch den Kopf

716

Apparat

gehen lassen und sich für alle Fälle „leicht zu verwertende Stellen aus dem englischen Buche" (E. D. Morel, M a r o c c o in diplomacy) zu notieren.

Das Recht auf Kolonialbesitz. Eine Diskussion englischer Kolonialpolitiker über die Zukunft der deutschen Kolonien (Tönnies 1915s, hier S. 5 8 5 - 5 9 0 ) Der Inhalt des Briefes von Edmund D. Morel, den Tönnies übersetzte und mit einer Einleitung in der Zeitung „Hamburgischer Correspondent" abdrucken ließ, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Morel ging es um die moralisch einwandfreie Behandlung des schwarzen Afrikas. Das, was sittlich richtig sei, sei zugleich auch staatswirtschaftlich klug: „der Schlüssel zur Lösung des Problems ist Grundbesitz für die Eingeborenen." Der Vorschlag Harry Johnstons, Deutschland von der Anteilnahme an der territorialen Gewalt in Afrika auszuschließen, hält Morel für „falsch und unausführbar". Im Vergleich etwa mit den Zuständen im Kongo oder in den französischen Besitzungen sei die deutsche Kolonialverwaltung sehr viel zuträglicher und verbesserungsfähiger gewesen: „Von dem Gesichtspunkt des Wohles der Eingeborenen wäre daher eine Politik, die Deutschland von Afrika ausschließen wollte, nicht gerechtfertigt. [...] Es ist eine moralische, physische und eine strategische Unmöglichkeit, eine elementare Kraft, wie das deutsche Volk sie verkörpert, in Fesseln zu legen." Beide hier wiedergegebenen Sätze hat Tönnies in Sperrdruck setzen lassen, im Unterschied zum Original. Ein eklatanter Übertragungsfehler ist entweder Tönnies, der Redaktion oder dem Drucker unterlaufen: Heißt es bei Morel einleitend: „I have no quarrel with Sir Harry Johnston's definition of what he calls ,Morelism' [ . . . ] " , so im deutschen Text statt der Verballhornung „Morelism" (in Bezug auf die Schwarzafrika-Freundlichkeit Morels) „Moralismus".

Havelock Ellis, Geschlecht und Gesellschaft (Tönnies 1912m, hier S. 5 9 3 - 5 9 9 ) Aus zwei Briefen des jungen Kurt Albert Gerlach an Tönnies vom 21. und 29. April 1911 (Cb54.56) geht hervor, dass er für Tönnies Vorarbeiten zu dessen Rezension geleistet hat. Die Besprechung des zweiten Teiles

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Editorischer Bericht

von „Geschlecht und Gesellschaft" sollte Gerlach selbst vornehmen. Zusammen mit seinem Brief vom 29. April 1911 übersandte Gerlach sein „Geschreibsel" zum 1. Ellis-Band: „[...] bitte nehmen Sies als eine Vorarbeit mit Nachsicht auf.". Und: „In gewisser Weise stellt es eine Ergänzung der ausführlichen Kapitelüberschriften dar, die kurze Inhaltsangaben geben.".

Hans W. Gruhle: Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung

und

Kriminalität

(Tönnies 1913s, hier S. 6 0 5 - 6 1 0 ) Die in den „Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung" erschienene Rezension basierte auf dem Wunsche des Herausgebers Heinrich Braun, Tönnies als einen ständigen Mitarbeiter der neuen Zeitschrift gewinnen zu können. Dies geht aus seinem Schreiben an Tönnies vom 15. April 1911 hervor (Cb54.56). Ein Kreis illustrer Persönlichkeiten, u. a. auch Adolf Wagner, habe sich bereits zu einer Mitarbeit bereit erklärt. Braun bat abschließend Tönnies, „Vorschläge über ein Ihnen genehmes T h e m a zu machen." Nachdem Tönnies seine Mitarbeit zugesagt hatte, machte Braun am 15. Juli 1911 die ersten beiden Vorschläge: die von Adolf Wagner begonnenen Studien über die Methodik der Statistik des Volkseinkommens und Volksvermögens fortzusetzen, da Wagner sich wegen seiner akuten Erblindung nicht mehr im Stande sähe, sich dieser Aufgabe weiterhin zu stellen; und zum Zweiten eine „kritische Besprechung" der neuen Justizstatistik. Tönnies akzeptierte aus Zeitgründen diese beiden Vorschläge nicht (vgl. Braun an Tönnies vom 20. Juli 1911). Nahezu ein halbes J a h r später brachte Braun die Bitte vor, ob Tönnies nicht bereit wäre, eine „kurze" Abhandlung über „die Zunahme der Kriminalität der Jugendlichen" zu schreiben; er würde sich freuen, „wenn Sie diesmal J a sagten" (Braun an Tönnies vom 31. Dezember 1911). Wiederum ungefähr ein halbes J a h r darauf, in einem Brief vom 23. Juni 1912, schlug Braun Tönnies vor, das bezeichnete Buch von Gruhle zu erörtern; es falle ja schließlich in den Bereich von Tönnies' Studien. Im November desselben Jahres war die Buchkritik immer noch nicht beim Herausgeber angelangt, wie einem Brief Brauns an Tönnies vom 17. November 1912 zu entnehmen ist. Er erhoffe, wenn er die Kritik bald erhalte, sie nicht mehr nur in Form einer Einzelrezension, sondern „in der Form einer Abhandlung [...] im Zusammenhang mit den Ergebnissen des vor einiger

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Apparat

Zeit in Frankfurt a. M . abgehaltenen Kongresses und des bereits zur Veröffentlichung gelangten und demnächst den Reichstag beschäftigenden Gesetzentwurfs über das Verfahren gegen Jugendliche" zu gestalten. Zu der von Heinrich Braun gewünschten kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Tönnies ist es in der Folgezeit aber nicht gekommen: Tönnies hat nie mehr ein Stück in den „Annalen" veröffentlicht. Braun hat dies schon in einem Brief vom 28. Juni 1914 „lebhaft" bedauert (Cb54.56).

Emil Sidler-Brunner, Englische Politik in neutraler (Tönnies 1915w, hier S. 6 3 8 - 6 4 0 )

Beleuchtung

Emil Sidler-Brunner (Luzern) ist über Dr. A. Francke (Bern) mitgeteilt worden, dass auch F. Tönnies „sich der Besprechung meines Schriftchens annehmen (wolle) (vgl. für hier und unten den Briefwechsel SidlerBrunner—Tönnies im Tönnies-Nachlaß: Cb54.56). Ende Mai 1915 hatte Sidler-Brunner Tönnies seine Arbeit übersandt, wobei er angemerkt hatte, dass sie „Ausfluß meiner Bestrebungen" sei, „meinem alten italienischen Freund [Dr. Alberto Geisser aus Turin — A. M.], der die Engländer bewundert und die Deutschen verurteilt, durch sachliche Begründung die Falschheit des sogenannten moralischen Kriegsmotivs nachzuweisen, um so die Vorbedingungen zur Bekämpfung der gegenwärtigen sinnlosen Leidenschaftlichkeit zu schaffen" (Brief vom 26. Mai 1915). Einen Teil der Einleitung von Tönnies' Schrift „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" im Anhang seiner Broschüre abzudrucken, erachtete Sidler-Brunner „als eine besonders wertvolle Stütze". Dieser Teil findet sich bei Sidler-Brunner auf den Seiten 43 — 45. Ferner hat Sidler-Brunner die erste Hälfte von S. IV (des Vorworts) von „Englische Weltpolitik" (hier S. 13) in einem Brief an einen schottischen Gelehrten gesandt, auf dass „die deutscherseits vorhandene Anerkennung des ,unerschrockenen Tatsachensinnes', der so manchen Engländer und Schotten [auszeichne], auf den betreffenden Herrn Eindruck machen" werde (Brief Sidler-Brunner an Tönnies vom 8. Aug. 1915). Sidler-Brunner hat, „mit etwelchen Aenderungen", seine Antwort an den Schotten, Verfasser einer Schrift „Bernhardi and the Germans", die übrigens auch Tönnies zugestellt worden war, im „Vorwort" der 2. Auflage seiner Broschüre wiedergegeben (dort S. II —IV). Sidler-Brunner gelangte desgleichen in den Besitz von Tönnies' Sammlung „Deutschlands Platz an der Sonne" (vgl. Sidler-Brunner an Tönnies vom 29. Juli 1915). A. M .

Bibliographie Die Namen folgen einander alphabetisch. Die Literaturangaben ohne Verfasser erscheinen in chronologischer Reihenfolge als [o.V.]. Adelsprädikate und diakritische Zeichen sind nicht berücksichtigt worden (ä, ä = a; $ = c; n = n; ö, 0 = o; ü = u); Ligaturen werden aufgelöst (£e = a; y = ij; n = nn; ce = oe; ß = ss). Abkürzungen s. o. S. XIII—XVI. Englische Titeleien sind hier normiert wiedergegeben (alle Substantive beginnen mit Majuskeln). Die Jahresangaben in eckigen Klammern bezeichnen das Erscheinungsjahr der Erstauflage.

Alison, Archibald, 9 1855 [1845]: History of Europe from the Commencement of the French Revolution to the Restoration of the Bourbons in M D C C C X V [1815], Ninth Edition, vol. XII. London. Angell, Ralph Norman, 1912: Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein? Berlin. Anglo-French, 1915: An den Herausgeber des „New Statesman". S. 23 — 26 in: Tönnies, Ferdinand (Hg.): Deutschlands Platz an der Sonne. Ein Briefwechsel englischer Politiker aus dem Jahre 1915. Berlin [Übersetzung aus: The New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature, Feb. 27, 1915], Annual Reports of the Registrar General of the Births, Deaths and Marriages in England and Wales, 1907: 68th Report 1905. London. Anschütz, Gerhard, 3 1920: Verwaltungsgerichtsbarkeit. S. 302—311 in: Paul Laband u. a. (Hg.): Handbuch der Politik. Erster Teil: Die Grundlagen der Politik. Berlin/Leipzig. Aristoteles, 1831: Politica. Aristotelis Opera ex recensione Immanuelis Bekkeri edidit Academia Regia Borussica, Bd. 2. Berlin. Augustinus, Aurelius, 1863: De civitate dei libri XXII, rec. B. Dombart. 2 Bde. Leipzig. Auswärtiges Amt (Hg.), o. J.: Belgische Aktenstücke 1905 — 1914. Berichte der belgischen Vertreter in Berlin, London und Paris an den Minister des Aeußeren in Brüssel. Hgg. vom Auswärtigen Amt. Berlin. Bacon, Francis, 1861 [1625]: Of Simulation and Dissimulation. S. 387—389 in: ders.: The Works of Francis Bacon, ed. James Spedding et. al. Vol. VI. London. Bähr, Otto, 1864: Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze. Kassel/ Göttingen.

720

Apparat

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740

Apparat

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Quetélet, Lambert Adolphe Jacques, 1835: Sur l'homme et le dévelopement de ses facultés, ou essai de physique sociale. 2 tome. Paris.

Quetélet, Lambert Adolphe Jacques, 1848: Du système social et des lois qui le régissent. Paris. von Ranke,

1865: Englische Geschichte, vornehmlich im sech-

Leopold,

zehnten und siebzehnten Jahrhundert, Bd. 5. Berlin. von Ranke,

1877: Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen,

Leopold,

A D B . 7: 7 2 9 - 7 7 6 . von Rehberg,

August

Wilhelm,

1831 [1807]: Über den Adel nach der

Auflösung des deutschen Reichs, in: ders.: Sämmtliche

Schriften.

Zweyter Band. Hannover. Reitz, François

Willem,

1900: Jahrhundert voller Unrecht. Ein Rückblick

auf die südafrikanische Politik Englands. Berlin. Reuter,

1875: Mittheilungen aus dem Leben des Director Bar-

Friedrich,

telmann. Kiel. Reuter,

Friedrich,

1888: Friedrich Rückert in Erlangen. Altona.

Reuter,

Friedrich,

1893: Die Erlanger Freunde F. Rückert und J . Kopp.

Altona. Reuter,

1895: Vergilbte Blätter. Aus den Tagen der Restaura-

Friedrich,

tion, Kieler Zeitung. 16., 19. und 20. März. Reuter,

1900: Drei Wanderjahre Platens in Italien

Friedrich,

1826—

1829. Ansbach. Riehl,

Wilhelm

Heinrich,

81885

[1851]: Die bürgerliche Gesellschaft,

Stuttgart. Rodbertus-Jagetzow,

Karl,

1842: Zur Erkenntnis unserer staatswirth-

schaftlichen Zustände. Erstes Heft: Fünf Theoreme. Neubrandenburg. Rodbertus-Jagetzow,

Karl,

sätze. Hgg. von R . Meyer. Rohrbach, Leipzig.

Paul,

1880/1882: Briefe und socialpolitische Auf2 Bde. Berlin.

1912: Der deutsche Gedanke in der Welt. Düsseldorf/

742

Apparat

Roscher,

Wilhelm,

1874: Geschichte der Nationalökonomik in Deutsch-

land, München. Roscher,

Wilhelm,

5

1 9 0 1 , [1886]: System der Finanzwissenschaft. Ein

Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, bearbeitet v. O. Gerlach, Roscher,

Erster Halbband. Stuttgart.

Wilhelm,

14

1 9 1 2 [ I 8 6 0 ] : Nationalökonomik des Ackerbaues

und der verwandten Urproduktionen. Ein Hand- und Lesebuch für Staats- und Landwirte. Stuttgart/Berlin. Rose,

John

Holland,

1896: Canning and Denmark in 1807, English Hi-

storical Review. 11: 82 — 92. Rose,

John

Holland,

1901: A British agent at Tilsit, English Historical

Review. 16: 7 1 2 - 7 1 8 . Rose,

John

Holland,

1906: T h e Napoleonic Empire at its Height,

1 8 0 7 - 0 9 , Cambridge Modern History. I X : 2 9 4 - 3 4 0 . Rose, John Holland, Rose,

John

Holland,

1909: William Pitt and the national Revival. London. 1911: William Pitt and the great War. London.

Rousseau, Jean Jacques, 1823 [1755]: Discours sur l'Origine de l'Inégalité parmi les Hommes, in: Œuvres complètes de Jean Jacques Rousseau, ed. V. R. Musset-Pathay. Tome I. Paris. Rousseau,

Jean Jacques,

auhavon. Rousseau,

1903 [1762]: Du contrat social, nouv. éd. G. Be-

Paris. Jean

Jacques,

1904 [1762]: Emile ou l'éducation, nouv. éd.

Paris. Sadler,

Gilbert

Thomas,

1914: To the Editor of T h e New Statesman, T h e

New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. 31. Oktober 1914: 85. Savile,

George,

1912: T h e complete Works of George Savile, first Mar-

quess of Halifax, ed. with an Introduction by Walter Raleigh. Say ce, Henry

Archibald,

Oxford.

1894: T h e , Higher Criticism' and the Verdicts

of the Monuments. London. Schäfße,

Albert,

1878: Bau und Leben des socialen Körpers. Encyclopä-

discher Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirthschaft als socialen Stoffwechsel. Tübingen. Schanz, Georg, 2 1 9 0 7 : Wechsel. S. 1 2 9 2 - 1 3 0 7 in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hgg. v. L. Elster. von Schelling,

Friedrich

Wilhelm

Joseph,

II. Band. Jena.

1870: Aus Schellings Leben. In

Briefen. Dritter Band: 1 8 2 1 - 1 8 5 4 . Leipzig.

Bibliographie

743

Schiller, Friedrich, 1869 [1787]: Don Karlos in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hgg. v. Karl Goedecke. Fünfter Theil. Zweiter Band. Stuttgart. Schiller, Friedrich, 1871 [1793]: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. S. 274—384 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hgg. v. Karl Goedecke. Zehnter Teil. Ästhetische Schriften. Stuttgart. Schiller, Friedrich, 1905: Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe in 16 Bänden. Hgg. von Eduard von der Hellen in V e r b i n d u n g ] mit Richard Fester u. a. Erster Band: Gedichte I. Mit Einleitung u. Anmerkungen von Eduard von der Hellen. Stuttgart/Berlin. Schleiermacher, Friedrich, 1868 [1799]: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, mit einer Einleitung hgg. v. C. Schwarz. Leipzig. Schmid, Ferdinand, 1913: Das Recht der Nationalitäten. S. 55—72 in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages vom 20. —22. Okt. 1912 in Berlin. Reden und Vorträge von Alfred Weber [u. a.]. SchrDGS, I. Serie: VerhSoz, II. Band. Tübingen. Schmid, Ferdinand, 1913: [Der statistische Hochschulunterricht], Deutsches Statistisches Zentralblatt, 5. Jg., Beilage: Deutsche Statistische Gesellschaft. Niederschrift der Verhandlungen der zweiten Mitgliederversammlung vom 22. bis 23. Oktober 1912 in Berlin: 6—11. von Schmoller, Gustav, 6 1904 [1900]: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Leipzig. von Schmoller, Gustav, 1912: Einleitungsworte bei der Nürnberger Tagung des Vereins im Jahre 1911, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. 36. Jg., H. 1: 1 — 5. von Schmoller, Gustav, 1915: [Rezension] Ferdinand Tönnies: Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung (1915), in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. 39: 9 8 3 - 9 8 5 . Schücking, Walther, 1911: International Law, Treaties, Conferences, and the Hague Tribunal, Papers on Inter-Racial Problems: 387—398. Schulz, Karl Ferdinand, 1912: Die Entlastung des Reichsgerichts. S. 336—345 in: Paul Laband u. a. (Hg.): Handbuch der Politik. Erster Band: Die Grundlagen der Politik. Berlin/Leipzig. von Schweinichen, Hans, 1878: Denkwürdigkeiten, hgg. von Hermann Osterley. Breslau.

744

Apparat

Seal, Brajendranath,

1911: Meaning of Race, Tribe, Nation, Papers on

Inter-Racial Problems: 1 — 13 Sécretan,

Henri

Seeley,

John

Seeley,

John

F., 1913: La population et les mœurs. Lausanne/Paris.

Robert,

1884 [1882]: T h e Expansion of England. Leipzig.

Robert,

2

1 8 9 7 [1895]: T h e Growth of British Policy. An

Historical Essay. 2 vols. Cambridge. Seiden,

John,

1636: Mare clausum, seu de Domnio Maris libri duo. Lon-

don. Shakespeare,

William,

1854: Shakespeare's Werke. Herausgegeben und

erklärt von Nicolaus

Delius.

Erster Band: Hamlet, Prince of Den-

mark. Elberfeld. Shaw, George

Bernard,

1914a: Common Sense about the War, T h e New

Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. IV, No. 84, 14. November 1914. Shaw,

George

Bernard,

1914b: T h e Last Spring of the Old Lion, T h e

New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. IV, No. 88, Dec. 12: 2 4 3 - 2 4 5 . Shuster,

William

Morgan,

1912: T h e Strangling of Persia. A Record of

European Diplomacy and Oriental Intrigue. London. Sidler-Brunner,

Emil,

1915: Englische Politik in neutraler Beleuchtung.

Vladimir

G., 1913: Marxismus gegen Sozialismus. Jena.

Bern. Simkhovitch, Simmel,

Georg,

1890: Über sociale Differenzierung. Sociologische und

psychologische Untersuchungen. Leipzig. Simmel,

Georg,

1892: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik

der ethischen Grundbegriffe. Bd. 1. Berlin. Simmel,

Georg,

1895: T h e Problem of Sociology, Annals of the American

Academy of Political and Social Science. VI: 4 1 2 — 4 2 3 . Simmel,

Georg,

1 8 9 6 / 9 7 : Superiority and subordination as Subject-mat-

ter of Sociology, American Journal of Sociology. 2: 167—189 u. 392-415. Simmel,

Georg,

1 8 9 7 / 9 8 : T h e Peristence of Social Groups, American

Journal of Sociology. 3: 6 6 2 - 6 9 8 u. 8 2 9 - 8 3 6 . Simon,

Jules,

Simon,

Jules,

3

1 8 6 7 b [1859]: La liberté politique. Paris.

Simon,

Jules,

3

1 8 6 7 c [1859]: La liberté civile. Paris.

Sinzheimer,

1867a: La liberté de conscience. Paris.

Hugo,

1913: Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags und ihre

gesetzliche Lösung, Soziale Praxis. 23: 59 — 62, 233 — 241. Sombart,

Werner,

6

1 9 0 8 [1896]: Sozialismus und soziale Bewegung. Jena.

Bibliographie

745

Sombart, ferner, 1911: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig. Sombart, Werner, 2 1916 [1902]: Der moderne Kapitalismus. Historischsystematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Zweite, neugearbeitete Auflage. Erster Band. München/Leipzig. Sootwill, W. E., 1910: The educational Conquest of China, Contemporary Review. 96: 4 0 3 - 4 1 2 . Spencer, Herbert, 1884: The New Toryism, in: ders.: The Man versus the State. London. Spencer, Herbert, 1884: The Man versus the State. London. Spencer, Herbert, 1891: Principles of Ethics. London. Spencer, Herbert, 1893 — 1896: A System of synthetic Philosophy. Vols. VI-VIII. The Principles of Sociology. London/Edinburgh. Spencer, Herbert, 1902: Patriotism. In: ders.: Facts and Comments. London, S. 8 8 - 9 1 . Spencer, Herbert, 1902: Imperialism and Slavery. In: ders.: Facts and Comments. London, S. 112—115. de Spinoza, Barucb, 1870/71 [1670]: Tractatus theologico-politicus, übersetzt u. erläutert v. J. H. v. Kirchmann. Berlin. Stahl, Friedrich Julius, 1833. Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. 2 Bände. Heidelberg. Stahl, Friedrich Julius, 2 1853 [1853]: Der Protestantismus als politisches Princip. Vorträge auf Veranlassung des evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke zu Berlin im März 1853. Berlin. Stammler, Rudolf, 3 1914 [1896]: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. 3. verb. Aufl. Leipzig. Statistical Abstracts for the United Kingdom: Jg. 28, London 1881; Jg. 43, London 1896; Jg., 47, London 1900; Jg. 49, London 1902; Jg. 58, London 1911. Statistik des Deutschen Reichs, 1909: Bewegung der Bevölkerung im Jahre 1907. Band 223. Bearb. im Kaiserlichen Statistischen Amte. Berlin. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1911. Hgg. vom. Kaiserlichen Statistischen Amte, 32. Berlin. Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat: Berlin 1913; Berlin 1914. Staudinger, Franz, 1908: Die Konsumgenossenschaft. Leipzig. Staudinger, Franz, 1910: Reisebericht über meine Studienreise nach England zur Untersuchung des englischen Genossenschaftsunterrichts,

746

Apparat

29. Oktober bis 12. November 1910, Konsumgenossenschaftliche Rundschau. 7: 1033-1034, 1044-1045. Staudinger, Franz, 1910a: Indivualistische und soziale Betrachtung des Konsumvereins, Konsumgenossenschaftliche Rundschau. 7: 988 — 989. Stendhal [d. i. Marie-Henri Beyle], 1933: Philosophie transcendentale [1829], Mélanges de Littérature. Essais de Psychologie les Mœurs et la Société sur les Progrès Livres. 2 tome. Paris. Stenographischer Bericht, 1848, 1849: s. [o. V.] Stenographischer Bericht. Stephen, James Fitzjames, 1873: Liberty, Equality, Fraternity. London. Stern, Alfred, 2 1913 [1894]: Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis zum Frankfurter Frieden von 1871. Bd. I: Geschichte Europas von 1815 bis 1830. Stuttgart. Stieda, Wilhelm, 3 1911: Trucksystem. S. 1267—1274, in: Handbuch der Staatswissenschaften. Bd. VIII. Jena. Stier-Somlo, Fritz, 3 1920: Justiz und Verwaltung. S. 296 — 301, in: Paul Laband u. a. (Hg.): Handbuch der Politik. Erster Band: Die Grundlagen der Politik. Erster Band: Die Grundlagen der Politik. Berlin/Leipzig. Storm, Theodor, 1927: Sämtliche Werke. Herausgegeben und eingeleitet von Gertrud Storm. Vierter Band. Leipzig. Strackerjan, Karl, 1915: Dänen an der deutschen Front. Nordmark- u. Weltkrieg-Streiflichter. Eine Denkschrift. Hadersleben. Süßmilch, Johann Peter, 1741: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen. 2 Tie. Berlin. Tarde, Gabriel, 1895: Essais et mélanges sociologiques. Paris. Tarde, Gabriel, 1897: L'opposition universelle. Essai d'une theorie des contraires. Paris. Tarde, Gabriel, 2 1897, 1900 [1890]: Les lois de l'imitation. Paris. Taw Sein Ko, 1898: Western Education in China, The Imperial and Asiatic Quaterly Review and Oriental and Colonial Record. 3rd series, 5: 6 5 - 7 1 . Temperley, Hermond William Vazeille, 1905: Life of Canning. London. Tevfik, Riza, 1911: Turkey, Papers on Inter-Racial Problems: 454—461. Thomann, Heinrich und Brüschweiler, Carl, 1909: Bevölkerungs- und Wohnverhältnisse in der Stadt Zürich. Zürich. Thomas, W. I., 1913: The Prussian-Polish Situation: An Experiment in Assimilation, Publications of the American Sociological Society. VIII: 84-99.

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748

Apparat

Tönnies, Ferdinand, 1909b: Eine neue Methode der Vergleichung statistischer Reihen (Im Anschluß an Mitteilungen über kriminalistische Forschungen), Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. 33: 6 9 9 - 7 2 0 . Tönnies, Ferdinand (Normannus), 1910a: August Bebel. Zu seinem 70. Geburtstage, Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. 9. Jg., Nr. 23 (März): 902-907. Tönnies, Ferdinand, 1910b: Charakterbild eines Königs. Vom Marquis von Halifax (Sir George Saville) nebst Aphorismen des Autors. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1910c: Studie zur schleswig-holsteinischen Agrarstatistik, Archiv für Sozialwissenschaft und Statistik. 30: 285 — 332. Tönnies, Ferdinand, 1910d: Hobbes' Naturrecht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Bd. 4, H. 2: 395 — 410. [Vorabdruck aus der 2. erw. Aufl. 1912], Tönnies, Ferdinand, 1911a: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie. Eutin. Tönnies, Ferdinand, 1911b: Rudolf Euckens „Grundbegriffe der Gegenwart" in neuer Fassung, Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft. 32. Jg. v. 14. 1. 1911: 6 9 - 7 5 . Tönnies, Ferdinand, 1911c: Deutscher Adel im achtzehnten Jahrhundert, Die neue Rundschau. 22. Jg., H. 2: 145 — 163. Tönnies, Ferdinand, 191 ld: Hobbes' Naturrecht, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. Bd. 5, 1 2 9 - 1 3 6 u. 2 8 3 - 2 9 3 . [Vorabdruck aus der 2. erw. Aufl. 1912]. Tönnies, Ferdinand, 191 le: Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Zweite Nachlese, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 35. Jg., H. 1: 375 — 396 [Erneut in: SSK. Erste Sammlung, Jena 1925 u. d. T. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung. Sechster Teil: 3 1 3 - 3 2 9 ] Tönnies, Ferdinand, 191 lf: Neutralität und Politik, Konsumgenossenschaftliche Rundschau. 8. Jg., Nr. 15 (15. April 1911): 2 1 8 - 2 2 0 . Tönnies, Ferdinand, 1911g: Der erste allgemeine Rassen-Kongreß, Ethische Kultur. 19. Jg. vom 1. 5. 1911: 6 5 - 6 6 . Tönnies, Ferdinand, 1911h: Vorurteile gegen den Rassenkongreß, Berliner Tageblatt. 27. 6. 1911. Tönnies, Ferdinand, 191 Ii: Die Akademie der Zukunft, Die neue Rundschau. 22: 4 3 7 - 4 3 8 .

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750 Tönnies,

Apparat

Ferdinand,

1912c: [Klassenjustiz], Ethische Kultur. 20. Jg. (1. 1.

1912): 6. Tönnies,

Ferdinand,

1912d: Die neuesten Angriffe gegen den Verein für

Sozialpolitik. Brief an Gustav Schmoller, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 36. Jg., H. 1: 6 - 9 . Tönnies, bart,

Ferdinand, Matth.

1912e: [Judentaufen]. S. 124—126 in: Werner

Erzberger

Som-

u. a (Hg.): Judentaufen [...] und namhaften

Professoren deutscher Universitäten. München: 124—126. Tönnies,

Ferdinand,

1912f: [Populäre „Statistik"], Deutsches Statisti-

sches Zentralblatt. 4: 1 5 5 - 1 5 6 . Tönnies,

Ferdinand,

1912g: Nachreden des Rassenkongresses, Ethische

Kultur. 20. Jg. (15. 6. 1912): 8 9 - 9 0 . Tönnies,

Ferdinand,

1912h: Rousseau und wir, Die Hilfe. Wochenschrift

für Politik, Literatur und Kunst. 18. Jg. (27.6. 1912): 4 0 9 - 4 1 1 . Tönnies,

Ferdinand,

1912i: Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert,

Die neue Rundschau. 23. Jg., H. 8: 1 0 4 1 - 1 0 6 3 . Tönnies,

Ferdinand,

1912j: Soziologie und Universitätsstudien, Das neue

Leben. Blätter für Bildung und Kultur.l. Jg., H. 1/2 (15. Okt.): 14—27. [Erneut in SSK. Zweite Sammlung, Jena, 1926: 172—182]. Tönnies,

Ferdinand,

1912k Der Rückgang der Geburten im Deutschen

Reiche, Soziale Praxis umd Archiv für Volkswohlfahrt. 22. Jg. (24. 10. 1912): 1 0 0 - 1 0 2 . Tönnies,

Ferdinand,

19121: Die Zukunft der sozialen Frage, Das Freie

Wort. 12. Jg., 1. Dezemberheft: 6 3 4 - 6 3 6 . Tönnies,

Ferdinand,

Gesellschaft.

1912m: [Rezension]: Havelock Ellis, Geschlecht und

Grundzüge

der

Soziologie

des

Geschlechtslebens,

Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft. 36: 3 8 6 - 3 9 2 . Tönnies,

Ferdinand,

1912n: [Rezension]: Rudolf Goldscheid, Höherent-

wicklung und Menschenökonomie, Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft. 33: 1595—1598.

[Erneut in:

SSK. Dritte Sammlung, Jena, 1929: 4 5 4 - 4 5 7 ] , Tönnies,

Ferdinand,

21913a

[1907]:

Die Entwicklung

der

sozialen

Frage. Leipzig. Tönnies,

Ferdinand,

1913b: Nemesis, März. Eine Wochenschrift. 7. Jg.,

1. Bd. (18.1.): 9 4 - 9 7 . Tönnies,

Ferdinand,

1913c:

Individuum

Weltwirtschaftliches Archiv 3: 3 7 - 6 6 .

und Welt in der

Neuzeit,

Bibliographie

751

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752

Apparat

Tönnies, Ferdinand, 1913r: [Rezensionen]: Past. Johs. Forberger, Moralstatistik u. Konfession, und ders., Moralstatistik des Königr. Sachsen, Theologische Literaturzeitung. 38: 274—276. Tönnies, Ferdinand, 1913s: [Rezension]: Hans W. Gruhle, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität, Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung. Bd. 2, H. 5/6: 6 9 0 - 6 9 4 . Tönnies, Ferdinand, 1914a: Der Staatsmann und das Leben, Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung.5. Jg., H. 1 (Januar): 3 — 17. Tönnies, Ferdinand, 1914b: Mann und Weib, Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung. 5. Jg., H. 3 (März): 120—125 [Auszug aus: Gemeinschaft und Gesellschaft, 2., erheblich veränderte u. vermehrte Aufl., Berlin 1912], Tönnies, Ferdinand, 1914c: Der Staatsmann und die Ethik, Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung. 5. Jg., H. 5 (Mai): 201-209. Tönnies, Ferdinand, 1914d: Die Soziologie und ihre Aussichten in Europa, Akademische Rundschau. Zeitschrift für das gesamte Hochschulwesen und die akademischen Berufsstände. 2. Jg., H. 8 (Mai): 4 1 8 - 4 3 1 . [Erneut in: SSK. Zweite Sammlung, Jena 1926: 2 0 9 - 2 2 2 ] , Tönnies, Ferdinand, 1914e: Nationalgefühl, Der Staatsbürger. Halbmonatsschrift für politische Bildung. 5. Jg., H. 7 (Juli): 305 — 312. Tönnies, Ferdinand, 1914f: Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat. Referat, erstattet auf dem III. Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. 8: 65—70. Tönnies, Ferdinand, 1914g: Die Gesetzmäßigkeit der Bewegung in der Bevölkerung, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. 39, H. 1: 1 5 0 - 1 7 3 , H 3: 7 6 7 - 7 9 4 . Tönnies, Ferdinand, 1913/14h: Soziologie und Geschichte, Geisteswissenschaften. Wochenschrift. 1. Jg., H. 3 (15. Okt.): 57—62 [Erneut in: SSK. Zweite Sammlung, Jena 1926: 190-199], Tönnies, Ferdinand, 1914i: Eindrücke von Dänemark, Frankfurter Zeitung. 24. Oktober 1914, 2. Morgenblatt, Nr. 295: 1. Tönnies, Ferdinand, 1914j: Der Friede, Deutsche Zeitschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen. 14. Jg., H. 2 (November): 9 3 - 9 7 . [Erneut in: Ethische Kultur, 1915, 23. Jg. (15. 12. 1915): 25-27],

Bibliographie

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754

Apparat

Tönnies, Ferdinand, 1915h: [A German Defence of the Lusitania] To the Editor of The New Statesman. The New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. Vol. 5, Nr. 116 (v. 26. Juni 1915): 2 6 9 - 2 7 1 . Tönnies, Ferdinand, 1915i: Gemeinschaft und Individuum, Die Tat. Sozial-religiöse Monatsschrift für deutsche Kultur. 6. Jg.: 401 — 409 [Erneut in: SSK. Zweite Sammlung, Jena, 1926: 200 — 208]. Tönnies, Ferdinand, 1915j: Der Wiederbeginn geistiger Gemeinschaftsarbeit, Ethische Kultur. 23. Jg. (15. Juli 1915): 1 0 5 - 1 0 6 . [Auszüge daraus u. d. T. Ein interessanter Briefwechsel, in: Die Frauenbewegung, 21. Jg., Nr. 15 (1. August 1915): 5 7 - 5 8 ] . Tönnies, Ferdinand (Hg.), 1915k: Die türkischen Ziele nach amerikanischer Ansicht, Deutsche Arbeit. Zeitschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen. 14. Jg., H. 12 (Sept.): 6 9 2 - 6 9 5 . Tönnies, Ferdinand, 19151: Vor hundert Jahren, Deutsche Rundschau. 42. Jg., Bd. 165, H. 2: 2 9 7 - 3 0 8 . Tönnies, Ferdinand, 1915m: Die historisch-geographischen Richtungen der Neuzeit, Weltwirtschaftliches Archiv. Bd. 6, H. 2: 3 0 7 - 3 1 9 . [Erneut in: SSK. Zweite Sammlung, Jena, 1926: 223 — 235]. Tönnies, Ferdinand (Hg.), 1915n: Deutschlands Platz an der Sonne. Ein Briefwechsel englischer Politik aus dem Jahre 1915, Vorwort: IIIIV. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1915o: Die Sozialpolitik nach dem Kriege, in: Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland: 147—158 [Erneut in: Ethische Kultur, 1915, 23. Jg. (15. u. 22. 10.): 1 5 3 - 1 5 5 u. 162-164], Tönnies, Ferdinand, 1915p: Marokko und der Weltkrieg, Die neue Rundschau. 26. Jg., H. 11: 1540-1546. Tönnies, Ferdinand, 1915q: Engeische wereldpolitick naar Engeische Geschiedshrijvers. Amsterdam. [Übersetzung von Tönnies, 1915a]. Tönnies, Ferdinand, 1915r: Warlike England as seen by herseif. New York. [Übersetzung von Tönnies, 1915a]. Tönnies, Ferdinand, 1915s: Das Recht auf Kolonialbesitz. Eine Diskussion englischer Kolonialpolitiker über die Zukunft der deutschen Kolonien, Hamburger Correspondent. 25. Dezember 1915, 185. Jg., Nr. 657, Morgen-Ausgabe, 3. Beilage: 1. Tönnies, Ferdinand, 1915t: [Rezension] Henri Sécrétan, la population et les mceurs, Weltwirtschaftliches Archiv. 5: 415 — 417. Tönnies, Ferdinand, 1915u: [Rezension] Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Weltwirt-

755

Bibliographie

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Ferdinand,

senhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika + Friedrich Ludwig Gerngroß, Sterilisation und Kastration als Hilfsmittel im Kampfe gegen das Verbrechen, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. 39: 9 9 4 - 1 0 0 1 . Tönnies,

1915w: [Rezension] Emil Sidler-Brunner, Englische

Ferdinand,

Politik in neutraler Beleuchtung, Vossische Zeitung. 13. August. 1915, 3. Beilage: 1. Tönnies,

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Ferdinand,

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[Erneut in:

SSK. Dritte Sammlung, Jena, 1929: 4 5 0 - 4 5 1 ] . Tönnies,

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Ferdinand,

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1917: Der englische und der deutsche Staat. Eine

Ferdinand,

Studie. Berlin. Tönnies,

31920

Ferdinand,

[1912]: Bürgerliche und politische Freiheit.

S. 172—179 in: Paul Laband

u. a. (Hg.): Handbuch der Politik. Dritte

Auflage. Berlin/Leipzig. Tönnies,

1925: Soziologische Studien und Kritiken. Erste

Ferdinand,

Sammlung, Jena. Tönnies,

1926: Soziologische Studien und Kritiken. Zweite

Ferdinand,

Sammlung. Jena. Tönnies,

1929: Soziologische Studien und Kritiken. Dritte

Ferdinand,

Sammlung. Jena. von

Treitschke,

Heinrich,

51886

[1865]: Die Freiheit [1861] in: ders.:

Historische und politische Aufsätze vornehmlich zur neuesten deutschen Geschichte. Fünfte vermehrte Aufl. Dritter Band: Freiheit u. Königthum: 1—42. Leipzig. von

Treitschke,

Heinrich,

1913: Politik, Vorlesungen, gehalten an der

Universität zu Berlin. Hgg. v. M. Cornicelius. Trevelyan,

George

Trevelyan,

George

Macauly, Otto,

61913:

1899:

Leipzig.

The Life of J o h n Bright. London. The

American

Revolution.

Part

I:

1 7 6 6 - 1 7 7 6 . London. Tribhowandas,

Mangaldas,

stom. Bombay.

Nathubai,

1903: Hindu Caste, Law & Cu-

756

Apparat

Mangaldas Nathubai, o. J.: The Foundations of Mora-

Tribhowandas,

lity; some Suggestions towards a universal moral Code. London.

Troeltsch, Ernst, 1911: Das stoisch-christliche Naturrecht und das profane Naturrecht. S. 166—192 in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.—22. Oktober 1910 in Frankfurt am Main. Tübingen. T r o e l t s c h , Ernst,

1912: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Die Soziallehren

der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen. Uhland, Ludwig, 1898: Vaterländische Gedichte. 13. Nachruf, in ders.: Gedichte. Vollständige kritische Ausgabe auf Grund des handschriftlichen Nachlasses besorgt von E. Schmidt und J. Hartmann. Bd. I. Stuttgart.

Ungewitter, Franz Heinrich, 1859: Die preußische Monarchie nach den zuverlässigsten Quellen geographisch, statistisch, topographisch und historisch ausführlich und übersichtlich dargestellt. Ein Handbuch für Staats- und Communalbehörden, so wie zum Privatgebrauch. Berlin. Urqukart,

David,

1843: T h e Edinburgh Review and the Affghan War.

Letters re-printed from the Morning Herald. London.

von Vincke, Friedrich Wilhelm Ludwig, 1815: Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens. Hgg. von B.[arthold]

G.[eorg]

Nie-

buhr. Berlin. de Voltaire, François Marie Arouet, 1878a [1752 ff.]: Essai sur les mœurs et l'esprit des nations.

S. 157 — 552

in ders.: Œuvres

complètes.

Bd. 11. Paris.

de Voltaire, François Marie Arouet,

1878b [1769]: Dieu et les hommes.

S. 129—245 in ders.: Œuvres complètes. Bd. 28. Paris.

de Voltaire, François Marie Arouet, 1882: Œuvres complètes de Voltaire, nouv. éd. Tome 50: Correspondence, X V I I I . Paris. Wach, Adolf, Laband

31920:

Volksrichter und Berufsrichter. S. 3 1 1 - 3 1 3 in: Paul

u. a. (Hg.): Handbuch der Politik. Erster Teil: Die Grundlagen

der Politik. Berlin/Leipzig. Wagner, Adolph, 1857: Beiträge zur Lehre von den Banken. Göttingen. Wagner, Adolph, acte. Leipzig.

1862: Die Geld- und Credittheorie der Peel'schen Bank-

Wagner, Adolph, 1863: Die Ordnung des österreichischen Staatshaushaltes, mit besonderer Rücksicht auf den Ausgabeetat und die Staatsschuld. Wien.

757

Bibliographie

Wagner,

Adolph,

1864: Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürli-

chen menschlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik. Erster oder allgemeiner Theil. Statistisch-anthropologische Untersuchung der Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen. Hamburg. Wagner,

Adolph,

1870, 1873: System der deutschen Zettelbankgesetzge-

bung unter Vergleich mit den ausländischen. Zugleich ein Handbuch des Zettelbankwesens. 2 Abt. Freiburg. Wagner,

Adolph,

1872: Deutsches Reichsfinanzwesen. Leipzig.

Wagner,

Adolph,

1877: Raus Lehrbuch der Finanzwissenschaft. Heidel-

Adolph,

1880: Finanzwissenschaft (Zugleich als sechste, bez. sie-

berg. Wagner,

bente Ausgabe von Rau's Finanzwissenschaft). Zweiter Theil. Gebühren und allgemeine Steuerlehre (Lehrbuch der politischen Oekonomie. In einzelnen selbständigen Abtheilungen bearbeitet von Dr. Adolph ner und Dr. Erwin Nasse, Wagner,

Adolph,

31893:

Wag-

Sechster Band). Leipzig/Heidelberg. Grundlegung

der politischen

Oekonomie.

Dritte, wesentlich um-, theilweise ganz neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Erster Theil. Grundlagen der

Volkswirthschaft.

Zweiter Halbband. Buch 4—6. (Bevölkerung und Volkswirthschaft. — Organisation der Volkswirthschaft. — Der Staat, volkswirthschaftlich betrachtet.) (Lehr- und Handbuch der politischen Oekonomie. In einzelnen selbständigen Abtheilungen. Bearbeitet und hgg. von

Adolph

Wagner). Leipzig. Wagner,

Adolph,

1894: Grundlegung der politischen Oekonomie. Dritte,

wesentlich um-, ganz neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Zweiter Theil. Volkswirthschaft und Recht, besonders Vermögensrecht, oder Freiheit und Eigenthum in volkswirtschaftlicher Betrachtung. Buch 1—3. Leipzig. Wagner,

Adolph,

1895: Mein Konflikt mit dem Freiherrn von Stumm.

Berlin. Wagner,

Adolph,

21902

[1901]: Agrar- und Industriestaat. Die Kehrseite

des Industriestaats und die Rechtfertigung agrarischen Zollschutzes mit besonderer Rücksicht auf die Bevölkerungsfrage. Jena. Wagner,

Adolph,

1909: Sozialökonomische Theorie des Geldes und

Geldwesens (Theoretische Sozialökonomie oder Allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre, 2. Abteilung, 2. Bd.). Leipzig. [Wagner,

Adolph,

31911]:

Wagner, Adolph Heinrich Gotthilf, in: Hand-

wörterbuch der Staatswissenschaften. VIII: 5 2 9 — 536.

758

Apparat

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760

Apparat

Niederschrift der Verhandlungen der zweiten Mitgliederversammlung vom 22. bis 23. Oktober 1912 in Berlin: 4 5 - 4 9 . [o. V.], 1913: Round Table, Sociology in the Normal School, Publications of the American Sociological Society. VIII: 120—130. [o. V.], 1914: Der große Krieg. Eine Chronik von Tag zu Tag. Urkunden, Depeschen und Berichte der Frankfurter Zeitung. 4. Heft. Frankfurt am Main [o. V.], 1914: Englische politische Moral in Persien, Ethische Kultur, 22. Jg., 15. November 1914: 173. [o. V.], 1914: Friedrich Naumann über Deutschland und Frankreich, Deutsche Arbeit. Zeitschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen. 14. Jg., H. 2 (November): 1 1 1 - 1 1 2 . [o. V.], 1914: Militärgeografi, Svenska Dagbladet. 15. Oktober 1914, Nr. 280. [o. V.], 1915: [Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung], Deutsches Statistisches Zentralblatt. 7. Jg., Nr. 1: 11 [Hinweis auf Tönnies' gleichnamige Studie], [o. V.], 1915: [Rezension] EWpo, Die Hilfe. 23. September 1915. [o. V.], 1915: Aus der neuesten Literatur über England, Deutsche Volkswirtschaftliche Correspondenz v. 11. Mai 1915 [= Rezension von EWpo], [o. V.], 1915: Comments, The New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. V, No. 109, May 8: 97. [o. V.], 1915: Comments, The New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. V, No. 110, May 15: 121. [o. V.], 1915: Das „stolze" England, Post. 16. Februar 1915. Berlin [= Rezension von EWpo]. [o. V.], 1915: Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung, Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung. 26. März 1915 (Beilage zu Nr. 156) [ = Rezension von EWpo]. [o. V.], 1915: New Law for New Circumstances, in: The New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. Vol. IV, No. 82, 20. March 1915: 5 8 0 - 5 8 1 . [o. V.], 1915: The Duty of the Allies, in: The New Statesman. A weekly Review of Politics and Literature. Vol. V, No. 110: 1 2 4 - 1 2 5 . [o. V.], 1915: Weltpolitik und Moral, Leipziger Volkszeitung. 25. März 1915. [= Rezension von EWpo. [o. V.], 2 1915: Kriegsgegner in England. Nach englischen Quellen dargestellt von München.

Register der Publikationsorgane Berücksichtigt sind die Periodika und Hand (Wörter) bûcher. Die Wörter folgen einander alphabetisch, grammatikalische Artikel wurden mit eingeordnet.

Akademische Rundschau 403 American Journal of Sociology 615 Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 605, 717 f. Annais of the American Academy of Political and Social Science 615 Annual Reports of the Registrar General 447 Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 142, 176, 413 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 288, 419, 622, 694 Berliner Tageblatt 157, 216, 703 Blätter für Volksgesundheit 246 Cambridge Modern History 61, 531 Contemporary Review 167 Das Freie Wort 210, 294, 339, 361, 492, 657 Das monistische Jahrhundert 355 Das neue Leben 287 Der Kunstwart 184 Der Staatsbürger 376, 377, 393, 394, 404, 692 f., 695 Der Tag 206, 657 Deutsche Arbeit 485, 497, 507, 538, 702, 703, 704 Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft 113, 617, 641, 658 Deutsche Rundschau 543 Deutsche Volkswirtschaftliche Correspondenz 657 Deutsches Staatswörterbuch 309 Deutsches Statistische Zentralblatt 177, 245, 333, 337, 676 f., 688 ff., 694 Die Frauenbewegung 710 Die Hilfe 245, 251, 657 Die neue Rundschau 119, 160, 259, 359, 577, 684, 702, 715 Die Post 157, 657

762

Apparat

Die Tat 533 Directory of National Biography 27, 47 Dokumente des Fortschritts 657, 661 Edinburgh Review 57 Encyclopedia Britannica 26, 27, 47, 86, 88, 94 Ethische Kultur 99, 102, 154, 221, 247, 485, 495, 534, 564, 684, 710 Frankfurter Zeitung 480 Gaulois 582 Geisteswissenschaften 479 Göteborg Posten 701 Hamburgischer Correspondent 585, 716 Hamburger Fremdenblatt 657 Handbuch der Politik 223, 6 8 0 - 6 8 3 Handwörterbuch der Staatswissenschaften 517 Historisk Tidskrift 56 f. Jahresberichte des Archivs für systematische Philosophie 615 Journal of the Royal Statistical Society 448, 473 Juristische Wochenschrift 634 Kieler Zeitung 369, 514 Klio 624 Konsumgenossenschaftliche Rundschau 144, 347 Kosmos 185 Leipziger Volkszeitung 657 Les Documents du Progrès 661 Manchester Guardian 106 März 295 Matin 582 Medizinstatistische Nachrichten 525 Nachrichten 657 Nationaltidende 497, 697, 703

Register der Publikationsorgane

763

Neue Freie Presse 714 Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung 657 Neue Zeit 657, 7 0 6 - 7 0 8 Norddeutsche Allgemeine Zeitung 103, 578 Ny Tid 339 Papers of Inter-Racial-Problems 660, 663 Philosophische Monatshefte 615 Political Review 59, 60 Schlesische Zeitung 237 Schmollers Jahrbuch 143, 237, 467, 593, 612, 628, 657 Statistical Abstracts for the United Kingdom 474 Statistisches Handbuch für das Deutsche Reich 458 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 245 Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat 449 Statsvetenskapling Tidskrift 700 Svenska Dagbladet 102, 534, 709 f. The English Historical Review 58 The Imperial and Asiatic Quarterly Review 167 The Nation 100, 101, 107 The New Statesman 106, 507, 526, 561, 585, 704, 708, 709, 7 1 1 - 7 4 3 The Times 102 The Times Literary Supplement 562 Theologische Literaturzeitung 601, 611, 616 Tilskueren 339 Tönnies-Forum 656, 702 Viertel]ahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs 289, 520, 525 Vorwärts 511 Vossische Zeitung 526, 638, 701 Weltwirtschaftliches Archiv 299, 519, 560, 618, 623, 627, 642 Westminster Gazette 106 Wörterbuch der Volkswirtschaft 462 Zeitschrift für Literatur und Geschichte der Staatswissenschaften 303 Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 615

Personenregister Die Namen folgen einander alphabetisch, ungeachtet der Adelsprädikate. Diakritische Zeichen (s.o. S. 719) sind dabei ausser Acht gelassen worden.

Das Personenregister erfasst grundsätzlich alle Namen Lebender oder Toten, die in den edierten und erläuterten Texten bzw. Passagen vorkommen. Gegebenenfalls wurde orthographisch korrigiert, z. B. fremdländische Namen eingedeutscht. Adelsprädikate sind den Namen vorangestellt worden, ohne dass die alphabetische Reihenfolge durchbrochen worden ist. Die Lebensdaten erscheinen kursiv. Dem schliessen sich kurze Angaben zum beruflichen Wirkungskreis an; möglichst erstrecken sich die Hinweise auf den Kontext der vorliegenden Ausgabe. Namen, die sich in Bd. 1—26 von Meyers Enzyklopädischem Lexikon (Meyer 1971 — 81) finden, sind nach ihren Lebensdaten mit einem Asterisk (*) versehen worden; auf weitere Erläuterungen wurde deswegen meist verzichtet. Die Namen der Herausgeber von Sammelwerken oder Verlagsnamen, soweit sie nicht in den tönniesschen Texten auftauchen oder von keinem editorischem Nutzen schienen, sind vernachlässigt worden. Abbas II. Hilmi (1874-1944)", Khedive von Ägypten 92 Abdullah, Achmed [Pseudonym: Nadir Khan-Romanoffski] (1818-1945), amerik. Schrifsteller 541 Abendroth, Hamburger Amtsrichter 221 A f u r a , Yussuf Bey (1876-1933), türk. politischer Publizist 540 Adler, Felix (1851-1933), dt. Herkunft, gründete 1876 die „New York Society for Ethical Culture", seit 1902 Prof. für Politik und Sozialethik in Columbia 538, 659, 660 Agaoglu [eigentl. Agayev], Ahmed (1869— 1939), türk. Schriftsteller 540 Akbar Khan: Muhammad Akbar, (gest. 1849/50), afghanischer Rebellenführer 67 Aktschura —» Ai;ura Alexander I. (1777-1825f, russ. Zar (1801-1825) 547,549

Alfons XII. (1857-1885)", span. König (1874-1885) 556 Alison, Sir Archibald (1792-1867), engl. Historiker 654 Althusius, Johannes (1557—1638)", calvinistischer Staatstheoretiker 204 Ammianus Marcellinus (ca. 330—ca. 395)", spätröm. Historiker griech. Herkunft 624 Angell, Sir Ralph Norman (1872-1962)", engl. Publizist 488 Anschütz, Gerhard (1867-1948)", dt. Rechtsgelehrter 233,715 Arabi Pascha, Ahmad [auch: Urabi Pacha] (1839-1911)", ägypt. Politiker, Führer d. Nationalpartei 88, 90 Comte d'Argental, Charles-Augustin Ferriol (1700-1788), frz. Schriftsteller, Parlamentspräsident v. Metz 251, 257 Aristoteles (384-322 v. Chr.)" 9, 172, 223 f., 673

766

Apparat

Arndt, Ernst Moritz (1769-1860)'' Arrhenius, Svante (1859-1927)'',

277 schwed.

Naturforscher 700 (Earl of Oxford and) Asquith, Herbert Henry (1852 — 1928)''', engl. Premierminister (...) (1908-1916) 99, 229, 488, 509, 563, 705 Earl of Auckland, George Eden (1784— 1849)'', brit. Generalgouverneur in Indien 66 f. Auer, Ignaz (1846-1907)'', dt. Sozialdemokrat, seit 1877 MdR, seit 1890 im Parteivorstand der SPD 366 Augustinus (354-430)'' 202 Lord Avebury —> Lubbock Averroes (1126-1198), arab. Philosoph, Theologe, Jurist und Mediziner 172, 673 Avicenna (980-1037), 172, 673

arab.

Philosoph

Bacon, Francis Baron Verulam, Viscount St. Albans (1561-1626)*, engl. Philosoph u. Staatsmann 9, 21 Bahr, Hermann (1863-1934)", dt. Schriftsteller 242 Bahr, Otto (1817-1895)", dt. Jurist 223,

680 Baldwin, James Mark (1861-1934)", amerik. Psychologe 619 Earl of Balfour, Arthur James (1848— 1930)*, engl. Philosoph und Premierminister (1902-1905) 99,488 Ballod, Carl (1864-1931), Mitglied d. Kgl. Preußischen Statistischen Amtes 337, 691 Banardiston, N. W. (bl. 1906), brit. Oberstleutnant, Militärattache in Brüssel (1902-1906) 502 Baring, ev. Theologenfamilie, mit den Söhnen Franz Barings (gest. 1589), Teilung in eine hannoversche und eine bremische Linie; aus letzterer gingen die englischen Barings hervor 23 Barker, Ernest (1874-1960), engl. Historiker u. politischer Philosoph 17

Bartelmann, Johann Jakob Heinrich (1816-1868), dt. Philologe und Pädagoge 369 Barth, Paul (1858-1922)", dt. Prof. f. Philosophie u. Pädagogik 372, 374 f. Bastiat, Frédéric (1801-1850)", frz. Ökonom 10 Baumert, Georg F. (1854-nach stizrat i. Berlin 656 Bebel, August (1840-1913)" 368

1912), Ju242, 3 6 1 -

Bebel, Johanna Carolina Henriette (Julie) (geb. 1908), August Bebels Frau 364 Bebel, Wilhelmine Johanna, geb. Simon (1804-1853), August Bebels Mutter 364 Becher, Johann Joachim (1635-1682)" 9 Bedrossian, Benjamin (bl. 1915), türk. Journalist 540 Bekker, Balthasar (1634-1698)"', holl. protestantischer Theologe 358 von Beling, Ernst (1866-1932)", dt. Strafrechtler 233 Bell, Alexander Graham (1847-1922)", Erfinder d. Telefons 629 Belloc, (Joseph) Hilaire (Pierre René) (1870-1953)", engl. Schriftsteller 529 Beloch, Karl Julius (1854-1929)", dt. Althistoriker 624 von Below, Georg (1858-1927)", dt.Verfassungs- u. Wirtschaftshistoriker 124 f., 130 von Below-Saleske, Konrad A. Klaus (1866-1939), dt. Gesandter in Brüssel 1914 103 von Bennigsen, Rudolf (1824-1902)", dt. nationalliberaler Politiker, gehörte zu den Gründern des Deutschen Nationalvereins 280 Graf Benso di Cavour, Camillo (1810— 1861)", ital. Staatsmann 77 Berg (bl. 1911), Rechtsanwalt (Altona) 221 von Berg, Karoline [geb. Häseler] (1760— 1826), kgl. H o f d a m e 127 Berkeley, George (1684-1753)", engl. Philosoph u. anglikanischer Bischof 9

767

Personenregister (Frhr.) von Berlepsch, H a n s H e r m a n n (1843-1926), preuß. Politiker 714 Bernhardi, Friedrich (1849-1930)*, Leiter kriegsgeschichtlichen Abteilung beim G r o ß e n Preuß. Generalstab 26, 530, 718 Bernis, Francois-Joachim de Pierre, Cardinal de (1715 —1794)*, frz. Kardinal, Staatsmann u. Dichter 97 Bernstein, E d u a r d (1850-1932)", dt. Sozialdemokrat. Theoretiker und Publizist 103, 372 Graf von Bernstorff, Christian G ü n t h e r (1769-1835)", dän. Gesandter in Berlin u. Stockholm, Minister d. Auswärtigen 55 Graf von Bernstorff, Joachim (1771 — 1835), Bruder von Christian G ü n t h e r B. 56, 58 Berolzheimer, Friedrich (1869-1920), dt. Rechtsphilosoph, Mitbegründer „Archiv f. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie 336 Besant, Annie (1847-1933)", engl. Fabianerin u. Theosophin, Freundin G. B Shaws 194 von Bethmann Hollweg, T h e o b a l d (1856— 1921)*, preuß. Politiker, 1909 zum Reichskanzler berufen (bis 1917) 103, 497, 502, 713 Frhr. von Birkmayer, Karl R. (18471920)*, dt. Straf- u. Zivilrechtler 633 Fürst von Bismarck, Otto (1815 — 1898)* 23, 90, 128, 219 f., 269 f., 279, 281, 363, 406, 422, 490 Blake, Robert (1599-1657)*, engl. Admiral 32 Blanc, Louis (1811 — 1882)*, frz. Frühsozialist 10 Countess of Blessington, Marguerite (1789-1849), engl. Schriftstellerin 22 Blum, Robert (1807-1848)*, dt Revolutionär, gehörte in der Frankfurter Nationalversammlung zu den Vertretern der Linken 276 von Blume, Wilhelm (1867-nach dt. Jurist 233

1912),

Blunt, Wilfrid Scawen (1840-1922)*,

engl.

D i p l o m a t und Schriftsteller 27, 9 0 - 9 2 Böttger, H u g o (1863-nach 1911), dt. Politologe 206-209 Böttger, Richard P . G u s t a v (1861 —nach 1913), dt. Dozent für Politik u. Gesellschaftslehre an d. früheren Gehestiftung in Dresden 374 Bonucci, Alessandro (1883-1925)*, ital. Rechtsphilosoph 223 f., 614, 680 von Bortkiewicz: Ladislaus (1868—1931)*, Statistiker 337, 676 Boswell, James (1740-1795), schott. Biograph u. Schriftsteller 23 Boulanger, Georges (1837-1891)*, frz. General u. Politiker 422 Boutroux, Emile (1845-1921)*, frz. Philosoph 117 f. Bowring, Sir J o h n (1792-1872)*, engl. Schriftsteller, Reisender u. Politiker, u. a. Konsul im Kanton, brit. Bevollmächtigter für China, 1854 Oberbefehlshaber u. Vizeadmiral, Gouverneur von H o n g kong 74 von Boyen, H e r m a n n (1771-1848)*, Mitgestalter der preußischen Heeresreform (Bildung des Volksheeres) 126, 558 Brailsford, Henry Noel (1873-1958), engl. Journalist 106 f. Bramhall, J o h n (1593-1642), of Armagh

Archbishop

658

Braun, Heinrich demokratischer

(1854-1927), Journalist u.

ker 717 f. Breithaupt, Georg Wolfgang

sozialPoliti-

(1889—nach

1915), promovierte 1915 bei Adolf Wagner 517 Brenke, Else (1874-1945),

Lehrerin, Tön-

nies' letzte wissenschaftliche rin 339, 649

Sekretä-

(von) Brentano, Lujo [Ludwig Joseph] (1844-1931)*, dt. Nationalökonom, Mitbegründer d. „Vereins f. Sozialpolitik" 242, 288, 315, 688 Bridges, G. T. M . (bl. 1911), engl. Offizier, Militärattache i. Brüssel 1911

502

768

Apparat

Bright, John (1811-1889)'', Führer der engl. Freihandelsbewegung 27, 77 f., 82, 89, 269, 486 f. Baron von Brockdorff, Cay Ludwig Georg Konrad (1874-1946), Philosoph, Prof. in Kiel (1910-21) 694, 6 9 6 - 6 9 9 , 701 f. Graf von Brockdorff-Rantzau, Ulrich (1869-1928)*, dt. Diplomat, Gesandter in Kopenhagen (1912-1918) 13, 696-698 Brodnitz, Georg (1876~nach 1913), dt. Historiker 688 Bruce, Charles (1836-1920), engl. Forschungsreisender 190, 656 Brüschweiler, Carl (1878 —1956), Schweiz. Statistiker 625 (Viscount) Bryce, James (1838-1922)", engl. Jurist, Historiker u. Staatsmann 223, 531, 680 Buchenberger, Adolf (1848-1904), dt. Volkswirt, Agrarpolitiker, badischer Finanzminister 304 Duke of Buckingham, George Villiers (1628-1687)*-, Freund, Höfling und Berater Karls II. 207 Comte de Buffon, George Louis Leclerc (1707-1788)*, frz Naturforscher 254 Fs. von Bülow, Bernhard Heinrich Martin (1849-1929)*, dt. Reichskanzler ( 1 9 0 0 1909) 128, 242, 656 Bülow, Oskar (1837-1907)*, dt. Jurist 295 von Bülow-Cummerow, Ernst (1775 — 1851), preuß. Publizist 274 Burckhardt, Jacob (1818-1897)*, Schweiz. Kulturhistoriker 323 Burke, Edmund (1729-1797)*, engl. Politiker u. Schriftsteller 27, 42, 47, 275 Burland, Adolf (bl. 1914) 696 Burnes, Sir Alexander (1805-1841), brit. Offizier im indischen Kolonialdienst 69 Burns, John Elliot (1858-1943)*, brit. Arbeiterführer u. Politiker 106 Busch, August Wilhelm (1872-nach 1913), Dir. des Statistischen Amtes d. Stadt Frankfurt am Main 337, 691

Busch, Moritz (1821-1899)*, dt. Journalist, bekannt durch seine enge Zusammenarbeit mit Bismarck 22, 90 Busenbaum, Hermann (1609—1668), dt. Jesuit u. Moraltheologe 395 Earl of Bute, John Stunrt(1713-1792), engl. Premierminister (1762—1763) 41 Baron of Byron, George Gordon Noel (1788-1824)* 22,34,507,530 Cambon, Paul (1843-1924)", frz. Diplomat 105 Campbell, Thomas (1777-1810)*, engl. Schriftsteller 61 Campbell-Bannerman, Sir Henry (1836— 1908)*, engl. Premierminister 1 9 0 5 1908) 99 Cana, Frederick Richardson (1865 — 1935), engl. Schriftsteller u. Journalist 94 Canning, George (1770—1827)*, engl. Staatsmann, u. a. Außenminister 56— 58, 656 Cantillon, Richard (ca. 1680-1734)*, engl. Nationalökonom und Geschäftsmann 9 Carlyle, Thomas (1795-1881)", engl. Schriftsteller 22 f., 82 Carpzov, Benedikt (1595-1666)*, dt. Kriminalist, orthodoxer Lutheraner 213 Lord Castlereagh, Henry R. (1769-1822)*, engl Staatsmann, Vertreter Englands auf dem Wiener Kongress 548 Cato, Marcus Porcius [Censorius] (234 — 149 v. Chr.)* 33 Cauer, Minna (1841-1922), dt. Journalistin u. Frauenrechtlerin 710 Cavendish, Thomas (1560—1592), engl. Seefahrer 34 Cavour, Camillo —' Benso di Cavour, Camillo Chait Singh ( -1810), ind. Fs. (v. Benares) 50 Chamberlain, Houston Stewart (1855 — 1927)*, engl. Rassetheoretiker, Schwiegersohn R. Wagners 498, 505 Chamberlain, Joseph (1836—1914)*, engl. Staatsmann 25, 90, 95 f.

Personenregister Child, Sir Josiah (1630-1699) ", Chairman d. Ostindischen Kompanie 9 Christian VII. (1749-1808)*, dän. König (1766-1808) 58 Lord Churchill, Randolph Henry Spencer (1849-1894)", engl, konservativer Politiker 655 Churchill, Sir Winston Leonhard Spencer (1874-1965)", engl. Staatsmann 99, 106,488,655 Cicero, Marcus Tullius (106—43 v. Chr.)" 417,561 Clausen, Lars (1935 —), dt. Soziologe, seit 1978 Präsident der F T G , federführender Mit-Hg. der T G XX Lord Clive, Robert (1725-1774)", engl. Staatsmann 15, 46, 50, 85, 530 Cobden, Richard (1804-1865)", engl. Freihandelspolitiker 75, 269 Cockburn, Sir Alexander James Edmund (1802-1880), engl. Lord Chief-Justice 81 Coit, Stanton (1857-1944), amerik. Sozialreformer 642 Colbert, Jean-Baptiste (1619-1683)", frz. Finanz- u. Wirtschaftspolitiker 37 Comte, Auguste (1789-1857)* 162, 339 de Condorcet, Antoine Nicola (1743 — 1794)*, franz. Geschichtsphilosoph 162,665 Congreve, Richard (1818-1899)*, engl. positivistischer Philosoph 162 Conrad, Johannes Ernst (1839-1915)*, dt. Nationalökonom 349 Cooley, Charles Horton (1864-1929)*, amerik. Soziologe 643 Cooper, Anthony A. Cooper, 1st Baron Ashley, 1st Earl of Shaftesbury (1621 — 1683)", engl. Staatsmann, u. a. Lord Chancellor (1672-1673) 33 Lord Cornwallis, Charles (1738-1805)*, engl. Politiker, reformierte nach den Missbräuchen von Clive und —» Hastings die engl. Verwaltung in Indien 50 Cowper, William Dichter 48

(1731-1800)*,

engl.

769

Earl of Cromer, Evelyn Baring (1841 — 1917)", engl. Kolonialbeamter, Generalkonsul in Ägypten 23, 25, 27, 88 f., 91 f. Cromwell, Oliver (1599-1658)*, engl. Lordprotektor 15, 3 1 - 3 4 , 39 Cudworth, Ralph (1617-1688)*, engl. Theologe 356 Cunningham, William (1849-1919)*, engl. Historiker 688 Dahlmann, Friedrich Christoph (1785 — I860)*, dt. Historiker u. Staatsrechtler 635 Dalhousie, Sir James Andrew Broun Ramsay (10th Earl and 1st Marquis of Dalhousie) (1812 — 1860)*, Generalgouverneur Indiens 1847, erklärte 1849 den Pandschab zur britischen Provinz 86 Dampier, William (1652—1715)", englischer Seepirat, seit 1679 bei den Bukkaneers in Westindien 34 Danielson (bl. 1914) schwed. Bürgerin 696 Darwin, Charles (1809-1882)" 360 Daudet, Alphonse (1840-1897)*, frz. Schriftsteller 579 f. Davignon, Julien (1854-1916), belg. Außenminister (1907-1916) 103 f. Davis, Henry William Carless (1874— 1928), engl. Historiker 17 Davis, Michael Marks (1879-1971), amerik. Mediziner 612—615 Baron Dedel, Salomon (1775-1846), holl. Gesandter i. London 655 Dehmel, Richard (1863 -1920)* 242 Delcassé, Théophile (1852-1923)*, frz. Außenminister 1 8 9 8 - 1 9 0 5 582 Descartes, René (1596-1650)* 213 Earl of Derby, Edward Geoffrey Smith Stanley (1799-1869)*, engl. Premierminister (1852, 1858/59, 1866-1868) 75 Deussen, Paul (1845-1919), dt. Philosoph, seit 1891 in Kiel 169, 670 Dharmapala, Anagarika (1864-1933)*, Ceylon, buddhistischer Reformer 170 Dickens, Charles (1812—1870)* 82

770

Apparat

Dietzel, Heinrich (1857-1935)", dt. Nationalökonom 303 Düke, Charles (1843-1911)", Mitglied des englischen Kabinetts ( 1 8 8 2 - 1 8 8 5 ) 90 Disraeli, Benjamin, Earl of Beaconsfield (1804-1881)" 81 f., 88, 531 von Donnersmarck —> Henckel von Donnersmarck Döring, August (1834-1912),

dt. Philosoph 247, 249, 684 Dost Mohammed (1789-1863)", afgh. Herrscher ( 1 8 3 4 - 3 9 , 1 8 4 2 - 1 8 6 3 ) 6 6 69

Douglas, Sir Robert (1838-1913), engl. Sinologe 165, 656, 666 Douglas, Wilhelm August (1849-1916), Außenminister (1895-99), schwed. Reichsmarschall seit 1912, gebürtig in Zürich 696,700 Douglas-Langenstein (bl. 1914), Sohn von —» Wilhelm August Douglas 700 Dove, Richard W. (1833-1907), dt. Kirchenrechtler 309 Drake, Sir Francis (1545 — 1596)*, engl. Seefahrer 34, 36, 39 Drießmanns, Heinrich (1863-1927), dt. Biologe u. Eugeniker 375 DuBois, William Edward Burghardt (1868-1963)", amerik. Negerführer u. späterer Begründer des Panafrikanismus 156, 189 Ducarne (1845~nach 1914), belg. Generalstabschef 502 Dundas, Henry, Ist. Viscount Melville (1742-1811)", 1. Lord d. engl. Admiralitäten, veranlasste, dass Hastings aus Indien abberufen wurde 48 Dupont-White, Charles Brooke (18071878), frz. Nationalökonom

223

Dürkheim, Emile (1858-1917)" 621 Du Toit, Stephanus Jacobus (1867-1911), burischer Theologe, Journalist 95 Eastman

(Ohiyesa),

Charles

Alexander

(1858 —nach 1911), amerik. Regierungsarzt

189 f.

Eduard VII. (1841-1910)",

engl.

König

(1901-1910) 109, 500, 579 f., 655 Edwardes, Sir Herbert Benjamin (1819— 1868), engl. Kolonialoffizier in Indien 92 Edwards, Bryan (1743-1800), westindischer Kaufmann und Verfasser von Büchern zur westindischen Geschichte 656 Eliot, George (1819-1880)", Pseudonym für Mary Ann Evans, engl. Schriftstellerin 598 Elisabeth I. (1533-1603)",

engl. Königin

(1558-1603) 15, 31 f., 43 Earl of Ellenborough, Edward Law (1790— 1871), Generalgouverneur Indiens 67 f. Elliot, Charles (1801-1875), engl. Admiral (seit 1865), Chief Superintendent u. Bevollmächtigter d. „China Trade Commission" 71 Ellis, Henry Havelock (1859-1939)", engl. Schriftsteller, Pionier der wiss. Erforschung der Sexualität 593 —599, 716 f. Ellwood, Charles Abram (1873-1946)", amerik. Soziologe 618 —621 von Elm, Johann Adolph (1857-1916), dt. Gewerkschafter, Mitgründer der „Generalkommission der Deutschen Gewerkschaften", Mitbegründer der „Volksfürsorge", MdR 147 ff. Elphinstone, William George Keith (1782 — 1842), engl. General, starb bei der Niederschlagung des afghanischen Aufstandes 67 Endres, Max (1860-1940), dt. Forstwissenschaftler u. -politiker 139 Engel, Ernst (1821-1896)", dt. Statistiker 447 Engels, Friedrich (1820-1895)" 10, 200, 367, 569, 575 Erdmann, Johannes Eduard (1805 — 1892)", dt. Philosophiehistoriker 213 Erdmannsdörffer, Bernhard (1833-1901)", Historiker, Nachfolger —» von Treitschkes in Heidelberg 265 Baron Erskine, Thomas (1750—1823)", eng. Lord Chancellor ( 1 7 9 0 - 1 8 0 6 ) 60

Personenregister Erzberger, Matthias (1875-1921)" 242 Eucken, Rudolf (1846-1926)", dt. Philosoph, Nobelpreisträger für Literatur (1908) 113-118,658 Eulenberg, Herbert (1876-1949)", dt. Schriftsteller 242 Eulenburg, Albert (1840-1917), dt. Mediziner 242 Ewers, Hanns Heinz (1871-1943)", dt. Schriftsteller 242 Eyre, Edward John (1815-1901)", brit. Gouverneur auf Jamaika (1865/66) 80 f. Fahlbeck, Pontus Erland (1850-1923)", schwed. Historiker 696, 700 Baron de Favereau, Paul Louis Marie Celestin (1856-1922), belg. Außenminister 578 Fechner, Rolf (1948—), dt. Soziologe, wiss. Referent der FTG (seit 1990), Mit-Hg. der TG X X , 649 Feig, Johannes Fürchtegott Joseph (1873 — 1936), dt. Jurist, Statistiker im Kaiserlichen Statistischen Amt 676 Feldborg, Andreas Andersen (1782-1838), dän. Schriftsteller u. Philologe 61 Ferdinand I. (1751-1825)", König beider Sizilien (1759-1825) 554 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814)" 257, 282, 345 Ficker, Gerhard (1865-1934), dt. ev. Theologe, seit 1906 Prof. in Kiel 694 f. Frhr. von Fircks, Arthur (1838-1900), preuß. Offizier, Mitgl. d. statistischen Büros, Militärschriftsteller 429 Fischer, Samuel (1859-1934), dt. Verleger 685 Fitger, Emil (1848-1917), dt. Kaufmann, Hauptredakteur der bremischen „Weserzeitung" 697, 701 Fletcher, Charles Robert Leslie (1857— 1934), engl. Historiker 17 Forberger, Johannes (bl. 1913), dt. Pastor in Dresden 6 0 1 - 6 0 4 Foerster, Wilhelm Julius (1832-1921), dt. Astronom, Gründer d. Gesellschaft f. ethische Kultur (1892) 659 Fourier, Charles (1772-1837)" 10, 364

771

Fox, Charles James (1749-1806), engl. Politiker 654 Francke, Alexander (1853—1925)", Schweiz. Verleger, aus Kiel stammend 718 Francke, Ernst (1852 — 1921)", dt. Sozialpolitiker u. Journalist, seit 1897 Hg. der „Sozialen Praxis", Mitbegründer der „Gesellschaft für Soziale Reform" (1901) 725 Franco Pinto, Joäo Fernäo (1855-1929) port. Staatsmann, Regierungschef (1906-1908) 556 Frank, Ludwig (1874-1914)"; dt. Rechtsanwalt in Mannheim, Mitglied der SPD im badischen Landtag (seit 1905) 242 Frantz, Constantin (1817-1891)", dt. politischer Publizist 310 Franz II. (1768-1835)", dt. Kaiser, als Franz I. Kaiser v. Österreich (1804— 1835) 546,551 Franz Ferdinand (1863 — 1914)", Erzherzog v. Österreich-Este 510 Fräser, Lovat (1871 — 1926), engl. Journalist u. polit. Publizist 102 Fresch (bl. 1912), Tischler 221 Friedrich (1754-1816)", seit 1797 regierender Herzog von Württemberg, seit 1803 Kurfürst, König V.Württemberg (1805 — 1816) 549 Friedrich II., d. Große (1712-1786)" 40, 125 f., 136, 260, 656 Friedrich VI. (1768-1839)", dän. König 58 Friedrich August III. (I.) (1750-1827)", König v. Sachsen u. Großherzog v. Warschau (seit 1806) 547 Friedrich Wilhelm III. (1770-1840)", preuß. König (1797-1840) 552 Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861)", preuß. König (1840-1861) 217, 231, 276, 279, 297 Froude, James A. (1818-1894), engl. Historiker 25 Fürth, Henriette (1861-1938), dt. Schriftstellerin, sozialhygienische Arbeiten 337, 678 Fustel de Coulanges, Numa Denis (1830— 1889)", frz. Historiker 623 f.

III

Apparat

Baron Gambier, James (1756—1833), engl. Lord der Admiralität (1795-1801, 1 8 0 4 - 1 8 0 6 ) , befehligte die Bombardierung Kopenhagens 1807 56 Garlike, Benjamin (bl. 1807), brit. Diplomat i. Dänemark 58 Geiger, Ludwig (1848-1919)'', dt. Literatur- u. Kulturhistoriker 242 Geijer, Karl Reinhold (1849-1922), schwed. Philosoph 696, 701 von Geijer, Salomon Gottschalk Alfons (1850-1924), schwed. General 700 Geisser, Alberto f —1929), Schweiz. Nationalökonom 718 Geliert, Georg (1868-1931), Herausgeber u. Chefredakteur v. „Deutschlands Jugend" 656 Gentz, Friedrich (1764-1832)'', dt.-österr. polit. Schriftsteller, seit 1809 vertrauter Mitarbeiter von —» Metternich 370 engl. König Georg III. (1738-1820)",

Glaevit [eigentl. Glanvill], Joseph (1636— 1680)", engl. Theologe 357 Glogau, Gustav (1844-1895), dt. Philosoph 223 Gneisenau, August Neidhardt (1760— 1831)", preuß. Heeresreformer u. Feldherr 558 Gneist, Rudolf (1816-1895)", dt. Jurist Präsident des „Vereins für Sozialpolitik" 223, 226, 683 Comte de Gobineau, Joseph Arthur (1816-1882)", frz. Rassentheoretiker 158 Goethe, Cornelia (1750-1777)" 635 (von) Goethe, Johann Wolfgang (1749— 1832)" 107, 122, 163, 173, 199, 278, 331, 345, 358, 365, 371, 406, 489, 576, 652, 664, 674 Goldberger, Ökonom, 242

Ludwig (1848-1913), dt. Geheimer Kommerzienrat

(1760-1820) 41 George, Henry (1839-1897)'', amerik. Sozialreformer 10 Gerlach, Christiane (bl. 1914), Frau v. Karl

Goldbeck-Löwe, Hans-Adolf (1863 —nach 1914), dt. Geschäftsmann, Konsul i. Stockholm 696 Goldscheid, Rudolf (1870-1931)", österr.

Albert Gerlach 695 Gerlach, Kurt Albert (1886-1922), dt. Prof. für wirtschaftliche Staatswissenschaften in Kiel, Hg. des „Staatsbürger", befreundet mit Tönnies 682, 695, 716 Gerngroß, Friedrich Ludwig (bl. 1913),

Soziologe u. Philosoph 337, 600, 678 f. Frhr. von der Goltz, Theodor (1836-1905),

dt. Jurist 628-637 Gibbon, Edward (1737-1794)", engl. Historiker 25 Giddings, Franklin Henry (1855-1931)",

Gordon, G . W . ( -1865), jamaik. Rebell gegen d. engl. Vorherrschaft 81 f. Goschen, Sir William E. (1847-1924), brit. Gesandter in Berlin (1908-1914) 104, 503

amerik. Soziologe von Gierke, Otto

619 (1841-1921)",

dt.

Rechtsgelehrter 134, 204, 223 Giese, Friedrich (1882-1958)", dt. Staats-, Verwaltungs- u. Kirchenrechtler 223 Gilette, John Morris (1866-1949), amerik. Soziologe 642, 645 Gladstone, William Ewart (1809-1898)", brit. Lib., Premierminister (1868-1874, 1 8 8 0 - 1 8 8 5 , 1892-1894) 18 f., 27, 71, 78 ff., 89 f.

dt. Prof. f. Landwirtschaft 269, 272 Gordon, Charles George (1833 — 1885)'% engl. Offizier u. Kolonialpolitiker, 90, 93

Gothein, Eberhard (1853-1923)", dt. Kulturhistoriker u. Nationalökonom 196, 309 Graham, Sir George (1801-1888), engl. Register-General 447 Grant, Ulysses S. (1822-1885)", amerik. Oberbefehlshaber aller Unionstruppen 1864 im Bürgerkrieg 84 Green, John Richard (1837-1883), engl. Historiker 18, 26, 41, 48

773

Personenregister Gregor VII. (Hildebrand v. Soana) (zw. 1019 u. 1030-1085)*, Papst (1073 — 1085) 203 Greindl, Jules Baron (1835-1917), belg. Gesandter in Berlin 578 f. Grenville, Sir Richard (1542-1591), engl. Kolonisator Virginias 32 Lord Grenville, William Wyndham (17591834)*, engl. Premierminister im Koalitionskabinett der Whig/Tory ( 1 8 0 6 1807) 54 Greville, Charles Lavendish Fulke (1794 — 1865), engl. Memoirenschreiber 655 Grey, Sir Edward (1862-1933)'', brit. Lib., Staatsmann 21,24,93,99-101,104107, 488, 503, 509, 584, 705 Grimm, Jacob (1785-1863)" 277 f., 547 Grimm, Wilhelm (1786-1859)" 547 Großmann (bl. 1914), russ. Bürger 697 Grote, George (1794-1871), engl. Historiker 360 Grotius,

Hugo

niederld.

(1583-1645)'%

Rechtsgelehrter 327 Gruhle, Hans Walther (1880-1958),

dt.

Psychiater 6 0 5 - 6 1 0 , 717 Guizot, François (1787-1847)", frz. Historiker u. Politiker 19, 25 Günther, Gustav Adolf (1881-1958), dt. Nationalökonom u. Soziologe 691 Gurlitt, Ludwig (1855-1931)*, dt. Pädagoge 242 Gurney, Russell (1804-1878), Stadtrichter v. London

81

Gustav II. Adolf (1594-1632)",

schwed.

König ( 1 6 1 1 - 1 6 3 2 ) 702 Gusti, Dimetrie (1880—1955)"', rum. Soziologe u. Philosoph 615 Frhr. von Gutschmid, Hermann Alfred (1831 — 1887), dt. Althistoriker 369 Haddon, Alfred Cort (1855-1940)*, Anthropologe

pany" du

der 44

„South

Halde, Jean 165,666

Virginian

Baptiste

(1674-1743)*

Marquess of Halifax, George Savile (1633-1695)*, engl. Staatsmann 206, 208 f. von Haller, Karl Ludwig (1768-1854)", Schweiz. Staatswissenschaftler 282 f. Hanssen, Georg (1809-1894), dt. Agrarhistoriker u. Nationalökonom 268 Fs. von Hardenberg, Karl August (1750— 1822)*, preuß. Staatsmann und Reformer, Vertreter Preußens auf dem Wiener Kongress 128, 274, 548, 550 f. Hardie, James Keir (1856-1915)", schott. Arbeiterführer, Mitbegründeter der Labour Party 106 Harms, Bernhard (1876-1939)", dt. Volkswirt, Professor u. langjährig Gründungsdirektor des Institutes für Seeverkehr und Weltwirtschaft in Kiel, förderte Tönnies' Karriere 330, 334, 653 von Harnack, Adolf (1851-1931)", dt. ev. Theologe u. Kirchenhistoriker 497 f. Harrison, Frederic (1831-1913), engl. Rechtsgelehrter, Präs. d. „Positivist Committee" ( 1 8 8 0 - 1 9 0 5 ) 162 Hart, Sir Robert (1835-1911)*, engl. Diplomat, Generalzollinspektor, Schlichter der engl.-chines. Streitigkeiten, forcierte Reformen in China 166, 666 f. Hartmann, Ludo Moritz (1865-1914), österr. Historiker u. Politiker 372, 374 f. Hartmann, Moritz (1821-1872)*, dt. Publizist, Mitgl. d. Nationalversammlung 277

engl. Zoo-

Haselbach, Dieter (1954—)

ev. Theologe u. Kirchenhistoriker dt.

Com-

Hasbach, Wilhelm (1849-1920), dt. Volkswirt 223, 680 von Hase, Karl August (1800-1890)*, dt.

190

Haeckel, Ernst (1834-1919)*, loge 379, 389, 652

venturer

Hakluyt, Richard (1552Ï-1616)*, engl. Geograph u. angl. Theologe, Chief Ad-

Herausgeber von T G 15 Hassall, Arthur (1885-nach Historiker

17

215

dt. Soziologe, XX 1915),

engl.

774

Apparat

Hastings, Warren (1732-1818)*, engl. Generalgouverneur von Britisch-Indien (1772-1784) 15, 46 f., 50 f., 530 Haupt, Hermann (1854-1935), dt. Bibliothekar u. Schriftsteller 370 Hauptmann, Carl (1858-1921)", dt. Schriftsteller u. Naturwissenschaftler, Bruder von Gerhart Hauptmann 242 Häusser, Ludwig (1818-1867), dt. Prof. d. Geschichte, Mitglied des Vorparlaments 1848 u. der badischen Kammer 123, 125, 549, 551, 558 Hawkins, Sir Thomas (1532 — 1595), engl. Admiral 32, 39, 43 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

(1770-

Hesse, Albert (1876-1965), dt. Statistiker u. Nationalökonom 691 Frhr. Heyl zu Hernsheim, Wilhelm (18431923), dt. Industrieller u. nationalliberaler Politiker 408 Heyse, Ernst (gest. 1866), Bruder von Paul Heyses 635 (von) Heyse, Paul

(1830-1914)",

dt.

Schriftsteller 635 Hildebrand, Bruno (1812-1878)*, dt. Volkswirt u. Staatswissenschaftler, Begründer des „Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik", Mitbegr. des „Vereins für Socialpolitik" 348 Hippokrates (ca. 460— ca. 370

1831)* 113 Hegewisch, Charlotte (Lotte) (1822-1903), dt. Liberale. Tochter d. altliberalen schleswig-holsteinischen Publizisten FranzH. Hegewisch (1783-1865), führte in Kiel einen stadtbekannten Salon 635 Hegewisch, Karoline (1786—1856), Schwester v. Charlotte Hegewisch 635 Heilbron, Fritz (1872-nach 1936), dt. Legationsrat 713 Heine, Heinrich (1797-1856)" 169, 670 Heine, Wolfgang (1861-1944), dt. Jurist u.

159 v. Chr.)* Hirsch, Paul (1868-1940)*, mokratischer Politiker, nom 715

SPD-Politiker 242 Heinemann, Hugo (bl. walt 715

Jurist u. Statistiker 337 Höffding, Harald (1843-1931)*, dän. Philosoph, mit Tönnies befreundet 214 f., 3 3 9 - 3 4 6 , 484, 696 f. von Hoffmann, Geza (bl. 1913) 628-637 Fs. zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Choldwig (1819-1901)*, deutscher Reichskanzler (1894-1900) 280 Hohoff, Wilhlem (1848-1923), kath.

1915),

Heinrich IV. (1553-1610)*, (1589-1610) 37 von Held, Joseph (1815-1890), 223, 680

Rechtsanfrz.

König

dt. Jurist

Helmuth (bl. 1915), Chefredakteur d. „Svenska Dagbladet" 534, 710 Fs. Henckel von Donnersmarck, Graf Guido (1830-1916), schlesischer Industrieller 212 Henderson, Charles Richmond (1848 — 1915), amerik. Soziologe 642, 644 Hennings, Heinrich (bl. 1914), Mitarbeiter von Tönnies 507, 538, 705, 713 Herbertson, Andrew John (1865-1915)", engl. Geograph 638 (von) Herder, Johann Gottfried 1803)" 173, 257, 282, 365, 674

(1744-

dt. sozialdeNationalöko-

Hjärne, Harald (1848-1922), schwed. Historiker u. Politiker 25, 696, 700 f. Hobbes, Thomas (1588-1679)* 9, 13, 142, 200, 205, 209, 223 f., 256, 356 f., 658 Hobson, John Atkinson (1858-1940)*, engl. Nationalökonom u. Publizist 312 Hoepker, Heinrich (1874um 1913), dt.

Theologe u. Soziologe 364 Hölderlin, Johann Christian

Friedrich

(1770-1843)" 365 Holm, Peter Edvard (1833-1915), dän. Historiker 57 von Holtzendorff, Franz (1829-1889)", dt. Jurist 327 Hopf, Wilhelm (1876~nach 1913), Dir. der Landesbibliothek Kassel 370 Horn, Ignaz Einhorn (1825 — 1875), österr. Schriftsteller u. Wissenschaftler 447

775

Personenregister Howarth, Osborne John Radcliffe nach 1914) engl. Geograph Hsien-feng

Kaiser dt. So-

Hughes, Thomas Stuart (1786-1847), von

Alexander

(1769—

129

Humboldt,

Wilhelm

(1767-1835)" 9, 207, 223,

von Hutten, Ulrich (1488-1523)", ter u. Humanist Thomas

dt. Rit-

123

Jellinek, Georg (1851-1911)",

Darwinist

(1825-1895)'',

82, 162

Jenkins, Hester Donaldson

Rudolf

Rechtsgelehrter VIII.

Anthropologe

dt.

(1818-1892)",

416 f. Papst

Tengo

(1859—

afrikanischer Oppositioneller ge-

gen d. brit. Herrschaft i. Südafrika, Herausgeber d. ersten afrikanischen Zeitung

VI.

Johnson,

Samuel

Johnston,

Sir

James

(1770—1814)",

58

Jacoby, Eduard Georg (1904-1978), neuseeld. stent

Soziologe,

Assi-

653, 658

Harry

dt. Politi-

297, 363 dt. Staatswis-

715

Jakob I. (1566-1625)", II.

(1633-1701)",

(1685-1688)

561-563,

II. (1741-1790)",

(1765-1790)

327

engl.

österr.

ner u. Ökonom

frz. Medizi-

448

Justi,

Johann

502

Heinrich

Gottlob

dt. Kameralwissenschaft-

9

Juvenal(is),

Decimus

Junius

(60—140)"

160, 563 Kaiser, Hans (1874-1952),

—1917)",

i. Strassburg

brit. Arzt, südafrik. Politiker, Premiermi-

Kalidasa (Ende

nister der Kap-Kolonie (1910)

belg. Ge-

neral, Chef d. Generalstabs (1717—1771)",

Kaiser

230

König

18,208

Jameson, Sir Leander Starr (1853

(1858 — 585-590,

Juglar, Clément (1819-1905)",

ler engl. ( 1 6 0 3 - 1 6 2 5 ) ,

und (als Jakob V.) schott. König Jakob

Joseph

von

Jaffé, Edgar (1866-1921), senschaftler

Hamilton

Jungbluth, Harry (1847-1939),

Jacoby, Johann (1805-1877)", ker

dt./

Tönnies'

engl.

(1709-1784)",

227

1927), engl. Forschungsreisender und Kolonialbeamter

Francis

554

Schriftsteller

711-713

189, 249

242 König

port.

(1769-1826)",

(„Imvo Zabantsundu" [Opinion of the

engl. Diplomat

dt. alt-

von Jhering —» Ihering

Brown People] Jackson,

221

Jentsch-Neisse, Karl (1833-1917),

Johann

John

Schweiz.

1915),

katholischer Theologe u. Publizist

687

(Jabavu),

amerik.

657

(1792-1826) 1921),

538,

642, 644

Jenny, Ernest (1872—nach Publizist

(1432-1492)'',

(1484-1492) Jabovu

(1896-1941),

710, 711

Jens (bl. 1912), Tischler Ihering,

Innozenz

dt. Staats-

223

Jenks, Albert Ernst (1869-1953),

Henry

engl. Zoologe, Anatom und Physiologe,

(von)

(1868—nach

194

amerik. Historikerin u. Anglistin

531, 624 f.

Huxley,

frz. Philosoph

583

(Baron) Jayatilake, Sir Don

rechtler

Hume, David (1711-1776)''

dt. ev. Theo-

Jaurès, Jean (1859-1914)",

1911), Ceylonese

1 2 7 , 1 2 9 , 223, 550 f., 558

386 f., 655

212

u. Politiker

Humboldt,

1859)" von

engl.

531

283

dt. Nationa-

Jatho, Carl (1851-1913), loge

282-284

Historiker

österr. Ju-

Jastrow, Ignaz (1856-1937), lökonom u. Historiker

166

Huber, Victor Aimé (1800-1869)'', zialpolitiker

Jarcke, Karl Ernst (1801-1852),

rist, Pressechef von —» Metternich

chines.

(1831 — 1861),

(1850-1861)

(1877-

638

95

Dichter

173

Archivdirektor

370 4.—Anfang

5. Jh.)*,

ind.

776

Apparat

Kant, Immanuel (1724-1804)'' 14, 161, 169, 223, 257, 339, 344, 565, 670 Kantorowicz, Hermann (1877-1940)", dt. Jurist 196 Graf Kapodistrias, Johannes (1776— 1831)'', griech. Staatsmann, russ. Vertreter beim Wiener Kongress 550 Karl I. (1600-1649)*, engl. König ( 1 6 2 5 1649) [Hinrichtung] 208 Karl II. (1630-1685)", engl. König ( 1 6 6 0 1685) 15, 20f., 3 1 - 3 4 , 39, 44 Karl X. (1757-1836)", frz. König ( 1 8 2 4 1830) 554 Karl August (1757-1828)", Großherzog von Sachsen-Weimar (1775-1828) 122 Katharina II. (1729-1796)% russ. Zarin (1762-1796) 41,55 Kaufmann, Heinrich (1864-1928), Führer d. Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 145 f., 151 Kautsky, Karl (1854-1938) 657, 706, 708 Kaye, Sir John William (1814-1876), engl. Militärhistoriker 27, 69, 85 Kepler, Johannes (1571-1630)" 214 Kierkegaard, Sören (1813-1855)" 345 Kierulff-Rostock, Johann Friedrich Martin (1806-1894), dt. Jurist, als Abgeordneter Rostocks Mitgl. d. Nationalversammlung 276 Earl of Kimberley, John Wodehouse (1826—1902), brit. Staatsmann, v. a. im Kolonialdienst, befürwortete d. militärischen Operationen in Südafrika 96 Kingsley, Charles (1819-1875)*, engl. Schriftsteller u. Historiker 82 Kinkel, Walter (1871-nach 1934), dt. Philosoph 242 Lord Kitchener of Khartoum, Horatio Herbert (1850-1916)", engl. Heerführer, brit. Oberbefehlshaber im Burenkrieg, bei Ausbruch des Weltkrieges Heeresminister 531 Klein, Franz (1854-1926)", österr. Justizminister (1906-1908) 622 von Kleist, Ewald Christian (1715-1759)*, dt. Dichter 129 von Kleist, Heinrich (1777-1811)"

129

Knapp, Georg Friedrich (1842-1926)", dt. Nationalökonom, Agrarhistoriker, Statistiker, Mitbegründer d. „Vereins für Sozialpolitik" 268, 274 Kohler, Josef (1849-1919)", dt. Jurist u. Schriftsteller 242, 336 Konrad, Margit (1948—), Mitarbeiterin der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek XX Kopp, Joseph (1788-1842), Philologe u. Philosoph 369 Krose S. J., Hermann Anton (1867-1949), dt. Theologe u. Statistiker 601 Krüger, Paulus [Ohm] (1825-1904)", Präsident der Republik Transvaal (1883 — 1904), erreichte 1884 die Unabhängigkeit seines Landes 95 Kurella, Hans (1858-1916)", dt. Mediziner u. Psychiater 593 Kürten, Oscar (bl. 1913) Kuang-hsü (1872-1908), (1875-1908) 166

616 chines.

Kaiser

Laband, Paul (1838-1918)", dt. Rechtswissenschaftler, Mitglied d. Staatsrats f. Elsass-Lothringen (1880-1911) 388 Laboulaye, Eduard Réné Lefevbre de (1811-1883), frz. Rechtsgelehrter u. Schriftsteller, 1849 Prof. f. vergleich. Rechtswissenschaft am Collège de France 223 de Lagarde, Paul Anton (1827-1891)", dt. Orientalist u. konservativ-jugendbewegter Kulturphilosoph, 1869 349, 411 f. Comte de Lalaing (bl. 1914), belg. Gesanter in London (1903-1915) 579 Lampe, Friedrich (bl. 1915), Pastor der Deutschen St. Petri Kirche in Kopenhagen 697 f. Ritter von Landmann, Robert (1845 — 1926), Jurist, bayrischer Kultminister (1895) 352 Landsberg, Otto (1869-1957), dt. Jurist, Statistiker u. sozialdemokratischer Politiker (MdR) 676 Landsberger, Artur (1876-1933)", dt. Schriftsteller 242, 683 f.

Personenregister Langbein, Susanne (1967—), Mitarbeiterin an diesem Band XX Lange, Friedrich Albert (1828-1875)", dt. Philosoph u. Pädagoge 362 Lange, Gustav (1855-nach 1913), Dir. d. Großherzoglich Badischen Statistischen Landesamtes 691 Länger (bl. 1912), Tischler 221 de La Poulaine, Jean (1849-nach 1914), frz. Schriftsteller 97 Duc de La Rochefoucauld, François VI., Prince de Marcillac (1613-1680)", frz. Adliger u. Publizist 261 Sieur de La Salle, René Robert Cavelier, (1643-1687)", frz. Seefahrer 38 Lassalle, Ferdinand (1825-1864)" 10, 147, 362 f., 367 Lauzanne, Stéphane Joseph Vicent (1874— nach 1914), Chefredakteur d. „Matin" 582 Law, Andrew Bonar (1858-1923)", brit. konserv. Kolonialminister (1915/16) 488 Lecky, William Edward Hartpole (18381903), liberaler ir. Historiker, in Artikeln in der „Times" gegen das irische „home rule" u. für d. Gründung einer katholischen Univ. in Irland kämpfend 25 f., 40 f., 43 f., 98, 223, 656, 680 Lecomte, Louis (ca. 1665-1729) frz. Jesuit, Mathematiker u. Astronom 165, 666 Legien, Carl (Karl) (1861-1920)", dt. Gewerkschaftler 564, 714 f. Légitime, François Denys (1842—1935), Präsident von Haiti (1888/89) Lehmann, (bl. 1912), dt. walt 221

194 Staatsan-

Leifeld, Angela (1949-), dt. Soziologin, Mitarbeiterin dieses Bandes XX Lensch, Paul (1873-1926), dt. sozialdemokratischer Politiker, Journalist, seit 1912 MdR 715 Leopold II. (1835-1909)", belg. König (1865-1909) 587 Lepsius, Karl Richard (1810-1884)", Ägyptologe u. Sprachforscher 330

dt.

777

Vicomte de Lesseps, Ferdinand (1805 — 1894)", frz. Ingenieur, Erbauer d. SuezKanals (1859-69) 87 f. Lewes, George Henry (1817-1878)", engl. Kritiker, Biograph u. Essayist 598 Lexis, Wilhelm (1837-1914)", dt. Nationalökonom 463 von der Leyen, Friedrich (1873-1966), dt. Germanist u. Volkskundler 657 Fs. von Lichnowsky, Felix (1814-1848), dt. konservativer Politiker, Führer d. Rechten in der Nationalversammlung 277 Fs. von Lichnowsky, Karl Max (1860— 1928)", dt. Diplomat, Botschafter in London (1912-14) 509 Lieber, Franz (1798-1872)", dt./amerik. Prof. f. Politikwissenschaft in d. USA 223 Liebknecht, Wilhelm (1826-1900)", zialist. Politiker 362 f., 367 Fs. Ligne, Karl Josef (1735-1814)

dt. Soösterr.

Diplomat 547 Lilienthal, Erich (1879-nach 1915), dt. Sozialwissenschaftler u. Schriftsteller, Leiter des „Deutschen Auslandssekretariats, Hg. der „Dokumente des Fortschritts" 697, 708 f., 713 Lim, Boon Keng (1869—1957 ), repräsentierte auf d. Rassenkongress 1911 den chines. Ministerpräsidenten 191 Lin Tse-(h)sü (Lin Zexu) (1785-1850)", chin. Staatsbeamter, Kaiserlicher Hochkommissar in Kanton 71 Lincoln, Abraham (1809—1865)", amerik. Präsident 83 Ritter von Liszt, Franz (1851-1919)", dt. Strafrechtler und Kriminologe 336 Little, Alicia (Archibald) (gest. 1926), engl. Publizistin 194 Lloyd George, David (1863-1945)", engl. Staatsmann, Handelsminister (1905 — 1908) u. Schatzkanzler (1908-1915) 712 Locke, John (1632-1704)" 9 Low, Sir Sidney James Mark (1857-1932), engl. Schriftsteller u. Journalist, 1888 — 1897 Hg. d. „St. Jame's Gazette" 501

778

Apparat

von Loyola, Ignatius (1491-1556)'-', Begründer des Jesuitenordens 309 Lu (bl. 1911), Chinese aus Ningpo, Besucher d. Rassenkongresses 194 Lubbock, Sir John, 4th Baron (Lord) Avebury (1834-1913)'', engl. Bankier, Wissenschaftler, Schriftsteller u. Politiker 359 f., 692 von Lucius, Hellmuth (1869-1934), dt. Botschaftsrat in Stockholm (1914— 1119) 696 Ludwig IX. (1215-1270)*, frz. König (1226-1270) 310 Ludwig XIV. (1638-1715)", frz. König (1643-1715) 37, 55, 98, 121 Ludwig XV. (1710-1774)", frz. König (1715-1774) 580 Ludwig XVI. (1754-1793)*, frz. König (1774-1793) 54,545 Ludwig XVIII. (1755-1824)*, frz. König (1814-1824) 275 f., 543 f. Ludwig Philipp (1773-1850)*, frz. König (1830-1848) 503 Lugard, Sir Frederick John Dealtry (1858 — 1945), engl. Kolonialbeamter, Gouverneur von Hongkong (1907-1912) 167 Luther, Martin (1483-1546)* 307, 492 Lyall, Sir Alfred Comyn (1835-1911), engl. Kolonialbeamter, u. a. in Indien tätig, persönlicher Berater des Königs —> Eduard VII. 165, 666 Lord Lyndhurst, John Singleton Copley, (1772-1863), engl. Lord Chancellor ( 1 8 2 7 - 3 0 , 1 8 3 4 - 3 5 , 1 8 4 1 - 4 6 , 1851) 75 Lyttelton, Alfred (1857-1913), engl. Kolonialstaatssekretär (1903-1905) 95 Macaulay, Thomas Babington (1800— 1859)", engl. Historiker 46 f., 207 Macdonald, Ramsay (1866—1937)*, engl. Labourführer u. Premierminister; als die Labour Party am 4. Aug. 1914 für den Krieg votierte, stimmte Macdonald als einziger prominenter Parteipolitiker dagegen 106 Machiavelli, Niccolo (1469-1527)" 136

Mackenzie, Fayette A. (1872—1957), rik. Soziologe 642 f. Maedge, Carl, (1884-nach tionalökonom 403 Magelhäens (Magellan),

ame-

1912), dt. NaFerdinand

(ca.

1480-1521)* 165, 666 Maine, Sir Henry James Sumner (1822— 1888)*, engl. Rechtsgelehrter, Mitgl. des Council of India (1862-1869) 170 f., 223, 325, 671 f. Maitland, Sir Thomas [„King Tom"] (1759?—1824), brit. Offizier, Gouverneur auf Malta (1813), Lord High Commissioner auf d. Ionischen Inseln u. Oberbefehlshaber d. mittelmeerischen Verbände (1815) 79 Malleson, George Bruce (1825-1898), engl. Militärschriftsteller, im militärischen Dienst in Indien 85 f. Malthus, Thomas Robert (1766-1820)*, engl. Historiker u. Nationalökonom 9 Mann, Heinrich (1871 — 1950)* 242 Frhr. von Manteuffel, Karl Otto (18061879), preuß. Ministerpräsident ( 1 8 5 0 1858) 279 Manthey, Johann Daniel Timotheus (1771-1831), dän. Diplomat, Konsulatssekretär in Algier und Paris, während des Konfliktes mit England im dänischen Außenministerium tätig 56 f., 59 de Marchienne, Emile-Ernst de Cartier (1871-1946), belg. Botschafter in Paris (1906-1910) 579 Maria Stuart (1542-1587)*, Königin v. Schottland 33 Maria Theresia (1717-1780)* 41 Mario, Karl [Pseudonym, eigent. Karl Georg Winkelblech] (1810-1865)*, dt. Nationalökonom u. Sozialtheoretiker 10 Marsilius [von Padua] (1290-1343)*, politischer Theoretiker 203 Martin, Robert M. (1803?~1868), engl. Historiker u. Statistiker 165, 666 von der Marwitz, Friedrich August Ludwig (1777—1837)*, preuß. General und konservativer Politiker, Landwirt 274

Personenregister Marx, Karl (1818-1883)"

10, 200, 347,

367, 494, 513, 697 Mason, James Murray (1798-1871), Gesandter der araerik. Südstaaten 83 Maule, John Blossett (1817-1889), Stadtrichter v. Leeds ( 1 8 6 1 - 1 8 8 0 ) 81 Mauthner, Fritz (1849-1923)", österr. Schriftsteller u. Philosoph 242 Maximilian I.Joseph (1756-1825)*, seit 1799 Kurfürst von Pfalz-Bayern, König v. Bayern ( 1 8 0 6 - 1 8 2 5 ) 549 Maybaum (bl. 1911), Prof. 242 Mayer, Gustav (1871-1948), linksliberalsozialdemokratischer dt. Historiker 362 (von) Mayr, Georg (1841-1925), Statistiker und Nationalökonom in München, Begründer des „Allgemeinen Statistischen Archivs" 335, 448 f., 676, 678 Mazzini, Guiseppe (1805 — 1872)'", ital. Demokrat 554 McCarthy, Justin (1830-1911), irischer Politiker u. Historiker 26, 6 9 - 7 2 , 75 f., 80 f., 83 f., 96, 512, 656 Mead, George Gordon (1815 — 1872), amerik. General, im Bürgerkrieg 1864 durch —• U. Grant ersetzt 84 Meckenstock, Gunter (1948—), dt. Theologieprofessor XX Meinecke, Friedrich (1862-1946)', dt. Historiker 370 f., 374, 715 Mencken, Wilhelmine Louise (1789— 1839)'', Mutter Bismarcks 128 Mendel, Gregor (1822-1884)" 628 Mendelssohn, Moses (1729-1786)'", jüd. Philosoph 199, 679 Mendelssohn-Bartholdy, Albrecht (18741936), dt. Rechtswissenschaftler 233 Mendelssohn-Bartholdy, Felix (18091847)'" 199 Menzel, Adolf (1857-1938), rist 641

österr. Ju-

Merkel, Adolf (1836-1896)'", dt. Jurist, Strafrechtler 223, 680 Frhr. von Metternich, Klemens Lothar (1773-1859)" 216, 370, 548, 551, 557 f.

779

Meyer, Rudolf Hermann (1839-1899), dt. Journalist u. Schriftsteller 681 Michels, Robert (1876-1936)'", dt. Soziologe 372, 374 f. Mill, James (1773-1836)'', engl, utilitaristischer Philosoph, Vater von —• J. St. Mill 27, 45, 48 Mill, John Stuart (1806-1873) ', engl. Philosoph 82, 162, 223, 345, 596 Miller, Herbert Adolphus (1875-nach 1915), amerik. Soziologe 642 f. Milner, Alfred Viscount (1854-1925)'", engl. Politiker, Kap-Gouverneur u. Hoher Kommissar für Südafrika (1897), suchte die Einheit Südafrikas unter britischer Führung, betrieb den Burenkrieg 95 f. von Miquel, Johannes (1828-1901)'", preuß. Staatsmann u. Finanzminister (1891-1901) 280 Mohammed (ca. 570-632)'" 155 Mohl, Moritz (1802-1888)", dt. Politiker 276 Mohr, Arno (1949-), dt. Politologe u. Historiker 13 Ritter von Moldelbe —• Negrelli, Alois Möller, Erik (1879-1962) dän. Historiker 56 f., 59 Mombert, Paul (1876-1938), Volkswirtschaftler u. Bevölkerungs Wissenschaftler 288 Mommsen, Theodor (1817-1903)*, dt. Historiker u. Politiker 25 Montague, Francis Charles (1858-1935), engl. Historiker 223, 680 Montelius, Gustav Oskar Augustin (1843 — 1921 ), schwed. Archäologe u. Prähistoriker 700 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brède et de (1698-1755)" 164, 223, 226, 275, 447, 624, 665 More (Morus), Sir Thomas (1478— 1535)" 347 Morel, Edmund D. (1873-1924), engl. Publizist u. Politiker, begründete 1904 die „Congo Reform Association", Kandidat der Liberalen (1912 — 1914), wegen Ein-

780

Apparat

tritt Englands in den Krieg ausgetreten 5 6 1 - 5 6 3 , 5 8 0 - 5 9 0 , 711-713, 715 f. Morgan, Frank (1869-nach 1918), engl. Historiker 17 Morley, John (1838-1923)*, engl. Staatsmann u. Gelehrter, Herausgeber d. liberalen „Fortnightly Review" 18 f., 27, 72, 78 f., 106 Morse, Hosea Ballou (1855-1934), gebürtiger Amerikaner, i. chines. Zolldienst tätig 71, 73, 656 von Moser, Friedrich Carl (1723-1798)," dt. Jurist, seit 1767 Reichsfreiherr, administrative Tätigkeit bei verschiedenen Landesherren 123 f. Moses (ca. 1250 v. Chr.)" 155 Müller, Max (1823-1900), dt. Indologe, Prof. in Oxford 169,670 Müller, Stephan (1965—), Mitarbeiter an diesem Band XX Müller-Hansen (bl. 1912) 374 Müller-Heymer, Paul (um 1914), dt. Journalist, Korrespondent in Stockholm 701, 702 Müller-Meiningen, Ernst (1866-1944), dt. Richter, Politiker der Freisinnigen Volkspartei 232 Mun, Thomas (1571 — 1641)*, wirtschaftspolitischer Sprecher der Ostindischen Kompanie 9 Mustafa, Pasha Kamel (1874-1908), Gründer der ägyptischen Vaterlandspartei 93 Nansen, Peter (1861-1918)*, dän. Schriftsteller u. Journalist (bei „Politiken") 497, 703 Napoleon I. Bonaparte (1769-1821)* 15, 29, 32, 5 3 - 5 6 , 61 f., 87, 94, 98, 126, 395, 397, 510, 5 4 3 - 5 4 6 , 548, 5 5 0 - 5 5 2 , 557, 566, 654 Napoleon III. (1808-1873)" 32, 7 5 - 7 7 , 83 Natorp, Paul (1854-1924)", dt. Philosoph, Neukantianer, Mitbegründer der „Marburger Schule" 242, 657, 715

Naumann, Friedrich (1860-1919)" 242, 270, 485 Neefe, Moritz (1851-1925), Dir. d. Statistischen Amtes in Breslau 337, 676, 692 Negrelli, Alois, Ritter von Moldelbe (1799-1858)", österr. Ingenieur 87 Nena Sahib [„Herr Großvater", Spitzname v. Dundhu Dauth] (bl. 1857), Adoptivsohn d. letzten Marathenführers, dessen Erbe d. Briten einzogen; einer d. Führer d. Militäraufstandes v. 1857/58 531 Neumann, Friedrich Julius (1835-1910), dt. Nationalökonom u. Statistiker 323 f. Newton, Isaac (1643-1727)" 161 Niebergall, Friedrich (1866-1932), dt. ev. Theologe 242 Niebuhr, Barthold Georg (1776-1831)*, dt. Historiker u. Staatsmann 125, 127 Nietzsche, Friedrich (1844-1900)" 26, 285, 359, 530 Nikolaus I. (1796-1855)", russ. Zar 77, 555 Nöldeke, Theodor (1836-1930)*, dt. Islamwissenschaftler 369 Nordau, Max (1849-1923)*, österr. Schriftsteller u. Journalist 242 Nordhausen, Richard (1861-1941), dt. Schriftsteller 242 Noske, Gustav (1868-1946)*, dt. Politiker 714 Oetker, Friedrich (1854-1937), dt. Jurist 233 von Oettingen, Alexander (1827-1906)*, dt. prot. Theologe u. Moralstatistiker 603 Ogle William (1827-1905), engl. Statistiker, Superintendent of Statistics des General Register Office 448 Oldenberg, Karl (1864-1936), Nationalökonom u. Statistiker 288, 335, 337, 692 von Oldenburg, Elard (1855-1937), dt. konservativer Politiker, Rittergutsbesitzer in Januschau 408

781

Personenregister O m i c h a n d [eigentl. Amir Chand] (gest. 1767), ein Sikh aus dem Pandschab 46 O n c k e n , H e r m a n n (1860-1945), dt. Historiker 280, 714 O n c k e n , Wilhelm (1838-1905), dt. Historiker 706 Oppenheimer, Franz (1864-1943) ', dt. Nat i o n a l ö k o n o m u. Soziologe 242, 372, 374 f. O p p e r m a n n , O t t o (1873-1945), dt./holl. Historiker 370 O r t h , J o h a n n e s (1847-1923)", dt. Pathologe, seit 1878 Nachfolger Virchows als Prof. 245 O s t e r k a m p , Frank (1958-), dt. Philosoph, Mitarbeiter an diesem Band XXI O w e n , Robert (1771-1858)", engl. Sozialreformer 10, 418 O x e n h a m , J o h n (gest. 1575), engl. Kapitän, segelte mit —» D r a k e in der Karibik 34, 36 Earl of O x f o r d and Asquith, H e r b e r t H e n r y —• Asquith Viscount Palmerston, H e n r y J o h n Temple, (1784-1865)", engl. Premierminister (1855-1858,1859-1865) 68, 7 1 , 7 5 f., 78, 87 f., 655 Parata, H . (bl. 1911), M a o r i , Besucher d. Rassenkongresses 189 Park, Robert E. (1864-1944), amerik. Soziologe 642 Parkes, Sir H a r r y Smith (1828-1895), engl. Diplomat

74

Pascal, Blaise (1623-1662)" 118 Paulsen, Friedrich (1846-1908)", dt. Philosoph u. Pädagoge, Lehrer und Freund Tönnies', 161, 345, 371, 493 f. Peel, H o n o u r a b l e Arthur George Villiers (1868-1956), Publizist, Leiter des War Trade D e p a r t m e n t in Ägypten (1917) 6, 24, 9 6 - 9 8 Peel, Sir Robert (1788-1850)", mierminister (1834-1835, 1846) 269,516

engl. Pre1841-

Penzig, Rudolf (1855-1931), Dozent an der Freien Hochschule Berlin, Pädagoge

u. Schriftsteller, Herausgeber der Zeitschrift „Ethische Kultur" 710 Perthes, Clemens T h e o d o r (1813-1890), Prof. der Rechte in Bonn 121 — 125, 141 Pertz, Georg Heinrich (1795-1876), dt. Historiker u. Archivar 127, 550, 552 Pestalozzi, J o h a n n Heinrich (1746-1827)", Schweiz. Pädagoge 255 Peter I., der G r o ß e (1672-1725)", russ. Zar 539 Petty, Sir William (1623-1687)", engl. N a turwissenschaftler 9 Peus, Heinrich Wilhelm (1862-1937), Sozialdemokrat, Schriftsteller, M d R ( 1 8 9 6 1888,1900-1907) 145 f. Philipp II. (1527-1598)", span. König (1556-98) 36 Philipp V. (1683-1746)",

span.

König

(1701-1746) 55 Pitt, William, Earl of C h a t h a m [d. Ältere] (1708—1778)", engl. Premierminister (1766-1768) 15, 40 f., 44, 76 Pitt, William (d. Jüngere) (1759-1806)", engl. Premierminister ( 1 7 8 3 - 1 8 0 1 ) 50, 54, 60, 654, 656 von Platen, Graf August (1796-1835)", dt. Lyriker 369 Piaton (427-347 v. Chr.)" 9, 340, 347 Plinius, Gaius Plinius Secundus (ca. 23 — 79)" 272 Ploetz, Alfred (1860-1940)", dt. Rassenhygieniker 1 9 6 - 1 9 9 , 662, 678 f. Plüddemann, Max (1840-1910), dt. Konteradmiral 91 Pollock, Sir George (1786-1872), engl. General i. indischen Kolonialdienst 67 Polybios (ca. 201 — 120 v.Chr.)", griech. Historiker 624 Potthoff, Heinz (1875-1945), Rechtsanwalt, M d R ( 1 9 0 3 - 1 9 1 2 ; Freisinnige Vereinigung) 678 de Pressense, Francis Charles Dehault (1853-1914), frz. Diplomat, Journalist u. Politiker 583 Preuss, H u g o (1860-1925)", dt. Rechtsgelehrter und Politiker 233

782

Apparat

Price, Richard (1723-1791), engl. Politiker und Essayist, attackierte Praktiken der Engländer im amerikanischen Bürgerkrieg 27, 42 f., 51 f., 223, 656, 680 Protagoras (ca. 485 —ca. 415 v. Chr.)"', gr. Philosoph 22 Proudhon, Pierre 10

Joseph

(1809-1865)*

Ptolemaios, Klaudios (Claudius) (100— 160)" 215 Puttkamer, Robert (1828-1900), dt. konservativer Politiker 408 Quesnay, Francois (1694—1774)*, frz. Wirtschaftstheoretiker 9 Quetelet, Lambert Adolphe Jacques (1796-1874)", belg. Astronom u. Statistiker 516 Ranke, Johannes (1836-1916)", dt. Anthropologe 193 von Ranke, Leopold (1795-1886)* 207, 279 Rathgen, Karl (1856-1921), dt. Nationalökonom 372 Raths, Johannes (1854-nach 1913), dt. Astronom und Statistiker 676 Rau, Karl Heinrich (1792-1870)*, dt Nationalökonom 10, 516 f. Reed, William Bradford (1806-1876), amerik. Diplomat, Politiker u. Historiker 73 Rehberg, August Wilhelm (1757-1836)*, dt. politischer Publizist 281 von Reichenau (1857-nach 1915), dt. außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister, Geheimrat, seit 1911 Gesandter in Stockholm 696, 699 Reichensperger, Peter Franz (1810—1892)*, Mitgl. d. preuß. Nationalversammlung 279 Reicke, Johannes (1861-nach 1914), dt. Philologe u. Bibliothekar 14 Reinke, Johannes (1849-1931)*, dt. Botaniker u. Philosoph, Mitgl. d. preuß. Herrenhauses 212

Reitz, Francois Willem (1844-1934), Chief Justice d. Oranje-Freistaats, Staatspräsident (1889-1896) und Staatssekretär d. Südafrikan. Republik (1898-1902) 94 Reuter, Friedrich (1843-1923), Oberlehrer und Professor (seit 1886) am Altonaer „Christianeum", enger Freund Tönnies' 369-371 Frhr. von Rheinbaben, Georg (1855 — 1921), preuß. Minister d. Innern u. d. Finanzen 239 Rhodes, Cecil John (1853-1902)", brit. Politiker, strebte die brit. Vorherrschaft in Südafrika an 95, 98 Ricardo, David (1772-1823)* 9 Richter, Raoul (1871-1912), dt. Philosoph 242 Riehl, Wilhelm Heinrich (1823-1897)*, dt. Staatswissenschaftler und Kulturhistoriker 132 Riza Tevfik (1865-1949), türkischer Besucher d. Rassenkongresses 195 Robespierre, Maximilien-Marie-Isidore de (1758-1794)* 257 Rockefeller [jun.], John Davison (18741960) 629 von Rodbertus-Jagetzow, Carl- (1805 — 1875)*, dt. staatssozialistischer Agrarund Sozialpolitiker 10, 284, 349, 517, 681 Roesle, Emil Eugen (bl. 1913), dt. Bevölkerungs- u. Medizinstatistiker 337, 676 Rohrbach, Paul (1869-1956), dt. politischer Publizist, Schriftsteller 696 Roscher, Wilhelm (1817-1894)", dt. Staatswissenschaftler 283, 316, 329 Rose, John Holland (1855-1942), engl. Historiker, Herausgeber d. „Cambridge History of the British Empire" 27, 44 f., 54, 61, 654, 656 Earl of Rosebery, Archibald Philipp Primrose (1847-1929)*, engl. Premierminister (1894-1895) 97 Rosenbaum, Eduard (1887—nach 1931), Dir. d. Hamburgischen Commerzbibliothek u. Syndikus der Handelskammer; publizierte über Tönnies 655

783

Personenregister Rousseau,

Jean-Jacques

(1712 — 1778)''

2 5 1 - 2 5 8 , 282 Rückert, Friedrich (1788-1866)*, dt. Dichter und Orientalist 169, 369, 670 Runge, Carl (1856-1927), dt. Mathematiker 695 Runge, Swana Boydine (1974—), dt. Soziologin, Mitarbeiterin dieses Bandes XX Ruskin, John (1819-1900)", engl. Kritiker u. Schriftsteller 82 (Earl) Russell, John (1792-1878)", engl. Premierminister ( 1 8 4 6 - 1 8 5 2 , 1865/66) 78, 96 Sadler, Gilbert Thomas (bl. 1915), engl. Theologe 24 Saenger, Samuel (1864-1944), dt. Redakteur, Mitarbeiter der „Zukunft" (1900— 1907) und, der „Neuen Rundschau" (1907-1933) 684 f., 692, 702, 715, 718 de Saint-Hilaire, Etienne, Geoffroy (1772 — 1844)*, frz. Naturforscher, Prof. für Zoologie 163, 664 Comte de Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy (1760-1825)" 10, 162 Maquis of Salisbury, Robert Arthur Talbot Gascoyne-Cecil (1830-1903), engl. Staatsmann (Tory), Premierminister (1885/86, 1 8 8 6 - 1 8 9 2 , 1895) 77, 97 Fs. zu Salm-Horstmar, Otto II. (18671941), erbliches Mitglied d. preuß. Herrenhauses 212 Salvianus (ca. 400-495)'', christl. Schriftsteller 624 Sander, Ernst (bl. 1914) 700 Sass, Johann (1867—1951), Archivar i. Auswärtigen Amt 713 von Savigny, Friedrich Karl Rechtsgelehrter 282 Sayce,

Henry

u. preuß.

Archibald

(1779-1861)", Staatsmann (1845-1933),

amerik. Archäologe u. Orientalist

91

Prinz zu Sayn-Wittgenstein(-Berleburg), Ludwig Heinrich Gustav Alexander (1880-1953), dt. Legationsrat im Auswärtigen Amt

696 f., 708

Sazonoff (Sasonow), Sergei Dmitrijewitsch (1861 — 1927)'',

russ.

Außernminister

(1910-1916) 107 Schäffle, Albert (1831-1903)", wirt, Soziologe u. Politiker

dt. Volks223, 304,

680 von Schanz, Georg (1853-1931 )*, dt. Wirtschaftshistoriker u. Finanzwissenschaftler 462 f. von Scharnhorst, Gerhard Johann David (1755-1813)'', dt. General, seit 1809 Leiter des neu geschaffenen preußischen Kriegsministeriums, seit 1810 Generalstabschef 127, 557 Scheidemann, Philipp (1865-1939)", 715 Scheller, Friedrich Ernst (1791-1869), dt. Richter, Mitglied d. Nationalversammlung 1848/49 278 von Schelling, Friedrich Wilhelm (1775 — 1854)'' 257, 410 (von) Schiller, Friedrich

(1759-1805)''

257, 278, 282, 332, 358, 492 Schleiermacher, Friedrich Daniel

Ernst

(1768-1834)" 213, 257 Schlüter-Knauer, Carsten (1955—), dt. Politologe, Mit-Hg. der TG XX Schmid, Ferdinand (1862 — 1925), österr. Statistiker u. Jurist 372, 374 f., 689, 690 Schmidt, Robert (1864-1943), sozialdemokratischer Journalist u. MdR 715 Schmidt (bl. 1915), Mitarbeiter d. preuß. Kultusministeriums 694 (von) Schmoller, Gustav (1838-1917)", Nationalökonom u. Historiker 237, 313, 330, 657, 714 Schopenhauer, 169, 670

Arthur

dt. 10,

(1788-1860)"

Schräder, Th. (1840-nach 1912), dt. Jurist, Landgerichtsdirektor in Hamburg 221 Schreiner, William Philipp (1857-1919), brit. Jurist, südafrik. Politiker, Führer d. Afrikander Bonds Partei, Premier der Kap-Provinz ( 1 8 9 8 - 1 9 0 0 ) 249 Schröder, Theodor (1860—nach 1911), Jurist, dt. nationalliberaler Deputierter im

784 preuß. Abgeordnetenhaus 150-152

Apparat 144, 146 f.,

Schücking, Walther (1875-1935)", dt. Jurist, Prof. i. Marburg, stellvertret. Vorstand d. Verbandes für internationale Verständigung 193 Schudsa (1792-1842), afghanischer Schah 66 Schüler, Gottfried Chr. (1798-1874), dt. Jurist, Mitgl. d. Vorparlaments u. der Nationalversammlung 276 Schulz, Heinrich (1872-1932), dt. Redakteur, sozialdemokratisches MdR seit 1912 715 Schulz, Karl Ferdinand (1844-1927), dt. Jurist 233 Schulze-Delitzsch, Hermann (1808-1883)'', Begründer d. dt. Genossenschaftswesens 152 von Schulze-Gävernitz, Gerhart (1864— 1943), dt. Volkswirt 678 von Schweinichen, Hans (1552—1616), Hofmarschall u. Hofmeister d. Herzogs v. Liegnitz 133 Seal, Brajendranath (1864-1938), ind. Anthropologe 186 Searcy, James Thomas (1839—nach 1913), amerik. Arzt 629 Searle, Thomas (1864—nach 1811), südafrik. Politiker 250 Baron of Seaton, Sir John Colborne (1778—1863), brit. Hochkommissar auf den Ionischen Inseln (1843-1849) 79 Secretan, Henri F. (1856—1916)'', Schweiz. Arzt u. Schriftsteller 623-626 Seeck, Otto (1850-1921)", dt. Althistoriker 624 Seeley, John R. (1834-1895)", engl. Historiker, Theoretiker des brit. Imperialismus u. der Überlegenheit d. brit. Rasse 25 f., 32, 35, 38 f., 4 2 - 4 5 , 4 9 - 5 1 , 53, 65, 92, 5 1 1 - 5 1 3 , 706 Seiden, John (1584-1654)", engl. Jurist und Seekapitän 327 f. Semler, Johannes Salomo (1725 — 1791)", dt. rationalistischer Theologe des Protestantismus 358

Seymour, Sir Edward Hobart (1840— 1929)", engl. Admiral 88 Earl of Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper (1801-1885)", engl. Sozialpolitiker 73 Shakespeare, William (1564-1616)" 20, 239, 251, 365, 412 Sharp, Harry Clay (1871-1940), amerik. Arzt u. Krankenhausadministrator 631 Shaw, George Bernard (1856-1950)" 20, 106, 5 0 7 - 5 1 0 , 526, 704f. Shuster, William Morgan (1877-1960), amerik. Finanzexperte, 1911 zum Finanzminister von Persien bestellt (nach Protest Russlands Entlassung Shusters im Dezember 1911) 87, 99, 101 f., 655 Sidler-Brunner, Emil (1844-1928), schweizer Geschäftsmann und Bankier 638 f., 718 Silbergleit, Heinrich (1858-1939), Dir. d. Statistischen Amtes in Berlin (1906— 1923) 337 Silhouette, Etienne de (1709-1767), frz. Wirtschaftspolitiker, königl. Kommissar d. „Compagnie des Indes" 165, 666 Simkhovitch, Vladimir G. (1874-1959), russ.-amerik. Soziologe 617 Simmel, Georg (1858-1918)" 196, 615, 658, 662 Simon, Heinrich (1805-1860), dt. Jurist, Mitglied d. Vorparlaments und d. Nationalversammlung 1848 276 Simon, Jules [eigentl. Jules Francois Simon Suisse] (1814—1896)'", frz. Staatsmann u. Schrifsteller 223 Sinzheimer, Hugo (1875-1945), dt. Jurist, Begründer des deutschen Arbeitsrechts 387 Slidell, John (1793-1871), Gesandter d. amerik. Südstaaten 83 Small, Albion Woodbury (1854-1926)", amerik. Soziologe, seit 1895 Hg. d. „American Journal of Sociology", Präs. d. „American Scociological Society" (1912/13) 642 Smith, Adam (1723 — 1790)" 9,315

Personenregister Smith, Goldwin (1823-1910), engl. Publizist u. Historiker 82, 89 Smollett, Tobias George (1721 — 1771)'*, schott. Schriftsteller u. Historiker 532 Sokrates (470-399 v. Chr.)* 22 Somary, Felix (1881-1956), Prof. an d. Hochschule f. Staatswissenschaftliche Fortbildung in Berlin 375 Sombart, Werner (1863-1941)'', 196, 242, 366, 375, 662, 678, 684, 688 Sommer, Robert (1864-1937), dt. Psychiater u. Neurologe 678 Somogyi, Heinrich (bl. 1914) 658 von Sonnenfels, Joseph (1733 — 1817)'', dt. Prof. für Kameralwissenschaften 9 Spencer, Herbert (1820-1903)* 27, 82, 93, 148 f., 162, 223, 229, 339, 655, 683 Spiller, Gustav (1864-nach 1911), engl. Pädagoge u. Philosoph, Sekretär des 1. Rassenkongresses 186, 659, 661, 663 de Spinoza, Baruch [Benedictus] (1632— 1677)" 213, 223, 345 Stahl, Friedrich Julius (1802-1861)", konservativer Staatstheoretiker des deutschen Konstitutionalismus 283—285 Stammler, Rudolf (1856-1938)", dt. Rechtswissenschaftler 627 Staudinger, Franz (1849-1921), dt. Gymnasialprof. i. Worms u. Darmstadt, Genossenschaftspolitiker 148, 152, 242 Steffen, Gustaf Fredrik (1864-1929), schwed. Ökonom u. Soziologe 696 Reichsfrhr. vom und zum Stein, Karl (1757-1831)*, 123, 127 f., 286, 549, 550, 552 f. Steinmetz, Sebaldus Rudolph (1862-1940), niederld. Soziologe 658 Stendhal (Henry Beyle) (17831842)" 359 Stephen, Sir James (1758-1832), engl. Jurist, Mitarbeiter des Abolitionisten William Wilberforce 33 Stephen, James Fitzjames (1829-1894), engl. Rechtsgelehrter, Mitarbeit an der Kodifizierung d. engl. Rechts 223 Stern, Alfred (1846-1936), Schweiz. Historiker 553

785

Stewart, Sir James [auch: Steuart] (1712 — 1780)", schott. Ökonom 9 Stieda, Wilhelm (1852-1933), dt. Nationalökonom, Mitgl. d. Statistischen Amtes d. Deutschen Reiches 351 Stier-Somlo, Fritz (1873-1932), dt. Jurist 233 Reichsgraf zu Stolberg-Stolberg, Christian (1748-1821)*, dt. Dichter („Göttinger Hainbund") 129 Reichsgraf zu Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold (1750-1819), dt. Dichter 129 Storks, Sir Henry Knight (1811-1874), brit. Gouverneur auf den Ionischen Inseln 80 f. Storm, Theodor (1817-1888)*, dt. Dichter, väterlicher Freund Tönnies' 564 Strackerjan, Karl (1854-nach 1915), dt. Schriftsteller 498 von Studt, Konrad (1838-1921), preuß. Kultusminister (1889-1907) 212 Frhr. von Stumm-Halberg, Carl (1836 — 1901)*, führender antiliberaler Unternehmer im Saarland, MdR (18891901) 518 Suan-Tsung [Hsüan-tsung] (1782—1850), chines. Kaiser (1821-1851) Sundbärg, Axel Gustaf

71 (1857-1914),

schwed. Ökonom u. Statistiker 701 Süßmilch, Johann Peter (1707-1767)", dt. Theologe und Moralstatistiker 447, 603 von Sydow, Reinhold (1851-1943), dt. Jurist, preuß. Handelsminister (1909 — 1918) 144 de Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice (1754-1838)", frz. Staatsmann 548 Tarde, Gabriel (1843-1904)*, frz. Kriminologe, Leiter d. kriminalistischen Abteilung des Justizministeriums, Lehrstuhl f. Philosophie d. Neuzeit am Collège de France 612—615 Taw Sein Ko (1864-1930), burmesischer Regierungsbeamter, Übersetzer, Archäologe 167, 668

786

Apparat

Taylor, Sir Brooke (1776-1846), engl. Gesandter in Kopenhagen 56 Temperley, Harold William Vazeille (1879-1939)'', engl. Historiker Tennyson, Alfred (1809-1892)",

656 engl.

Dichter 82 Tessendorf, Hermann Ernst Christian (1831-1895), dt. Jurist, seit 1886 Oberreichsanwalt am Reichsgericht 363 Tewfik, M u h a m m a d Taufiq (Tawfik) (1852-1892)'', Khedive in Ägypten (1879-1892) 90 Thimme, Friedrich Wilhelm Karl (18681938), dt. Bibliotheksdirektor u. Historiker 564, 714 f. Thomas von Aquin[o] (1226—1274)'' 203, 215, 680 Thomas, William

Isaac

Friedensrichter, erster Inder, der zum engl. Ritter geschlagen wurde 186, 187 Troeltsch, Ernst (1865-1923)" 196, 200, 202, 611, 679, 715 Trotta (bl. 1914) schwed. Gesandter i. Deutschland 700 Tuan Fang [Duan fang] (1861-1911), chines. Reformpolitiker, Gouverneur v. Hupeh, später v. Hunan 167, 668 Turgot, Anne Robert Jacques, Baron de l'Aulne (1727-1781)", Finanzminister Ludwig XVI. (1774-1776) 9 Tyndall, John (1820-1893)", engl. Physiker, Prof. d. Naturwissenschaften 162 Tz'u Hsi [Xiaoqin bzw. Cixi] (1835 — 1908)", „Kaiserinwitwe", chines. Kaiserin 166, 667

(1863-1947)",

amerik. Soziologe 642 Thomsen, Anton (1877-1915), dän. Philosoph, Briefpartner Tönnies' 696 Thoumaian, G. (bl. 1911), Prof. am Anatolia College i. armenischen Marsovan 195 de Tocqueville, Alexis (1805-1859)", frz. Politiker u. Schriftsteller 141, 223, 306 f., 317, 683 Tönnies, Ferdinand (1855 — 1936)" passim Traeger, Albert (1830-1912), dt. Rechtsanwalt, Mitglied d. preuß. Abgeordnetenhauses (Freisinnige Partei) 242 von Treitschke, Heinrich (1834-1896)", dt. Historiker 25 f., 223, 285, 369, 3 9 4 397, 402, 530, 635 Trendelenburg, Friedrich Adolf (1802 — 1872)", dt. Philosoph 113 Trevelyan, Sir Charles Philipps, 3rd Baronet of Wallington (1870-1958), engl. Politiker, 1914 Austritt aus dem engl. Kabinett 106 Trevelyan, George Macaulay (1876— 1962)", lib. engl. Historiker 27, 75, 77 f., 89, 487 Trevelyan, Sir George Otto (1838-1928), engl. Historiker u. Staatsmann 43, 49 Tribhowandas, Mangaldas Nathubai (1856-1920), indischer Schriftsteller u.

Uhland, Ludwig (1787-1862)" 408 f. Ulimann, Hermann (1884-1958), Historiker Schriftleiter d. „Deutschen Arbeit" 703 f. Ulrich, Dr. (bl. 1914) 696 Umbreit, Paul (1868-1932), dt. Gewerkschaftler 715 Ungewitter, F. H. (bl. 1860), Autor eines Buches über Preußen 438 Urquhart, David (1805-1877), engl. Diplomat, in Opposition zu Palmerstons Politik der Behandlung der Türken 68 f. Graf von Vay de Vayo und Luskod, Peter (1864-1948), Bischof v. Scop-Dalmatico, Prälat i. Vatikan 191 Vedel, Valdemar (1865-1942), dän. Literaturwissenschaftler 497, 697, 703 f. Victoria (1819-1901)", engl. Königin (1837-1901) 26, 70, 96, 512 Vierkandt, Alfred (1867-1953), dt. Soziologe, Schüler von Tönnies 662 Frhr. von Vincke, Friedrich Wilhelm Ludwig (1774-1844), preußischer Staatsbeamter, Oberpräsident Westfalens 223, 683 Vogelstein, Theodor Max (1880-1957), Nationalökonom 375

dt.

Personenregister Vohsen, Ernst (1853-1919), dt. Leiter der Ostafrikanischen Gesellschaft, Verlagsbuchhändler, seit 1909 Herausgeber der „Kolonialen Rundschau" 588 Voigt, Andreas (1860-1941), dt. Volkswirtschaftler u. Sozialpolitiker 196 de Voltaire, François Marie Arouet de (1694-1778)" 164, 2 5 1 - 2 5 3 , 257, 665 Wach, Adolf (1843-1926), dt. Jurist 233 Wagner, Adolph Heinrich Gotthilf (18351917)" 10, 12, 223, 228, 235, 284, 416 f., 5 1 4 - 5 1 8 , 570f., 717 Wahnschaffe, Arnold (1865-nach 1935), dt. Unterstaatssekretär u. Chef d. Reichskanzlei (1907-1917) Unterstaatssekretär in d. Reichskanzlei 657 Waitz, Georg (1813-1886)'', dt. Historiker 410 Wallace, Robert (1697-1771)'', schott. Schriftssteller und Sozialreformer, mit Hume befreundet 624 Washington, Booker Taliaferro (1856 — 1915), amerik. Päadagoge und Negerführer 189 Watanabe, T. (bl. 1911), jap. Parlamentsmitglied 192 Weardale, Philipp J., 1st Baron of Stanhope (1847-1923), 1906 Präsident d. „Interparlamentarischen Union", liberales Mitglied d. House of Commons 190, 195, 660 Webb, Sidney James (Lord Passfield of Passfield Corner) (1859-1947)", engl. Theoretiker der Fabian Society, Mitglied d. Vorstandes der Labour Party (1915 — 1925) 23, 5 2 6 - 5 3 2 , 708 Webb (-Potter), Beatrice (1858-1943)", engl. Sozialwissenschaftlerin, seit 1892 Gattin von Sidney J. Webb 23, 5 2 6 532, 708 Weber, Alfred (1868-1958)" 242, 372, 374 f. Weber, Max (1864-1920)" 196, 372, 374 f., 678 f., 680, 695 Wedekind, Frank (1864-1918)" 242 Weigelin-Schwiedrzik, Susanne (1955—), dt. Sinologieprofessorin XX

787

Marquis Wellesley, Richard Colley, Marquis (1760—1842), Generalgouverneur in Indien (1797-1805) 50 f. Duke of Wellington, Arthur Wellesley (1769-1852)", engl. Feldherr u. Staatsmann 72 Werthauer, Johannes (1866-nach 1931), dt. Justizrat, Rechtsanwalt u. Notar) 242 Westermann, Diedrich (1875-1956)", Afrikanist, bis 1903 Missionar i. Togo 588 Westman, Karl Gustaf (1876-1944), schwed. Historiker u. Kirchenminister (1914-1917) 700 Whitman, Sidney (1848-1925), engl, politischer Schriftsteller 23 Wickham, L. G. (bl. 1914), engl. Historiker 17 Wiclif, John (um 1320-1384)" 306 von Wiese (und Kaiserswaldau), Leopold (1876-1969)" 223, 678 Wigard, Franz Jakob (1807-1885), dt. Mediziner, Mitgl. d. Vorparlaments u. der Nationalversammlung 276, 278 Wilhelm II. (1859-1941)", dt. Kaiser (1888-1918) 569,575 Wilhelm von Oranien (Wilhelm III.) (1650-1702)", engl. König (16891702) 18, 37 Wilkes, Charles (1798-1877), amerik. Nordstaatenoffizier 83 Wilson, Herbert Wrigley

(1866-1940),

engl. Historiker 531 f., 654 Wilson, Thomas Woodrow (1856-1924)" amerik. Präsident (1913-1921) 711, 712 Windham, William (1750-1810), engl. Staatsmann, Mitgl. d. Parlaments (1784-1802), Mitgl. d. Untersuchungskommission gegen die Verfehlungen Hastings in Indien, Mitgl. d. Kabinetts Pitt d. J. (1794-1801) 60 Winnig, August (1878-1956)", Sozialdemokrat u. Gewerkschaftler 715 Wolf, Julius (1862-1937), dt. Nationalökonom, 2 3 7 - 2 4 1 , 337, 625

788

Apparat

Wolff, Christian (1679-1754)*, dt. Philosoph 164, 665 Wolff, Georg (bl. 1912) 245 f. Wolff, Hellmuth (1876-1961), dt. Wirtschaftswissenschaftler u. Statistiker 676, 689, 691 Viscount Wolseley, Garnet Joseph (1833 — 1913), engl. Feldmarschall 88 Wood, George Henry (bl. 1914), engl. Statistiker 473 Woods, Robert Archey (1865-1925), amerik. Soziologe, Siedlungsforscher 642 Würzburger, Eugen (1858-1938), Dir. d. Kgl. Sächsischen Statistischen Amtes 337, 372, 691 Wuttke, Robert (1859-1914), dt. Nationalökonom u. Statistiker 690 f. Xenophon (ca. 430—354 v. Chr.)*, griech. Historiker 9

Zamenhof, Ludwig Lazarus (1859—1917)'', poln. Erfinder des Esperanto 156 Zander, Jürgen (1939—), dt. Soziologe, Archivar, erschloss Tönnies' Nachlass XX Zangwill, Israel (1864-1926)", engl. Erzähler jüdischer Abstammung, Philosoph u. Politiker 242 (Prinz) Zbawcza-Riedelski, Paul Salvator, (bl. 1911), poln. Fürst 192 Graf Zeppelin, Ferdinand (1838— 1917)" 286 Ziegler, Heinrich Ernst (1858-1925)*, dt. Zoologe 366 Zimmermann, Arthur (1864-1940), Unterstaatssekretär i. Auswärtigen Amt 1911-1916 696 Zimmermann, Waldemar (1876—1963), dt. Nationalökonom, Gewerkschaftler, Redakteur der „Sozialen Praxis" (1902— 12) 387, 715

Sachregister Die Wörter folgen einander alphabetisch; diakritische Zeichen werden dabei außer Acht gelassen (s.o. S. 719).

Dieses sog. „denkende" Sachregister, das sich auch auf die im editorischen Bericht abgedruckten Passagen Tönnies' bezieht, versucht, die Stichwörter nicht mechanisch, sondern nach dem Urteil des Herausgebers zu ordnen, aber auch den Intentionen und dem Kontext des tönniesschen Denkens gerecht zu werden. So wird z. B. nicht nur „England" aufgeführt, sondern auch die entsprechende Verbindung (etwa zu „Afghanistan"). Umgekehrt findet sich dann beim Eintrag „Afghanistan" auch der Eintrag „England". Die Einordnung zusammengesetzter Schlagworte richtet sich stets nach den Substantiven. So findet man „Französische Revolution" unter „Revolution, Französische". Dabei folgen diese zusammengesetzten Schlagworte bei der Alphabetisierung den Schlagworten, die mittels Doppelpunkt auf eine Verbindung hinweisen. Fette Seitenangaben zeigen an, dass hier ein Schlagwort einen grösseren Textumfang anzeigt. Abbessinien 89 Aberglaube 358 Absolutismus 224, 274, 315, 317, 414, 546, 681, 682 Absolutismus: Preußen 217 Academy, international A., of social and moral science 174 f. Adel 208, 218, 682, 687 Adel: Abschaffung 2 7 6 - 2 7 8 Adel: Abstammung 284 Adel: Armee 260, 265, 267 Adel: Armenpflege 140 Adel: Auslese, natürliche 119 Adel: Degeneration 128 Adel: Diplomaten 261 Adel: Familien 272 Adel: Frauen 132 Adel: Gerichtsbarkeit, niedere 140 Adel: Glücks- u. Industrieritter 134 Adel: Gutsbesitzer 127

Adel: Heiratsfrage 119 Adel: Jagdrecht 139 f. Adel: Kavalierswesen 132 Adel: Kirche u. Klerus 266, 682 Adel: Kunst u. Wissenschaft 129 Adel: Luxus 120 Adel: Nachkommenschaft 132 Adel: Offiziere, Offiziersstellen 124— 126,128 Adel: Revolution 267 f. Adel: Sphäre, ökonomische 135 — 141 Adel: Stand 132 Adel: Adel: Adel: Adel: Adel, Adel, Adel, Adel,

Stellung, politische 273-282 Vermögen 273 Waffenrecht 278 Wildschaden 139 alter 119, 134 deutscher: 18. Jh. 119-141 deutscher: 19. Jh. 259-286 französischer 306

790

Apparat

Adel, geistiger

Amerika: als engl. Kolonie

284 f.

Adel, hoher

119 f., 122, 135

Adel, katholischer Adel, niederer

280, 283

Adel, preussischer Adelspartei

Amerika: Jesuiten

306

Amerika: Philippinos

280, 283

Amerika: Sekten

283 f.

Administration

Adrianopel, Friede von Afghanistan: England Afrikanderbund

555

585-590 584

218

Agrarkommunismus Agrarkrise

Ägypten, altes

203, 304

„Ahnenprobe"

8 7 - 9 4 , 108, 653

593

air bourgeois

261

Akademie

87 f.

Arbeiterklasse

316, 566

238, 264, 418, 576, 683

Arbeiterklasse: Nationalgefühl

174 f.,

118

„ A l a b a m a " (Kreuzer): Bürgerkrieg, ameri83, 84

Arbeitsteilung

300

Arbeitsvertrag

567

Aristokratie Armada

272

89 f., 108,

531

Armenpflege

Algeciras-Akte: M a r o k k o

581, 583

685 f.

Assimilation

363

642-645

172

Ästhetik

340

Atheismus Atheist

Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein

140, 573

38

Assyrer

Allgemeinheiten, objektive u. subjektive

215, 3 5 5 - 3 5 8

213

Aufklärung

163, 252, 254, 317, 358, 664

Aufklärung: Rousseau

Allod, allodiales Vermögen

135, 139

289 f., 292

201

Altruismus: Moral d.

197

American Sociological Society: Tagung 642-645

Amerika: Indianer

251

682

Ausbeutung: durch Fürsten Auswanderungsrecht

122

228

Baden: Fürsorgewesen f. Jugendliche

644 643

642—645

Bathos Bauer(n)

609

554-556

Baseler Resolution: Internationale

Amerika: Assimilation Amerika: China

Ausbeutung

Balkan

286

216

36

Assiento

Alexandria: Bombardierung v.

Altersklassen

150

390

Aristokratie, preußische

Aktivitätsphilosophie: Eucken kanischer

411

144, 147, 150

Arbeitsgenossenschaften 145

160-162

676

Amerika

172

Arbeiterschutz

Wissenschaft, internationale

1913

605 284

Arbeiterschaft: Genossenschaften

Akademie der sozialen und moralischen

Altertum

683

Anstalt, Flehinger

Arbeiterkonsumvereine

130

„Ahnenwahl"

135

Arbeiterbewegung

Ägypten: Finanzkontrolle

53

389

Anarchismus

Araber

172

Ägypten: England

Amniontiere

Antisemitismus

270

642 286

Amiens, Friede v. 1802 Amtslehen

95

Agadir: „Panthersprung", M a r o k k o Agrarismus

318

Amerikanisierung

6 6 - 7 0 , 99 f., 108

312 f.

644

Amerika: Soziologie

260

Afrika: Aufteilung

309

Amerika: Landwirtschaft

128

Adel, protestantischer

653,

654

122, 138 f.

Adel, oberitalienischer

40—43

Amerika: Krieg m. England 1812

363

115 132, 1 3 7 - 1 3 9 , 2 6 2 - 2 6 4 , 269,

306, 3 1 1 - 3 1 4 , 390

791

Sachregister Bauernbefreiung 228, 262, 268, 270, 311, 415 Bauernhöfe 138 Bauernkrieg 137 Bauernschutz 415 Bayern 280, 549 Bayern: Moralunterricht, konfessioneller 494 f. Beamtentum 260, 262, 267 Belgien 555 Belgien: Eheschliessungen 181 Belgien: Neutralität 24, 62, 1 0 2 - 1 0 7 , 498 f., 5 0 2 - 5 0 4 , 506, 639, 703 Belgien: Vertrag, Londoner (1839) 503 Benares 50 Benediktinerorden 680 Bengalen 47, 85 Berlin: Wagner 513 Bergwerkserzeugnisse: Eheschliessungen Dt. Reich 181 f. Berufswahl, freie 227 Betrieb (e) 681 Bevölkerung: 419-478, Bevölkerung: Bevölkerung:

Deutsches Reich 177, 519-525 Frankreich 440—444 Großbritannien u. Irland

444-447 Bevölkerung: Heiraten 432 Bevölkerung: Preußen 520 f. Bevölkerungspolitik 390 Bevölkerungsvermehrung: Aufgabe d. Staatsmannes 390 Bewegung, ethische 495 Bewegung, ethische: Rassenkongress 192, 247 Bewusstsein, nationales 410 Bildung 323 Bildung, soziologische 297 Binnenzölle 121 Birma 51 Blutsverwandtschaft 300, 302 Bodenreform 570 Böhmen 643 Bombay 34 Bonheur commune 303 Botokuden 586 Boulangismus 422

Brahminismus, Brahminen 171, 186, 249, 672 Brasilien 554 Briefadel 134, 261, 265 Brüderlichkeit 565 f., 572 Buddhismus 170, 210, 249, 343, 670 Bukkaniere, buccaneers 33 f., 530 Bund der Landwirte 271 Bundesstaat 216 Burenkrieg 9 4 - 9 9 , 108, 655 Bürger, Bürgerliche 125, 208, 224 Bürgerkrieg(e) 317 Bürgerstand 125 Bürgertum, Bougeoisie 218, 259, 2 6 2 - 2 6 4 , 267, 279, 281, 325, 682 f. Burschenschaften 514, 553 Burschenschaften: Erlanger 370 Burschenschaften: Historische Kommission 370 f. Burschenschafter 216 Byzanz 172, 673 Cadix: span. Silberflotte Caesarismus 682 Calvinist 215

531 f.

cant 20, 24, 59, 80, 96, 527, 562 Chaldäer 172 Charakter: Eucken 114 Chicago 629, 643 China 655

66, 7 1 - 7 6 , 154f., 188, 192, 194,

China u. europ. Zivilisation 164—168, 665-668 China: England 71—76, 655 China: „Pfeil"-Affäre 74 f. China: Taiping-Rebellion 74 Christen 201 f. Christentum 164, 210, 213, 249, 257, 261, 301, 317, 343, 665 Christentum: Staatsreligion 201 f. Christentum: Sexualität 594-596 Christentum, sektiererisches 203 Christlich-Soziale 284 communio primaeva 327 Comte-Gemeinde: i. Großbritannien 162 Congo Reform Association 562

792

Apparat

Connecticut 630 „Contrat Social": Rousseau 255 Cooperative movement 418 Dahomey Dalmatien Dänemark: 497,556 Dänemark: 654 Dänemark: Dänemark: Dänemark: Dänemark: Dänemark: Dänemark: 699

585 555 u. Deutschland England

480—484,

55—62, 107, 653,

Geschichte 482 Höffding 484 Neutralität 480, 483, 497 Nordschleswig 480 Presse 483, 4 9 7 - 4 9 9 Tönnies, Besuch von 696 —

Dänemark: Weltkrieg, Erster 480-484 Darwinismus 163, 664 Demologie 334 Demographie 334 Demokratie 224, 363, 683 Denken u. Erfahrung: Eucken 114 Denshawei: Zwischenfälle v. 92 f., 108, 531 Deutsche Gesellschaft für Soziologie 238, 241 Deutscher Bund 217, 5 5 0 - 5 5 3 , 5 5 6 558 Deutscher Bund: Bayern 490, 551 Deutscher Bund: Bundesakte 275, 551 f. Deutscher Bund: Bundesgericht 551 Deutscher Bund: Elsass-Lothringen 557 Deutscher Bund: Hannover 490, 551 Deutscher Bund: Kurhessen 551 Deutscher Bund: Lübeck 551 Deutscher Bund: Mecklenburg, beide 551 Deutscher Bund: Österreich 490 Deutscher Bund: Oldenburg 551 Deutscher Bund: Provinzen, polnische 557 Deutscher Bund: Sachsen 551 Deutscher Bund: Schleswig-Holstein 490 Deutscher Bund: Verfassungen, landständische 551 Deutscher Wohnungskongress 158

Deutsches Reich 216 Deutsches Reich: Bevölkerung, Bewegung d. 177, 4 1 9 - 4 7 8 , 5 1 9 - 5 2 5 Deutsches Reich: Dänemark 480—484 Deutsches Reich: Eheschliessungen 177— 183, 292 Deutsches Reich: Freiheitsrechte, bürgerliche 228, 231 f., 235 f. Deutsches Reich: Geburten 288-293, 337-338 Deutsches Reich: Handelspolitik 279 f. Deutsches Deutsches Deutsches gen v. Deutsches Deutsches Deutsches Deutsches Deutsches Deutsches 703

Reich: Reich: Reich: 497 f Reich: Reich: Reich: Reich: Reich: Reich:

271,

Kolonien 585-590 Kriegspartei 497 f., 703 Professoren, KundgebunRegierung 500 Reichstag 501 Staatsaufbau 377—379 Sterbefälle 245, 337 f. U-Bootkrieg 526-530 Verfassung 498 — 501,

Deutsches Reich: Wahlrecht 500, 557 Deutsches Reich: Wehrpflicht 557 f. Deutsches Reich: Weltkrieg, Erster 485, 497 f., 639 Deutsches Reich: Zollpolitik 270 f. Deutschland 625 Deutschland: Einheit 216 Deutschland: Einigung 216 Deutschland: Parteien 217 Determinismus: Eucken 116 f. ,Dictionary of National Biography' 27 Dienstadel 265 Dienstamt 134 Dienstmann 134 Dissidentenkinder: Preußen 495 Domanium 135, 138 dominium 327 Dorfgemeinde, auch Gemeindeverfassung 134, 311 f. Dorpat 515 Dreifelderwirtschaft 312 Dualismus: Eucken 114 Duchoborzen 304

793

Sachregister Egoismus

322, 400

England: Außenpolitik

Ehen, s. Mischehen Ehen, jüdisch-christliche

England: Bauernstand

292

Ehen: Rassenmischehen Ehescheidungen

24, 487, 5 0 7 -

510, 544, 548 England: Belgien

293

578, 639

602

Eheschliessungen: Belgien

181

England: Burenkrieg

Eheschliessungen: Deutsches Reich

177—

183, 246, 4 2 1 - 4 3 6 , 676 f. 181 f., 453—456,

468-472

9 4 - 9 9 , 108, 578,

655 England: China

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Bergwerkserzeugnisse

306

1 0 2 - 1 0 7 , 503, 506,

7 1 - 7 6 , 108, 166 f.,

666 f. England: Dänemark

5 5 - 6 2 , 107, 653 f.

England: Deutschland

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Einu. Ausfuhr

456-458, 468-472

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Eisenbahnen

458-460, 468-472

England: Frankreich

508 f. 3 1 - 4 0 , 49, 5 3 - 6 2 ,

107, 508 f., 544 England: Freihandelsära

269

England: Gegensatz zu Schottland England: Genossenschaften

418

schlechterverteilung d. Geborenen

England: Grundeigentümer

307

464-467, 468-472

England: Handel u. Kolonien

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Ge-

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Poststatistik

183, 4 6 0 - 4 6 2 , 4 6 8 - 4 7 2

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Roggenpreise

449-453, 468-472

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Wechsel, umlaufende

182, 4 6 2 - 4 6 4

Eheschliessungen: Frankreich

180 f., 477

Eheschliessungen: Großbritannien u. Irland

181, 4 7 2 - 4 7 6

che

447-464

Eheverbote

629

Eigentum

567, 576

Einheit, deutsche

216

653 f. England: Ionische Inseln England: Irland

78 — 80, 108

14, 1 7 - 1 9 , 488

England: Jamaika

8 0 - 8 2 , 108

England: Kabinettsregierung

135

7 6 - 7 8 , 108

England: Meinung, öffentliche

577—584

England: Meere, Seerecht

327 f.

71—76, 108

85, 9 9 - 1 0 2 , 108,

655 ff. 379

England: Privatbills

Empfindung, sittliches

398, 400

England: Protestantismus

137 27, 46

357 6 6 - 7 0 , 107

8 7 - 9 9 , 108, 578, 653

England: Amerika

4 1 - 4 3 , 653, 654

England: Arbeiterbewegung u. Weltkrieg,

208

275

England: Regierung, verantwortliche England: Russland

England: Ägypten

106

229

England: Reformbills

,Encyclopedia Britannica'

Erster

304 f.

683

England: Opiumhandel

557

England: Afghanistan

24

England: Marokkokrisen

Embryo: Amnionhülle

Engel, Glaube an

11 —

109, 5 1 1 - 5 1 3 , 5 8 5 - 5 9 0

England: Persien

Emphyteuse

501

England: Kolonialpolitik, -system

England: Oberhaus

544

Elsass-Lothringen

25, 87—109

4 5 - 5 2 , 8 4 - 8 6 , 107f.,

England: Munizipalsozialismus

Einungswesen, freies Elba

England: Indien

England: Krimkrieg

Eheschliessungen: Vorgänge, wirtschaftli-

38 f., 544 f.

31-40

England: Imperialismus

183

Eheschliessungen: Deutsches Reich u. Portoeinnahmen

England: Holland

208

234

65, 70

England: Sezessionskrieg, nordamerikanischer

82-84

England: Silberflotte, spanische

53 f.,

654 England: Sklavenhandel

38, 4 3 - 4 5 , 108

794 England: England: England: England: England: England: England:

Apparat Spanien 31 — 40 Staatsrecht 209 Stuart-Familie 207 f. Südafrika 9 4 - 9 9 , 531 Theologie 356, 357 three-cornered election 501 Verfassung, politische 498,

501, 682 England: Wahlrecht 234, 501 England: Weltkrieg, Erster 102-107, 486-488, 507-510 England: Weltpolitik 1 1 - 1 0 9 , 5 1 1 - 5 1 3 , 507-510, 561-563, 638-639 Enklaven 122, 124 Enteignung 235, 416 Entente cordiale, engl.-frz. von 1904 89, 102 Entwicklung: Eucken 114 Entwicklungsgeschichte 380 Entwicklungstheorie, biologische 381 Erbfolgekrieg, spanischer 31, 37 Erbschaftssteuer 517 Erfahrung 340 Erkenntnis 340 Erbpacht 138 Erbuntertänigkeit 217 Erkennntnisproblem: Eucken 114 Esperanto, Esperantisten 156, 193 Ethik 340, 596 Ethik u. Politik 394-402 Ethik: Höffding 3 4 0 - 3 4 2 Ethologie: J. St. Mill 596 Eugenics Record Office 629 Europa u. Orient 1 6 3 - 1 7 5 , 6 6 4 - 6 7 6 Europa, altes 286 Europäer: u. Naturvölker 249 Europäer: Rassenkongress 190 „Expansion von England": Seeley 25 f. Fabrik 417 Familie 316 Feldgemeinschaft 139 Feudalismus 134, 272, 302 Fez: Marokkokrise 583 Fideikommisse 228 f., 272 f., 276, 279 Finanz 136, 307, 310, 517 Flibustier 34, 530

Föderativsystem 682 Forscher, echter 160 Forschung: als Kunst 160 Forschung, sozialwissenschaftliche: Institute 162 Forschungsinstitut 160 Fortschritt: Kultur 253 f. Fortschritt: Rassen 192 Fortschritt: Wissenschaft 253 Frage, soziale: Höffding 342 Frage, soziale: Wagner 517 Frankreich 548, 625 Frankreich: Bevölkerung 440-444 Frankreich: Boulangismus 422 Frankreich: Bourbonen 275 Frankreich: Charte 275 Frankreich: Eheschliessungen 180 f., 477 Frankreich: England 31, 4 0 - 4 1 , 49, 5 3 - 5 5 , 87f. Frankreich: Gelbbuch 507 f., 510 Frankreich: Kolonialpolitik 38, 5 8 8 - 5 9 0 Frankreich: Krimkrieg 76-78 Frankreich: Listenwahlsystem 234 Frankreich: Maasbefestigungen 62 Frankreich: Marokkokrise 577—584 Frankreich: Napoleon 543 — 545 Frankreich: Restauration 275, 554 Frankreich: Senat 682 Frankreich: Verwaltung 683 Frankreich: Weltkrieg, Erster 487, 5 0 7 510 Franziskaner 680 Frau: Bebel 364 f. Frauen: Friedensarbeit 536 Frauen: Orient u. Okzident 192 Frauen: Rousseau 252 Frauen, adlige 132 Frauenbewegung 316 Frauenstimmrecht 683 Freiburg: Wagner 515 Freidenker 215, 356 Freidenker-Hochschule 492—496 Freihandel 414, 681 Freiheit 2 2 3 - 2 3 6 , 303, 363 Freiheit d. Person 224-232 Freiheit: d. Eigentums 227—229, 235, 236

Sachregister Freiheit d. Willens: Eucken 114 Freiheit: d. Gewissens 230 Freiheit: der Regierenden 224 Freiheit: der Regierten 224 Freiheit: d. Religion 230 f. Freiheit: d. Wissenschaft 231 Freiheit: in England 682 f. Freiheit: in Frankreich 682 f. Freiheit, bürgerliche 2 2 3 - 2 3 6 , 565, 568, 575, 6 8 1 - 6 8 3 Freiheit, geistige 225, 2 3 0 - 2 3 2 Freiheit, natürliche 226 Freiheit, ökonomische 225, 227—230, 235, 414, 682 Freiheit, ökonomische: Naturrecht 229 Freiheit, politische 2 2 3 - 2 3 6 , 6 8 1 - 6 8 3 Freiheit, politische: Staatsform 224 Freiheit, politische: subjektive öffentl. Rechte 225 Freiheit, soziale 228 Freiheit, Streben nach 682 Freiheitsrecht: in Bayern 228 Freiheitsrechte: im Norddeutschen Bund 228, 230 Freiheitsrechte: in Preußen 229, 235 Freiheitsrechte: in der Weimarer Reichsverfassung 228, 231 f., 235 f. Freimeister 314 Freirechtsschule 295 f. Freizügigkeitsrecht 228 Fremder, Fremdes 319 Friede 537 Friede: Weltkrieg, Erster 485-491 Friede, v. Kiel 1814 556 Friede, v. Paris 1762 38, 53 Friede, Pariser 1814 543 f. Friede v. Utrecht 37 f., 53 Frohnden 306 Fürsorge: Jugendliche 608 f., 610 Fürst(en) 121 f., 134, 307, 681 Fürsten: Luxus 120 Fürsten: Reformen 122 Gallien: Bevölkerung ,Gaulois' 582 Geburten, Rückgang Geburtenüberschuss

624 2 8 8 - 2 9 3 , 337 f. 520—522

795

Geburtsadel 265 Gedankenfreiheit 492 f. Gedankenwelt: Eucken 116 Gefühlspolitik,-er 219 f. Geistesleben: Eucken 116 Geisteswissenschaften 493 Geistlichkeit 687 f. Geld 320, 347 Geld: Surrogate 349f., 353 Geldwert 350 Geldwirtschaft 121, 308, 312 Gemeinden, freireligiöse 210 Gemeinschaft 305, 323 ,Gemeinschaft und Gesellschaft' 619

305,

Genossenschaften: 145 — 153, 347—354, 418, 567, 573, 576 Genossenschaften: Geist d. Sozialismus 147, 149, 150 f. Genossenschaften: Kredite 347—354 Genossenschaften: Produktionszweige 349 Genossenschaftsdebatte: Liberale 144 Genossenschaftsdebatte: preußisches Abgeordnetenhaus 144 Gerichtsbarkeit, niedere: Adel 140 Germanien: Bevölkerung 623 f. Geschichte: Eucken 114 Geschichte: Lehren aus d. 298 Geschichte, ökonomische Erklärung d. 614 Geschichte unserer Zeit: McCarthy 26 Geschichtsauffassung, materialistische 200 f. Geschlechtsleben, Soziologie d.: Ellis 593-599, 612-615 Gesellschaft 305, 323, 378, 380, 383 Gesellschaft: starke und schwache 679 Gesellschaft, alte 298 Gesellschaft, bürgerliche 255 f., 315, 321, 517, 565 Gesellschaft, bürgerliche: Rousseau 252 Gesellschaft, politische 308, 310 Gesellschaft u. Individuum: Eucken 114 f. Gesellschaft u. Interpretation, psychologische: Davis 612—615

796

Apparat

Gesellschaft f. soziale Reform 158, 387 Gesetz 226, 380, 382 f. Gesetz: Auslegung 296 Gesetz: Eucken 114 Gesetzgeber 296, 413 Gesetzlichkeit 296 Gesinnung(en) 401, 407 Gewalt, administrative 233 Gewalt, richterliche 233 Gewalt, staatliche 226 f. Gewaltenteilung 226 Gewerbefreiheit 228, 233, 270, 314 f., 415, 565 Gewerbegericht 386—388 Gewerbeordnung 351 f. Gewerkschaften 281, 567 Gewerkschaften : Arbeiterkonsumvereine 150 Gibraltar 38 Gleichheit 226, 568 Gleichheit: v. Bauern u. Bürgern 682 Gleichheit, privatrechtliche 218 Gleichheit, staatsbürgerliche 315 Gleichheit, wirtschaftliche 682 Glücks- u. Industrieritter 134 Goldküste 585 Gott 210, 355 f., 492 Griechen 172, 296 Griechenland 80, 555 Großbritannien u. Irland: Bevölkerung 444-447 Großbritannien u. Irland.: Eheschliessungen 181, 4 7 2 - 4 7 6 Großeinkaufsgesellschafte(en) 353 f., 567 Großeinkaufsgesellschaften, engl. 148 Grundadel 265 Grundbesitz(er) 259, 262 f., 268, 271, 279, 283 Grundbesitz, städtischer 313 Grundherr 137 f. Grundherrschaft 139, 283, 3 0 5 - 3 0 7 , 312 f. ,Grundlinien e. neuen Lebensanschauung': Eucken 114 Grundrente 270, 307 Grundtendenz, gesellschaftliche: Hilfe für Schwache 198

Gruppen, sekundäre: Cooley 643 Gruppen, soziale 619—621, 643 f. Gutes u. Böses 399 Gutsbesitzer, Gutsherr 127, 136, 140, 262, 269 Gutsherrschaften: Preußen

217

Haager Konferenzen 193 Habeas Corpus 227, 552 Halfner 306 ,Hamburger Nachrichten' 221 Handel 319 f., 414 Handel: England 39 Handwerk 263 f., 568 Hauptstädte 324 Heer, friderizianisches 126 Heer, stehendes 125 ,Heidelberger', als Schimpfwort 222 Heimatliebe 404 f. Heiraten 391, 432 Heiraten: Adel 120 Helgoland 557 Herat 100 Herrenstand, erblicher 119 Hexerei 355 f. Hinduismus 186 f. Hintersassen 139 Hochschulen 266 Höchstädt 507 Holland: u. Belgien 503, 555 Holland: England 31-40 Holstein 56 f. Homburg 515 homo homini lupus: Hobbes 205 Hongkong 167, 667 f. Humanisierung: Entwicklung d. 381 Humanität 247, 322, 366, 566 Hygiene: Schutz d. Schwachen 197 Idealismus: Eucken 114, 118 Idealismus, dualistischer: Eucken 118 Imitation, Theorie der: Tarde 612—615 Immanenz: Eucken 114 Imperialismus: England 87—109 Independent Labour Party 106 Indianer: Assimilation 642 f. Indianer, „roter M a n n " 189 f.

797

Sachregister Indien

66, 154, 186, 653

Kabul

Indien u. europäische Zivilisation

168 —

171, 6 6 8 - 6 7 2 Indien: England

4 5 - 5 2 , 8 4 - 8 6 , 653

Indien: Kastensystem

171, 186, 672

Indien: Ostindische K o m p a n i e

187

Indien: P u n j a b , A n n e x i o n d. Indiana

187

630 299-332,

Individualismus, nationaler

6 4 2 f.

Individualismus, ö k o n o m i s c h e r Individualismus: Höffding

314—316

341

Individualitätskultur: Eucken Islam

685-688

218, 273, 280, 314, 414

Italien: Königreich Neapel Italien: Piemont

139

165 f.,

186 1 6 4 £., 3 0 8 f., 3 1 0 , 6 6 5 f., 6 8 8 25 7 8 - 8 0 , 108

172, 257, 263, 279, 320, 3 2 4 243

J u d e n : Wirtschaftsleben

243

243

J u d e n , Frankfurter J u d e n , intellektuelle

546

Keuschheit

244

J u d e n , westeuropäische

243

242—244

5 9 5 f.

Jugendliche u. Verwahrlosung: G r u h l e

333-336 Kirche(n)

369

308-311

Kirche u. Adel

266

Kirche u. Staat

230, 260

6 0 8 —610

1 3 4 , 2 6 2 , 2 6 7 , 2 6 9 f., 2 8 1 f.

259

Kirche: Institution

203

Kirche: Rousseau

256

Kirche: als Stand

266

2 0 2 f.

Kirche, calvinistische Kirche, griechische Kirche, lutherische

214 214 214

214, 301, 308, 317,

494 Kirchengeschichte

605-610 Jugendliche: Fürsorge

90

Kiel: statistischer Hochschulunterricht

Kirche, römische

249

79

210-215

213, 355

Kirche, alte

244

J u d e n , kommerzielle

Junker

Keplerbund

Kirche: Grundbesitz

243

Juden: Z i o n i s m u s

117

132

,Kieler Z e i t u n g '

98

J o n i s c h e Inseln: England

Judentaufen

8 9 f. 681

Khartum

J u d e n : Palästina

540

Kephalonia, Aufruhr v.

Ketzerei

J u d e n : Geldhandel

409

259, 274

9 4 f.

Kavalierwesen

438, 553

Judentum

569, 575

Kausalität: Eucken

3 4 , 8 0 - 8 2 , 108

95, 98

Johannesburg

4 1 7 f.

Kapital u. Arbeit: Februar-Erlasse Wilhelm

Kapstadt

6 6 6 f.

Juden

Kapital u. Arbeit

Kartell

Jingotum, Jingoismus

75

263, 270, 304, 326, 347, 352

Kapkolonie

J a p a n u. europäische Zivilisation

Jesuiten

Kapital

3 2 6 , 5 7 1 , 5 7 4 f.

1 5 4 , 1 8 6 , 6 6 6 f.

„Japs"

572

Kapitulationen: T ü r k e i

210f., 492

J a m e s o n raid

Jena

401

Kameradschaft

219, 268, 273, 281, 301, 303, 313, 316,

554

139

J a m a i k a : England Japan

630

Kapitalismus, auch Privatkapitalismus

554

Jagdbeschwerungen Jahwe

Kalifornien kalon (griech.)

Kapital, mobiles

556, 625

Jagdrecht

218

Kapital: Internationalität

187, 210, 249, 257

Italien

245, 419

.Kaisertum, protestantisches'

II.

115

245

Kaiserliches Statistisches A m t

K a n t o n , B o m b a r d i e r u n g v.

Individuum: Neuzeit

Industrie

66-70

Kaiserliches Gesundheitsamt

Kirchentum Klassen

208

319, 569

200

798 Klassenjustiz 221 f. Klassenstaat 218 Kleinbürgertum 263 Kleinhandel 153 Kleinstaaterei 121 Klerus 682, 6 8 6 - 6 8 8 Klima 300 Koalitionsfreiheit 232, 5 6 6 - 5 6 8 , 575, 681 Kölmische 138 Kolonialland 136, 138 Kommerzen u. Manufakturen 120 Kommunismus 303 f., 328, 363 Kongo 587 f. Königtum, preußisches 217 Konnubium 119 Konstantinopel 168 Konstitutionalismus 681 f. Konsum, Tatsachen d. 5 — 7 ,Konsumgenossenschaftliche Rundschau' 144 Konsumtivkredit 203 Konsumvereine 144—153, 3 5 1 - 3 5 3 , 567 Konsumvereine u. politische Neutralität 144-153 Konsumvereine: Barzahlung 351 Konsumvereine: Höffding 342 Konsumvereine: Sozialdemokratie 145 Konsumvereine: Trucksystem 351 Kontinentalsperre 544 Konvention, englisch-russische v. 1907 70, 100 Kopenhagen: Bombardierung von 5 6 - 5 8 , 531 Kopenhagener Resolution 146 f. Kornzölle 269 Körper, sozialer 316, 329, 378, 380 Korporationen 414 Korrigenden 631 f. Kosmopolitismus 410 Kreditwirtschaft 3 4 8 - 3 5 0 , 354 Krieg, siebenjähriger 38, 40 f. Krimkrieg 7 6 - 7 8 , 108 Kriminalpolitik 635 Krüppeln: Erhaltung v. 199 Kultur 300 f.

Apparat Kultur: Eucken 114 f. Kultur: Fortschritt 253 Kultur, antike 300 f. Kultur, moderne 332 Kulturkampf 218, 279 Kulturleben: Eucken 115 Kulturwissenschaften 161 Kulturzusammenhang 380 Kunst: im Orient 173, 6 7 2 - 6 7 4

laisser faire

415, 568

Lancashire Land 121

315

Landedelmann 132 Landesadel 123 Landesherr

138

Landeshoheit 120, 122 Landeshoheit: Enklaven

122, 124

Land(es)stände 136, 307 Landtag: Stände 124 Landwirtschaft 268, 270 f., 273, 414 Landwirtschaft: Industrialisierung 312 f. lassitisch 138 Latein 31, 174 Latifundien 270, 273 Lausanne

625

Leben: staatsmännisches Handeln 392

377—

Leben, organisches 378 f., 380 Leben, soziales 375, 378 Lebensanschauung 340 Legitimität, Prinzip d., Restauration 548, 550 Lehnrecht 139, 329 Leib u. Seele 213 Liberalismus 235, 681 — 683 Lissabon 309 Literatur: im Orient 169, 173, 674 f. Little Englanders 99 Logik 340 Lohnarbeit 347, 352 f. Lombardo-Venetien 555 London: City of 501 London: Rassenkongress 185 ,Lusitania': Versenkung 526—530, 532

799

Sachregister Maasbefestigungen: Frankreich 62 Macht Erhaltung d. 395 f. Macht u. Moral 394-402 Magdeburger Resolution 146 f. Maha-Bodhi-Society 170, 670 Mahratta-Bund 49 Majuba Hill 94 Malta 80 Manchestertum 229 ,Manchester Guardian' 101, 106 Mare liberum 328 Markgenossenschaft 134 Marokko 89, 589 Marokko: Algeciras-Akte 581, 583 Marokko: Krisen, europ. 577—584 Maßsysteme 329 f. Materie u. Geist 213 Materialismus, historischer 200, 368 ,Matin' 582 Meer 327 f. Meinung, öffentliche 266, 614 Meinungsfreiheit 230 f. Mensch: Anlagen 381 f. Mensch, guter 401 Menschheit 254, 305 Menschenleben: Eucken 114 Menschenrechte 226, 558 Merkantilismus 315, 414 métayer 30 Militär 260, 262, 265 Militärdienst: Adlige 126 Militarismus 406 Minenarbeiter, chin.: Südafrika 95 f. Minorka [Menorca] 38 Mischehen 242, 292 Mission, christliche 164 f., 665 f. Missionstätigkeit: Rassenkongress 249 Mithras-Kult 172 Mittelalter 172, 2 0 1 - 2 0 3 , 299 Mittelalter u. Polyarchie 625 Mittelstand 152 f., 264 Modena 554 Monarchentum: Berufsanalyse Monismus 212 f. Monismus: Eucken 114 Montenegro 103 Moral: Eucken 114

208

Moral u. Politik 394-402 Moralstatistik 601-604 Moralunterricht, konfessioneller: Bayern 494 f. Munizipal-Sozialismus 305 Mutter u. Kind 593 f., 597, 599 Mutterschutz 593 Mysore 49 Nachbarschaftsgilden: Coit 642 Nacktheit 594 f. Nantes, Edikt von 37 Natal 89 Nation 324, 3 7 2 - 3 7 5 Nation: Begriff 375 Nation: Staat 406 Nation, deutsche 216f., 5 4 9 - 5 5 7 Nation, moderne 323, 374 Nationalgefühl 404-414 Nationalgefuhl, politisches, s. Patriotismus Nationalhymne 374 Nationalismus 323 Nationalitäten 372 f. Nationalliberale 219, 280 Nationalökonomie: Mittelalter 9 Nationalökonomie: Neuzeit 9 Nationalökonomie: Wagner 517 Nationalökonomie, theoretische 3 — 10 ,Nationaltidende' 499, 697, 703 Nationalversammlung, Deutsche (1848) 276 Nationalversammlung, Deutsche: Abschaffung d. Adels 276-278 Nationen, kleine 324 Natur, menschliche 381 Naturalwirtschaft 348 Naturforscher 339 Naturgesetz 210 Naturrecht 566, 664, Naturrecht: Naturrecht: Naturrecht, Naturrecht, Naturrecht, 203-205 Naturrecht,

163, 268, 282, 328 f., 413, 681 Eigentumsordnung 205 Sekte 203 bürgerliches 204 calvinistisches 204 rationalistisches 200, relatives

202

800

Apparat

Naturrecht, ständisches

204

O r i e n t u. Okzident: Frauen

Naturrecht, stoisch-christliches Naturwissenschaft(en)

200—205

161, 2 1 0 , 2 1 2

Naturwissenschaft(en): M i s s b r a u c h Naturwissenschaft(en), moderne Naturzustand: Rousseau Neger, afrikanische Nemesis

211 213

2 5 4 f., 2 5 5

188

38

O r i e n t u. Okzident: Presse

166, 1 7 4 , 6 7 5

Orient u. Okzident: Religionen

Österreich:

164,

Neuzeit: Differenzierung Neuzeit: Handel

3 0 0 f. 300, 302

299

Neuzeit: Industrie

5 0 8 - 5 1 0 , 639 Ostindische K o m p a n i e

46—48, 50, 66,

7 1 , 8 5 , 187

299

Oudh

Neuzeit: Kulturfortschritt Neuzeit: Lebensweisen Neuzeit: Technik

230

Österreich-Ungarn: Weltkrieg, Erster

299

Neuzeit: Einheit d. Volkes

299

4 8 , 5 0 f., 8 6

O x f o r d , Professoren d. Fakultät f. neuere

299

Geschichte

17, 19 f., 1 0 6 f.

299

Neuzeit: Wissenschaft(en) Neuzeit u. Individuum ,New S t a t e s m a n '

299 299—332

2 3 , 106, 5 2 6 - 5 2 8 ,

532, 5 6 1 - 5 6 3 , 585, 5 8 7 - 5 9 0 34

Niederlassungsfreiheit

228, 565

Pächter

307

Pachtwesen

262

Pädagogik: Rousseau Pairie

5 8 7 f.

Palästina

540

Panschab

92

Papismus

133

Noblesse de robe

Paris

265

,Norddeutsche Allgemeine Zeitung': Aktenpublikationen

169, 213, 670

208, 218

548

Parlamentarismus: Wahlrecht Partei: R e f o r m p a r t e i

502, 578

Nordschleswig

255

272

Pantheismus

nobiliter bibere

681

384

Partei, antimonarchistische: i. Deutschland

480, 498, 703

217 Obrigkeit: Ehrfurcht vor der Offizier, -stellen: Adelige Oneida Ontogenie

204

1 2 4 - 1 2 6 , 128

Parteien, deutsche: Aufgabe Parteien, konservative

217

280

Parteien, partikularistische

304

280

Parteiinteresse: an Wissenschaft(en)

380

O p i u m k r i e g : England

71—76

1 6 1 f.

Oranier-Vereine

18

Patriotismus

375, 4 0 6 - 4 0 9 , 411

Oranje-Freistaat

89, 94

Pauperismus

347

O r d e n , religiöse

278, 3 0 8 - 3 1 1

Pax Westphalica

Organismus, biologischer

3 7 9 f., 3 8 9 ,

390 Orient, Orientale

380

91

185

Orient u. Okzident 188, 192, 6 6 4 - 6 7 6

Peking

516

51 165, 167, 6 6 7

Peking: Plünderung v. Perser

154, 158, 1 6 3 - 1 7 5 ,

120

Peelsche B a n k a k t e Pegu

Organismus, sozialer Orient, ferner

163,

544, 548, 550, 555, 563

Österreich: Edikt J o s e p h II.

Neuzeit: Bevölkerung

Nigeria

169, 173,

6 7 4 f.

172, 6 6 4 , 6 7 2 f.

Neuzeit 2 0 1

New York

Orient u. Okzident: Literatur

O r i e n t u. Okzident: Wissenschaft

38

Neuschottland

192 173

169 ff., 6 6 5 , 6 6 9 ff.

295-298

Neufundland

O r i e n t u. Okzident: Kunst

Persien

7 5 f.

172, 6 7 3 66, 68, 655

Persien: Dichtung

173, 674

801

Sachregister Persien: England

85, 9 9 - 1 0 2 , 108, 655

Persien: Russland Person

Petitionsrecht

Preußen: Erneuerung

114 304

„Pfeil" ( S t r o m b o o t ) , Affäre

74f.

6 4 4 f. 339

211, 340

Philosophie: Entdeckungen Philosophie: Höffding

359

340

Philosophie, Aufgabe: Eucken

608 — 610

Preußen: G e b u r t e n , uneheliche

602

Philosophie, mechanistische

Preußen: Königtum

217

Preußen: Landrecht

230

Preußen: Militarismus

563

Preußen: M i l i t ä r m a c h t

216

3 4 4 f.

205

völkerungsentwickl. Preußen: Patriotismus

3 7 9 f.

Preußen: Politik

Physiokraten

Preußen: Polizeistaat

268, 315, 414, 681

554

Plassey, Schlacht v. 1 7 5 7 Plutokratie Polen

85

Preußen: Staatswesen

,Political Review'

394-402

Politik, unsittliche

395, 397

235, 681

Posen (preuß. Provinz)

642, 644

157

Poststatistik, D t . Reich: Eheschliessungen 183 Pragmatismus: Eucken Präzedenzfälle: H o b b e s

114, 116 209

1 6 3 , 1 7 4 f., 2 2 7 , 2 3 1 , 2 6 6 , 3 2 3 f.,

3 7 0 , 6 6 7 , 6 7 5 f. Presse: im O r i e n t Preußen

2 1 7 , 2 1 9 , 4 9 9 f.

Preußen: Verfassung, oktroyierte (1850)

166, 173, 667, 675

227, 231

Preußen: Absolutismus

548—551,

553 Preußen: Zuchthausgefangene Privateigentum Privatbills Privatrecht Pro-Boers

6 3 1 f.

2 7 2 , 3 2 6 , 4 1 6 f., 5 7 0

229 225, 329 99

Produktion, T a t s a c h e n d.

7 f.

5 7 0 , 575 f..

Professoren, deutsche: Weltkrieg, Erster 4 9 7 f. Proletariat

217

119-141, 259-286

Preußen: Aristokratie

282, 500

Preußen: Wiener Kongress

Produktionsmittel

280, 544, 550

Preußen: Adel

683

681

Preußen: Wahlrecht

556

Pressefreiheit

123, 140 217

231

183

Presse

217, 274

Preußen: Vereins- u. Versammlungsrecht Preußen: Verfassung

P o r t o e i n n a h m e n , D t . R e i c h : Eheschliessun-

Post

642,

2 1 6 f.

Preußen: Städteordnung

59

Politik u. M o r a l

gen

Preußen: R e f o r m e n , innere Preußen: Staatsgestaltung

193, 555

Portugal

2 1 7 f.

Preußen: Provinz, polnische (Posen)

Preußen: Rittergutsbesitzer

389 683

Polizeistaat

4 0 8 f.

396

644

318

Plazentaltiere

422, 429

Preußen: M o n a r c h i e

Physik, m o d e r n e 2 0 5

Pietismus

217

Preußen: M o b i l m a c h u n g , Einfluss auf Be-

117

Philosophie, Geschichte: Höffding

229, 235

Preußen: Fürsorgegesetzgebung Preußen: Gutsherrchaften

Philosoph: Höffding

Piemont

495

128

Preußen: Freiheit, bürgerliche

232

Petroleum-Monopol

Philosophie

4 3 6 - 4 4 0 , 520f.

Preußen: Dissidentenkinder

224—232

Persönlichkeit: Eucken

Phylogenie

1 2 4 - 1 2 7 , 216,

Preußen: Bevölkerung

326

Person: Freiheit d.

Philippinen

Preußen: Armee (Heer) 279

9 9 f.

216

2 6 3 f., 3 2 0 f., 3 4 7

Propaganda, atheistische: Abscheu 215 Prostitution

596, 602

212,

802

Apparat

Protestanten: Moralstatistik, Sachsen 601-604 Protestantenverein 212 Protestantismus 266, 317 f., 343 Protestantismus: England 208 Prozesse, soziale 614 Psychologie: Gesellschaft, Interpretation d. 612-615 Psychologie: Höffding Puerperalfieber 391 Punjab 187 Puritanismus 208 Pythia (Delpi) 289 Quäker

344

318, 320

Radikalismus, kirchlicher 203 Rasse(n) 157, 197 f. Rassen: Begabung 159 Rasse(n): Unfruchtbarkeit 198 Rassen: Verächter von 159 Rasse(n): Wesen u. Begriff 192 Rassenbiologie 199 Rassenhygiene 198, 392 Rassenhygiene: USA 628—637 Rasseninteresse: Naturprozess 198 Rassenkongress, erster internationaler 154-159, 185-195, 247-250 Rassenkongress: ethische Bewegung 247 Rassenkongress: philanthropische Demonstration 157, 159 Rassenkongress: Fortschritt, Bedingungen d. 192 Rassenkongress: ethische Fragen 192 Rassenkongress: Missionen 192, 249 Rassenkongress: Opium u. Alkohol 192 Rassenkongress: Rassendünkel, Überbrükkung d. 247 f. Rassenkongress: politisches Regiment in d. Kolonien 192 Rassenkongress: Religionen 192 Rassenkongress: Vorurteile dagegen 157— 159 Rassenkongress: Zwangsarbeit 192 Rassenmischung, Verbot 629 Rassenproblem 154 Rassentheoretiker 158, 678 f.

Rationalismus 164, 358, 665 Rationalismus, a-, antitheologischer 204 Rationalismus, theologischer 318 Rayahs: Türkei 539 f. Realismus: Eucken 114 Recht 295, 329 Recht: Gewohnheitsrecht 329 Recht, genossenschaftliches 225 Recht, öffentliches 225, 570 Recht, römisches 136 f., 140, 329, 388 Recht, römisches: Wildschäden 140 Rechtsschule, historische 282 Rechtsprechung 227, 233, 386 Rechtsstaat 226f., 4 1 3 - 4 1 8 Referendum 233 Reform (en) 384 f. Reformation 687 Reformen, soziale 360, 416 Regentenspiegel 208 Reich, Römisches: Bevölkerungsentwicklung 623-626 Reichserbschaftssteuer 518, 571 Reichsfeinde: Arbeiterklasse 407 Reichsgedanke, deutscher 216 Reichslehen 135 Reichspfandschaften 135 Reichsritterschaft 122 Reichsstädte 122 Reichsstandschaft 122 Reichsversicherungsamt 386 f. Religion 210 f., 213, 300 f., 495 f. Religion: Eucken 114 Religion: Höffding 3 4 2 - 3 4 4 Religion: im Orient 164, 1 6 9 - 1 7 1 , 665, 669-671 Religion, natürliche: Rousseau 256 Religion, sektiererische Religionen: Bestrebungen, ethische 191 Religionen: Rassen 192 religion civil: Rousseau 256 Religionsfreiheit 230 f. Republik 224 research fellowships 161 Restauration: Heilige Allianz 282, 553 Restauration: Karlsbader Beschlüsse 276 Restauration: Mainzer Untersuchungskommission 274

803

Sachregister R e s t a u r a t i o n : Verfassungen

275 f., 551,

682

Scheidungen

290

S c h e i d e m ü n d u n g : Schifffahrt

R e s t a u r a t i o n : Wiener Schlussakte Restauration, europäische

282

546,

Schleswig, H e r z o g t u m

Revolution

368

Schöffenbarfreien

317

Schutzzollära

R e v o l u t i o n , Französische: Klubs

681

R e v o l u t i o n , Französische v. 1789

225,

135

270

Schwache(n): A u s m e r z u n g Schwache(n): Schutz d.

230, 257, 274, 281 f., 297, 315, 317,

Schwarze

545 f., 558, 565, 681 f.

Schwarze: A m e r i k a

R e v o l u t i o n , Juli- (Frankr.) Rheinbund Ritter

555

547, 550 124 f., 134

Rittergüter Ritterhufen

Rohillas

Sedan 124, 132

50 121

R o m , altes

202

Romantik

33

508

Seerecht

328 680

Sekte(n): N a t u r r e c h t

203

Selbsthilfe 553

Selbstmord

601, 616

267

Selbstverwaltung

Russland

68, 544, 550

Sepoys

Russland: England

70

Russland: K o m m u n i s m u s Russland: Krimkrieg

234

76—78

R u s s l a n d : Leibeigenschaft

228

555

Russland: Warschau, Großherzogtum 547 Russland: Weltkrieg, Erster

487, 5 0 8 -

510

Sachsen: S e l b s t m o r d e

601 — 604

Serbien: Weltkrieg, Erster Sexualethik Sexualität

Sachsen: W i e n e r Kongress Sadduzäer

597, 599

Sexualität: C h r i s t e n t u m Sikhs Simonie Sipahi

„Sakontala" Samtschaften

547 f.

594—596

66, 187 136, 307 85

Sittengesetz

394, 396 f., 402 556

Skandinavien: T ö n n i e s

534 f.

38, 4 3 - 4 5 , 8 2 - 8 4 , 108,

587 Sozialdemokratie

357

103, 510

596-598

Sklavenhandel

616

225, 233, 568

86

Skandinavien

Sachsen: M o r a l s t a t i s t i k

203

226, 418

Rotürier

R u s s l a n d : Polen

318, 320

Sekten: Franziskaner Sekte(n): Religion

282, 286

R o m a n t i k , politische

218 f., 362, 366 f.

Sozialdemokratie: „ E r f u r t e r P r o g r a m m "

173

148

686

Sansibar

89

Sozialdemokratie: Eucken

Sanskrit

169, 670

Sozialdemokratie: Parteitag

S a r a j e w o , M o r d in Säuglingssterblichkeit

696 f.,

505, 625

Sekte(en): A m e r i k a

48

Roi soleil

544

sea-rovers

Rittertum, Ritterstand

643 f.

7 7 f.

Schweden: Besuch v. T ö n n i e s Schweiz

140

137

Rohilcund

Schwarzes Meer

699-702

138, 270, 325

Rittergutsbesitzer

197, 198 1 9 7 - 1 9 9 , 679

188

Schweden

123, 133, 135, 137, 139, 305

Ritterbürtige

386

56 f., 482, 534,

557

5 5 4 - 5 5 6 , 681 Revisionismus

53

Schiedsgerichte, k a u f m ä n n i s c h e

577 522

115 146

Sozialdemokratie: W a h l r e c h t s f r a g e Sozialgesetzgebung

229 f., 236, 386

500

804

Apparat

Sozialismus

S t a a t s f o r m , republikanische

1 4 9 - 1 5 1 , 255, 281,

Staatshilfe

3 0 3 - 3 0 5 , 569, 683 Sozialismus: Bebel

3 6 1 f.

Sozialismus: Frau

Staatsinteresse, Staatsräson

3 6 4 f.

Sozialismus: „ G e i s t "

Staatsmann

342

Sozialismus: Spencer

147

S t a a t s m a n n : Partei 230, 357,

569 Sozialistenkongress, Internationaler

574

Sozialwissenschaften: Nutzen

Spanien: M a r o k k o

583

Spanien: Silberflotte

Stände

682

2 6 0 , 2 8 3 , 3 1 5 f., 6 8 6 f. 333 334 335

Statistik: Hochschulunterricht

333—336

334, 336

Statistik: „nosse rem p u b l i c a m " 331 331 331

Sprache, lateinische

3 1 , 174 3 8 8 f. 3 9 4 , 3 9 6 f.

245, 335, 420,

Statistik: Wagner Statistik, populäre

260

Sterbefälle

121

Staat: Vertrag, Begründung durch Staaten, Vereinigte von A m e r i k a

681 321,

325, 505 Staaten, Vereinigte von A m e r i k a : Eng40-43

Staaten, Vereinigte von A m e r i k a : Rassenhy628-637

Staaten, Vereinigte von A m e r i k a : U - B o o t 546, 548,

2 4 5 , 5 2 3 f.

Sterilisierung

6 3 0 f., 6 3 3 , 6 3 7

Sterilisierungsgesetze: USA Steuerpolitik: Wagner Stiftspräbenden Stoa

Staatsbürgertum, nationales

682

683

202

Strafrecht

227, 233, 398, 6 3 3 - 6 3 5

221, 387

Stuartfamilie Sudan

575

630

517

130

S t i m m r e c h t , allgemeines

208

Subhastationen

550, 553

288

337-338

Sterblichkeit

Streik

528

239 245—246

Statistik, soziale

121

Staatensystem, europäisches

516

Statistik: Werturteil

225

Staat, moderner: Massregeln

Statistik: Vergleichungen

335

Staat: Sittengesetz Staat: Ständestaat

335

Statistik: Vorlesungen u. Übungen

Staat: O r g a n i s m u s Staat: Souveränität

392

Statistik: Pseudostatistik 601

326

Staatsbetriebe

1 2 1 , 2 6 1 f., 2 6 9 , 3 0 1 , 3 2 0 ,

Statistik: Fehlschlüsse

3 3 0 f.

Sprache, französische

krieg

Stadt, Städte

Statistik: Institute

Sprache, englische

giene

226

Statistik: Dissertationen

5 3 1 f.

Sprache: Weltsprache

land

Staatszweck

Stand, Dritter

615, 618—621

24

Staat, moderner

2 1 6 f.

256

Statistik: Absolventen 31—40

Staat

Staatswesen, altpreußisches

324

554, 556

Spanien: England

Sprache

162

238, 240, 288, 372

Soziologie u. Psychologie

spieen

209 284, 517

Staatswille: Rousseau

621

Sozialversicherung Soziologie

146

238, 240, 5 6 4 - 5 7 6

3 8 4 f.

384

Staatsrecht, engl. Staatssozialisten

Sozialpsychologie

4 8 9 f.

S t a a t s m a n n : Gesetzgeber

Sozialismus, wissenschaftlicher

Spanien

377—392

S t a a t s m a n n : Frieden

148

Sozialismus: Staatstätigkeit

Sozialpolitik

136, 307,

3 1 0 , 4 1 3 f.

147, 1 4 9 - 1 5 1

Sozialismus: Höffding

218

147

93 f.

Suezkanal

87 f.

269

333,

805

Sachregister Suffrage universel Suleika

682

Ungleichheit: Rousseau

173

Universalalphabet

Syndikalismus

418

Universitäten

253

330

493—495

Universitäten: Paulsen ,Tag'

206

Unrecht

Tagelöhner

263

Unternehmertum

Taipin-Rebellion Tarifvertrag

74

Untertanen Utopie(n)

586

T a t s a c h e , soziale: D u r k h e i m Tatsachenurteil .Times'

Vedanta-Philosophie 120

687

Vereinigungsfreiheit Vererbung

212

T h e o l o g i e : Supernaturalismus T h e o l o g i e , rationalistische Tilsit, Friede v. 1 8 0 7 Todesursachen

358

266

382

Vererbungslehre: Mendel

Verfassung(en),deutsche Verfassung, englische

230, 318

6 8 2 f.

89, 95, 98

Verfassung, preußische

Trafalgar

507

Verfassung, städtische

Transzendenz: Eucken amerikanischer

Trucksystem

Verkehr

201

4 8 3 f., 5 0 2

Trinität: D o g m a d.

356

T ü r k e i : Carlowitz, Friede v. T ü r k e i : Deutsches Reich

539

538—541 540, 555

Vermalia

379

Vernunft

385

Türkei: Katschnik K a i n a r d j , Friede

Verstaatlichung Vertrag

Türkei: Russland

539, 548

T ü r k e i : Weltkrieg, Erster

225, 232, 681

304, 575

4 1 3 , 4 1 5 f.

Vertrag: Arbeitsvertrag

416

Vertrag, L o n d o n e r ( 1 8 3 9 )

538-541

Viktorianische Ära Volk

4 0 0 f.

Übersetzungen als Mittel d. Völkerverstän174

255

Völker, fremde: Eingliederung

5 0 4 f.

193

Völkerrecht: Belgien 169, 670

226

360

218, 375, 377, 405, 410

Völkerrecht

95

Upanischaden

503 683

Verwaltungsgerichtsbarkeit

Volk: Rousseau

Uitlander

121

Verwaltung: Frankreich

539

219

300, 318, 326

Versammlungsfreiheit

538

Türkei: Griechenland

275

226

Versailles: H o f von

351

Türkei: Amerika

Verfassungsrecht

Verfassungsstaat, moderner

83

Triebe, menschliche

217, 219 204

Verfassungen, süddeutsche

114

,Trent' (Kaufahrteischiff): Bürgerkrieg,

Tripel-Entente

275, 551,

682

685

Transvaal

digung

551—553, 557—

Verfassung(en), landständische

683

Tugend

628, 634

Verfassung: Deutsches Reich v. 1 8 7 1

558

Toleranzprinzip

v.

158, 2 3 7 - 2 4 1

225, 232, 681

498-501

56

245, 524

585

Toryismus

169, 6 7 0

168, 6 6 9

Verein für Sozialpolitik

T h e o l o g i e : Professoren

Tories

Venedig

Verbände, soziale

1 0 0 , 102 438

Theismus 213

Togo

3 9 8 f.

367

621

2 3 9 f.

Territorien, reichsunmittelbare Tilsit

281

262

Urteil, ethisches

387

Tasmanier

4 9 3 f.

295

502

Völkerrecht: Freiheit d. M e e r e

327

806

Apparat

Volksbewusstsein

407

Volksgemeinschaft Volksgesundheit Volksheer

Whigs

513

Wiener Kongress

378

546—559

Wiener Kongress: Deutscher Bund

124

Volkssitten

683

Wien: Wagner

572

Volkssouveränität

3 1 5 , 6 8 1 f.

Volkssouveränität: Rousseau Volkswille: Rousseau

Wiener Kongress: Heilige Allianz 256

256

546-548

5 1 9 , 5 2 0 f.

Wiener Kongress: polnische Frage

Volta-Anstalt

629

Wiener Kongress: Restauration

Voluntarismus: Eucken

Wahrheit: Erforschung d.

160

Wahrheitsbegriff: Eucken

114

549-553 Wiener Krach

Weideservituden

312 340

Weltbürger

Willkür

480-484 102-107

Weltkrieg, Erster: Gemeinschaftsarbeit, gei534—537

Weltkrieg, Erster: Professoren, deutsche 4 9 7 f. Weltkrieg, Erster: Staaten, neutrale Weltkrieg, Erster: U - B o o t k r i e g Weltliteratur

Werturteil (e)

Westindien

114, 1 1 6

Wissenschaft: Fortschritt Wissenschaft: im Orient

253 163, 1 7 2 , 6 6 4 ,

6 7 2 f. Wissenschaft, parteiische

1 6 1 f.

Wissenschaften, positive

339

Wohlfahrtsstaat

413-418

Wohnbevölkerung Wohnungsfrage

523 570 3 8 2 f.

549

Zensur

2 3 1 f.

Zentrumspartei

238, 372

Ziel 239

239

218, 280

241

Zionismus

243

Zuchthausgefangene: Preußen

303

Zunftverfassung

309

2 6 8 , 3 1 4 f.

Z u s a m m e n l e b e n , sittliches

Westminster, D é c l a r a t i o n v. ,Westminster G a z e t t e '

114

2 3 7 , 2 4 0 , 2 6 6 f., 3 2 1

214

Werturteil(e): Objektivierung Wesenswille

Wissenschaft

Württemberg

3 2 5 f.

Werturteil(e): Statistik

682

3 7 9 f.

Wollen, menschliches

114

Wert d. Lebens: Eucken Werte, soziale

497

526-532

173

Weltproblem: Eucken Welträtsel: Haeckel

303

Wirklichkeit: Eucken

155, 3 2 0 , 3 2 3

Weltkrieg, Erster: D ä n e m a r k

stige

400

Willkürherrschaft Wirbeltiere

Weltkrieg, Erster: England

425

Wille: Leben

547

5 0 7 f., 5 4 8 , 5 5 4

Weltanschauung

5 4 7 f.

Wiener Kongress: Verfassung, deutsche

625

Warschau, G r o ß h e r z o g t u m

547 546, 548,

550, 553

114

Wiener Kongress: Sachsen

Waterloo

553

Wiener Kongress: O r d n u n g , europäische

Volkszählung

Wallis, K a n t o n

550,

5 5 1 f.

253

106

57, 59

Zwergbauern

263, 307

Zweikammer-System

682

401

6 3 1 f.

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band

1 1875 — 1892: Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: „Was ist studentische Reform" — De Jove Ammone quaestionum specimen • Schriften • Rezensionen

Band

2 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft

Band

3 1893-1896: „Ethische Cultur" und ihr Geleite - Im Namen der Gerechtigkeit — L'évolution sociale en Allemagne — Hobbes • Schriften • Rezensionen

Band

4 1897-1899: Der Nietzsche-Kultus - Die Wahrheit über den Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg — Über die Grundtatsachen des socialen Lebens • Schriften • Rezensionen

Band

5 1900—1904: Politik und Moral — Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit — L'évolution sociale en Allemagne (1890-1900) • Schriften

Band

6 1900-1904: Schriften • Rezensionen

Band

7 1905-1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker - Strafrechtsreform — Philosophische Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht • Schriften • Rezensionen

Band

8 1907—1910: Die Entwicklung der sozialen Frage — Die Sitte • Schriften • Rezensionen

Band

9 1911 — 1915: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie — Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung • Schriften • Rezensionen

Band 10 1916—1918: Die niederländische Übersee-Trust-Gesellschaft — Der englische Staat und der deutsche Staat — Theodor Storm — Weltkrieg und Völkerrecht — Menschheit und Volk • Schriften Band 11 1916-1918: Schriften • Rezensionen Band 12 1919-1922: Der Gang der Revolution - Die Schuldfrage — Hochschulreform und Soziologie — Marx — Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914 • Schriften

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 13 1919-1922: Schriften • Rezensionen Band 14 1922: Kritik der öffentlichen Meinung Band 15 1923 — 1925: Innere Kolonisation in Preußen insbesondere der ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen — Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung I • Schriften Band 16 1923 — 1925: Schriften • Rezensionen Band 17 1926—1927: Das Eigentum — Fortschritt und soziale Entwicklung — Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung II — Der Selbstmord in Schleswig-Holstein Band 18 1926—1927: Schriften • Rezensionen Band 19 1928-1930: Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878 - Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung III • Schriften Band 20 1928-1930: Schriften • Rezensionen Band 21 1931: Einführung in die Soziologie • Schriften • Rezensionen Band 22 1932—1936: Geist der Neuzeit • Schriften • Rezensionen Band 23 Nachgelassene Schriften Band 24 Schlussbericht zur TG • Gesamtbibliographie und -register

FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER

Kritische Gesamtausgabe Zweite Abteilung (Vorlesungen)

Band 8: Vorlesungen über die Lehre vom Staat Herausgegeben von Walter Jaeschke 1998. 24 X 16 cm. LXIII, 968 Seiten. Leinen. D M 458,-/öS 3343,-/sFr 408-/approx. US$ 269.00 • ISBN 3-11-015644-X Aus dem Inhalt: Erster Teil: Manuskripte Schleiermachers • Frühe Aphorismen • Fragmente zur Politik • Die Lehre vom Staat 1829-1833 • Notizen zum Kolleg 1822 Zweiter Teil: Vorlesungsnachschriften • Kolleg 1817 (Nachschrift Varnhagen) • Kolleg 1817/18 (Nachschrift Goetsch) • Kolleg 1829 (Nachschrift Heß und Willich) • Kolleg 1833 (Nachschrift Waitz). From the contents: Part One: Manuscripts of Schleiermacher • Early aphorisms • Fragments on politics • Doctrine of the state, 1829-1833 • Notes on the course of lectures, 1822. Part Two: Transcripts of lectures • 1817 course of lectures (Varnhagen transcript) • 1817/1818 course of lectures (Goetsch transcript) • 1829 course of lectures (Heß and Willich transcript) • 1833 course of lectures (Waitz transcript). Prof. Dr. Walter Jaeschke ist wissenschaftlicher Angestellter der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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