Gesamtausgabe (TG). Band 5 1900–1904: Schriften 9783110581072, 9783110158380

The years from 1900 to 1904 were critically important for sociologist and philosopher Ferdinand Tönnies. The diversity o

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Gesamtausgabe (TG). Band 5 1900–1904: Schriften
 9783110581072, 9783110158380

Table of contents :
Inhalt nach Abteilungen
Inhalt nach Sachgebieten
Abkürzungen und Siglen
Vorwort
I. Monographien
Politik und Moral
Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit
L’Évolution sociale en Allemagne (1890 – 1900)
Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck
II. Schriften
[Schreiben an die Herren Geistlichen mit der Bitte um Charakterisierung ihrer Konfirmanden]
Mitteilungen Moralstatistik betreffend
Auszug aus dem Begleitschreiben vom Februar 1900
P.P.
Die Erweiterung der Zwangserziehung
Die Wohnungsnot – eine sittliche Not
Sittliche Entrüstung?
Biblia pauperum
Die Verhütung des Verbrechens
Zur Kontroverse über Politik und Moral
Die Zerrüttung der liberalen Partei in England
An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal
Eine Anmerkung über Rousseau
Otto Kallsen
Die Krisis des englischen Staatswesens
Zwei Briefe Klaus Groths
Die schöpferische Synthese
Terminologische Anstösse
Zur Theorie der Geschichte (Exkurs)
Wilhelm Förster
Ammons Gesellschaftstheorie
III. Rezension
Der europäische Bund
Apparat
Editorischer Bericht
Bibliographie
Register der Publikationsorgane
Personenregister
Sachregister
Plan der Tönnies-Gesamtausgabe

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Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 5

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe TG Im Auftrag der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V.

herausgegeben von Lars Clausen † · Alexander Deichsel Cornelius Bickel · Carsten Schlüter-Knauer Uwe Carstens · Dieter Haselbach

Walter de Gruyter · Berlin · Boston 2018

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 5

1900 – 1904 Politik und Moral Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit L’Évolution sociale en Allemagne (1890–1900) Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck Schriften Rezension

herausgegeben von Bärbel Carstens und Uwe Carstens

Walter de Gruyter · Berlin · Boston 2018

Die Edition des Bandes 5 der Tönnies-Gesamtausgabe wurde von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der Brunswiker Stiftung gefördert.

ISBN 978-3-11-015838-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058107-2

Library of Congress Control Number: 2018935093

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Satz: Michael Peschke, Berlin Schutzumschlag: Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier

Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt nach Abteilungen Verzeichnisse Inhalt nach Abteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhalt nach Sachgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Vorwort Uwe Carstens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII I. Monographien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik und Moral. Eine Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L’Évolution sociale en Allemagne (1890–1900) . . . . . . . . . . Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck . . . . . . . . . . . . . . . .

1 3

II. Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Schreiben an die Herren Geistlichen mit der Bitte um Charakterisierung ihrer Konfirmanden] .. . . . . . . . . . Mitteilungen Moralstatistik betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auszug aus dem Begleitschreiben vom Februar 1900 . . . . . P.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erweiterung der Zwangserziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wohnungsnot – eine sittliche Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sittliche Entrüstung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblia pauperum .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verhütung des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Kontroverse über Politik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zerrüttung der liberalen Partei in England . . . . . . . . . . . An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal . . . . . . . . . . . . Eine Anmerkung über Rousseau .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Kallsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Krisis des englischen Staatswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Briefe Klaus Groths .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

49 101 149

259 263 269 274 277 309 322 331 337 350 356 360 362 366 375 396

VI

Inhalt nach Abteilungen

Die schöpferische Synthese. Ein philosophisches Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologische Anstösse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Theorie der Geschichte (Exkurs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Förster (Zum siebzigsten Geburtstage) . . . . . . . . . . Ammons Gesellschaftstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403 415 424 456 462

III. Rezension .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Der europäische Bund .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Publikationsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plan der Tönnies-Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497 499 572 599 603 622 637

Inhalt nach Sachgebieten Al lgemeine Politik Politik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sittliche Entrüstung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Kontroverse über Politik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zerrüttung der liberalen Partei in England . . . . . . . . . . . Die Krisis des englischen Staatswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der europäische Bund .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 322 350 356 375 489

Wirtschafts- und Sozialpolitik Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 L’Évolution sociale en Allemagne (1890–1900) . . . . . . . . . . 101 Die Wohnungsnot – eine sittliche Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Statistik Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck . . . . . . . . . . . . . . . . [Schreiben an die Herren Geistlichen mit der Bitte um Charakterisierung ihrer Konfirmanden] .. . . . . . . . . . Mitteilungen Moralstatistik betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auszug aus dem Begleitschreiben vom Februar 1900 . . . . . P.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verhütung des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259 263 269 274 337

Kultur- und Bildungsfragen Die Erweiterung der Zwangserziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblia pauperum .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Anmerkung über Rousseau .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ammons Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277 331 362 462

149

VIII

Inhalt nach Sachgebieten

Über einzelne Persönlichkeiten An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal . . . . . . . . . . . . Otto Kallsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Briefe Klaus Groths .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Förster (Zum siebzigsten Geburtstage) . . . . . . . . . .

360 366 396 456

Philosophie Die schöpferische Synthese. Ein philosophisches Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Terminologische Anstösse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Soziologie Zur Theorie der Geschichte (Exkurs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

Abkürzungen und Siglen Aufgenommen sind sämtliche in Text oder Anmerkungen vorkommende Abkürzungen und Siglen, bis auf die häufig abgekürzten Vornamen, denn diese erscheinen in Tönnies’ Text selbst oder in den Anmerkungen dazu, sonst im Personenregister (siehe S. 603 ff.). Kursive Abkürzungen bezeichnen Siglen der Werke Tönnies’. Kursiviertes in den Erläuterungen zeigt nichtdeutsche Wörter an (fehlt ein Hinweis, so entstammt es dem Englischen). Abkürzungen zu Satzbeginn beginnen mit einer Majuskel, diese Form wird hier nicht aufgeführt. #

Zeichen für et cetera § Paragraph §§ Paragraphen ₰ Pfennig 3° third [englische Ordinalzahl] oder troisième [französische Ordinalzahl] a.a.O. am angegebenen Ort Abg. Abgeordneter Abhdlg. Abhandlung Abs. Absatz Abt. Abteilung a.D. außer Dienst a.F. alte Fassung A.-G. Aktiengesellschaft A.L.R./ALR Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten a.m. ante meridiem [lat., bedeutet „vor dem Mittag“] a. M. am Main (Frankfurt) a./M. am Main (Frankfurt) Anm. Anmerkung a. O. am Ort [Alternative zu a.a.O] Art. Artikel Artt. die Artikel [alte Form, bei Abkürzungen die Mehrzahl zu bilden]

a./S. AVP

an der Saale Antisemitische Volkspartei

Bd. Band Bde. Bände BdL/BDL Bund der Landwirte Bearb. Bearbeiter Begr. Begündung betr. betreffend, betreffs bezw. beziehungsweise BGB. Bürgerliches Gesetzbuch B.G.B. Bürgerliches Gesetzbuch des Deutschen Reiches bl. blühte [hist.-fachsprachlich svw. „wirkte“] Burg a. Fehm. Burg auf Fehmarn bzw. beziehungsweise c. capitulum [lat. Kapitel] ca. circa Cb54 [= Signatur des Tönnies-Nachlasses in der SHLB; vgl. Zander 1980] cbm Zeichen für Kubikmeter cfr. confer [engl.: vergleiche; conferatur (lat.: [man] vergleiche] CSP Christlich-soziale Partei d

pence

X

Abkürzungen und Siglen

d. den, der, dem, des D. Doktor der Theologie das. daselbst dass. dasselbe DDR Deutsche Demokratische Republik dergl. dergleichen Dez. Dezember dergl. dergleichen, desgleichen DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DFP Deutsche Freisinnige Partei DFV Deutscher Flottenverein dgl. dergleichen, desgleichen DGS Deutsche Gesellschaft für Soziologie d.h. das heißt d.i. das ist Diss. Dissertation d.J. des Jahres D. Junii Juvenalis Decimus Junius Juvenalis (Juvenal) DKP Deutschkonservative Partei DNV Deutscher Nautischer Verein Dr. Doktor DR. Deutsches Reich D.R. Deutsches Reich DRP Deutsche Reformpartei DSN Datensatznummer aus dem Werkverzeichnis der Tönnies Gesamtausgabe dt. deutsch DtVP Deutsche Volkspartei durchschn. durchschnittlich D. Verf. Der Verfasser DVP Deutsche Volkspartei DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm DZP (auch Z oder ZENTRUM) Deutsche Zentrumspartei ebd. ebenda ed. edition bzw. edidit [lat: Edition bzw. hat herausgegeben]

ed.

Editor bzw. edited bzw. edition [engl.: Herausgeber bzw. herausgegeben bzw. Ausgabe/Auflage] éd. édition [frz: Herausgabe, Herausgeber, herausgegeben] einschl. einschließlich Einw. Einwohner E.K. Ethische Kultur EKD Evangelische Kirche Deutschland Emer. emeritiert engl./engli. englisch Entsch. Entscheidung Entscheid. Entscheidung Erk. [das] Erkenntnis etc. et cetera [lat.: und so weiter] e.V. eingetragener Verein f. folgend Febr. Februar FEW Freiwilliger Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen ff. folgende Seiten Fr. Franc frz. französisch französ. französisch Frid. Friedrich Friedr. Friedrich frz. französisch F. T., F T Ferdinand Tönnies FTG Ferdinand-TönniesGesellschaft e. V. FVp Die Freisinnige Volkspartei G. Gutachten GEG Großeinkaufs-Gesellschaft gegr. gegründet Geh. Geheimer Geh.-R. Geheimer Rat Ges. f. soz. Reform Gesellschaft für soziale Reform GewO Gewerbeordnung ggf. gegebenenfalls



Abkürzungen und Siglen

G.m.b.H.

Gesellschaft mit beschränkter Haftung G.O. Gewerbeordnung gr. Gramm griech. griechisch GS Gesetzessammlung für die königlich Preußischen Staaten GuG Gemeinschaft und Gesellschaft G.-V. Generalversammlung H. Heft Halle a. S. Halle an der Saale herausgeg. herausgegeben Hg. Herausgeber/in HGB Handelsgesetzbuch hgg. herausgegeben hrsg. herausgegeben ib. ibidem [lat.: ebendort] ibid. ibidem [lat.: ebendort] i.B. im Breisgau inkl. inklusive Jahrg. Jahrgang Jg. Jahrgang K. Königlich Kais. Kaiserlich Kaiserl. Kaiserlich kaiserl. Statist. Bureau Kaiserlich Statistisches Bureau Kap. Kapitel kg Zeichen für Kilogramm kgl. königlich kil. kilo [französisch: Kilogramm] Königl. Akademie zu Berlin Königliche Akademie zu Berlin KSA Kritische Studienausgabe der Werke Nietzsches lat. lateinisch l.c. locum citato [lat: am angeführten Ort] Lfg. Lieferung Lic. Licentiat [Inhaber einer akademischen Licentia

XI docendi (Erlaubnis zu lehren)]

M. Mark M. Monsieur [frz.: Herr] m.a.W. mit anderen Worten m.b.H. mit beschränkter Haftung Mill. Million Min. Minute/n Mk. Mark Mort. Mortalité [frz.: Sterblichkeit] Mrs. Mistress [engl.: Frau] MS Manuskript n.Chr. nach Christus N. F. Neue Folge n° numéro [frz.: Nummer] No./no Numero NO. Nord Ost Nov. November Nr. Nummer NSV Nationalsozialer Verein NW. Nord West oct. o. J. o. V. p. p. p. 100

october (engl.: Oktober) ohne Jahr[esangabe] ohne Verfasser[angabe]

part (frz.: Teil) page (engl./frz.: Seite) pour cent (frz.: %, von Hundert) pag. page (engl.: Seite) PD Privatdozent Pf. Pfennig Pfd. Pfund p.m. post meridiem [lat., bedeutet „nach dem Mittag“] pp(.) „perge, perge“ (pp.), lateinisch für „fahre fort, fahre fort“; siehe et cetera. pp. pages (frz.: Seiten) preuß./preuss. preußische, preußischen Prof. Professor R. Reichs-

XII

Abkürzungen und Siglen

Rep.

Repositur [Aufbewahrungsort für Schriftgut in einem Archiv oder einer Bibliothek] resp. respektive (beziehungsweise) RG. Reichsgericht RG Reichsgericht RGSt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen R.-T. Register-Tons [heute: Registertonne] Rubr. Rubrik S. Seite s. siehe s.a. siehe auch Sc. Scene [englisch: Szene] s.d. siehe dort S-H Schleswig-Holstein SHL(B) Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek sogen. so genannte sog. so genannte soz. sozial/e Sp. Spalte SPD Sozialdemokratische Partei Deutschland spr. sprachlich Stat. Statistik Sten. Ber. über Verh. der zweiten Kammer Stenographischer Bericht über Verhandlungen der zweiten Kammer stenogr. stenographisch Stenogr. Berichte Stenographische Berichte Stenograph. Berichte Stenographische Berichte Str.G.B. Strafgesetzbuch Strafs. Strafsache Stud. Studiosus [lat.: Studierender] s.u. siehe unten sub. sub [lat.: unter] suppl. supplément [französisch: Supplement-Band, Zusatz]

svw. soviel wie t./T. tome [frz.: Bd., Band] T. Teil Tab. Tabelle TG Tönnies-Gesamtausgabe u. und u.a./u.A. und andere, unter anderem U.A.w.g. um Antwort wird gebeten u. dgl. und dergleichen u. dgl. m. und dergleichen mehr u. dergl. und dergleichen ult. Ultimo [ital.: der Letzte des Monats] u. ö. und öfter u.s.f. und so fort USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands u.s.w. und so weiter usw. und so weiter v. von, vom v.Chr. vor Christus Verf. Verfasser Verf. Verfassung VfS Verein für Socialpolitik vgl. vergleiche Vierteljahrsh. Vierteljahrshefte v.s. vide supra [lat. siehe oben] vol volume [engl. Band] Welt a. W. u. V.

Welt als Wille und Vorstellung [Arthur Schopenhauer] WS Wintersemester Z. Zeile z.B. zum Beispiel z. D. zur Disposition (zur freien Verfügung)

Vorwort Die Jahre 1900 bis 1904, die dieser Band umfasst, waren für den wissenschaftlichen Publizisten Ferdinand Tönnies wichtige, ja prägende Jahre. Zwar entstanden in diesen fünf Jahren keine umfangreichen richtungsweisenden Monographien, aber die Themenvielfalt zeigt sein außerordentliches Wissen und das beständige Interesse an den für diese Jahre im Fokus stehenden Themen. Über diese Jahre schreibt Tönnies selber: „Seit 1902 war ich (nomineller) Mitherausgeber der Monatsschrift „Deutschland“ und schrieb mehrere Aufsätze für diese, wie zu gleicher Zeit – in den folgenden Jahren – viele für „Das freie Wort“, „Ethische Kultur“, „Soziale Praxis“ und das […] „Archiv“ Heinrich Brauns, das 1904 mit etwas verändertem Titel in die Hände Paul Jaffés überging. Auch Schmoller hielt mich für sein Jahrbuch fest, wie er auch sonst mir seine Gunst erwies. Ich wurde in einen Unterausschuß des Vereins für Sozialpolitik gewählt für eine Untersuchung über die Lage der Seeleute und verfaßte dafür einen Bericht über die Seeleute in den Ostseehäfen Schleswig-Holsteins. Danach wurde ich in den Hauptausschuß des genannten Vereins gewählt. Später ebenso in den Ausschuß der vom Freiherrn von Berlepsch, Sombart u.a. begründeten Gesellschaft „für soziale Reform“, nachdem ich für ihre Schriften eine Abhandlung über die – damals stark bedrohte – Koalitionsfreiheit der Arbeiter verfaßt hatte“ (Ferdinand Tönnies. Eutin (Holstein), in: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von Raymund Schmidt, Leipzig 1922, S. 25). Tönnies, der ab 1894, dem Jahr seiner Hochzeit mit der Pächters Tochter Marie Sieck, mit seiner kleinen Familie zunächst in die Zimmerstraße 34 in Hamburg-Uhlenhorst und ab 1898 nach Altona in die Mathildenstraße 21 (heute Schillerstraße) gezogen war, lebte in diesen Jahren als frei arbeitender wissenschaftlicher Schriftsteller und Publizist. Mit Cornelius Bickel lässt sich feststellen, dass der Umzug nach Hamburg Ausdruck einer Art von innerer Emigration aus dem starren Gehäuse des preußischen Universitätsmilieus war, das ihm angesichts seines Dauerkonfliktes mit der Ministerialbürokratie keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr zu bieten schien. Zudem konnte die Resonanzlosigkeit auf die er mit seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ gestoßen war, diesen Eindruck nur noch verstärken (siehe dazu Cornelius Bickel, Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus, Opladen 1991, S.  206). So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Tönnies

XIV

Vorwort

u.a. wegen der politischen Verhältnisse im Kaiserreich durchaus ernsthaft über eine Auswanderung nach England oder Amerika nachdachte (Olaf Klose, Eduard Georg Jacoby und Irma Fischer (Hg.), Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel 1876–1908, Kiel 1961, S. 329). Paulsen zeigte hierfür Verständnis: „Du sprachst im Sommer einmal davon, in England Dich festzusetzen. Ich kann es ganz verstehen, daß einem die Lust ankommt; die Stickluft in Deutschland ist zur Zeit allerdings furchtbar drückend. Mir ist manchmal zumute, als müsste eine Zeit kommen, die es jedem zum Schimpf anrechnet, darin ausgehalten zu haben, mindestens allen denen, die im öffentlichen Leben eine Rolle gespielt haben. Indessen, das will nun ausgehalten sein; das deutsche Volk wird auch an diesen Nachwehen der Bismarckepoche nicht zu Grunde gehen“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S.  335f.). Tönnies, in dem sich nach eigenem Bekunden „starke Sehnsucht“ nach eigenem Haus und Garten rührte (Briefwechsel Tönnies Paulsen S. 337) blieb aber im Land und konnte sich 1901 diesen Wunsch erfüllen: die Familie zog in ihr eigenes Haus (mit Garten) nach Eutin in die Auguststraße Nr. 8 (das Haus steht auch heute noch; die Straße heißt allerdings inzwischen Albert-Mahlstedt-Straße nach einem Eutiner Bürgermeister). Hier nun entstanden überwiegend die in diesem Band vorgestellten Schriften. Sie sind allerdings als nahezu lücken­­ lose Fortsetzung seiner „Hamburger Schriften“ zu sehen, da sich der Status von Tönnies erst im Todesjahr von Friedrich Paulsen 1908 änderte (Tönnies wurde nach 27 Jahren als PD zum außerordentlichen Professor der „Wirtschaftlichen Staatswissenschaften“ ernannt, ein Ausdruck, den er übrigens verabscheute). Die Arbeiten in Hamburg und schließlich in Altona können für das wissenschaftliche Fortkommen von Tönnies kaum überschätzt werden, enthalten sie doch in intensiver Verdichtung die Grundzüge seines gesamten Lebens und Werkes. Die Arbeiten wie z.B. die preisgekrönte Schrift „Philosophische Terminologe“, die Schriften über den Hafenarbeiterstreik, die Monographie über den englischen Staatsphilosophen „Thomas Hobbes“ und natürlich der „Nietzsche-Kultus“, um nur einige zu nennen, sind allerdings den TG Bänden 3 und 4 vorbehalten. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Tönnies, ermutigt durch den Erfolg beim Welby-Preis 1898 mit dem Thema „Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht“ (abgedruckt in TG Band 7, S.  119250) im Frühsommer 1899 an die Beantwortung einer zweiten Preisfrage ging, die bis zum Oktober desselben Jahres einzureichen war. Es war der von dem katholischen Philosophen Jakob Frohschammer gestiftete Preis, der laut testamentarischer Vollmacht durch die Münchener Universität durchzuführen und am 1. Januar 1900 zum ersten Mal zu vergeben war.



Vorwort

XV

Gewünscht wurde eine eingehende psychologische Analyse der „Tatsache des Wollens“. Die Tatsache, dass Tönnies diesen Preis nicht gewann, sondern lakonisch vermerkte „das Manuskript ruht noch heute“ (Ferdinand Tönnies. Eutin (Holstein), S. 24), führte dazu, dass der Bibliothekar Jürgen Zander „Die Tatsache des Wollens“, mit einer eindrucksvollen Einleitung versehen, 1982 herausgab und der Text also zu den „Posthumen Veröffentlichungen“ zählt (DSN 886) (Ferdinand Tönnies, Die Tatsache des Wollens, aus dem Nachlass hrsg. und eingeleitet von Jürgen Zander, Berlin 1982). Eine weitere Preisfrage, die Tönnies beinahe das gesamte Jahr 1902 beschäftigte und einen „Trostpreis“ von 1000 Mark einbrachte, beschäftigte sich mit der „Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung“. Der unter dem Titel „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre“ (DSN 213) erschienene Text, der aus vier Teilen besteht, wurde im TG Band 15, S. 205-407 unter dem Titel „Soziologische Studien und Kritiken“ (DSN 646) abgedruckt und im Editorischen Bericht S. 641 ff. ausführlich dargestellt. Trotzdem war es Tönnies klar, wollte er sowohl die persönliche als auch die berufliche Isolation beenden, musste ein erneuter Ortswechsel her. Zwar mangelte es nicht an aktuellen politischen Geschehnissen, die ihn beschäftigten (insbesondere der „Zweite Burenkrieg“ von 1899 bis 1902 zwischen Großbritannien und den Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal fesselte Tönnies’ Interesse, das in seinem plattdeutschen Gedicht „An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal“ gipfelte). Viele der alten Freunde waren gestorben und eine Etagenwohnung schien ihm auch nicht der rechte Ort für seine Kinder zu sein. So war die „Holsteinische Schweiz“ ein verlockendes Ziel. Von 1901 bis 1922 hat Ferdinand Tönnies in Eutin gelebt und hielt vom Sommersemester 1909 an in regelmäßigem Turnus zwei große Vorlesungen an der Kieler Universität, die damals noch als Theoretische und Praktische Nationalökonomie gegeben wurden, außerdem leitete er den statistischen Unterricht, bis er sich 1916 entpflichten ließ, um sich gänzlich der Forschung widmen zu können. In einem Brief, den Ferdinand Tönnies am 3. April 1927 aus Kiel an Professor Hermann Schmalenbach schrieb und in dem er sich mit dessen kritischen Bemerkungen zu seinen eigenen Auffassungen über die „Soziologie der Sachverhältnisse“ auseinandersetzte, spielen diese Eutiner Jahre eine große Rolle und dienen ihm zur Verdeutlichung seines Standpunktes; ein Beweis dafür, wieviel ihm diese Zeit doch offenbar bedeutet hat. Tönnies schrieb u.a.: „Ich will Ihnen die Geschichte meines Hausbesitzes erzählen. Eutin ist eine anmutige Stadt. Ich ging einmal, 1894 oder früher, dort durch die Auguststraße und betrachtete ein Haus (Nr. 8) mit dem

XVI

Vorwort

Gefühle und dem Gedanken: wenn man nur einmal das Haus besitzen und bewohnen könnte, das wäre so recht nach meinem Gefallen, da würde ich „glücklich“ sein. Ohne jeden Zusammenhang damit wurde mir das selbige Haus im Jahre 1901 zum Kaufe angeboten, und es wurde mein Eigentum. Es hat mir fortdauernd gefallen [...] und war mir – mehr als meiner Frau, die viel damit zu schaffen hatte [...] – immer lieber geworden, so daß ich jedesmal wenn ich von einer Reise zurückkehrte (und das war sehr oft, so lange ich im Semester alle Woche nach Kiel Dozierens halber fuhr), nicht nur auf die Meinen, sondern auch auf mein Haus mich freute“ (Eutiner Blätter für Heimatkunde, Nr. 19, Jahrgang 1980, S. 73f.). Die zunehmende Verschärfung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Hause Tönnies führten nicht nur dazu, dass Tönnies ab dem Sommersemester 1921 wieder an der Kieler Universität zu lehren begann, sondern im gleichen Jahr sein Eutiner Haus veräußern musste. Im Spätherbst 1921 zog die Familie Tönnies in den Kieler Niemannsweg 61, wo Tönnies ein sogenanntes „Zinshaus“ – also ein Haus, das teilweise vermietet wird – erwarb. Tönnies hat viel später in einer Rede vor den „Literariern“, wie sich die Literarische Gesellschaft in Eutin nannte und deren Vorsitzender Tönnies ab dem 29. April 1907 wurde, die Episode seines Lebens in Eutin als die Zeit „voll angenehmer Erinnerungen“ bezeichnet (Eutiner Blätter). Der vorliegende Band 5 der Tönnies Edition hätte nicht entstehen können, wenn uns nicht in allen Phasen der Arbeit daran bereitwillige Unterstützung zuteil geworden wäre. An erster Stelle nennen wir Cornelius Bickel, der unser Manuskript in sein sorgfältiges Lektorat nahm. Unser Dank gilt Frau Maike Manske von der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek und der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft mit ihrem Präsidenten Alexander Deichsel und dem Wissenschaftlichen Referenten Sebastian Klauke, Frau Anita Lubiszewski vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, Frau Gabriele Rose von der Bibliothek der FriedrichEbert-Stiftung, Herrn Felix Meyer vom Landeskirchlichen Archiv, Herrn Christian Deike vom Staatsarchiv in Hamburg, Herrn Reinhard Jannen vom Inselarchiv Föhr und Herrn Wolf-Rüdiger Kittel für die Übersetzung des Textes „L’Évolution sociale en Allemagne“ (DSN 173). In dem verstorbenen Vertreter der Familie Tönnies, Jan Gerrit Tönnies, hatten wir stets einen hilfsbereiten Ansprechpartner. Wir gedenken seiner in Dankbarkeit. Schließlich danken wir Frau Sabina Dabrowski und Herrn Albrecht Döhnert vom Verlag Walter de Gruyter für die angenehme Zusammenarbeit. Die Fehler sind unsere.

I. Monographien

Politik und Moral Eine Betrachtung Science sans conscience, disait Rabelais, est la ruine de l’âme. Politique sans morale est la ruine de la société. Proal.

5

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Eine Betrachtung: Ferdinand Tönnies, Politik und Moral. Eine Betrachtung. In: Flugschriften des Neuen Frankfurter Verlags, III. Bd., Frankfurt a. M. 1901. est la ruine de l’âme: Das Originalzitat von François Rabelais lautet „Science sans conscience n’est que ruine de l’âme.“ (französisch: „Wissenschaft ohne Gewissen ist aber der Untergang der Seele“). est la ruine de la société: Französisch: „Politik ohne Moral ist der Untergang der Gesellschaft“. PROAL.: Louis Proal war Gerichtsrat am Appellgerichtshof in Paris. Proal hat als einer der ersten herausgearbeitet, dass sich der politische Kriminelle nicht nur gegen den Staat wendet, sondern dass auch Politiker in staatlichen Machtpositionen schwere Straftaten zu begehen vermögen. Siehe dazu Louis Proal, Political Crime, London 1898, S. 355.

Herrn Geh. Regierungsrat Prof. Wilhelm Förster Direktor der R. Sternwarte in Berlin

in treuer Verehrung und Freundschaft. „Ein zartes innres Aug’ ist das Gewissen, Zuweilen schläft’s und schließt sich zu ... ........ Zu andrer Zeit Thut dieses Seelenauges Wimper weit Sich auf, und aus der Iris strahlt ein Licht, Das uns’res Ich geheimsten Grund erhellt.“ Paul Heyse.

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„Niemals ist eine größere Illusion zur Grundlage der Politik gemacht worden, als der Glaube ..., daß man eine auswärtige Politik ohne Ethik treiben und dabei das innere Leben der Nation sittlich intakt erhalten könne ... und die Gewissenhaftigkeit, die man auf einem Gebiete lächerlich macht, die wird auch in allen anderen Lebenskreisen an ihrer Berechtigung irre werden.“ Ethische Kultur, 10. Nov. 1900. (F.)

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Das uns’res Ich geheimsten Grund erhellt: Paul Heyse, Gesammelte Werke (Gesamtausgabe), Reihe II/1, Hildesheim 2015, S. 660. an ihrer Berechtigung irre werden: Es handelt sich um ein Zitat aus dem Artikel „Das Reichsamt des Innern und die auswärtige Politik.“ In: Ethische Kultur, 8. Jg. vom 10. November 1900, Nr. 45, S. 358. Der Artikel ist mit dem Kürzel „F.“ unterzeichnet.

Inhalt Politik contra Moral – das Problem – S. 9. – Anwendung auf auswärtige Politik 10. – Gültigkeit für den Privatmann 11. – Wahrung des Scheines 13. – Die Vernunft des Verbrechers 14. – Civilisierte Bösewichte 15. – Staatlicher und privater Egoismus 16. – Wissenschaft als Gesinnung – Richtung nach innen 17. – Innere Politik 19. – Diener des Staates 21. – Der moralische Gerichtshof 21. – Das politische Unrecht 22. – Korruption der Rechtspflege 24. – „grober Unfug“ 24. – Mängel der Richter 25. – Klassenjustiz 25. – Die Polizei 27. – Kriminalpolizei 28. – Staatspädagogie 29. – Sittenpolizei 30. – Politische Polizei 30. – Verfolgung 31. – Gesetzgebung 31. – Klassenkampf – Parteikämpfe 32. – Der Zuschauer 33. – Als Richter 35. – Verbesserung des Kampfes 35. – „Über die Parteien“ 36. – Wissenschaft im Verhältnis zu den Parteien 37. – Werte und Willen 38. – Züchtung des reinen Willens 39. – Entparteiung 40. – Korruption der gesetzgebenden Gewalt – Plutokratie 41. – Idee des rechtschaffenen Gemeinwesens 42. – Zusatz I: Welt=Politik 43. – Zusatz II: Wert der Parteien 45. – Anmerkungen.

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Anmerkungen: Die Anmerkungen von Tönnies (Endnoten) wurden von den Editoren als Fußnoten auf den Seiten eingefügt, auf die die Fußnoten sich beziehen.

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Vorrede

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Neuere Begebenheiten haben das Verhältnis von Politik und Moral in aufregender Weise zum Gegenstande des öffentlichen Interesses erhoben: sowohl auswärtige Politik als innere Politik sind an jene Steinchen des Anstoßes geraten, die dem Handelnden gar oft ein Ärgernis, dem „Vielaber Leichtgebildeten“ ebenso oft eine Thorheit sind. – An mehr als einer Stelle hat sich unverkennbar das sittliche Volksgewissen geregt, jener unscheinbare Wurm, der sich nur krümmt, wenn er sehr stark getreten wird. Er hat sich lange und oft mißhandeln lassen; er ist so geduldig gewesen, daß er sich fast in Vergessenheit gebracht hat; Mitspieler des öffentlichen Dramas leugnen getrost sein Dasein, und das etwa in demselben Atemzuge, in dem sie sich entrüsten über ernste Männer, die das Dasein ihres Fetisch-Gottes leugnen, eines Gottes, der ein liebevoller Vater der Menschheit oder doch der sogenannten Christenheit sein soll, und nichtsdestoweniger (in ihren Gedanken) den ruchlosesten Unternehmungen von Christen gegen Christen, wie von Christen gegen Heiden, seinen helfenden Arm leiht. Wahrlich, es ist Zeit, daß das Volksgewissen sein Dasein offenbare, daß es Macht gewinne und sich fühlbar mache als ein unerbittlicher Richter, als ein Geist der Wahrheit, als ein Zeuge der Gerechtigkeit. Wir dürfen nicht wünschen, daß es einen furchtbaren Gerichtstag halte, wie deren die Geschichte etliche zu verzeichnen hat; aber warnen soll es, mahnen und züchtigen, und den besonnenen Ernst in seine Rechte wieder einsetzen, um die er so oft durch jugendlichen Leichtsinn, wie durch greisenhafte Stumpfheit betrogen wird. Es ist unter keinen Umständen gleichgültig, ob man Recht oder Unrecht thut. „Dies wissen alle, doch vergißt es jeder gerne jeden Tag“. Aber weil alle es wissen, so muß man sie daran erinnern, und das geschieht mächtiger, als durch Worte und Schriften, durch Thatsachen, durch Ereignisse, durch „Zeichen und Wunder.“ Zeichen und Wunder haben ihre Bedeutung, und daß ihre Bedeutung gefunden, enthüllt werden müsse, scheint man einmal wieder in „weiten 26

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doch vergißt es jeder gerne jeden Tag: In dem Gedichtband von August von Platen heißt es im X. Gedicht: „Dies wissen Alle, doch vergißt es Jeder gerne jeden Tag, So komme denn, in diesem Sinn, hinfort aus meinem Munde nichts!“ August von Platen, Gedichte, Stuttgart 1828, S. 128. Zeichen und Wunder: In der Bibel findet sich die Redensart an vielen Stellen, z.B. 2. Mose 7,3: „Aber ich will das Herz des Pharao verhärten und viele Zeichen und Wunder tun in Ägyptenland“.

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Kreisen“ zu ahnen und nach richtigem Verständnis ein dumpfes aber ehrliches Verlangen zu tragen. Dabei ist besonders merkwürdig, daß sich von neuem Gelegenheit darzubieten scheint, die Wahrheit der Beobachtung zu erproben, die ein trefflicher Zeitgenosse folgendermaßen ausdrückt: „Die Anschauungen, die in den Religionen niedergelegt sind, müssen dem Druck eines langsam steigenden moralischen Einflusses nachgeben, und wenn der gesellschaftliche Zustand eines Volkes fortschreitet, so setzt dieser Prozeß sich fort, bis zuletzt die Autorität der Moral ebenso notwendig für die Theologie wird, wie anfangs die Autorität der Theologie für die Moral gewesen ist.“ (Sir Alfred Lyall, Asiatic Studies, Vol. I pag. 14.) Und zwar kann dies geschehen, obwohl gleichzeitig gerade die Krisis der religiösen Systeme eine philosophisch begründete und durch rationale Methode zu propagierende Moral vermissen läßt und immer mehr notwendig macht. Diese Erwägungen haben den Verfasser veranlaßt, einen vor mehreren Jahren gehaltenen populären Vortrag aus dem Pultgrabe hervorzuholen und, teilweise umgearbeitet, an das Licht der litterarischen Welt zu befördern, der das Verhältnis der Politik zur Moral aus einigen naheliegenden Gesichtspunkten behandelt und eine erschöpfende systematische Behandlung dieses Problems mehr anregen als auch nur anheben will.1 Denn er hat nicht versucht, die Majestät der Ethik in ihrer ganzen Größe, als der Richtschnur alles öffentlichen und privaten Handelns, zu entfalten, er hat sich vielmehr auf dem Standpunkte des allgemeinen moralischen Bewußtseins gehalten, das die Politik um eines vermeintlichen Nutzens willen glaubt mit Füßen treten zu dürfen; uneingedenk des unermeßlichen Schadens, den eben dadurch die Fundamente des menschlichen und bürgerlichen Zusammenlebens erleiden mögen.

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F. T.

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Von anderen Gesichtspunkten aus, nämlich um für eine unmittelbare Verwertung der Ethik und für ihre Anwendung auf die gesellschaftlichen Lebensprobleme sich auszusprechen, behandelt diese Frage F. Staudinger „Ethik und Politik“ Berlin, Dümmler 1899, welche interessante Schrift kennen zu lernen niemanden gereuen wird.

Asiatic Studies: Sir Alfred C. Lyall, Asiatic Studies, Vol. I, London 1882, S. 14.

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[Einleitung]

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Es ist eine bekannte, ja historisch vielberufene Lehrmeinung, daß die Politik außerhalb und gewissermaßen oberhalb der Moral stehe, daß also der Staatsmann thun dürfe, was immer er will und mag, wenn er nur das Wohl des Staates im Auge habe. „Der Staatsmann“ – so geht diese Meinung – „muß rücksichtslos verfahren; auf die Macht und Wohlfahrt des Staates hat er alles zu beziehen, diesem Zwecke alle anderen unterzuordnen; für diesen Zweck muß ihm jedes Mittel recht sein. Seine Mittel und Werkzeuge muß er mit Klugheit auswählen; ob sie moralisch sind oder nicht, danach kann er nicht fragen; ja die unmoralischen Mittel sind oft die zweckmäßigsten und also unentbehrlich; jetzt mit Gewalt und jetzt mit Listen muß der Politiker sein Spiel zu gewinnen suchen. Die frische Farbe der Entschließung darf ihm nicht von der Blässe des Gedankens, d.h. des Bedenkens, des Gewissens, angekränkelt werden; wer bedenklich ist, zeigt Schwäche, und wer Schwäche zeigt, giebt dem Streiche des Gegners eine Blöße. Es mag unter Umständen nützlich sein, moralisch zu scheinen, es ist oft sehr nützlich, wie es überhaupt nützlich ist, seine Absichten zu verbergen, den Gegner zutraulich zu machen, um den arglosen zu überrumpeln und desto gewisser zu vernichten. Die Heuchelei ist eine Waffe des Trutzes, die Maske eine Waffe des Schutzes; der Kluge verwandelt sein Aussehen und sein Gebahren, wie die jedesmalige Aufgabe es verlangt. Von niemandem ganz erkannt, sich selber aber klar bewußt, so schleicht der schlaue Politikus auf seinen Wegen einher, so verfolgt er seine Pläne, so schreitet er von Erfolg zu Erfolge.“ In diesem Sinne hat der so lange erfolgreiche Napoleon Bonaparte den Ausspruch gethan: „Le coeur de l’homme d’Etat doit être dans sa tête.“ Und in diesem Sinne sind durch die „Staats-Raison“ Thaten aller Art, die sonst für abscheulich galten, immer gerechtfertigt worden, Gewaltthat sowohl als Lug und Trug. Wenn schlechthin gesagt worden ist: „der Handelnde ist immer gewissenlos“, so ist politisches Handeln das gewissenlose Handeln im großen Stile. Eine Bewunderung, die halb ästhetischen, halb religiösen Charakter trägt, schaut es oft sogar als ein göttliches oder

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von Erfolg zu Erfolge: Ferdinand Tönnies hat sich ausführlich in seiner „Kritik der öffentlichen Meinung“ (TG Band 14) mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Siehe dazu „Soziologische Wechselwirkungen“ S. 265-296. Vgl. auch das Wort Machiavellis „in der Welt ist nichts als Pöbel“ in: Niccolò Machiavelli, Il Principe, 1878, S. 59. dans sa tête: Französisch: „Das Herz eines Staatsmannes muss in seinem Kopf sein.“ Zitat Napoleons. Entweder aus „Napoléon Bonaparte, Louis: Code Napoléon, edition originale et seule officielle, Paris de L’imprimérie impériale 1810“ oder aus „Napoléon Bonaparte, Louis: Les idées Napoliennes par le prince, Bruxelles 1839“. gewissenlos: Hermann Siebeck, Goethe als Denker, in: Frommans Klassiker der Philosophie, Band XV, hrsg. von Siebeck, Stuttgart 1902, S. 197.

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„übermenschliches“ Gebahren an und betäubt die tieferliegenden Gefühle der Scham und des Schauders.

I. An der Schwelle des Urteiles über die hier zu Grunde liegende Ansicht müssen wir sogleich eine bedeutende Unterscheidung gelten lassen und den Unterschied betrachten: ob solche Lehre angewandt wird auf die Regierung eines Staates in ihrem Verhältnisse zu anderen Staaten, oder aber auf eine Regierung gegen die Regierten, auf das Verhalten der Obrigkeit gegen die Staatsbürger – ob es also um auswärtige oder um innere Politik sich handelt. Im ersten Falle hat die Lehre offenbar ein größeres Maß von Wahrscheinlichkeit, von Sinn und Berechtigung für sich. Wenn wir davon ausgehen, daß die Staaten einander natürliche Feinde sind, daß der eine auf Kosten der anderen seine Macht zu erweitern trachtet, daß eben darum jeder auf der Hut sein muß, von dem andern überfallen oder übervorteilt zu werden, so ist es sehr einleuchtend, wenn gesagt wird: „die Selbsterhaltung macht alles erlaubt, die Klugheit ist höchstes, ja einziges Gebot, wo die Existenz in Frage gestellt ist.“ Daher gilt es umsomehr, wenn ein Staat sich im Zustande der Verteidigung befindet, wenn er seiner Haut sich wehren muß; wer will ihm da zum Vorwurfe machen, daß er um sich schlägt, wer ihm verargen, wenn er der Raubgier und Roheit des Feindes mit Verstellung und Verschlagenheit, zumal als der Schwächere, begegnet? Und wenn auch jeder Angriffskrieg sich den Schein eines Verteidigungskrieges giebt, wenn auch die Maxime, daß die beste Defensive die Offensive sei, unanfechtbar ist, so spricht doch bei jedem Kampfe zwischen Großen und Kleinen die Vermutung dafür, daß der Große angegriffen hat, und so ist gleichsam die Offensive natürliche Haltung der Mächtigen, die Defensive der Schwachen. Womit aber rechtfertigen jene, die Angreifenden, ihr Verfahren, wenn sie niemand glauben machen können, daß es sich um Abwehr für sie handle? Sie werden sagen: die Erhaltung ihrer Macht gebiete Vermehrung ihrer Macht, „Stillstand ist Rückschritt,“

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in Frage gestellt ist: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrsg. und eingeleitet von Prof. Dr. Iring Fetscher, Neuwied und Berlin 1966, S. 237. Stillstand ist Rückschritt: Das Zitat „Stillstand ist Rückschritt“ wird mehreren Personen zugeschrieben (z.B. Konfuzius) ist aber wohl mehr als „Lebensweisheit“ zu verstehen.

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und aber: was die anderen thun, müsse man selber thun, die Konkurrenz zwinge dazu, die Gefahr, daß man durch wachsende Macht des Nachbarn selber der Schwächere und also die Beute des Mächtigeren werde, womit denn dieser Fall auf eine indirekte Art der Verteidigung zurückgeführt wird. Was ist dagegen zu erinnern? – vielleicht, daß dies gar sehr nach einem Vorwande klingt, daß es wahrscheinlicher ist, die einfachen und starken Motive der Habsucht und Herrschsucht zugrundeliegend zu denken, daß jedenfalls der letzte Grund seinen inneren Sinn verliere, wenn die angreifenden Mächte kollektiv genommen werden, und daß es ein müßiges Spiel sei, wenn von zwei Diebsgesellen einer die Schuld auf den anderen schiebt? Aber eine solche Sprache! Ist das eine moralische Sprache? eine gerechte Sprache? Das verlangt ja doch eben jene Lehre, daß wir die Handlungen der Staaten anders beurteilen, daß wir ihnen andere Namen geben, daß wir die Worte des Abscheus und der Entrüstung für uns behalten. Die Handlungen der Staaten sind Handlungen einzelner – der Staatsmänner, der Fürsten, der Generale. Wohl – aber diese wollen ja, wie wir annehmen, und wie es wenigstens möglich ist, nichts Erhebliches für sich, sie meinen ihre Pflicht zu thun, sie wollen das Wohl einer Gesamtheit, eben des Staates. Achtung heischen sie, auch wenn sie die Verantwortung für Thaten, die sonst Greuelthaten heißen, auf sich nehmen; Bewunderung, wenn der Erfolg ihnen Recht giebt, wenn der Sieg sich an ihre Fahnen heftet, ein Beweis der Zufriedenheit und Gunst ihrer Gottheit! Wie einleuchtend, wie anerkannt, wie hergebracht, wie gültig! Und doch ist vielleicht ebenso einleuchtend (wenn auch weniger anerkannt), daß das Wesentliche dieser Betrachtung nicht minder für den Privatmann gilt, der im Ringen ums Dasein steht, als für den Staatsmann, der die Sache seines Staates verficht. Warum soll der Familienvater nicht ebenso die Sache seines Hauses, der Geschäftsmann die Sache seiner Firma, der Parteiführer die Sache seiner Partei vertreten und geltend machen? Ist nicht auch in diesen Verhältnissen unablässiger, offener oder verborgener Kampf? Muß nicht der Schwache immer fürchten, die Beute des Stärkeren zu werden? Und muß nicht der Starke eifersüchtig wachen, daß ihm nicht der Rivale über den Kopf wachse? Ist nicht auch hier der Fall, daß Stillstand Rückschritt heißt und das Fortschreiten Gebot der Selbsterhaltung ist? Und kann der Fortschritt sich behindern lassen durch das Ächzen derer, die zu Boden geschlagen und mit Füßen getreten werden? In der That ist die Analogie sehr stark zwischen dem isoliert gedachten Staate und dem isoliert gedachten Menschen. Der isoliert gedachte Mensch – das ist gegenüber einem hochentwickelten und verwickelten sozialen Leben eine gewaltsame Abstraktion, der nicht leicht eine Er-

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scheinung völlig entspricht. Denn wer als Ehemann und Vater, wer aber außerdem etwa als Direktor einer Bank oder einer Fabrik sich auf der Bühne des Lebens bewegt – wie ist denn dieser gesellschaftliche Mensch isoliert? Und doch haben wir ein Recht, ihn so zu betrachten, indem wir von seinen inneren Beziehungen und Verhältnissen absehen, indem wir nur an seine Aktionen nach außen hin denken, wo ihm denn ebensolche Repräsentanten von Familien oder Geschäften gegenüberstehen. Wenn wir nun mit solcher Voraussetzung den isolierten Menschen also reden lassen: „jeder ist sich selbst der Nächste, man muß Hammer oder Ambos sein, die Konkurrenz duldet keine sentimentalen Anwandlungen, ein Narr, wer seinen Vorteil nicht wahrnimmt; Vorwärts ist die Losung, den letzten beißen die Hunde; wer zu Reichtum und Ehren gelangen will, darf die krummen Wege nicht scheuen und muß die Hintertreppen kennen“ – und was dergleichen Leit- und Grundsätze mehr sind – was thun wir, indem wir ihm unsern Beifall spenden? – Wir verleugnen für diese Verhältnisse die Moral, wie jene Lehrmeinung, von der diese Rede ausgegangen ist, sie für die Politik verleugnet hat. Ob mit gleichem Rechte? – Über den Ähnlichkeiten darf man die Unterschiede nicht übersehen. Das Streben und Kämpfen des isolierten Menschen ist umgeben von den Schranken des Gesetzes, er kann wegen civilen Unrechts verklagt, wegen kriminellen Unrechts angeklagt werden; über ihm ist die Staatsgewalt, in deren Namen die Urteile gesprochen, durch deren Diener sie vollstreckt werden. Über den Staaten, sofern sie nicht in einem Bunde vereinigt sind, waltet kein Gesetz in jenem Sinne, ist keine Staatsgewalt. Aber da ist das Völkerrecht – an dessen Regeln gebunden ist doch auch der Staat, mithin nicht so frei, daß er thun kann, was ihm beliebt, was er für gut und nützlich hält? Da giebt es Regeln, die auch im aktuellen Kriegszustande gelten und beobachtet zu werden pflegen, da giebt es andrerseits Verträge und sogar Bündnisse – ist nicht die Achtung vor solchen Normen, ist nicht die Bündnistreue eine moralische Tendenz? – Mögen wir sie so nennen oder nicht, der Sinn jener Lehre von der moralin-freien (wie Nietzsche sagen würde) Politik ist eben der, daß der Staat auch an das Völkerrecht sich nur zu kehren habe, auch seinen Verträgen und Bündnissen nur so lange treu bleiben müsse, als er darin einen überwiegenden Nutzen erkennt – nicht anders ist er daran gebunden, als durch sein Interesse – er soll sich

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die Hintertreppen kennen: Hier handelt es sich um eine Aneinanderreihung von Lebensweisheiten. sagen würde: So spricht Nietzsche in seinem Werk „Der Antichrist“ von einer „moralin­ freie[n] Tugend“, Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 2. Kapitel, Kritische Gesamtausgabe (KSA) 6, München und New York 1980, S. 170.

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nur stark genug fühlen, die Konsequenzen durchzuführen, so wird er der Verträge spotten und seinem Alliierten den Krieg erklären, und thut wohl daran; denn nur zu seinem Besten hat er Verträge geschlossen, sie sind ihm ein Mittel für seine Zwecke gewesen; taugen sie als solche nicht mehr, so gebietet die Vernunft, sie abzuwerfen, sich der lästigen Verpflichtungen zu entledigen. Die mildere Fassung der Doktrin macht hier wiederum die Einschränkung auf Verteidigungs- und Notfälle, die kühnere Fassung aber sagt: ein Notfall liegt überall vor, wo ein „vitales Interesse“ in Frage steht, – ob aber ein Interesse vital ist, das kann nur jeder für sich, der Staatsmann nur für seinen Staat entscheiden, – freilich vor Irrtum muß er sich hüten und überhaupt wohl erwägen, ob die Vorteile des Bruchs den unvermeidlichen Schaden aufwiegen; er muß darauf gefaßt sein, daß man von nun an ihm mißtrauen, daß man ihn für unzuverlässig halten und also neue Verträge ungerne mit ihm eingehen wird; er muß auch wissen, daß er ein Prinzip verletzt, dessen Geltung auch ihm selber zu gute gekommen ist und kommen wird. Es wird daher ersprießlich sein, wenigstens den Schein der Bündnistreue zu wahren, und für die Verletzungen nach Vorwänden zu suchen, die den unbefangenen und nicht allzutief blickenden Zuschauer täuschen, die wohl gar den Friedensbrecher als den eigentlichen Liebhaber und Förderer des Friedens darstellen – mit einem Worte, die die Schuld auf den anderen schieben. Ganz ähnlich können die Erwägungen des isolierten Privatmannes vor sich gehen, ganz ähnlich kann er versuchen, sich das Ansehen des gekränkten Ehrenmannes zu geben, wenn er darauf ausgeht, andere zu kränken, oder sich als den Verfechter des gemeinen Wohles hinzustellen, wenn er für sein eigenes einen gewaltsamen Eingriff in fremde Rechtsphären unternimmt, nur daß die üblen Folgen des gröbsten Unrechts für ihn unmittelbarer und im allgemeinen wahrscheinlicher sind, als etwa für den mächtigen Eroberer, der im schlimmsten Falle nur die schwach organisierte Völker-Gesellschaft auf Seiten des zu bewältigenden Gegners sieht. Auch jener wird in seiner Interessen-Politik sich nicht innerlich beirren lassen durch Verträge und Gesetze, sie aber äußerlich beobachten, so lange als es ihm vorteilhaft ist, ja er wird auch erkennen, daß die Übertretung außer den etwanigen gesetzlichen Folgen möglicherweise einige Nachteile hat, daß es dagegen ihm zum Vorteile gereicht, in so gutem Rufe zu stehen, als ob er prinzipiell und seiner Gesinnung nach gesetzlich handle, daß also jedenfalls der Schein des Gegenteils nach Möglichkeit zu vermeiden sei; umsomehr aber wird er, wenn hinlänglich großer Gewinn in Aussicht steht, wenn zugleich der gute Schein sich wahren läßt, wenn das 34

etwanigen: „etwanigen“ oder „etwaigen“ beide Schreibweisen waren seinerzeit möglich.

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Gesetz umgangen werden, wenn etwa die Form des Vertrages und Rechtes unverletzt bleiben kann, oder wenn er der Hilfe einer parteiischen Regierung, parteiischer Gerichte sich sicher fühlt, umsomehr, sage ich, wird er da Recht und Billigkeit mit Füßen treten, wird das Geschrei der Witwen und Waisen nicht achten, wird nichts sehen als den Kranz, den die vor ihm herfliegende Fortuna dem Ritter beut, der auf seinem schweißtriefenden Renner sie einholt. Denn die Begierde ist blind, rastlos, schrankenlos, der Durst nach Macht und Besitz, das Streben, im Wettrennen den Rivalen zu schlagen, sie kennen keine Besinnung, kein Maß, keine Rücksicht. Und doch – welch ein Widerspruch scheinbar: diese glühende Begierde verbindet sich mit der kältesten Überlegung, ja, bringt sie hervor, der stärkste Egoismus ist der denkende Egoismus, Vernunft, als das Vermögen der klugen Berechnung, ist die geschmeidigste, tüchtigste, fleißigste Dienerin jedes Willens, dem bösen so viel eifriger und gefälliger, als er stärker und energischer zu sein pflegt als der gute Wille. Es ist aber von selber klar, daß diese „Vernunft“ des absoluten Egoisten von der Vernunft des prinzipiellen Verbrechers sich in nichts unterscheidet. Auch dieser wird, nachdem er seine Carriere mit gehörigem Erfolge beendet hat, vorziehen, als friedlicher Bürger zu leben, wenn die Umstände es ihm erlauben; er wird den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung am heftigsten anklagen, er wird finden, daß die Gesetze der beste Geldschrank sind, um einen verjährten Raub sicher zu verwahren, er wird sich vielleicht am geschicktesten davor zu decken wissen, mit der Polizei oder gar mit dem Strafgesetzbuch in neue Kollisionen zu geraten; er wird aber auch den Moment und den Ort wahrzunehmen wissen, wo und wann auf sichere und „ruhige“ Art „etwas zu holen“ oder zu vollbringen ist, wo er einen grandiosen Betrug und Schwindel in Szene setzen kann, der nicht blos am Zuchthause sich vorbeidrückt, sondern ihn durch allerlei Umwege auf den Balkon eines Palastes führt, von dessen Rampe er eine Ovation seiner Anhänger empfängt, die ihn als den großen Bürger feiern und ihn bitten, ein Mandat für das Repräsentantenhaus anzunehmen, in dem seine überlegene Klugheit, sein echter Bürgersinn so gemeinnützig, so segensreich wirken werde. Auch der brave Gloster nennt sich, nachdem er König Richard der Dritte geworden, den „Gesalbten Gottes“ und schilt mit gar beredter Zunge die Fehler gegen seine heilige Majestät.2 Was kann man dagegen einwenden, wenn man die Voraussetzungen zuläßt? – Denn nun frage man sich, um auf den Staat zurückzukommen, ob nicht ein Völkerrecht, das er, weil es auch die andern bindet, so sehr als 2

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Shakespeare, König Richard III. Akt IV Sc. 3, Akt V Sc. 3. der gute Wille: Bezug zu Schopenhauers instrumentalen Auffassung von Vernunft.

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möglich respektiert, vollkommen möglich ist trotz jener inneren Feindseligkeit jedes Staates gegen alle anderen, trotz der Erhebung der Politik und Klugheit über alle Moral – ob nicht ebenso eine Gesellschaft von civilisierten Bösewichtern denkbar ist, die sich miteinander vertragen und einander mißtrauen, die aber einen Staat über sich aufbauen, der Leben und Eigentum jedes einzelnen Bösewichts vor allen anderen Bösewichten beschützen soll, die etwa gar an einen Gott glauben, von dem jeder Hilfe und Förderung in seinen ruchlosen Unternehmungen erfleht und erwartet, die eine Religion der Strafen und Belohnungen lehren lassen, durch die sie ihre dümmeren Mitglieder besser in Schranken zu halten und mit einem schlechteren Lose zufrieden zu machen wünschen? Es wird vielen Menschen schwer, zu glauben, daß es civilisierte, d.h. also gewissermaßen „gebildete“ Bösewichte giebt. Man hat den Begriff des Bösen so fest mit dem der Wildheit und Roheit verbunden, man meint auch so genau zu wissen, daß der ausgeprägte Egoismus die niedrigen Kulturstufen charakterisiere, daß man sich durch die alltäglichen Erfahrungen der höheren nicht belehren läßt, die das Gegenteil wie auf dem Präsentierbrette darbieten. Wir sind sehr empfindlich gegen Blut und Eisen, aber sehr stumpf gegen Gift und Garne; wir vergessen immer von neuem, daß die bloße intellektuelle Bildung nur schlauere Schurken macht, daß die vor den Gesetzen sich deckende und duckende Niedertracht die abscheulichste und gefährlichste ist, und daß Rücksichtslosigkeit der Habsucht und Herrschsucht zuletzt ebensowenig Leib und Leben, als Eigentum und Ehre der Menschen schont, sei es unter dem Namen der Staatsraison oder des wohlverstandenen Eigen-Interesses und der Solidarität der gesellschaftlichen Ordnung. Der Widerwille gegen Schlachten und Morden macht dem Schlachten und Morden kein Ende; denn wer seine egoistischen Zwecke über alles setzt, thut ihnen zu Liebe auch das, was ihm widerwärtig ist. Und der gebildete, wohl gar ästhetisch empfindende Mörder besudelt sich nicht selber mit dem Blute; er hat „seine Leute“ zur Verfügung, die für ihn „arbeiten“. Aber, selbst, wenn Leib und Leben geschont wird, das Leben ist doch wahrlich „der Güter höchstes nicht“ – vielleicht werden die Räuber auch deine Habe nicht unmittelbar antasten, aber deine Ehre, deine Freiheit, deine Rechte werden ihnen nicht heilig sein; wenn sie deine Stimme und Klage, deine Geltung, kurz wenn sie deine Persönlichkeit und ihren sittlichen Wert unterdrücken können, so wird ihrem Interesse am besten damit gedient sein, – siehe, sie werden sich damit „zufrieden“ ge32

der Güter höchstes nicht: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld.“ Friedrich von Schiller, Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder, in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Karl Goedeke, Vierzehnter Theil. Stuttgart 1872, S. 128.

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ben und wohl gar selber sich mit dem Wahne schmeicheln, auch für dein Bestes trefflich gesorgt zu haben, – denn sie seien „von der Vorsehung zum Herrschen berufen“; und sie seien im Stande der Verteidigung gegen dich, der du diesen Beruf und diese Vorsehung angezweifelt hast, sie seien die wahren Vertreter des gemeinen, also auch deines Wohles. Ist nun gar die immer stärkere Entwicklung des staatlichen und des privaten Egoismus notwendige Folge, notwendiger Ausdruck der höheren und bisher höchsten, also der gegenwärtig blühenden Civilisation? Ich bejahe diese Frage, aber ich sehe die Thatsache nicht als so trostlos und niederschlagend an, wie sie auf den ersten Anblick erscheint. Der Egoismus ist nicht schlechthin böse, die egoistische Vernunft steht nicht notwendigerweise und ausschließlich im Dienste niedriger und gemeiner Interessen, des Strebens nach Reichtum und äußeren Ehren, nach Macht und nach Unterdrückung der Besseren. Sie, eben die egoistische Vernunft, entwickelt sich auch in ihrem eigenen Gebiete, zunächst schon innerhalb jenes, ihrer unwürdigen oder minderwürdigen Dienstes. Alle menschliche, zweckmäßige Thätigkeit ist durch die Vernunft bedingt. Nun ist es eine natürliche Evolution, daß der Denkende eine gleichsam mechanische Trennung von Zweck und Mitteln vornimmt, so nämlich, daß er den Endzweck, den Nutzen, den Erfolg als das Ziel ins Auge faßt und dagegen alle seine Thätigkeit, zumal solche, die mit Mühe und Verlust verbunden ist, als bloßes Mittel denkt, als Kosten, womit er das Gut, das er gewinnen will, gleichsam erkauft und bezahlt; das Mittel wird zum Gegensatz des Zweckes, die Aufwendung des Mittels wird als Last und Übel vorgestellt und empfunden. Alle höheren Geistesthätigkeiten sind in fortwährender Gefahr, dadurch zu entarten. Sie geschehen nicht mehr mit Liebe und Hingebung, nicht mehr mit künstlerischem Sinne und Sorgfalt um ihrer selbst willen, sondern pur als Geschäft, sie werden abgemacht und erledigt, daher so sehr als möglich verkürzt oder überhastet, oft genügt der bloße Schein der Thätigkeit, sie werden daher verfälscht und oberflächlich fertig gestellt – es ist derselbe Prozeß, der in so weitem Umfange den Fortschritt der reinen Waren-Produktion, der „Fabrikware“, bezeichnet. Nun aber ist es ein glücklicheres Gesetz des menschlichen Geistes, daß doch auch fortwährend die entgegengesetzte Umwandlung stattfindet und niemals völlig von jenen Tendenzen aufgehoben werden kann. In Wirklichkeit ist jede geistige Thätigkeit, zumal die schaffende, Leben fördernde Thätigkeit höchste Freude des vernünftigen Wesens, auch die mühsamste sauerste Arbeit kann in und durch sich selber, durch ihr Fortschreiten und Gelingen zu einer Quelle der Schaffensfreude werden; auch wenn sie lediglich als Mittel zum Erwerbe gedacht und unternommen wurde, kann sie durch ihre inneren Reize, aber auch durch die Regelmäßigkeit, die Ge-

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wohnheit, zum Bedürfnisse sich gestalten und dies um so eher, je weniger sie rein mechanisch und schablonenhaft ist, je mehr sie zur Ausprägung des eigenen individuellen Wesens Gelegenheit und Veranlassung giebt, je mehr es das Werk ist, dessen sich der Meister freut. Ich frage: solche Tendenz wirkt fortwährend entgegen – das ist tröstlich. Sogleich aber müssen wir bekennen, daß in unserem Zeitalter des ruhelosen Verkehres, der rasenden Geschwindigkeiten, des atemlosen Wettbewerbes, die Wirkung dieser Tendenz immer mehr abnimmt, die der entgegengesetzten immer verheerender um sich greift. – Wir müssen auch dieser Thatsache ruhig ins Auge schauen und sie hinnehmen, wie sie ist, sie verstehen, um sie zu besiegen. So sehr auch durch den ungeheuren Reichtum der heutigen Gesellschaft die schönen Künste äußerlich gefördert werden, wir leben in einem wesentlich unkünstlerischen Zeitalter. Aber wir leben zugleich allerdings – und nicht ohne Zusammenhang damit – in einem wissenschaftlichen Zeitalter. Die Wissenschaft ist unser gerechter Stolz und unsere starke Wehr, unsere schönste, fast unsere einzige Hoffnung. Die Fortschritte der Wissenschaft hängen mit den Fortschritten des Handels und Verkehrs, des Gesellschafts- und Staatswesens aufs innigste zusammen. Das Streben nach Erkenntnis stellt sich als das höhere Streben neben das Streben nach Reichtum und Ehren, von dem es oft abhängt, mit dem es oft verquickt ist und wodurch es allzuoft getrübt und verfälscht wird – sein Wesen aber stellt es um so reiner dar, je freier es davon wird, je mehr es die den Menschen beherrschende edle und reine Gesinnung wird. Als solche kann sie mehr oder minder die menschliche Seele verwandeln, sie kann aus dem Erkennen selber und aus dem Nacherkennen eine kunstartige und ästhetische Thätigkeit machen, sie kann, auch auf der Basis des Egoismus, den ethischen Menschen herstellen, wiederherstellen, ja edler gestalten. Denn der vom echten Erkenntnisdrange erfüllte Mensch kann nicht an Erkenntnis der „Außenwelt“ sich genügen lassen. Früher oder später wird er die Mahnung als an sich gerichtet empfinden, die das Goethe’sche „Vermächtnis“ dem Denkenden zuruft: „Sofort nun wende Dich nach innen! Das Centrum findest Du da drinnen, Woran kein Edler zweifeln mag. Wirst keine Regel da vermissen; Denn das selbständige Gewissen Ist Sonne Deinem Sittentag.“

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Sittentag: Johann Wolfgang von Goethe, Gedicht „Vermächtnis“, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 3. Bd., Weimar 1890, S. 82.

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Das selbständige Gewissen: das ist ein Gewissen, das nicht nach konventionellen Meinungen, nicht nach dem Wohlgefallen der Mächtigen, nicht nach Gunst und Beförderung fragt, das über die verworrenen Rufe des Tages sich erhebt und die Frage an sich richtet: worin liegt, o liebes Herz, dein wahres Heil? dein ewiges Heil? die unerschütterliche Heiterkeit und Siegesgewißheit, die auch dem Tode trotzt? Und dasselbe Goethe’sche Gedicht antwortet ihm, wie mit einem Orakelspruch, in schlichter Würde: „Genieße mäßig Füll’ und Segen, Vernunft sei überall zugegen, Wo Leben sich des Lebens freut ... Dann ist Vergangenheit beständig, Das Künftige voraus lebendig, Der Augenblick ist Ewigkeit!“ – Es ist der spinozistische Goethe, der also dichtet, und seine Verse sind Umschreibungen Spinozascher Gedanken. Aber mit dem ausgestoßenen Juden kommen antike und christliche Denker dahin überein, daß die Selbsterkenntnis, die Verinnerung es ist, die uns erst in höherem Sinne zu Menschen macht – unsere Aufgabe ja, aber eine Aufgabe, die nicht durch Moralpredigen wesentlich gefördert wird, sondern deren Wirkungen überall da sich erwarten lassen, wo der Boden dafür wohlbereitet ist, so daß der Erzieher, mehr noch als durch Worte und Lehren, durch das Vorbild seiner Persönlichkeit, durch Strenge gegen sich selbst, durch Hingebung für seine Sache, den Wohlbegabten dahin lenken sollte, daß er solcher Philosophie sich hinzugeben lerne – denn damit ist alles gesagt. Das echte praktische Philosophieren ist nichts anderes als: sich in die eigene Seele, in das eigene Gemüt sich vertiefen, seine edleren Triebe und Anlagen unterscheiden, sie hervorziehen, hegen und pflegen und züchten, um dadurch der reinsten Freuden teilhaftig zu werden, die denn wieder in aller selbstlosen geistigen Arbeit, aber auch in der verehrenden Anschauung des Schönen und Guten, – wie Spinoza und die Christen sagen, in der Liebe und Erkenntnis des allmächtigen Gottes sich offenbaren, des Gottes, der für den Philosophen nichts anderes sein kann, als das unerschöpfliche und unendliche Sein, als das ewige und unergründliche Wesen der Dinge, als das in Leben sich erneuernde Leben, als die Idee der Einheit und Identität des schöpferischen „Geistes“. –

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Ewigkeit: Johann Wolfgang von Goethe, Gedicht „Vermächtnis“, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 3. Bd., Weimar 1890, S. 83. schöpferischen „Geistes“: Benedict von Spinoza, Ethik, übersetzt und erläutert von J. H. v. Kirchmann, Heidelberg 1886, S. 27f.

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Diese Anschauung sage ich, diese Liebe ist die normale Steigerung, die Blüte des vernünftigen Egoismus, des Denkens an sich selber. Denn – um wiederum mit Goethe zu reden – „Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare, Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre!“ –

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Und wenn der Apostel Paulus fragt: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ – so antworten wir: wem es um seine Seele recht ernstlich zu thun ist, der wird nicht viel von der „Welt“ gewinnen, oder, wenn er davon gewonnen hat, so wird er es anwenden, um sich zu vervollkommnen und zu veredeln, und wer sich selbst veredelt, der hilft dadurch mittelbar oder unmittelbar, seinen Mitmenschen, indem er ein Diener der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe zu werden sich bemüht.

II.

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Was folgt aber hieraus – so höre ich fragen – für unser Thema: Politik und Moral? – Es folgt, so ferne sie zu liegen scheint, eine fast von selbst verständliche Übertragung. Wir denken uns einen Staatsmann, der das Interesse des Staates mit hellem Blick und mit aller Anspannung seiner Geisteskräfte geltend macht. Was ist nun das Interesse des Staates? Der praktische Politiker wird uns erwidern: das lasse sich nur aus der gegebenen Lage eines Staates, aus seiner Geschichte, aus den ökonomischen Zuständen seiner Bevölkerung u.s.w. für jeden einzelnen Fall beurteilen. Die Theorie aber darf sich damit nicht zufriedengeben, sondern sucht nach festen Grundsätzen und Normen des Urteils. Mir scheint es nun unverkennbar, daß ein großer Gegensatz besteht zwischen der Richtung des politischen Denkens nach außen und derjenigen nach innen – jeder vollsouveräne Staat muß auswärtige Politik und innere Politik treiben, die Frage ist nur, auf welche Seite der Accent sich neigt, wie das Verhältnis der Gewichte sich darstellt, mit denen die eine oder die andere in die  7

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Geisterzeugte fest bewahre: Johann Wolfgang von Goethe, Gedicht „Im ernsten Beinhaus war’s wo ich beschaute“, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 3. Bd., Weimar 1890, S. 94. Schaden an seiner Seele: Neues Testament, Matthäus 16, Vers 26.

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Wagschale fällt. Ich meine nun, daß es Staatsmänner giebt, Parteien und ganze historische Epochen, die vorwiegend nach außen und solche, die vorwiegend nach innen gerichtet sind. Ich gebe nicht ohne weiteres und unbedingter Weise der einen Richtung aus dem ethischen Gesichtspunkte den Vorzug: die Richtung nach außen kann zeitweilig eine Notwendigkeit und Pflicht sein; aber ich behaupte allerdings, daß das wahre und dauernde Wohl eines Volkes wie eines einzelnen Menschen in der Verbesserung seines inneren Zustandes und nicht in Vermehrung und Erweiterung seiner äußeren Macht und seines Vermögens gesucht und gefunden werden muß; ich behaupte ferner, daß Erwägung und Erfahrung lehren: Herrschaft und Glanz zerfallen rasch, wenn sie auf Kosten der sittlichen Gesundheit erworben werden, und umgekehrt: diese bietet allein die Gewähr für nachhaltige Kraft der Verteidigung und eventuell der Wiederherstellung nationaler Unabhängigkeit gegen einen zeitweilig übermächtigen Feind. Aber ich kann mich nicht anheischig machen, diese Sätze hier zu beweisen, nur daran ist mir gelegen, einleuchtend zu machen, daß – wie immer man denken möge über die Gleichgültigkeit oder gar Schädlichkeit der Moral für die auswärtige Politik – innere Politik eine unmittelbare und notwendige Beziehung zu sittlichen Aufgaben haben muß und daß das eigene höchste Interesse des Staates seine Vertreter zu dieser Einsicht und Beschäftigung mit sich selber, mit den Zuständen des Volkes führt; daß es in der Regel nur mangelhafte Erkenntnis ist, die in Vermehrung der Macht die wichtigste Angelegenheit sieht, mangelhaft, weil sie zumeist den Schein für das Wesen nimmt, und weil sie im günstigsten Falle den Vorteil der Wenigen mit dem Wohle Aller verwechselt; und daß die Vermehrung der nach außen hin wirkenden Kraft durch innere Stärkung ebenso gewiß ist, wie es für wahrscheinlich zu halten, daß auf rücksichtlose äußere Machtentfaltung innere Zerrüttung folgt, daß jene mit dieser erkauft wird. Daher ist eine wahrhaft kluge Politik diejenige, die das sittliche Heil und – davon unablösbar – das in gesunder Verteilung der Güter beruhende materielle Wohl des gesamten Volkes über alle Befriedigung von Machtbegierden, von nationalen und dynastischen Eitelkeiten oder Rachegelüsten erhebt. Und somit gehen wir auf die andere Seite des Gegenstandes ein, die es mit dem Verhältnisse einer Staatsregierung zum Volke, zu den Bürgern des Staates zu thun hat. Ich wiederhole, daß hier das Problem eine ganz andere Gestalt annimmt. Die Verleugnung der Moral, fanden wir, folgt aus der rücksichtslosen Geltendmachung des eigenen Interesses nach außenhin, gegen solche, die es ebenso machen, d.h. gegen aktuelle oder potentielle Feinde. Wenn es nun in recht hohem Grade natürlich ist, daß ein Staat die andern Staaten so, nämlich als Feinde betrachtet, so ist es in

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eben so hohem Grade unnatürlich, wenn eine Staatsregierung das Interesse des Staates gegen das Volk oder auch nur gegen einen einzigen Angehörigen des Volkes in prinzipiell feindseliger Weise geltend macht. Denn die Regierung eines modernen Staates kann auf rationale Weise nicht anders gedacht werden, als im Namen und Auftrage Aller regierend und handelnd; der Staat ist eine Einrichtung, die von Allen getragen und unterhalten wird, die für ihn nach dem Maße ihrer Kräfte beitragen, sei es mit ihrem Leibe, was am schwersten wiegt, oder mit ihrem Vermögen und mit ihrer Arbeit; und Fürsten – wo es solche giebt – wie Volksvertretungen, nebst aller Beamtenschaft, sind Diener des Staates. Der Staat aber gehört der unsichtbaren Einheit des Volkes. Wenn solche Diener diese einzige Quelle ihrer rechtmäßigen Macht nicht anerkennen, wenn sie dem Volke oder einem Teile des Volkes im Namen des Staates den Krieg erklären, so handeln sie nicht wirklich, d.h. auf rechtmäßige Art, im Namen des Staates, sie handeln als Privatpersonen. Ihre Handlungen unterliegen also mindestens ebenso der ethischen Beurteilung, wie Handlungen anderer Privatpersonen. Wir sind davon ausgegangen, daß der Staatsmann sein politisches Handeln dadurch rechtfertige, daß er für das Wohl einer Gesamtheit thue, was er thut, wir fanden, daß bis zu einer gewissen Grenze auch der Privatmann sein Handeln dadurch rechtfertigen könne, daß er für seine höchste Pflicht halte, mit allen verfügbaren Mitteln für sich und seine Familie, oder für sich und sein Geschäft, oder für sich und seine Parteifreunde zu sorgen. Die Versuche, auch böse Handlungen zu rechtfertigen, schließen schon die Anerkennung eines moralischen Gerichtshofes ein, sie geben zu, daß es ein kompetentes Urteil über solche Fragen gebe. Auch die Verneinung der Moral für gewisse Beziehungen leugnet nicht die Moral für alle Beziehungen, sie leugnet nicht, daß es Grund gebe, gewissen Willensrichtungen und Handlungen einen höheren Wert, anderen einen geringeren Wert zuzuschreiben, sie will nur plausibel machen, daß man die Zulässigkeit, ja Pflicht, für sich selber und für die Seinen, für seine Sache, für den Staat u.s.w. zu sorgen, zugegeben, konsequenter Weise auch die Wahl der Mittel für solche Zwecke freigeben müsse, ja, daß die Vernunft allein, als Überlegung der Zweckmäßigkeit, also der überwiegenden Nützlichkeit, maßgebend dafür sein könne. Diese Denkungsart appelliert an die Logik, und dies werden wir bei näherer Betrachtung immer und auch ganz und gar notwendig finden, daß an die Logik appelliert werde, als an die höchste Instanz, wo immer etwas behauptet und bestritten wird, sei es als wahr oder unwahr, als richtig oder unrichtig, als gut oder böse. Hierdurch wird also die Frage sogleich beantwortet, wo denn jener moralische Gerichtshof sich befinde, wer denn der kompetente Richter

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sei. Der moralische Gerichtshof ist das aufgeklärte, das selbständige Gewissen für jeden einzelnen, er wird gebildet durch die Übereinstimmung der Gewissen, durch das öffentliche Gewissen, wo es um soziale Ethik und um bloß gedachte Fälle sich handelt; diese Übereinstimmung aber kann, wie alle Übereinstimmung des Denkens, wo sie nicht natürlich ist, sondern geschaffen werden soll, nur geschaffen werden durch die Autorität des strengen, des logischen, des beweisenden, des wissenschaftlichen Denkens. Es kommt hier nicht in Frage und würde uns viel zu weit führen, wie sich überhaupt Ethik wissenschaftlich begründen lasse, sondern wir fragen nur, wie sich aus der bloßen Form des Denkens, aus dem Grundsatze der Logik, d.i. aus dem Satze vom Widerspruch ethische Folgerungen gewinnen lassen. Und ich behaupte, daß dies allerdings der Fall ist, daß der Begriff des Unrechts in einem gewissen Maße auf den Begriff des Unsinns sich zurückführen läßt, und daß jeder, der überhaupt irgend etwas behauptet, wenn er ad absurdum geführt wird, einräumen muß, daß er – Unrecht habe. Nun ist es ein offenbarer Widerspruch, wenn jemand im Namen einer Person oder Sache, d.h. ihr Interesse und ihren Willen vertreten wollend, feindselig gegen diese Person oder Sache verfährt; und feindselig verfährt er, sobald er sein Interesse, seinen Willen als widerstreitend in Bezug auf jene geltend macht. Beides kann nicht zugleich wahr sein: wer das eine sagt und das andere thut, macht entweder durch sein Wort oder durch seine That der bewußten Unwahrheit, der Lüge sich schuldig. Warum ist denn die Lüge unerlaubt? Ich lasse gern dahingestellt, ob sie schlechthin unerlaubt sei; wo es um ihren Gebrauch als eines Mittels für angeblich erlaubte Zwecke sich handelt, wird sie nur allzuoft zugelassen und verteidigt, aber die Lüge in der Zwecksetzung ist ein Widerspruch, ein Unsinn, und wiegt um so viel, als dies bedeutet, schwerer in der Wage des moralischen Übels. Die Vermischung der Privatinteressen mit den öffentlichen Interessen ist das politische Unrecht im allgemeinsten Sinne, wenn auch ganz verschieden von dem, was politisches Verbrechen genannt wird, und weit hinausreichend über die Amtsverbrechen der Strafgesetzbücher. Mit anderen Worten: das Verhältnis der Regierten zu den Regierungen ist nicht möglich außer als ein Verhältnis des moralischen Vertrauens. Wenn dies Vertrauen nicht tief begründet ist, nicht seine Gewähr hat in Charakter, Denkungsart und Lebensführung der beamteten Personen und in den Grundsätzen der Regierung, so kann die öffentliche Gewalt in jedem ihrer Zweige zum öffentlichen Unheil, ja Verderben anwachsen. Die modernen Verfassungen haben der Bemühung Ausdruck gegeben, Kautelen zu schaffen gegen den Mißbrauch der Gewalt: die Einschränkungen der monarchischen Prärogative, die Trennung der Justiz von der Verwal-

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tung, die Sicherungen der richterlichen Unabhängigkeit, die Immunität der gewählten Abgeordneten, die Verwaltungsgerichtsbarkeit, kurz, die Teilung der Gewalten und ihre Unterordnung unter Rechtsnormen – das sollen die Schutzwehren der bürgerlichen Freiheit sein. Ich finde nicht, daß für diese Schutzwehren eine so feine Technik sich entwickelt hat, wie die Technik anderer Waffen und Geräte ausgebildet wurde. Selbst wenn dies der Fall wäre, und es könnte, wie ich meine, (zum Beispiel) sehr viel mehr geschehen, um den Einfluß privater Interessen auf die Gesetzgebung, ja auch auf die Verwaltung und auf die Rechtsprechung zu verhüten, – selbst wenn ein viel eleganteres System solcher Kautelen ausgearbeitet und in Kraft gesetzt wäre – selbst wenn ihre Wirkung mit der peinlichsten und eifersüchtigsten Sorgfalt beobachtet und verfolgt würde, – sie würden alle versagen, diese Kautelen, wenn nicht die sittliche Energie und Bildung derer, die im Besitze der Macht sind, hinzukommt, die sie vor sich selber schützt und von den ungeheuren Versuchungen und Anfechtungen, die eben der Besitz der Macht mit sich bringt. Die Verfassungen und Rechte thun wohl daran, damit zu rechnen, daß die Menschen schwach sind. Aber das öffentliche Vertrauen muß doch schließlich immer darauf rechnen, daß die Menschen, die es genießen sollen, eines guten und reinen Willens sind. Unsere Sprache nennt die Täuschung des Vertrauens einen Bruch. Die alten Römer betrachteten die ganze Persönlichkeit des Menschen, der Bestechungen zugänglich ist, als „zerbrochen“, und daher stammt das uns geläufige Wort „Korruption“. Die furchtbarste Anklage, die Tacitus gegen die römische Kaiserzeit erhob, faßte er in die Worte: „Corrumpere et corrumpi saeculum vocatur“ – Bestechen und sich bestechen lassen, heißt dem Zeitgeist huldigen – oder, wie wir freier und doch im Worte anklingend übersetzen könnten, „ist fin de siècle Mode.“ Dieselbe Sprache bezeichnet den Mann von lauterem Charakter als „heil“ und „ganz“, als „unversehrt“ und auch dieses Wort ist als „Integrität“ auf uns übergegangen, Ausdruck für ein sinniges Gleichnis, dessen tiefer Sinn denen, die es anwenden, nicht immer gegenwärtig ist.

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Zeitgeist huldigen: Bei Tacitus heißt es in der Germania: „Nemo enim illic vitia ridet, nec corrumpere et corrumpi saeculum vocatur“ („Denn niemand belächelt dort Unmoral, und verführen und sich verführen lassen wird nicht mit einem `die modernen Zeiten´ abgetan.“). Tacitus, Germania 19, 1 (19,3). fin de siècle Mode: Die Bezeichnung trägt eine Konnotation mit dem Begriff der Dekadenz und verweist darauf, dass das Fin de Siècle eine kulturelle Bewegung war, die den kulturellen Verfall zu ihrem Objekt machte.

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Von allen Verderbnissen des Staatslebens ist aber die am tiefsten gehende, eine eigentliche Verrottung des öffentlichen Geistes, die Korruption der Rechtspflege. Wo die Justiz, die zum Ausgleich, zur Wiederherstellung gestörten Gleichgewichts bestimmt ist, Werkzeug derer wird, die gewichtig genug sind, sich ihrer mit rohen Fäusten oder mit langen Fingern zu bemächtigen, da thut sich ein Abgrund von solchen Greueln auf, daß dagegen gehalten alle ehrlichen Kämpfe mit Schwert und Muskete der Menschheit zur Ehre gereichen. „Wenn die Gerechtigkeit herausgenommen wird, was unterscheidet dann große Reiche von großen Räuberhorden?“ sagte der heilige Augustinus. Nun ist es nicht so arg mit der menschlichen Natur bestellt, daß nicht die eigentliche Raub- und Mord-Justiz eine Seltenheit wäre; davon zeugt auch das Entsetzen, das sich der Welt bemächtigt, wo ein solcher Fall vorzuliegen scheint, das Gefühl der Befreiung, mit dem man es wahrnimmt, wenn ein rechtschaffener Mann solchem Frevel sich entgegenwirft. Unendlich viel häufiger, darum als eine Massenerscheinung viel unmittelbarer gefährlich, ist die unbewußte Fälschung der Gerechtigkeit – man könnte sie die Fälschung durch die „faule Vernunft“ heißen. Wir haben kürzlich von einem ehemaligen Reichsgerichtsrat starke Worte vernommen über den „Unfug in der Rechtsprechung“ – gemeint war damit hauptsächlich die mißbräuchliche, dem Sinne des Gesetzes entfremdete Anwendung des strafrechtlichen Begriffes „grober Unfug“. Die Ausdrücke des Verfassers lauten so, als ob er diesen Mißbrauch als absichtliche, dolose Rechtsbeugung darstellen wolle, – dabei charakterisiert er diese Absichten wunderbarerweise als Gedanken der „bewußtesten und ehrlichsten Köpfe deutschen Richterstandes, denen die übrigen bongré malgré nachgiebig folgen.“ „Da das gemeine Strafrecht“, – so legt er diesen Gedanken aus, – „nun einmal nicht darauf zugeschnitten ist, speziell gegen die Sozialdemokraten Waffen herzugeben, so muß man diese Normen fein säuberlich durch juristisches Dehnen und Pressen für den Zweck zurechtrenken. Noch haben wir, die Vertreter heutiger Staatsund Gesellschaftsordnung, die richterliche Gewalt in Händen: machen wir davon rücksichtslos Gebrauch gegen die Todfeinde unseres Staates

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heilige Augustinus: Bei Augustinus heißt es: „Wird also die Gerechtigkeit verbannt, was anders sind dann die Staaten, als große Räuberhorden?“ In: Johann Peter Silbert (Hg.), Des heiligen Augustinus zwey und zwanzig Bücher von der Stadt Gottes, Band 1, Wien 1826, S. 215f. faule Vernunft: Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft, 4. Auflage, 7. Abschnitt: Critic aller speculativen Theologie, Riga 1794, S. 717.

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und unserer Gesellschaft, ehe die soziale Revolution uns ans Messer liefert!“ – Es ist der Gedankengang, den eine in Hamburg erscheinende Zeitung noch nackter zum besten gegeben hat, eine Zeitung, die darum nicht gleichgültig ist, weil sie sich rühmen darf, die Meinungen eines über den Erdkreis gepriesenen Staatsmannes vertreten zu haben. Sie hat mehrmals empfohlen, ausgesprochene Sozialdemokraten nicht allein politisch rechtlos zu machen, sondern auch das Strafrecht ohne Rücksicht auf sogenannte Gerechtigkeit zu deren Schaden anzuwenden.3 – Ich denke viel zu hoch von den bewußten und ehrlichen Köpfen deutschen Richterstandes, um sie so ungeheurer Frevel für fähig zu halten. Aber die Neigung, einem Menschen rechtswidrige Gesinnungen zuzuschreiben, weil er einer geächteten Partei angehört, die Sucht, dessen sittlich oder auch blos politisch mißfallende Handlungen unter eine Bestimmung des Strafrechtes zu bringen, die nach dem unklaren Wahne solcher Richter ein taugliches Mittel ist, ihrem und ihrer Freunde Mißfallen zweckmäßigen Ausdruck zu verleihen; die Schwäche und Nachgiebigkeit gegenüber dem Beamten, der unmittelbar und ausgesprochenermaßen als Prozeßpartei die Staatsgewalt darstellt, – diese halb moralischen, halb intellektuellen Mängel sind über und über aus der eigenen Mitte des Richterstandes dargethan und kritisiert worden. Für intellektuelle Mängel pflegen wir niemanden verantwortlich zu machen; was kann ein Mensch dafür, wenn er von schwachem Verstand, von beschränktem Geiste ist? Im Grunde ist es freilich nicht wesentlich anders mit den moralischen Mängeln. Was kann ein Mensch dafür, wenn er von Natur engherzig, ängstlich, kleinmütig ist? oder, wenn er durch eine oberflächliche Bildungs-Dressur den höheren Ideen der Menschheit für immer entfremdet wurde? – Es giebt viel beschränkte, aber gutherzige, ja, hoch3

Dies war geschrieben von manchen neueren Erfahrungen, die, wie wir hoffen müssen, nicht zu bald ihren Eindruck werden verwischen lassen. Zu den Zeitungen, die eine ungerechte Justiz gegen politisch Mißliebige ausdrücklich befürworten, hat sich neuerdings auch die „Kreuz-Zeitung“ gesellt, deren moralische Anschauungen, wenn man sie so nennen will, viele Jahre lang durch ein seitdem kriminell bestraftes Subjekt nicht ohne Talent ausgeprägt wurden. Es gibt auch ideelle Falschmünzerei und geistige Urkundenfälschung.

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ans Messer liefert!: Zitat von Reichsgerichtsrat Otto Mittelstaed, in: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalstatistik, Prof. Dr. Hans Gross (Hg.), 31. Bd., Leipzig 1908, S. 7f. zu deren Schaden anzuwenden: Gemeint ist die Kreuzzeitung (erschien 1848 bis 1939). Das „kriminell behaftete Subjekt (siehe Fußnote)“ müßte Wilhelm Joachim von Hammerstein sein, der von 1881 bis 1895 Chefredakteur war. Am 4. Juli 1895 suspendierte das Komitee der Kreuzzeitung ihren Chefredakteur Hammerstein wegen Unredlichkeit (Hammerstein-Affäre).

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herzige, viele gescheite, aber nichtswürdige Menschen. Von dem Menschen aber, dem öffentliches Vertrauen geschenkt werden soll, vom politischen Menschen muß allerdings die Fähigkeit eigenen Denkens und muß der Besitz eines gehörigen Wissens verlangt werden und wird ja auch thatsächlich vom Richter wie von jedem Beamten verlangt. Man darf nur zweifeln, ob – ich sage nicht immer, sondern auch nur durchweg – die Richter das für eine so bedeutende, folgenreiche Thätigkeit, wie das Richten ist, genügende Wissen besitzen, ob ihre Bildung für diesen schweren Beruf hinlänglich vertieft ist – und ich möchte glauben, daß ein Zwiefaches zu den erworbenen Kenntnissen der Gesetze und des Prozesses hinzukommen müßte, selbst wenn diese Kenntnisse immer gründlich und innerlich wären: das Studium des Volkslebens, nämlich der sozialen Zustände, der wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeiterbewegung, der Klassen-Interessen und nicht minder das Studium der Philosophie, also auch der Ethik und der politischen Moral. Bei dem ersten denke ich an die unmittelbare praktische Verwendung – diese ist höchst mannigfach; der Beweis läßt sich aus dem Gegenteile führen, denn nichts tritt bei den vielen, Erstaunen und sittliche Mißbilligung erregenden Erkenntnissen von Gerichten auffallender hervor, als der Mangel einer Beurteilung von innen heraus, aus Vertrautheit mit der in den einzelnen Volksschichten herrschenden Art zu denken, zu reden und zu handeln, mit den Nöten und Sorgen, Wünschen und Hoffnungen der ärmeren Klassen insbesondere, denn man wird diese Vertrautheit allerdings viel weniger vermissen, wenn es sich um Angeklagte handelt, die den „besseren“ Klassen angehören, auch wenn deren „bessere“ Eigenschaften nur in Prunk, in Modethorheiten und Lastern sich dokumentiert haben sollten. Z.B. wird bei diesen immer so etwas wie ein feines Ehrgefühl vorausgesetzt, und angeblich darin wurzelnde Sitten und Unsitten werden mit zartester Schonung behandelt; bei jenen wird nicht selten das Gegenteil von Ehrgefühl geradeswegs angenommen und, was mit edlen Motiven wenigstens zusammenhängt, schlechthin auf Roheit des Gemütes und auf Neigungen zu gewaltsamer Handlungsweise geschoben. – Das Studium der Philosophie in dem Sinne, den ich aufs neue hier betone, ist die allerpersönlichste Angelegenheit; sie muß den Ernst und die unerschütterliche Redlichkeit entwickeln und befestigen, wo diese, – was freilich die Hauptsache bleibt, – im Charakter angelegt, durch Erziehung gepflegt wurden, damit sie sich bewähren und erneuern, im Kampfe gegen die Elemente, die jeden von uns hinabziehen wollen in den Staub der Gemeinheit. Sie muß die Güter und die Übel, die das Leben darbietet, richtig schätzen lehren; ja auch erkennen, daß das „Leben“ der Güter höchstes nicht ist, am wenigsten das Wohlleben und Fröhlichsein, wenn es mit der Preisgebung eines höheren Bewußtseins und reiner Gesinnung erkauft wird.

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Ich wiederhole, daß ich noch nicht glaube, eine wirkliche Korruption des Richterstandes ober auch nur der Laiengerichte, folglich eine ausgesprochene Klassenjustiz sei – bei uns im deutschen Reiche – in erheblicher Ausdehnung vorhanden, aber ich glaube, daß eine scharfe Aufmerksamkeit notwendig ist, um die überall sichtbar werdenden Keime solcher schmählichen Korruption zu ersticken; und hier komme ich darauf zurück, was ich vorhin über die sittliche Gesinnung, die aus dem Egoismus selber hervorgeht, gesagt habe – man darf vielleicht ein kühnes Gleichnis aus der modernen Therapeutik darauf anwenden: der Bacillus muß durch seine eigene Ausscheidung getötet werden. Ich wünsche mir entschlossene, tapfere, rücksichtslose Streber, aber Streber nach Licht und Freiheit, nach dem Schönen und Guten, rücksichtslos gegen Gunst und Gewinn, gegen die Meinungen des Tages; solche wünsche ich als die Richter im Volke, um das Strebertum, das in die Rechtsprechung sich einschleichen möchten, tötlich zu ersticken. Aber ich weiß, daß meine Wünsche geringe Kraft haben; mögen sie wenigstens denen, die ebenso denken, ein Zeichen des Verständnisses geben, und denen, die so zu denken nicht wagen, eine Ermutigung gewähren, stark zu werden und tapfer im heiligen „Kampfe ums Recht“, im geharnischten Streite wider das Unrecht und gegen die Übelthäter, die Unrecht für Recht auszugeben sich erdreisten.

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Die Politik, als Verfolgung äußerer Zwecke, bedingt immer Abhängigkeiten von Menschen, Subordinationen. Was die auswärtige Politik betrifft, so erinnert man sich des Wortes von dem „Einschwenken meiner Botschafter, wie die Unteroffiziere“. Daran kann man ermessen, was gar die Politik in der Justiz bedeutet. Mit Schaudern hörten wir jüngst von einer „Freisprechung auf Befehl“ – kein Wunder, daß es ein Militärgericht war, dem diese nachgesagt wurde. Das Heerwesen, der „Kriegsstaat“, wie man ehemals sagte, ist dasjenige Gebiet der inneren Verwaltung, auf dem die Subordination am schärfsten ausgebildet, am meisten notwendig ist. Die gesamte innere Verwaltung, die Polizei im weiteren Sinne, ist anerkanntermaßen von dem Gedanken der Zweckmäßigkeit beherrscht. Man darf daher keineswegs von 25

wie die Unteroffiziere: Zitat von Bismarck, in: Moritz Busch, Tagebuchblätter: Bd. Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870–1871 bis zur Rückkehr nach Berlin. Wilhelmstrasse 76. Denkwürdigkeiten aus den Jahren 1871 bis 1880. Darzin, Schönhausen, Friedrichsruh 1899, S. 207.

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Korruption sprechen, wenn die Beamten der Verwaltung ihre eigenen Gesinnungen und Meinungen unterdrücken, wenn sie verfolgen, wen sie verfolgen sollen, begünstigen, wen sie begünstigen sollen. Die Korruption ist hier von feinerer Art. Sie liegt zunächst in dem freiwilligen Eifer, ein übriges zu thun, in der häßlichen Beflissenheit, die Augen des Vorgesetzten auf sich zu ziehen, in der liebedienerischen Hervorkehrung eigener Gesinnungstüchtigkeit, Königstreue, Vaterlandsliebe, die so oft an die Vaterlandsliebe der ältesten Töchter König Lears erinnert, im Denunzieren, Verraten, Zurückdrängen Andersdenkender, – kurz, in der gleißnerischen, chamäleonischen Gesinnungslosigkeit, die so leicht eine natürliche Folge der Unmöglichkeit ist, eine eigene Gesinnung öffentlich zu haben. Von dieser Art ist auch die Übertragung von Gesichtspunkten, Normen und Anforderungen, die für die Anstellung von Gendarmen richtig sein mögen, in andere Gebiete, z.B. in das höhere Unterrichtswesen, das seiner Natur nach Freiheit und eine große Feinheit des Verständnisses für Menschen und Dinge erheischt, also nur durch sehr überlegene Weisheit geleitet werden kann. Empörend wäre die Vorstellung, intellektuell und moralisch kurzsichtige Bureaukraten als „Vorgesetzte“ über heilige menschliche Angelegenheiten walten zu sehen; am empörendsten, wenn sie in den Dienst bellender Emporkömmlinge treten sollten, deren geistiges Leben etwa im Lesen unflätiger Romane und im Geheimkultus von Kunstreiterinnen bestehen möchte. – Die ganze Polizei, offene und geheime, müßte eine sittlich sehr hochstehende Einrichtung sein, wenn man ihre fortwährende Machterweiterung und Ausdehnung auf immer neue Gebiete anders als mit schweren Bedenken ansehen sollte. Schlimm genug ist es oft, wenn sie in ihrem eigenen Gebiete, und auch da nicht immer mit Fug und Recht, gegen Staatsbürger selber als gegen Feinde des Staates und der sozialen Ordnung sich aufwirft und zu Felde zieht. Die Kriminalpolizei ist genötigt, in fortwährendem Kampfe mit dem Verbrechertum zu liegen. Sie bedient sich dazu, wie eine kriegführende Macht – und dies beschränkt sich bekanntlich nicht auf Kriegszeiten – eines ausgedehnten Spionage-Systems. Sie wendet damit und sonst, eingestandenermaßen, schlechte Mittel an, sie erwählt schlechte Subjekte zu ihren Werkzeugen, und gestattet, ja begünstigt diesen die Methoden der Niederträchtigkeit. Wie sollen wir darüber urteilen? Wenn diese Mittel wirksam sind, wenn ohne sie die Repression des Verbrechens erschwert, also Leben und Eigentum mehr gefährdet wird, so ist es schwer, sie zu verwünschen. Und doch bleibt es ein ungeheures Ärgernis, wenn von Staatswegen der Moral ins Gesicht geschlagen wird. Man darf aber auch sagen, daß mit solchen Mitteln und durch sie, die Polizei durchaus nicht positiver Ergebnisse im Kampfe gegen das Verbrechertum sich rühmen kann, wenn sie auch die ihr zugewiesene Aufgabe erfüllt. Aller derer, die sich mit dem furchtbaren Problem des

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habituellen Verbrechertums beschäftigen, bemächtigt sich mehr und mehr die Überzeugung, daß dieser Kampf mit ganz anderen, tiefer auf den Grund gehenden Methoden geführt werden muß. Schon will man das Strafrecht seinem eigentlichen Wesen entfremden und es zu einem nackten Kampfmittel gegen die gefährlichen Klassen der Gesellschaft machen – eine Idee, die das Strafrecht selber zu einer öffentlichen Gefahr zu machen droht; denn es wird aufhören, Recht zu sein, und beginnen, Maßregel zu werden, wozu ohnehin die Tendenzen der Zeit allzusehr neigen. Es ist allerdings eine der Kreuz- und Lebensfragen für die moderne Gesellschaft und den Staat, ob sie der gefährlichen Klassen, des Lumpenproletariates und Gaunertums, sich werden erwehren können, oder ob sie deren fortwährende Vermehrung und ihren verpestenden Einfluß, der in allen Schichten des Volkes sich wahrnehmen läßt, ohnmächtig anschauen müssen. Bessere Erziehung im allgemeinen, ethische Erziehung im besonderen, von der Schule wie dem Hause aus, Überwachung der häuslichen Erziehung; planmäßige Pflegeerziehung – wofür man das abscheuliche Wort „Zwangserziehung“ neuerdings zu tilgen begonnen hat – verwahrloster Kinder, Trennung der Kinder von Eltern, schon in Fällen, wo jene in anerkannter Gefahr stehen, verwahrlost zu werden, ganz besonders aber die bessere Sorge für das Gedeihen verwaister und sonst bevormundeter Kinder durch Erweiterung obervormundschaftlicher Staatsthätigkeit – neben jenen bedenklichen und schwierigen Reformen des Strafrechts sind diese tief ins Familienleben, in Elternrechte und Volksgewohnheiten hineingreifenden Neuerungen die mit nicht leicht abweisbaren Argumenten sich aufdrängenden Ideen, durch deren Verwirklichung man glaubt, dem erkennbaren sittlichen Verfall und damit der Kriminalität und der Prostitution, diesen grauen- und ekelhaften Geschwüren des sozialen Lebens, entgegenwirken zu können. – Die Vertreter dieser und ähnlicher, an sich verdienstvoller Ideen pflegen sich illusorischen Erwartungen hinzugeben. Abgesehen davon, daß solche chirurgische oder prophylaktische Operationen zumeist nur bei einer sehr niedrigen Schicht der Gesellschaft, einer Schicht, deren kriminelle Tendenzen am meisten mit materieller Not zusammenhängen, sich als anwendbar erweisen – so liegt die Hauptschwierigkeit darin, die Verbesserung zeitig genug anzufangen, zumal da doch in nicht wenigen Fällen, und freilich in höheren Schichten nicht minder häufig, als in niederen, unausrottbare Perversitäten der natürlichen Anlagen vorliegen, der größte Fehler solcher Individuen also der ist, daß sie geboren wurden. Und dazu kommt nun die große Gefahr, daß die Ausübung solcher Staatspädagogik mit polizeilichen Interessen verquickt und durch polizei37

daß sie geboren wurden: Das Originalzitat lautet: „Das Allerbeste nämlich ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein.“ Aristoteles, Eudemos, Fr 44 Rose, Cicero, Gespräche in Tusculum, 1. Buch, S. 114f.

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liche Gesichtspunkte geleitet, d.h. zum guten Teile verdorben werde. Die Polizei als ethische Autorität und Macht – das ist eine Vorstellung, so geläufig und anmutig sie manchen sogenannten Staatsmännern ist, für den Politiker und Pädagogen, der die wirkliche sittliche Hebung der Volksmassen ins Auge faßt, ist sie halb furchtbare, halb lächerliche Idee. Die Polizei thut ihre Pflicht – und die brennende Bedeutung des Verhältnisses von Politik und Moral wird oft grell beleuchtet durch die Art, wie sie ihr Pflicht thut; ich denke hier insbesondere an die „Sittenpolizei“, eine höchst merkwürdige Einrichtung, dazu bestimmt, strafbare Handlungen, deren Aufspürung und Anzeige sonst Aufgabe der Kriminalpolizei ist, unter gewissen entwürdigenden Bedingungen straffrei zu machen, ja vielleicht in offenem Widerspruch zum Gesetze zu dulden und zu beschützen; eine polizeiliche Thätigkeit, die, wohl den „Sitten“, wie sie nun einmal sind, aber ganz sicherlich nicht der Sittlichkeit förderlich ist.

IV. Wenn das Wesen der Polizei in Ausübung der staatlichen Zwangsgewalt nach innen liegt, und wenn Politik die freie Anwendung staatlicher Machtmittel ist, so stellt die politische Polizei gleichsam die Multiplikation der beiden dar. Hier verfährt der Staat gegen diejenigen, die er für die inneren Feinde hält, auch wenn von Bedrohungen durch Verbrechen keine Spuren vorhanden sind. Die jedes sittliche Gefühl empörenden Methoden, durch die in diesem Gebiete Personen von höchst fragwürdigem moralischem Charakter eine öffentliche Gefahr von Staatswegen werden können, sind aus neueren Gerichtsverhandlungen in Aller Gedächtnis. Man wird durch sie an den Ausbruch des römischen Historikers Titus Livius erinnert, der über seine Zeit sagte: „Schon ist es dahin gekommen, daß wir die Übel unseres sozialen Lebens nicht mehr ertragen können, ebensowenig aber die Heilmittel dieser Übel“. Die Verfehmung und Ächtung einer politischen Partei, der wohl oder übel hunderttausende von Staatsbürgern mit Überzeugung, ja mit Begeisterung anhängen, ist eine innerlich unmögliche Sache, sie erzeugt einen chronischen schleichenden Bürgerkrieg – und die Staaten Europas haben genug zu tragen an dem chronischen schleichenden auswärtigen Kriegszustande. Sie ist in der That eine Politik, die genau in dem Maße unzweckmäßig ist, als

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Heilmittel dieser Übel: Titus Livius (Beiname Patavinus), Titi Livi Ab urbe condita libri. Erklärt von Wilhelm Weissenborn, 4. verbesserte Auflage, erster Bd., Buch I und II, Berlin 1866, S. 59f.

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sie moralisch nicht gerechtfertigt werden kann. „Aber jene Partei hat zuerst den Krieg erklärt, sie hat es auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung abgesehen“, so wenden diejenigen ein, die solchen inneren Kriegszustand noch dreifach verschärfen möchten. Ich lasse dahingestellt sein, ob es sich so verhält. Wenn es richtig wäre, so sollte man des alten Spruches eingedenk sein, daß der Teufel sich nicht durch Beelzebub austreiben läßt. Er weicht dem Zeichen des Kreuzes – d.h. er weicht dem guten und reinen Willen, der in richtiger Einsicht beruht. Die vulgäre Staatsklugheit glaubt daran nicht und verspottet diese Idee. Aber über der Staatsklugheit steht eine Staatsweisheit, der die Erfahrungen ganzer Epochen Gewähr leisten. Diese Staatsweisheit will aus der Geschichte noch etwas mehr lernen, als daß die Staatsklugen nie etwas aus ihr gelernt haben. Sie erkennt, deutlich und gewiß, daß die Verfolgung Andersdenkender, planmäßig und in großem Stile betrieben, zuletzt immer von zwei Ergebnissen eins gehabt hat: entweder den moralischen und sehr oft auch den politischen Triumph der Verfolgten, oder den moralischen und nicht selten auch den politischen Verfall der Verfolger, zuweilen auch beides zugleich. „Denn wie der Versuch, Liebe zu erzwingen, Haß erzeugt; so der, Glauben zu erzwingen, erst rechten Unglauben“ (Schopenhauer). Ich setze noch den Ausspruch eines Philosophen hinzu, den Lecky, mit freilich allgemein verbreitetem Irrtum, für den unerbittlichsten Verteidiger der Verfolgung ausgegeben hat: „Ein Staat kann Gehorsam erzwingen aber keinen Irrtum überzeugen und nicht die Gesinnungen derer verändern, die da glauben, sie haben die bessern Vernunftgründe. Unterdrückung von Lehren hat nur die Wirkung zu einigen und zu erbittern, d.h. sowohl die Bosheit als die Macht derer, die den Glauben daran einmal gewonnen haben, zu vermehren“ (Thomas Hobbes).4

V. Und damit berühre ich noch das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt des Staates, auf die sich alle Bestrebungen der Parteien wesentlich beziehen 30

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Schopenhauer, Parerga und Paralipomena Bd. 2. Ww. [„Die Welt als Wille und Vorstellung“] VI. S. 420. Hobbes Behemoth mea ed. S. 62. Vgl. meine Schrift „Hobbes’ Leben und Lehre“ S. 207f.

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rechten Unglauben: Schopenhauer-Lexikon. Ein philosophisches Wörterbuch, nach Arthur Schopenhauers sämtlichen Schriften und handschriftlichem Nachlaß bearbeitet von Julius Frauenstädt, erster Bd., Leipzig 1871, S. 294.

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und worin sie als Vereine von Staatsbürgern ihre natürlichen, in neueren Zeiten durch schriftliche Verfassungen garantierten Rechte geltend machen. Wie weit das politische Denken im allgemeinen von Staatsweisheit entfernt ist, das zeigen uns freilich die Bestrebungen der Parteien, ebenso wie die der Regierungen, oft in erschreckender Weise. Aber freilich, wie unermeßlichen Problemen, Wirrungen, Widersprüchen in der gegenwärtigen Civilisation findet sich die innere Politik gegenübergestellt! Wie unvermeidlich ist hier der Kampf der Interessen, der Wünsche, der Meinungen, der Weltanschauungen – alle die Gefechte, die im Klassenkampf ihren natürlichen gesellschaftlichen Hintergrund haben! – Und auch diese Gefechte, dieser Kampf bedeuten, wenn nicht die Vernichtung, so doch eine schwere Gefährdung der Moral. Im Unterschiede von den Kämpfen der Völker werden die der Parteien, so lange sie nicht in einen Bürgerkrieg ausarten, vorzugsweise in Worten geführt; im gegenwärtigen Zeitalter mehr als je durch das gedruckte Wort, durch die Presse, die jede Partei in ihrem Sinne lenkt und handhabt. Zu den mächtigsten Waffen aber, die sie in Rede und Schrift gegeneinander anwenden, gehört der moralische Vorwurf. Dabei ist es natürlich, daß jede Partei der anderen teils solche Verfehlungen zur Last legt, von denen vorausgesetzt wird, daß sie allgemeiner, gleichmäßiger Mißbilligung begegnen: zu diesen gehört vor allen die Lüge, die leichtfertige Entstellung von Thatsachen, und im notwendigen Zusammenhange damit, der Versuch, durch solche unredlichen Mittel die Zahl ihrer Anhänger zu vermehren. Zum anderen Teile aber sind die sittlichen Vorwürfe solche, von denen man wohl weiß, daß sie nur im eigenen Kreise als solche verstanden oder doch unverhältnismäßig viel lebhafter empfunden werden, als in dem der Gegner. Dazu kommt denn die verschiedene Geltung der Worte und die Kunst, durch die bloße Bezeichnung That und Art des Gegners anzuschwärzen, die eigene weiß zu waschen, wenn auch beide ganz von gleicher Art sind. Und dies geschieht gar vielfach in gutem Glauben, und mit ungekünsteltem Eifer. Es geht aber daraus hervor, daß zwischen den Parteien doch weniger als zwischen Staaten, in bewußter Weise und grundsätzlich die Moral verleugnet wird; ja wenn sogar im blutigen Kriege Regeln und Gebote der Humanität (aus welchen Motiven auch es geschehen möge) beobachtet werden, so wird noch mehr im bürgerlichen Zustande die Maxime, jedes Mittel, das zweckmäßig scheint, anzuwenden, sich gegen sich selber kehren und wenigstens, so oft eine Entlarvung der dabei unvermeidlichen Schauspielerei stattfindet, den Heuchler zum Gegenstande allgemeiner Verachtung machen – denn darüber pflegt Übereinstimmung der Gefühle und der Denkungsart sich zu erhalten. Man

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setzt sich gern dahin, wo die Spötter, aber sehr ungern, wo die Heuchler und Scheinheiligen sitzen, die als solche bekannt geworden sind. – Wenn irgend ein Merkmal die politischen Parteien bezeichnet, in höherem Grade freilich noch die Religionsparteien, wenn sie aneinander geraten, so ist es die Leidenschaftlichkeit ihres Kampfsinnes, die Heftigkeit ihrer Reden, die Lautheit, mit der eine jegliche allein im Rechte zu sein behauptet. Die Parteien sind in Hitze, Zorn und Entrüstung oder Begeisterung und Schwärmerei erfüllen die Herzen der Parteiischen und das ist ihr günstigster Aspekt, sofern diese Gefühle echt und lebhaft sind, sofern sie glauben, was sie reden. Wenn nun aber einer – sei es auch nur eine Zeitlang – kalt dabei bliebe, und sich genügen ließe, dem Kampfe und allen den durcheinandergehenden Aktionen zuzuschauen, so müßte er schon ein wenig sich erheben, um ein deutliches Bild von so mannigfachen Vorgängen zu gewinnen, um die Beschaffenheit und Stärke der Kämpfer zu erkennen, um ihre Pläne zu erraten, ihre Fortschritte und Rückschritte zu beobachten, Siege oder Niederlagen zu vermuten oder mit richtigem Urteile vorauszusehen. – Einem solchen Zuschauer möchte nun aber folgendes widerfahren: Die verschiedenen Parteien würden plötzlich – was doch nicht ihre Art ist – einmütig sein, indem sie gegen jenen Zuschauer sich wenden. Eine jede würde sagen: „Wie, du willst unparteiisch sein, willst nicht mitthun, nicht dem Gerechten und Guten (welches doch – sagen die Entschiedeneren – ganz sichtlich auf unserer Seite sich befindet; die Bescheidenen sagen: auf welcher Seite denn auch du es finden mögest) zum Siege verhelfen? Das ist doch deine Pflicht, ist die Pflicht eines ordentlichen Mannes, der die Einsicht hat, und des Mutes nicht ermangelt!“ Und wenn der Zuschauer ungerührt bliebe, so würden sie böse werden und mit Fingern auf ihn zeigen, als auf einen Menschen, der kein Herz in der Brust habe, kein Gefühl für Recht und Unrecht, der keinen Mut habe, für seine Überzeugung einzutreten; mit einem Worte: der nichts tauge. Sie würden ihres Haders – wenn nicht alle, so doch die meisten – einen Augenblick vergessen und mit den Zeichen des tiefsten Einverständnisses einander bedeuten, daß doch Parteien notwendig und gut seien, daß ja eben dies alle Parteien gemein hätten, nach bestem Wissen und Gewissen das Heil des Ganzen zu erstreben, daß sie nur über die Mittel uneinig seien u.s.w. u.s.w. Der Zuschauer wird hierauf vielleicht erwidern: Mit Unrecht glaubt ihr, daß ich ohne Teilnahme euer Treiben beobachte. Leidenschaften sind Leiden, aber auch Kräfte; und Mit-Leid ist ja auch der Affekt, dessen der Zuschauer eines Bühnendramas sich nicht erwehren kann. So wie aber

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dieser, wenn auch tiefbewegt, doch nicht aufspringt, um dem Bedrängten zu helfen, um den ungerechten Verfolger zu bedrohen, so unterdrücke auch ich meine Wünsche, in den Verlauf der Dinge hineinzugreifen. Jener thut es, weil er weiß, daß es ein Spiel ist, dem er anwohnt, und daß nur die dargestellten, nicht die darstellenden Personen in Wahrheit handeln und leiden. Ich aber, weil ich 1.) die Ruhe einbüßen würde, welche zur richtigen Betrachtung notwendig ist, und weil ich die richtige Betrachtung wenigstens auch für gut erachte zum allgemeinen Wohle; 2.) weil ich, nach meinem besten Wissen und Gewissen, bald hier, bald dort helfend oder hemmend eingreifen müßte, da ich längst gefunden habe, daß in jeder großen und bunten Gruppe sehr verschiedene Elemente vorhanden sind, daß bald hier, bald dort mehr oder weniger mit Wahrhaftigkeit oder mit Lüge gestritten wird, und daß auch überall die größten Irrtümer über Wirkliches, Mögliches, Zukünftiges vorkommen, und daß die Versuche, solche Irrtümer aus den Herzen auszurotten, fast lauter eitle Mühe wären. Durch so sich ergebende Zerteilung meiner Kräfte würde ich aber auch, wenn ich es wollte, wenig oder nichts an dem wirklichen Gange der Dinge zu ändern vermögen, den ich daher auch im Kleinen und Einzelnen so lasse, wie ich klar und deutlich erkenne, daß er im großen und ganzen sein muß. – Denn wenn ich von meiner möglichen geringen Mitwirkung absehe, so handelt es sich um Ereignisse, die so sehr durch allgemeine Ursachen bestimmt sind, wie der Gang der Gestirne, wie der Zug der Wolken und wie die Niederschläge des Himmels. – „Wie, wenn aber alle so denken wollten? wenn jeder meinte, an seiner Mitwirkung sei wenig gelegen, und er dürfe wohl die Hände in den Schoß legen? Würde nicht alles in Stillstand kommen, und sich deutlich genug zeigen, daß die menschlichen Dinge keine Naturereignisse sind, sondern durch menschlichen Willen bedingt werden?“ Über solche Besorgnis darf man lächeln. Nicht jedes Thun und Unterlassen ist dazu geeignet, ein Vorbild für jeden Beliebigen zu werden, aber gerade der Vernünftigste und Beste pflegt am wenigsten Aussicht zu haben, anerkannt und nachgeahmt zu werden. Und doch würde die Maxime eine richtige sein und geeignet, zum allgemeinen Gesetze erhoben zu werden, daß man seine besondere Aufgabe ins Auge fassen lerne und der Grenzen seiner Kraft sich bewußt werde, um nicht das zu wollen, was einem nicht ansteht, und nicht das zu verwirren, was andere auf ihre Weise thun. Schwerer ist dies heute als je, weil überall, und gerade infolge der übermäßig weit gezogenen Besonderungen und Vereinzelungen Alle alles versuchen können und Alle alles verbessern möchten, was auf unzähligen Stellen an Mängeln und Miß33

allgemeinen Gesetze erhoben: Bezug auf Kants „kategorischen Imperativ“.

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lichkeiten allzuoffen an den Tag treten mag. – Daher können 3.) auch alle aus der Thätigkeit des Zuschauers Nutzen ziehen, wenn sie auf ihn Acht haben wollen und wenn er nur insofern mitwirkt, als er sein Urteil nicht verschweigt und dabei der Gerechtigkeit sich befleißigt. Der Zuschauer sei Richter! Richter zu sein, ist seine natürliche Aufgabe. Nun gehören aber die politischen Parteien keineswegs zu den Streitenden, welche ein Ende und die Entscheidung ihres Streites suchen, und den Richter anrufen – und wenn es von einer Seite geschehe, so hätte doch keine andere nötig, sich dem Spruche zu unterwerfen. Auch glauben sie nicht eines „unparteiischen“ Kampfrichters zu bedürfen, wie Duellanten, die darüber wachen lassen, daß jeder Gegner nach den anerkannten Regeln verfahre, – sie sind sich selbst genug, sie haben ihre Lust am Kampfe, jede will siegen, so oft als möglich, und dem Gegner schaden; ihn zu vernichten, ist nicht die vorherrschende Absicht, schon weil es nicht im Bereiche einer nahen Möglichkeit liegt, sondern ihm Terrain abgewinnen, gilt schon für schwierig genug. Der Kampf ist roh und ungeordnet, um so mehr ist die Lust am Kampfe um des Kampfes willen lebendig, wenn auch zarteren Naturen widerwärtig. Auch die Parteipolitik erfordert eine rauhe Haut und einen wilden, ja finsteren Mut, erfordert Lust an Scheltworten und Hohngelächter und nicht selten ein unbedenkliches Gewissen. Daß dieser Kampf sich veredeln werde bei längerer Dauer, durch Erfahrung der Übel, die seiner Unordnung anhaften, ist nicht durchaus unwahrscheinlich, da es einem allgemeinen Gange der Entwicklung entsprechen würde. Mit seinem gegenwärtigen Charakter haben wir aber zu rechnen, und wir sehen deutlich, daß diese erbitterten Gegner keinen Richter über sich anerkennen, geschweige denn erwählen werden. Was will also der Richter? Vielleicht will er eben darauf hinwirken, daß der Kampf sich verbessere, vielleicht glaubt er diese Tendenz, wenn auch keineswegs hervorrufen, so doch ein wenig fördern und beschleunigen zu können, wo etwa ihre Anfänge vorhanden sind, und würde damit eine gute und heilsame Arbeit zu leisten sich schmeicheln. Vielleicht meint er, wenn auch nicht gewünscht, so doch hier und da gehört zu werden, und einen leisen, aber des Wachstums fähigen Einfluß auf den Gang der Dinge zu gewinnen, woran er seine Genugthuung und Freude um so mehr haben würde, als er ihn nicht eigentlich gewollt hat, sondern nur beflissen gewesen ist, seines Amtes zu walten, als eines notwendigen und guten, ohne der nahen und sichtbaren Folgen zu gedenken. Er wird nur bitten, an seinen entschiedenen Willen, richtig zu urteilen, und freilich auch an seinen Verstand dafür, an sein Urteilen-können zu glauben, und wird wohl wissen, daß dieser Glaube schwer zu erringen ist, daß er es nicht mit Gläubigen, sondern mit Prüfenden zu thun hat, und

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daß er seine Kunst zu beweisen notwendig finden wird, wenn auch ein einmal vorhandenes Ansehen gleichsam von selber wächst und ein Gran von vorherbegründetem Glauben doch mächtiger ist, als eine Unze von mühsam erworbenem Geltenlassen oder gar von erzwungener Anerkennung. Er wird wissen, daß er durch sein Auftreten Achtung gebieten muß, und daß er nicht allein auftreten darf, sondern mit sichtbarem Gefolge auftreten muß, oder mit einer Schar treuer Freunde und Schwurbrüder, die er als seinesgleichen erkennt und von gleicher Idee, von gleicher Bestrebung erfüllt weiß. Nun giebt es in Wirklichkeit einen natürlichen Wart-Turm über den Parteien, welcher fest gegründet ist und zu dem alle, die nicht völlig blind und wie Trunkene einhertaumeln, mit einiger Ehrfurcht emporblicken, und oft unvermögend sind, die Drobenstehenden zu erkennen, während ihre Aufmerksamkeit abgelenkt wird durch die lauten Zurufe und Geberden derer, die auf halber Höhe oder noch tiefer in den Luken sich zeigen, und nur von ungefähr dahin gekommen sind, nur dem Raume noch höher, nicht aber ihrer Art und Gesinnung und Erkenntnis nach, da sie früher reden als denken und nach dem Herzen und Willen der Parteiischen reden, denen sie daher willkommen sind, indem sie sich gegenseitig zu betrügen suchen (wie auch sonst ihre Gewohnheit ist) mit dem Scheine, als redete Einer für sie von einem höheren Standpunkte her und als ob ihre Wahnmeinungen nun durch einen Stempel der Wahrheit beglaubigt wären. Anders aber verhält es sich: nur auf der wirklichen Höhe, wo man nach allen Seiten rings um sich schaut, wo die Windsbraut dich empfängt, wo du die Gestalten der Menschen unscheinbar und einander sehr ähnlich unter dir erblickst, ja wo du dein Auge durch künstliches Fernglas verstärken mußt, um ihre Verhältnisse und Bewegungen zu gewahren, – nur da hast du einen stillen und sicheren Sitz über den Parteien, lernest ihr Wesentliches und Richtiges unterscheiden, siehst woher sie kommen, wohin sie gehen, und erkennst, wie auch das Leben, Trachten und Denken der Menschen nach großen, ehernen, ewigen Gesetzen bestimmt ist. Die hohe Warte, derer ich gedenke, ist unser heiliges Palladium, die Wissenschaft, Wissenschaft in ihrer Anwendung auf die menschlichen Dinge, ihrer Anwendung auf die Politik.

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heiliges Palladium: Wahrscheinlich entlehnt von Fichtes „Heiliges Palladium der Menschheit“: Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, Erster Teil, Zur Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit, Danzig 1793, S. 105.

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Ein zwiefaches Verhältnis hat Wissenschaft zu den politischen Parteien. Sie macht erstens die Parteien auf unmittelbare Weise zu ihrem Gegenstande, als natürliche Gebilde, bei deren Betrachtung die Schätzung ihres Wertes weit zurücktritt hinter die Analyse ihrer gesamten, oft sehr verwickelten Beschaffenheit, hinter die Erforschung ihrer Ursachen und Wirkungen. Denn dies ist eine große und viele Hingebung erfordernde Aufgabe. Der Forscher aber erhebt sich notwendigerweise über seinen Gegenstand; er unterwirft sich ihn, wie jeder Thätige den Stoff, an dem er thätig sein will, sich unterwerfen muß. Wissenschaft ist ein gestaltendes, gewaltsames Verfahren. Der Erkennende, sofern er es ist, darf nicht vom Erkannten abhängig sein. In Anwendung auf Gegebenes will dies sagen: Wer das Wesen der Parteien erkennen will, muß unter keinem Einflusse irgend einer stehen, er darf, sofern und solange als er so erkennen will, nicht einmal eine für besser halten als die andere. Er muß nichts wünschen und wollen in Bezug auf sie, als nur sie zu erkennen, als ganz sie zu erkennen. Allerdings kann auch Wertschätzung nach wissenschaftlichen Regeln, in wissenschaftlichem Geiste geschehen. Sie ist aber dann von dem reinen theoretischen Verfahren nicht allein trennbar, und muß davon scharf getrennt werden, sondern ordnet sich auch wie von selbst diesem unter und bleibt davon abhängig. Sie ist durch und durch reflektiert und von der naiven Wertschätzung, die – gerade in politischen Angelegenheiten – so leicht zum Fanatismus in Haß und Liebe anwächst, so im Grunde verschieden, wie von dem in Theatern sich Luft machenden Beifall und Zischen der Menge das überlegte Urteil des Kunstrichters, der weiß, was schön und gut ist und wie auf einer Wagschale den Wert des Werkes zu prüfen unternimmt. Denn auch wo es um ganz und gar menschliche Werke sich handelt, – Parteien sind aber nicht sowohl menschliche Werke als Naturgebilde, – da wird der gerechte Richter die Umstände ihrer Entstehung, nach Zeit, Ort und Bedingtheit der Urheber, zuerst ins Auge fassen und auch das Fremdartige, nicht unmittelbar Anmutende verstehen lernen, um es in seiner Umgebung als bedeutend, ja oft als schön und gut zu würdigen, sofern es nur echt und rein, wahr und heil ist, was auf objektive Weise leichter festzustellen ist, und wird unerbittlich nur das blos Scheinbare verwerfen, das Unechte, Gleißnerische, Lügenhafte, als ein im Grunde Nicht-Seiendes, denn in der geistigen Welt ist alles Lebendige einer gewissen Ehre teilhaftig und wert, und tief ist die längst gefunde-

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gewaltsames Verfahren: Die Aussage gehört zur Wissenschaftskonzeption des Operationalismusses. wissenschaftlichen Geiste: Tönnies nimmt hier Bezug auf die „Werturteilsfrage“.

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ne, immer wieder verlorengehende Wahrheit, daß das Wirkliche gut und schön und das Schlechte ein Mangel sei, nämlich Mangel an Wahrheit. Das andere Verhältnis, worin Wissenschaft zu den politischen Parteien steht, ist bei weitem wichtiger. Die Gegenstände der Parteien sind auch ihre Gegenstände. Über die Fragen, welche das politische Denken und Wollen zerreißen und widersprechende subjektive Meinungen, leidenschaftliche Reden hervorrufen, ist ein objektives Urteil, eine vernünftige Rede möglich. Und diese Wissenschaft zu suchen, danach mit hingegebenem Eifer zu streben, das eben bezeichnet den Politiker über den Parteien. Daran verzweifeln, es für unmöglich erklären, auf die Unsicherheit alles Wissens hinweisen, ist – wohlfeil und gemein. Es verrät mit überflüssiger Deutlichkeit, daß der also Gesprächige jenen Wunsch und Willen gar nicht oder in sehr geringem Grade besitzt, der nun einmal anderen innewohnt, die auch erkannt haben, daß es sich in allen solchen Dingen um ein Mehr oder Weniger handelt, daß die Wahrheit zwar oft in einem tiefen Brunnen liegt, daß aber ein mutiger und wohlgerüsteter Taucher auch bis zum Grunde des Meeres hinabsteigen kann, um sie zu holen. Die Bedingungen wissenschaftlichen Urteils unterliegen selber einer nicht leichten Erkenntnis. So viel darf indessen mit Sicherheit gesagt werden: strenge und eigentliche Wissenschaft bezieht sich nur auf Begriffe und auf deren Verhältnisse zu einander. Die Begriffe bilden wir selber nach unserem Gutdünken und sind ihrer Herr, sie sind unsere Werkzeuge, durch deren Anwendung wir uns ein Bild von der Wirklichkeit und ihren Zusammenhängen gestalten. Außerdem aber giebt es eine direktere Erkenntnis von Thatsachen und von ihren Ursachen. Der wissenschaftlich Denkende muß beide Arten in sich verbinden und verschmelzen. Wenn einer weiß, was er will, und weiß, was er kann, so ist das auch in wissenschaftlichen Unternehmungen eine Quelle regelmäßiger Macht, wenn auch zuweilen derjenige am weitesten gelangt, der um beides unbekümmert, mit der Axt in den Wald geht und die Bäume niederschlägt, die seinen sonderbaren Pfad ihm hemmen. Es ist sehr üblich, daß aus dem Außerordentlichen Schlüsse gezogen werden, und unzählige Irrtümer haben hier ihren Ursprung. Als gereifte Männer werden wir aber das Merkmal am höchsten schätzen und die Methode verehren.

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Mangel an Wahrheit: Tönnies gibt sich hier als Gegner der zeitgenössischen Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft zu erkennen. Das „Gute, Wahre und Schöne“ sind Kernbegriffe des Deutschen Idealismusses. Zusammenhängen gestalten: Bezug auf Hobbes Begriffe als „Werkzeuge“.

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Wenn es aber schwer ist, ein reines wissenschaftliches Urteil über die Wirklichkeit zu gewinnen, in allen Gebieten und vielleicht in politischsozialen am meisten, so scheint es noch viel schwerer, auf unparteiische Weise zu denken über Werte und also über das, was wünschenswert sei, was sein sollte, vollends gar durch welche Mittel solches erreicht werden könne, und dies ist den Menschen, wie sie um das Leben ringen, um ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder, von ungleich größerer, ja beinahe von ausschließlicher Bedeutung. Das verschiedene Wollen bildet ja die Parteien: Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit bestehenden Verhältnissen, Förderung bestimmter Tendenzen oder Widerstand dagegen, der natürliche Wunsch, Besitz und Macht zu erhalten und zu vermehren; der ebenso natürliche Wunsch, Besitz und Macht zu erlangen, wenn auch mit Zerstörung fremden Besitzes, fremder Macht. Diese und verwandte Richtungen, wie sie die Individuen gegeneinander zum Streite bringen, so beherrschen und erfüllen sie ganze Abteilungen, Gruppen, Klassen. Wenn diese kämpfenden Interessen die Urteile über Wirkliches ohne Zweifel fälschen, so hat ihnen gegenüber der von solchen Interessen prinzipiell Freie – und ein solcher ist der wissenschaftliche Mensch – ein verhältnismäßig leichtes Spiel. Kann er aber auch entscheiden, welcher Wille der beste sei? oder wie der gute und richtige Wille zwischen ihnen in einer idealen Mitte liege, oder als eine Resultante aus ihren divergierenden Richtungen sich ergebe? Kann er selber einen solchen reinen Willen, der auf das gemeine Beste gerichtet ist, in sich und aus sich darstellen, und versuchen, ihn zur Geltung zu bringen? Erkennen und Wollen sind doch untrennbar (wenigstens so lange als das Wollen ein Wünschen bleibt), und wenn der Wille zur vorderen Tür hinausgeworfen ist, so wird er durch die Hinterpforte wieder sich einschleichen. Wohl. Aber wenn dieser Wille geduldet und an seinem Platz gesetzt wird, so verwandelt er seine Art. Von Natur unbändig und zuversichtlich, naiv und dreist, wird er nun bescheiden und sachte auftreten, er wird dem Verstande sich unterordnen und diesen nicht beirren oder verwirren; der Verstand aber wird ihn nur herbeirufen und wirken lassen, wenn er der Notwendigkeit oder wenigstens der entschiedenen Nützlichkeit durchaus sicher ist, alsdann aber

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leichtes Spiel: Die letzten Absätze behandeln das Problem der Wertfreiheit. zur Geltung zu bringen: „Reiner Wille“ ist ein Grundbegriff der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes.

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auch alle Kraft aus ihm entwickeln, die für den gegebenen Fall als erforderlich sich darstellt. Der wissenschaftliche Mensch kann allerdings einen reinen Willen, der auf das gemeine Beste gerichtet ist, in sich züchten und aus sich entwickeln, wenn wir aber voraussetzen, daß er sich des Mithandelns enthalten und sich auf das Erkennen beschränken will, so kann er wenigstens zeigen, in welcher Richtung dieser reine Wille gelegen sei. Die Gegner dieses Willens werden ihn parteiisch schelten und ihn mehr hassen, als ihre eigentliche Gegenpartei, gleichwie ein Verurteilter im Prozeß den Richter, den er für parteiisch hält, mehr haßt, als den Kläger, der nichts anderes sein will als parteiisch. Eine parteiische Wissenschaft erniedrigt allerdings sich selber wie ein parteiisches Gericht. Beide müssen auch den Schein der Parteilichkeit vorsichtig vermeiden, wenn sie auf ihre Ehre halten. In dem Maße als sie unparteiisch sind, als sie auf strenge, zwingende Beweise ihre Urteile gründen, werden sie dauerhafte, unerschütterliche Achtung gewinnen. Wie aber der wissenschaftlich Denkende sich einer Partei zuneigen, ja ihre Sache zu der seinigen machen kann, aus reiner objektiver Überzeugung, so kann auch jeder Parteimann nach wissenschaftlicher Einsicht streben und daran Anteil zu gewinnen suchen; er kann persönlich unbefangen sein von den materiellen Interessen, die der Partei ihre Energie geben, er kann aber einerseits durchdrungen sein von der Bedeutung eben dieser Interessen für das gemeine Wohl, andrerseits und eben darum die Prinzipien und Ideale der Partei als die seinen erkennen und diese mit den Stücken der Wissenschaft, die er sich anzueignen vermocht hat, in Übereinstimmung finden. So kann er sich erheben über das unklare Trachten und Streben der Partei, alsbald wird er sich erheben über ihre Wildheit und Leidenschaft, er wird als ein denkender Staatsmann mit den denkenden Staatsmännern anderer Parteien, wenn solche vorhanden sind, sich verständigen und zusammenwirken können. Und dies ist seine notwendige Aufgabe, sobald er mitverantwortlich wird für einen Gesamtwillen, der ebenso, seinem Wesen nach, wie die Wissenschaft, über den Parteien steht. Der Parteiführer, der in eine gesetzgebende Körperschaft eintritt, wird sich als weise bewähren, wenn er seine Parteihaut abstreifen und die Haut der Souveränität anziehen kann, der Souveränität, die er nunmehr thätig mitauszuüben das Recht erworben und folglich die Pflicht auf sich genommen hat. Diese relative Entparteiung zu begünstigen, gebietet ihr eigenes Interesse jeder Partei, die in der gesetzgebenden Körperschaft etwas anderes erblickt oder sie zu etwas anderem machen will, als was sie im demo-

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ralisierenden Systeme des Scheinkonstitutionalismus ist: eine wesentlich beratende Versammlung oder gar ein bloßes Organ für Klagen, Beschwerden, Fragen und Antworten, – kurz für Reden und Deklamationen, wenn nicht für unredliche Machenschaften. Man weiß, daß gerade da, wo die Volks-Gesamtheit als Trägerin des souveränen Willens anerkannt ist, ein ungeheuerlicher Zustand in mehr als einem bedeutenden Reiche sich entwickelt hat, ein Zustand, worin die jedesmal mächtigste Partei regiert, nicht um des Volkes willen, sondern um ihrer selbst, d.h. um ihrer beutegierigen Mitglieder willen, – „dem Sieger gehört der Preis“ ist da der Wahlspruch; der Preis besteht in Ämtern, die Ämter haben ihren Wert nicht so sehr durch die Jahresgehälter, die für Thätigkeiten oder Repräsentationen bezahlt werden, sondern durch die Gelegenheiten zu einflußreichen Verbindungen und unermeßlicher Bereicherung; ein Zustand, worin die Gesetze selber zum Besten mächtiger Erwerbsgesellschaften gemacht und geändert werden, die durch Freigebigkeit sich die Stimmen der sogenannten Gesetzgeber sichern; ein Zustand, der den Namen „Politiker“, der gerade in einer solchen Verfassung höchster Ehrenname sein sollte, zu einem Worte des Schimpfes gemacht hat. Die Korruption der gesetzgebenden Gewalt giebt an moralischer Häßlichkeit der Korruption des Richtertums wenig nach; die eine wie die andere zeigen, wie auf einer Negativplatte abgebildet, die eminente soziale Bedeutung der politischen Moral. Ich untersuche hier nicht die Ursachen dieser Entartungen des Staatslebens und wie sie mit dem gesamten gesellschaftlichen Zustande des gegenwärtigen Zeitalters zusammenhängen. Die Korruption der Gesetzgebung ist an und für sich ebensowohl möglich im System der Autokratie und des Scheinkonstitutionalismus, wie in der sogenannten Demokratie, die oft nur eine buhlerisch verhüllte Plutokratie ist. Die Plutokratie hat unter Umständen noch leichteres Spiel, wenn sie sich als Stütze des „Thrones“ mit Titeln und Orden schmücken darf, d.h. wenn sie des Thrones als des Werkzeuges ihrer Herrschaft sich bedient und dabei noch der Anerkennung für ihren opferfreudigen Patriotismus sicher ist. Aber ein parlamentarisches Regime scheint allerdings die Form zu sein, in der sie am glattesten ihre Geschäfte abwickeln kann; eine andere Frage, ob sie Grund hat, unter dieser schützenden Hülle ihres Lebens sich so sicher zu fühlen, wie sie allem Anscheine nach z.B. in den Vereinigten Staaten es thut.

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Zeitalters zusammenhängen: Bezug zum „Gemeinschafts- und Gesellschafts-Theorem“.

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Selbst unter ihren Verteidigern, selbst unter den bewußtesten Vorkämpfern der bestehenden Gesellschaftsverfassung sind nicht wenige, die sich empören über die politische Korruption, die sie in ihrem Gefolge erblicken. Es giebt rechtschaffene, ja edelgesinnte Männer in jeder, wenigstens jeder größeren Parteigruppe, es giebt Politiker weitauseinandergehender Richtungen, die einsichtig genug sind, ihr eigenes Interesse und das ihrer Partei in der sittlichen Würde der gesetzgebenden Körperschaft zu erkennen, in der sie mitzuwirken berufen sind.5 Der Politiker, dem die Ehre seiner Partei, dem also ihre Grundsätze und Ideale höher stehen als ihr augenblicklicher Vorteil, geschweige als der Vorteil ihrer Mitglieder, steht nicht nur moralisch höher, sondern ist auch der weisere Politiker. Größer noch ist die moralische Kraft, die sich darin bewährt, die Ehre der Partei in der Ehre des „Hauses“ zu finden, und diese nicht nur über den Vorteil der eigenen Anhänger, sondern auch über den Vorteil und unter Umständen sogar über die Grundsätze der Partei zu setzen, wenn anders diese ihren Sinn nur darin haben, daß sie dem dauernden und zukünftigen Wohle des Volkes dienen sollen; denn die gesetzgebende Körperschaft ist ihrer Idee nach das Volk selber in seiner ideellen Einheit, als staatsrechtliche Person. Ihre Mitglieder heißen Volksvertreter, nicht Parteivertreter. In dem Maße als sie diesen Unterschied in bewußter Weise betonen, und ihn gegen den Ungestüm der eigenen Parteigenossen zu schützen verstehen, in demselben Maße werden sie überhaupt fähig sein, eine moralische Politik als Gesetzgeber zu treiben, d.h. nicht nur eine nicht unmoralische oder gar antimoralische Politik, sondern eine Politik, die sich das direkte Ziel setzt, den moralischen Gesamtzustand zu befördern, oder, nach dem Gedanken Platos, die διχαια πολις, das rechtschaffene Gemeinwesen, herzustellen. – Dies ist denn freilich „nur eine Idee.“ Aber es ist eine Idee, in der man leben kann. Und „in der Idee leben, heißt das Unmögliche behandeln, als wenn es möglich wäre. Mit dem Charakter hat es dieselbe Bewandtnis; treffen beide zusammen, so entstehen Ereignisse worüber die Welt vor Erstaunen sich Jahrtausende nicht erholen kann.“6 – 5

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Die Obstruktion, aus dem höheren und sittlichen Gesichtspunkte immer verwerflich, kann aus dem Gesichtspunkte der Klugheit nur sich rechtfertigen für eine Partei, die völlig daran verzweifelt, jemals herrschende Partei zu werden, oder auch nur innerhalb einer Majorität maßgebenden Einfluß zu gewinnen. Goethe, Sprüche in Prosa. Vierte Abteilung. 5.

herzustellen: Verweis auf Platos Politeia (διχαια πολις, dichaia polis, griechisch: gemeinsame Politiken).

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Das hier behandelte Thema ist ganz besonders in seiner Geltung für auswärtige und speciell sogenannte Welt-Politik durch neuere Erörterungen und Thatsachen in das deutsche und europäische Bewußtsein gehoben worden. Eines der wenigen bedeutenden Bücher, die in jüngster Zeit in den gemeinen Besitz der „Gebildeten“ übergegangen sind, – waren die „Gedanken und Erinnerungen“ des Fürsten Bismarck. Durch die beiden Bände hindurch, die von diesem Werke bisher erschienen sind, geht eine Belehrung über das Wesen der praktischen Politik; der Kern dieser Lehren ist, daß der Politiker schlechterdings keinen Sentiments folgen, ebensowenig irgend welchen Ideen oder Prinzipien nachgehen dürfe, sondern ausschließlich die Fragen zu stellen und zu beantworten habe: „Was verlangt unser Vorteil, unser Interesse? Welche Handlungsweise ist im gegebenen Falle für uns die nützlichste?“ Die Verehrer dieses klugen Politikers sind durchweg nicht die Leute, die über Probleme dieser Art emsig nachgedacht haben, die auch nur die Probleme gründlich kennen; dazu gehört allerdings etwas mehr als die durchschnittliche Bildung, die durch Zeitungen sich am Gängelbande führen läßt. Darum sind sie auch nicht fähig, sich die Tragweite und die Consequenzen dessen klar zu machen, was sie auf irgend welche Autoritäten hin für wahr und für richtig halten. Dieselben Begeisterten sind daher sogleich mit lauten Stimmen zugegen, wenn es zu gelten scheint, „die Ehre der Nation“ zu retten, geschehene Unbill zu vergelten, für „unerhörten Frevel“ blutige, ja grausame Rache zu nehmen. Oder wollen sie etwa sagen: dies sei etwas, was die Staatsklugheit unbedingter Weise gebiete – jeder Gedanke an die Folgen müsse da zurücktreten – denn „nichtswürdig“ sei die Nation u.s.w. Das wäre denn eine schöne moralische Begründung, und das gefeierte Prinzip würde sogleich auch theoretisch im Stiche gelassen, wo es seine Probe bestehen sollte. In Wahrheit ist es sehr unwahrscheinlich, daß ein Staatsmann von lebhaften und starken Gefühlen, die durch ein Volk, noch schwerer vielleicht, daß er von Gefühlen, die durch dessen leitende Kreise, denen er

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des Fürsten Bismarck: Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, erster und zweiter Band, Stuttgart 1898. „nichtswürdig“ sei die Nation: Friedrich von Schiller, Die Jungfrau von Orleans, in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Karl Goedeke, Dreizehnter Theil. Stuttgart 1870, S. 207.

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selber angehört, hindurchgehen, unberührt bleibe; und wenn er daran teilnimmt, so wird er ihnen den Einfluß auf seine Ratschläge, seine Pläne und Entschlüsse nicht gänzlich verwehren können. Er wird sich allerdings, wie jeder besonnene Mann, davor hüten, seinen Gefühlen voreiligen, tönenden, Gegner verletzenden Ausdruck zu geben; er wird sich um so mehr davor hüten, je mehr er seiner Verantwortung und des Gewichtes, das seine Worte haben, eingedenk ist. Vollends wird er in Handlungen Besonnenheit walten lassen, er wird – wiederum ganz wie in seiner Sphäre ein vernünftiger Privatmann – sorgfältig erwägen, wie weit er seinen und etwa den nationalen Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen Raum geben dürfe, ohne das Volk oder den Staat, dessen Sache er führt, in zu große Gefahr zu bringen, ohne andere, wichtigere Interessen zu verkürzen, ohne einer thörichten Phantasterei sich schuldig zu machen. Hierbei sind nun moralische Erwägungen noch völlig außer Acht gelassen; der Verfasser jenes Memoirenwerkes hält solche gar nicht der besonderen Erwähnung für wert; Sentimentalität in dieser Richtung lag ihm persönlich wohl am fernsten. Und doch sind gerade solche Erwägungen dazu angethan, leidenschaftliche und zu unbesonnen-thörichten Entschlüssen fortreißende Gefühle zu dämpfen, für den Wert der Gegenstände von Begierden und Bedürfnissen einen Maßstab zu geben, das Bewußtsein höherer und edlerer Aufgaben über momentane Aufwallungen und ehrgeizige Impulse obsiegen zu machen. Dabei wird vorausgesetzt, daß es moralische Grundsätze und Ideen gebe, nach denen sich zu richten man als Pflicht erkennt und empfindet, die heilig zu halten und durchzusetzen man auch als den wahren Nutzen, als die einzige Gewähr dauernder Erfolge behauptet. Und solchen den Vortritt zu lassen vor den immer sich vordrängenden niederen und kleinlichen Interessen, dazu gehört denn freilich auch am meisten moralischer Mut, dessen Mangel so gern hinter die Klugheit und Vorsicht (als der Tapferkeit besten Bestandteil) flüchtet. Es gibt eben moralische Grundsätze, die da fordern, auch von Staatsmännern, unbedingt hoch gehalten zu werden, deren Verletzung um so schwerer empfunden wird, je mehr etwa die Verletzenden gerade durch momentane und scheinbare moralische Gefühle und Impulse blindlings, und auf Grund oberflächlicher Eindrücke oder Informationen, sonst sich leiten lassen. Treulosigkeit und Kleinmut bleiben, was sie sind, wenn sie noch so großen Interessen dienen. Und von Völkermorden, wie ein solcher eben jetzt mit so glänzendem Aufwande in Scene gesetzt wird, gilt nicht minder als von anderer Blutschuld:

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Völkermorden: Verweis auf den zweiten Burenkrieg, der von 1899 bis 1902 stattfand.

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„Unnatural deeds Do breed unnatural troubles“ ....

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Oder waren auch die Träume der Lady Macbeth „leere Träume“? Kann nicht das „Welt-Unrecht“ wieder aufstehen „and push us from our stools“? – Es ist eine gute Sache, daß der Staatsmann sein Herz im Kopfe habe. Dann muß aber auch der Kopf gar sehr geräumig sein! –

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Das Urteil über den Wert der Parteien kann sich in verschiedenen Bahnen bewegen. Es kann wesentlich von außen das Auftreten und Gebahren, die Ausdrucksweise und die Methode der Agitation betrachten – in bezug darauf wird regelmäßig von den sich vornehmer dünkenden gegen die mehr populären und auf Neuerungen dringenden Richtungen der Vorwurf maßloser Heftigkeit, ja der unanständigen „demagogischen“ Kampfesweise erhoben. Wobei jedoch zu bemerken ist, daß dieser Vorwurf um so häufiger auftritt, um so mehr begründet scheint, je unentwickelter in einem Lande das politische Parteileben ist. Denn um so mehr handelt es sich gleichsam nicht um eine offene Feldschlacht, sondern um die Eroberung einer Festung, die einen Sturmlauf von Zeit zu Zeit notwendig macht. Hingegen, sofern unter annähernd gleichen Bedingungen gekämpft wird, werden auch die Methoden des Kampfes einander immer mehr ähnlich. Und da ist nun freilich die Rechnung auf die dunklen Gefühle der Menge ein Kampfmittel, das sich stets als wirksamer erweist, als ein nüchterner, ruhiger Gedankenverlauf. Selbst wenn das intellektuelle Niveau des Volkes ein viel höheres wäre, als es irgendwo ist, so würde doch aller demokratischen Regierung immer das Übel anhaften, daß durch sie die Erkenntnis verhältnismäßig schwach vertreten wird; ein Übel, das innerhalb eines Wahlsystems nur dadurch einigermaßen gehoben werden kann, daß Vorsorge getroffen wird für Erwählung berufener, wirklicher Politiker, gleichsam politisch Sachverständiger. Daß jeder Beliebige, wenn er eine gewisse Mehrheit von Stimmen auf sich versammelt, für berufen gehalten wird, erniedrigt das System selber: die gesetzgebende Körperschaft, die aus solchen Wahlen hervorgeht, wird immer einem Extrakt der Volks-Gefühle und -Stimmungen, als der Volks-Intelligenz

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unnatural troubles: William Shakespeare, Macbeth, Akt 5, Szene 1. and push us from our stools: William Shakespeare, Macbeth, Akt 3, Szene 4.

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Politik und Moral

und Vernunft, ähnlicher sehen. Wie aber läßt sich dies verbessern? Soll etwa die passive Wählbarkeit an ein abgelegtes Examen geknüpft werden? Oder gar an eine Folge solcher Examina? Diese Konsequenz scheint allerdings unvermeidlich, wenn sie auch in das gegenwärtige bestehende, gesellschaftlich politische System sich nicht möchte einfügen lassen; weil zu fürchten wäre, daß die Examinatoren, weniger noch als andere Richter, von Klassenjustiz sich frei zu halten vermöchten. Wie aber, wenn eine Partei solche Examina anstellen wollte? Wenn sie etwa die Besoldung ihrer Vertreter, die ihr doch zur Last fällt, so lange, als staatliche Diäten nicht gewährt werden, von dem Ausfalle solcher Prüfungen abhängig machen würde? Könnte sie nicht die Autorität dieser Vertreter, und damit ihre eigene Autorität, in hohem Grade verstärken? Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter unterziehen schon die Bewerber um den Posten des Arbeiter-Sekretärs einer Prüfung in Bezug auf seine Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, in Bezug auf seine Kenntnis der Gesetzgebung. Ist die Auswahl für den Posten eines Abgeordneten minder wichtig als die Auswahl für den Posten eines Sekretärs? – Das Urteil über den Wert der Parteien kann sich aber auch auf deren Grundsätze, auf die politischen Programme beziehen. Da liegt es denn nun außerordentlich nahe, wird daher auch ohne viel Besinnung ergriffen, daß zwischen den Gegensätzen der radikalen oder extremen Parteien das Beste in der Mitte liege: die Mittelparteien scheinen am meisten eine ruhige und sachliche Denkungsart zu pflegen; ja zwischen den Leidenschaften von rechts und von links scheinen sie die Vernünftigkeit und Besonnenheit selber darzustellen, sie scheinen also über den Gegensätzen zu schweben und gleichsam der Idee einer unparteiischen Partei nahe zu kommen. Ein schöner, ein verlockender Schein, den sich die Herolde solcher Parteien weidlich zu nutze machen, und dies gelingt ihnen um so besser, da sie in der Regel die weniger innerhalb der Interessenkämpfe stehenden, desto mehr aber von wechselnden Regierungen und ihren Häuptern abhängigen Elemente in ihrem Gefolge haben; was auch dadurch begünstigt wird, daß diese sich leicht einer durch Unkenntnis der politisch-sozialen Wirklichkeit bedingten Ideologie bona fide hingeben. In Wahrheit ist aber diese mittlere Stellung 1) keineswegs ihrem Wesen nach eine ideale Stellung: nicht nur der Richter stellt sich in die Mitte, sondern auch der Zaghafte, Unentschiedene, der edlen Leidenschaft, und des warmen Idealismus Bare, der Bequeme, der Träge, der ganz besonders niedrig Interessierte, der aus Furcht, eines kleinen Vorteils, einer fördersamen Gunst verlustig zu gehen, sich nicht „kompromittieren“, überhaupt sich nicht „engagieren“ will. In diesem

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Sinne machte Solon es seinen Stadtbürgern zur Pflicht, im politischen Streite Partei zu ergreifen, und sagte ein deutscher Dichter: „Des tapferen Mannes Behagen sei Parteilichkeit“ ... 2) ist die scheinbar unparteiische Partei in Wahrheit die eigentlich konservative, d.h. die an Erhaltung des gesellschaftlichen Zustandes am unmittelbarsten interessierte und aller gründlichen Reform am meisten widerstrebende Partei. Die Mittelparteien vertreten am deutlichsten und stärksten die beati possidentes, die Plutokratie; eben darum zeichnen sie allerdings durch eine gewisse satte Zufriedenheit und etwa auch durch artige Umgangsformen, die dieser entsprechen, sich aus; wenn gleich die letzten wiederum eher wirklichen Aristokraten als Emporkömmlingen eigen sind. – Aus dieser Charakteristik ergiebt sich, daß diese Mittelparteien, getragen durch die ökonomische Entwickelung, gegen die furchtbaren sittlichen Schäden ebenso wie gegen die eigene ökonomische Kehrseite dieser Entwicklung zumeist blind sein werden. Blind wird auch die unparteiische Gerechtigkeit dargestellt. Wenn man aber diese Blindheit mit jener vergleicht, so wird man minder hurtig die moralischen Vorzüge der Mittelparteien anzuerkennen bereit sein, vielmehr gar oft die tiefere Einsicht, den ernsteren Sinn, die echtere Überzeugung gerade bei den Vertretern einer entschiedenen und unverhüllten Parteilichkeit entdecken.

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Solon: Solon war ein athenischer Staatsmann und Lyriker. In der Antike wurde Solon unter die sieben Weisen Griechenlands gezählt. Des tapferen Mannes Behagen sei Parteilichkeit: Johann Wolfgang von Goethe, Pandora, (Prometheus) Vers 218, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 50. Bd., Weimar 1900, S. 307. Das Zitat heißt richtig: „Des thät’gen Manns Behagen sei Parteilichkeit.“ beati possidentes: Lateinisch: „glücklich (sind) die Besitzenden“, Sprichwort des römischen Rechts, das auf eine Stelle der (nicht erhaltenen) Tragödie „Danae“ von Euripides zurückgeht und das aussagt, dass nicht der Besitzer die Rechtmäßigkeit des Besitzes, sondern der Kläger das Gegenteil nachweisen muss.

Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit

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Koalitions-Freiheit: Ferdinand Tönnies, Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit. Referat, dem Ausschusse der Gesellschaft für Soziale Reform erstattet von Ferdinand Tönnies, Eutin. In: Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform. Herausgegeben von dem Vorstande. Heft 5. Jena 1902.

„Meine Herren! Ich stehe nicht an zu erklären, daß ich das Vereins- und Versammlungsrecht als eine der wertvollsten Errungenschaften betrachte, als ein schlechthin unentbehrliches Mittel, um die politische Entwicklung und Erziehung eines Volkes zu fördern.“ Ministerpräsident Fürst Hohenlohe in der 4. Session d. 18. preuß. Landtags am 17. Mai 1897.

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Zwischen Anhängern und Gegnern der sozialen Reform möchte nicht leicht ein Streit darüber entstehen, ob nach wie vor Gerechtigkeit im gemeinen Wesen herrschen oder wenigstens geehrt werden solle. Diejenigen Heißsporne der Kapitalherrschaft, welche gelegentlich die ihnen dienende Presse anweisen, die Nützlichkeit offenbarer Ungerechtigkeit im Kampfe gegen unbotmäßige Arbeiter und gegen feindliche Parteien zu empfehlen, werden, wenn man sie zur Rechenschaft zieht, nicht zögern, ihre Bedienten zu verleugnen, und sich vielleicht mit besonderer Emphase zum alten Fundamente des sozialen Lebens bekennen: sie wissen, daß sie sich sonst gar zu sehr um ihren guten Ruf bringen würden. Eigentlich strittig wird immer nur die Anwendung dieses Grundsatzes werden. Was die Anwendung durch Richter betrifft, so darf man annehmen, daß diese mit seltenen Ausnahmen wünschen, und meistens auch mit leidlichem Ernste sich bemühen, Gerechtigkeit auch da walten zu lassen, wo sie persönlich mit der einen Partei viel stärker als mit der anderen sympathisieren mögen. Die Frage wird nur sein, ob es ihnen gelinge, das gültige Recht richtig zu deuten oder die nötige Erkenntnis des natürlichen Rechtes – der Billigkeit – zu bewähren, und in dieser Hinsicht werden bekanntlich die Gerichte in vielen Fällen von einer höheren Instanz berichtigt, bis dann die Erkenntnisse der höchsten Gerichte als entscheidende Auslegungen selber den Wert geltenden Rechtes erhalten. Ohne Zweifel können solche Erkenntnisse auch ein hohes Maß theoretischer Achtung in Anspruch nehmen. Aber nicht ein unbedingtes; denn auch die Entscheidungen der höchsten Gerichte können der Revisionsinstanz der Logik sich nicht entziehen; und ein logisch richtiges Denken ist immer die Vorbedingung eines gerechten Urteils. Denn wo uns eine mangelhafte Logik begegnet, da wird immer der Mutmaßung einiger Spielraum zu geben sein, daß die Fähigkeit des Urteilens einer (wenn auch durchaus im unbewußten gelegenen) Schwächung durch Neigungen und Abneigungen, Gewohnheiten und Ansichten ausgesetzt gewesen sei. Zur mangelhaften oder doch falschen Logik gehört aber auch, was man die Überlogik nennen könnte: dieser macht sich z.B. schuldig die Zwängung von Handlungen, die ihrem wahren Wesen nach unschuldig oder höchstens moralisch verwerflich sind, unter strafrechtliche Begriffe. Wenn aber Richter durchweg als ihre Pflicht erkennen gerecht zu sein, so wird man bei den Verwaltungsbehörden den gleichen Sinn nicht erwarten dürfen. Diese sind vielmehr geneigt, als ihre Aufgabe anzusehen, das Prinzip der Zweckmäßigkeit, ohne ängstliche Rücksicht auf Gerechtigkeit, walten zu lassen, also unter Umständen auch an die Gesetze, deren Ausführung ihnen obliegt, sich nicht gebunden zu halten. Freilich haben die modernen Staaten Vorkehrungen getroffen, ihre Bürger gegen

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Vereins- und Versammlungsrecht

Übergriffe der Beamten und Behörden durch ein System der VerwaltungsGerichtsbarkeit zu schützen: eben dadurch haben sie sich den Charakter des Rechtsstaates geben oder wiedergeben wollen. Man muß jedoch bezweifeln, ob dies System in seinen Wirkungen der Bedeutung des altgermanischen Grundsatzes, daß jeder Beamte vor den ordentlichen Richter gerufen werden kann, auch nur sich annähere. Dies System ist heute nicht mehr möglich. Die enorme Entwicklung der Staatsthätigkeit bringt es mit sich, daß immer mehr Fragen des Privatrechtes, an dem Beamte beteiligt sind, vom öffentlichen Recht gleichsam übergeschluckt werden. „Seit einem Jahrhundert“ – so sprach ein ehemaliger preußischer Minister, der Abgeordnete Hobrecht, in der Sitzung des preußischen Hauses der Abgeordneten vom 11. Juni 1896 sich aus – „ist bei uns die Richtung siegreich gewesen, die verlangt hat, daß eine Frage des öffentlichen Rechtes nach der anderen dem ordentlichen Richter entzogen werde. Vom Nachtwächter bis zum Minister – jeder Verwaltungsbeamte hält es für eine degradierende Zumutung, über die rechtlichen Grenzen seiner diskretionären Befugnisse vor dem ordentlichen Richter stehen zu müssen.“ Diesen Exemptionen gegenüber kann keine Verwaltungsjustiz helfen, die es immer nur mit Fragen des öffentlichen Rechtes zu thun hat, und dem Beamten, der durch seine vorgesetzte Behörde gedeckt wird, irgend welche Rechtsnachteile zuzufügen außer stande ist. Nun unterliegt es keinem Zweifel und wird auch nicht bestritten, daß im deutschen Reiche wie in seinen einzelnen Staaten der Grundsatz des gleichen Rechtes für alle oder der Gleichheit vor dem Gesetze gültig ist. Wenn das Koalitionsrecht der Arbeiter sich als eine von selbst verständliche Folgerung aus diesem Grundsatze darstellt, so ist es fast zum Überflusse durch einen Paragraphen der Gewerbeordnung (§ 152) den gewerblichen Arbeitern ausdrücklich und unter Aufhebung früherer Verbote gewährt, den Landarbeitern seit 1866, also jetzt 36 Jahre lang, lediglich durch das Trägheitsmoment der Gesetzgebung vorenthalten worden.1 Und wenn im Kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890 der Anspruch der Arbeiter auf gesetzliche Gleichbe1

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Es ist wohl an der Zeit, einmal nachdrücklich an die Thatsache zu erinnern, daß schon am 10. Februar 1866 die preußische Regierung dem preußischen Landtage den Entwurf eines Gesetzes vorgelegt hat, der das Koalitionsverbot für alle Arbeiter ohne Ausnahme aufhob. Daß dieser Entwurf nicht zum Austrage kam, ist wohl den bald hereinbrechenden kriegerischen Verwicklungen zuzuschreiben, aber noch bei Beratung der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund wurde ein entsprechender Antrag der Abgeordnete Hobrecht: Arthur Hobrecht war ein Berliner Bürgermeister und deutscher Politiker (Nationalliberale Partei). Hobrecht wurde 1879 im Landkreis Preußisch Stargard in das Preußische Abgeordnetenhaus gewählt, dem er bis zu seinem Tode angehörte.

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rechtigung hervorgehoben wurde, so konnte diese autoritative Mahnung zwar nicht das Recht verwehren und erhöhen, wohl aber die Gerichte und Behörden in der Überzeugung bestärken, daß sie dazu berufen sind, diesem Rechte ohne jede Rücksicht auf entgegenstehende Interessen Anerkennung zu verschaffen, auch wenn solche Interessen ihren (der Richter und anderer Beamten) eigenen Gefühlen und Meinungen viel näher stehen sollten. Für die Gerichte ist es aber sehr schwer, oft ganz unmöglich, die Ungleichheit vor dem Gesetze, also das objektive Unrecht aufzuheben, das dadurch entsteht, daß die Verwaltungsbehörden (einschließlich der Staatsanwaltschaften) den Buchstaben des Gesetzes zu Ungunsten einer Klasse von Staatsbürgern pressen, während sie nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem klaren Wortlaut desselben Gesetzes oder anderer Gesetze entgegen eine andere Klasse ihrer Freiheit genießen lassen. Um so mehr sollten Richter, die ihrer erhabenen Aufgabe im Staatsleben sich vollbewußt sind, auf der Hut davor sein, durch Hingebung an einen leeren Formalismus scheinbar streng sachlich und gerecht, in Wahrheit als bloße Handlanger einer willkürlichen und chikanösen Polizei zu verfahren. Es giebt nun einige prinzipielle Rechtsfragen, die aus dem Zusammenstoßen des Reichsrechtes mit der Gesetzgebung der Einzelstaaten entspringen. So ist die Gewerbeordnung Reichssache, das Vereins- und Versammlungsrecht aber gehört noch immer der Landesgesetz­gebung an, obgleich „die Bestimmungen über das Vereinswesen“ zum verfassungsmäßigen Machtbereich des Reiches gehören (Reichs-Verfassung Art. 4, 16). Die Gewerbeordnung erlaubt unbedingt die Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen für gewerbliche Arbeiter im Reiche. In Preußen haben Vereine, welche „eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten bezwecken“, der Ortspolizeibehörde Statuten

in erster Lesung angenommen, nachdem die konservative Partei nur die Ausnahme des Gesindes und der in längeren Kontrakten stehenden Arbeiter sich bedungen hatte.  6

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näher stehen sollten: Als Februarerlasse werden zwei Dokumente bezeichnet, die Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1890 veröffentlichen ließ und die einen Ausbau des Arbeiterschutzes ankündigten. Die Erlasse entstanden vor dem Hintergrund des Streits zwischen Wilhelm II. und Otto von Bismarck über die Arbeiterpolitik. Zum Wortlaut der „Februarerlasse“ und deren Entstehungsgeschichte vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. II. Abteilung. Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881–1890), 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Florian Tennstedt und Heidi Winter, Darmstadt 2003, Nr. 102, 105-106, 109, 112-115, 127-128, 130-134, 137-138. (Reichs-Verfassung Art. 4, 16): Verfassung des Deutschen Reiches von 1871; Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1871, Nr. 16, S. 66.

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und Mitgliederverzeichnis einzureichen. Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, dürfen keine Frauen und keine Lehrlinge aufnehmen. Wenn diese Bestimmungen auf Koalitionen der Arbeiter angewandt werden, so enthält die erstere unzweifelhaft eine schwere Hemmung, die andere eine teilweise Aufhebung des Koalitionsrechtes. Es scheint nun auf der Hand zu liegen, da der Grundsatz: „Reichsrecht bricht Landesrecht“ durchaus feststeht, daß im Zweifelsfalle, wenn die Verabredungen und Vereinigungen nach § 152 G.O. das Gebiet der öffentlichen Angelegenheiten oder gar der politischen Gegenstände berühren, für die Freiheit der Vereinigung entschieden werden müßte; oder es müßte bewiesen werden, daß solche Verabredungen und Vereinigungen geschehen können, ohne jene Gebiete zu streifen. Die Unterscheidung, mit der das Reichsrecht Vereine dieser Art aus dem Vereinsrechte der Einzelstaaten heraushebt, kann nicht durch Landesrecht null und nichtig gemacht werden. Indessen hat das Reichsgericht selber durch zwei merkwürdige Erkenntnisse der Unterwerfung gewerkschaftlicher Arbeitervereine unter das preußische Vereinsgesetz und damit zugleich unter die Vereinsgesetze mehrerer anderer Bundesstaaten die Wege geebnet. In dem ersten dieser Erkenntnisse (vom 18. II. 1887) heißt es: „Eine Handlung ist bezweckt, wenn sie ganz der Absicht des Handelnden gemäß vorgenommen ist. Hat also ein Verein absichtlich und bewußt in seinen Versammlungen politische Gegenstände erörtert, so unterliegt er den Bestimmungen der §§ 8 und 16 (des preußischen Vereinsgesetzes). Es ist hiernach rechtlich durchaus zulässig, schon aus einem einzigen gehaltenen Vortrage politischen Inhalts die Überzeugung zu gewinnen, daß der Verein bezweckt habe, auch politische Gegenstände in seinen Versammlungen zu erörtern.“ Ob die rechtliche Zulässigkeit, eine Überzeugung zu gewinnen, einen zulässigen und brauchbaren Rechtsbegriff enthalte, darüber getraue ich mir nicht zu urteilen. Logisch kann es sich nicht darum handeln, ob die Gewinnung der in Rede stehenden Überzeugung rechtlich zulässig sei  1

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Statuten und Mitgliederverzeichnis einzureichen: Ludwig von Rönne (Hg.), Die Verfassung und Verwaltung des Preußischen Staates; eine systematisch geordnete Sammlung aller auf dieselben Bezug habenden gesetzlichen Bestimmungen [...], Sechster Theil. Das Polizeiwesen, Breslau 1852, § 2 der Verordnung vom 11. März 1850 über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes. S. 74. keine Lehrlinge aufnehmen: Ebd., § 8, S. 75. Gebiete zu streifen: Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, Artikel 2. zu erörtern: RG 2. Strafsenat Urteil vom 18.02.1887 Rep. 243/87 RGSt Bd. 15, S. 305309.

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oder nicht, sondern nur darum, ob die Schlußfolgerung: in einem Vereine ist ein Vortrag politischen Inhaltes (abgesehen davon, daß der Begriff des „politischen“ und der Begriff des „Inhaltes“ streitig sein können), gehalten worden; also hat der Verein bezweckt, auch politische Gegenstände in seinen Versammlungen zu erörtern – ob diese Schlußfolgerung richtig sei oder nicht. Das Erkenntnis sagt: „eine Handlung ist bezweckt, wenn sie ganz der Absicht des Handelnden gemäß vorgekommen ist“. Es darf wohl als gewiß behauptet werden, daß dies nicht der Sinn ist, in welchem von dem Zwecke eines Vereins, in dessen Satzungen die Rede zu sein pflegt. Nehmen wir z.B. einen Verein, der sich die Hebung der Hühnerzucht zum Zwecke gesetzt habe; wenn in diesem Vereine, nachdem er hundert Sitzungen gehalten hat, in der 101. Sitzung ein Mitglied anregt, eine Geldsammlung zum Besten der gefangenen Frauen und Kinder der Boeren zu veranstalten, so wird man nicht sagen, daß der Verein seinen Zweck (die Hebung der Hühnerzucht) aufgegeben oder auch nur erweitert und einen anderen Zweck (die Unterstützung der Boeren oder die Wohlthätigkeit überhaupt) an die Stelle gesetzt oder hinzugefügt habe, sondern man wird sagen, der Verein habe sich bei dieser Gelegenheit mit einer Sache befaßt, die außerhalb seines ausgesprochenen und regelmäßig verfolgten bleibenden Zweckes liege.2 Übrigens hat der Begriff des Zweckes einer Handlung seinen echten Sinn allein durch den inhärenten Gegensatz zum Mittel. Was ich einer Absicht gemäß, aber ausdrücklich nur als Mittel, (vielleicht mit dem äußersten Widerwillen) vornehme, das bezwecke ich nicht, sondern ich bezwecke etwas anderes damit; selbst wo Zweck und Mittel durchaus harmonieren, ist der Zweck doch immer das Allgemeinere gegenüber den Mitteln. Es ist logisch unzulässig und gehört einer vagen und unwissenschaftlichen Redeweise an, Zweck und Inhalt einer Handlung einfach zu identifizieren.3 2

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Daß diese Überschreitung des Vereinszweckes unter Umständen ein Delikt involvieren kann, wofür der einzelne oder der Vorstand des Vereins verantwortlich gemacht werden kann, ist eine Sache für sich, die keinem Zweifel ausgesetzt zu werden braucht. Das Erkenntnis ist fast wörtlich in einem früheren des Obertribunals nachgebildet. Vgl. Goltdammers Archiv XXV S. 637. zu identifizieren: Das Motiv der „Zweck-Mittel-Relation“ taucht bei Tönnies immer wieder auf. Goldtammers Archiv: Richtig heißt es: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht; das älteste aktuell noch erscheinende strafrechtliche Periodikum Deutschlands. Es wurde 1853 durch den Königlichen Obertribunalsrat Theodor Goltdammer als Archiv für Preußisches Strafrecht im Verlag der Deckerschen Oberhofbuchdruckerei begründet. Von 1871 bis 1879 trägt es den Titel „Archiv für Gemeines Deutsches und für Preußisches Strafrecht“. Heute erscheint die Zeitschrift im C. F. Müller Verlag. Sie erscheint monatlich in einer Auflage von 800 Exemplaren (2007).

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Das Reichsgerichts-Erkenntnis fährt fort: „Hat also ein Verein absichtlich und bewußt in seinen Versammlungen politische Gegenstände erörtert, so unterliegt er den Bestimmungen der §§ 8 und 16“ (jenes preußischen Gesetzes). Und im folgenden wird die Thatsache, daß ein einzelnes Mitglied in einer Versammlung einen einzigen Vortrag politischen Inhaltes gehalten hat, mit der Thatsache, daß der Verein absichtlich und bewußt in seinen Versammlungen Gegenstände erörtert, gleichgesetzt; und diese Thatsache wird wiederum als schlechthin konkludent dafür hingestellt, daß der Verein bezweckt habe, politische Gegenstände in seinen Versammlungen zu erörtern. Während sonst zwischen Zulassen (Dulden) und Wollen (Bewirken) regelmäßig unterschieden wird und unterschieden werden muß, so wird in diesem Erkenntnisse Bezwecken, Bewirken, Zulassen, alles durcheinander geworfen; aus der einzigen Handlung eines einzelnen wird nicht nur eine Handlung des ganzen Vereins ohne unterscheidendes Kriterium gemacht, sondern es wird auch diese angebliche einmalige Handlung des Vereines als beweisend für den regulären Zweck des Vereins dargestellt. Als richtig gedacht kann mithin dies erste Reichsgerichts-Erkenntnis in keinem Stücke anerkannt werden. Das zweite für unsere Frage bedeutsame Erkenntnis des Reichsgerichtes stammt aus demselben Jahre 1887.4 Es handelte sich um die Bestätigung eines Urteils des Altonaer Landgerichtes gegen den Tischler-Fachverein. In einer Versammlung dieses Vereins war eine Petition an den Reichstag verlesen, erörtert, unterschrieben und abgesandt worden, worin die Regelung der Arbeitszeit, die gesetzliche Regelung der Sonntags-, Frauenund Kinderarbeit, sowie die Beseitigung der industriellen Gefängnis- und Zuchthausarbeit in Antrag gebracht und der Wunsch, daß eine besondere staatliche Behörde für die Durchführung solcher Schutzgesetze geschaffen werden möge, ausgedrückt wurde. Diese Petition war mit dem Hamburger Tischler-Fachverein verabredet worden. Daraufhin erfolgte Anklage und Verurteilung wegen Übertretung der (neuerdings bekanntlich aufgehobenen) §§ 8 b und 16 des preußischen Gesetzes von 1850 betreffend Verbindungen zwischen politischen Vereinen. Wenn die Revision dagegen geltend machte, jene Paragraphen seien durch § 152 G.O. aufgehoben worden, so mochte das als Revisionsgrund tauglich sein, an sich war es sichtlich unhaltbar. Das höchste Gericht begründete die Verwerfung mit einer Definition der politischen Gegenstände, worunter „man alle Ange4

Erk. vom 10. Nov. 1887. Entscheid. in Strafsachen Band 16 S. 383 ff. Vgl. Schmöle, Die sozialdemokratischen Gewerkschaften in Deutschland. Erster Teil S. 156.

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gegen den Tischler-Fachverein: RG 3. Strafsenat Urteil vom 10.11.1887 Rep. 2105/87 RGSt Bd. 16, S. 383-386.

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legenheiten zu verstehen habe, welche Verfassung, Verwaltung, Gesetzgebung des Staates, die staatsbürgerlichen Rechte der Unterthanen und die internationalen Beziehungen der Staaten untereinander begreifen“. Die dann folgende umständliche Erörterung über § 152 G.O. hätte ebenfalls durch eine Definition ersetzt werden können. Sie will nämlich sagen, die „Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen“ sei in diesem Paragraph so zu verstehen, daß sie ausschließlich Selbsthilfe gegenüber den Arbeitgebern, dagegen unter keinen Umständen Staatshilfe bedeute. Ohne Zweifel ist das Reichsgericht für eine solche Interpretation zuständig. Von selbst versteht sie sich keineswegs. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes war vorzugsweise dazu bestimmt, die preußische Gewerbeordnung von 1845 zu ersetzen. In dieser befinden sich die in §  152 aufgehobenen Verbote und Strafbestimmungen. Und zwar wurden (§  182) mit Gefängnis bis zu einem Jahre bedroht „Gehilfen Gesellen oder Fabrikarbeiter, welche entweder die Gewerbetreibenden selbst oder die Obrigkeit zu gewissen Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, daß sie die Einstellung der Arbeit ... verabreden oder zu einer solchen Verabredung andere auffordern“. Sodann wird (§ 183) „die Bildung von Verbindungen unter Fabrikarbeitern, Gesellen, Gehilfen oder Lehrlingen ohne polizeiliche Erlaubnis“ schlechtweg, ohne daß diese Verbindungen näher bestimmt würden, mit Geldbußen belegt. Den Verbindungen wird nicht ohne weiteres ein böser Wille der im vorhergehenden Paragraphen betroffenen Art zugetraut. Es ist aber offensichtlich, daß die Stifter und Vorsteher solcher Verbindungen, wenn sie (die Verbindungen) sich als Verabredungen zu den in § 182 bezeichneten Zwecken darstellen, auch nach diesem Paragraph bestraft werden sollen; also auch, wenn die Obrigkeit zu gewissen Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, daß sie u.s.w. Nun ist freilich in diesem aufgehobenen Paragraphen nur an das Mittel des Ausstandes gedacht; in dem neuen und gültigen Paragraphen dagegen ist zunächst Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen überhaupt (als Zweck), und dann erst Streik und Aussperrung „insbesondere“ als Mittel solcher „Verabredungen und Vereinigungen“ ins Auge gefaßt. Wenn nun in der preußischen G.O. schon bei Streiks, die doch direkt nur gegen Unternehmer sich richten, daran gedacht war, daß sie auch bestimmt sein könnten, die Obrigkeit zu gewissen Zugeständnissen zu bestimmen, so kann der Gesetzgeber der jüngeren G.O. schwerlich, wenn er von Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen überhaupt spricht, die zu diesem Behufe geschehenden Versuche einer Einwirkung auf die Obrigkeit, – oder wie man jetzt sagt, den Staat –, ausdrücklich auszuschließen gemeint haben. Vielmehr scheint er zu sagen: ihr dürft euch frei verabreden und

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vereinen – ihr dürft also auch jedes sonst erlaubte (und nicht durch den folgenden § 153 verbotene) Mittel gebrauchen (insbesondere auch den bisher mit schwerer Strafe bedrohten Streik) für den Zweck eurer Verabredungen und Vereinigungen. Aber dieser Zweck darf ausschließlich sein: Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, nicht etwa Zwecke allgemein-politischer Art, wie Verfassungsänderungen, Parteiangelegenheiten u.s.w. Daß hingegen als günstige Lohn- und Arbeitsbedingungen, die in dem aufgehobenen Paragraphen gedacht waren als möglicherweise – sogar auf dem Umwege durch den rein ökonomischen Vorgang des Streiks – von der Obrigkeit, d.h. dem Staate zu erlangen, nunmehr nur solche Lohnund Arbeitsbedingungen zu verstehen seien, die sich von den „Gewerbetreibenden selbst“ erlangen lassen; daß, wenn das Verbot aufgehoben wurde, durch das rein ökonomische, aber doch politisch sehr schwerwiegende Mittel des Streiks, den Staat „zu gewissen Zugeständnissen zu bestimmen“, es nicht auch schlechthin erlaubt sein solle, zum Behufe solcher Einwirkung auf den Staat von dem rein politischen, also um so mehr angemessenen, und seiner Natur nach völlig harmlosen Petitionsrechte Gebrauch zu machen – das scheint doch der Ratio juris und dem Geiste der Gesetzgebung wider zustreiten! Wohlgemerkt: keineswegs sollten dadurch die Bestimmungen des preußischen oder eines anderen Vereinsgesetzes, betreffend Vereine, die schlechthin, oder z.B. zum Behufe der Verbesserung des Schul- oder Medizinalwesens „eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten bezwecken“ und betreffend Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, aufgehoben werden. Sondern es wird gesagt: innerhalb ihres unpolitischen Zweckes haben von nun an gewerberechtliche Vereine dasselbe Recht, wie andere unpolitische und nicht mit öffentlichen, sondern mit privaten Angelegenheiten sich beschäftigende Vereine. Strafbestimmungen in Bezug auf solche Vereine waren im preußischen Vereinsgesetze überhaupt nicht vorhanden, sind daher auch nicht zu Gunsten jener gewerberechtlichen Vereine aufgehoben worden. Daß alle Vereine dieser Art, wenn sie ihrem ganzen Wesen nach auf den systematischen und regelmäßigen Gebrauch politischer Mittel gerichtet sind, als politische Vereine sich darstellen können, wird damit unumwunden zugestanden. Trotz ausgesprochenen Zweckes von anderer Art kann der Gebrauch der Mittel selbst als hinzukommender oder sogar jenen verdrängender Zweck einer Vereinigung offenkundig auftreten. In diesem Sinne ist es gewiß unanfechtbar, wenn das Erkenntnis sagt: „Nicht lediglich die allgemeine Tendenz und das letzte Ziel, sondern zugleich Form und Mittel der Vereinsbestrebungen entscheiden darüber, ob sie politischen Charakter an sich tragen.“

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Geleugnet wird nur, daß eine einzelne Handlung von politischem Inhalt genügt, um den politischen Charakter des Vereins selber zu erweisen. Und es darf getrost gesagt werden, daß nach diesem Prinzip gegen andere Berufsvereine als die der Arbeiter nicht verfahren wird. Das hier besprochene Reichsgerichts-Erkenntnis stellt auch nicht für jeden Verein, sondern speziell für die Koalitionen nach § 152 G.O. das Prinzip auf: „Sobald irgend welche Koalitionen behufs Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen das Gebiet des gewerblichen Lebens mit seinen konkreten Interessen verlassen, sobald sie hinübergreifen in das staatliche Gebiet, sobald sie die Organe und die Thätigkeit des Staates für sich in Anspruch nehmen, hören sie auf, gewerbliche Koalitionen zu sein und wandeln sich in politische Vereine um, die als solche den Beschränkungen des Vereins- und Versammlungsrechtes unterliegen.“ „Eine juristische Metamorphosen-Theorie, die ein eigentümliches psychologisches Interesse bietet, wenn man sie, wie billig, auf andere Vereine mit „konkreten Interessen“ ausdehnen will. Setzen wir: ein Kegelklub von Volksschullehrern nimmt daran Anstoß, daß die Schuljungen bis in die Nacht hinein zum Kegelaufsetzen verwandt werden. Man bespricht des öfteren die Sache. Man macht dem Wirte Vorstellungen. Der zuckt die Achseln. „Konfirmierte Jungen sind so und so viel teurer zu halten.“ „Was hilft es auch, wenn ich es thue, die anderen Wirte werden ja doch nach wie vor Schuljungen nehmen.“ Das Übel, das der Kegelklub empfindet, ist auf diesem Wege nicht zu beseitigen. Ein alter Hauptlehrer, der als Zeitungsleser bekannt ist, sagt eines Tages: „Da hilft nichts als ein gesetzliches Verbot. Wir können ja gleich mal eine Petition an den Landtag aufsetzen; die Herren Abgeordneten werden doch einsehen müssen, wie notwendig im Interesse der sittlichen Erziehung eine Einschränkung dieser Kinderarbeit ist.“ Allgemeine Zustimmung: die Petition wird entworfen, mit den Unterschriften sämtlicher in dem Klub vereinigter Lehrer abgesandt. Nach der Metamorphosen-Theorie hat der Verein „Gut Holz“, der nach wie vor jeden Mittwoch zum Kegeln zusammenkömmt und in seinem Statut die Pflege der „Gemütlichkeit“, mit Ausschluß von Gesprächen über politische und religiöse Themata, sich zum Ziele setzt, aufgehört, ein Kegelklub zu sein, – er hat sich in einen politischen Verein umgewandelt. – Schopenhauer sagt, wo er das Operieren mit weiten Abstraktis, unter gänzlichen Verlassen der anschaulichen Erkenntnis, erörtert: „Hierher gehört gerade was Kant das Vernünfteln nennt und so oft tadelt: denn dies besteht eben in einem Subsumieren von Begriffen unter Begriffe, ohne Rücksicht auf den Ursprung derselben, und ohne Prüfung der Richtigkeit und Ausschließlichkeit einer solchen Subsumtion, wodurch man dann, auf längerem oder kürzerem Umwege, zu fast jedem be-

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liebigen Resultat, das man sich als Ziel vorgesteckt hatte, gelangen kann; daher dieses Vernünfteln vom eigentlichen Sophistizieren nur dem Grade nach verschieden ist. Nun aber ist, im Theoretischen, Sophistizieren eben das, was im Praktischen Schikanieren ist.“ (Welt a. W. u. V. II S. 94). Wenn das Erkenntnis mit dem ersten, 9 Monate früher erlassenen zusammengehalten wird, so ergiebt sich daraus auch, daß ein Vortrag politischen Inhaltes dasselbe bedeutet, wie die „Organe und die Thätigkeit des Staates für sich in Anspruch nehmen“. Dagegen wäre noch denkbar, und keineswegs unwahrscheinlich, daß der Redner gar nicht daran gedacht hatte, in diesem Sinne in das staatliche Gebiet hinüberzugreifen (geschweige, daß der ganze Verein solche Absicht gehabt hätte), daß vielmehr ein solcher Redner nur insoweit politische Fragen erörtern wollte, als diese im Gebiete des gewerblichen Lebens und seiner konkreten Interessen eingeschlossen sind, so daß von einem Verlassen dieses letzteren und einem Hinübergreifen in das staatliche Gebiet, als ein wesentlich von jenem getrenntes, nur unter gänzlicher Verkennung solchen intimen Zusammenhanges die Rede sein könnte. Thatsächlich steht die Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, auch wenn sie als reine Privatangelegenheit aufgefaßt wird, in solchem organischen Zusammenhange mit den wichtigsten Zweigen der inneren Politik, insbesondere aber mit derjenigen Gesetzgebung, die in neuerer Zeit die sozialpolitische genannt wird; denn diese ist ausgesprochenerweise darauf gerichtet, die Lohn- und Arbeitsbedingungen der industriellen Arbeiter zu verbessern. Ihre Absicht fällt also mit dem erlaubten Zwecke der gewerblichen Koalitionen zusammen. So wäre es z.B. unter Umständen unvermeidlich, wenn die Frage an der Tagesordnung ist, ob man mit den Meistern wegen Verkürzung der Arbeitszeit verhandeln wolle, in Erwägung zu ziehen, ob nicht die Gesetzgebung in die Normierung der Arbeitszeit, sei es allgemein oder für das betreffende Gewerbe, demnächst eingreifen werde, so daß man sich die Kosten eines etwaigen Ausstandes und schon die Unannehmlichkeiten der Verhandlung ersparen könne. Verabredungen und Vereinigungen zu diesem Zwecke erlauben, und zu gleicher Zeit die Erörterung der denselben Zweck unterstützenden Politik verwehren oder doch hemmen, ist ein innerer Widerspruch. Es ist, als wollte man Brautpaaren erlauben, ihre Hochzeit vorzubereiten, aber nicht erlauben, von der Mitwirkung des Geistlichen zu der Eheschließung zu sprechen.  4

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Praktischen Schikanieren ist: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Dritte, verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage. Zweiter Band, Leipzig 1859, S. 93f. in Anspruch nehmen: RG 3. Strafsenat Urteil vom 10.11.1887 Rep. 2105/87 RGSt Bd. 16, S. 385.

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Auch ein späteres Erkenntnis des Reichsgerichtes (Erk. des 3. Strafsenats vom 25. Januar 1892) hat die begriffliche Unterscheidung in dieser Richtung nicht gefördert, wenn es auch verneint, daß der „politische Gegenstand“ durch die Ermittelung festgestellt werde, ob der fragliche Gegenstand nicht unter irgend welchen Umständen oder Bedingungen in die Interessen und Aufgaben des Staates hinübergreifen könne und aussagt, es handle sich ausschließlich darum, ob derselbe als solcher „unmittelbar dem Staat, seine Gesetzgebung oder Verwaltung berührt, seine Organe und Funktionen in Bewegung setzt und solcherart als ein politischer bezeichnet werden darf“. Eine formal-juristische Unterscheidung dieses Charakters ist viel zu allgemein und unbestimmt, um der psychologischen Vermischung wirtschaftlicher und politischer Interessen und Probleme, die das wirkliche Leben erfüllt, auch nur von ferne gerecht zu werden. So zeichnet sich denn die Entscheidung des preußischen Kammergerichtes (vom 26. April 1888) wenigstens durch Unzweideutigkeit aus, wenn sie erklärt: „Zu den politischen Gegenständen im Sinne des Vereinsgesetzes gehören solche, welche Sozialpolitik, insbesondere auch die Regelung der Arbeitszeit betreffen.“ Auch über den Begriff der „öffentlichen Angelegenheiten“ hat das Reichsgericht (im zuletzt genannten Erkenntnisse) sich ausgesprochen: freilich indem es sich damit begnügt, so etwas wie eine Umschreibung zu geben. Der Ausdruck im Sinne der §§ 1 und 2 des preußischen Vereinsgesetzes begreife „alle Angelegenheiten, welche nicht ausschließlich physische oder juristische Personen, sondern im Gegensatz dazu die Gesamtheit des Gemeinwesens und das gesamte öffentliche Interesse berühren“. Es ist auch hier dem preußischen Kammergericht vorbehalten gewesen, die Anwendung auf die Bestrebung der Arbeiterverbände zu machen. Es hat in einer Reihe von Urteilen dahin entschieden, daß „die Bestrebungen eines Vereins auf Hebung der fachlichen und sozialen Stellung von Gewerbsgenossen unter die öffentlichen Angelegenheiten fallen“ (z.B. Urteil vom 23. September 1889). Andere Erkenntnisse subsumieren ausdrücklich die Gebiete der sozialen Interessen als zu den „die Gesamtheit oder auch nur einzelne Bevölkerungsklassen berührenden Gegenständen“ gehörig unter jenen Begriff (Urteile vom 12. Januar und vom 16. April 1891, Johow,

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Regelung der Arbeitszeit betreffen: Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen, Reinhold Johow (Hg.), achter Band, Berlin 1889, S. 215 ff. 23. September 1889: Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen, Reinhold Johow (Hg.), zehnter Band, Berlin 1891, S. 246 ff.

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Jahrbuch XI S.  307 ff.). Ein noch Jüngeres Urteil (vom 19. September 1891) sagt: „Zum Begriff der „öffentlichen“ Angelegenheiten gehört, daß es sich um Gegenstände handelt, welche nicht nur die Interessen bestimmter, eine nur begrenzte Anzahl bildender Personen berühren, sondern eine unbestimmte und nicht fest abgegrenzte Mehrheit angehen und in Mitleidenschaft ziehen. Die Erörterung über die Mittel zur Unterstützung von Streikenden kann nun diesen allgemeinen Charakter tragen, sie trägt ihn aber nicht unbedingt und in allen Fällen. So kann z.B. von öffentlichen Angelegenheiten nicht die Rede sein, wenn der betreffende Arbeitsausstand nur einen bestimmten oder einige bestimmte Arbeitgeber trifft, dagegen wohl, wenn der Ausstand allgemein ist und sich daher nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen eine Klasse als solche richtet.“ Diese Urteile mögen juristisch richtig sein; wenn aber ein Richter darauf gestützt einem Verein darum, weil er statutengemäß eine günstigere Gestaltung der Erwerbsverhältnisse eines ganzen Berufsstandes „durch eine im großen Stile organisierte Unterstützung von Streiks anstrebe“, dem preußischen Vereinsgesetz unterstellt, so unternimmt er es, ein Reichsgesetz zu Gunsten eines preußischen Staatsgesetzes unwirksam zu machen. Wenn nunmehr eine Erörterung der Berufsinteressen der Schlinge des „politischen Gegenstandes“ entgeht, so fällt sie ganz sicher in die Fußangel der „öffentlichen Angelegenheit“. Nur durch straffere Zentralisierung, indem auf die Errichtung selbständiger Zweigvereine verzichtet wird, entziehen sich dann die Gewerkschaften der Verpflichtung, das Verzeichnis ihrer Mitglieder der Polizeibehörde einzureichen; welche Verpflichtung nach dem Zeugnis des Führers einer großen christlichen Gewerkschaft einerseits unausführbar ist, andererseits ein schweres Hindernis für die Entwicklung der Organisationen bedeutet, „da sehr viele Arbeiter befürchten, daß die Unternehmer durch Vermittlung der Behörden von diesen Verzeichnissen Kenntnis erhalten“ – eine Befürchtung, die – exempla docent – durchaus begründet

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Jahrbuch XI S. 307 ff.: Gemeint ist: Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen, Reinhold Johow (Hg.), elfter Band, Berlin 1892, S. 307 ff.

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ist.5 – Da nun aber die Teilnahme von Frauen an den Arbeiter-Berufsvereinen für besonders gefährlich gilt – obgleich sie das Koalitionsrecht so gut besitzen wie die Männer und seiner als prädestinierte Opfer der Ausbeutung (man erinnere sich der Konfektion, der Spielwaren-Industrie u.s.w. u.s.w.) vielleicht noch mehr bedürfen –, so genügt unter Umständen nicht die „Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten“ – denn an Vereinen, die diese „bezwecken“, dürfen nach preußischem Gesetz Frauen allerdings teilnehmen. Folglich müssen, um den Frauen zu wehren, die Vereine dann für politische Vereine erklärt werden. Wie das gemacht werden kann, selbst wenn innerhalb des Vereins Nichts passiert ist, auch nicht ein verdächtiger Vortrag gehalten wurde, lehrt folgender Fall: In einem (vom Jahre 1901) das die vorläufige Schließung der Zahlstelle Groß-Ottersleben des Verbandes der Fabrik-, Land- und Hülfs-Arbeiter und die Verurteilung der Vorstandsmitglieder, weil sie gegen § 8 des Vereinsgesetzes eine Frauensperson als Mitglied aufgenommen hätten, bestätigt, wird zwar anerkannt, daß der Verein nach seinem Statute nur wirtschaftliche Zwecke unter Ausschluß politischer und religiöser Fragen verfolge und auch in den monatlichen Mitgliederversammlungen fast immer nur wirtschaftliche Fragen besprochen habe. Wenn der Vorsitzende ein oder das andere Mal politische Dinge berührt habe, so würde das allein nicht genügen, die Zahlstelle als Verein im Sinne des § 8 erscheinen zu lassen (eine liberale Einräumung!). Nun aber habe der Vorsitzende gelegentlich auch öffentliche Versammlungen der Fabrik-, Land- und Hülfsarbeiter einberufen und meistens auch geleitet: in diesen Versammlungen seien Gegenstände rein politischen Charakters besprochen worden, sie seien zur Agitation für den Verband bestimmt gewesen und fast ausschließlich von Mitgliedern desselben besucht worden. Folglich seien diese öffentlichen Versammlungen als von der Zahlstelle „ausgehend“ anzusehen, mithin die Zahlstelle selber als ein Verein, der in Versammlungen politische Gegenstände erörtern wolle. 5

Schriften der Ges. f. soz. Reform, Heft 2, S.  23. Vgl. das Koalitionsrecht etc. (Denkschrift) S. 12.

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durchaus begründet ist: Schriften der Gesellschaft für soziale Reform. Heft 2. Die Arbeitervereine. Referate erstattet in der Ausschußsitzung am 4. Mai 1901 in Berlin durch Bassermann (Reichstagsabgeordneter), und Giesberts (Arbeitersekretär), Jena 1901. „Gesellschaft für soziale Reform“ nennt sich eine am 6. Januar 1901 zu Berlin gegründete Vereinigung von Sozialpolitikern, die das Eintreten des Staates für die Lohnarbeiter, insbesondere durch Erweiterung des gesetzlichen Arbeiterschutzes, Unterstützung der Selbsthilfe der Arbeiter, Ausbildung des Koalitionsrechts, Errichtung eines Reichsarbeitsamts, überhaupt den Ausbau der sozialen Gesetzgebung im Interesse der Arbeiter erstrebt. Sie gibt in zwangloser Folge „Schriften der Gesellschaft für soziale Reform“ heraus; über ihre Tätigkeit berichtet fortlaufend die Wochenschrift „Soziale Praxis“.

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Dieses Erkenntnis ist unter dem 28. Oktober 1901 durch das Kammergericht bestätigt worden. Die darin enthaltene Logik muß eine spezifisch juristische Logik sein, da sie von der allgemeinen Logik nicht unerheblich abweicht. Aus dem Gesamtverhalten des Vereins, wie aus seinem Statut, und aus der Übereinstimmung beider wird gefolgert, daß der Verein nicht sich als politischer Verein bethätigt habe. Aus der anderweitigen Bethätigung seines Vorsitzenden, daraus, daß dieser wie ein anderer Staatsbürger von seinen politischen Rechten Gebrauch macht – obgleich er es thatsächlich im wesentlichen Zusammenhange mit seinen Bemühungen um die gewerkschaftliche Organisation der Fabrik- u.s.w. Arbeiter gethan zu haben scheint, was sonderbarerweise in den Augen des Gerichtes erschwerend für den politischen Charakter der Versammlungen gewesen ist – aus dieser anderweitigen Bethätigung wird abgeleitet, daß der Verein doch ein politischer Verein gewesen ist, der Frauen nicht aufnehmen durfte. Die Versammlungen, die von dem Vorsitzenden einberufen und geleitet wurden, gingen von dem Verein aus, dessen Vorsitzender er war. In allen anderen Rechtsverhältnissen wird auseinandergehalten, was ein Mann in seiner amtlichen und was er in seiner privaten Kapazität thut und unternimmt. Daß ein Verein, der anerkannterweise erlaubte Zwecke verfolgt, für an sich erlaubte Handlungen seines Vorsitzenden büßen muß, daß ihm wegen dieser Handlungen ein Charakter imputiert wird, für den außerdem keine Merkmale oder Beweisstücke vorliegen, dürfte wiederum einzig und allein in der richterlichen Beurteilung von Arbeiterkoalitionen vorkommen und nur aus einer, wenn auch nicht bewußt werdenden Animosität der Richter gegen diese Vereine erklärbar sein. Besondere Schwierigkeiten erwachsen der Thätigkeit von Arbeitervereinen und der freien Ausübung des Koalitionsrechtes auch aus dem Begriffe der Versammlung. Die Einschränkungen des Versammlungsrechtes beruhen in Preußen gleichfalls auf dem Gesetze vom 11. März 1850, das seinem Titel nach die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauches des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes zum Zwecke hat. Die Frage wirft sich unmittelbar auf, was der Gesetzgeber hier als eine Versammlung verstanden wissen wolle. Wenn in einem Gesetze die besondere Definition vorkommender Ausdrücke fehlt, so muß man annehmen, daß die Absicht dahin gehe, solche Ausdrücke im Sinne des gemeinen Verständnisses, d.h. des Sprachgebrauches, aufgefaßt zu sehen. Nichts ist so sehr geeignet, das populare Vertrauen zu den Gerichten zu untergraben, das natürliche Rechtsgefühl zu verletzen, als die juristische Auslegung solcher Begriffe, die jedermann zu kennen glaubt, wenn solche Auslegung weit von dem allgemeinen Verständnisse abweicht, wenn sie dem Volke zu sagen scheint: Nicht nur schadet die Unkenntnis des Gesetzes, auch die Kenntnis

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kann euch wenig nützen, denn ihr gemeinen Leute versteht doch einmal unsere, der Juristen, Sprache nicht. Da die oberstrichterlichen Entscheidungen ihrer Natur nach einen geübten juristischen Verstand voraussetzen, so muß es in der That als ein schweres Übel angesehen werden, wenn der Wortlaut eines Gesetzes durch solche Entscheidungen in einer Weise ausgelegt wird, daß dabei der – in wissenschaftlichen Fragen allerdings nicht kompetente, sonst aber doch überaus wertvolle – „gesunde Menschenverstand“ den Boden unter seinen Füßen zu verlieren glaubt. So grob und gemein auch der Volksverstand in technischen Fragen, denen er nicht gewachsen ist, urteilen mag, so hat doch bekanntlich der Sprachgebrauch in Gebieten, wo er lange zu Hause ist, seine großen Feinheiten, und zu diesen Gebieten gehört gerade das Volksrecht und die in uralter Überlieferung ausgebildete Praxis des öffentlichen Lebens. Daher wird das Sprachgefühl in diesen Dingen durch keine gerichtliche Entscheidung, keine ausgeklügelte Distinktion sich irre machen lassen, wenn es den Begriff der Versammlung schlechthin – im Unterschiede von der Versammlung eines Vereins – eng mit dem Begriffe der Menge verbindet, die „sich versammelt“, und eine solche Menge nur da als vorhanden anerkennt, wo die bestimmte Zahl der Individuen nicht sozusagen greifbar vorliegt, d.h. ohne die Mühe der Zählung nicht erkennbar ist. Eine „Handvoll“ Menschen ist keine Menge, bildet daher auch keine Versammlung.6 Ohne Zweifel hat auch der preußische Gesetzgeber von 1850 nur an eine erhebliche Menge als möglicherweise für die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährlich gedacht. Vermutlich hat auch das Reichsgericht die hier zu Grunde liegende populare Idee der Versammlung noch festhalten wollen, wenn es sie durch seine Entscheidungen vom 22. September 1890 definiert als „eine gewisse, nicht allzu kleine an Zahl bemessene äußerlich irgendwie vereinigte Personenmehrheit oder Menschenmenge, welche auf gemeinsamen bewußten Zwecken und Zielen beruht“ (Entscheidungen in Strafsachen Bd. 21 S. 73 ff.). Daß aber der Begriff durch diese Definition an Klarheit gewonnen habe, wird man nicht zugestehen können und mit dem „nicht 6

Wie auch 7 in- oder ausländische Briefmarken oder 5 Ansichtspostkarten keine Briefmarken- oder Ansichtspostkarten-Sammlung sind. Man kann wohl mit einer so kleinen Zahl eine Sammlung „anlegen“, aber man hat noch keine.

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Zielen beruht: Das Zitat ist nicht wörtlich wiedergegeben. „eine gewisse, nicht allzuklein an Zahl bemessene, äußerlich irgendwie vereinigte Personenmehrheit oder Menschenmenge. Eine solche Personenmehrheit pflegt man „Versammlung“ zu nennen, sobald zu dem, oft nur zufälligen oder scheinbaren, durch das örtliche Zusammensein bedingten äußeren Bande eine, auf gemeinsamen, bewußten Zwecken und Zielen, also auf gemeinsamen Wollen beruhende innere Vereinigung hinzutritt.“ RG 3. Strafsenat Urteil vom 22.09.1890 Rep. 1329/90 RGSt Bd. 21, S. 71-75.

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allzu klein“ könnte etwa nur eine Versammlung von gerade zwei Personen ausgeschlossen sein. Klarer und schlagender sind auch hier die Anwendungen des Kammergerichtes. Schon durch eine Entscheidung vom 30. Oktober 1885 hat es „die sogenannten vertraulichen Besprechungen“ in den Begriff der Versammlung hineingezwängt. Und ein Urteil des Landgerichtes zu Greifswald ist von jenem (dem Kammergericht) bestätigt worden, daß in der sinnwidrigen Ausdehnung des Begriffes der Versammlung eine meisterhafte Leistung darstellt. Dieses Urteil bezieht sich auf folgenden Fall: Zu einer Besprechung des deutschen Metallarbeiter-Verbandes war durch Annonce in der Greifswalder Zeitung eingeladen worden. Es erschienen zu dieser Besprechung (am 29. August 1897) nur vier Personen, die sich an einem Tisch zusammensetzten. Diese Besprechung wurde polizeilich inhibiert und gegen den Wirt F. wegen Duldung einer nicht angemeldeten, sich mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigenden Versammlung das Strafverfahren eingeleitet und derselbe vom Schöffengericht in Greifswald zu 15 M. bezw. drei Tagen Haft wegen Vergehens gegen die Verordnung vom 11. März 1850 verurteilt. Gegen dies schöffengerichtliche Urteil war Berufung eingelegt worden und das Urteil des Landgerichtes, das wir hier im Auge haben, verwarf die Berufung mit folgender Begründung: „Wie groß die Zahl der Teilnehmer sein muß, um eine „Versammlung“ als vorliegend anzunehmen, ist Gegenstand der thatsächlichen Feststellung. Es ist jedoch dem Vorderrichter darin beizutreten, wenn er die Anzahl der vier Personen, welche zu gemeinsamem Zweck sich im Lokal des Angeklagten vereinigten, als hinreichend für die Annahme einer Versammlung ansieht. Dieser Ansicht steht auch nicht entgegen, daß die vier Personen zwanglos an einem Biertische zusammensaßen und miteinander die zur Besprechung stehende Angelegenheit beredeten. Denn für den Begriff der Versammlung ist es unerheblich, ob etwa ein Vorsteher gewählt oder eine Rednerliste aufgestellt worden ist, oder ob eine geordnete Debatte in parlamentarischen Formen stattfindet!“ Man wird den letzten Satz ohne Bedenken anerkennen dürfen; man wird auch einräumen müssen, daß, wenn auch zu einer „Besprechung“ eingeladen wurde, thatsächlich doch eine „Versammlung“ stattfinden kann, wenn nämlich zum Behufe der Besprechung eine erhebliche Menschen-

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Begriff der Versammlung hineingezwängt: Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen, Reinhold Johow (Hg.), sechster Band, Berlin 1887, S. 248 ff.

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menge sich versammelt. Das mindeste Erfordernis aber für den Begriff der Versammlung wird gerade dann darin gelegen sein, daß der Einberufer oder dessen Vertreter in irgend welcher Form wahrnehmbar macht, daß er seine Einladung zu einer Besprechung durch die anwesenden Individuen erfüllt sieht, daß er also die Identität der Versammlung mit der von ihm berufenen Konferenz („Besprechung“) anerkennt. Ohne dieses Merkmal würde lediglich ein zufälliger Auflauf, eine „formlose Menschenmenge“ (wie sie in der obigen Entscheidung des Reichsgerichtes genannt wird) vorliegen, die also zwar durch die Polizei zum Auseinandergehen veranlaßt werden könnte, ohne daß aber der Inhaber des Lokales sich durch „Duldung einer nicht angemeldeten u.s.w. Versammlung“ strafbar gemacht hätte. Nun aber war eine Menschenmenge überhaupt nicht zusammengekommen, sondern es waren nur 4 einzelne Personen zusammengekommen, von denen die eine sogar (nach dem Wortlaute des Erkenntnisses) „ganz zufällig in das Lokal gekommen war und sich zu den drei anderen Personen an den Tisch gesetzt“ hatte. Eine solche Zusammenkunft von 3 bis 4 Personen darum als Versammlung im Sinne des Gesetzes auffassen, weil diese Personen „soziale Interessen“ besprechen wollten, heißt – so sehr es im guten Glauben geschehen mag – das Vertrauen in den guten Glauben so urteilender Richter schwer erschüttern. Mit Zuversicht darf gesagt werden, daß der Gesetzgeber von 1850, der den Mißbrauch des Versammlungsrechtes hemmen und allerdings die im vorhergehenden Jahre (durch die Verordnung vom 29. Juni 1849) noch belassene Freiheit einschnüren wollte, nicht die Absicht gehabt hat, auch die Freiheit des bloßen Gespräches so zu erdrosseln, wie es offenbar durch das vorliegende Gerichtsurteil geschieht und wie es sonst den Belagerungszustand charakterisiert;7 ganz abzusehen davon, daß es sich hier 7

„Diese Anordnungen,“ sagt Brater, Deutsches Staatswörterbuch X, 770, von den Vorschriften des preußischen Gesetzes, „welches das Versammlungsrecht und .... zugleich das Vereinsrecht der Kontrolle der Öffentlichkeit unterwerfen, sind zu billigen, wenn sie richtig verstanden, und nicht, wie es geschehen ist, (d.h. vor 1867!) auf vertrauliche Privatbesprechungen kleinerer Kreise ausgedehnt werden. Denn niemals kann die Einmischung der Polizeigewalt in solche Besprechungen gerechtfertigt sein, sofern nicht etwa der Thatbestand eines den Strafgesetzen verfallenden Komplottes vorliegt. Von der Versammlung muß also die Zusammenkunft unterschieden werden. Die erstere setzt eine größere Zahl von Teilnehmern voraus, und ist ihrer Natur nach auf das Licht der Öffentlichkeit berechnet.“ Brater († 1869) war Mitbegründer des Nationalvereins und alles andere als ein Radikaler. Es ist nicht etwa das Rotteck- und Welckersche Staatswörterbuch, woraus das Zitat entnommen ist.

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Rotteck- und Welckersche Staatswörterbuch: Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker (Hg.), Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. Altona 1834.

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um eine durch § 152 G.O. ausdrücklich von allen Verboten und Strafbestimmungen befreite Verabredung zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen handelte. Das Urteil ist sehr merkwürdig. Obgleich die Richter – wie alle gelehrte Richter – ohne Zweifel die mittlere menschliche Vernunft, vielleicht sogar etwas mehr besaßen, so ist man doch versucht, angesichts eines solchen Erkenntnisses auszurufen:

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„Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage. Weh dir, daß du – – ein Arbeiter bist!“ Denn es darf wiederum mit Zuversicht gesagt und als unwiderleglich hingestellt werden, daß eine solche Anwendung des Gesetzes gegen andere Bestrebungen als solche, die geflissentlich von Staatswegen verfolgt werden, nicht geschieht und nicht zu gewärtigen ist. Die Arbeitslast der Polizei würde ins Ungemessene wachsen, die berechtigten Klagen, daß die wesentlichsten Funktionen der Polizei: für die Sicherheit der Personen und des Eigentums Sorge zu tragen, in ungenügender Weise erfüllt werden, würden sich vermehren und immer lauter werden, wenn wirklich die Polizei um Einladungen zu Besprechungen und um stattfindende Besprechungen sozialer Interessen durch Nicht-Arbeiter in derselben Weise sich bekümmern und solche, wenn sie nicht als Versammlungen angemeldet wurden, behindern und straffällig machen wollte. Die Gerichte hätten gerade da, wo sie wissen können, daß die Tendenz der Verwaltungsbehörde auf die einseitige, also ungerechte Anwendung einer gesetzlichen Vorschrift ausgeht, die besondere Pflicht, die Würde des für alle gültigen Gesetzes, und somit den guten Namen der Gerechtigkeit unter ihren Schutz zu nehmen; selbst dann, wenn dem juristischen Verstande solche Anwendung der gesetzlichen Vorschrift mit deren Buchstaben und Wortlaute verträglich erscheint. Die bloße Thatsache oder gesicherte Voraussetzung, daß eine regelmäßige und gleichmäßige Anwendung des Gesetzes in diesem, den Wortlaut spannenden oder pressenden Sinne nicht geschieht und nicht geschehen kann, müßte genügen, solche wortklaubende Pseudo-Gesetzlichkeit der Behörden im gegebenen Falle auf das Bestimmteste zurückzuweisen; wie denn auch hin und wieder ein Gericht dieses Verdienst um die gemeine Freiheit und um die Sicherheit des Rechtsgefühls sich erworben hat. Noch einige weitere Proben, wie gerade der Begriff der Versammlung gestreckt und gedehnt wird, mögen zunächst die in Preußen geübte Praxis illustrieren.

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ein Arbeiter bist!: Das Originalzitat ist von Goethe: „Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage; Weh dir, daß du ein Enkel bist!“ In: Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Tübingen 1808, S. 121.

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Kein Wunder, daß die Mißbilligung der Behörden mit besonderer Schärfe sich geltend macht, wenn Mitglieder sonst geduldeter Gewerkschaften ihre politische Gesinnung bei sonst indifferenten Gelegenheiten, z.B. durch Beteiligung an Festen, kundgeben. Die Teilnahme von Frauen an solchen Festen, auch wenn diese ihrem Wesen nach einen rein sentimentalen Charakter tragen, wird für vorzugsweise gefährlich gehalten. Auch die Begehung eines solchen Festes kann dem Begriffe der „politischen Versammlung“ unterworfen werden. So ist vor kurzem eine Feier zu Ehren Lassalles in Schwelm unterdrückt worden, indem die Teilnahme von Frauen daran polizeilich untersagt wurde. Der Regierungspräsident von Arnsberg als Beschwerde-Instanz begründete dieses Verbot wie folgt: „Die angestellten Ermittlungen haben die Annahme der dortigen Polizeiverwaltung, wonach als der eigentliche Veranstalter des für den 1. September geplanten Festes, im Gegensatz zu der nach außen hin auftretenden sogenannten Lassalle-Feier-Kommission, der dortige sozialdemokratische Verein anzusehen ist, durchaus bestätigt. Die beabsichtigte Beteiligung von Frauen an der Festlichkeit konnte daher gemäß § 8 des Vereinsgesetzes nicht gestattet werden. Hierbei ist insbesondere unerheblich, daß das Fest auch für Nichtmitglieder zugänglich sein sollte, da auch solche Versammlungen, wenn sie von politischen Vereinen ausgehen, den Beschränkungen des § 8 unterworfen sind.“ Auch hier ist die Absicht unverkennbar. Die Feier sollte unter irgend einem Vorwande verhindert werden. In Wahrheit handelte es sich nicht um eine Versammlung, sondern um eine Zusammenkunft, die im Schlußsatze desselben Erlasses als eine öffentliche Lustbarkeit bezeichnet wird („unter diesen Umständen erübrigt sich eine Erwägung darüber, ob das Fest, welches als eine öffentliche Lustbarkeit beabsichtigt war, nicht schon aus allgemeinpolizeilichen Gründen dem polizeilichen Verbot unterlag“). Verantwortlich für die Unternehmung des Festes war wie bei anderen solchen Gelegenheiten ein besonderes Komitee. Die Polizei nimmt aber diese Verantwortung nicht an; sie macht vielmehr eine besondere Annahme – dieser Annahme gemäß ist als der „eigentliche“ Veranstalter des Festes der sozialdemokratische Verein „anzusehen“, und dieses Ansehen wird noch in einen ausdrücklichen Gegensatz zu dem „nach außen hin Auftreten“ gesetzt. Folglich ging die „Versammlung“ von einem politischen Vereine aus – von der öffentlichen Lustbarkeit oder Festlichkeit, deren Urheber das Komitee war, ist nichts übrig geblieben. Es versteht sich von selber, daß gegen anerkannte patriotische Feiern nicht in dieser Weise vorgegangen wird, und alle, die da meinen, daß der Patriotismus mit allen polizeilichen Mitteln erzwungen werden, oder

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wenigstens der Unpatriotismus und was dafür ausgegeben wird (bekanntlich hat Lassalle immer eine deutsch-patriotische Gesinnung stark bethätigt) mit allen polizeilichen Mitteln unterdrückt werden könne, dürfe und müsse, werden ein solches parteiisches Verfahren der Polizei von ganzem Herzen billigen. Das Schlimmste ist aber, daß die psychologische Wirkung von entgegengesetzter Art ist. Nitimur in vetitum semper petimusque negata. Das Interesse der Frauen, die von dem Verbot betroffen wurden, für die Person Lassalles ist ohne Zweifel durch das Verbot erhöht worden. Keine Festrede hätte so stark zu Phantasie und Gemüt gesprochen, in dem Sinne, daß den Arbeiterfrauen das Andenken Lassalles heilig sein solle! Wenn aber in diesem Falle wenigstens die Art des Festes einen plausiblen Grund gab, ihm einen politischen Charakter beizumessen, so geht es noch weiter, wenn auch die Teilnahme von Frauen an einem Tanzvergnügen, bei denen sie doch recht eigentlich in ihrem Elemente sind, verwehrt wird, weil solche Vergnügen von politischen Vereinen arrangiert werden. Daß auch solche Lustbarkeiten Versammlungen im Sinne des Gesetzes sind, ist schon früher, und ganz neuerdings wieder durch das Oberverwaltungsgericht erkannt worden.8 Zur Begründung wurde ausgeführt: „und Entstehungsgeschichte des Vereinsgesetzes9 in den fraglichen Bestimmungen habe der Gesetzgeber gewollt, daß Frauen weder aktiv noch passiv an der Agitation politischer Vereine teilnehmen und auch nicht ein Mittel für ihre Zwecke sein sollten, wie sie es würden, wenn sie an Festlichkeiten politischer Vereine teilnähmen, um diese zu verschönen, zu verherrlichen, sie anziehender zu gestalten und so dem Verein neue Freunde gewinnen zu helfen.“ Es gehört zu den sittlich günstigsten Wirkungen der Organisation der Arbeiter, daß sie einer geregelten und durch das Bewußtsein der Berufsgemeinschaft über das bloße Vergnügen hinausgehobenen Geselligkeit dienen können, einer Geselligkeit, die besonders gern den Zug ins Freie, in Wald und Feld nehmen wird, und auch an Wintersonntagen dem gewöhnlichen Tanzboden mit seiner gemischten Gesellschaft, dem Skatklub oder dem 8 9

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Siehe Die Gleichheit vom 12. Febr. 1902, S. 29. Vgl. Exkurs S. 96 - 100. petimusque negata: „nitimur in vetitum semper, cupimusque negata“ ist von Ovid aus den „Amores“ 3,4. „Wir streben immer zum Verbotenen und begehren das, was uns versagt wird.“ – Amores III, 4:17. Die Gleichheit: Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen (späterer Untertitel Zeitschrift für die Frauen und Mädchen des werktätigen Volkes) war eine sozialdemokratische Frauenzeitschrift, die von 1892 bis 1923 erschien.

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Kaffeeklatsch als geordnete Vereinigung von Jung und Alt, von Männern und Frauen, bei weitem vorzuziehen ist. Wenn man aber bemerken muß, wie leicht – hocus pocus – ein Berufsverein sich in einen politischen Verein verwandelt, und wie leicht ein Tanzkränzchen zur politischen Versammlung wird, so wird man darauf gefaßt sein müssen, daß die Arbeiter lieber darauf verzichten werden, mit Frauen und Kindern harmlose Feste zu feiern, und – es für geratener halten, sich mehr auf die Politik zu konzentrieren, um ihnen erwünschtere Gesetze und verständlichere Gesetzesauslegungen zu bewirken. – Wie muß es aber auf das Volksgewissen wirken, wenn jenen Auslegungen gegenüber die Thatsache bekannt wird, daß regelmäßig, schon seit Jahren, und auch in diesem Jahre 1902, in den durchaus politischen Generalversammlungen des durchaus politischen Bundes der Landwirte Frauen unbehindert teilnehmen – und andere derartige Thatsachen? Im Königreiche Sachsen ist von jeher die Absicht der Verwaltungsbehörden, das gesetzmäßige Bestehen und Gedeihen der Arbeiter-Koalitionen zu unterbinden, unverhüllter hervorgetreten, als irgendwo. Das sächsische Gesetz unterscheidet zwischen politischen und öffentlichen Angelegenheiten nicht. Minderjährige Personen sind von der Teilnahme an Vereinen, die sich mit solchen Angelegenheiten befassen, ausgeschlossen. Durch Anwendung diese Bestimmung auf Koalitionen der Arbeiter und Arbeiterinnen wird diesen der Lebensfaden durchschnitten. Wenn gleich ein Urteil des königlich sächsischen Oberlandesgerichts festgestellt hat, daß Arbeiterkoalitionen, die ... „nebenbei andere, in das Gebiet des öffentlichen Lebens fallende Zwecke nicht verfolgen, sich insbesondere nicht mit Angelegenheiten beschäftigen, welche die Verfassung, Verwaltung, Gesetzgebung des Staates, die staatsbürgerlichen Rechte der Unterthanen betreffen, nicht als unter das Vereinsgesetz fallend zu behandeln sind“ So bemerkt doch ein Kommentator des Vereinsgesetzes10 dazu naiv: „In der Praxis kommen jedoch die Verwaltungs- und Aufsichtsbehörden hierbei fast durchgängig zu einer anderen Auffassung.“ Allerdings erkennt derselbe Kommentator ganz richtig, daß die „Erstrebung günstiger Lohnund Arbeitsbedingungen .... in den weitaus meisten Fällen sich nicht auf das Privatgebiet beschränken lasse, sondern, wenn sie nicht wirkungslos bleiben wolle, das Gebiet der Sozialpolitik und damit das Gebiet der öffentlichen Angelegenheiten im Sinne des Vereinsgesetzes betreten werde.“ Die Folgerung aber, daß durch ein solches Betreten wirtschaftliche Vereine 10

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Zitiert in der Denkschrift „Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter in Theorie und. Praxis“, Hamburg 1899, S. 41. Daselbst auch das belegte Urteil des Oberlandesgerichts (von welchem Datum?) im Auszuge.

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zu politischen Vereinen werden, ist ebenso viel wert wie die Behauptung wäre, daß ein Deutscher durch das Betreten türkischen Gebietes ein Türke werde. Dennoch hat diese willkürliche Polizeifolgerung den selbständigen Zahlstellen der Gewerkschaften im Königreich Sachsen das Leben unmöglich gemacht. Der Vorwand dieser Folgerung wird aber nicht einmal immer für nötig gehalten. Denn es sind in diesem industriellen Bundesstaate „des öfteren Verbote gewerkschaftlicher Vereine damit begründet worden, daß diese sich untereinander behufs Versprechungen über konkrete Lohn- und Arbeitsverhältnisse in Verbindung gesetzt oder gemeinsame Streiksammlungen vorgenommen hatten“.11 So wurde vor einigen Jahren der Fachverein der Holzarbeiter für Tanneberg und Umgegend von der Amtshauptmannschaft Rochlitz einfach aufgelöst, weil „nach dem Ergebnisse angestellter Ermittlungen sowohl in der Person des 1. Vorsitzenden, als auch in den übrigen Vorstandsämtern wiederholter Personenwechsel eingetreten ist, ohne daß mit Ausnahme eines Falles der ausdrücklichen Vorschrift in § 19 Abs. 2 des Gesetzes über das Vereins- und Versammlungsrecht gemäß der Amtshauptmannschaft Anzeige erstattet worden wäre“. Der Paragraph betrifft Vereine, deren Zweck sich auf öffentliche Angelegenheiten bezieht – d.h. für Sachsen politische Vereine. Nun ist bekanntlich der Bundesstaat Sachsen, wie die übrigen Bundesstaaten, in denen die Koalition politischer Vereine verboten war, genötigt gewesen, dies Verbot aufzuheben. Diese Gelegenheit, das Vereinsrecht in anderer Richtung zu verbessern, wollte der sächsische Landtag sich nicht entgehen lassen. Die Verhandlungen, die infolge dieses begierigen Haschens nach dem Zipfel neuer Schlingen, um die harmloseste und natürlichste bürgerliche Freiheit einzuschnüren, stattfanden, sind für die Rat- und Hilflosigkeit einer geistlos-unzeitgemäßen Politik in hohem Grade charakteristisch gewesen. Zwischen den Jahren 1850 und 1898 waren Versammlungen hinsichtlich der Teilnehmer keinen Beschränkungen unterworfen. Die Mehrheit der II. Kammer beschloß aber am 31. März 1898 – mit 44 gegen 26 Stimmen – einen Paragraphen in das Gesetz einzuschieben, dessen erster Absatz lautete: „Personen weiblichen Geschlechtes und Minderjährigen ist die Teilnahme an Versammlungen, in denen politische Angelegenheiten erörtert werden sollen, verboten.“ 11

Schmöle, S. 159. Vgl. S. 134.

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verboten: Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtages. II. Kammer. Nr. 71. Dresden, am 31. März 1898. S. 1287 ff. Schmöle, S. 159. Vgl. S. 134.: Josef Schmöle, Die sozialdemokratischen Gewerkschaften in Deutschland seit dem Erlasse des Sozialisten-Gesetzes. Erster, vorbereitender Teil. Jena 1896.

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Die Veranstalter oder Leiter einer solchen Versammlung sollen gehalten sein, an die unberechtigten Teilnehmer vor Beginn die Aufforderung zu richten, sich zu entfernen. Bei der Beratung erklärte der nationalliberale Abgeordnete für Leipzig, er habe sich in seiner Vaterstadt, wo jährlich, abgesehen von den Wahljahren, etwa 800 Versammlungen überwacht würden, erkundigt, und es sei ihm dort von bewährten, als tüchtig anerkannten Beamten geradezu erklärt worden, daß sie im Interesse des Ansehens der Gesetze und im Interesse der Autorität der Polizei es auf das höchste beklagen würden, wenn das Gesetz zu Stande käme. Der Redner wies ferner darauf hin, daß der Begriff „politisch“ doch etwas schwankend sei. „Ich muß sagen, daß für mich diese Begriffsbildung auch nach den mitgeteilten Urteilen, zumal wenn ich mir vergegenwärtige, daß die Begriffsbestimmung gehandhabt werden soll, unter Umständen, von untergeordneten Organen der Polizei, im höchsten Grade zweifelhaft ist“... „Wenn sich der Gegenstand der Versammlung von vornherein auf eine sogenannte politische Angelegenheit bezieht, ist die Sache vielleicht weniger schwierig; da hat bei der Polizei die Anmeldung zu erfolgen, sie kann die Sache dann prüfen. Wenn aber eine Versammlung durch eine beliebige Äußerung sich hinterher zu einer politischen gestaltet, ist der überwachende Beamte, d.h. in vielen Fällen ein Schutzmann und ein Gendarm, derjenige, der zu entscheiden haben wird, ob die Versammlung eine politische geworden ist oder nicht.“ Er wies ferner auf die Lächerlichkeit der ganzen Sache hin, wenn man sie sich angewendet denke in großen Städten und Industriezentren, wo wirklich aufregende Versammlungen vorkommen möchten, und es nun gelte, zu konstatieren, ob unter den Tausenden etliche Minderjährige sich eingeschmuggelt hätten. „Ich begreife es demnach vollständig, meine Herren, wenn mir erprobte Leute gesagt haben, daß sie fürchten, wenn diese Bestimmung Gesetz wird, daß nicht nur sie selbst, sondern auch das ganze Gesetz zum Gegenstand des Hohnes werden und daß das Gesetz zur Minderung der Autorität gereichen werde.“ So weit der Justizrat Dr. Schill (Mitteilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtages im Königreich Sachsen während der Jahre 1897–1898. II. Kammer. 2. Band S. 1306 ff.). Die Regierung selbst, die königlich sächsische Regierung, widerstrebte der Neuerung. „Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten, daß die Polizeibehörden sich geradezu einer Blamage aussetzen würden, daß es lächerliche Verhältnisse herbeiführen würde, wenn sie schließlich dokumentierten, sie seien ohnmächtig, diese Bestimmungen durchzuführen;

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aber ich lege immerhin ein großes Gewicht darauf, daß man die Polizeibehörden nicht in die Lage setzt, nicht in die Verlegenheit bringt, ein Gesetz zu handhaben, welches, wie gesagt, von vornherein bezüglich seiner Durchführbarkeit erhebliche Zweifel zuläßt.“ So in derselben Sitzung der Premierminister von Metzsch. Auch der Vizepräsident Georgi äußerte sich, unter ausdrücklicher Anerkennung der Tendenzen der Mehrheit, dahin, daß die sogenannte Politik der Nadelstiche ein außerordentlich erweitertes Gebiet erlangen würde, wenn man die Vereinsgesetzgebung in dieser Weise gestaltete, und daß eine solche Gesetzgebung in der Praxis unheilvoll wirke. Aber der sehr redeeifrige „konservative“ Wortführer erklärte „seine feste unumstößliche Überzeugung, daß die ganze Lage der Verhältnisse dazu nötige, der sozialen Gefahr gegenüber einen gewissen weiteren Damm entgegenzusetzen, als er in der bisherigen Gesetzgebung geboten ist“.12 „Einen gewissen weiteren Damm“ – durch den die Wächter dieses Dammes glauben zum Gespötte zu werden! Staatsweisheit, dein Name ist Sachsen! Jedoch war diese Weisheit selbst den Herren der Ersten Kammer zu arg, die wenigstens die Annullierung des Versammlungsrechtes der Frauen verweigerten, worauf dann auch die Zweite Kammer seufzend sich bequemte, bei Ausschließung der Minderjährigen es bewenden zu lassen. Und nun die Folgen dieser Ausschließung. Wenn man sich wenigstens bemüht hätte, den Begriff der politischen Versammlung scharf abzugrenzen und den Gebrauch des Koalitionsrechtes für rein ökonomische Zwecke in loyaler Weise zu sichern! Im Gegenteil! Es sind schon recht erkleckliche Erfahrungen gemacht worden, die darthun, daß es darauf gerade abgesehen war, der Koalitionsfreiheit hinterrücks in die Kniekehle zu stoßen. War doch die ausgesprochene eigentliche Absicht der Kammermehrheit gewesen, den Minderjährigen und Frauen das Zuhören in „sozialistischen u. dgl.“ Versammlungen zu verbieten.13 „Koalition ist sozialistisch“ – ergo! Dagegen hatte in der Ersten Kammer der Kammerherr von Schönberg die Ausschließung der Frauen aus Versammlungen ehrli12 13

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Mitteilungen l.c. S. 1320 ff., 1335, 1311. Vgl. die erste Rede d. Berichterstatters der Mehrheit: Mitteilungen l.c. S. 224.

erhebliche Zweifel zuläßt: Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtages. II. Kammer. Nr. 71. Dresden, am 31. März 1898. S. 1323. Gesetzgebung geboten ist: Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtages. II. Kammer. Nr. 71. Dresden, am 31. März 1898. S. 1335 ff. Versammlungen zu verbieten: Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtages. II. Kammer. Nr. 11. Dresden, am 30. November 1897. S. 224. Rede des Abgeordneten Dr. Kühlmorgen.

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cherweise mit Hinweisung auf den § 152 bekämpft „da wir ... unmöglich in Abrede stellen können, daß die Behandlung derartiger Fragen in der Regel einen politischen Charakter annehmen muß.“14 Ferner erwarb sich die Adelskammer – ein wahrer Hort der Freiheit – das Verdienst, die Vorschrift für den Versammlungsleiter so zu fassen, daß er die Aufforderung sich zu entfernen, an die etwa anwesenden Minderjährigen zu richten gehalten sei, und nach Befinden, auf Verlangen der Abgeordneten der Polizeibehörde diese Aufforderung zu wiederholen habe: mit der Begründung, „um auch den Fall mitzutreffen, wo Minderjährige nicht schon vor Beginn der Versammlung, sondern erst während derselben sich einstellen, oder als solche erkannt werden“.15 Nichts destoweniger wurden schon infolge Teilnahme an einer Versammlung am 5. Juli 1898 (das Gesetz war im Juni publiziert) 2 junge Fabrikarbeiter zu je 10 Mark Geldstrafe oder 5 Tagen Haft verurteilt, von denen wenigstens der eine, wie in der Nachricht angegeben wird, erst später in die Versammlung gekommen war und die Aufforderung nicht gehört hatte. Bald nachher wurde in einer Leipziger Holzarbeiterversammlung ein Vortrag gehalten über „die sächsische Vereinsgesetznovelle und die Arbeiterorganisation“. Der Vorsitzende unterließ – versehentlich, wie er selbst an die „Leipziger Zeitung“ geschrieben hat – die Aufforderung. Der Polizeibeamte monierte nicht. Ob Minderjährige anwesend gewesen sind, wird nicht berichtet. Der Vorsitzende erhielt ein Strafmandat vom Polizeiamt über 20 Mark. Nun müßte man meinen, daß doch wenigstens die Minderjährigen, die einer gewerkschaftlichen Versammlung beiwohnten und nicht aufgefordert waren, die Stätte zu fliehen, daß diese an dem Verbrechen, in einer nachträglich für politisch erklärten Versammlung zugegen zu sein, völlig unschuldig wären. Aber nein! In Dresden fand im August (gleichfalls noch 1898) eine Metallarbeiterversammlung statt, in der ein Vortrag über „die Degeneration der Arbeiterklasse“ gehalten wurde. Die Polizeidirektion hat – wie die Gerichtsverhandlung später ergab – dies Thema von vornherein für politisch gehalten und in diesem Sinne die überwachenden Beamten instruiert. Einige Tage später erhielt der Vorsitzende eine auf 20 Mk., 5 junge Leute, deren Namen der Beamte in der Versammlung notiert hatte, ohne ihnen einen Grund dafür anzugeben, jeder einen auf 10 Mk. lautenden Strafbefehl. Diese Strafen wurden vom Schöffengericht bestä14 15

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Mitteilungen v.s. Erste Kammer S. 742. Drucksachen des Sächsischen Landtags 1898 Nr. 213. politischen Charakter annehmen muß: Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtags. I. Kammer. Nr. 59. Dresden, am 4. Mai 1898. S. 742.

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tigt. Das Dresdner Landgericht als Berufungsinstanz erkannte dahin, daß es allerdings aus einigen Wendungen und Sätzen die Überzeugung gewonnen habe, daß es sich um einen politischen Vortrag handelte, obwohl man diesen Eindruck nicht ohne weiteres haben könne. Indessen seien die Minderjährigen freizusprechen, weil es zweifelhaft sei, ob sie den politischen Sinn erkannt hätten, denn die politischen Wendungen seien erst am Schlusse erfolgt, „wo vielleicht aus Schläfrigkeit die nötige Aufmerksamkeit nicht mehr vorhanden war“. Prinzipiell wurde jedoch an dem Schöffengerichts-Erkenntnis festgehalten, daß junge Leute über 18 Jahre (ein Jüngerer war auch von diesem freigesprochen) wohl im stande seien zu beurteilen, ob ein Vortrag politisch sei, bezw. wann er es werde! Damit vergleiche man die Auslassungen des nationalliberalen Justizrats in der Kammer, über die außerordentliche Schwierigkeit, politische Vorträge von einem wissenschaftlichen (was z.B. der inkriminierte seinem Thema nach offenbar ist!) zu unterscheiden, und über die Gefährlichkeit, unteren Polizeibeamten (die doch in der Regel routinierte Leute sein werden) die Entscheidung darüber anheim zu geben! – Die Absicht der kgl. sächsischen Behörden geht offenbar dahin, nicht nur wie bisher jede Koalition für einen politischen Verein zu erklären, sondern von nun an auch jede Arbeiterversammlung für eine Versammlung, die politischen Zwecken diene. So fand 1899 in Groitzsch eine Versammlung von Schlossern statt. Gesprochen wurde ausschließlich über einen kleinen Ausstand, dessen Entstehung und Verlauf. Ein zufällig anwesender Leipziger Schlosser ergriff das Wort und sagte, an dem glücklichen Erfolg dieses Streikes lasse sich deutlich die Notwendigkeit der Organisation im Klassenstaat nachweisen. Der überwachende Beamte unterbrach alsbald den Redner, um den Vorsitzenden aufzufordern, die Minderjährigen zum Verlassen der Versammlung zu veranlassen. Der Gebrauch des Wortes „Klassenstaat“ hatte die Versammlung in eine politische Versammlung umgewandelt. In Radeberg mußten ebenfalls auf Verlangen des Beamten die Minderjährigen eine Ciseleur-Versammlung verlassen, in der ein Vortrag gehalten wurde über das Thema: „Der Rückgang des Kunsthandwerks und wie können wir ihn aufhalten?“ Durch welches Zauberwörtlein dieses ästhetische Thema politisch geworden ist, wird nicht berichtet. Oder ob die Polizei schon das Thema dafür angesehen hat? – Folgender Fall ist aber besonders lehrreich. In einer Versammlung von Holzarbeitern zu Spechtritz bei Rabenau forderte der überwachende Beamte die Ausweisung der Minderjährigen, weil die Versammlung „möglicherweise politisch werden könne“.

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Die Beschwerde darüber ist von der Amtshauptmannsschaft DresdenAltstadt mit folgender charakteristischer Begründung zurückgewiesen worden: 5

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„Als Punkt 1 der Tagesordnung für diese Versammlung war angemeldet: „Zweck und Nutzen der gewerkschaftlichen Organisation.“ Aus dem bisherigen Verlaufe der Arbeiterbewegung in Sachsen ist ohne Weiteres die Überzeugung zu schöpfen, daß die sogenannte Organisation der Arbeiter, namentlich auch der Holzarbeiter, in das Fahrwasser der sozialdemokratischen Partei geraten ist und von deren Agitation weniger zur Erzielung besserer Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter selbst, als vielmehr in erster Linie zur Verfolgung der den Bestand der Staats- und Gesellschaftsordnung bedrohenden politischen Ziele der Parteiführer befördert und benutzt wird. Die Annahme des Überwachenden, die Holzarbeiterversammlung ... werde politischen Zwecken dienen, erscheint hiernach ausreichend gerechtfertigt.“ Welchen unsäglichen und unendlichen Plagen, welcher kleinlichen Verfolgung die Ausübung nicht nur ihrer politischen Rechte, sondern auch des Koalitionsrechtes, den gewerblichen Arbeitern im Königreich Sachsen, einem Lande, wo diese Klasse so besonders zahlreich und für den enorm wachsenden Reichtum der glücklichen Minderheit so besonders wichtig ist, fortwährend ausgesetzt wird, davon kann man sich nach diesen Proben eine leidliche, aber noch keine genügende Vorstellung machen. Ein Stuhlbauer in Rabenau erhielt einen Strafbefehl über 20 Mark, weil er 2 Minderjährige angestiftet habe, an einer politischen Versammlung teilzunehmen. Es wäre ein wahrer Fortschritt, wenn den Ursprüngen der schwersten Verbrechen so nachgespürt würde, wie es dem Ursprunge dieses frevelhaften Versammlungsbesuches geschah. Wenn Vergnügen, die von Partei- und Wahlvereinen arrangiert werden, für „Versammlungen“ erklärt werden, so wird man das noch einigermaßen verstehen können, wenn es auch von der Meinung des Gesetzgebers weit sich entfernen möchte. Daß aber auch Bildungsvereine, Turnvereine u. dgl. kein Tänzchen oder Picknick unternehmen dürfen, ohne daß diese den Stempel „Versammlung eines politischen Vereins“ erhalten, gehört schon zur höheren Magie der Gesetzesauslegung. In Oschatz gab es einen Arbeiterverein, der auch das Turnen und die gesellige Unterhaltung pflegte. Er erhielt Befehl, die Minderjährigen bei Strafe der Auflösung aus dem Verein zu entfernen, auch soweit es sich um das Turnen oder Vergnügen handele. (Da der Verein vermutlich auch Politik getrieben hat, so war dagegen nichts einzuwenden, denn die Teilnahme Minderjähriger an politischen Vereinen war auch früher schon

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verboten.) Die Leiter des Vereins beschlossen nun, die geselligen Zwecke scharf von den politischen zu trennen, sie gründeten daher für jene einen besonderen Verein unter dem Namen „Bildungsverein Oschatz und Umgegend“; statuarisch wurde festgesetzt, daß irgend welche politische Bestrebungen im Verein ausgeschlossen sei. Das Statut war dem eines Dresdner Bildungsvereins nachgebildet: zum Überflusse stand darin, Förderung der „gesellschaftlichen Interessen“ solle nicht so aufgefaßt werden, als ob die Mitglieder in Gegensatz zu anderen Gesellschaftsschichten gebracht werden sollten. Das Statut wird dem Stadtrat eingereicht. Dieser erklärt: Ganz egal; ist politischer Verein. Es findet ein Vergnügen statt, an dem Minderjährige teilnehmen. Folgt Strafantrag gegen den Vorsitzenden; Verhandlung des Schöffengerichtes. Ein Minderjähriger wird als Zeuge vernommen. Inquisition: Ob denn nicht nach dem Turnen vorn in der Gaststube des Deutschen Hauses manchmal von Politik gesprochen werde, da das doch der Deutsche so gewohnt sei? Wird verneint. Ob denn nicht, da die Landtagswahl vor der Thür stehe, von dieser gesprochen werde? Wird verneint. Gleichwohl plädiert der Amtsanwalt: Unzweifelhaft sei der Verein ein politischer, denn 1. seien die Vorstandsmitglieder größtenteils Anhänger der Sozialdemokratie, da sie auch dem politischen Arbeiterverein angehörig, 2. habe der zweite Vorsitzende erklärt, das Amt eines ersten Vorsitzenden nicht annehmen zu wollen, da er zu bekannt sei, nämlich als Sozialdemokrat; damit habe er nur sagen wollen, daß es dann gleich offensichtlich wäre, daß der Verein ein politischer sei; wenn man einem anderen das Amt gebe, so werde das besser vertuscht (dies hatte jener Mann nicht etwa gesagt, sondern der Ankläger unterstellte es als des Mannes Meinung), 3. habe der Bildungsverein die – Turngeräte von dem politischen Verein übernommen und zwar an Zahlungstatt. Das Schöffengericht ließ sich auf die Beweiskraft dieser Argumente nicht ein. Es verurteilte einfach aus dem Grunde – weil das Turnen als eine öffentliche Angelegenheit zu betrachten sei (30 Mark oder 10 Tage Haft). Der Bildungsverein sei einfach eine Jugendabteilung des politischen Arbeitervereins, beide Vereine seien ihrem Wesen nach identisch. In der Berufungsinstanz erkannte das Leipziger Landgericht: daß die Vereine identisch seien, dürfe zwar nicht gefolgert werden. Allerdings sei aber der wahre Zweck des neuen Vereins aus anderen Umständen als aus dem Statut zu ermitteln. Da sei zunächst die ganze Vereinsgründung, das Motiv der Gründung und die partielle Anteilnahme der Arbeitervereinsmitglieder an dem neuen Verein und das „Manöver mit den Turngeräten“ maßgebend gewesen. Aus diesem inneren und partiellen Zusammenhang beider Vereine sei die Folgerung zu ziehen, daß der Bildungsverein denselben Zweck wie der Arbeiterverein verfolge, die Sozialdemokratie zu fördern. Dadurch werde

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der Verein ein solcher, der sich mit Politik befasse; Politik ist aber eine öffentliche Angelegenheit, somit unterstehe der Verein auch dem Vereinsgesetz. Die Berufung wird verworfen. Es ist nicht ohne Interesse, die Kunst des ersten mit der des zweiten Richters zu vergleichen. Gemeinsam ist beiden jene unerschütterliche Überzeugung, die sich in Anwendung auf eine andere Art der Verfolgung durch den Gedanken kundgiebt: „Unter allen Umständen muß der Jude verbrannt werden.“ Sei es nun, daß der Jude öffentlich turnt – sei es, daß er in partiellen und inneren Zusammenhängen stehe – es hätte sich auch noch ein anderer Grund gefunden. Aber einen Juden beim Schopfe haben und ihn nicht zu verbrennen? Das wäre offenbar politisch unklug. Alle Verfolger, von den Inquisitionsrichtern bis zu den Demagogenriechern, haben so gedacht. Es liegt in ihrer Natur, so zu denken. – Der Wortführer der Mehrheit der Zweiten Kammer sprach bei jener Beratung über die Wirkungen des neuen Paragraphen sich folgendermaßen aus: „Der § 152 der Reichsgewerbeordnung sichert auch dem jugendlichen Arbeiter in weitestgehender Weise das Recht, seine wahren Interessen zu vertreten. Insbesondere sichert der § 152 auch davor, daß das Vereins- und Versammlungsrecht für jugendliche Arbeiter eingeschränkt werde in einer Weise, die geeignet sein könnte, berechtigte Interessen der jugendlichen Arbeiter zu beeinträchtigen. Wenn diese Anträge angenommen werden, würden Sie sich daher durchaus der Besorgnis entschlagen können, daß damit irgend welche Rechte der Arbeiter, und namentlich der jugendlichen Arbeiter, getroffen werden könnten.“16 Die Beweggründe dieses hervorragenden Politikers (Opitz heißt er) liegen ohne Zweifel sehr tief. Daß er aber zu der Mißhandlung, die er in seinem tiefen Verstande für politisch notwendig hält, einen so kalten, erbarmungslosen und so zwecklosen Hohn hinzufügt, das hat keinen Anspruch mehr darauf, sich mit einem Scheine von Staatsklugheit zu bekleiden. Es muß bloßgestellt werden; das wird genügen. Ein etwas seltsamer Zustand herrscht seit etwa 2 Jahren im Großherzogtum Sachsen-Weimar, dem kleinen Staate, der durch seinen Geist allen anderen lange vorangeleuchtet hat und auch heute noch in anderen Beziehungen einer einsichtigen und volksfreundlichen Regierung sich 16

Mitteilungen l.c. S. 1332.

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muß der Jude verbrannt werden: Zitat aus der Zeitschrift „Die Gleichheit“, 1895, Jg. 5, Nr. 15, S. 120. Ursprung: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise – 4. Akt, IV,2: Der Tempelherr beim Patriarchen, Zweiter Auftritt, „PATRIARCH. Tut nichts! der Jude wird verbrannt!“ getroffen werden könnten: Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtages. II. Kammer. Nr. 71. Dresden, am 31. März 1898. S. 1293. Rede das Abgeordneten Opitz.

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erfreut. Wie die meisten Staaten des ehemaligen Deutschen Bundes sah sich Sachsen-Weimar genötigt, in Ausführung des Bundestags-Beschlusses vom 13. Juli 1854 das Vereinswesen durch eine strenge Verordnung zu regeln, die am 4. April 1856 erlassen wurde. Diese Verordnung wurde unter dem 15. September 1868 aufgehoben. Seitdem besitzt Sachsen-Weimar ein Vereinsrecht nicht, während fast alle übrigen Staaten, die nicht wie Preußen und Sachsen schon früher mit den Grundrechten von 1848 aufgeräumt hatten, sich die schöne Erinnerung an den seligen Bundestag warm gehalten haben. Regierung und Landtag in Weimar einigten sich bei der Aufhebung dahin, daß ein unmittelbar dringendes Bedürfnis zur gesetzlichen Neuregelung des Vereinswesens gemäß seitheriger Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen nicht vorliege. Hingegen ist, trotz vielfacher Anfechtung, ein aus derselben Restaurationszeit stammendes Gesetz vom 7. Januar 1854 bestehen geblieben, das die Polizeibehörden befugt, „wenn dringende Gründe des öffentlichen Wohles oder Abwendung von Gefahren für das Leben, die Gesundheit oder das Vermögen es erheischen, und insofern dadurch bestehende Landesgesetze nicht verletzt werden, Gebote und Verbote mit Strafandrohung zu erlassen“. Sodann sind 1814, 1815 und 1890 Ministerialverordnungen hinzugetreten, wonach bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit die Abhaltung einer Versammlung zu politischen, sozial- und kirchenpolitischen Zwecken von der Polizeibehörde vor dem Zusammentreten der Versammlung untersagt werden kann. Der Landtag hatte im Jahre 1868 auch die Aufhebung jenes Strafgewalt-Gesetzes beantragt – gestützt auf eine mit vielen Unterschriften aus verschiedenen Landesteilen eingereichte Petition. Ein Staatsbeamter erklärte in der Sitzung, es sei für ihn ganz außer Zweifel, daß jenes Gesetz den Polizeibehörden ... eine maßlose Gewalt und Zuständigkeit gebe, man könne sagen, nahezu eine Gewalt über Leben und Tod. Wenn gleichwohl die Aufhebung unterblieb, so wollten doch sichtlich die genannten Ministerialverordnungen diese Gewalt in Bezug auf die Versammlungsfreiheit limitieren, indem sie deutlich zu sagen scheinen: „nur bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit“.17 17

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Verhandlungen des XXVIII. ordentlichen Landtages im Großherzogtum SachsenWeimar-Eisenach. Schriftenwechsel S. 1024 ff. 1868 aufgehoben: Regierungs-Blatt für das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach. 52. Jg. Nummer 36. Weimar. 1. Oktober 1868. S. 351. öffentliche Ordnung und Sicherheit: Verhandlungen des XXVIII. ordentlichen Landtags im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Weimar 1900, 1. Schriftenwechsel, S. 1024 ff.

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Dem vor 2 ¼ Jahren in das Ministerium eingetretenen Departementschef des Innern ist es vorbehalten gewesen, zu entdecken, daß eine solche spezielle dringende Gefahr überall da vorhanden sei, wo man der politischen Richtung der Versammlungberufer wegen allgemein zu behaupten sich unterfangen könne, daß irgendwelche Gefahr vorhanden sei. Mit anderem Worte, er konstruiert sich aus der für Ausnahmefälle reservierten Befugnis der Behörden ein regelmäßiges Ausnahmegesetz, und – die Mehrheit des Landtages steht ihm dabei zur Seite. Allerdings war schon im Jahre 1890, offenbar zum Ersatze des Sozialistengesetzes, eine allgemeine Direktive gegeben worden, wie sich jene Bestimmung zur Verhinderung gewerbsmäßiger Agitation für Verbreitung der Lehren der Sozialdemokratie auf dem Lande gebrauchen lasse, auch in den Städten wollte schon damals das Ministerium eine Gefahr für die öffentliche Ordnung (dringende?) anerkennen, wenn besonders aufreizende Themata behandelt würden, oder wenn Redner auftreten sollten, die wegen ihrer hetzerischen Redeweise bekannt wären. Der Departmentschef läßt nun die Ortspolizeibehörden nach Laune jede Versammlung verbieten, die für sie einen sozialdemokratischen Geruch hat, dazu gehören dann auch solche, für die ein Vortrag über Goethe angekündigt wird, solche, die von Nationalsozialen berufen werden, politische Versammlungen, gewerkschaftliche Versammlungen – alles egal. Die Versammlungsfreiheit ist für einen großen Teil der Staatsbürger im Großherzogtum, ohne Rücksicht auf die in der Gewerbeordnung des Reiches garantierten Rechte, dem Effekte nach vernichtet. Am 5. Dezember 1899 hat in dem sonst stillen Landtage eine große Verhandlung über den Gegenstand stattgefunden.18 Interessant ist darin das verschiedene Verhalten von zwei Vertretern der Regierung. Der Departementschef beruft sich auf den Erlaß seines Vorgängers und auf die beregten speziellen Verordnungen über die Zulässigkeit des Verbotes von Versammlungen: also „dringende Gefahr etc.“ Der Geheime Regierungsrat, dem die Aufgabe zufällt, die Verwaltungsgrundsätze gegen heftige Angriffe nationalliberaler, freisinniger und des sozialdemokratischen Mitgliedes zu rechtfertigen, beruft sich – implizite die Unhaltbarkeit jener Begründung einräumend – darauf, daß – nach dem Gesetze von 1854 (das die maßlose Gewalt und Zuständigkeit aussprach) – Versammlun18

Landtagsverhandlungen v.s. Stenographische Protokolle S. 1254 ff.

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über den Gegenstand stattgefunden: Protokolle über die Verhandlungen des XXVIII. ordentlichen Landtags im Großherzogtume Sachsen-Weimar-Eisenach. Weimar 1900, S. 1254 ff. Protokoll der einundsechzigsten Sitzung. Weimar, den 5. December 1899.

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gen verboten werden können (in Wahrheit irgend welche Verbote erlassen werden können), wenn „dringende Gründe des öffentlichen Wohles“ es erheischen. „Das ist etwas ganz anderes, es kann also in Bezug darauf die Argumentation nicht angewandt werden, und also kann man auch daraus nicht den Schluß ziehen, wie man es gethan.“ Der Herr hat durchaus recht. Das Gespenst des seligen Bundestages wird sich immer am allerbesten eignen, politische Kinder einzuschüchtern. Die Herren der Metternichschen Schule und Tradition waren ihren Nachahmern von heute in der Konsequenz und – in der Feinheit weit überlegen. Sie hatten ja auch glänzende Erfolge für sich aufzuweisen. Die von ihnen mit so heiligem Eifer beschützte Staatsordnung vor dem Umsturz zu retten – wie, es gelang ihnen doch? – Es gelang ihnen nicht?! Diese Staatsordnung ging zweimal innerhalb 50 Jahren und das zweite Mal für immer in die Brüche? Auch unter den konservativsten Deutschen ist das Andenken des Deutschen Bundes verrufen und geschändet?! Aber das ist ja schrecklich. Unser Departementschef muß damals noch nicht gelebt haben, oder noch zu sehr in jugendlichem Alter gewesen sein. Nach dem ganzen Ton und Stile seiner Reden zu urteilen, wäre ihm es ohne Zweifel gelungen, den Drachen der nationalen Bewegung zu bändigen!19

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Es ist aus den Zeiten religiöser und anderer Verfolgungen eine bekannte Erfahrung, daß die amtliche Thätigkeit im Dienste der Verfolger eine absonderlich demoralisierende Wirkung auf subalterne Naturen hat, und daß sie solche Naturen züchtet, wo sie nicht schon vorhanden sind. Einen neuen Beleg dafür giebt ein Histörchen, das in jener Weimarischen Landtagssitzung ein Abgeordneter zum Besten gegeben hat, und das wir um so mehr für wert halten, der Vergessenheit entzogen zu werden, da ein zweiter Abgeordneter die Wahrheit bestätigt hat. In Oldisleben wurden mehrere Männer, die offen der deutsch-freisinnigen Partei angehörten, beim dortigen Krieger- und Schützenverein als Sozialdemokraten denunziert (durch anonyme Briefe). Sie ermittelten als Urheber einen Kutscher und verklagten ihn. Der Schutzmann des Ortes beschwor, jene Männer seien Sozialdemokraten, denn der Abg. Baudert, den er scharf zu beobachten gehalten sei, verkehre, so oft er nach O. komme, nur bei denen und gehe bei ihnen aus und ein. Gegen den Schutzmann wurde Anzeige wegen Meineides erstattet und er wurde des Meineides überführt. (Der Staatsanwalt beantragte 4 Monate Gefängnis – einen Monat mehr als die Strafe, die auf den Gebrauch des Wortes Streikbrecher durch streikende Arbeiter gesetzt zu werden pflegt; zwei Monate weniger als im November 1898 gegen den Maurer erkannt wurde, der gedroht hatte, wenn ihm und seine Kollegen der bisherige Lohn nicht gezahlt werde, dafür zu sorgen, daß der Bauherr keine Arbeiter wieder erhalte; und dieser Verurteilung wegen – Erpressung fügte das Dresdner Landgericht noch 3 Jahre Ehrverlust hinzu!) Zu seiner Verteidigung sagte der Schutzmann: „Ja es geht doch gegen die Sozialdemokratie,“ worauf der Gerichtspräsident ihn denn doch bedeutete: „Ja denken Sie denn, gegen die Sozialdemokratie ist alles erlaubt?“ – Die große Gefahr, die der Amtseid an und für sich schon in sich trägt, wird durch eine solche Idee allerdings in furchtbarer Weise erhöht.

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Wenn also die beiden größeren sächsischen Staaten sich auszeichnen durch barsche und unsoziale Behandlung der Arbeiterrechte, so ist damit nicht gesagt, daß nicht andere Bundesstaaten mit ihnen wetteifern. Besonders wird der Teilnahme von Frauen an den Arbeiterverbänden alles Mögliche und – scheinbar Unmögliche in den Weg gelegt. Was soll man sagen, wenn ihnen schon die Teilnahme an Versammlungen untersagt ist, in denen „öffentliche Angelegenheiten“ erörtert werden und wenn jede Agitation, die auf Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ausgeht, als öffentliche Angelegenheit interpretiert wird? So wurden neuerdings – im Oktober 1901 – an mehreren Orten im Herzogtum Braunschweig Versammlungen von Fabrik-, Land-, Hilfsarbeitern und -Arbeiterinnen unterbrochen und verhindert, weil eine Frau als Referent auftreten wollte über das Thema: „Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen und wie ist dieselbe zu verbessern?“ – Das braunschweigische Vereinsgesetz vom 4. Juli 1853 hat aber seine Spezialität, indem nach ihm schlechtweg in öffentlichen Versammlungen, in denen öffentliche Angelegenheiten verhandelt werden sollen, wenn sie in geschlossenen Räumen abgehalten werden, „Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge nicht zuzulassen“ sind (§ 14). Das Verwaltungsstreitverfahren soll über diese Fälle eingeleitet sein. („Die Gleichheit“ 6. November 1901). Wenn wirklich den Frauen die Teilnahme an Versammlungen, in denen ihre wirtschaftliche Lage besprochen wird, verboten bleiben sollte, so würde das in der That heißen, daß trotz des § 152 der Reichsgewerbeordnung nicht alle Verbote gegen Verabredungen u.s.w. aufgehoben sind, daß also das Herzogtum Braunschweig dem Reichsrecht sich bewußt widersetzt. Von den alten süddeutschen Staaten ist es nur Bayern, das hin und wieder durch polizeiliche Verfügungen und Gerichtserkenntnisse an die in Norddeutschland geübte Praxis erinnert, und dann sind es zumeist Fälle, deren juristische Exaktheit wenigstens zugegeben werden muß, oder solche, wo eine begreifliche Unklarheit herrscht, wie es hinsichtlich der Rechte der Frauen der Fall sein konnte, die durch eine einsichtige Novelle zum Vereinsgesetz im Jahre 1898 dahin erweitert wurden, daß ihnen die Teilnahme an öffentlichen politischen Versammlungen ausdrücklich gestattet ist, während freilich die Mitgliedschaft an politischen Vereinen, daher auch Teilnahme an den Versammlungen solcher Vereine, nach wie vor verwehrt bleibt. Früher war die Auslegung kontrovers – ob nämlich das Verbot auch auf öffentliche Versammlungen sich erstrecke –, dieser Zweifel ist zu Gunsten der Frauen beseitigt worden; daß aber nun gelegentlich

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Lehrlinge nicht zuzulassen: Gesetz- und Verordnungs-Sammlung. No. 37. Braunschweig, 16. Juli 1853. S. 186.

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versucht wird, Versammlungen, die von einer Partei berufen wurden, als Vereinsversammlungen aufzufassen, muß im Vergleiche mit den bisher erörterten Fällen geringfügig erscheinen. Mehr als Kuriosum verdient aber ein vor kurzem bekannt gewordenes Erkenntnis des Polizeisenates der alten und weisen Stadt Nürnberg erwähnt zu werden. Dort besteht seit lange ein Verein der Brauer, der lediglich Unterstützungszwecken dient. Dieser Verein hatte sein Statut dahin geändert, daß jeder, der Mitglied werden wollte, Mitglied des Zentralverbandes der deutschen Brauer und Berufsgenossen sein müsse. Der Polizeisenat hat nun mit sehr umständlicher Motivierung sich dahin ausgesprochen, daß jener Verein durch diese Aufnahmebedingung ein politischer Verein geworden sei. Denn der Verband der deutschen Brauer sei eine der unter dem Namen Gewerkschaften bekannten Vereinigungen und verfolge als solche auch politische Ziele. Alle Gewerkschaften seien nämlich Hilfsorganisationen der sozialdemokratischen Partei. Um dies zu erhärten, wird zunächst auf Protokolle der sozialdemokratischen Parteitage verwiesen, unter anderen auf einen Antrag von 7 Parteigenossen, der verlangte, daß in Lübeck auf die Tagesordnung gesetzt werde: „Die Gewerkschaften und deren Verhältnis zur sozialdemokratischen Partei“ – dieser Antrag fand nicht die nötige Unterstützung und kam nicht zur Verhandlung. Hieraus jene Folgerung zu gewinnen, ist schon ein hübscher Beweis von Urteilskraft. Nun soll aber auch bewiesen werden, daß „das Umgekehrte“ der Fall sei, daß die Gewerkschaften selber sich mit der politischen Partei solidarisch erklären. Zu diesem Behuf wird eine lange Kongreßresolution mitgeteilt, in der es u.a. heißt, daß der notwendige und unvermeidliche Klassenkampf nur unter engem und bewußtem Anschluß an die Grundsätze der sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit Aussicht auf Erfolg geführt werden könne. „Dieser Resolution gegenüber,“ meinen dann die Polizeiweisen, „kann ernsthaft nicht bestritten werden, daß die sogenannte gewerkschaftliche Arbeiterbewegung und die Bewegung der sozialdemokratischen Partei, unbeschadet der Verschiedenheit ihrer äußeren Erscheinungsformen, doch im Grunde ein und dasselbe sind“ u.s.w. Ein sozialpolitisch halbwegs Kundiger sieht auf den ersten Blick, was zum Überflusse ausdrücklich dasteht, daß die Resolution von einem Kongresse der „Lokalorganisierten“ herstammt und daß der löbliche Polizeisenat die Meinung hegt, diese seien „die Gewerkschaften“ – obgleich sie als Sonderbündler von dem Gros der Gewerkschaften (wozu natürlich auch der Zentralverband der Brauer gehört) gerade

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sozialdemokratischen Partei: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Lübeck vom 22. bis 28. September 1901. Anträge. Tagesordnung. Nr. 12., Berlin 1901, S. 87 ff.

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durch jenen ausgesprochenen politischen Standpunkt sich unterscheiden und sich unterscheiden wollen! Wenn eine so grobe Unkenntnis der Thatsachen mit einer scharfen Tendenz sich verbindet, so muß wohl ein artiger Wechselbalg die Frucht der Verbindung sein. Aus den übrigen süddeutschen Staaten verlautet fast nichts von Beeinträchtigung des Vereins- und Versammlungsrechtes der Arbeiter. Man glaubt in einer anderen Welt zu leben. Unangefochten und ohne Schaden spielen sich dort dieselben Vorgänge ab, die in dem kleinen Sachsen-Weimar „eine dringende Gefahr für die Ordnung, Ruhe und Sicherheit“ bedeuten sollen, die man in den preußischen und sächsischen Königreichen mit unausgesetztem Mißtrauen beobachtet, mit immer neuen Netzen zu umstricken bemüht ist. Und können wir es für zufällig halten, daß gerade in Hessen, in Baden, in Württemberg, die staatlichen Fabrikinspektoren das Vertrauen der Arbeiter gewonnen haben, und daß die Inspektoren den erziehlichen Einfluß der Gewerkschaften auf den Geist und die Sitten der Arbeiter nachdrücklich rühmen? Es ist sicherlich kein Zufall. Denn jene polizeiliche Willkür und juristische Mißgunst ersticken alles Vertrauen, und lähmen den erziehlichen Einfluß. Im starken Gegensatze zum benachbarten Baden steht nun aber das Reichsland Elsaß-Lothringen. Freilich daß im Staate des Diktaturparagraphen ein einigermaßen freies Vereins- und Versammlungswesen, daß doch den deutsch-freundlichen Gesinnungen mindestens ebenso sehr wie den feindlichen zu gute kommen würde, sich nicht entfalten kann, braucht nicht ausgeführt zu werden. Aber man könnte doch erwarten, daß die Bestimmungen der Reichsgesetzgebung hier gerade am wenigsten zu Gunsten veralteter Satzungen des Staates, dem diese Lande ehemals angehörten, hintangesetzt würden. Das Gegenteil ist der Fall. Nach dem französischen Gesetz vom 10. April 1834 in Verbindung mit den Artt. 292-94 des Code pénal sind alle Vereine von mehr als 20 Mitgliedern der polizeilichen Genehmigung unterworfen. Thatsächlich haben sich jahre20

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Elsaß-Lothringen: Der folgende Abschnitt ist eine Zusammenfassung des Artikels „Das Koalitionsrecht in Elsaß-Lothringen.“ Von Ernst Fr. Deinhardt in: Zeitschrift „Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands.“, Nr. 42. 11. Jahrgang, Hamburg, 21. Oktober 1901, S. 685 ff. Code pénal: [frz.] Strafgesetzbuch; ist seit über 200 Jahren der Name des französischen Strafgesetzbuchs und damit die Kodifizierung des Strafrechts Frankreichs. polizeilichen Genehmigung unterworfen: Die 20 Personen stehen allerdings im Artikel 291 des „Code pénal 1810“: Article 291. Nulle association de plus de vingt personnes, dont le but sera de se réunir tous les jours ou à certains jours marqués pour s’occuper d’objets religieux, littéraires, politiques ou autres, ne pourra se former qu’avec l’agrément du gouvernement, et sous les conditions qu’il plaira à l’autorité publique d’imposer à la société.

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lang die Arbeiterverbände diesem Rechte fügen müssen. Die Praxis der Behörden, von der nun wenigstens hätte verlangt werden dürfen, daß sie Vereinen nach § 152 G.O. die Genehmigung als eine selbstverständliche gewährte, die Genehmigung also als Formalität betrachtete, ist in Wirklichkeit eine höchst mannigfache und nach polizeilichen Grundsätzen willkürliche. Auch die Gerichte fassen die Rechtsfrage in entgegengesetztem Sinne auf. Das Metzer Landgericht hat am 1. August 1899 im Sinne des Reichsrechtes erkannt. Eine Anklage gegen eine Filiale des Maurerverbandes, die trotz versagter Genehmigung fortbestand, fiel durch. Das Erfordernis der Genehmigung wurde ausdrücklich in Abrede gestellt. Gleichwohl hielten neugegründete Zahlstellen nach wie vor für geraten, sich der Genehmigung zu versichern. Und – sie wird aufs neue verweigert. So einer Zahlstelle des Holzarbeiterverbandes in Schiltigheim zu Anfang des Jahres 1900. Das Ministerium bestätigt auf erhobene Beschwerde das Verbot. Die Arbeiter erklären, daß sie auf Grund des Gesetzes und des Metzer Erkenntnisses den Verein weiterführen werden. Nun ergeht unter Strafandrohungen die Aufforderung, daß der Verein sich auflösen solle. Auf das französische Vereinsrecht gegen die Reichsgewerbeordnung sich zu berufen, hielt die Behörde in diesem Falle nicht für angezeigt. Sie mußte also einen neuen Grund hervorsuchen. Sie erklärte also, daß die Zahlstelle von seiten der Behörde „nicht als unter § 152 der Gewerbeordnung fallend betrachtet werde, da angenommen wird, daß die in den Satzungen vorgesehenen wirtschaftlichen Bestrebungen nur vorgeschützt sind, während der Verein in Wirklichkeit politische Ziele verfolgt“. Kurz darauf erklärt der Bezirkspräsident den Verein für aufgelöst. Strafanzeigen erfolgten aber, obgleich der Verein „in ostentativer Weise“ fortfuhr Beweise seines Daseins zu geben, nicht, sondern nur wiederholte Auflösung der Versammlungen. Gerichtliche Entscheidungen wurde also in diesem Fall vermieden.20 In einem anderen, neueren Falle ist dagegen eine solche gesucht und diesmal – im Widerspruch mit der früheren – nach dem Wunsche der Polizei gefunden worden. Ein im Jahre 1897 gegründeter Verband der Textilarbeiter Elsaß-Lothringens hatte im Jahre 1899, zwei Jahre nach der Eingabe, die Genehmigung des Bezirkspräsidenten für den Oberelsaß erhalten, jedoch nur mit der Bedingung, daß ausschließlich männliche Reichsangehörige, die das 18. Lebensjahr überschritten haben, Aufnahme finden dürften – die Statuten mußten also in diesem Sinne abgeändert werden. Und dabei ist bekanntlich in den Textilindustrieen mehr als die Hälfte des Personals weiblich! Nun beschloß im Jahre 1901 der Ver20

Korrespondenzblatt der Generalkommission vom 21. Oktober 1901, S. 687.

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band, seine Statuten im reichsgesetzlichen Sinne abzuändern, um dann mit dem Allgemeinen deutschen Zentralverband sich auf den Fuß der Gegenseitigkeit zu stellen. Er suchte um die Genehmigung des neuen Statuts nach. Eine Antwort ging nicht ein. Darauf beschloß der alte Verband sich aufzulösen, und Filialen des deutschen Zentralverbandes zu bilden. Die in Mühlhausen begründete wurde aufgefordert, die vereinspolizeiliche Genehmigung nachzusuchen, und zugleich wurde diese davon abhängig gemacht, daß die Mindestzahl der Mitglieder 40 betrage und daß die frühere Beschränkung auf großjährige Männer wiederhergestellt werde. Die Filiale kehrt sich daran nicht. Nun erfolgt Auflösung einer Versammlung, Anklage gegen die Leiter und den Gastwirt. Verhandlung vor der Strafkammer des Landgerichtes Mülhausen im November 1901. Ergebnis: Verurteilung der Angeklagten. Gründe: der § 152 wolle „die Arbeiter“ (als ob er nur für diese gültig währe) keineswegs vereinsrechtlich privilegieren und beabsichtigte durchaus nicht, dieselben in vereinsrechtlicher Beziehung besser zu stellen als die übrigen Staatsangehörigen. „In denjenigen Bundesstaaten,“ heißt es dann, „in denen alle Vereine der polizeilichen Genehmigung bedürfen, besteht also die Koalitionsfreiheit nur insoweit, als die Verwaltungsbehörde nicht berechtigt ist, die Genehmigung eines lediglich auf Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen gerichteten Vereins ... mit Rücksicht auf den Zweck desselben zu verweigern.“ – Also wohl aus jedem anderen Grunde oder unter jedem anderen Vorwande! Ein sehr auffallendes Urteil. Man darf nun auf die Entscheidung des Reichsgerichtes gespannt sein, die ohne Zweifel solizitiert werden muß. Von den ganz kleinen und kleinlichen Mitteln, ebenso wie von den erklärtermaßen widerrechtlichen Mitteln, wodurch Behörden sich angelegen sein lassen, das Leben der Arbeitervereine zu ersticken und ihre Versammlungen zu hintertreiben, soll hier nur im Vorübergehen Erwähnung geschehen. Als widerrechtlich gestempelt sind die Versuche, gewerberechtliche Koalitionen als private Versicherungsanstalten zu behandeln. Schon in den Jahren 1888 und 1889 haben mehrere Erkenntnisse des Oberverwaltungsgerichtes für Preußen diesen Weg abgeschnitten (Entsch. Bd. 17 § 403 ff., 423 ff.). Der Verfolgungseifer hat sich aber durch diese unzweideutigen Erkenntnisse nicht beschwichtigen lassen; „es wurden die Gewerkschaften nach wie vor mit Anklagen und Strafmandaten überhäuft“.21 Eine Reihe von über­­einstimmenden Urteilen der ordentlichen Gerichte schloß sich wäh21

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So heißt es in der „Denkschrift der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch­ lands“ über „Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter in Theorie und Praxis“, Hamburg 1899, S. 69.

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rend der folgenden Jahre den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen an, darunter eins des Kammergerichtes (25. Juli 1890) und des Oberlandesgerichtes Breslau (24. Oktober 1890). Noch in den letzten Jahren hat es an neuen Versuchen in gleicher Richtung nicht gefehlt. Denn – wie gewöhnlich in diesen Fragen, deren Wesen durch unsachliche Tendenzen getrübt wird – es standen andere Erkenntnisse höherer Gerichte den Attentaten zur Seite.22 Nicht zum Überflusse ist also durch das neue Privatversicherungsgesetz vom 12. Mai 1901 von Reichswegen erklärt worden (§§ 1, 2) daß „Personenvereinigungen, die ihren Mitgliedern Unterstützungen gewähren, ohne ihnen einen Rechtsanspruch darauf einzuräumen, keine Versicherungsunternehmen sind“. Man sollte meinen, die Sache sei nun klipp und klar, und die Diener des Staates hätten noch etwas anderes zu thun, als mit einer so ausgemachten Sache die Gerichte immer von neuem zu behelligen und den Arbeitervereinen immer von neuem zu zeigen, daß sie sich keiner Gunst noch Gnade zu versehen haben. Zwar daß die bayerische Bureaukratie nachhinkt, und nun gerade die gewerkschaftlichen Zahlstellen auffordert, „zwecks Klarstellung des Geschäftsplanes ihres Betriebes umgehend die auf Grund des Privatversicherungsgesetzes erforderlichen Angaben zu machen“, wird am wenigsten wundernehmen; denn in keiner Bureaukratie herrscht (wie man wohl als bekannt voraussetzen darf) ein so dürrer Formalismus wie in der bayerischen. Aber auch preußische Staatsanwaltschaften können immer noch nicht sich entschließen, das Versicherungsschaf ungeschoren zu lassen. So mußte noch anfangs Dezember 1901 ein Urteil der Strafkammer zu Magdeburg in Berufungsinstanz den alten Spruch noch einmal 22

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Man vergleiche die eingehende und sorgfältige Darstellung Schmöles a.a.O., S. 174-201 und sein Urteil S. 183: „Die obigen Ausführungen werden genügen, um darzuthun, daß es sicherlich um so besser gewesen wäre, wenn ein Hereinziehen versicherungsrechtlicher Begriffe in die Beurteilung der Gewerkschaften nicht stattgefunden hätte, da dem Vorgehen auf Grund des Versicherungsrechtes noch ungleich mehr als der Handhabung der Vereinsgesetze der Stempel der Willkürlichkeit aufgedrückt erschien.“ Über die Unsicherheit und die Schwankung in der Rechtsprechung ib. 184 ff.

Attentaten zur Seite: Entscheidungen der Kammergerichte und Oberlandesgerichte aus der Zeit sind veröffentlicht in: Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen, Reinhold Johow (Hg.), 10. und 11. Band, Berlin 1891 und 1892. Quelle: Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen, Reinhold Johow (Hg.), 8. Band, Berlin 1889, S. 215 ff. keine Versicherungsunternehmen sind: Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen. In: Deutsches Reichs-Gesetzblatt Band 1901, Nr. 18, Berlin 1901, Seite 139173, Fassung vom 12. Mai 1901, Bekanntmachung am 22. Mai 1901.

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sprechen. Diesmal war es der Zentralverband deutscher Schuhmacher, der in dem Verdachte gestanden hatte, ohne polizeiliche Genehmigung eine Versicherungsanstalt zu betreiben. Zu gleicher Zeit ist in Braunschweig die Zahlstelle des Verbandes der Tabakarbeiter einfach aufgelöst und der Vorsitzende des Gesamtverbandes unter Anklage gestellt worden wegen Errichtung einer Versicherungsanstalt ohne Genehmigung der vorgesetzten Behörde. Über den Ausgang dieser Sache – die Verhandlung wurde im November ausgesetzt – haben wir seither nichts erfahren. Die Anklage dürfte zur Charakteristik genügen. Man empfängt oft den Eindruck, als gelte es schon für hohe Politik der Staatsanwaltschaften, selbst wenn sie des Mißerfolges sicher sind, gegen Arbeiter anklagend vorzugehen – ja als sei ihnen zur Pflicht gemacht, sich in dieser Hinsicht durch nichts beirren zu lassen, nicht durch Reichsgesetze, nicht durch Erkenntnisse höchster Gerichte, geschweige denn durch die gesunde Vernunft und Logik. – Anklagen, auch wenn sie abgeschlagen werden, sind doch immer Schröpfköpfe und entziehen den Verfolgungsobjekten Blut. Darauf eben scheint es abgesehen zu sein. Um so auffallender ist das Verhalten der Anklagebehörde gegen andere Kategorieen von Staatsbürgern, z.B. gegen Studenten. Während die Anklagen gegen Arbeiter wegen „gefährlicher Körperverletzung“ von Jahr zu Jahr sich ins Ungemessene vermehren, und zwar, wie die immer zahlreicheren Verurteilungen in Geldstrafen beweisen,23 wegen immer geringfügigerer Vorgänge, die aber dann doch die regelmäßige Mindestfolge haben, daß armen Jünglingen Geld abgenommen wird – so geschehen die recht ernsthaften gefährlichen Körperverletzungen der Studierenden jährlich in einer Anzahl von mehreren Zehntausend ungestraft und sozusagen unter den Augen der Behörden; es dürfte nicht selten sein, daß ein Staatsanwalt als alter Herr dem „Scherze“ beiwohnt. Ob die studentischen Mensuren, wie der preußische Justizminister am 17. Februar 1902 im Abgeordnetenhause aussprach,24 dem Wortlaute des Gesetzes nach unter den strafrechtlichen 23 24

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Vgl. darüber meine Bemerkungen Soz. Praxis IX, 5, 12. Nov. 1899. Obgleich sie es strafrechtlich seien, meinte der Minister, halte man sie „in den weitesten Kreisen“ doch nicht für Duelle. Derselbe Herr Minister hat vor Kurzem bekannt gemacht, daß er darauf hinwirkt, die (moralisch ohne Zweifel verwerflichen) Methoden, wodurch Arbeiter ihre Mitarbeiter zuweilen zum Eintritt in ihre Koalitionen zu veranlassen suchen oder vielleicht auch nur ihr Mißfallen wegen mangelnden Korpsgeistes zu verstehen geben, als – Erpressung strafrechtlich verfolgen zu lassen! Und das ist bereits mit Erfolg geschehen! Ja, das Reichsgericht hat schon die Drohung mit Niederlegung der der preußische Justizminister: Gemeint ist Justizminister Karl Heinrich Schönstedt (ab 1911 von Schönstedt). Er war preußischer Richter und von 1894 bis 1905 preußischer Justizminister.

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Begriff des Duells (mit tödlichen Waffen) fallen, mag man mit Grund bezweifeln. Daß sie aber, wenn sich nach diesem Begriffe nicht strafbar sind, um so mehr und ohne allen Zweifel als gefährliche, unter Umständen als schwere „Körperverletzungen“ strafbar sind, ist klarer als die Sonne. Es steht kein Schatten davon im Strafgesetzbuch, daß das Delikt nicht vorhanden ist, wenn es in verabredeten Formen gegenseitig verübt wird. Im Gegenteil, es könnte nach § 227 die „Schlägerei“ erschwerend wirken. Zu höchst könnte man Herkommen und erzieherische Absichten der studentischen Verbindungen nach § 228 als mildernde Umstände gelten lassen. Daß aber ein Staatsanwalt dies Delikt in öffentlicher Rede verherrlicht, ist eine Beleidigung des Volksgewissens – wie immer es von den Vorgesetzten dieses Staatsanwaltes angesehen werden möge. Die Körperverletzungen der Arbeiterjugend entziehen dieser nicht nur alljährlich eine sehr beträchtliche Geldsumme, außer Lohnausfällen und anderen materiellen Schäden durch Freiheitsstrafen. Sie müssen auch noch dienen, um Ministern Gelegenheit zu geben, die zunehmende „Verrohung“ der Jugend, die unheimlich wachsende „Vorbestraftheit“ der Militärpflichtigen u. dgl. vor versammeltem Parlamente zu denunzieren. Die Körperverletzungen der studierenden Jugend werden – so ist es ja tatsächlich – auch von Ministern für eine Zierde und edle Sitte dieser Jugend gehalten! Das ist eine wundervolle Parallele zu der ungleichen und ungerechten Handhabung des Vereins- und Versammlungsrechts. Von den ganz kleinen und kleinlichen Maßnahmen, mit denen dies verfassungsmäßige Recht und damit zugleich die Koalitionsfreiheit gelegentlich illusorisch gemacht wird, nur wenige Worte. Die Behörden bedrohen die Gastwirte mit Nachteilen, wenn sie ihre Säle für mißliebige Versammlungen hergeben. Offiziell wird dies in einem Atem geleugnet und zugegeben. Gegen starke Klagen, die über die Art, wie im Königreich Sachsen diese Methode angewandt wird, erhoben waren, erklärte der Bevollmächtigte des Bundesrates Dr. Fischer in der 128. Sitzung des gegenwärtigen Reichstages (28. Januar 1902): „Wenn in einem Bezirke die Arbeiter nicht im Stande sind, ein Versammlungslokal zu erhalten, so können dafür die Verwaltungsbehörden nichts, sondern dafür können Arbeit als den Thatbestand der Erpressung gegen den Unternehmer herstellend gelten lassen! Was gelten da die Ansichten der weitesten Kreise? Was gilt eine begründete rechtsphilosophische Ansicht von Sinn und Gerechtigkeit gegenüber dem angeblichen strikten juristischen Formalismus in diesen Fällen? (Vgl. die Kritik dieser Erkenntnisse von Loewenfeld¸ Archiv f. soz. Gesetzgebung, Bd. 14, S. 495 ff.). Im Strafgesetzbuch (20. Abschnitt) steht Erpressung mit Raub zusammen.

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nur die Gastwirte.“ Er fügt aber hinzu: „Herr Stolle weiß auch von unserer Begegnung vor 5 oder 6 Jahren in Sachsen, daß das königliche Ministerium des Innern mit einer solchen Handhabung nicht einverstanden ist.“ Womit eingeräumt zu werden scheint, daß die Praxis dem Minister vollkommen bekannt war und noch ist. Indessen lassen wir dahingestellt, wie es in Sachsen damit steht. Für Preußen liegt hier einmal ein recht starker Fall vor, der eine katholisch-christliche Gewerkschaft betrifft. In Birnbaum in Posen sollte am 19. Januar dieses Jahres eine Versammlung der Maurer und Zimmerer behufs Gründung einer Verwaltungsstelle des Verbandes christlicher Maurer stattfinden. Der Vertrauensmann hatte für ein Lokal gesorgt und machte der Polizeibehörde die Anzeige. Anstatt der Bescheinigung erhielt er die amtliche Antwort, unterzeichnet von dem kgl. Distriktskommissar v. Goßen: „Die von Ihnen ... nachgesuchte Genehmigung kann nicht erteilt werden, da der Gastwirt H. zu B. hier ausdrücklich schriftlich erklärt hat, daß er sein Lokal zur Abhaltung der Versammlung nicht hergiebt.“ Der Vertrauensmann engagiert ein anderes Lokal, macht von neuem Anzeige. Neue amtliche Antwort: „Die ... Genehmigung kann nicht erteilt werden, da der Gastwirt Mathes zu L. hier ausdrücklich schriftlich erklärt hat, daß er sein Lokal zur Abhaltung der Versammlung nicht hergiebt.“ Der Vorstand des Verbandes beauftragt einige Mitglieder, sich mit dem Gastwirt Mathes ins Vernehmen zu setzen. Dieser erklärte, daß der Bote des Polizeikommissars zu ihm gekommen sei und ihm gesagt habe, die Veranstalter der Versammlung seien Sozialdemokraten. Ein Wirt habe daher schon die Hergabe des Saales verweigert und der Bote fragte dann ob Mathes nicht dasselbe thun wolle. Daraufhin habe er in die Saalverweigerung eingewilligt (wie sollte er wagen, dem Polizeikommissar zuwider zu handeln?!), aber nicht schriftlich (das war also ein freiwilliger Zusatz des Kommissars!). Hinsichtlich des ersten Falles ist der Sachverhalt noch nicht konstatiert worden; daß auch hier der sanfte Druck gewaltet hatte, wird niemand bezweifeln. Daß der Polizeikommissar überhaupt nichts zu „genehmigen“ hatte, hat der Herr offenbar nicht gewußt. Die „Baugewerkschaft“, Organ des Verbandes christlicher Maurer, bemerkt zu dem Falle (unterm 2. Februar 1902): „Die Liebe der Arbeiter zur Staatsordnung wird sicherlich nicht gefördert, wenn sie sehen, daß sie in der Ausübung ihres gesetzlich anerkannten Koalitionsrechtes, nicht nur von den Unternehmern, sondern von staatlichen Orga 1

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dafür können nur die Gastwirte: Amtliches Reichstags-Handbuch. Zehnte Legislaturperiode. 1898/1903. 128. Sitzung des Reichstages am Dienstag den 28. Januar 1902. Berlin 1903. S. 6710 ff. Herr Stolle: Karl Wilhelm Stolle, 1902 sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag.

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nen behindert werden.“ Und diese einfachen Worte ziehen die Summe aus allem, was hier mitgeteilt wurde. Denn nach allen Richtungen hin ist wohl hinlänglich klar, daß den Bemühungen der Arbeiterklasse, ihre Lage auf gesetzlichem Wege und durch eigene Kraft zu heben, durch das bestehende Vereins- und Versammlungsrecht der (meisten) Staaten und mehr noch durch dessen Handhabung und Auslegung schwere Fesseln geschlagen sind. Dabei macht sich noch besonders lästig die Ungleichheit des geltenden Rechtes. Den Ungleichheiten im Handels- und Wechselrechte ist längst (schon durch den seligen Bundestag), denen des Gewerberechtes durch die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und deren spätere Verallgemeinerung, der Mannigfaltigkeit des allgemeinen Privatrechtes neuerdings, durch das Bürgerliche Gesetzbuch, ein Ende gemacht worden. Alle diese Rechte dienen, ihrem weit überwiegenden Inhalte und Werte nach, den Interessen der besitzenden Klasse – wenn auch ihre Wirkungen von diesen aus auf das ganze Volk sich erstrecken. Ist die Forderung eines einheitlichen Vereinsund Versammlungsrechtes, woran in soviel höherem Maße die arbeitende Klasse interessiert ist, weil sie nichts Erhebliches einzusetzen hat, außer den Freiheiten der Person und der Möglichkeit, ihre Stimme und Klage vernehmlich zu machen, eine minder dringende? Sicherlich ist sie nicht unpatriotisch oder reichsfeindlich zu nennen. Sie ist vielmehr eine notwendige Folgerung des nationalen Gedankens, für dessen Gedeihen es geradezu eine Lebensfrage ist, daß diese zahlreichste, emporstrebende Volksklasse an ihm ein erweitertes reelles und ideales Interesse gewinne! Daß sie in freier Erörterung ihre Wünsche und Gedanken kläre und läutere, daß sie in Vereinen sich selbst beherrschen, den Staat und die Gesellschaft besser verstehen und die sittliche und rechtliche Unmöglichkeit immer mehr begreifen lerne, durch die Gewalt einer Katastrophe den sozialen Zustand zu ihren Gunsten plötzlich zu verändern. Wenn in dieser Hinsicht schon die freie Organisation eine stille, aber stetige erziehende Wirkung übt, so dürfte noch weit mehr eine korporative öffentlich-rechtliche Vertretung der industriellen Arbeiterklasse geeignet sein, dieser das Bewußtsein zu geben, daß sie innerhalb der heutigen Gesellschaft und des heutigen Staates nicht nur geduldet und geschützt, sondern als ein notwendiges und gleichberechtigtes Organ anerkannt und gewürdigt wird. – Es ist unleugbar, daß das Dasein der Sozialdemokratie den Staatsmännern monarchischer Regierungen mehr als ein schweres Problem aufgiebt. Vermutlich würde mancher Politiker den gewerblichen Koalitionen ein freundlicheres Gesicht zuwenden, wenn er nicht bei dem Gros dieser Verbindungen eine Verwandtschaft mit jener politischen Partei wahrnähme, die ihm persönlich fatal ist und nach seiner Ansicht ein straffes Anziehen

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der polizeilichen Zügel rechtfertigt und sogar geboten sein läßt. Dagegen sind freilich die großen Fabrikdirektoren und Magnaten, wie sie an den verstorbenen Herrn Stumm ihren typischen, allzu cholerischen Vertreter hatten, konsequent und scharf genug, die Freiheit und Vereinigung der Arbeiter als solche zu perhorreszieren, welchem politischen oder religiösen Glauben sie auch huldigen mögen; und daß diese Richtung mächtig genug ist, um auch auf die Praxis der Verwaltungsbeamten Einfluß zu gewinnen, dafür hätten sich leicht mehr Beispiele als das hier am Schlusse mitgeteilte gewinnen lassen, wenn es nicht genügte, auf die in dem zweiten Hefte dieser Schriften enthaltenen Klagen des katholischen Arbeitersekretärs, des Allgemeinen Deutschen Gärtnervereins, des christlichen Bergarbeiterverbandes und der (Hirsch-Dunckerschen) Gewerkvereine hinzuweisen. Indessen wird uns doch der Eindruck nicht verdunkelt, daß es für die Behörden bei ihren Maßregeln und Entscheidungen, die das Koalitionsrecht beeinträchtigen, wesentlich um eine Fortsetzung des Kampfes gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen“ sich handelt, eines Kampfes, den sie in Ermangelung eines Spezialgesetzes nunmehr durch schonungslosen Gebrauch der allgemeinen Gesetze „bis an die Grenze des Zulässigen“, wie es in der preußischen Ministerial-Verfügung vom 18. Juli 1890 hieß, glauben führen zu sollen. Daß es unter allen Umständen falsch und politisch zweckwidrig ist, die Anhänger einer durch Meinungen und moralische Gefühle zusammengehaltenen Partei – sei es eine politische oder Religionspartei – wie Verbrecher zu betrachten und zu behandeln, kann hier nicht ausführlich begründet werden. Es darf aber der Hoffnung Raum gegeben werden, daß einmal durch bündige und getreue Darstellung der Verfolgung Andersdenkender bei allen Völkern, zu allen Zeiten, diese Erkenntnis ebenso zu einem Gemeingut der öffentlichen Meinung werde, wie es schon die Überzeugung von der Sinnlosigkeit und Abscheulichkeit der Hexenprozesse und der Folter geworden ist. Von gelahrten Juristen sind diese fluchwürdigen Einrichtungen ihrer Zeit ebenso als notwendig und segensreich gepriesen und verteidigt worden, wie heute gelahrte Juristen mit heiligem Eifer herbeieilen, wenn es gilt, irgend einen Scheiterhaufen anzuzünden, um „vaterlandslose“ Menschen hinzurichten. Wenn es heute, wie immer, auch weise Juristen giebt, so werden wir uns doch erinnern, daß ein weiser Jurist vor nicht gar vielen Jahren sehr nachdrücklich geschrieben hat: „Die unbedingte Herrschaft eines besonderen Juristenstandes über das gesamte Rechtswesen wird unter keinen Umständen

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Herrn Stumm: Carl Ferdinand von Stumm-Halberg. Stumm engagierte sich maßgeblich in sozialen Fragen sowohl als Industrieller wie auch später als Politiker. Er war Mitbegründer der 1867 gegründeten Freikonservativen Partei.

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als etwas Heilsames und dem höheren Staatsprinzip Entsprechendes aufgefaßt werden dürfen.“25 Wenn der Jurist als Verwaltungsbeamter eine differenzierende Anwendung der Gesetze für „zweckmäßig“ erachtet, weil er persönlich den Zweck billigt und seiner ganzen Bildung nach nicht in der Lage ist, denselben gegen das Licht eines „höheren Staatsprinzips“ zu halten; wenn der Jurist als Richter zufrieden, vielleicht entzückt ist, daß solche schneidige Polizeimaßregeln, sei es dem Buchstaben des Gesetzes oder der supponierten Meinung des Gesetzgebers sich auf elegante Art anpassen läßt, ohne sich darum zu bekümmern, ob das allgemeine Rechtsgefühl und Rechtsvertrauen durch solche Auslegungen tief erschüttert wird – so muß der Ethiker und philosophische Politiker um so schärfer seine Idee von Gerechtigkeit und Redlichkeit einer solchen Praxis entgegensetzen. Ein Mann, der allen Anspruch darauf hat, bei den Gegnern bürgerlicher Freiheiten Kredit zu genießen, hatte doch Einsicht und Mut genug, um mitten in den Nachwehen der Revolutionszeit folgende Worte an einen König zu richten: „Das Vertrauen der Unterthanen ist das wahre Lebensprinzip einer Regierung. Sie kann ohne Zweifel durch bloße Macht dauern, und Jahrhunderte dauern, aber sie kann ohne Vertrauen nicht leben, d.h. sich ihrer selbst als einer Kraft bewußt sein, die eine große Organisation gesetzmäßig und wohlthätig bewegt“ (Friedr. von Gentz Sendschreiben an Friedr. Wilhelm III. Schriften II, S. 14). Und worauf kommen die hier geschilderten Polizeikünste hinaus, als (im günstigsten Falle) die Macht der Regierungen – ihre Muskulatur – ein wenig zu stärken, aber das Vertrauen der Staatsbürger – ihr zentrales Nervensystem – unheilvoll zu zerrütten? Wie immer man aber über politische Verfolgung denken möge – auf jeden Fall erheischt die Billigkeit und Staatsklugheit, die Unterschiede gewerkschaftlicher, wie anderer ökonomischer Verbindungen (z.B. Konsumund Erwerbsgenossenschaften) von politischen Verbindungen, wie sie von jenen selber gewollt und in ihrer Praxis bewährt werden, zu erkennen und anzuerkennen, und sich dabei an das Allgemeine und Prinzipielle zu halten, anstatt mit gehässiger Pedanterie sich an einzelne Worte und Reden oder an die Identität von Personen zu hängen. Ebensowenig wie es einen Sinn und wie man ein Recht hat, für Grundsätze und Handlungen der römisch-katholischen Kirche die deutsche Zentrumspartei verantwortlich zu machen, obgleich deren Mitglieder insgesamt nicht nur jener Kirche 25

Beseler Volksrecht und Juristenrecht, S. 69.

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aufgefaßt werden dürfen: Georg Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, Leipzig 1843, S. 69.

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angehören, sondern in der Treue, die sie ihr halten, den Grund ihrer Parteibildung erblicken – ebensowenig ist es erlaubt, aus der Thatsache, daß mit wenigen Ausnahmen die Mitglieder der „sozialdemokratischen Gewerkschaften“ sich der politischen Partei dieses Namens zurechnen und daß manche ihrer Führer sogar thätige Mitglieder dieser Partei zu sein pflegen, Schlüsse zu ziehen, die nicht durch das wirkliche Verhalten der Gewerkschaften gedeckt werden. Ihrem Wesen nach sind diese nichts als Vereine zum Zwecke der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, nebenher sind sie Unterstützungsvereine; sie unterscheiden sich von anderen Vereinen dieser Art dadurch, daß sie „auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung“ stehen, das ist allerdings ein Ausdruck für die Thatsache, daß ein ideeller Zusammenhang mit der sozialdemokratischen Partei vorhanden ist, es sagt aber objektiv nichts weiter, als daß sie den Standpunkt des Klasseninteresses der industriellen Arbeiter etwa mit der Schärfe und Konsequenz vertreten wollen, womit der Bund der Landwirte die agrarischen Berufsinteressen ausgesprochenermaßen und geflissentlich vertritt. Während aber dieser Bund direkt der politischen Agitation sich hingiebt, weil ihm keine bestehende Partei für seine Zwecke genügt, so scheint gerade die Art des Verhältnisses, worin die zentralisierten Gewerkschaften zur sozialdemokratischen Partei stehen, daß sie nämlich – trotz aller Spannungen und Reibungen – im allgemeinen das Vertrauen haben, die spezifischen Arbeiterinteressen durch diese Partei politisch wahrgenommen zu sehen (was keine Verantwortung für irgend ein „Endziel“ einschließt), eine Gewähr dafür zu geben, daß die Gewerkschaften sich nicht mit der politischen Agitation befassen und nicht etwa besondere Gewerkschaftskandidaten für die politischen Wahlen aufzustellen anfangen werden. Wenn dies manchem politisch wünschenswert erscheinen möchte – für die Gewerkschaften, die mehr und mehr erkennen, daß sie ihre politische Neutralität stärker als bisher betonen müssen, um sich ihren besonderen Aufgaben um so erfolgreicher widmen zu können, würde es einen Gewinn nicht bedeuten. Andererseits wird die Partei im Sinne des gemeinen Wohles und des vaterländischen Interesses sich um so günstiger entwickeln, je mehr sie sowohl über die bloße Interessenvertretung des industriellen Proletariats, als über den unbedingten demokratischen Radikalismus durch höhere politische Gesichtspunkte sich zu erheben vermag, je mehr sie die soziale Reform, und nichts als 17

geflissentlich vertritt: 1901 begründete Robert Richard Lipinski die „Unterstützungsvereinigung der auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden Angestellten“ mit. Der Bund der Landwirte war eine am 18. Februar 1893 gegründete Interessenorganisation der Landwirtschaft im Deutschen Reich. Das Ziel des Bundes war, die führende Stellung der Landwirtschaft in Wirtschaft und Politik zu bewahren.

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die soziale Reform, als den Kern ihres Programmes zu entwickeln und zu pflegen beflissen sein wird.

Exkurs zu Seite 70 Es lohnt sich allerdings, den Auslegungen des preußischen Gesetzes gegenüber auf seine Ursprünge den Blick zu lenken. Nach Auflösung der zweiten und Vertagung der ersten Kammer im Jahre 1849 hatte die Regierung unter dem 29. Juni eine Verordnung erlassen, deren wesentliche Bestimmungen in das noch geltende Gesetz – das fälschlich Verordnung genannt zu werden pflegt – übergegangen sind. In dieser Verordnung ist nur von „Vereinen, welche eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten bezwecken“, die Rede, von anderen politischen Vereinen gar nicht. Offenbare Meinung war, mit jenem Ausdrucke politische und andere nicht rein privaten Zwecken dienende Vereine zu bezeichnen. Nun trat im Oktober eine Kommission in der neugewählten zweiten Kammer zur Revision der oktroyierten Verfassung zusammen. In dem Berichte dieser Kommission heißt es zur Begründung des von ihr formulierten Abs. 3 § 30 der Verf. („Politische Vereine können Beschränkungen und vorübergehenden Verboten im Wege der Gesetzgebung unterworfen werden“): „Die besondere Aufmerksamkeit der Kommission zogen demnächst die sogenannten politischen Klubs auf sich. Man verstand darunter nicht solche Vereine, die zum Gegenstande ihrer Verhandlungen einen einzelnen fest bestimmten politischen Zweck im Sinne der englischen Meetings machen – etwa die Erreichung oder Beseitigung einer einzelnen gesetzlichen Bestimmung und dergl. Solche Vereine werden jedesmal von selber aufhören, sobald dieser ihr Zweck erreicht oder seine Unerreichbarkeit klar geworden ist. Ihre Existenz ist von einem lebhaften Anteil an vaterländischen Verhältnissen in einem freien Volke gar nicht zu trennen und die natürliche, meist heilsame, vielleicht nie auch nur bedenkliche Folge 11

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öffentliche Angelegenheiten bezwecken: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 30. Mai 1849 einberufenen Zweiten Kammer. Erster Band. Von der Eröffnungs-Sitzung am 7. August bis zur achtundzwanzigsten Sitzung am 5. Oktober 1849. Beilage zum Preußischen Staats-Anzeiger. Berlin 1849, S. 198. Abs. 3 § 30 der Verf.: Tönnies irrt sich. Es handelt sich um den Titel II. Artikel 30. In: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten. Enthält die Gesetze, Verordnungen etc. vom 4. Januar bis zum 5. Dezember 1850, nebst einigen aus dem Jahre 1849. (Von Nr. 3201. bis Nr. 3340.) Nr. 1. bis incl. 42. Berlin 1850. S. 17 ff.

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eines solchen Anteils an der Entwicklung des Vaterlandes. Unter politischem Verein ... verstand man vielmehr solche Verbindungen, die zum Gegenstand ihrer Erörterungen und meistenteils sogar ihrer Beschlüsse die Kritik der Regierungsmaßregeln im allgemeinen machen – Vereine, wie sie England anscheinend nie gekannt, Nordamerika erst vergeblich bekämpft auf dem Wege der Gesetzgebung, dann aber gerade, bei sich entwickelnder politischer Einsicht und Reife, gänzlich aufgegeben, Frankreich endlich, trotz der Umwandlung seiner Staatsform, doch zuletzt hat untersagen müssen“ (Sten. Ber. über Verh. der zweiten Kammer 1849/50, S. 263). M.a.W., man dachte an den Jakobinerklub. Obgleich diese Sätze bei v. Rönne (Preuß. Staatsrecht 4 II, S. 189) abgedruckt sind, so hat doch offenbar nie ein Gericht sie irgend welcher Beachtung für wert gehalten. In dem Bericht der Kommission zur Prüfung der Verordnung vom 29. Juni, welche die Kommission der zweiten Kammer den § 8 in das Gesetz hineinschob, heißt es sodann: „Diese Beschränkungen (Verbot der Teilnahme von Frauen und Minderjährigen, Verbot der Koalition) sollen sich indes nach der Ansicht der Kommission nicht auf alle politischen Vereine beziehen, sondern nur auf solche Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, weil man sich sagte, daß Vereine, die keine Versammlungen halten, sondern nur durch schriftliche Mitteilungen einwirken, minder gefährlich sein und minder erfolgreich arbeiten würden“ (a.a.O. S. 2773). Der heutigen Jurisprudenz würde es nicht schwer werden, einen Briefwechsel auch unter den Begriff der Versammlung zu bringen – warum soll denn gerade die körperliche Nähe das entscheidende Merkmal sein? – In Wahrheit ist es außerordentlich evident, daß in dem ganzen Gesetze „über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechts“ nur an Versammlungen, in denen geredet und zugehört, erörtert und beraten wird, mit der einzigen Ergänzung, 10

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der zweiten Kammer 1849/50, S. 263): Sammlung sämtlicher Drucksachen der Zweiten Kammer. Band III. Nr. 202. bis 300. Berlin 1849, hier: Nr. 217 „Bericht der Kommission für Revision der Verfassung, betreffend Titel II. Artikel 24. bis 37. (einschließlich)“, S. 11f. (Preuß. Staatsrecht 4 II, S.  189): Gemeint ist: Dr. Ludwig von Rönne, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage. Zweiter Band. Verfassungsrecht. Zweite Abtheilung. Leipzig 1882, S. 188f. Die hochgestellte 4 meint den 4. Punkt der dortigen Aufzählung. (a.a.O. S.  2773): Stenographische Berichte über Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 30. Mai 1849 einberufenen Zweiten Kammer. Fünfter Band. Von der einhundertsten Sitzung am 9. Februar bis zur einhunderteinundzwanzigsten Sitzung am 25. Februar und zum Schluß der Session am 26. Februar 1850. Von S. 24433307. Berlin 1850, S. 2773.

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daß öffentliche Aufzüge ausdrücklich öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel gleichgestellt werden, gedacht worden ist – im übrigen sollte es, wie aus den Verhandlungen auch sehr deutlich hervorgeht, bei der im Art. 29 der Verfassung garantierten Freiheit („Alle Preußen sind berechtigt, sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubnis friedlich und ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu versammeln“) sein Bewenden haben. Gleich der erste Paragraph jenes Gesetzes hebt mit den Worten an: „Von allen Versammlungen, in welchen öffentliche Angelegenheiten erörtert und beraten werden sollen..“ Vgl. § 4. Es widerstreitet der naturalis ratio, daß in § 8, der die politischen Klubs als eine Spezies der Vereine beschränken soll, auch noch auf besondere (nicht genannte) Arten von Versammlungen es abgesehen wäre, insbesondere auf Versammlungen, in den nicht einmal „öffentliche Angelegenheiten“ geschweige denn „politische Gegenstände“ erörtert und beraten werden sollen. – Nun vergleiche man aber das Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom Jahre 1891 (Entscheidungen XX, S. 442), das dem im Texte mitgeteilten neuen Urteil zu Grunde liegt. Damals war einem Handwerkerverein, der auch auf die politische Bildung seiner Mitglieder abzielte (also als politischer Verein, wenn auch sicherlich nicht im Sinne der Urheber des § 8, obgleich diese ausgesprochen reaktionär waren, galt) verboten worden, einen belletristischen Leseabend mit Damen (es sollte ein Lustspiel von Wichert mit verteilten Rollen gelesen werden) abzuhalten. Das Oberverwaltungsgericht billigt das Verbot.

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Räumen zu versammeln“): Verfassungs-Urkunde für den preußischen Staat. Vom 31. Januar 1850. Erschienen in: Preußens neueste Gesetze. Verfassungs-Urkunde, Kreis-, Bezirks-, Provinzial- und Gemeinde-Ordnung, Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, Verordnung über den Mißbrauch der gesetzlichen Freiheit, Gesetz betreffend: die Verpflichtung der Gemeinden zum Schadenersatz, Polizeigesetz, Jagdgesetz. Simmern 1850. S. 4. Vgl. § 4.: Soll § 1 heißen. Gesetz-Sammlung für die Preußischen Staaten. 1850. Enthält die Gesetze, Verordnungen etc. vom 4. Januar bis zum 5. Dezember 1850, nebst einigen aus dem Jahre 1849. (Von Nr. 3201. bis Nr. 3340.) Nr. 1. bis incl. 42. Berlin 1850, hier: Nr. 20. (Nr. 3261.) Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes. Vom 11. März 1850. S. 277. erörtert und beraten werden sollen.: Ebd. § 8, S. 279. abzuhalten: Ernst Wichert war ein deutscher Schriftsteller und Jurist. Der Dichterjurist – bekannt als „Dichter und Richter“ – war Mitherausgeber der Altpreußischen Monatsschrift und Mitbegründer der Deutschen Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten, die 1871 in Leipzig ins Leben gerufen wurde. Später in Verband Deutscher Bühnenschriftsteller umbenannt, firmiert der älteste überregionale Autorenverband in Deutschland heute als Dramatiker-Union. Bei dem Lustspiel handelt es sich möglicherweise um das Stück „Biegen oder Brechen!“.

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Zur Begründung wird gesagt: „Nach dem Wortlaut des § 8 ist in dessen erstem Satze das Wort „Versammlung“ nicht in einem durch den Zweck der Vereinigung eingeschränkten Sinne gebraucht, weil eben aus allen Versammlungen mit den verschiedenartigsten Zwecken die eine Unterkategorie ausgesondert wird, deren Zweck auf politische Erörterung gerichtet ist. Und dadurch, daß Vereine, welche diese Unterkategorie von Versammlungen bezwecken, besonderen Beschränkungen unterworfen werden, ist offenbar nicht der Begriff „Versammlung“ selbst beschränkt, und insbesondere nicht dahin, daß nunmehr unter denselben nur noch die zu politischen Erörterungen bestimmten fallen. Nach den Interpretationsregeln ist aber ferner anzunehmen, daß der Gesetzgeber innerhalb derselben Norm mit demselben Ausdrucke auch den gleichen Begriff verbunden hat. Und deshalb erscheint es ausgeschlossen, daß das Gesetz, welches in Abs. 1 auch andere als die zu politischen Erörterungen bestimmten Versammlungen kennt, im dritten Absatz unter dem ohne jeden beschränkenden Zusatz angewandten Ausdrucke „Versammlung“ nur die zu solchen Erörterungen bestimmten verstanden haben könnte. Wollte das Gesetz hier den Begriff enger fassen, so hätte es die auszuschließenden Arten der Zusammenkünfte genau bezeichnen müssen; jede derartige Bezeichnung würde aber, – da nichts hindert, bei wissenschaftlichen, litterarischen, ja selbst bei rein geselligen Unterhaltungen (durch Tischreden) auch politische Gegenstände zu erörtern – die bequeme Möglichkeit jederzeitiger Umgehung des Gesetzes eröffnet haben.“ Eine spezielle Deduktion! Eine Interpretationskunst ohne gleichen! Es ist vollkommen richtig, daß im dritten Absatze in demselben Sinne von Versammlungen die Rede sein muß wie im ersten. Es ist aber schiere Sophistik, daß der Gesetzgeber in diesem „aus allen Versammlungen mit den verschiedenartigsten Zwecken die eine Unterkategorie“ habe aussondern wollen. Der Ton liegt, wie zum Überflusse deutlich aus dem citierten Kommissionsbericht hervorgeht, auf den Worten „in Versammlungen“ und gemeint sind, wie in dem ganzen Gesetz, Versammlungen, in denen Rede und Gegenrede gepflogen wird, nicht Bälle, Tanzkränzchen und Leseabende. Da man aber wirkliche und echte politische Klubs, und nicht Berufs- oder Bildungsvereine, in denen gelegentlich einmal Reden politischen Inhaltes gehalten werden, im Auge hatte und beschränken wollte, so hat man um so weniger daran gedacht, daß politische Vereine auch Vergnügungen arrangieren und daß solche Vergnügungen mit Versammlungen die politischen Zwecken dienen, verwechselt werden können. Weil aber dem Gesetzgeber daran gelegen war, „Frauenspersonen“ u.s.w. auch vom bloßen Zuhören bei politischen Erörterungen und Beratungen auszuschließen, und weil solche Erörterungen und Beratungen politischer Klubs auch in sogenannten Sitzungen gesche-

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hen können und zu geschehen pflegen, so hat er im dritten Absatz ausdrücklich neben (politischen) Versammlungen auch (politische) Sitzungen genannt. Wenn nicht nur eine Sitzung, in der politische Gegenstände erörtert werden sollen, sondern sogar eine beliebige Tischsitzung und sogar eine Zusammenkunft, die ausdrücklich für ganz andere Zwecke als Erörterung und Beratung bestimmt ist, unter dem Worte Versammlung mitbegriffen sein konnte und sollte, so wäre der Gesetzgeber nicht eben weise gewesen, gerade das Wort Sitzung hinzuzusetzen, da es doch gerade für Sitzungen noch am ehesten als selbstverständlich erscheinen möchte, daß sie den hier gemeinten Versammlungen politischen Charakters gleich zu schätzen wären. Nun aber haben wir folgenden Rechtszustand. Der Gesangverein Harmonie (für gemischten Chor) hält nach einer gelungenen Aufführungen sein gewohntes Abendessen. Zugegen ist ein Herr, der mehrere Jahre in Togo gelebt hat. Der Oberlehrer Meyer bringt einen Toast auf diesen Herrn aus, und entwickelt bei dieser Gelegenheit seine Ansichten über Wert und Aussichten der Kolonialpolitik. Der anwesende Amtsvorsteher v. Biberpelz gewinnt aus diesem Toaste (wie nach dem Reichsgerichtserkenntnis v. 10. Okt. 1887 rechtlich zulässig) die Überzeugung, daß der Verein bezweckt habe, auch politische Gegenstände in seinen Versammlungen zu erörtern, oder (Metamorphosentheorie s. oben) daß er sich in einen politischen Verein umgewandelt habe. Dieser politische Verein läßt Frauenspersonen und Schüler nicht nur an seinen Versammlungen teilnehmen, sondern nimmt sie sogar als Mitglieder auf. Nach § 16 des Vereinsgesetzes haben Vorsteher, Ordner und Leiter eine Geldbuße von 5 bis 50 Thalern oder Gefängnis von 8 Tagen bis zu 3 Monaten verwirkt. Einer so hartnäckigen Gesetzwidrigkeit gegenüber glaubt der Richter auf das „Höchstmaß“ erkennen zu müssen; „straferschwerend wirkt, daß das Singen in gemischtem Chor als Vorwand für politische Bestrebungen diente“ u.s.w. Man kann demgegenüber nur so viel sagen: selbst der erzreaktionäre Minister von Manteuffel hat, wie aus seinen Äußerungen zu dem Gesetze im Jahre 1850 klar und deutlich hervorgeht, eine so absurde Tyrannei des Gesetzes nicht von ferne für möglich gehalten! –

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Verein umgewandelt habe: Es gibt ein entsprechendes Urteil vom 10. November (nicht Oktober) 1887: RG 3. Strafsenat Urteil vom 10.11.1887 g. B. Rep. 2105/87 RGSt Band 16, S. 383 ff.

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L’Évolution sociale en Allemagne (1890 – 1900) (Extrait de la Revue Internationale de Sociologie)

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L’Évolution sociale en Allemagne: Ferdinand Tönnies, L’Évolution sociale en Allemagne (1890–1900), (Extrait de la Revue Internationale de Sociologie), Paris 1903.

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La chronique sociale de l’empire d’Allemagne a été poursuivie jusqu’à l’année 1894; mais les données statistiques sur cette année et celles qui la précédaient directement étaient encore incomplètes. C’est pourquoi nous ferons porter cet exposé sur l’ensemble des dix dernières années du XIXe siècle (1891–1900). Ces dix dernières années ont été pour l’Allemagne une période de très grand progrès économique. La crise commerciale, qui commença au milieu de la première année (1891) et se poursuivit à travers les trois années suivantes, céda, à partir de 1895, devant un essor d’abord lent, puis rapide et vigoureux, de l’industrie, qui se maintint, jusque vers le milieu de l’année 1900, à une hauteur inouïe. Et si, comme il arrive habituellement, cet essor fut un fait européen – de l’autre côté de l’Océan les courbes étant un peu différentes – c’est cependant en Allemagne qu’il fut surtout fortement accentué. Ce fait trouve son expression la plus significative dans les chiffres du commerce extérieur. L’importation, dans le « commerce général » s’éleva, de 1891 à 1900, de 32,7 à 49,5, l’exportation de 23,3 à 36,3 millions de tonnes. La valeur de l’importation dans le « commerce spécial » (sans le transit) s’accrut dans le même temps de 4,403 à 6,043 millions de marks, et celle de l’exportation envisagée de la même façon, de 3,339 à 3,752 millions de marks. Les prix s’élevèrent d’une manière correspondante dans l’intérieur du pays pour les produits caractéristiques de la grande industrie, par exemple pour les fers bruts de Westphalie (pour 1.000 kil.) de 49,5 à 78 marks, avec, dans l’intervalle, jusqu’à 1894, une baisse à 45,2; de même pour les houilles de Westphalie (1,000 kil.), deux sortes montèrent de 11m 50 et 8 à 13,60 et 9,90, avec une baisse momentanée à 9,9 et 6,9 marks. Nous avons montré précédemment (Évol. soc., p. 2, Revue III, p. 954), le 29

(Évol. soc., p. 2, Revue III, p. 954): Siehe dazu: Ferdinand Tönnies, Mouvement social: Allemagne. In: Revue internationale de sociologie, Organe de l‘Institut international de sociologie, René Worms (Hg.), Troisième Année, Paris 1895, S. 953-968. Diese Version ist im Werkverzeichnis nicht aufgeführt. Der Text wurde 1896 mit dem Titel L’Évolution sociale en Allemagne‚ (Annales des L’Institut International de Sociologie), Paris 1896 (DSN 094) erneut veröffentlicht (erweitert um einen zweiten Teil, der auch in der 1903er Fassung vorhanden ist).

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développement de la force électrique comme un fait au plus haut point significatif pour le dernier tiers du siècle. Or, la vérité de cette assertion se manifeste avec une force particulière dans l’expansion de l’industrie électrique en Allemagne aussi pendant ces dix dernières années. « C’est à l’application de plus en plus étendue de l’électricité qui caractérisait déjà le neuvième décennaire mais qui se bornait alors à une ville ou à un quartier d’une ville, que viennent s’ajouter, dans le dernier décennaire du siècle, les grandes entreprises qui ont pour but de fournir à un district plus grand la force de travail et la lumière ainsi que la construction des chemins de fer électriques1. » Ces paroles, que leur auteur applique à toute l’Europe et à l’Amérique, sont particulièrement vraies pour l’Allemagne. Mais le grand essor, qui se produisit à l’aide d’un tout nouveau principe d’affaires, en vertu duquel les banques sont les associées directes de l’industrie électrique, se termina en 1900 par une forte crise dont la conséquence vraisemblable sera, dans ce domaine, la limitation de la concurrence jusque-là illimitée. L’extraordinaire besoin d’argent de l’industrie se refléta aussi dans l’élévation du taux de l’intérêt, qui se manifesta de la façon la plus significative dans la variation de l’escompte de la Banque impériale. Celui-ci monta de 3,776 0/0 en 1891, à 5,333 en 1900, taux moyens de l’année pour l’un et l’autre. En conséquence de cette hausse le cours des emprunts de l’Empire et des États tomba. L’agriculture en Allemagne prit une faible part au mouvement de l’industrie et du commerce, qui portent de préférence dans les plus grandes villes leur capitaux et leur argent. Cependant il y a ici aussi un progrès à remarquer, et notamment dans la culture des céréales; un progrès dans la culture du froment, en particulier, encore que faible se fait sentir. L’aire semée de froment, de même que celle du seigle (qui forme toujours en Allemagne la plus importante catégorie des céréales), est restée à peu près invariable depuis 1878, mais depuis 1893 a montré une diminution lente; mais la production moyenne du froment par hectare semble s’élever lentement. L’exportation du seigle (75.000 tonnes en 1900) et surtout du froment (295.000 tonnes) s’est accrue depuis 1897, à la suite d’une facilité apportée par la législation douanière (suppression de l’indication d’identité). L’importation des deux espèces de céréales – et l’importance de cette importation a crû sans cesse avec le développement de la grande industrie – a certes oscillé suivant la valeur des récoltes, mais n’a guère varié dans le cours des dix dernières années: elle s’est élevée en 1900 (dans le commerce spécial) à 293.864 tonnes pour le froment – valeur: 1

Voyez Meyer’s Konversations Lexikon, suppl. 1899, 1900, p. 291.

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171.1 millions de marks – pour le seigle: 893,333 tonnes: valeur: 96 millions de marks; – l’importation de l’orge est aussi très élevée: valeur en 1900: 92,5 millions de marks. Grâce à son utilisation pour la fabrication de la bière – l’importation du maïs a fortement augmenté : 51,5 en 1875 et 128,9 en 1900; ce produit est de plus en plus employé pour engraisser les bestiaux, au détriment de la qualité de la viande. Le prix du froment, qui avait eu une hausse, en 1891, à la suite d’une mauvaise récolte, baissa jusqu’à 1875 et monta ensuite de nouveau avec l’essor industriel. Il y eut en 1895 un nouveau recensement des économies, qui montra peu de changement depuis 1882, mais une augmentation considérable des moteurs, surtout de l’application de la vapeur comme force. On a commencé aussi à appliquer l’électricité dans l’agriculture. – Parmi les grandes industries agricoles, la distillation de l’alcool a participé d’une façon modérée à l’essor industriel. L’exportation de l’eau de vie, qui de 1881 à 1894 avait considérablement diminué en quantité et en valeur, put se réjouir d’une reprise, qui a diminué avec l’année 1900; ce mouvement est lié à la législation douanière. La production du sucre de betterave, qui jusqu’en 1885 avait pris un très puissant essor, ne s’est haussé depuis que peu sensiblement. Là aussi la question de l’impôt et de la douane, de même que dans les autres pays, était capitale, surtout celle de l’abaissement de la prime à l’exportion. Mais la technique de la culture de la betterave s’est sans cesse améliorée, et l’Allemagne est encore maintenant, pour la production du sucre, le premier pays du monde, celui qui en apporte la plus grande quantité sur le marché, bien que la valeur de l’exportation du sucre par rapport à l’ensemble de l’exportation allemande ait baissé de 6,8 à 4,6 p. 100 de 1891 à 1900. Les fluctuations de la vie économique se reflètent dans le mouvement de la population, et, de la manière la plus fidèle, dans les chiffres des mariages. – Pour l’empire d’Allemagne, la période dont nous nous occupons présente l’aperçu suivant. Pour 1.000 habitants (M: mariages, N: naissances, Mort.: Mortalité, E: excédent de naissances).

M .......... N .......... Mort. .... E ...........

1891 – 8,03 38,25 24,67 13,59

1892 – 7,93 36,94 25,31 11,63

1893 – 7,91 37,99 25,82 12,17

1894 – 7,95 37,09 23,52 13,57

1895 – 7,97 37,34 23,38 13,96

1896 – 8,19 37,54 22,07 15,47

1897 – 8,37 37,22 22,55 14,66

1898 – 8,45 37,51 21,75 15,59

1899 – 8,55 37,11 22,68 14,43

1900 – 8,51 36,19 23,23 13,56

Quoique l’excès des naissances ait été continuellement très considérable et que la mortalité ait diminué beaucoup, la marche régressive de la natalité en général est cependant très frappante et caractéristique; le rapport

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du nombre des naissances à celui des mariages, qui encore en 1891 était de 4,76, est descendu en dernier lieu à 4,33. L’accroissement de la population résulte donc essentiellement de la diminution de la mortalité: cette diminution s’est manifestée, dans ces dix dernières années, dans toute l’Europe, et doit par conséquent être attribuées à des causes générales et principalement météorologiques: les étés tièdes diminuant la mortalité des enfants, et les hivers doux celle des vieillards; ce sont ces deux mortalités qui constituent pour la plus forte part la mortalité générale. Les améliorations hygiéniques contribuent aussi vraisemblablement pour une grande part à cette diminution, ainsi que l’élévation générale de la condition économique des travailleurs, et aussi pour les cinq dernières années la situation brillante de l’industrie; tous ces facteurs agissent surtout dans les villes, et c’est bien dans les villes que le phénomène dont nous nous occupons – la diminution de la mortalité – s’est surtout manifesté et bien plus fortement que dans les campagnes (au moins pour la Prusse). Mais il faut remarquer que la contraste entre les villes et la campagne va continuellement en s’amoindrissant; il n’y a plus de différence que dans le degré d’agglomération. Entre temps le mouvement que l’on désigne sous le nom de «  exode vers la ville  », s’est poursuivi très fortement, surtout dans les cinq dernières années; à la vérité cet exode est un courant vers les centres de l’industrie et du commerce et vers les environs, qui très souvent comprennent des communes rurales très peuplées. Pour l’empire allemand ce courant est surtout, en même temps, un mouvement de l’Est à l’Ouest, interrompu seulement par la grande agglomération de la capitale de l’empire et de ses faubourgs. Les résultats de cette migration se manifestent d’une façon bien significative dans les recensements qui ont par exemple attesté pour les provinces industrielles de Westphalie et pour les provinces du Rhin un accroissement de population, de 1895–1900, de 18,0 et de 12,8 0/0, et de 10,9 0/0 pour le royaume de Saxe alors que l’accroissement naturel de la population, qui dans ces pays se trouve déjà élevé, n’a pourtant dépassé 12,1 et 9 0/0. Le même phénomène se présente dans l’accroissement du nombre des travailleurs. C’est ainsi que le nombre des ouvriers des mines de l’union douanière (l’empire d’Allemagne et le Luxembourg) a été, entre 1891 et 1899, de 415.985 à 526.184 – pour les ouvriers des forges: de 47.752 à 61.268 – ceux des hauts-fourneaux (seulement pour la production du fer brut) de 24.773 à 36.334 – ceux des fonderies de fer: de 62.743 à 91.613. C’est surtout le nombre des jeunes gens et des femmes travaillant dans les fabriques qui s’accroît. Le nombre des travailleurs du sexe masculin au dessous de 16 ans s’est accru de 147.000 à 201.000, celui des femmes du

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même âge de 73.000 à 100.000; et celui des femmes plus âgées que 16 ans de 576.000 à 798.000. Ces grands déplacements se montrent aussi dans le recensement des professions du 14 juin 1895, comparé à celui de 1882. L’ensemble des personnes attachées à l’agriculture avait baissé de 19 1/4 et 18 1/2 millions, tandis que celui des personnes attachés à industrie s’était accru de 16 à 20 1/4 millions, et le nombre de celles appartenant au commerce de 4 1/2 à près e 6 millions. Ces proportions seraient encore beaucoup plus frappantes si le recensement avait coincidé avec la fin du siècle. Aussi les agriculteurs se plaignirent très vivement du manque de bras et de l’émigration dans les villes. Mais l’industrie ne pouvait non plus, de son còté, satisfaire avec les ouvriers indigènes à la masse des commandes qui pour une grande part n’étaient que des spéculations, et était forcée de recourir à des ouvriers étrangers, notamment à des Galiciens qu’elle renvoya, du reste, dès le début de la crise. Une grande cause d’essor industriel fut également fournie par l’augmentation de la flotte qui fut aussi, cela va sans dire, beaucoup encouragée par les industriels avides d’en tirer avantage. Le budget de l’empire qui avait été encore en 1891 de 1 milliard 1/4 monta continuellement jusqu’en 1900 où il atteignit 2 milliards 1/4. La dette publique de l’Empire s’éleva de 1 milliard 8 à 2 milliards 4 de marks. Un résultat significatif du progrès de l’industrie est l’organisation des travailleurs industriels en vue du salaire. Les syndicats (sociétés) de travailleurs qui se placent sur le « terrain des tendances modernes de travailleurs » – c’est-à-dire, à quelques exceptions près, ceux qui sont liés à la démocratie sociale – ont augmenté leur nombre; leur nombre s’est élevé de 277.659 dont   » femmes, en 1891 á 680.427 dont 22.844 femmes, en 1900. (Il ne s’agit là que des organisations soumises à la commission générale.) A cela viennent s’ajouter 10,000 membres des organisations locales (c’est-à-dire celles qui ne sont pas soumises à la commission générale). Les syndicats chrétiens comptent en 1900 près de 16.000 membres; ces associations créées d’après le système « Hirsch-Dunker » (le vieux type), 30

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à la commission générale: Gemeint ist die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch­­ lands“, weil sie zu der Zeit die frei-gewerkschaftliche Dachorganisation in Deutsch­­land ist. Hirsch-Dunker:  Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine wurden am 28. September 1868 gegründet. Sie waren offiziell bis 1919 Verband der deutschen Gewerkvereine und ab 1919 Teil des Gewerkschaftsrings deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände.

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sous l’égide du parti libéral: 92.000; enfin les associations indépendantes: 54,000 membres. Quoique toute organisation agisse plutôt comme un frein que comme un stimulant sur la tendance à la grève, néanmoins la forte impulsion de l’industrie ne pouvait qu’avoir comme résultat une augmentation des grèves, qui a atteint son plus haut degré, vraisemblablement, en 1899. Depuis cette année, on a entrepris une statistique officielle des grèves pour l’empire, qui a attesté un chiffre de 1.288 grèves avec 100.000 grévistes volontaires et 10.000 qui se sont trouvés sans travail du fait de la grève. Cependant cette statistique, donnée par l’autorité policière, est tenue pour douteuse. Dans plusieurs villes ont été institués des secrétariats de travailleurs, particulièrement destinés à communiquer les renseignements sur la législation sociale. Les sociétés coopératives prirent aussi durant ces dix dernières années un important développement et surtout parmi les agriculteurs et les travailleurs industriels. Les sociétés de cette espèce étaient en 1900, pour l’agriculture, au nombre de 50,000, parmi lesquelles plus de la moitié appartenait à l’union générale; elles servent partie au crédit, partie à l’achat et à la vente coopératifs, partie à la production coopérative (notamment du beurre). Les travailleurs se sont tournés dans une plus forte mesure vers les sociétés de consommation, et avec l’idée de produire euxmêmes aussitôt que cela sera possible (ceci est particulièrement vrai pour la grande société de Hambourg). Les autres sociétés de l’union sont des sociétés de crédit, surtout destinées à venir en aide aux artisans et eux petits commerçants. Mais ces sociétés n’ont encore pris qu’un faible développement. Le progrès des sociétés de consommation ressortira plus clairement de quelques chiffres: d’après la liste de l’Union Générale en 1890, on comptait: 253 sociétés avec 215,000 membres, 52 millions comme chiffre d’affaires et 6 millions 1/2 de fortune; en 1900: 568 sociétés avec 522,000 membres, 108 millions d’affaires et 157 millions de fortune. Les plus importantes de ces associations se sont réunies en une « société pour l’achat en gros ». Elles étaient l’année de la fondation au nombre 17 29

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l’union générale: Gemeint ist die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“. 157 millions de fortune: Als Quelle für die Zahlen diente Tönnies das Correspondenzblatt. „Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Hamburg 1891–1919“. société pour l’achat en gros: Die Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine m.b.H. (GEG) war als ein gemeinwirtschaftliches Unternehmen die Waren- und Wirtschaftszentrale von Konsumvereinen der sogenannten Hamburger Richtung von 1894 bis zum Ende der Weimarer Republik. Die erste Gründungsversammlung der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine fand am 6. und 7. April 1893 in Leipzig statt.

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de 47 avec un demi-million comme chiffre d’affaires, mais en 1900 elles étaient 104 avec un chiffre d’affaires de 8 millions. De même que ce mouvement des classes ouvrières tient en partie à des motifs politiques et est en partie paralysé par des raisons politiques, de même un mouvement de la classe gouvernante et de la classe moyenne qui a aussi des allures économiques empiète sur le domaine politique: c’est le mouvement agraire. Dans les premières années de ce décennaire une vive agitation fut faite en faveur de ce mouvement. Le 18 février 1893, il y eut à Berlin une assemblé: d’environ 7,000 personnes qui fonda l’« Association des cultivateurs ». Le but de cette association fut ainsi défini : Tous les intéressés sans tenir compte du parti politique auquel ils appartiennent et de la grandeur de leurs propriétés, se réuniront pour exercer leur influence sur l’émission des lois afin que l’agriculture soit représentée au Parlement d’une façon correspondante à son importance. De fait, ce n’était pas seulement une association économique, mais un nouveau parti politique. Nous ne considérons ici cette association que sous le premier point de vue. L’association voyait son premier devoir dans la lutte contre les traités de commerce, lutte qui demeura d’abord sans succès; elle voyait son second devoir dans le renversement du ministère Caprivi, qui aboutit (voyez plus bas). La proposition Kanitz (voyez plus bas) fut appuyée par les agitations de l’association. Malgré l’opposition passionnée qui souleva le mécontentement du monarque, les «  leaders  » de l’association réussirent de plus en plus à gagner de l’influence auprès de lui. En même temps l’association gagna un nombre de plus en plus grand de partisans, même parmi les paysans, qui sceptiques au début s’étaient tenus à l’écart du mouvement commencé par les grands propriétaires de l’Est. Mais en Bavière, subsista une association des paysans opposée au clergé et à la noblesse. L’association des cultivateurs s’unit en 1895 au mouvement bimétallique qui était en train de tomber et qui d’autre part était représenté par l’« union des réformateurs de l’impôt et de l’économie nationale » qui de son côté avait des tendances

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Association des cultivateurs: Der Bund der Landwirte (BDL bzw. BdL) war eine am 18. Februar 1893 gegründete Interessenorganisation der Landwirtschaft im Deutschen Reich. Kanitz: Graf Hans von Kanitz stellte als Vertreter der agrarischen Richtung 1894 und 1895 den nach ihm benannten Antrag (Antrag Kanitz), dass die Regierung, um den Getreidepreis in der Hand zu haben, alles vom Ausland zu beziehende Getreide ankaufen und zu einem Durchschnittspreis verkaufen sollte; der Antrag wurde vom preußischen Staatsrat, der Regierung und auch vom Reichstag abgelehnt.

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analogues. En 1896 on en arriva à un confit violent avec le nouveau ministre de l’Agriculture prussien, M. de Hammerstein, qui en septembre présenta au roi un écrit qui passait en revue les mesures qui avaient été prises dans les dernières années en Prusse pour les besoins de l’agriculture. Le 1er février 1897, l’association comptait 184,000 membres parmi lesquels 72 0/0 étaient des petits propriétaires. Cette année là le ton de l’association devint plus modéré. Avant les élections de 1898 elle entra en conflit avec le parti conservateur, parce qu’elle ne voulait pas rester une simple ramification de ce parti. Ce conflit fut bientôt effacé par l’opposition commune contre le plan de canalisation du gouvernement prussien. A ce succès s’ajouta une agitation énergique au profit de l’élévation de l’impôt sur les céréales à la fin du traité de commerce (1903). L’association porta le nombre de ses membres, en 1900, à 206,000. L’association était intérieurement contre l’agrandissement répété de la flotte (un propos du secrétaire, le Dr Hahn, sur la « flotte dégoûtante » fut fort commenté). Les membres du Parlement donnèrent cependant leurs  1

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tendances analogues: Otto Arendt z.B. war Mitbegründer des Vereins der „Bimetallbewegung“. Durch seine Schrift „Die vertragsmäßige Doppelwährung“ von 1880. Ein Vorschlag zur Vollendung der Deutschen Münzreform, Berlin 1880“ bekam er Anschluss an die Bewegung für Bimetallismus. Im Streit zwischen den Anhängern einer Gold- oder Silberwährung trat Arendt für eine Doppelwährung auf Gold- und Silberbasis ein. Diese sollte auf internationalen Verträgen beruhen und so Währungsschwankungen verkleinern. Im Jahr 1882 wurde Arendt Mitbegründer des „Deutschen Vereins für internationale Doppelwährung“. Der „Verein der Wirtschafts- und Steuerreformer“, französisch: „union des réformateurs de l’impôt et de l’économie nationale“, wurde 1876 von preußischen Großgrundbesitzern gegründet und war ein Interessenverband der Industriellen und Großagrarier. M. de Hammerstein: Ernst Georg Freiherr von Hammerstein-Loxten war ein deutscher Jurist und Politiker im Königreich Hannover. Nach Hannovers Annexion durch das Königreich Preußen war er von 1894 bis 1901 preußischer Landwirtschaftsminister. parti conservateur: Die Konservative Partei entwickelte sich 1848 in Preußen aus der relativ losen Zusammenarbeit konservativer Vereine, Gruppierungen und Abgeordneter. Zu ihnen gehörten unter anderem der Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes, Friedrich Julius Stahl und die Brüder Leopold von Gerlach und Ludwig von Gerlach, die in der „Kreuzzeitung“ publizierten. Nach dieser wurde die Gruppierung ab 1851 auch „Kreuzzeitungspartei“ genannt. 1876 ging die Konservative Partei in der neu gegründeten Deutschkonservativen Partei auf. contre le plan de canalisation: Die Deutschkonservativen stimmten 1898 und 1899 geschlossen für die Flotten- und Militärvorlagen und zeigten sich im preußischen Landtag als Gegner des Mittellandkanals („Kanalrebellen“). le Dr Hahn: Christian Diederich Hahn war ein zunächst nationalliberaler, später konservativer deutscher Politiker und führender Funktionär und anti-großkapitalistischer, antisemitischer Ideologe des Bundes der Landwirte. Wie viele Konservative stand Hahn der Flottenpolitik von Alfred von Tirpitz skeptisch gegenüber. Er sprach von der „grässlichen und hässlichen Flotte.“ Siehe dazu Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Machtstaat vor der Demokratie. München 1992, S. 539.

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voix pour la flotte, pour des raisons politiques. En novembre 1900, il se forma contre l’association des agriculteurs une « association pour les traités de commerce » sous la présidence du Dr G. von Siemens. Dans ces dernières années, l’«  Association des réformateurs du sol  » gagne dans les grandes villes quelque influence sur la politique communale. Cette association combat principalement les spéculations sur le terrain. L’association pour une loi sur les habitations, fondée en 1898 et qui a son siège à Francfort-sur-le-Mein, a un but analogue.

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Des oppositions des intérêts économiques, résultent directement les mouvements et les combats de la politique intérieure. Les oppositions les plus significatives de cette sorte sont: 1° L’opposition entre la campagne et la ville, qui se manifeste sous des formes multiples, mais qui se couvre surtout de l’opposition entre les intérêts de l’agriculture d’une part et ceux de l’industrie et du commerce de l’autre. Cette opposition d’intérêts n’est pas aussi tranchée, et souffre un certain déplacement par suite de ce fait que la grande industrie et le grand commerce se concentrent de plus en plus autour des grandes villes, et que par suite les intérêts de la petite industrie et du petit commerce se rencontrent avec ceux de l’agriculture. C’est là que gît ce qui se présente depuis peu en Allemagne sous le nom de mouvement de la classe moyenne, qui a gagné de l’influence au point de vue politique. 2° L’opposition du capital et du travail, qui se manifeste surtout dans le domaine de la grande industrie et des grandes villes. La première de ces deux oppositions parvint, comme nous l’avons déjà remarqué, dans cette période de dix ans que nous étudions, à un nouvel et puissant développement, dans la lutte à propos des traités de commerce et des droits de douane sur les objets nécessaires à l’existence. Les efforts de l’industrie, et surtout de l’industrie d’exportation, rendirent nécessaire un relâchement dans la politique protectionniste inaugurée en 1879, qui avait eu principalement pour objet l’industrie nationale du fer, mais qui, de plus en plus, s’appliqua à l’agriculture: c’est lui qui a permis jusqu’ici aux intérêts agricoles et industriels de se soutenir. Mais, les tendances libre-échangiste s’accentuèrent durant la crise aiguë qui se déclara dans la seconde moitié de l’année 1891. Cette transformation coïncide extérieu 4

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Association des réformateurs du sol: Der Deutsche Bund für Bodenreform war ein sozialreformerischer Verein mit dem Ziel der Bodenreform. Er wurde 1898 gegründet, bereits im selben Jahr in Bund Deutscher Bodenreformer umbenannt. loi sur les habitations: Im Jahre 1898 wurde der „Verein Reichswohnungsgesetz“ (ab 1904 „Deutscher Verein für Wohnungsreform“) von Karl von Mangoldt gegründet.

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rement avec le changement de gouvernement en Prusse et dans l’empire. Le jeune empereur et son nouveau chancelier d’empire (après le départ de Bismarck) le général Caprivi prirent personnellement parti pour les traités de commerce. La résistance contre cette politique, de même que contre l’ensemble du « nouveau courant », fut appuyée par le prince de Bismarck, qui comme Achille dans sa tente, contemplait les combats avec rancune. Au début, l’opposition contre les traités de commerce fut faible. Le 7 décembre 1891, furent présentés au Reichstag les traités avec l’Autriche-Hongrie, l’Italie et la Belgique, et en janvier 1892 celui avec la Suisse. Ces traités furent rapidement acceptés; ils eurent même comme partisans une minorité du parti conservateur allemand, malgré l’abaissement des droits de douane sur le froment et le seigle de 5 marks à 3 marks 50. La résistance fut affaiblie d’abord par cette circonstance que les prix des grains de l’année 1891 atteignirent une élévation extraordinaire, par suite d’un important manque de la récolte; elle s’accrut lorsque ce fait eut cessé. Alors les « petits traités de commerce » (avec l’Espagne, la Roumanie et la Serbie) donnèrent lieu en novembre et décembre à de vifs débats au sein du Reichstag, nouvellement élu entre temps. Il y eut une lutte très forte sur le nouveau grand traité de commerce, conclu avec la Russie; le tarif fut publié le 6 février 1894 et vint devant le Reichstag le 19. Dans l’intervalle (le 17) eut lieu une réunion de la société des cultivateurs, où la lutte fut déchaînée contre le gouvernement et le régime personnel. Néanmoins le traité qui mettait fin à une guerre douanière très gênante avec la Russie, résultat du tarif russe de 1889, fut ratifié en mars par 200 voix contre 146; le parti social démocratique se fit, dans cette occasion, un des soutiens du gouvernement. Dans l’année suivante se manifesta l’action politique de l’agitation agraire, à l’occasion d’une proposition du comte Kanitz qui voulait fixer légalement un prix moyen des grains, faire donc, du commerce des grains, un intérêt d’État. La proposition, qui fut considérée par l’opinion publique comme ayant un caractère socialiste, fut par trois fois portée devant le Reichstag, et fut, la troisième fois, en janvier  5

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nouveau courant: Der „neue Kurs“ ist ein Begriff zur Bezeichnung der innenpolitischen Neuorientierung nach der Entlassung von Otto von Bismarck im Deutschen Kaiserreich. Von der modernen Wissenschaft wird er meist mit der Zeit der Kanzlerschaft von Leo von Caprivi (1890–1894) gleichgesetzt. Siehe dazu: Hartwin Spenkuch (Bearb.): Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Band 8/I und Band 8/II: 21. März 1890 bis 9. Oktober 1900, Hildesheim/Zürich/New York 2003, Einleitung, S. 3. le régime personnel: Caprivis Handelsverträge, die er mit Russland und Österreich abschloss und die sich für Industrie und Handel sehr segensreich auswirkten, wurden von der Landwirtschaft als eine Gefährdung ihrer Lebensfähigkeit angesehen. Siehe: Otto von Kiesenwetter, 25 Jahre wirtschaftspolitischen Kampfes. Geschichtliche Darstellung des Bundes der Landwirte, Berlin 1918, S. 14.

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1896, repoussée par 219 voix contre 97. Vers la fin de la période décennale, la propagande agrarienne, en vue de la proche expiration des traités de commerce qui avaient été conclus pour 12 ans, devint plus pressante, et émit des prétentions qui ne se contentaient pas seulement de la remise en vigueur des droits de douane antérieurs, mais voulaient aller beaucoup plus loin encore2. L’opposition entre le capital et le travail est en même temps une préoccupation constante de la législation. L’initiative de la politique sociale, à la tête de laquelle s’était placé le nouvel empereur, par ses actes personnels (les deux décrets de 1890 qui sont étroitement liés avec la chute du prince de Bismarck), conduisit à une série de lois sociales, dont la plus grave, du 1er juin 1891, a été déjà mentionnée dans notre précédente chronique (Revue internationale de Sociologie, IV, p. 43). Déjà l’année précédente (loi du 29 août 1890), l’institution facultative de tribunaux industriels, sur la base de la parité, avait été décrétée par une loi de l’empire. Les tribunaux industriels peuvent aussi être appelés à remplir le rôle de conciliateurs dans les cas de différends au sujet des rapports entre patrons et ouvriers (grève et renvois). En 1892 fut établie une commission de statistique du travail, qui a fait une certain nombre d’enquêtes, en particulier sur la durée du travail dans les boulangeries et confiseries, sur la durée et les autres conditions du travail dans le commerce, sur le travail et le salaire des garçons et servantes. Des règlements protecteurs du Bundesrath suivirent. L’époque de réforme sociale, qui s’affirma par ces mesures, fut néanmoins de courte durée. Pendant les années 1892–1895, s’accrut la résistance des entrepreneurs qui se répandaient surtout en plaintes irritées contre la conduite du parti social-démocratique, après que ce parti se fut montré en majeure partie hostile à la réforme impériale, et eut fait connaître ses sentiments invariablement hostiles à la monarchie et au nationalisme.

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Walther Lotz a consacré aux luttes de cette année un exposé pénétrant et attentif « Die Handelspolitik des Deutschen Reiches unter Graf Caprivi: und Fürst Hohenlohe » dans Schriften des Vereins für Sozialpolitik, XCII.

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loin encore: Ergänzung zu Fußnote 2: Walther Lotz, Die Handelspolitik des Deutschen Reiches unter Graf Caprivi und Fürst Hohenlohe 1890–1900, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik 92, Beiträge zur neuesten Handelspolitik Deutschlands, dritter Band, Leipzig 1901. Revue internationale de Sociologie: Gemeint ist: Ferdinand Tönnies, Mouvement social, Allemagne, (Suite et fin) (1) [Fortsetzung des Artikels, der 1895 in gleicher Reihe erschien, s.o.], in: Revue internationale de sociologie, Organe de l’Institut international de sociologie, René Worms (Hg.), Quatrième Année, Paris 1896, S. 43.

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Des événements étrangers vinrent aussi en aideaux sentiments antirévolutionnaires des autres partis, ainsi et surtout le meurtre du Président de la République française, Carnot, le 24 juin 1894. Un discours de l’empereur allemand à Kœnigsberg s’ensuivit, le 6 septembre, qui se termina sur cette péroraison: « Debout pour le combat pour la religion, la tradition et l’ordre contre les partis de la révolution ! » Ces paroles marquaient le signal d’un nouveau projet de loi du gouvernement, dirigé contre la démocratie sociale, qu’on appela « loi antirévolutionnaire (Umsturzgesetz), qui présenté en janvier et mai 1895 par le chancelier d’empire nouvellement nommé, le prince Hohenlohe, fut repoussé par la majorité du Reichstag: ce résultat fut dû en partie à l’aggravation que les membres conservateurs et cléricaux de la commission avaient apportée aux propositions concernant la loi pénale. Ainsi tandis que la législation sociale en faveur des travailleurs ne faisait que de peu appréciables progrès, et qu’une légère amélioration des lois existantes était seulement effectuée, les gouvernements confédérés s’efforçaient de favoriser le mouvement des classes moyennes par une organisation du travail des petits artisans. A cette fin devait servir la création de comités d’union et de chambres des artisans. Cette loi (du 26 juillet 1897) tend vers une restauration de l’organisation corporative avec certains droits de contrainte. Cependant il n’était pas donné satisfaction au désir des patrons de corporations (« Zünftler »), à savoir que personne ne pût entreprendre un travail sans avoir un « certificat d’aptitude ». Dans le même sens fut promulguée une loi destinée à combattre la concurrence déloyale (27 mai 96) et il fut ajouté un article relatif à l’ordonnance sur l’industrie, qui était surtout destinée à réglementer et limiter le commerce du colportage (loi du 6 août 1896) et une loi qui avait pour but d’entraver les sociétés de consommation. La loi sur les bourses (22 juin 96) et la loi sur les dépôts (5 juillet 96) ont aussi la même origine.  3

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Carnot, le 24 juin 1894: Marie François Sadi Carnot, französischer Staatspräsident von 1887 bis zu seiner Ermordung 1894. Um einer Welle anarchistischer Anschläge zu begegnen und die Agitation der Gewerkschaften zu unterbinden, wurden 1893/1894 die Gesetze betreffend die persönliche Freiheit und die Vergehen der Presse Lois scélérates verabschiedet. Diese wurden von der sozialistischen Opposition als kriminell bezeichnet. Vor diesem Hintergrund wurde Carnot am 24. Juni 1894 in Lyon nach einer Rede von dem italienischen Anarchisten Sante Geronimo Caserio mit einem Messer verletzt und verstarb wenige Stunden später. la révolution: Siehe dazu: Karl Erich Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte der innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890–1914, Wiesbaden 1957, S. 116. (Umsturzgesetz): Siehe dazu: Umsturzgesetz und Landtagswahlen in Preußen, Karl Kautsky, in: Die neue Zeit, Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie, Heft 35, Stuttgart 1897, S. 275-282.

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Par la loi sur les bourses, le marché à terme fut limité et dans certains cas défendu. Une novelle ultérieure (loi du 30 juin 1900) tient le milieu entre la législation favorable aux classes moyennes et celle favorable à la classe des ouvriers car elle a surtout en vue la protection des employés de magasin: le mouvement des ouvriers se rencontre sur ce point avec celui des classes moyennes, et utilise, en vue de ses fins, la même tendance politique (antisémitisme). La protection des travailleurs se trouva en collision avec les intérêts d’un groupe important de la classe moyenne, à la suite de l’ordonnance qu’avait édictée le Bundesrath, le 4 mars 1896, sur la durée du travail dans les boulangeries. Ce n’est que vers la fin de cette époque que se manifeste une faible renaissance de la législation favorable aux travailleurs, particulièrement par la réforme de l’assurance contre l’invalidité, à laquelle contribua aussi le parti social-démocratique. (Loi du 13 juin 99). Assez significative aussi était l’extension de l’assurance obligatoire contre la maladie à l’industrie domestique (1899). Un vif combat se livra aussi pour ce que l’on appela la protection des « volontaires du travail »: Un projet de loi, qui fut pris à l’instigation personnelle de l’empereur, menaçait toute atteinte des grévistes contre leurs concurrents et l’encouragement à la grèves de nouvelles et sévères pénalités. Le projet fut désigné non seulement par les adhérents du parti socialiste, mais aussi par beaucoup d’autres comme tendant à la destruction du droit de coalition des travailleurs. Il reçut le nom populaire de « loi de maison de correction ». Les délibérations se terminèrent par un complet échec des gouvernements fédérés et le retrait des mesures proposées. Dans le nouveau siècle fut prise en outre une loi pour régler le travail des gens de mer, destinée à remplacer la loi du 27 décembre 1872, absolument surannée. Là aussi il y eut de nouveau une forte collision entre les intérêts du capital et du travail. Une autre législation très importante de l’empire qui mérite d’être mentionnée est, avant tout, le code civil, qui fut voté 1er juillet 1896 par 222 voix contre 48 et 18 abstentions (Loi du 18 août 1896). Cet acte est estimé comme une grande œuvre nationale, résultat d’un savant travail de vingt années. Le code reçut force de loi à partir du 1er janvier 1900 – dans la supposition erronée que cette date marque le début du nouveau siècle. Le code est, pour l’empire allemand, la confirmation de l’état et l’organisation de la propriété privée capitaliste; il est en même temps la victoire

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parti socialiste: Gemeint ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, SPD. „Besserungsanstalts-Gesetz“, im Text: „loi de maison de correction“ ist so zwar korrekt übersetzt. Lt. aller Quellen wurde die Gesetzesvorlage aber „Zuchthausvorlage“ genannt.

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complète de la loi écrite sur le droit coutumier. – Un nouveau code de commerce entra en même temps en vigueur (du 10 mai 97). Vers la même époque échoua un projet de réforme judiciaire et de réforme de la procédure pénale dans lequel en particulier la réintroduction en matière pénale de l’appel des chambres correctionnelles aux tribunaux supérieurs était surtout importante. Une loi pénale dirigée contre les souteneurs (Lex Heinze) fit aussi l’objet de vives discussions. Elle avait été provoqué par un procès criminel à Berlin, et répondait aux désirs exprimés de l’empereur. Après que en 1892 un projet visant ce but eut échoué, un nouveau projet qui visait une réglementation générale de la prostitution, fut soumis à une commission, dans laquelle le parti du centre, appuyé par celui des conservateurs, introduisit des mesures bien plus graves. Celles-ci, pour protéger la pudeur et la moralité, menaçaient de peines sévères les écrits, les images et autres modes de représentation. Les dispositions de cette loi eurent pour résultat, en mars et en mai, une obstruction au Reichstag de la minorité, qui, dans cette circonstance, fut conduite par le parti socialiste. Cette obstruction eut pour conséquence qu’une partie seulement de la « Lex Heinze » fut adoptée (Loi du 25 juin 1900). L’excitation se communiqua à des cercles plus étendus et eut comme conséquence, à Berlin et dans d’autres grandes villes, la fondation d’« Unions de Gœthe » (« Gœthe-Bunde »), qui s’assignèrent comme devoir la protection de la liberté de l’art et de la science. Dans les budgets de cette période de dix années, il y a surtout à relever l’extraordinaire augmentation des dépenses de la marine impériale. Ceci résulte aussi de l’initiative personnelle de l’empereur. Un mouvement populaire prit naissance en faveur de la flotte, mouvement qui, avant tout, s’appuyait sur la nécessité, pour le commerce maritime de l’empire, d’avoir une plus forte protection. Le premier grand projet d’augmentation de la flotte, destiné à en établir par loi la valeur, vint pour la première fois en délibération le 6 décembre 1897. Après que le parti du centre se fut principalement prononcé pour la concession, l’accroissement fut voté et passa en force de loi, après quelques modifications de la commission du budget (Loi du 10 avril 98). Déjà le 11 décembre 1899 il fut donné au Reichstag communication qu’une novelle pour l’extension et l’achèvement de la loi sur la flotte était en préparation, mesures dont la nécessité  7

(Lex Heinze): Die sogenannte Lex Heinze war ein umstrittenes Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches, mit dem in Deutschland im Jahre 1900 die öffentliche Darstellung „unsittlicher“ Handlungen in Kunstwerken, Literatur und Theateraufführungen zensiert sowie der Straftatbestand der Zuhälterei eingeführt wurde. Kurztitel: Lex Heinze, Reichsgesetz, Strafrecht, Fundstellennachweis: RG Nr. 2683, Erlassen am 25. Juni 1900 (RGBl. S. 301-303).

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résultait d’après la motivation officielle de la situation politique générale et de la politique d’outremer de l’Allemagne en particulier. Les dépenses devaient être couvertes par des emprunts, et l’ensemble des dépenses de cette catégorie fut évalué pour 16 ans à 783 millions de marks. Le nouveau projet de loi vint pour la première fois devant le Reichstag le 8 février 1900, et fut renvoyé à la commission du budget. Au sein de cette commission l’augmentation de la flotte extérieure fut repoussée, mais la flotte de guerre fut accordée, et sous cette forme l’ensemble du projet fut adopté par 201 voix contre 103 (Loi du 14 juin 1900).

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Parmi la législation des États particuliers nous allons énumérer ce qui a quelque importance pour la chronique sociale. A) En Prusse, l’année 1891 apporta une nouvelle loi sur l’impôt sur le revenu avec progression de 2/3 - 4 0/0, et l’obligation de la déclaration. Il y eut aussi un retrait financier et définitif du gouvernement dans le « Kulturkampf », par lequel il fut décidé qu’on rendrait à l’Église catholique l’argent (plus de 16 millions) dont le paiement avait été suspendu par une loi en 1875. L’année suivante vit se produire un grand mouvement causé par le projet d’une loi sur les écoles populaires à caractère confessionnel; à la suite d’une vive opposition ce projet fut retiré par le gouvernement le 28 mars. L’année 1893 se termina par une loi soi-disant supplémentaire, par laquelle un impôt fut fixé sur la fortune soit mobilière soit immobilière. Un orateur libéral affirma que par cette loi on posait le principe que la propriété privée était propriété d’État. La même année une partie de l’excédant de l’impôt sur le revenu fut destinée à l’amélioration du salaire des instituteurs et institutrices et à la construction des écoles populaires. En 1894, des Chambres d’agriculteurs furent instituées qui étaient destinées à l’organisation corporative du métier agricole. La même année fut promulguée une loi nouvelle, loi pour l’établissement des églises évangéliques. En 1895 on s’occupa de l’amélioration des habitations ouvrières dans les industries exploitées par l’État. En 1896 fut achevée une loi sur le droit des héritiers privilégiés de ventes, dont le ministre de l’agriculture déclara qu’elle inaugurait la réforme du droit agraire en Prusse. Une loi 15

Kulturkampf: Der sogenannte Kulturkampf war ein Streit zwischen der katholischen Kirche und dem Staat in Deutschland und namentlich in Preußen seit 1872, ein zuerst von Virchow gebrauchtes Wort im Sinne eines „Kampfes für die Kultur“, von den Ultramontanen spöttisch in dem Sinne gebraucht, daß der K. die Bekämpfung der Kultur, d.h. der katholischen Kirche, sei, wie sie denn auch einen besonders eifrigen Verteidiger der staatlichen Autorität gegenüber der römischen Kurie als Kulturkämpfer zu bezeichnen pflegen.

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visant la réglementation uniforme du salaire des instituteurs des écoles populaires échoua contre la résistance de la première chambre (Herrenhaus). En 1897 fut discuté un projet de loi destiné à limiter le droit d’association et de réunion, qui fut appelé la petite loi socialiste. Le projet tomba à la troisième lecture à une faible majorité (209 voix contre 205), à la Chambre des députés. En 1898 on s’occupa d’un projet de loi tendant à établir une procédure disciplinaire contre les « privat-docenten » des Universités prussiennes, loi destinée à enlever la « venia legendi » à un «  privat-docent  » de l’Université de Berlin qui appartenait au parti social-démocratique. C’est ce que fit le ministère d’État, après que la Faculté de philosophie, jugeant en première instance, eut acquitté le savant accusé. En 1899 commença la grande lutte entre le gouvernement et la majorité conservatrice de la Chambre des députés à propos des canaux: l’obstacle était surtout l’union projetée du Rhin et de l’Elbe (le « Mittellandcanal »). Le parti conservateur croyait voir dans ce canal un sacrifice des intérêts de l’agriculture au profit des intérêts de l’industrie. Le projet fut repoussé à une grande majorité. Parmi les lois prussiennes de l’année 1900 il faut signaler la loi sur l’assistance publique des enfants criminels ou privés de soins, qui est une extension du droit en vigueur jusqu’ici de cette matière. (Loi du 2 juillet 1900). B) Jetons encore un regard sur la législation des autres États: voici, d’une façon générale, ce qu’on y rencontre: 1° dans le royaume de Saxe, il faut signaler, en 1896, une modification apportée à la Constitution par une nouvelle loi électorale, substituant le suffrage indirect au suffrage direct et élevant notablement le cens électoral. Ce fut là une mesure dirigée contre le parti social-démocratique, qui avait gagné 54 des 82 sièges de la seconde chambre. 2° Le Grand-Duché de Hesse conclut en 1897 une convention avec la Prusse ayant trait au passage d’un chemin de fer du Grand-Duché dans la propriété du gouvernement prussien. 3° En Bavière, l’année 1897 se signale par le vote d’une loi de dégrèvement, d’après laquelle, en vue du dégrèvement et de la suppression de l’impôt foncier, fut créé un fonds d’amortissement doté d’un capital de 5 millions de marks. – 4° En Wurtemberg, fut proposée et discutée une révision de la Constitution qui, entre autres nouveautés, voulait introduire le suffrage universel et direct. Dans le Grand-Duché de Bade ou s’occupa de même en 1900 de la réforme du droit électoral, sans aboutir à un résultat. Dans plusieurs États aussi, on accomplit des réformes de l’impôt; dans plusieurs, tels que le Duché de Hesse et la ville libre de Hambourg, on commença à réformer les habitations ouvrières. Dans les États de l’Allemagne du Sud on eut à s’occuper à mainte reprise de la situation politique

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de l’Église, surtout dans le Duché de Bade, où le parti catholique et le parti libéral ont à peu près la même puissance et sont continuellement en lutte l’un avec l’autre. Nous allons maintenant examiner brièvement les principaux événements de la vie politique intérieure de l’Empire et des différents États. La première moitié de la période est remplie par l’opposition du prince de Bismarck contre la personne et la politique de l’empereur. Le prince se vengea de sa disgrâce par des critiques directes et indirectes contre la politique de son successeur le comte Caprivi. Il exprima ces critiques en partie par l’intermédiaire des journaux qui lui étaient acquis et particulièrement des « Hamburger Nachrichten, » et en partie dans des discours assez nombreux. Ce qu’il y eut de plus significatif, ce fut la désapprobation manifestée contre la tendance gouvernementale de la réconciliation, et particulièrement contre la politique sociale qui avait eu son expression dans les manifestes impériaux de février 1890. Contre cette opposition, servie par la popularité dont le prince jouissait auprès d’une grande partie du peuple, l’empereur se défendit par un grand nombre de discours et de proclamations; ce passage de l’un d’eux: «  Regis voluntas suprema lex esto » fit grand bruit en 1891. La même année le prince de Bismarck fut élu au Reichstag; mais il n’a pas rempli son mandat. Il continua à attaquer ouvertement et violemment la politique du comte Caprivi. Son voyage à Vienne, en 1892, lui en fournit une occasion particulière. Les proclamations que le prince dirigea à cette occasion contre la politique de l’empire déterminèrent Caprivi à publier le 8 juillet deux décrets, dont l’un, du 23 mai 1890, était adressé à toutes les légations, et l’autre, à l’ambassadeur de Vienne; tous deux étaient des polémiques contre le prince de Bismarck. Il était dit dans l’un d’eux, que même un rapprochement entre l’empereur et son ancien chancelier, – rapprochement pour lequel ce dernier devrait, en tous cas, avoir l’initiative, – n’irait jamais assez loin pour que l’opinion publique fût autorisée à juger que le prince de Bismarck eût regagné une influence quelconque sur les affaires de l’État. C’est alors que le conflit atteignit son apogée. Les proclamations de Bismarck continuèrent. En l’automne de 1893 une grave maladie du vieillard conduisit l’empereur à faire un premier pas, que d’autres suivirent. En janvier 1894, il envoya au prince une bouteille de vin; une visite de Bismarck à Berlin s’ensuivit, que l’empereur rendit en février. La signifi19

fit grand bruit en 1891: So kränkte Wilhelm die Bayern schwer, als er im November 1891 bei einem Besuch in das Goldene Buch der Stadt München schrieb: «Suprema lex regis voluntas esto!» Dass der Wille des Königs von Preußen und deutschen Kaisers für sie das oberste Gesetz sein sollte, empörte die Bayern. Siehe dazu: Deutsche Geschichte, vom Bismarck-Reich zum geteilten Deutschland, Johannes Bühler, Berlin 1960, S. 162.

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cation politique de ces événements fut que la situation du comte Caprivi fut ébranlée, et que, par suite, l’opposition agrarienne fut exploitée contre lui. L’année 1893 apporta de nouvelles élections pour le Reichstag et le Landtag prussien. Le Reichstag fut dissous le 6 mai. Le projet de loi militaire, qui, par le service provisoire de deux ans, impliquait une augmentation considérable de l’effectif de l’armée en temps de paix, ne trouva pas de majorité; les partis ne purent s’entendre sur les modifications. Les nouvelles élections eurent lieu le 15 juin. Le résultat fut un amoindrissement des partis libéraux; le centre, de même, vit diminuer le nombre de ses représentants. Par contre les trois fractions de la droite gagnèrent 20 sièges. Ce fut une victoire pour le parti agrarien et le prince de Bismarck. La législature de la Chambre des députés prussienne s’acheva normalement. Les élections eurent lieu le 31 octobre, et eurent un résultat analogue à celui des élections du Reichstag, avec un avantage encore plus accentué au profit des conservateurs. La chute du ministère Caprivi était préparée par ces deux élections. Le 20 octobre 1894, l’empereur reçut une délégation de l’Union des Agriculteurs de l’Est de la Prusse. A la même époque l’empereur se mit à sévir, par de nouvelles répressions, contre la démocratie sociale. Le 16 octobre, le comte Caprivi et son antagoniste le comte Eulenburg (le chef du ministère prussien) se retirèrent en même temps. Le Statthalter d’Alsace-Lorraine, le prince Hohenlohe, ancien président du Conseil des ministres de Bavière, fut nommé chancelier de l’Empire, et le réactionnaire M. de Köller, ministre de l’intérieur en Prusse. Peu après, un nouveau ministre prussien, pour l’agriculture, entra en fonctions: ce fut M. de Hammerstein. A la même époque s’alluma la lutte contre la révolution, soutenue par l’agitation agrarienne. Dans le ministère prussien, le ministre des finances Miquel qui s’était déjà montré favorable aux tendances agrariennes prit de plus en plus la haute main. Ces tendances prirent un nouvel essor dans la première moitié de l’année 1895. La « proposition Kanitz » (déjà mentionnée) fit grand bruit, de même que les propos hostiles du monarque. Comme se rapportant à ce mouvement, il faut aussi citer les grands discours tenus par Bismarck à l’occasion de son 80e anniversaire (I, IV, 1895). En juin eut lieu aussi l’ouverture du canal de la mer Baltique et de la mer du Nord, qui reçut le nom de « Canal de l’Empereur Guillaume ». Cette même année aussi tombèrent les fêtes commémoratives de la campagne de 1870, qui furent l’occasion d’une nouvelle collision avec la démocratie sociale. A l’occasion des fêtes commémoratives de la constitution de l’empire allemand, le 18 janvier 1896, l’empereur parla de « l’empire allemand agrandi », désignant ainsi les colonies d’outre-mer. A cela vint se joindre l’agitation causée par

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« l’augmentation de la flotte », à l’occasion de quoi Bismarck renouvela ses critiques. En août 1896, le changement survenu dans le ministère de la guerre en Prusse fut un gros événement, car on y apercevait l’influence clandestine d’un « gouvernement militaire », mais la nouvelle que la réforme concernant les procès criminels militaires était accomplie fut accueillie avec une satisfaction générale. Cette même année (1896) deux grèves acquirent une véritable signification politique. D’abord, au début de l’année, la grève d’ouvriers et surtout des ouvrières en confection, à Berlin, Stettin, Breslau, Erfurt et autres villes. La pression de l’opinion publique qui, dans ce cas, prit assez vivement parti pour les grévistes, conduisit à un arrangement assez favorable et supportable, mais dont les effets ne furent pas de longue durée; c’est qu’il s’agit le plus souvent ici d’un « travail à domicile, » qui est exploité de la façon la plus dure par le système des contre-maîtres. Un effet heureux de la grève fut une ordonnance du Bundesrath de l’année suivante, qui vint limiter la durée excessive du travail dans cette industrie. En novembre suivit à Hambourg la grève presque générale des ouvriers des ports et d’une partie des gens de mer, laquelle dura jusqu’en février de l’année suivante. Quoiqu’il se fût agi dans ce cas comme dans l’autre d’un mouvement en masse essentiellement spontané de travailleurs non organisés, la classe bourgeoise, le gouvernement et l’empereur lui-même personnellement, prirent parti pour les entrepreneurs, les gros marchands et les puissants armateurs. A cette occasion, l’organe du prince de Bismarck, les « Hamburger-Nachrichten » se distingua comme l’avocat d’une effrénée ploutocratie. Un appel adressé en janvier 1897 en faveur des ouvriers par quelques hommes politiques, des économistes et des socialistes parmi lesquels plusieurs professeurs d’Universités, n’en fit que plus de bruit et n’en rencontra que plus de résistance et d’antipathie3. A cette époque on apprit qu’un changement complet s’était effectué dans les dispositions de l’Empereur à l’égard du mouvement social et de la réforme sociale, et par suite, dans la direction du ministère et des principaux fonctionnaires. On reconnut dans cette transformation l’influence croissante d’un gros industriel et parlementaire, M. de Stumm, homme bienveillant, mais brutal et irascible, la plus parfaite image du parvenu. Le changement décisif s’accomplit en juin 1896, par le départ du ministre prussien du commerce, von Berlepsch, qui était le représentant le plus décidé et le plus marquant de la réforme sociale dans le gouverne3

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Voyez sur les deux grèves, l’article bref de M. Oldenberg dans le Dictionnaire des Sciences politiques (Conrad), 2e éd., I, 755-759, et sur la grève de Hambourg, plusieurs traités par l’auteur de cette Chronique dans la Revue de législation sociale de M. Heinrich Braun, t. X, XI, XII, dont un extrait forme la circulaire n° 13 du Musée social de Paris.

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ment. L’année 1897 apporta de nouvelles fêtes patriotiques à l’occasion du centenaire de la naissance de l’Empereur Guillaume Ier, auquel son petit-fils donna le nom de « Guillaume le Grand ». En ce même temps, un procès criminel attira sur lui toute l’attention, procès intenté sur la poursuite du secrétaire d’État, von Marschall, et conduit très-vivement contre deux agents de la police politique. Ce procès révéla que le chef de cette police, de son propre mouvement (ou à l’instigation d’on ne sait qui), manœuvrait politiquement, depuis très longtemps, contre les plus hautes autorités de l’empire, dans le sens de l’opposition, de la réaction et du prince de Bismarck; M. von Marschall appela son rôle dans ce procès «  une fuite au grand jour  ». Une conséquence du procès fut la retraite du M. von Marschall en juin 1897, que suivit bientôt celle du secrétaire d’État de l’Intérieur, von Bötticher. En même temps se produisit aussi le départ du président du bureau d’assurance impériale, sympathique aux ouvriers, Bödicker. Ces changements étaient des signes d’une transformation systématique et de l’ « Aera Stumm ». Le successeur de M. de Bötticher fut le comte Posodewsky, celui de M. de Marschall, M. Bernhard de Bülow. Dans ces conjonctures, le ministre prussien des finances, Miquel, acquit de plus en plus la direction de la politique, cependant qu’il était en même temps nommé vice-président du ministère prussien. Miquel s’essaya dans une imitation de la politique bismarckienne, en faisant appel, le 15 juillet, à l’union des « classes productrices », comme à la majorité nationale, c’est-à-dire à une alliance de la grande industrie avec l’agriculture. L’année suivante (1898) eut lieu un nouveau renouvellement du Reichstag (le 16 juin) et de la 2e Chambre prussienne (le 3 novembre). Le résultat des élections pour le Reichstag fut fort à l’avantage de la démocratie sociale. Le nombre de ses voix (dans les élections principales) s’éleva de 1,8 à 2,1 millions, et celui de ses mandats de 44 à 57. Les deux partis conservateurs et le parti national libéral éprouvèrent des pertes assez sensibles. Le résultat des élections prussiennes, cette fois encore, fut semblable. Ces trois fractions virent leur nombre tomber de 298 à 280, alors que les deux partis libéraux gagnèrent 16 membres (de 20 à 36). Le centre gagna aussi. Il passa de 95 à 100 membres en Prusse, de 98 à 106 au Reichstag. Cette année vit aussi la mort du prince de Bismarck (le 30 juillet) qui causa parmi ses partisans comme dans les sphères gouvernementales une 11

une fuite au grand jour: Französische Redewendung, die mit „Flucht in die Öffentlichkeit“ übersetzt werden kann. 1896 prägte Adolf Marschall von Bieberstein das heute geflügelte Wort „die Flucht in die Öffentlichkeit antreten“. Siehe dazu auch: Werner Welzig, Auf nach Bremen! In: Wissenschaft Bildung Politik, hrsg. von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, Band 3, Wien Köln Weimar 1999, S. 175.

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profonde émotion. En 1899, se produisirent en Prusse deux changements ministériels: à la place de M. von der Recke, qui, en décembre 1895, était entré au ministère à la place de M. von Köller, fut nommé, comme ministre de l’intérieur, M. de Rheinbaben. Comme ministre des cultes, M. Studt remplaça M. Bosse (4 septembre) (M. Bosse avait succédé en mars 1892 à M. de Zedlitz, après l’échec de la loi à caractère confessionnel sur les écoles). Sur l’ordre de l’empereur et par ordonnance du Bundesrath, la fin de cette année fut considérée comme la fin du siècle, et le 1er janvier 1900 comme le commencement du xxe siècle. Le 15 octobre, il y a à signaler la retraite du prince Hohenlohe, à qui M. de Bülow succéda comme chancelier d’empire et président du ministère prussien. Le changement longtemps attendu fut au moins en partie une conséquence des complications extérieures en Chine. A cette occasion, les discours passionnés du chef de l’empire eurent aussi beaucoup de retentissement. M. de Bülow demanda le 19 novembre au Reichstag une indemnité pour les dépenses occasionnées par l’expédition de Chine; une demande de 153 millions fut déposée. Enfin un gros incident fut la découverte de ce fait que le ministre de l’intérieur (le comte Posodewsky) avait gagné l’union centrale des industriels (une représentation de la grande industrie) et en avait tiré 12,000 marks pour les frais de l’agitation en faveur du projet appelé « le projet de loi de maison de correction » (voir plus haut). Le chancelier d’empire, au Reichstag, qualifia cet acte de «  bévue  ». Enfin cette année un grand mécontentement fut causé par le manque et la très grande cherté du charbon, qui furent imputés au syndicat des mines de charbon du Rhin et de Westphalie, formé en 1893. On peut encore mentionner les évènements suivants, intéressant directement certains États de l’empire. En Prusse, après que, en 1870, le roi eut réuni une conférence scolaire et y eut pris la parole, fut entreprise, l’année suivante, une réforme dans la constitution des écoles supérieures, réforme où pourtant les intentions du roi étaient considérablement affaiblies. En 1900, eut lieu une nouvelle conférence scolaire, où fut arrêtée und ordonnance royale qui ordonnait la continuation de la réforme scolaire. Le gouvernement prussien eut à se débattre dans des difficultés incessantes, occasionnées par la violente opposition agraire, conservatrice et bismarckienne, opposition à laquelle participèrent de hauts fonctionnaires. Le 20 décembre 1893, on rappela au souvenir des intéressés l’ordonnance du 4 janvier 1882, qui faisait un devoir aux fonctionnaires de représenter

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M. de Rheinbaben: Im Original steht Rheinbaber: Gemeint ist Rheinbaben, Georg, Freiherr von. le comte Posodewsky: Gemeint ist Arthur Graf von Posadowsky-Wehner.

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et soutenir la politique du gouvernement. Le conflit s’était déjà manifesté en plusieurs occasions, lorsque le 31 août 1899, une nouvelle ordonnance très sévère fut édictée dans le même sens, que suivit une réglementation d’environ vingt fonctions administratives dont les titulaires avaient, à la Chambre des députés, voté contre le projet de canal. La politique prussienne relative à la Pologne fut adoucie pendant la durée du ministère de Caprivi, mais elle fut de nouveau rendue plus sévère dans la seconde moitié de cette période décennale. En Bavière se produisit, en 1894, une vive agitation causée par l’événement de Fuchsmühl, un endroit du Palatinat (Rhein-Pfalz). Des paysans, qui se croyaient dans leur droit en faisant provision de bois, furent rencontrés par des gendarmes et arrêtés, et l’un d’eux fut tué. On donna à ce fait une haute signification parce que le peuple considéra qu’il s’agissait là du droit ancien des village en matière forestière. Le ministère de Hesse-Darmstadt adressa, en 1892, une circulaire aux fonctionnaires civils contre l’antisémitisme. A l’occasion de la succession au trône du duc d’Edimbourg en Saxe-Cobourg-Gotha, en 1893, on soutint de plusieurs côtés la thèse de l’incompatiblilité de l’avènement, au trône, d’un étranger avec la constitution de l’empire d’Allemagne. Dans une lutte très vive avec l’empereur d’Allemagne, de 1895 à 1897, des doutes s’élevèrent sur le droit de régence dans la petite principauté de Lippe. Dans le duché de Brunschwig se montra à plusieurs reprises un vif mécontement contre le royaume de Prusse et un accroissement de force du parti des «  petits-guelfes  ». En Alsace-Lorraine, on remarque que de plus en plus les protestations se taisent, quoique le paragraphe de la dictature n’ait pas encore été abrogé. Sur la politique extérieure de l’empire, quelques mots suffiront. La «  triple alliance  » est demeurée sans changement, mais elle fait moins parler d’elle. Le traité de réassurance avec la Russie, que Bismarck avait conclu en 1886, n’a pas été renouvelé. Le prince de Bismarck considérait que, après son renvoi, l’entente avec la Russie était déchirée. Le manifeste du Czar en 1898 et la conférence de la Haye, en 1899, ne furent reçus

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l’événement de Fuchsmühl: Alfred Wolfsteiner, Die Fuchsmühler Holzschlacht 1894 – Chronologie eines Skandals. Gemeinde Fuchsmühl, 1993. petits-guelfes: Gemeint ist die Deutsch-Hannoversche Partei (DHP). Sie war eine konservativ-föderalistische Partei in Preußen und im Deutschen Reich. Sie strebte die Restauration der welfischen Dynastie an und wurde daher auch „Welfenpartei“ genannt. Die konservativ-lutherisch geprägte Partei war antipreußisch und vor allem in Osthannover stark verankert. Unter den führenden Politikern befanden sich zahlreiche Adelige. triple alliance: Als Dreibund wird ein geheimes Defensivbündnis zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und dem Königreich Italien bezeichnet.

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que tièdement par l’opinion publique. Il paraît plus important pour le maintien de la paix en Europe, que les rapports avec la France se sont lentement, mais constamment améliorés. Les rapports avec l’Angleterre ont été fort branlants à la suite de l’incident causé par le télégramme de l’empereur au président Krüger, le 3 janvier 1896 et en même temps par l’interpellation du gouvernement anglais à propos du « raid Jameson », jusqu’à l’accueil donné par l’empereur à M. Cecil Rhodes en mars 1899 et le refus de voir le président du Transvaal en novembre 1900. Nous avons déjà mentionné les affaires de Chine. L’empire ne prit part que légèrement aux querelles concernant la Crète. Une entente cordiale fut entretenue avec la Porte. En 1899, l’Empire reçut la concession pour la construction du chemin de fer de Bagdad. – Les colonies furent augmentés: 1° par le Kiautschou donné à bail par le Céleste Empire; 2° par les Carolines, les îles de Palau et les Marianes, qui furent cédées en 1899 par l’Espagne; 3° par la majeure partie des îles de Samoa, qui, en 1899 aussi, passa dans la possession de l’Empire allemand par un traité avec l’Angleterre et les États-Unis. En 1898, la conduite, dont se rendirent coupables certains fonctionnaires de l’Empire envers des indigènes d’Afrique, causa la cassation et la punition de ces fonctionnaires. – Le budget des colonies s’était accru, vers 1900, jusqu’à 33 millions (environ); en même temps, la valeur du commerce de l’Allemagne avec ses colonies était moindre.

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J’arrive maintenant au développement des idées, et je tracerai d’abord: A: l’esquisse du mouvement des partis politiques. C’est le mouvement du parti socialiste qui s’impose le plus vivement à l’attention. La plupart des congrès de ce parti, depuis 1890, se sont placés au premier plan de l’intérêt public par la nature de leur objet et la violence de leurs débats. Au congrès d’Erfurt de 1891, qui admit le programme qui subsiste encore

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raid Jameson: Der Jameson Raid (deutsch etwa: „Jameson-Überfall“) war ein Überfall auf die Südafrikanische Republik (Transvaal), der vom 29. Dezember 1895 bis zum 2. Januar 1896 dauerte und von Leander Starr Jameson angeführt wurde. Beabsichtigt war, von der Kap Kolonie aus einen Aufstand der hauptsächlich britischen ausländischen Arbeiter (Uitlanders) in Transvaal zu unterstützen und schließlich das Gebiet dem britischen Territorium anzugliedern. Der Raid scheiterte zwar, war jedoch ein wichtiger Schritt in den Zweiten Burenkrieg. Cecil John Rhodes war ein britischer Unternehmer und Politiker. Rhodes sah die Briten als „erste Rasse der Welt“ an und träumte von einer Wiedervereinigung der anglo-amerikanischen Welt unter einer gemeinsamen, imperialen Regierung. Siehe dazu: Apollon B. Davidson, Cecil Rhodes and his time, Pretoria 2003.

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aujourd’hui, naquit une scission des « jeunes », qui formèrent un groupe à tendances anarchistes ou blanquistes, qui bientôt devint insignifiante. Les congrès suivants eurent lieu: 1° En 1892 à Berlin. On y donna des explications sur la crise qui régnait alors et sur l’antisémitisme. 2° En 1893, à Cologne. Il se signala par une discussion sur le mouvement des syndicats, qui eut un caractère très passionné. Il résolut de faire abstraction de la participation à l’élection des membres du Landtag prussien, à cause du système électoral censitaire. Au point de vue pratique, on recommanda l’établissement d’une statistique du chômage, et l’admission des femmes dans l’inspection des fabriques. 3° En 1894 à Francfort-surle-Mein. C’est là que se place le point de départ de la question agraire, pour l’étude de laquelle une commission fut instituée. Le fait que les 5 membres de la chambre de Bavière avaient voté pour le budget, fut attaqué et soutenu. On termina en réclamant une prompte organisation des femmes. 4° A Breslau en 1895 on délibéra sur le projet d’un programme agrarien qui fut rejeté, parce qu’il allait contre le fanatisme des paysans pour la propriété individuelle. On décida de publier un recueil des écrits du parti social-démocratique de l’Allemagne sur la politique agraire. On se prononça aussi pour l’extension du suffrage universel et direct aux élections du Landtag et des communes, et pour l’admission des femmes dans la vie politique et économique. 5° Le congrès du parti socialiste à Siebleben, près de Gotha, s’occupa surtout de l’organisation et de la question féministes, et se prononça pour l’idéalisme dans l’art (à l’occasion d’une critique du journal hebdomadaire illustré du parti « le Monde nouveau »). 6° Le congrès de Hambourg, en 1897, fut très agité, surtout à cause de l’abolition de la résolution du congrès de Cologne, qui avait proscrit la participation aux élections du Landtag prussien. On y vota ensuite des résolutions touchant les candidatures polonaises au Reichstag, pour le vote éventuel de sommes pour des buts militaires que auraient un intérêt populaire. 7° Au congrès de Stuttgart, de 1898, prirent naissance  1

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scission des « jeunes »: Der Erfurter Parteitag wurde vom 14. Oktober bis 20. Oktober 1891 von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) im Erfurter Kaisersaal abgehalten. Das hier verabschiedete Programm wird Erfurter Programm genannt. Die Opposition der ,Jungen‘ war eine sehr verschiedenartige linksgerichtete Kontrahaltung innerhalb der SPD, deren wesentliche Vertreter auf dem Erfurter Parteitag ausgeschlossen wurden. Siehe dazu: Dirk H. Müller, Idealismus und Revolution – Zur Opposition der Jungen gegen den Sozialdemokratischen Parteivorstand, Berlin 1975, S. 46 ff. le Monde nouveau: Die Neue Welt, „Illustriertes Unterhaltungsblatt für das Volk“, war eine sozialdemokratische Unterhaltungszeitschrift in Deutschland. Sie bestand als eigenständiges Blatt von 1876 bis 1891. Danach war sie von 1892 bis 1919 eine wöchentliche Beilage für „Wissenschaft, Belehrung und Unterhaltung“ in den sozialdemokratischen Parteizeitungen.

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de très importantes résolutions, qui pour la première fois firent faire und progrès décisif aux tendances, plus pratiques, des Allemands du sud. Au contraire la tendance radicale de quelques-uns d’entre eux, qui tenaient à faire prévaloir leur opinion personnelle, eut de mauvais effets. 8° Cette contradiction apparut encore, d’une manière décisive, au congrès de Hanovre, en 1899. Entre temps l’attention de tous avait été attirée sur l’hérésie d’Edouard Bernstein, qui avait rendu de grands services au parti, qui vivait à Londres et avait attaqué les fondements théoriques du marxisme. On approuva une déclaration de Bebel, dirigée contre Bernstein, et qui disait: que le développement de la société bourgeoise jusqu’à ce jour ne donne au parti socialiste aucune raison d’abandonner ou de modifier ses idées fondamentales et son attitude vis-à-vis de cette société; que le parti doit se tenir sur le terrain de la lutte des classes maintenant comme auparavant; que l’émancipation de la classe des travailleurs ne peut être que l’œuvre propre de cette classe. C’est pourquoi ce manifeste considérait comme un devoir pour la classe des travailleurs de conquérir le pouvoir politique. 9° A Mayence en 1900, fut prise une résolution contre les lointaines aventures de Chine et de la politique mondiale, et en faveur des Boers; fut votée aussi une motion obligeant le parti, dans tous les Etats où règne le système électoral des trois classes, à entrer dans la lutte électorale avec les membres du parti désignés par lui. Les recettes de la caisse du parti s’accrurent de 223.866 marks en 1890–91 à 317.934 en 1900–1901. Le parti possède un capital de 400.000 marks4. Le nombre de ses voix, aux élections du Reichstag, augmenta de cette façon : de 1427,3 milliers en 1890 – 1892 1786,7 – 1898 2107,1

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avec élection définitive de 35 – 44 – 57

candidats á – et á –

En outre ce parti est entré dans 17 corps législatifs des Etats avec 75 députés. Le parti libéral allemand qui s’était constitué à l’instigation du Kronprinz qui devint plus tard l’empereur Frédéric, en 1884, se sépara en 1893, à l’occasion du projet de loi militaire. M. Eugène Richter, le leader 4

Voir sur le développement du parti pendant cette période de dix années von Berlepsch:  «  L’évolution sociale après l’abolition de la loi antisocialiste  » dans le compte-rendu du Congrès social évangélique 1901.

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Le parti libéral allemand: Gemeint ist die Deutsche Freisinnige Partei (auch Deutschfreisinnige Partei, DFP). Sie war eine liberale Partei während des Deutschen Kaiserreichs. Sie bestand von 1884 bis 1893. Die Deutsche Freisinnige Partei entstand am 5. März 1884 durch die Fusion der Liberalen Vereinigung mit der Deutschen Fortschrittspartei.

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de la gauche, qui s’était constituée en « parti populaire libéral » considéra la séparation comme nécessaire, parce qu’il ne pouvait pas être conduit à la lutte électorale en ligne brisée avec espoir de succès. En réalité le nombre des voix tomba de : 1159,9 á 924,9 et á 754,0

milliers pour le parti groupé, en 1890 pour les deux partis séparés en 1893 – 1898

avec 66 – 37 – 39

élus – –

Le groupe plus petit et qui se rapproche plus de la droite politique, est désigné sous le nom de « Union libérale ». Elle représente surtout la richesse commerciale, avec des tendances libre-échangistes et humanitaires. Elle présenta aussi, de 1893 à 1898, une forte décroissance: le nombre de ses voix tomba de 258.500 à 195.700 pour un même nombre de représentants (13). La cause fondamentale de cette dissidence fut que ce groupe fit une opposition moindre à des mesures concernant l’armée et la marine. En Schleswig-Holstein les représentants du parti libéral décidèrent, en 1894, de conserver leur organisation propre et de ne se rattacher à aucune des deux branches provenaut de la séparation. En 1897, l’« Union », qui avait aussi montré de l’habileté politique dans sa conduite envers la démocratie sociale, proposa une action commune en vue des élections de 1898, mais Eugène Richter refusa d’y entrer. Un compromis fut ensuite conclu peu de temps avant les élections, mais il n’empêcha pas l’explosion d’un nouveau conflit. C’est surtout aux élections du Landtag prussien que se manifesta pour la première fois l’entente du parti social démocratique avec les deux groupes. M. Barth, un des chefs de l’ « Union », se félicita de cette entente, comme d’un acte politique. Le « parti du peuple » (celui de M. Richter) tint en octobre 1900 un congrès à Gœrlitz, lequel critiqua la politique suivie à l’égard de la Chine, et s’affirma en faveur de la garantie du droit de coalition et du droit d’association et de réunion. Le parti « populaire allemand, » représenté dans l’Allemagne du Sud (particulièrement dans le Wurtemberg et à Francfort-sur-le-Mein) et qui tient le milieu entre le parti « libéral populaire » et le parti social-démocratique a vu s’augmenter le nombre de ses voix aux élections du Reichstag: 25

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parti du peuple: Gemeint ist: Die Liberale Vereinigung (gelegentlich auch als Sezession bezeichnet) war eine liberale Partei während des Deutschen Kaiserreichs, die 1880 aus einer Abspaltung des linken Flügels der Nationalliberalen Partei hervorgegangen war und 1884 mit der Deutschen Fortschrittspartei zur Deutschen Freisinnigen Partei fusionierte. libéral populaire: Die Freisinnige Volkspartei (FVp) war eine liberale Partei während des Deutschen Kaiserreichs, die 1893 aus einer Aufspaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen war und 1910 in der Fortschrittlichen Volkspartei aufgegangen ist.

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de 147.600 avec 10 mandats en 1890, à 166.800 avec 11 mandats en 1893, mais tomber ensuite à 108.500 avec 7 mandats en 1898. Ce parti est, dans ses tendances, plus socialiste et moins monarchiste que les deux partis libéraux. Le parti national libéral suit aussi une marche décroissante. Le nombre de ses voix décroît de: 1.177.800 voix avec 42 mandats en 1890, à 997.000 voix avec 53 mandats en 1893 et à 971.300 voix avec 51 mandats en 1898. La fronde de Bismarck provoqua une désunion au sein du parti entre les partisans sans réserve de Bismarck et la majorité qui était plus favorable au gouvernement. Le parti souffre surtout de son indifférence affirmée en matière économique et commerciale et de son indécision et ses fluctuations en matière de politique sociale, car le parti est soutenu en grande partie, surtout dans l’Allemagne du Nord, par les représentants de la grande industrie et du capitalisme; mais cependant le concours des intellectuels, que le parti recrute principalement parmi les fonctionnaires, lui est aussi indispensable. En octobre 1896, le parti tint une assemblée de ses délégués, à Berlin, qui appuya, avec beaucoup d’énergie, sur certains principes libéraux, surtout sur celui de « la résistance aux efforts rétrogrades dans le domaine de l’Église et de l’École. » qui ne peut pourtant guère être pris en considération que par des États isolés, alors que le parti n’a de réelle et complète signification qu’en tant que parti de l’empire et de l’unité. En raison de cette circonstance qu’un très grand nombre de membres de l’Union des Cultivateurs se rattachent politiquement au parti national libéral, une explication et un accord furent tentés en 1897 avec cette union, en vue des élections, dans la province de Hanovre. Cette tentative échoua cependant.

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parti national libéral: Die Deutsche Volkspartei, abgekürzt DtVP (auch: Süddeutsche Volkspartei) des Deutschen Kaiserreichs war eine 1868 gegründete linksliberale Partei, die im Reichstag vertreten war. Sie ist nicht zu verwechseln mit der Deutschen Volkspartei der Weimarer Republik. mandats en 1898: Zahlen zu Reichstagswahlen 1890: Kaiserliches Statistisches Amt (Hg.): Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches, Jahrgang 1890, Heft 4. Berlin 1890, 1893: Kaiserliches Statistisches Amt (Hg.): Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Zweiter Jahrgang, Heft 4. Berlin 1893, 1898: Kaiserliches Statistisches Amt (Hg.): Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Siebter Jahrgang, Heft 7. Berlin 1898. parti de l’empire: Die Freikonservative Partei wurde 1867 gegründet. Sie entstand 1866 als Abspaltung von der preußischen Konservativen Partei, zunächst als Freikonservative Vereinigung. Auf der Ebene des Deutschen Reiches ab 1871 nannten sich die Freikonservativen Deutsche Reichspartei. Politisch stand sie zwischen den Nationalliberalen auf der einen Seite und der Deutschkonservativen Partei auf der anderen Seite.

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A Cologne se forma, en janvier 1899, une « Société de la jeunesse nationale libérale ». Le parti conservateur-libéral ou parti de l’Empire est surnommé, par dérision, le parti des ambassadeurs; il pourrait aussi s’appeler le parti des magnats. Dans son sein, en effet, se rencontre une union de la vieille et de la nouvelle aristocratie: les grands propriétaires et les grands exploitants de mines et d’établissements industriels, à qui leur richesse a donné de la noblesse et de l’importance. C’est en même temps le parti de Bismarck et le parti gouvernemental pur et simple. Mais ceux-ci participent aussi en partie à l’opposition agrarienne et quelques champions du bimétallisme se sont assis sur ses bancs. Ainsi la fronde de Bismarck a établi une forte dissidence de sentiments entre ses membres. En 1892 l’organe officiel du parti «  Die Post  »  se déclara gouvernemental (pour Caprivi) contre le « Deutsche Wochenblatt » qui représentait le même parti, mais voulait en même temps tenir toujours avec Bismarck. La tentative, en 1893, de former un nouveau parti qui serait exclusivement un « parti de Bismarck » fut aussi symptomatique. Dans le combat contre la démocratie sociale, de même que contre la science indépendante, contre la liberté de réunion et d’association, ce parti se tient toujours au premier plan. Le nombre de ses voix tomba: de 482.300 avec 20 mandats en 1890, à 438.000 avec 28 mandats en 1893 et à 343,600 avec 21 mandats en 1898. Le parti conservateur allemand est le parti de l’ancienne noblesse prussienne qui, dans la lutte politique a peine à se tenir au premier rang. A ce parti se sont joints les grands propriétaires fonciers dans les autres États de l’empire. Auprès de ces puissants vont aussi chercher protection les représentants du vieux corps des compagnons de métiers, – en sorte qu’au Reichstag un maître tailleur siège auprès des gentilshommes. Mais le caractère de ce parti est généralement impopulaire, et de petites 15

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toujours avec Bismarck: Die traditionelle Zeitung der Freikonservativen Partei war „Die Post“, die 1910 in das regierungskritische alldeutsche Lager übertrat. Seit 1888 gab Otto Arendt das „Deutsche Wochenblatt“ heraus, worin er gleichfalls für Doppelwährung und außerdem für die Kolonialpolitik und für ein Zusammengehen der nationalen Parteien eintritt. In: Brockhaus‘ Konversationslexikon, 17. Band, 14. Auflage, Leipzig, Berlin und Wien 1894–1896, S. 76 (von Arealbestimmung bis Arendt). parti conservateur allemand: Die Deutschkonservative Partei (DKP) konstituierte sich am 7. Juni 1876 (vgl. den Gründungsaufruf vom 7. Juni 1876, abgedruckt in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867–1881), 8. Band: Grundfragen der Sozialpolitik in der öffentlichen Diskussion: Kirchen, Parteien, Vereine und Verbände, bearbeitet von Ralf Stremmel, Florian Tennstedt und Gisela Fleckenstein, Darmstadt 2006, Nr. 134.

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sectes, qui ont plus d’esprit démocratique, se séparent de lui: surtout les «  socialistes-chrétiens  » et les «  antisémites  », dont les tendances sont synthétisées par M. Stöcker qui, en 1890, après que le roi lui eut retiré ses fonctions de prédicateur de la Cour, essaya de fonder un nouveau parti social-monarchiste. Le parti conservateur allemand, en 1891, sous l’influence indirecte de Stöcker, et l’influence directe de son ami, M. de Hammerstein, rédacteur en chef du journal «  la Croix,  » se détermina, par un nouveau programme, à s’accommoder à certaines tendances socialistes, auxquelles participa encore à cette époque le gouvernement impérial. Ensuite, après l’échec de la loi sur l’école populaire, en 1892, se fit déjà remarquer un groupe qui désirait détacher le parti, dans le Landtag prussien, de sa puissante union avec le centre (catholique). En décembre de cette même année un nouveau programme fut adopté, dans un congrès très agité qui se tint à Berlin, programme dans lequel les tendances de Stöcker semblaient l’emporter. Le parti fut aussi divisé, à la même époque et par la suite, sur la question de l’antisémitisme, surtout à cause de la personne de l’agitateur Ahlwardt. Mais bientôt la lutte fit voir, d’une façon significative, que l’intérêt des gros propriétaires fonciers représentait l’âme même du parti. En décembre 1893, la guerre fut déclarée au chancelier d’empire Caprivi; les attaques déguisées contre la personne de l’Empereur ne manquèrent pas non plus. Ceci, et d’autres évènements encore, déterminèrent le journal clérical protestant le « Reichsbote » à se déclarer contre le journal « la Croix » et en faveur d’une conduite plus modérée. Une grave défaite pour le parti du journal la Croix résulta du fait que, en juillet 1895, M. de Hammerstein fut démasqué comme un fourbe. Il s’ensuivit la publication d’une lettre adressée, en 1890, à Hammerstein, par Stöcker, qui était très compromettante pour l’un et l’autre, de laquelle il résultait que tous deux s’étaient employés à solliciter de l’Empereur le

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le centre (catholique): Die Deutsche Zentrumspartei (Kurzbezeichnung ZENTRUM, früher Z und DZP) ist eine deutsche Partei. Sie war bis zum Ende der Weimarer Republik 1933 als Vertreterin des katholischen Deutschlands und des politischen Katholizismus eine der wichtigsten Parteien im Deutschen Reich. conduite plus modérée: Die Neue Preußische Zeitung, zumeist nach dem Eisernen Kreuz im Titel allgemein Kreuzzeitung genannt (wie später im Untertitel), erschien von 1848 bis 1939. Das Blatt galt als sehr konservativ, antidemokratisch und als Unterstützerin der preußisch-deutschen Monarchie. Sie gehörte neben dem Reichsboten und der Staatsbürgerzeitung insbesondere in den späteren Jahrzehnten zu den streng reaktionär-antisemitischen Publikationen. Siehe dazu: Heinz-Dietrich Fischer, Geschichte der Parteizeitung. In: Joachim-Felix Leonhardt, Hans-Werner Ludwig, Dietrich Schwarze (Hg.): Medienwissenschaft (= Handbücher Zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 15.1). Berlin / New York 1999, S. 944. Der Reichsbote war das Presseorgan der Deutschkonservativen Partei.

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renvoi de Bismarck. Il résulta de ces événements, en janvier 1896, l’exclusion de Stöcker du parti conservateur; il y eut également de la part de ce parti un refus d’adhérer aux tendances chrétiennes-socialistes, à la représentation desquelles M. Stöcker se bornait maintenant dans un journal « le Peuple ». En février il constitua un parti socialiste-chrétien indépendant. Ce parti, en avril, fut très vivement attaqué par M. de Stumm, qui s’appuya dans cette circonstance sur l’Empereur; bientôt fut publiée une dépêche adressée à M. Hinzpeter par l’Empereur, dans laquelle il disait: «  Des prêtres politiques sont une contradiction, socialisme-chrétien est un non-sens.  » Dans l’automne de 1896 les jeunes socialistes-chrétiens « non-conservateuers, » sous la conduite du prêtre Naumann, s’unirent à un nouveau groupe du parti, qui s’institulait « Société socialiste-nationale ». En janvier 1897 les conservateurs affirmèrent leur accord, entier et durable avec l’association des cultivateurs. En septembre furent publiées de très amères déclarations de Bismarck sur le parti conservateur, après que son fils, quoique parlementaire « sauvage » (n’appartenant à aucune fraction parlementaire), eut été reconnu comme premier orateur à un congrès du parti à Dresde. Le « Reichsbote » en conclut bientôt que la situation du parti conservateur était très gravement ébranlée. En février et mars 1898 eurant lieu plusieurs congrès, dans lesquels l’Union des Agriculteurs manifesta sa prépondérance par des admissions et des rejets. Le nombre des voix du parti s’accrut : de 895.400 avec 73 mandats en 1890 à 1.038.300 avec 72 mandats en 1893 et tomba ensuite à 859.200 avec 52 mandats en 1898. Il n’y a rien à ajouter sur le parti socialiste chrétien, car il n’a pas d’autre signification que celle de la personalité même de Stöcker, qui a à subir en même temps la disgrâce de l’Empereur et celle du parti conservateur. Les « socialistes nationaux » présentent plus d’intérêt, quoiqu’ils ne revendiquent pas encore le nom de parti. Ils sont caractérisés par la désignation d’« officiers sans soldats ». Ils voulaient représenter un « parti national ouvrier », et faire du socialisme un parti capable de partici-

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le Peuple: Das Volk war die Parteizeitung der CSP (Christlich-soziale Partei). Die Christlich-soziale Partei (CSP) war eine christlich-konservative und antisemitische Partei im deutschen Kaiserreich. socialisme-chrétien est un non-sens: „Christlich-sozial ist Unsinn“ – Kaiser Wilhelm II. am 28. Februar 1896 in einem Telegramm an den Geheimen Rat Georg Ernst Hinzpeter. Société socialiste-nationale: Der Nationalsoziale Verein (NSV) war eine politische Partei im Deutschen Kaiserreich. Er wurde 1896 von Friedrich Naumann gegründet und verband nationalistische, sozialreformerische und liberale Ziele. l’Union des Agriculteurs: Der Bund der Landwirte (BDL bzw. BdL) war eine am 18. Februar 1893 gegründete Interessenorganisation der Landwirtschaft im Deutschen Reich.

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per au gouvernement. Ils n’out poutant pas encore fait de progrès dans cette voie. Après avoir dépouillé l’uniforme conservateur, ils sont devenus de plus en plus une troupe auxiliaire du parti libéral, dans lequel ils combattent pour les libertés bourgeoises et la réforme de la législation commerciale – par exemple contre l’élévation des droits de douane sur les blés; mais, en toute façon et essentiellement en faveur de la classe ouvrière. Durant l’hiver 1896 à 1897, ils fondèrent un journal « le Temps », qui fit à ce moment sensation en se déclarant énergiquement en faveur des ouvriers des ports, alors en grève. Plus tard son deuxième directeur M. Paul Göhre, ancien prédicateur protestant, s’attacha au parti social démocratique. Les travaux publiés par le groupe sont importants; c’est l’ouvrage de M. Naumann, « Démocratie et Empire » qui fait le mieux connaître son programme. Il eut aux élections de 1898 27.200 voix, sans représentant élu. En 1891 il y avait deux partis antisémites de noms différents. En 1892 et 1893, l’antisémitisme entier fut fortement compromis par la conduite publique de M. Ahlwardt; quelques-uns le nommèrent le recteur de tous les Allemands, d’autres, avec plus de droit, le fossoyeur de l’antisémitisme. En 1895, les tendances antisémites distinctes s’unirent pour former un « parti allemand de réforme sociale ». Ce parti se divisa de nouveau, en 1900, en deux branches à peu près égales: la minorité dissidente désirait se rapprocher de l’union des agriculteurs, des socialistes chrétiens et des conservateurs. Le nombre des voix antisémites s’accrut de: 47.500 avec 5 mandats en 1890 à 263.900 avec 16 mandats en 1893 et 284.300 avec 10 mandats en 1898. L’ «  association des cultivateurs  » se présente comme parti, en 1898 avec 110.400 voix et 5 mandats; l’union des paysans bavarois avec 140.300 voix et 3 mandats. Les petits groupes de protestation, les « Polonais », les « Alsaciens », les «  Danois  », ne présentent pas, durant le cours de ces dix dernières

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Démocratie et Empire: Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik. Berlin-Schöneberg 1900. parti allemand de réforme sociale: Die Deutsche Reformpartei (DRP) war eine antisemitische Partei im Deutschen Kaiserreich. Sie wurde zunächst unter dem Namen Antisemitische Volkspartei (AVP) am 20. März 1890 von Otto Böckel gegründet. Siehe dazu: Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. Deutsche Geschichte, hrsg. von Joachim Leuschner, Band 9. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973, S. 112. union des paysans bavarois: Der Bayerische Bauernbund (BB) war eine deutsche politische Partei in Bayern. Er vertrat von 1893 bis 1933 die Interessen der ländlichen Bevölkerung im bayerischen Landtag und im Deutschen Reichstag.

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années, de mouvement ascendant; au contraire, dans le nombre relatif des voix, on remarque une légère tendance à la diminution. Ils comptèrent ensemble: 474.300 voix avec 38 mandats en 1890, 460.400 voix avec 35 mandats en 1893 et 472.100 voix avec 32 mandats en 1898. Enfin le parti du centre. De parti condamné qu’il fut de 1871 à 1880, il est devenu le parti dirigeant de 1891 à 1900. Son accommodation au gouvernement apparut de la manière la plus significative durant l’automne de 1891, par une ardente polémique contre les manifestations des journaux du Vatican hostiles à la politique allemande. Bientôt les difficultés qu’il y avait à contenir dans un même parti une tendance plus aristocratique et une autre plus démocratique s’accrurent. Le nouveau chef, M. Lieber, n’égalait pas son prédécesseur Windthorst. Le parti ne pouvait affirmer son droit à l’existence qu’en s’occupant constamment de la liberté religieuse, de la situation pénible de l’Église, de la souveraineté du pape et de la question non résolue des jésuites. Les congrès annuels de catholiques sont par suite en même temps les congrès du parti du centre. En 1893, le centre publiait un programme socialiste-chrétien qui allait assez à l’encontre des intérêts de la classe ouvrière. En 1894, il fut question du déclin du parti du centre dans ses meilleurs sièges de la Silésie supérieure. M. Lieber eut à souffrir de rudes attaques. Celui-ci nommait l’échec du projet de loi de la « contre révolution », de 1895, un triomphe du libéralisme et du socialisme. Le mouvement agrarien fut aussi cause de certaines dissidences, surtout dans les provinces du Rhin. Néanmoins le parti devint plus puissant par suite de l’impuissance morale des conservateurs protestants, qui, d’après la déclaration d’une de leurs feuilles (la « Poste », du 20 juillet 1896) se tenaient vis-à-vis du centre dans un rapport de dépendance peu naturel. La même année se constitua au congrès catholique de Dortmund « l’unité de l’Allemagne catholique ». Le parti chercha en 1897 à se rendre indispensable à l’Empereur à propos du projet de loi sur la marine, pendant qu’il sapait en même temps le gouvernement Hohenlohe-Miquel. Mais la même année se produisit une rupture entre le parti du centre et l’ « union des paysans bavarois ». En 1898, M. Lieber déclara: « Nous ne sommes pas le parti du gouvernement, mais nous sommes devenus le parti gouvernant.  » Il fut de même manifestement de plus en plus difficile de maintenir l’unité à l’intérieur du parti; car les députés bavarois ne s’étaient laissé gagner que contre leur gré en ce qui concernait le projet de

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le parti gouvernant: Siehe dazu den Artikel: Politische Rundschau. Deutschland. In: Lübecker Volksbote. Organ für die Interessen der werkthätigen Bevölkerung. Nr. 148. Vom Dienstag, den 28. Juni 1898. 5. Jahrgang. S. 2.

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loi sur la marine. En septembre 1892, M. Lieber désigna la démocratie sociale comme une ennemie mortelle du centre, et indiqua en même temps que le ministre prussien Miquel ne souhaitait rien tant, ni si visiblement, que d’évincer le centre de sa position dominante. En automne 1900, après que M. Lieber fut guéri d’une grave maladie, l’unité du parti apparut de nouveau provisoirement. La même année il se fit grand bruit autour d’un projet de loi de tolérance religieuse qui provenait du parti du centre, et qui paraissait être en contradiction avec les principes d’exclusivité catholique. Le nombre des voix du parti, aux élections du Reichstag, s’éleva à 1,342,100 avec 106 mandats en 1890 à 1,468,500 avec 96 mandats en 1893, mais descendit à 1,455,100, avec 102 mandats en 1898. Pour en finir avec les partis, il faut encore mentionner la fondation d’une grande association politique, en 1898, l’association de la marine, qui fut l’origine d’une vive agitation, qui eut de grandes conséquences, avec le puissant appui de l’Empereur et des gouvernements. Le centre, en tant que parti politique, nous conduit immédiatement à parler: B) des intérêts de l’Église. L’existence du centre est devenue une condition essentielle de l’Église catholique-romaine en Allemagne. Au sein de l’Église se livre une lutte silencieuse entre la tendance romaine rigoureuse, représentée par l’ordre des jésuites, et la tendance moins intransigeante des évêques allemands et des facultés de théologie. La demande de la cessation de l’exil des jésuites n’est pas formulée par le centre en raison d’un sentiment d’amour, quoique la presse de ce parti ne cesse de la réclamer très fortement. En 1891 eut lieu dans la cathédrale de Trèves l’exposition de la Sainte Robe, pour laquelle le Pape accorda aux pèlerins une indulgence de 6 mois. De même qu’en 1844, ce culte des reliques rencontra de l’opposition à l’intérieur du clergé, quoique d’une façon plus atténuée qu’alors. Deux millions de pèlerins se rencontrent à Trèves en l’espace de huit semaines. A la fin de cette année la ratification de la nomination, que l’on avait annoncée, de Von Stablewski comme évêque de Posen, fit aussi grand bruit. Ce fut une concession du gouvernement en même temps à la nation polonaise et à l’Église catholique. En cette 13

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l’association de la marine: Deutscher Flottenverein (DFV) war ein Zusammenschluss von Einzelpersonen und Vereinen, die politisch auf einen Ausbau der Flotte des Deutschen Reiches hinwirken wollten. Er hatte maßgeblichen Einfluss auf die navalistische Politik im Kaiserreich. Gegründet wurde er am 30. April 1898 in Berlin und bestand bis zu seiner Auflösung durch die Nationalsozialisten im Dezember 1934. In den Jahren 1919 bis 1931 firmierte er unter dem Namen Deutscher Seeverein. la Sainte Robe: Der Heilige Rock ist eine Reliquie, die im Trierer Dom aufbewahrt wird und Fragmente der Tunika Jesu Christi enthalten soll. Die Echtheit des Heiligen Rockes ist umstritten. Siehe dazu: Ursula Bartmann, Ein „Reiseführer“ zum Heiligen Rock. Trier 2010, S. 69-75.

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même année se produisit aussi en Bavière une exorcisation, par un père capucin. En 1893 le comte westphalien Paul Hœnsbrœch effectua sa sortie de l’ordre des jésuites, qu’il expliqua dans un mémoire; il se convertit plus tard au protestantisme. En 1895 les évêques prussiens publièrent une lettre de protestation, adressée au Pape, à l’occasion du jubilé de la prise de Rome par le roi d’Italie. En 1896 ces mêmes évêques publièrent une requête adressée deux ans auparavant au chancelier d’empire Caprivi (requête qui était restée sans réponse) où ils se plaignaient de l’action anti-religieuse de la société pour la culture morale; en même temps ils accusaient la science dépourvue d’un caractère religieux d’être la cause de la vulgarisation d’une littérature lascive. En 1897, par contre, un coadjuteur de Cologne se prononça contre la « provocation confessionnelle ». En l’automne de 1898, la maison, « La dormitation de la Sainte-Vierge », à Jérusalem, fut donnée aux sociétés catholiques allemandes de Jérusalem par l’Empereur, qui visitait les endroits saints, à la grande satisfaction des évêques prussiens, comme des catholiques allemands et du Pape. La même année un événement, suscité par le professeur d’apologétique Schell, de Würzbourg (Bavière), souleva en tourbillons la poussière de l’ultramontanisme. Schell avait, dans plusieurs écrits, défendu cette idée que la recherche scientifique indépendante était compatible avec la foi catholique; c’est surtout son ouvrage, « le catholicisme comme principe du progrès » (1897) qui fut le plus discuté. Le 1er décembre cet ouvrage et trois autres encore furent condamnés par la congrégation de l’Index. En mars 1899 le professeur proclama sa soumission au décret. En août 1900, les évêques prussiens réunis publièrent une lettre pastorale qui se prononçait sur le mouvement social de notre temps et sur les associations ouvrières catholiques qui doivent d’après la lettre pastorale se tenir, comme par le passé, sous la tutelle du clergé. A cela vint se joindre une publication de l’archevêque de Fribourg, qui se prononça avec une grande force contre les «  syndicats ouvriers chrétiens  ». Cette publication eut comme conséquence le 8 novembre une protestation de l’union générale de ces corporations chrétiennes, par laquelle cette union déclarait qu’elle se proposait comme but une union de tous les ouvriers dans une organi-

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sa sortie de l’ordre des jésuites: Siehe dazu: Graf Paul von Hoensbroech, Mein Austritt aus dem Jesuitenorden, Berlin 1893 (45 Seiten). Der letzte Absatz lautet: „Das sind die Gründe, die mich zum Austritt aus dem Jesuitenorden bestimmt haben. Eines bedauere ich, ihren Einfluß nicht früher auf mich haben wirken zu lassen.“

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sation unique. On peut dire que même le sort futur de l’Eglise catholique en Allemagne dépendra beaucoup du mouvement social des ouvriers. Les églises protestantes présentent, d’après leur nature même, beaucoup plus d’agitation libre et intérieur que l’Église catholique. Pourtant la signification générale en est le plus souvent moindre. En 1891 la « Sainte Robe  » suscita une protestation des protestants de la part de l’Union évangélique et de l’Association protestante libérale. L’Union évangélique, une association qui fut expressément fondée, en 1886, contre l’Église catholique, tint en octobre 1892 une assemblée générale, d’où sortit une proclamation adressée aux protestants en vue de justifier la défense contre le catholicisme. La même année s’engagea une lutte sur « l’Apostolicum » entre les partis du protestantisme. Elle eut comme causes fondamentales les événements qui s’étaient produits dans l’église wurtembergeoise, où un prêtre, M. Schrempf, s’était refusé à mettre en œuvre, dorénavant, cette déclaration de foi, et avait en conséquence été destitué. Le professeur de théologie Harnack, de Berlin, émit une opinion qui fut considérée comme une récusation de cette déclaration et souleva une tempête d’indignation chez les orthodoxes. A cette occasion l’Empereur prononca un discours où il déclara qu’il n’accordait aux choses de la foi aucune force de contrainte. Une nouvelle agitation se produisit dans les premiers mois de 1894 à propos du projet d’un rituel de l’Église mixte (ordonnance pour le service divin) de Prusse, car ce projet avait reçu la forme d’une loi sur la foi. La nouvelle loi sur les églises de cette année tendait, dans le sens de l’orthodoxie, à réaliser une grande indépendance à l’égard de l’Etat et une extension de la puissance du synode général. Le projet de rituel parvint en 1894 à se faire adopter dans ce synode, après que sa forme eut été

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organisation unique: In Köln konstituiert sich am 8. November 1900 der „Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften“ und verabschiedet sein Statut. Als vornehmste Aufgabe betrachtet er die „Vertretung der wirthschaftlichen Interessen der arbeitenden Stände durch die gewerkschaftliche Organisation und die Herbeiführung eines friedlichen Ausgleichs der Gegensätze zwischen Arbeiter und Arbeitgeber unter Anerkennung der selbständigen Mitwirkung der organisierten Arbeiterschaft bei Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen“. Weiter soll der Verband die „Verbindung und Fühlung der einzelnen Gewerkschaftsverbände untereinander vermitteln zwecks gemeinsamen Handelns bei besonderen, die allgemeinen gewerkschaftlichen Interessen betreffenden Fragen“. L’Union évangélique: Der Evangelische Bund (gegr. 1886) stellt noch heute einen der größten protestantischen Verbände in Deutschland dar. Als Konfessionskundliches und Ökumenisches Arbeitswerk der EKD ist er Träger des Konfessionskundlichen Instituts im südhessischen Bensheim. Harnack, de Berlin: Der Theologieprofessor Adolf von Harnack war mit Theodor Mommsen befreundet. Siehe dazu: Stefan Rebenich: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Berlin 1997.

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un peu adoucie. A la même époque, à la suite du discours de l’Empereur sur la révolution, de violentes attaques furent dirigées contre les professeurs libéraux de théologie, que l’on regardait comme des champions de la démocratie sociale. Dans le Wurtemberg, le « cas Schrempf » eut encore du retentissement. Les accusations contre les facultés de théologie de la Prusse se poursuivirent en 1895. Un choc venant du côté adverse se produisit en 1896 à Eisenach, par la conférence des « Amis de monde chrétien », (journal hebdomadaire de théologie libérale), où les professeurs Harnack et Kaftan, de l’Université de Berlin, donnèrent le ton. Leurs adversaires nommèrent cette conférence un pronunciamento de la «  théoligie révolutionnaire  ». En octobre de cette année se produisit, au synode provincial du Brandebourg, un choc violent entre les tendances contraires. Dans le Wurtemberg se produisit une nouvelle destitution d’un prêtre à cause du « soulèvement contre les lois ecclésiastiques ». Le président de l’Union évangélique déclara à l’assemblée de cette Union, en 1897, que le danger de l’ultramontanisme était plus grand que celui de la démocratie sociale; un autre orateur déclara que, dans ce dernier quart de siècle, l’«  atout  », dans tous les domaines est catholique, dans les cours princières allemandes, et au Reichstag, dans la vie journalière et dans la juridiction. Un troisième dénonça le papisme comme l’ennemi irréconciable de l’Etat, de la société, de la nation: on spécule à Rome, dénonça-t-il, sur la révolution sociale. Ici, comme au synode général prussien de novembre, c’était l’encyclique-canisius du pape, avec ses outrages contre Luther et son œuvre, qui excitait les esprits. Cette même année et les années suivantes le mouvement protestant en Autriche avec son appel « Libérons-nous de Rome », réveilla aussi les sympathies des protestants allemands, mais ça et là aussi des scrupules à cause de son caractère

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cas Schrempf: Siehe dazu: Johanna Jantsch (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade: Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin und New York 1996, S. 46 ff. Amis de monde chrétien: Die Zeitschrift „Die Christliche Welt“ (zunächst: „Die christliche Welt“) war die wichtigste kirchlich-religiöse Zeitschrift des Kulturprotestantismus. Sie wurde von Martin Rade herausgegeben und erschien von 1887 bis 1941. l‘encyclique-canisius du pape: Der Papst Leo XIII. feierte den Jesuiten Peter Canisius aus Anlass seines 300. Todestages in der Enzyklika „Militantis Ecclesiae“ vom 1. August 1897. Siehe dazu: Rundschreiben Leo XIII., Fünfte Sammlung, Lateinischer und deutscher Text, Herder’sche Verlagsbuchhandlung, übersetzt durch den päpstlichen Hausprälaten Professor Hettinger, Freiburg im Breisgau 1904. Libérons-nous de Rome: Los von Rom-Bewegung nennt man die in katholischen Ländern auftretende Erscheinung des Einzel- oder Massenübertritts aus der römischen Kirche zum Protestantismus oder Altkatholizismus. Das schon früher geprägte Schlagwort „Los von Rom“ wurde auf dem großen deutschen Volkstag in Wien 11. Dez. 1897 von dem Studenten der Medizin, Rakus, mit zündender Wirkung in die Massen geworfen.

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politque prononcé. En 1899 le « cas Weingart » fut la cause d’une nouvelle lutte. Un prêtre fut déposé par le consistoire de la province du Hanovre (qui n’appartient pas à l’Église unifiée de Prusse), à cause de son hétérodoxie. Une pétition du condamné et une requête de 11.000 personnes, qui furent adressées au roi pour le prier de lever ou d’adoucir par voie de grâce la peine prononcée, furent rejetées en janvier 1900. Ce fut d’autant plus singulier, que l’Église unifiée de Prusse est l’adversaire déclarée du confessionnalisme luthérien qui est dominant dans le Hanovre. Mais ce n’est pas par des questions confessionnelles que l’esprit protestant est agité, c’est bien plutôt vers la question sociale que les jeunes pasteurs, par leur ambition, leur sentiment du devoir et l’impulsion reçue dans l’Université, se sentent poussés. Les ordonnances de l’Empereur de février 1900 ont aussi donné au socialisme chrétien une forte impulsion. Les autorités ecclésiastiques les plus compétentes enouragèrent la participation des ecclésiastiques à ce mouvement. Mais après que le vent eut soufflé dans les régions les plus élevées, on désira abandonner cette position et l’on sonna la retraite. En décembre 1895 fut publiée une ordonnance du grand conseil de l’Église contre l’agitation socialiste-chrétienne. L’influence de M. de Stumm apparut ici à son apogée. Le « Congrès social-évangélique » essaya de former un centre de résistance. C’est une assemblée se réunissant annuellement, à laquelle, depuis 1890, se sont unis des protestants, qui sont poutant fort éloignés l’un de l’autre relativement à l’Église et à la religion; il y prévalut d’abord l’aile orthodoxe, puis plus tard l’aile libérale de sorte que, en 1898, M. Stöcker fondait avec ses amis un nouveau congrès ecclésiastique à tendances sociales, mais qui n’a joué qu’un ròle insignifiant. Entre toutes les assemblées du congrès social évangélique celle d’Erfurt, en 1895, fut remarquée à la suite d’un discours de Mme Gnauck, sur la question sociale des

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cas Weingart: Hermann Weingart, Pastor in Osnabrück: gegen Weingart wurde im Februar 1899 ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weil er in Predigten die Wirklichkeit von Auferstehung und Himmelfahrt Jesu leugnete und sie als Visionen bezeichnet hatte. Weingart wurde amtsenthoben. Siehe: Der Prozeß Weingart in seinen Hauptaktenstücken mit Beilagen / Hg.: Pastor Hermann Weingart. 5. verb. Aufl. Osnabrück 1900. IV, 113 S. 8. Congrès social-évangélique: Evangelisch-Sozialer Kongress (ESK). Die Protokolle der Kongresse sind hier zu finden: Johannes Herz, Evangelisch-sozialer Kongreß: Verhandlungen. Die Verhandlungen der 1. - 36. Evangelisch-sozialen Kongresse. Nach dem stenogr. Protokoll, Berlin / Göttingen, 1890–1929. discours de Mme Gnauck: Caroline Franziska Elisabeth Gnauck-Kühne war eine bedeutende Programmatikerin der evangelischen und katholischen Frauenbewegung. Im Jahre 1895 fand in Erfurt der 6. Evangelisch-Soziale Kongress statt. Dass unter vielen Männern auch die 45-jährige Elisabeth Gnauck-Kühne als Rednerin auftrat, glich einer Sensation. Siehe dazu: Elisabeth Gnauck-Kühne, Die soziale Lage der Frau. Vortrag gehalten auf dem 6. Evangelisch-sozialen Kongresse zu Erfurt am 6. Juni 1895, Berlin 1895.

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femmes. L’assemblée de Stuttgart, en 1896, s’éleva par de violents discours contre l’ordonnance ci-dessus mentionnée du grand conseil ecclésiastique prussien. En 1897 il fut constaté que le congrés, qui n’avait plus aucune part de la faveur des autorités, avait beaucoup perdu de sa considération et de sa signification. Cependant l’assemblée de Leipzig faisait beaucoup parler d’elle, par deux discours, animés d’un esprit contraire, que prononcèrent le docteur Oldenbourg, sur « l’Allemagne, État industriel », et le professeur Schmoller, su la « classe moyenne »: celui-là examina le développement économique sous un jour défavorable, celui-ci sous un jour favorable. Le but et la signification de la Société de politique sociale, dirigée par le professeur Schmoller, ressortent principalement de ses enquêtes et publications. Les principales de ces dix dernières années sont celles sur les ouvriers agricoles, de 1891–1892, et sur les petits artisans, de 1896– 1897. L’assemblée de la Société à Cologne, en 1897, attira l’attention sur elle par un toast de l’ancien ministre du commerce de Prusse, M. de Berlepsch, porté au « quatrième état ». Les principaux membres de cette Société prirent part à la conférence internationale pour la protection du travail, qui se tint à Paris en juillet 1900, et fondèrent à Berlin une section de la Ligue internationale, où prit naissance un appel pour la formation « d’une Société pour la réforme sociale, » dont M. de Berlepsch fut élu président. En octobre 1893, un congrès ayant pour objet la discussion de la question du chômage et de la régularisation du marché de travail eut lieu

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classe moyenne: Vorträge: K.[Karl] Oldenberg, Deutschland als Industriestaat, gehalten auf dem Evangelisch-sozialen Kongress in Leipzig am 10. Juni 1897, Göttingen 1897. Gustav Schmoller, Was verstehen wir unter dem Mittelstande? Hat er im 19. Jahrhundert zu oder abgenommen? Vortrag auf dem 8. Evangelisch-Sozialen Kongress in Leipzig am 11. Juni 1897, Göttingen 1897. Société de politique sociale: Der Verein für Socialpolitik ist eine ökonomische Vereinigung im deutschen Sprachraum. Er hat seinen Sitz in Frankfurt am Main. Der Verein gibt die Schriftenreihe „Schriften des Vereins für Socialpolitik“ (Neue Folge) und zwei Zeitschriften (German Economic Review und Perspektiven der Wirtschaftspolitik) heraus. Der Verein wurde 1873 gegründet. protection du travail: Die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (frz.: Association internationale pour la protection légale des travailleurs, engl.: Association for Labour Legislation, ital.: Associazione internazionale per la protezione dei lavoratori) war ein internationaler privatrechtlich organisierter Verein, der auf dem Internationalen Kongress für Arbeiterschutz vom 25. bis 28. Juli 1900 in Paris gegründet wurde und bis 1925 bestand. régularisation du marché de travail: An dem Kongress des Freien Deutschen Hochstifts am 8./9. Oktober 1893 in Frankfurt a.M. über „Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie- und Handelsstädten“ nahmen auch Gewerkschafter – darunter C. Legien, C. Kloß und E. Döblin – teil.

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à Francfort-sur-le-Mein; les syndicats professionnels y participèrent, fait qui fut fort désapprouvé par les chefs du parti politique socialiste, parce qu’ils virent dans cette participation un compromis avec la bourgeoisie. A la politique sociale se rattache étroitement le mouvement éthique, qui se cristallisa en 1892 dans la « Société pour la culture éthique ». Cette Société, qui n’a pas pris de grande extension, s’unit en 1895 à des Sociétés semblables d’autres pays, pour former l’« Union éthique », dont les affaires sont gérées par un secrétariat siégeant à Zurich. C’est cette Société qui a institué la première salle publique de lecture en Allemagne (à Berlin en 1894). Elle organisa à Zurich, en 1896, un cycle d’études de sciences sociales et de morale, qui fut une propagande pour l’idée de l’extension de l’Université ou de l’École supérieure populaire. Les deux formes de la mise en œuvre de cette idée ont été réalisées depuis, et ont pris dans ces dix dernières années une certaine importance. Comme visant de plus en plus un but semblable à celiu du mouvement éthique, il faut signaler l’action religieuse de M. von Égidy, qui a pris fin d’une façon prématurée, en 1898, par la mort de cet homme sérieux et hardi. Toutes ces aspirations d’éthique et de politique sociale contribuèrent à accentuer la question féministe, à propos de laquelle les champions des deux sexes développèrent un grand zèle, non moins ceux du mouvement des femmes prolétaires (dont l’organe est « l’Égalité » de Stuttgart) que ceux du mouvement «  bourgeois  » (dont l’organe est «  Le mouvement des femmes  », revue hebdomadaire de Berlin). Vers la fin du siècle on obtint que presque dans toutes les Universités de l’Empire des femmes fussent admises conditionnellement. Plusieurs États prirent l’initiative de nommer des femmes comme assistantes pour l’inspection des ateliers et des fabriques. Pour ce qui est de la situation morale, on ne peut pas s’attendre à une transformation bien importante au cours d’une période de dix années. Les chiffres de la statistique criminelle ont été précédemment indiqués

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Société pour la culture éthique: Nachdem in London eine solche Vereinigung gegründet worden war, bildete sich in Berlin namentlich unter Leitung des Professors der Astronomie Wilhelm Foerster und des Professors der Philosophie Georg von Gizycki die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur, an die sich Unterabteilungen in andern deutschen Städten angliederten. l’Égalité: Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen (späterer Untertitel Zeitschrift für die Frauen und Mädchen des werktätigen Volkes) war eine sozialdemokratische Frauenzeitschrift, die von 1892 bis 1923 erschien. Die Frauenbewegung war eine Zeitschrift des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung und bestand 1895 bis 1919. Sie gilt als erste radikalfeministische deutschsprachige Zeitschrift und als zentrale Zeitschrift der ersten Welle der deutschen Frauenbewegung.

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jusqu’en 1893 (Revue, IV, p. 60). Je reproduis ceux-ci depuis 1891 avec de petites rectifications et indique ceux de la période postérieure jusqu’en 1900. Sur 10.000 justiciables, furent condamnés: Années.

– 1891. 1892. 1893. 1894. 1895. 1896. 1897. 1898. 1899. 1900.

Pour infractions: Contre les lois de l’Empire. – 112,4 120,2 121,2 124,4 124,9 124,4 124,0 125,7 123,6 119,5

Contre les personnes.

Contre les biens.

– 43,1 50,0 48,5 50,8 51,7 53,0 52,3 53,5 53,6 51,6

– 51,1 55,9 51,7 51,9 50,9 48,7 49,2 50,2 48,6 46,4

On voit d’après ces chiffres que les délits contre les personnes accusent un accroissement presque constant, et ceux contre les biens une légère diminution. Il faut cependant se garder de tirer de ces considérations de trop rapides conclusions. Cette augmentation provient, partie de la plus grande fréquence d’un délit qui ne présente aucun caractère criminel, le délit d’« injure » (qui est le plus souvent poursuivi sur plaintes particulières), partie par suite du délit de « blessures dangereuses », qui est dans la plupart des cas absolument insignifiant, mais qui est poursuivi avec une sévérité toujours grandissante de la police contre la jeunesse ouvrière. Mais la diminution des condamnations pour délits contre la propriété provient (comme en Angleterre) d’une diminution constante des condamnations pour « simple vol »; laquelle diminution s’explique suffisamment par le fait que dans les villes, devenant sans cesse de plus en plus grandes, d’une part le très grand nombre des petits larcins est moins remarqué,  1

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Revue, IV, p. 60: Gemeint ist: Ferdinand Tönnies, Mouvement social, Allemagne, (Suite et fin) (1) [Fortsetzung des Artikels, der 1895 in gleicher Reihe erschien, s.o.], in: Revue internationale de sociologie, Organe de l‘Institut international de sociologie, René Worms (Hg.), Quatrième Année, Paris 1896, S. 60. Tabelle: Quellen für die Zahlen: Kriminalstatistik in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, herausgegeben vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Zwölfter Jahrgang, 1891, Berlin 1891. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, herausgegeben vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Einundzwanzigster Jahrgang, 1900, Berlin 1900.

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d’autre part, la découverte des coupables est rendue beaucoup plus difficile. On constate au contraire une augmentation constante jusque dans les délits les plus raffinés, tels que détournements, faux témoignages, et surtout fraudes: c’est là une conséquence naturelle du développement des affaires, et un phénomène d’autant plus significatif, que justement cette méthode, qui consiste à nuire aux plus proches, aboutit le plus souvent à laisser à ceux qui se rendent coupables de ces délits la réputation d’honorables bourgeois, et que ces faits n’arrivent que dans une très faible proportion à la connaissance des juges. D’un autre côté on peut, d’une façon très sensible, constater un résultat heureux de notre vie sociale dans la diminution constante du vagabondage, dont on peut avoir une idée très juste d’après le nombre des poursuites ayant trait à cette infraction, car cette infraction, le plus souvent, est constituée par le cas de mendicité. Tandis que, de 1881–1882, 276.842 faits de ce genre vinrent, en moyenne, par an devant les tribunaux, on en compte en moyenne: 1891–1895

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216.836

Et en 1899



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Malheureusement, depuis 1900, une augmentation a été remarquée. En ce qui concerne le chiffre des suicides, il est à remarquer en Prusse une légère diminution. Depuis 1897 le nombre des suicides, pour l’Empire, a été établi. La moyenne, de 1897 à 1899 est de 20 par 10.000 habitants; mais si l’on prend respectivement le même nombre d’habitants du sexe masculin et le même du sexe féminin, on constate 32 suicides pour 10.000 hommes dans le premier cas pour 8 dans le second pour 10.000 femmes. Mais cette moyenne est de beaucoup dépassée par les provinces prussiennes du Brandebourg, de la Saxe et du Schleswig-Holstein, par le royaume de Saxe et les petits États de Thuringe, Oldenbourg, Brunschwig, et les trois villes libres. Au contraire les provinces prussiennes de l’est, la Westphalie, les pays rhénans, les deux Lippe, l’Alsace-Lorraine restent bien au-desseus de la moyenne. Il a été bien souvent affirmé que l’on constate une augmentation des cas de maladie causés par l’alcool, et des cas de folie dus à la boisson. Si l’on consulte comme il convient les statistiques de ces cas, c’est-à-dire en tenant compte de l’accroissement rapide du chiffre de la population, à qui 17

Tabelle: Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 10. Jahrgang, 1. Heft, Berlin 1902.

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l’accès des hopitaux publics est facile, on n’y trouve point la preuve de cette affirmation. Cependant on ne remarque pas davantage une diminution de ces cas. Mais par contre, on peut noter une augmentation des maladies mentales et des dispositions à celles-ci, accélérée sans aucun daute par l’usage de l’alcool. Un fort mouvement contre cet usage est en train de se produire. L’ordre «  Good-Templar  » a vu dans ces dernières années, dans le nord de l’Allemagne, le nombre de ses membres s’accroître notablement. Un autre mouvement, en vue d’écarter les jeunes hommes des vices sexuels, s’est aussi produit, et a vivement attiré l’attention du public, par l’autorité d’un certain nombre de médecins. La fédération internationale pour la lutte contre la réglementation de la prostitution, dont les monstruosités se font jour de temps en temps, a trouvé beaucoup d’adhérents en Allemagne, surtout parmi les femmes, et a fondé une section. Jetons maintenant un regard sur le développement des arts et des sciences. 1° L’architecture. – Ces dix dernières années sont riches en nouveaux monuments. Méritent d’être mentionnés: l’église commémorative de l’empereur Guillaume, le palais du Reichstag allemand et la Chambre des députés de Prusse, et l’hôtel de la poste impériale – tous à Berlin. Le nouvel Hôtel de Ville de Hambourg l’emporte par sa beauté; il est l’œuvre de 9 architectes, à la tête desquels se place le Hambourgeois Martin H[a]ller. 2° La plastique. – Elle s’est principalement consacrée à servir les intérêts dynastiques. En effet l’empereur commanda à ses frais, en 1898, à un certain nombre de sculpteurs, en tête desquels il faut citer R. Begas, les statues en marbre des margraves et des princes de la Cour du Brandebourg, ainsi que des rois de Prusse, statues qui étaient destinées à figurer dans l’« Allée de la Victoire », à Berlin. Au pied de chaque statue figurent les bustes de deux contemporains marquants, un militaire et un civil, en sorte que, par exemple, Kant a l’honneur de servir à la commémoration de Frédéric-Guillaume II dit le Gros. Un monument commémoratif « national » a été spécialement élevé à Berlin, à la mémoire de Guillaume Ier, d’aprês le projet de R. Begas. Dans un très grand nombre d’autres villes des monuments ont été élevés à la mémoire de cet empereur, de même qu’à celle de Bismarck. 3° La peinture est restée indépendante de la protection des princes; l’Empereur est mal disposé à l’égard des tendances des jeunes artistes, qui se sont donné, à Berlin, un monument propre et un salon distinct de l’exposition académique – et qu’on appelle l’exposition de « Sécession ». Parmi les peintres berlinois se distinguent Klinger, Liebermann, Soarbrüe, Hof[f]mann, Alber[t]s. Les Munichois Thoma[s], Leibl et Uhde gagnent de plus en plus la faveur générale. Mais tous pâlissent devant la célébrité

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du Bâlois Arnold Böcklin, qui, il y a 20 ans, n’était pas considéré, qui même était souvent raillé, mais qui maintenant est devenu à la mode et est adoré. En dehors de ses géniales dispositions pour la peinture, il a aussi un goût très prononcé pour le bizarre et le singulier. En outre beaucoup d’artistes commencèrent à se consacrer à l’art local. Une colonie d’artistes s’établit dans le village de Worpswede, près de Brême, sous la direction de Macke[vn]sen. 4° La belle littérature, surtout dans le drame, fait des progrès. A la tête se tiennent encore Gerhart Hauptmann et Hermann Sudermann, cependant beaucoup de jeunes tels que Halbe, Philippi, Dre[gy]er et O. Ernst ont aussi été goûtés et applaudis. Dans l’art lyrique se sont essayés avec bonheur Liliencron, Falke, Dehmel, Busse, [JI]acobowski, (mort en 1900). Dans la poésie épique, se sont essayés Sturm, Hart, Pungst. Le roman et la nouvelle comptent encore quelques vieux maîtres, tels que Paul Heyse, Wilhem Raabe, Frédéric Spielhagen. L’humoriste H. Seidel, et ceux tels que K. Telmann (mort en 99) W. von Polenz, G. von Ompteda, qui se consacrent à des études sociales, ont la faveur des connaisseurs: les Autrichiens Rosegger et Ganghofer sont parmi les plus lus des écrivains. Mais l’art de conter est devenu de plus en plus le privilège des femmes, parmi lesquelles se signale aussi une Autrichienne: Mme von Ebner-Eschenbach. Se sont aussi fait connaître Mmes Andréas Salomé, Klara Viebig, Ricarda [Huu]ch, Ilse Frapan, Charlotte Niese, L[o]uise Schen[c] k, Bernhardine Schul[t]ze-Smid[t], et tant d’autres. Plusieurs consacrent aussi leur attention aux problèmes sociaux. Mais dans ce domaine ce sont le plus souvent les œuvres d’auteurs étrangers qui retiennent l’attention générale, œuvres qui sont lues tantôt dans l’original, tantôt dans des traductions: ainsi les œuvres de Tolstoï, de Zola, de Maupassant, et celles des Norvégiens, Björnson, Kjelland, Lie, etc. En ce qui concerne la vie générale de l’esprit et la philosophie, le fait dominant est évidemment l’influence considérable qu’ont exercée, durant ces dix dernières années, les œuvres de Frédéric Nietzsche, dont la vie malheureuse s’acheva en août 1900. C’est surtout dans les arts et la littérature que cette influence s’est fortement fait sentir. Nous nous sommes occupé, dans un ouvrage spécial, des origines et des motifs de cette influence5. C’est à l’exagération de cette faveur qu’est dû le succès inouï que rencontra l’œuvre anonyme, bizarre, mais sans aucun doute riche en fantaisies spirituelles: « Rembrandt éducateur » (1891). A la fin du siècle, l’ouvrage du célèbre zoologiste Ernest H[aeœ]ckel, les « Enigmes du monde » 5

Der Nietzsche-Kultus. Une critique de F. Tönnies. Leipzig, O. R. Reisland, 1897.

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eut aussi un très grand succès sévèrement critiqué par les philosophes. En outre, les philosophes Duhring et von Hartmann, qui n’appartiennent pas à des Universités, Paulsen, Wundt et E[un]cken, comme hommes d’Université, ont vu s’étendre le cercle de leurs lecteurs. L’Académie des sciences de Berlin a commencé de donner une grande édition des œuvres, lettres et écrits posthumes de Kant. En 1900, cette Académie fêta son deuxième jubilé. A cette occasion fut éditée une histoire de l’Académie, par Harnack. Sous le titre « les classiques de la philosophie » a paru une série de monographies (Stuttgart, Fromann) sur les principaux penseurs allemands et étrangers. En ce qui concerne la pédagogie, la « pédagogie sociale » de Natorp a causé quelque agitation et soulevé une polémique entre les instituteurs de l’école populaire qui relèvent de la doctrine pédagogique d’Herbart. Cette doctrine a plutôt un caractère individualiste, tandis que Natorp et ses partisans ont opposé aux premiers le système socialiste Pestalozzi. Dans les sciences naturelles générales il faut signaler les études sur l’électricité qui conduisent constamment à de nouvelles découvertes. Les rayons X du professeur Rœntgen, de Würtzbourg, firent, comme on sait, époque. L’électricité se signala par la théorie et les découvertes de Henri Hertz, enlevé à la science par une mort prématurée. Parmi les écrits qu’il laissa, fut publié un système de mécanique (189[54]). L’énergétique est représentée par excellence par le professeur de chimie physiologique de Leipzig, Osthoff [Friedrich Wilhelm Ostwald?], dont le discours: « la défaite du matérialisme scientifique » au congrès des naturalistes et des médecins allemands à Lubeck, en 1898, fut très remarqué. En médecine il faut citer les progrès accomplis dans la microbiologie, et la découverte du sérum antidiphtéritique par le professeur Behring; mais il faut aussi relever les progrès de la suggestion-thérapie et du traitement psychologique. La théorie de l’hypnotisme fut beaucoup étudiée et avancée par le docteur Oscar Vogt de Berlin. Dans le domaine biologique on s’est beaucoup occupé des problèmes de l’hérédité; s’y est surtout employée la théorie, souvent modifiée, de Weismann, dont l’étude générale sur cette question a paru en 1892, l’ouvrage sur « Amphimixis » en 1891, sur la continuité du plasma germinal en 1893. Son principal adversaire fut le professeur de Tubingen, Eimer (mort en 1900), dont le second volume de son ouvrage sur la formation des espèces a paru en 1897. La polémique entre Weismann et Spencer sur l’héridité appartient à la littérature internationale.

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Oscar Vogt: Bei Oskar Vogt handelt es sich um den Hirnforscher, der ein Freund Tönnies aus Husumer Tagen war.

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L’influence de la biologie sur la sociologie, eu moyen de l’emploi d’analogies, a beaucoup perdu de sa signification, quoique Schäffle ait donné de son ouvrage célèbre une nouvelle édition écourtée (1899). Au contraire l’application au darwinisme, spécialement dans la forme exclusive que Weismann lui a donnée, a rencontré une certaine faveur, de la part de ceux qui pensaient en tirer une arme contre le socialisme. Otto Ammon publia « le darwinisme contre le socialisme » (1891), la « sélection naturelle chez l’homme » et « l’organisation et les fondements de la société ». Ludwig Stein publia un ouvrage populaire riche en aperçus: « la question sociale à la lumière de la philosophie » (189[27]). De Paul Barth parut en 1897 le 1er volume de la « philosophie de l’histoire comme sociologie »; de G. Simmel une « philosophie de l’argent », en 1900. Le « Dictionnaire des sciences sociales » fut terminé en 1894, et aussitôt commença la publication d’une nouvelle édition modifiée qui était presque complète en 1900. Dans cet ouvrage général la science des sociétés et des États est traitée d’une façon incomplète; par contre il est un très précieux répertoire de faits économiques et de statistique générale. D’Adolphe Wagner parurent en une 3e édition considérablement étendue les « fondements de l’économie politique ». Frédéric Engels publia, d’après les écrits laissés par Karl Marx le 3e volume du «  Capital  » en 1894. De H. Herkner parut en 1897 «  la question ouvrière  »; de M. Sombart l’ouvrage «  Socialisme et mouvement social au XIXe siècle  » d’abord en 1896, puis dans d’autres éditions et dans des traductions. Un grand ouvrage sur la statistique fut commencé en 2 volumes par G. von Mayr (1895–97). A. Buchenberger (ministre de Bade) publia aussi 2 volumes sur l’économie rurale et les lois agraires (1892–93); L. Brentano, de Munich, le premier volume sur le même sujet (1891). En 1900 parut le 2e volume, depuis si longtemps attendu, de « Volks­­wirthschaftslehre », de G. Schmol­­ler. La littérature socialiste est caractérisée par Kautsky, « Question agraire », (1899) et par les écrits qu’occasionna la polémique qui s’éleva entre Bernstein et Kautsky (1899–1900), polémique qui se continua dans la « Neue Zeit », et les « Socialistische Monatshefte ». L’influence du « matérialisme historique » s’est de plus en plus étendue et a pénétré dans la littérature académique. L’ouvrage de R. Stammler, « Economie et Droit » (1896), est consacré en partie à la critique, sur les bases d’un idéalisme kantien. Une interprétation économique de l’histoire par Lamprecht, dans son «  Histoire de l’Allemagne  » fut très vivement

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attaquée par le partisans de Ranke. H. Treitschke conduisit son très captivant ouvrage « Histoire de l’Allemagne au XIXe siècle », un panégyrique de la politique prussienne, jusqu’à l’année 1848, en 5 volumes (1895). Il mourut en 1897. D’Alfred Stern, parut une « histoire de l’Europe depuis 1815 », jusqu’ici 3 volumes (1894–1900). Dans la littérature périodique il faut relever le succès que rencontra, grâce à Bismarck, la feuille hebdomadaire «  Zukunft  », publiée depuis 1892 par M. Harden. Un certain mérite revient à l’entreprise de J. Henrich Braun qui a fondé un journal hebdomadaire consacré expressément à la politique sociale et à la collection des faits sociaux relativement au mouvement ouvrier « Socialpolitisches Centralblatt » dès 1891, puis fusionné avec un autre nom sous le nom de « Soziale Praxis ». A la fin du siècle, une feuille qui consiste surtout en des reproductions illustrées des événements du jour au moyen de la photographie instantanée, « die Woche », eut encore plus de succès que n’en avait eu auparavant la « Zukunft ». Un journal hebdomadaire sérieux, par contre, commença de paraître, à Hambourg: « Der Lotse ». Un ouvrage bi-mensuel « der Kunstwart » s’est acquis un très grand mérite en contribuant beaucoup à l’élevation du goût (éditeur: F. Avenarius). M. G. von Giz[iy]cki fonda l’« Ethische Kultur », qui paraît depuis 1893, et est l’organe du mouvement moral. La publication mensuelle « Deutsche Rundschau » (éd. J. Rodenberg) est parvenue, en 1899, au jubilé de sa 25e année. Traduit de l’allemand par Henri Schnerb.

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Treitschke: Mit einem 1879 veröffentlichen Aufsatz löste Treitschke den Berliner Antisemitismusstreit aus. Dieser Aufsatz enthält den Satz „Die Juden sind unser Unglück“, der später zum Schlagwort des nationalsozialistischen Hetzblattes „Der Stürmer“ wurde. Theodor Mommsen griff ein Jahr später mit fundamentaler Kritik in die Debatte ein. Siehe dazu: Jürgen Malitz in: Theodor Mommsen. Gelehrter, Politiker und Literat. Stuttgart 2005, S. 137-164.

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck.: Ferdinand Tönnies, Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck. In: Schriften des Vereins für Sozialpolitik. CIV. 1. Die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter. 2. Bd. Erste Abteilung. Leipzig 1903, S. 509-614. Da die Fragebögen und die diversen Antworten dazu nicht vorliegen, bleiben die damit verbundenen Zitate ohne Fußnoten.

Vorbemerkungen über die Methode1

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Die gegenwärtige Untersuchung hat sich folgender Hilfsmittel bedient, die, so scheint es, bei jeder derartigen Erforschung der sozialen Lage von Arbeitern zur Verfügung stehen und gebraucht werden müssen, wenn die Untersuchung der amtlichen Machtmittel entbehrt und auch nicht annähernder Weise mit demjenigen öffentlichen oder privaten Geldaufwande geführt werden kann, den die statistische Methode, die allein ein volles und getreues Bild sozialer Zustände zu geben vermag, erfordern würde. Indessen lasse ich dahin gestellt bleiben, ob das hier gegebene Verzeichnis von Hilfsmitteln irgend welche Bedeutung in Anspruch nehmen kann; zunächst bedeutet es nur, daß sie bei dieser anliegenden Untersuchung wirklich angewandt worden sind; ich habe aber für richtig gehalten, ihnen einen allgemeinen Ausdruck zu geben, um dadurch zugleich ein Urteil über ihren relativen Wert zu begründen.

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Folgende sind die im Texte gebrauchten Abkürzungen: (A) = Amtliche Mitteilungen. (U) = Mitteilungen und Urteile der Unternehmen. (M) = ebensolche der Kapitäne u.s.w. (S) = ebensolche anderer sachverständiger Personen. S-V = Seemannsverband für Deutschland. FRL = ausgefüllte Fragebogen der Mitgliedschaft Flensburg des S-V. FRC = ebensolche der Zentrale des S-V. (CO) = Auszüge aus Briefen von Mitgliedern des S-V. S-O = Seemanns-Ordnung Z.S. = Zeitschrift „Der Seemann“. UVV = Unfallversicherungsvorschriften.

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Seemannsverband für Deutschland.: Seemanns-Verband in Deutschland, gegründet am 1. Februar 1898 in Hamburg. Im § 2 der Revidierten Satzung des Verbandes von 1905, die auch über ein „Streik-Reglement“ verfügt, heißt es: „Der Verband hat den Zweck, für die Interessen der seemännischen Arbeiter aller Chargen zu wirken und deren Lebenslage in jeder Beziehung mit allen erlaubten und gesetzmäßigen Mitteln zu heben und zu bessern“ (Seemanns-Verband in Deutschland, Revidiertes Statut vom 1. Juli 1905, Hamburg 1905). Zeitschrift „Der Seemann“.: Der Seemann, Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter, Hamburg. Nr. 1 erschien 1897. Ab 1898 Organ des neu gegründeten „Seemanns-Verbandes in Deutschland“. Titel ab 1902: Der Seemann. Zentral-Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter in Deutschland. Herausgeber und verantwortlicher Redakteur war Paul Müller.

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1. Amtliche Mitteilungen (A). Diese beziehen sich im vorliegenden Falle nur auf einige äußere Daten, die von den Seemannsämtern herrühren und, soweit sie gehen, für hinlänglich sicher gelten dürfen. 2. Aussagen der Unternehmer und ihrer Vertretungen (U). Die zuverlässigsten Angaben dieser Art sind von den Handelskammern zu gewinnen, und ich habe von den Handelskammern zu Flensburg, Kiel und Lübeck solche erhalten; direkte Vertreter der Reederinteressen haben dabei ihre Mitwirkung nicht versagt. Indessen betreffen auch diese Angaben der Natur der Sache nach fast nur äußere Verhältnisse, bestimmte Tatsachen, die auf die Lage der Arbeiter unzweifelhaften oder wahrscheinlichen Einfluß haben. Über diese Lage selbst sich ein Urteil zu bilden, haben wenigstens die Unternehmer wenig Veranlassung und in der Regel, trotz wohlwollender Gesinnungen, sehr wenig Neigung; vor allem aber wenig Gelegenheit, weil sie von der Arbeiterklasse als solcher durch zu große soziale Entfernungen getrennt sind und nicht das Interesse des Forschers haben können, das am ehesten über diese Klüfte eine Brücke spannt. Sofern sie aber urteilen, so werden sie geneigt sein, die Lage der ihnen unterstehenden Arbeiter für gut oder doch für befriedigend zu halten, Klagen und Beschwerden als unwahr oder doch als aufgebauscht und übertrieben hinzustellen, die Unzufriedenheit als durch bezahlte Agitatoren („gewissenlose Hetzer“) künstlich wachgerufen zu bezeichnen. Indessen muß hervorgehoben werden, daß diese Tendenz in unserem Falle, was Flensburg angeht, nicht in ihrer Schärfe hervortritt. 3. Aussagen der Meister, Werkführer u. dgl. d.i. der technischen Betriebsleiter (M): in Bezug auf die Schiffahrt also von Kapitänen, Steuerleuten, Maschinisten (der erste Maschinist auf den Dampfschiffen wird allgemein „der Meister“ genannt). Diese Personen stehen in sozialer wie in technischer Hinsicht zwischen den Unternehmern und den eigentlich sogenannten Arbeitern, in unserm Falle also zwischen den Reedern und den Seeleuten niederer Chargen, und werden sich ihrer sozialen Stellung nach regelmäßig dem „Mittelstande“ zurechnen. Sie können daher in Bezug auf Interessen, die zwischen „Kapital und Arbeit“ streitig sind, ein vermittelndes und durch gerechte Erwägungen bestimmtes, die Tatsachen gelten lassendes Urteil haben, um so mehr, da sie innerhalb des Betriebes stehen und nicht, wie die kapitalistischen Unternehmer, außerhalb seiner2. Große Erwartungen dürfen indessen doch nicht von diesen 2

... „Oftmals hat der Reeder keine Ahnung von dem internen Schiffsdienst auf See und erhält erst Kenntnis, wenn durch Seeamtsverhandlungen solche Zustände klargelegt

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Auskünften gehegt werden. Ihrer ganzen intellektuellen Verfassung und den Anforderungen ihrer Berufstätigkeit gemäß sind diese Personen ganz und gar praktisch, und ganz und gar nicht theoretisch gerichtet; wenn sie aber urteilen, so werden sie allzu leicht in den Fehler jedes nicht wissenschaftlich geschulten Urteils verfallen, den Fehler der hastigen und sich selbst nicht erkennenden Verallgemeinerung; das kritische Urteilen ist auf jedem Gebiete eine – nicht leichte – Kunst, die nach Regeln erlernt und methodisch geübt werden muß. Gleichwohl werden die hier gemeinten Urteile, insofern als sie von unparteiischen und sachverständigen Leuten herrühren, immer ein nicht geringes Gewicht haben, wenngleich es auch dadurch vermindert wird, daß sie abhängige, in unserm Falle im Dienste der Reedereien stehende Personen sind, die als solche zu fürchten pflegen, durch eine offene Aussprache, wenn diese ihren „Brotherren“ mißfiele, sich zu schaden. In wissenschaftlichem Interesse wird man daher vorziehen, solche Gewährsmänner, wenn sie außer Dienst sich befinden und doch diesem noch zeitlich so nahe stehen, daß ihr Urteil für gegenwärtige Zustände Gültigkeit in Anspruch nehmen darf, zu befragen; namentlich werden also solche Kapitäne, die vor nicht langer Zeit in den Ruhestand getreten sind, als glaubwürdige und zum Reden eher geneigte Zeugen in Betracht kommen. Übrigens aber kann die unparteiische Zwischenstellung dieser ganzen Kategorie niemals vollkommen sein, die Wirklichkeit wird sehr starke Abweichungen davon zeigen. Je höher die Charge, desto näher steht sie dem Unternehmer. Der Kapitän ist sehr oft Besitzer von Schiffsparten, also Mitreeder, er hatte bis vor einigen Jahren, an den Frachteinnahmen seine Tantieme; auch durch seine verantwortliche Stellung fühlt er sich verpflichtet, das Interesse der Reederei nach außen hin wahrzunehmen und in seinen Gesinnungen zu ihr zu halten. Die Korrespondentreeder oder Direktoren der Gesellschaften sind oft, die Inspektoren der Reedereien regelmäßig ehemalige Kapitäne. Das Bewußtsein, einer anderen Klassenschicht anzugehören, wird also bei dem Schiffsführer, der sich nicht als Arbeiter fühlt, sondern als Beamter erscheint, nicht werden“. Inspektor Kapitän Polis auf dem Nautischen Vereinstag 1903: Verhandlungen S. 48.

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Verhandlungen S.  48.: Deutscher Nautischer Verein. Verhandlungen des vierunddreißigsten Vereinstages. Berlin, den 23. und 24. Februar 1903. Kiel 1903, S.  48. Der Deutsche Nautische Verein von 1868 e.V. (DNV) ist die Dachorganisation der regionalen Nautischen Vereine an Nord- und Ostsee und fördert alle im allgemeinen Interesse liegenden Angelegenheiten der Schifffahrt, des Schiffbaus, der Hafenwirtschaft und der maritimen Umwelt. Der Sitz des Vereins ist Hamburg. Kapitän Albert Polis leitete die „Nautische Abteilung“.

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leicht aufkommen. Etwas eher wird dies bei den Steuerleuten der Fall sein: zwar der erste ist tatsächlich der Vize-Kapitän und hat Grund zu erwarten, daß ihm selber bald die Führung eines Schiffes anvertraut werde. Der zweite steht diesem Ziele noch ferner; dagegen hat er seine Matrosenzeit noch nicht lange hinter sich, er wird zuweilen noch mit seinen ehemaligen Kameraden sympathisieren. Andererseits hat er sich meistens schon als Matrose von der großen Menge dieser geschieden gefühlt; auch wird er in der Regel nicht lange als Matrose auf einem Dampfschiffe dienen, da er seine technische Ausbildung nur durch eine 3 – 4 jährige Dienstzeit auf Segelschiffen gewinnen konnte; da in Flensburg solche nicht mehr vorhanden sind (im Ostseegebiet überhaupt nur sehr wenige von Bedeutung), so mußte er von Hamburg oder Bremen fahren, um die für das Steuermannsexamen vorgeschriebene „Fahrzeit“ zu erlangen. Jedenfalls sind die Steuerleute an der Leitung des eigentlichen Schiffsbetriebes direkt beteiligt und ihrem Stande, daher auch ihrer Denkungsart nach, dem Kapitän sehr nahe. Sie alle werden, auch wenn sie selber – wie es allerdings auch in Flensburg nicht ganz selten der Fall ist – Grund zur Unzufriedenheit mit der Reederei zu haben glauben, sich wohl hüten, mit der Mannschaft irgendwie gemeinsame Sache zu machen. Als „Offiziere“ – denen sie durch die neue S-O ausdrücklich beigezählt werden – sind ferner die Maschinisten an Bord der Dampfer eine besondere Gruppe und können als kundige Zeugen für die Zustände der Schiffsarbeiter herangezogen werden, namentlich soweit diese als Heizer und Trimmer ihnen unterstellt sind. Sie haben mit der Leitung des Schiffes nichts zu tun; sie regulieren die dem Schiffe dienende motorische Kraft. Sie stehen dem Kapitän und daher auch dem Reeder ferner, sie werden eher ihre Angelegenheiten als verschieden von, und daher möglicherweise auch als entgegengesetzt denen der Unternehmung begreifen. Manche haben „von der Pike auf“ gedient, d.h. sind zuerst Trimmer, dann Heizer gewesen; solche kennen die Zustände des Arbeiters, und zwar immer des Dampfschiffsarbeiters, aus eigener Erfahrung; alle kennen überhaupt, ebenso wie die unteren „Feuerleute“ selber, die Schiffsarbeit ausschließlich als Dampferbetrieb; dieser Umstand nähert ihre Anschauungen denen derjenigen Matrosen, die ebenso wie sie, auf Dampfschiffen groß geworden sind, und diese bilden mehr und mehr die große Menge. – Daher, wenn Meinungen und Klagen der Maschinisten mit denen der Mannschaft zusammentreffen, so werden wir darin eine schwer wiegende Bestätigung dieser erblicken müssen; um so mehr, da die Maschinisten sonst eben so sehr wie Steuerleute und Kapitäne oberhalb der Arbeiterklasse als Mittelstand sich behaupten wollen; auch wenn in Wirklichkeit ihr Dienst, wie es teilweise der Fall ist, sich kaum von einer sauern und nur mäßig bezahlten Arbeit unterscheidet.

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4. Neben technischen Betriebsleitern können zuweilen noch andere Sachverständige (S) befragt werden, d.i. Personen, die durch ihre Berufstätigkeit den Verhältnissen nahe stehen und sie zu beobachten fortwährende Gelegenheit haben und Anregung empfangen. Ihr Standpunkt, ihre Anschauungen werden meistens mit denen der vorigen Kategorie sich berühren oder zusammenfallen; jedoch können sie mindestens ebenso unbefangen sich aussprechen, wie etwa im Ruhestand befindliche Meister (Kapitäne usw.), zumal wenn sie nicht mit ihrem Namen dafür einstehen sollen. Gebunden werden sie an die Unternehmer und deren Interessen noch weniger sein, wenngleich ihre Sympathien schon dadurch, daß auch sie heftig gegen alles „Sozialdemokratische“, Aufreizung u. dergl., kurz gegen die Arbeiterbewegung, reagieren, ihre natürliche Neigung nach jener Seite hin haben. Wenn aber in diesem Berichte Mitteilungen und Ansichten gefunden werden, die sich auf (S) berufen, in einem Sinne, der den Interessen der Unternehmungen entgegen sein oder scheinen möchte, so wird doch jeder Versuch aussichtslos sein, bestimmte Aussagen auf bestimmte einzelne Personen, die so freundlich gewesen sind, sich mir gegenüber auszusprechen, zurückzuführen. Denn alle solche Aussprachen sind für mich nur Erkenntnisgründe gewesen für mein eigenes Urteil, das ich aber in diesen Fällen zunächst vorsichtigerweise dahin fasse, daß eben die Ansicht sachverständiger Leute so und so beschaffen sei, wenn auch die Form, in der ich diese Ansicht ausdrücke, meine eigene ist. 5. Die Hauptquelle für eine Untersuchung der sozialen Lage einer bestimmten Gruppe oder Klasse von Menschen ist aber notwendigerweise diese Gruppe oder Klasse selber. Wenn wir die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter erforschen wollen, so müssen wir vor allen anderen die in der Seeschiffahrt beschäftigten oder beschäftigt gewesenen Arbeiter selber befragen, wie sie ihre Lage empfinden und kennen. In dem Umfange und mit der methodischen Strenge, wie dies nötig wäre, um die volle Wahrheit zu ermitteln, kann dies ein einzelner Berichterstatter freilich nicht leisten. Die Aussagen, die ihm zur Verfügung stehen oder die er für sich heranziehen kann, werden bei einer großen Menge der Personen, die der Betrachtung unterliegen, nur Stichproben bedeuten. Schon hierin liegt eine Warnung vor eiligen Schlußfolgerungen. Außerdem versteht es sich von selber, daß alle solche Aussagen mit Vorsicht aufgenommen und einer scharfen kritischen Sonde unterworfen werden müssen. Wenn der Unternehmer, insoweit das Bewußtsein seines Interesses ihn leitet, geneigt ist, die Lage der Arbeiter gut oder doch genügend zu finden, so ist der Arbeiter, insoweit das Bewußtsein seines Interesses ihn leitet, geneigt, seine eigene Lage und die seiner Kollegen schlecht oder doch ungenügend zu finden. Auf beiden Seiten freilich stehen andere Motive

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einer tendenziösen Darstellung entgegen; auf beiden die rein moralischen Motive, namentlich der Sinn für Wahrheit, wozu auf seiten der Unternehmer noch menschliches Wohlwollen und Sinn für soziale Gerechtigkeit möglicherweise hinzukommt. Aber den rein moralischen Motiven darf in allen menschlichen Zuständen nur eine schwache Wirkung zugeschrieben werden. Der Unternehmer kann es aber auch in seinem Interesse finden, daß der Arbeiter fortschreitet, daß er „kaufkräftiger“ wird (wenngleich dies nur einen angenehmen Schein für eine weniger angenehme Sache, nämlich einen größeren Anteil am Gesamtprodukt bedeutet), namentlich aber kann er (der Unternehmer) zu der Einsicht kommen, daß der besser genährte und überhaupt der eines besseren Gesamtzustandes sich erfreuende Arbeiter leistungsfähiger und leistungswilliger ist; indessen ist diese Einsicht schwierig und gilt für abstrakt, die näher liegenden Interessen und Erwägungen lassen ihr selten einen erheblichen Spielraum. Auf seiten der Arbeiter wirken außer den genannten moralischen Potenzen, wozu häufig noch Treue und Untertänigkeit, Bescheidenheit und Demut kommen, doch auch das Interesse, sich bei den Vorgesetzten in gutem Ansehen zu erhalten, noch mehr die Furcht, sich durch Kundgebung von Unzufriedenheit zu schaden, solchen Kundgaben stark entgegen; aber auch der Unzufriedenheit selber, der Empfindung davon, stehen sehr bedeutende Momente entgegen; vor allem die Gewohnheit, aber auch das Temperament, der leichte Sinn, der namentlich der Jugend eignet (ganz besonders aber bei Seeleuten angetroffen wird) und die Meinung, daß man sich in das Unvermeidliche ergeben müsse, lassen viele Übel willig ertragen; auch der Stolz verwehrt es, sie als Übel anzuerkennen, klagen gilt als unmännlich, außerdem ist es unbequem, sich auf „Weiterungen“ einzulassen u.s.w. Aber diesen retardierenden Momenten gegenüber liegt nun freilich ein mächtiges Agens in der großen allgemeinen Arbeiterbewegung, d.h. in dem erwachenden und mehr und mehr wachsenden Selbst- und Klassenbewußtsein des Arbeiters. Er lernt es nun als Pflicht anerkennen und zuletzt auch empfinden, für das Gesamtwohl der Arbeiterschaft, zunächst aber für das Wohl seiner Berufsgenossen, worin sein eigenes eingeschlossen ist, zu streben und tätig zu sein, also um die Verbesserung der eigenen und der Klassenlage sich zu bemühen; und dieser Standpunkt, den zwar nur wenige klar bewußt einnehmen, auf den aber viele schon aus Nachahmungsneigung und aus Rücksicht auf die Meinung der wenigen sich begeben, ergibt dann einen ganz neuen Gesichtswinkel für das Urteil über die eigenen Zustände. Die Kenntnis und bewußte Verfolgung des eigenen Interesses, die dem Kaufmann und Unternehmer selbstverständlich und ursprünglich ist, ist eben für den Arbeiter ein spätes und schwieriges Produkt seiner Entwicklung, was von jenen so ausgedrückt zu werden pflegt,

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daß sie die Unzufriedenheit als „künstlich geschürt“ bezeichnen; und dies ist, richtig verstanden, richtig genug. Jedenfalls müssen Beschwerden und Klagen, die auf diese Weise hervorgerufen worden sind, anders beurteilt werden, wenn es nur auf den Wahrheitsgehalt ankommt, als die durchaus spontanen Ausdrücke der Unzufriedenheit. Es genügt überhaupt nicht der feste Vorsatz des Forschers, weder zu leichtgläubig noch zu mißtrauisch sein zu wollen. Er muß nach objektiven Kriterien suchen, um sich über die Glaubwürdigkeit der behaupteten Tatsachen, über den Wert der vorgetragenen Meinungen zu vergewissern. Solche Kriterien sind nun offenbarerweise in den Aussagen der übrigen bisher charakterisierten Gewährsmänner enthalten. Sehr schwer müssen die Bestätigungen wiegen, die von dieser Seite herkommen, um so schwerer, da hier (wie gesagt) im allgemeinen die Ansicht vorherrscht, daß die meisten Klagen grundlos sind, daß Mißstände aufgebauscht, die Darstellungen übertrieben werden. Hingegen wird uns ein sehr entschiedener und spezieller Widerspruch, eine ausdrückliche Leugnung bedenklich machen. In dem Fehlen solchen Widerspruchs werden wir aber auch ebenso, wie in einer bedingten und zweifelnden Einräumung, indirekte Bestätigungen erblicken dürfen. Einen anderen Charakter haben Bestätigungen der Art, daß Personen, die zur Gruppe (M) gehören, in unserem Falle als Schiffsoffiziere, unter Übelständen, die von den eigentlichen Arbeitern, also hier von den Seeleuten niederer Chargen behauptet werden, selber leiden, also die Beschwerden unterstützen. Solche Bestätigungen sind darum gewichtig, weil die Gruppe im allgemeinen weniger Grund zur Unzufriedenheit hat und jedenfalls wenig geneigt ist, mit der anderen, die den Gegenstand unserer Untersuchung bildet, gemeinsame Sache zu machen. Als indirekte Bestätigung darf – mit einiger Einschränkung – auch gelten, wenn Berichte und Klagen, die in der Arbeiterpresse – für unseren Gegenstand in der zweimal monatlich erscheinenden Zeitschrift „Der Seemann“, aber auch in dem zu Kiel erscheinenden Tageblatt „Schleswigholsteinische Volkszeitung“ – gedruckt werden – keine Leugnung oder Widerlegung finden. Was die von Flensburg ausgehenden Berichte angeht – und damit werde sogleich auf einige unter N. in unserem Fragebogen enthaltene Fragen geantwortet –, so hat ein einziges Mal, und zwar in den Anfängen der Organisation und des Fachblattes (1897) ein solcher Bericht zu einer Gerichtsverhandlung und zu einer Verurteilung (drei Wochen Gefängnis) wegen Beleidigung geführt (es handelte sich um die in scharfe Ausdrücke gefaßte Behauptung, daß ein Schiff ungenügende Besatzung gehabt habe). Alle späteren Berichte sind unangefochten geblieben. Daraus folgt nicht, daß sie buchstäblich wahr sind. Aber es darf doch vermutet werden, daß sie auch keine groben Entstellungen der Wahrheit zu

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Ungunsten der Schiffsführung und Reedereien enthalten haben, da solche doch wohl zu gerichtlichen Klagen oder mindestens zu preßgesetzlichen Berichtigungen geführt hätten. Allerdings wird in einer anderen Zeitschrift, die vorzugsweise für Nord- und Ostsee Interessen und Ansichten der Kapitäne und Schiffsoffiziere vertritt, der „Hansa“, die gegnerische Zeitschrift „Der Seemann“ in der heftigsten Art befehdet, und zwar vorherrschenderweise mit entschiedener Geringschätzung, ja Verachtung behandelt. Indessen richten sich die Vorwürfe doch hauptsächlich gegen den Ton, der in dem Arbeiterblatt angeschlagen werde, gegen die Aufhetzung, die darin geschehe, und ganz besonders gegen die sozialdemokratische Gesinnung, die daraus hervorleuchte. Bestreitungen und Widerlegungen behaupteter Tatsachen sind, wenigstens was die Flensburger Berichte betrifft, mir nicht bekannt geworden; jedoch mag die Ursache zum Teile daran liegen, daß Kapitäne und Schiffsoffiziere es unter ihrer Würde halten, auf Polemiken gegen ein Blatt, das in ihren Kreisen und bei den Reedern so mißliebig ist, sich einzulassen. Andererseits muß aber hervorgehoben werden: wie begründet sonst jene Vorwürfe sein mögen, gegen die Berichte aus den uns hier angehenden Ostseehäfen, speziell aus dem Flensburger, dem bei weitem wichtigsten, können sie nicht mit Recht geltend gemacht werden; diese Berichte sind, wenn auch starke Ausdrücke unterlaufen, durchweg sachlich und ruhig gehalten und beschränken sich darauf, bestimmte einzelne Übel auf bestimmten einzelnen Schiffen darzustellen, ohne allgemeine Anklagen daraus zu schmieden; zuweilen mit ausdrücklicher Hinweisung darauf, daß es im allgemeinen löblich in dem Punkte sich auf Flensburger Schiffen verhalte. Gleichwohl stellen diese Berichte nur eine Quelle zweiten Ranges für mich dar, weil sie absichtlich nur die eklatanten Fälle hervorziehen, die keineswegs immer die Merkmale typischer Fälle an sich tragen, sondern oft durch vorübergehende zufällige Umstände verschuldet waren. Wichtiger war mir, einen Einblick in die gesamte, während der letzten Jahre im Bureau der Gewerkschaft (Seemannsverband in Deutschland, Mitgliedschaft Flensburg) eingelaufene Korrespondenz zu nehmen, was mir, dank dem freundlichen Entgegenkommen des Vorsitzenden der Mitgliedschaft, zu wiederholten Malen gestattet gewesen ist. Ich habe über den Inhalt der darin enthaltenen Beschwerden – die immerhin nur einen kleinen Teil der einlaufenden Korrespondenz bilden – von 1898 ab kürzere, aus 1901 und 1902 eingehende Notizen genommen. In der Regel sind  8

Verachtung behandelt.: Die Zeitschrift Hansa – International Maritime Journal (HANSA) ist eine seit Januar 1864 monatlich erscheinende, technisch orientierte Fachzeitschrift zu allen Bereichen der Seewirtschaft, des Schiffbaus, der Schiffstechnik sowie dem Thema Häfen.

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diese Briefe von mehreren Personen unterzeichnet, die für die Wahrheit der Mitteilungen einstehen wollen. Die meisten Klagen sind aber von unbedeutender Art und betreffen nur sachliche Meinungsverschiedenheiten zwischen der Mannschaft und ihren Vorgesetzten, die zuweilen auf bloßen Mißverständnissen von seiten jener beruhen. Oft erhalten sie nur eine Anfrage, wie man sich verhalten solle, wie es rechtens sei u. dgl. Auf den Inhalt wird unser Bericht selber sich zurückbeziehen (CO). Noch bessere Ausbeute gewährten aber zwei andere Quellen derselben Herkunft. 1. Im Sommer 1900 geschah eine Umfrage durch Fragebogen von der genannten Flensburger Mitgliedschaft, auf allen Schiffen, die ihr zugänglich waren; sie war auf neun Gegenstände, die des öfteren zu Beschwerden Anlaß geben, gerichtet. In dem Begleitschreiben „an die Mitglieder“ wurde „ganz besonders darauf aufmerksam gemacht“, daß die Betreffenden „unter Umständen vor Gericht beschwören müssen, was sie hier mit ihrer Unterschrift beglaubigen“. Es seien daher leichtfertige, unbegründete Angaben unter allen Umständen zu vermeiden, und empfohlen werde, die Fragebogen nicht sofort nach etwaigen Streitfällen, sondern erst 2 - 3 Tage nachher auszufüllen. „Man denkt dann in der Regel nicht mehr so scharf über Vorkommnisse, welche bei rechtem Lichte besehen, nachdem man in Ruhe darüber nachdachte, kein Grund mehr zur Klage sind“. Die Fragen wurden von 21 Schiffen durch Matrosen und Heizer beantwortet, die mit ihren Namenszeichnungen „vorstehende Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet zu haben bescheinigen“. Die hierin enthaltenen Angaben werden (als FRL) bei den einzelnen Gegenständen, worauf sie sich beziehen, verwertet werden. 2. Ein anderer Fragebogen ging noch im selben Jahr (1900) von der Zentrale des Seemannsverbandes aus. Er bezog sich speziell auf die Gefahren von Betriebsunfällen und sollte zur Kritik und Ergänzung der von der Seeberufsgenossenschaft erlassenen Unfallverhütungsvorschriften dienen. Auch hier wurde „genaue und gewissenhafte Beantwortung“ von insgesamt 19 Fragen dringend erheischt. Der Bogen sollte von mindestens zwei Personen der Besatzung – bei Dampfern von einem Heizer und einem Matrosen – unterschrieben werden. „Es wird sich empfehlen, die einzelnen Fragen im Logis laut vorzulesen und die Kollegen zu veranlassen, auch ihre Meinung zu äußern, damit nicht nur die Meinung der Unterzeichner zum Ausdruck kommt, sondern diese bei Beantwortung der Fragen die Meinung sämtlicher Kollegen, die an der Beratung teilnehmen, wiedergeben.“ Auch diese Fragebogen fanden auf Flensburger Schiffen starke Teilnahme; sie gingen ausgefüllt, und zwar mit einigen Ausnahmen vollständig ausgefüllt, von 26 Schiffen ein (24 in Flensburg, 2 in Schleswig beheimateten). Hingegen von den Kieler Dampfern (Anfang 1900 64, von denen aber 17 nur dem

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Hafenverkehr dienten) und von Lübeckern (zur gleichen Zeit 26) beteiligten sich nur je 7. Alle diese Antworten sind aber für unsern Zweck sehr wertvoll (FRC). Ihre Glaubwürdigkeit wird dadurch erhöht – dies gilt ebenso für die FRL –, daß die meisten Auskünfte günstig lauten; auch wenn von einzelnen Schiffen einzelne Übelstände scharf hervorgehoben werden, ist doch gleichzeitig mehreres anderes als „gut“, „genügend“, „völlig in Ordnung“ u.s.w. bezeichnet worden. Da kein Grund vorhanden ist, die Richtigkeit dieser günstigen Angaben zu bezweifeln, so teilt sich von deren Glaubwürdigkeit den ungünstigen etwas – und zwar nicht wenig – mit: dieselbe subjektive Redlichkeit, die bei jenen zu Tage tritt, darf auch bei diesen vorausgesetzt werden. Anders wäre es, wenn die Absicht hervorleuchtete, „alles“ als schlecht oder mangelhaft darzustellen; davon habe ich indessen kaum eine Spur gefunden. Als günstiger Umstand dafür darf noch betont werden, daß der einheimische Menschenschlag, aus dem die Mehrzahl wenigstens der Flensburger Seeleute hervorgeht, sich durch Besonnenheit und durch Treuherzigkeit auszeichnet, wie auch von (U) (M) und (S) anerkannt wird. Man darf daher auch auf ein gewisses Maß von Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe insofern rechnen, daß nicht leicht eine ganze Mannschaft auf eine unwahre oder bis zur Unwahrhaftigkeit ungenaue Beschwerde sich vereinigen wird. Daß es vereinzelt vorkommt, ist unter den Leuten selber bekannt; so schreibt ein Korrespondent an den Vorsitzenden der Mitgliedschaft über seine ehemaligen Gefährten: „daß die Leute abgemustert sind, das ist keine Ursache und schreiben an dich (an dich zu schreiben), da haben sie selber schuld; wenn sie sich besaufen und Krach machen, da kann auch nichts gutes raus kommen“. „Laß dich man nich von die was forlügen“. (In der Regel ist übrigens Orthographie und Grammatik erheblich besser, als die hier wiedergegebene; schlechtes Deutsch läßt auf Leute von dänischer Muttersprache schließen.) 6. Eine sehr wichtige, aber karge Quelle bilden endlich Gerichtsverhandlungen (G), sofern durch solche bestimmte Tatsachen konstatiert werden, auf die sich der Berichterstatter folglich als auf objektiv gewisse beziehen kann, oder Urteile gefällt werden, die eine besondere Autorität in Anspruch nehmen dürfen. Für den vorliegenden Zweck kommen in dieser Hinsicht fast ausschließlich die Entscheidungen von Seeämtern und des Oberseeamtes in Betracht, wie sie durch geschehene Schiffsunfälle hervorgerufen werden und bei Feststellung von deren Ursachen auf bestimmte Mängel und Übelstände ein starkes Licht werfen. Die Darstellung wird nunmehr auf die Literae des Fragenschemas sich beziehen, und zwar so, daß der Hafen Flensburg als der bei weitem bedeutendste an die Spitze gestellt wird, so daß bei den zwei übrigen erheblichen – Kiel und Lübeck – auf die Verhältnisse jenes zurückverwiesen werden

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kann, soweit sie nicht von diesen abweichen. Die kleinen zu jedem Gebiete gehörigen Nebenhäfen werden sodann mit kurzen Notizen bedacht werden.

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A. a) Das Verzeichnis der Flensburger Seeschiffe von Anfang Januar 1903 umfaßt 94 Nummern, davon sind 6 als „im Bau“ bezeichnet, 2 sind hölzerne Segler, 1 Jacht von nur 17 R.-T. Netto-Raumgehalt, deren Eigentümer der Kapitän, eins, 1 Tjalk (ebenfalls einmastiges Fahrzeug) von 35 ½ R.-T., gehört zu einer der größeren Reedereien; 1 eiserner Schraubendampfer von ca. 27 R.-T. gehört der Flensburger Schiffsbaugesellschaft und dient für ihre Zwecke im Hafenverkehr, ferner sind 19 Schraubendampfer mit zusammen ca. 980 R.-T., davon 9 eiserne, die übrigen von Stahl, hauptsächlich für den Verkehr der Flensburger Föhrde bestimmt, jedoch fahren 2 mit Stückgut auf Lübeck, 2 nach Faaborg (auf Fynen), zuweilen wird auch Vieh aus Dänemark eingeführt. Reederei ist eine Aktiengesellschaft, die aus einer ehemaligen Flensburger und einer ehemaligen Sonderburger zusammengewachsen ist. Außerdem ist eine direkte Linie, die Flensburg-Stettiner, vorhanden – ebenfalls A.-G. –, sie besitzt 5 Schraubendampfer von zusammen 1143 ¾ R.-T., von denen aber vor kurzem das größte verkauft wurde; ein anderes fährt regelmäßig von Hamburg aus (nach Finnland). Alle übrigen (61) fahren „wilde Fahrt“, d.h. dienen dem wechselnden Frachtenverkehr von Hafen zu Hafen, zumeist auf Nord- und Ostsee, viele von diesen aber gehen im Winter ins Mittelmeer oder auch auf Mittel- und Südamerika; einige sind fast immer „draußen“, d.h. in chinesischer Küstenfahrt, darunter namentlich solche der ältesten Flensburger Großreederei, der „Dampfschiffahrtsgesellschaft von 1869“. Diese besitzt 10 Schraubendampfer – wovon 4 eiserne – mit zusammen 11111 ½ R.-T. Die jüngere „Flensburger Dampferkompagnie“ hat 12 stählerne Schraubendampfer – wovon 1 im Bau – mit zusammen 15420 ¼ R.-T. Der Vorstand dieser Gesellschaft ist zugleich Korrespondent-Reeder für fernere 10 Dampfer – wovon 1 eiserner – mit 7274 ½ 30

Korrespondent-Reeder: Der Korrespondentreeder (Schiffsdirektor, Schiffsdisponent, franz. Armateur, engl. Husband of ship) ist der von einer Mehrheit von Schiffseigentümern (Reedern) für den Reedereibetrieb bestellte Vertreter. Seine Vollmacht bezieht sich Dritten gegenüber auf alle Rechtshandlungen, welche die Reederei gewöhnlich mit sich bringt, mit Ausnahme der Eingehung von Wechselverbindlichkeiten, der Darlehns­ aufnahme, des Verkaufs, der Verpfändung und der Versicherung des Schiffes oder der Schiffsparten (s. Handelsgesetzbuch, § 492f.).

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R.-T. Es folgen dann noch 7 Reedereien mit resp. 9 (davon 2 eisernen), 5 (1 eisernen), 11 (2 eisernen), 3 (2 eisernen), 2 (1 eisernen und außerdem 2 stählerne im Bau), 1 (eisernen) und 2 Dampfern, von denen aber die beiden letzteren noch im Bau waren. Alle, die hier nicht als eiserne bezeichnet wurden, sind aus Stahl gebaut, von denen der letzten 7 Reedereien also 22, außer den 4 im Bau befindlichen, von denen der 3 vorhergenannten Reedereien 27. Die eisernen Schiffe sind die älteren, das jüngste davon ist 1890 gebaut, das älteste 1873, die übrigen zumeist zwischen 1880 und 1883. Dagegen sind die 2 ältesten stählernen von 1888, eine erhebliche Anzahl von diesen ist erst seit 1896 gebaut (27 einschließlich der Neubauten; aber ohne die Flensburg-Stettiner und die Föhrdedampfer, von den 61 also beinahe die Hälfte). In der folgenden Darstellung kommen die im Bau befindlichen Schiffe nicht in Betracht, dagegen aber einige, die inzwischen verkauft oder durch Totalverlust abgegangen sind. – Die stählernen Schiffe sind durchweg größer als die eisernen, und unter jenen wieder die neueren größer als die älteren. So faßten die 14 eisernen durchschnittlich je 801,95 R.-T. netto, dagegen die 47 stählernen durchschnittlich je 969,75 R.-T. netto, unter diesen aber die 21 fertigen, die seit 1896 erbaut sind, im Durchschnitt 1290,03 R.-T. netto. Daß die 6 Neubauten wieder etwas kleiner sind (durchschn. 1078,50 R.-T. netto), hat wohl seine Ursachen in der schlechten Konjunktur der letzten 2 Jahre. Die gesamte Kauffahrteiflotte Flensburgs umfaßt ca. 65 ½ Tausend R.-T. netto, eine Tragfähigkeit, die ungefähr derjenigen aller übrigen Schiffe des Königreichs Preußen gleichkommt. b) Das gesamte in den Flensburger Reedereien investierte Kapital betrug3

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16542000



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Bruttogewinn Nettogewinn Bruttogewinn Nettogewinn Bruttogewinn Nettogewinn Bruttogewinn Nettogewinn

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17,406 % 11,375 % 23,161 % 15,389 % 11,354 % 6,743 % 5,809 % 3,300 %

Die Ziffern verdanke ich gütiger Mitteilung des Herrn Konsuls Michelsen, Direktors der Dampfschiffahrtgesellschaft von 1869.

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Bei den Partenreedereien finden Abschreibungen nicht statt, die Erneuerungs- und Reservefonds werden nicht nach festem Modus dotiert. Von dem durchschnittlichen Nettogewinn – der in Dividenden zum Ausdruck kam – dieser 4 Jahre = 9,204 % dürfte der Durchschnitt eines Dezenniums nicht erheblich abweichen, er wird eher etwas höher sein, da das letzte Jahr ungewöhnlich schlechte Erträge gebracht hat. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Kapital der Flensburg-Stettiner Gesellschaft, die sich mit teilweise recht alten Schiffen auf dem Aussterbeetat befindet, und daß bei der Föhrdedampfergesellschaft der Wert ihres Landeigentums in das Gesamtkapital eingerechnet ist. Es darf als gewiß hingestellt werden, daß die eigentliche Frachtfahrt, namentlich wenn sie den Winter hindurch fortgesetzt, und wenn sie ganz oder zum Teil in fernen Gewässern betrieben wird, für das in Flensburg domizilierte Kapital ein sehr gewinnreiches Geschäft darstellt. Für die Mißstände, die sich unserer Untersuchung in Bezug auf die Lage der Schiffsmannschaft herausgestellt haben, fällt diese Tatsache schwer ins Gewicht. Die Zahl der Anmusterungen bei dem Flensburger Seemannsamt betrug im Kalenderjahr 1901 190, die Zahl der angemusterten Seeleute aller Chargen, also einschließlich Steuerleute und Maschinisten 986, im folgenden Jahre (1902) fanden 211 Anmusterungen mit 1078 Leuten statt. Unter den Gesamtzahlen der Leute waren resp. 479 und 467 „Nachgemusterte“, d.h. Ersatzmannschaften. Die Abmusterungen zählten in den beiden Jahren 223 und 234 mit 960 und 969 Personen. An Seeleuten niederer Chargen wurden im Jahre 1902 angemustert (hier sind die mehrmals angemusterten Personen nur einmal gezählt worden):  2

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330 Matrosen, Leichtmatrosen u.s.w. 129 Heizer, 39 Trimmer, 39 Köche, nach festem Modus dotiert.: Die Partenreederei ist eine Gesellschaftsform des deutschen Seehandelsrechts. Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform des Seehandelsrechts am 25. April 2013 können keine neuen Partenreedereien mehr gegründet werden. ... Die Partenreederei wird gesetzlich in § 489 HGB a.F. [ a.F. = die bis zum 24. April 2013 geltende Fassung des HGB.] folgendermaßen definiert: (1) Wird von mehreren Personen ein ihnen gemeinschaftlich zustehendes Schiff zum Erwerbe durch die Seefahrt verwendet, so besteht eine Reederei. (2) Der Fall, wenn das Schiff einer Handelsgesellschaft gehört, wird durch die Vorschriften über die Reederei nicht berührt. Flensburg-Stettiner Gesellschaft: Die „Flensburg-Stettiner Dampfschifffahrts-Gesellschaft“ wurde 1883 gegründet. Siehe dazu: A.C.C. Holdt, Flensburg früher und jetzt. Historisch-topographische Bilder aus Vorzeit und Gegenwart, Flensburg 1884, S. 164.

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23 Meßjungen, 3 Stewards. Abgemustert wurden in der gleichen Zeit:

365 Matrosen u.s.w. einschl. 1 Billetteur, 159 Heizer, 27 Trimmer, 45 Köche, 41 Meßjungen.

Diese An-, Nach- und Abmusterungen geschehen aber nur zum Teil von Flensburger Schiffen. So waren in der Gesamtzahl der vom 1. April 1902 bis 1. April 1903 angemusterten 1035 Seeleute 105, also ungefähr 10 % für andere als Flensburger, und zwar 27 für Segelschiffe. Es musterten für Küstenfahrt 95 Personen – darunter 28 auf Segelschiffen –, für kleine Fahrt 582, für große Fahrt 358 (darunter 37 für 1 Hamburger, 7 für 1 Bremer Schiff). –

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B. Die regulären Heuersätze sind seit einigen Jahren: für Matrosen und für Heizer 60 Mk. monatlich, „ Leichtmatrosen und für Trimmer 45 Mk. monatlich, „ Köche meistens 80, zuweilen 85, wohl auch 90 Mk., wenn als „Koch und Steward“ angenommen. Neben den Leichtmatrosen werden aber „Jungmannen“ für 30 bis 32 Mk. angemustert, über den Matrosen der „Bootsmann“ – so heißt auf Dampfern der Altmatrose, der den Dienst eines 2. und 3. Steuermanns tut – für 72, 85 und 90 Mk., Meßjungen zu 20 Mk. Die Jungen auf den kleinen Segelschiffen für Küstenfahrt erhalten 7 bis 12 Mk., der Bestmann (– Altmatrose auf Seglern) auf diesen Schiffen wird zuweilen auf den halben Reinertrag als Partner angenommen, oder auf eine feste Summe – z.B. 450 Mk. –, für „diesjährige Fahrzeit“ (etwa 6 Monate), sonst erhält er 40 bis 80 Mk. monatlich – wobei Überstunden nicht vergütet werden – je nach Alter und Fahrzeit, aber auch nach Willen und Fähigkeit des Schiffers, zu zahlen; persönliche Verhältnisse spielen hier bedeutend mit. Die auf Dampfschiffe bezüglichen Lohnsätze – die uns hier allein angehen – gelten allgemein für die im Reederverein vereinigten Aktiengesellschaften und Partenreedereien, neuerdings im ganzen Bezirk der Flensburger Handelskammer. Jedoch schließt sich eine kleinere Flensburger Reederei (obgleich sie dem Vereine angehört) davon aus; sie mustert auch

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Leichtmatrosen zu 40 und Matrosen zu 55 Mk. Kleider werden nirgends geliefert, Unterschiede in der Heuer nach dem Dienstjahre können nur ausnahmsweise vorkommen, außer sofern mit dem Alter auch der Name wechselt, indem der Junge zum Jungmann, dann zum Leichtmatrosen, endlich zum Matrosen aufrückt. – Im allgemeinen besteht zwar eher Mangel als Überfluß an geschulten Arbeitskräften, in den letzten Jahren hat sich aber dies Verhältnis, teils durch die Krisis der Industrie, weit mehr aber durch die Lage der Schiffahrt selber etwas verschoben. „Erst gegen Mitte des Monats Juni (1902) verließen die letzten der im Hafen aufgelegten Schiffe unsern Ort.“ „Gegen Ende des Jahres hatten bereits wieder 18 Seedampfer und 17 kleinere Fahrzeuge aufgelegt.“ „Angesichts dieser Tatsachen ist es wohl leicht erklärlich, daß die Seeleute sehr unter Arbeitslosigkeit zu leiden hatten. Dieselbe wurde dadurch noch erhöht, daß auch an anderen Orten bezw. Hafenstädten, sowie in anderen Betrieben gleichfalls eine Stockung eingetreten und demzufolge ein stärkerer Zustrom von Heuersuchenden vorherrschend war. Auch das Ausland, vornehmlich Schweden und Dänemark, stellte ein größeres Angebot von Heuersuchenden. Unter diesen Umständen überstieg das Angebot von Heuersuchenden bei weitem die Nachfrage. Speziell unter dem Maschinenpersonal machte sich dieser Umstand in ganz besonderem Maße geltend4.“ Denn Schlosser und Schmiede, die in Landbetrieben keine Arbeit finden, nehmen gern eine Gelegenheit wahr, als Heizer zu fahren; es ist zwar vereinbart worden, daß von Heizern eine Fahrzeit von 6 Monaten nachgewiesen werden solle, indessen läßt sich diese Forderung kaum aufrecht erhalten, da der Arbeitsmarkt zu unregelmäßig ist: im ganzen kommen die hier beheimateten Schiffe nur recht selten in den Hafen; laufen aber mehrere gleichzeitig ein und wollen bald wieder in See stechen, so ist plötzlich eine starke Nachfrage nach Arbeitern vorhanden, die dann wieder für geraume Zeit sehr schwach sein kann. Von Leichtmatrosen wird eine Fahrzeit von 24 Monaten, von Matrosen eine solche von 36 Monaten verlangt. Indessen wird auch dies oft nicht streng genommen. Wenigstens wird so von seiten der Arbeiter, die eifersüchtig darüber wachen, daß diese Qualitäten in Geltung bleiben, behauptet, und werden Beispiele angeführt. Gegen Ende 1901 wurde von einem Kapitän berichtet, er habe beabsichtigt, einen Jungmann bezw. Leichtmatrosen, welcher erst einige Monate Fahrzeit aufzuweisen hatte, als Matrosen anzumustern, obgleich „genügend befahrene Segelschiffsmatrosen am Lande ohne Stellung waren“. „Auf unsere Intervention beim Reederverein wurde denn auch von der Anmusterung Abstand genommen.“ Der Berichter4

Zitate aus „Rechenschaftsbericht des Seemannsverbandes in Deutschland (Mitgliedschaft Flensburg) für das Geschäftsjahr 1902“, S. 5-6.

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statter behauptet, wohl übertreibend, er könne solcher Fälle Dutzende anführen, und es werde dadurch bewiesen, „auf welcher Seite die Schuld zu suchen sei, wenn Matrosen existieren, die den fachmännischen Ansprüchen nicht genügen.“ (Z.S. 1. Dezember 1901.) Zuweilen wird dann der Verdacht laut, daß ein Heuerbas sich „die Fahrzeit habe ablaufen lassen“. So behauptet ein Korrespondent an Bord eines älteren und kleinen Dampfers, sie hätten einen Matrosen mit nur 30 Monaten Fahrzeit, einen Leichtmatrosen mit 8 ½; die Heuer habe der Bas sich mit 4 Mk., vom Leichtmatrosen sogar mit 4 Mk. 50 Pf. bezahlen lassen (anstatt sonst mit 3 Mk. s. unten). Trimmer werden, wenn überhaupt, so auch als unbefahrene angenommen, so daß hier zuweilen ein Ausweg für arbeitslose Gelegenheitsarbeiter offen steht. Als Stewards dienen zumeist die Meßjungen, die ebenfalls als unbefahrene angenommen werden; nur selten wird ein erwachsener Steward gemustert. – Für die Tüchtigkeit liefert im allgemeinen wohl die Fahrzeit und das Lebensalter einen Maßstab, jedoch wirkt in Betreff einheimischer Leute, die oft (namentlich Flensburger) direkt vom Kapitän oder ersten Steuermann angenommen werden, persönliche Bekanntschaft stark mit; manchmal sind auch durch Verwandtschaft Matrosen und Heizer mit den Offizieren verbunden. – Als Vergütungen außer und neben den Heuern kommen fast nur die Überstundenlöhne in Frage, die seit 1899 40 Pf. pro Stunde betragen. Sie gelten hauptsächlich für Arbeiten im Hafen, außerhalb des 12stündigen Arbeitstages (6 bis 6), der durch Abzug der Mahlzeiten dem jetzt durch die S-O vorgeschriebenen 10stündigen gleichkommt, und an Sonn- und Feiertagen, ebenso aber für Arbeiten der „Freiwache“ auf See (s. unten). „In Bergungsfällen erhält die Mannschaft, mit Ausnahme des Schiffers, ¼ der der Reederei verbleibenden Nettobergungssumme.“ Diese Bedingung ist nebst anderen Musterungsbedingungen seit 1899 von den Reedereien allgemein zugestanden worden, während früher zuweilen Musterrollen vorkamen, in denen ein Verzicht der Mannschaft auf Bergungslohn enthalten war. Daß in diesem Falle auch die Offiziere zur Mannschaft gerechnet werden, während sie nach der Seemannsordnung (auch nach der neuen § 3) nicht dazu gehören und sonst auch nicht gehören wollen, erregt bei der eigentlichen Schiffsmannschaft zuweilen Anstoß. Dies ist noch mehr der Fall gewesen, wenn es sich um „ersparte Heuer“ handelte. Auch in dieser Hinsicht war anstatt der früheren Einzelvereinbarungen, die oft dahin gingen, daß ein Anspruch der Mannschaft auf ersparte Heuer nicht bestehe, die generelle  5

Heuerbas: Eigentlich richtig mit „doppeltem a“: der Heuerbaas ist eine Person, die gewerbsmäßig die Stellenvermittlung für Schiffsleute betreibt. Vgl. Leopold und Ferdinand Perels (Hg.), Die Seemannsordnung vom 2. Juni 1902 und ihre Nebengesetze, Berlin 1902.

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Abmachung im Jahre 1899 getroffen worden, daß, „im Falle der Verminderung der Mannschaft während der Reise die Zurückbleibenden den Anspruch auf die ersparte Heuer haben“. Die neue Seemannsordnung (§ 50) regelt diese Angelegenheit besser dahin, daß die ersparten Heuergelder „unter diejenigen Schiffsleute desselben Dienstzweigs, welchen dadurch eine Mehrarbeit erwachsen ist, nach Verhältnis dieser und der Heuer zu verteilen“ sei. Sie verschlechtert freilich wiederum durch den folgenden Satz die Bedingungen, indem dieser Verminderung durch Entweichung (die häufigste Art), wenn die Sachen des Entwichenen nicht an Bord zurückgeblieben sind, keinen Anspruch auf Verteilung begründen läßt. Die „Vergnügungsdampfer“ heuern mit Selbstbeköstigung an; die Monatsheuer beträgt für Matrosen meist 75, für Heizer 90 Mk., als Bestmann erhält auch der Matrose bis 100 Mk.; die Leute – zum größten Teil verheiratet – nehmen meistens ihr Essen mit von Hause und wärmen es auf an Bord; wenn diese Schiffe auf offene See fahren, so erhalten sie täglich 1 Mk. Extravergütung, weil sie in Wirtshäusern essen müssen. Der Geldwert der täglichen Kost wird sonst sehr verschieden berechnet: von der Seeberufsgenossenschaft nur mit 75 Pf., dagegen von Steuerbehörden mit 1,50 Mk. Die Leute erklären wohl, dies „nicht zu verstehen“. – Unterschiede in Bezug auf Überstundenlöhne zwischen den Mannschaften bestehen nicht. Offiziere erhalten keine Überstundenlöhne. – Das Jahreseinkommen für Matrosen und Heizer ist, hauptsächlich wegen der großen Unterschiede in den Beträgen der Überstunden, sehr schwer zu schätzen. Ferner hängt es auch von der späteren Frage ab, ob Beschäftigung während des ganzen Jahres stattfindet oder nicht? Daß eigener Wille kürzere Pausen setzt, darf als Ausnahme, wenn auch nicht als ganz seltene gelten. Andererseits sind längere Arbeitslosigkeiten, wie im letzten Jahre (1902), selten; sie dauerte angeblich im Durchschnitt 2-3 Monate, für das Maschinenpersonal noch länger; jedoch ist dies offenbar so zu verstehen, daß die an der Arbeitslosigkeit Beteiligten – eine Minderzahl – zuweilen so lange unbeschäftigt waren. „Auch gegen Ende des vorhergehenden Jahres (1901) hatten schon ca. 20 Dampfer aufgelegt, und nicht wenige Seeleute blieben 10-12 Wochen lang ohne Beschäftigung; viele fanden aber Arbeit an Land, wozu namentlich die große Schiffswerft, eine der bedeutendsten Europas, die über 3000 Arbeiter beschäftigt, Gelegenheit bot“ 5. – Wenn man den Wert der täglichen Kost an Bord mit der Seeberufsgenossenschaft auf 0,75 Mk. berechnet, den durchschnittlichen Überstundenlohn auf 120 Mk. jährlich, so würde sich bei durchschnittlicher Fahrzeit von 10 ½ Monaten das Jahreseinkommen des Matrosen und Heizers auf et5

Bericht des S-V für 1901 S. 3.

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was mehr als 1000 Mk. stellen, und dies dürfte einem Durchschnitte von 5 Jahren, bei den gegenwärtigen Heuersätzen und Stundenlöhnen, entsprechen, diese waren aber vor etwa 10 Jahren erheblich niedriger. Das Einkommen des Leichtmatrosen wird nur auf etwa 800, das eines Jungmanns oder Halbmanns etwa auf 700 Mk. kommen, das des Meßjungen auf 600 zu schätzen sein. Die Chargen des Matrosen und Heizers werden ja aber schon in recht jungen Jahren erreicht, oft auch die des Koches, der mit Einschluß von Trinkgeldern (s. unten) leicht auf 13-1400 Mk. sich steht, wenn hier die Kost, da er an der Offiziersmesse teilnimmt, zu 1 Mk. täglich angerechnet wird. – Die Anheuerung geschieht in der Regel auf unbestimmte Zeit; während aber die neue Seemannsordnung bei mangelnder Vereinbarung jedem Teil in jedem Hafen unter Kündigungsfrist von 24 Stunden zurückzutreten gestattet, so gilt für Flensburg durch die mehrgenannten Musterungsbedingungen von 1890, daß die Kündigung, wenn das Schiff nach einem deutschen Hafen geht, 24 Stunden vor Abgang vom vorhergehenden Hafen stattfinden muß. Bis dahin hatten die Musterrollen der Mannschaft 14tägige, zuweilen sogar 4wöchentliche Kündigungsfrist vorgeschrieben. Im Frühling 1903 haben neue Verhandlungen über diesen Punkt stattgefunden. Daß die Kündigung als gegenseitige zu verstehen, wird in Übereinstimmung mit der S-O von den Reedern zugestanden; zugleich wollen aber diese der Bestimmung, daß das Dienstverhältnis nur in einem deutschen Hafen enden könne, hinzufügen: „soweit dieser Endhafen der Reise ist“. Die Vertretung der Arbeiter sträubt sich gegen diesen Satz, weil sie meint, daß er willkürlich ausgelegt werden könne, da der Begriff des Endhafens nicht immer klar sei. – Die Tendenz geht insofern auf diskontinuierliche Beschäftigung, als die Mannschaft selten länger als für eine Reise auf demselben Schiffe bleibt; auch sind während der einzelnen Reisen teils Abmusterungen, teils Desertionen ziemlich häufig. Namentlich im Maschinenpersonal ist die Fluktuation stark. Tarifverträge sind außer den genannten Musterungsbedingungen, deren Abschluß zum ersten Male eine mündliche Verhandlung zwischen Vertretern der Reedereien und solchen der Schiffsmannschaft herbeiführte, folgende geschlossen worden: 1. im Jahre 1900 eine Abmachung über Heuersätze und nachzuweisende Fahrzeiten, 2. im Jahre 1901 zur Ergänzung dieses Kontrakts eine „Vereinbarung, betreffend Berechnung von Überstunden“ (siehe sub C). Beide sollten bis zum 1. Mai 1902 Gültigkeit haben. Sie sind dann um ein Jahr verlängert worden, und auch im laufenden Jahre (1903) scheint eine Einigung über fernere Verlängerung erzielt zu werden; doch hat, während dies geschrieben wird, der definitive Abschluß noch nicht stattgefunden.

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Daß auf beiden Seiten der gute Wille vorhanden ist, die Verträge zu halten, kann keinem Zweifel unterliegen. Von Mißhelligkeiten und Differenzen, die fortdauern, wird im einzelnen berichtet werden; sie beziehen sich meistens auf die Auslegung der Bestimmungen, die in einigen Punkten regelmäßig zwischen dem Schiffer und seinen Vertretern einerseits, der Mannschaft andrerseits streitig werden. Man darf trotzdem sagen, daß die Tarifverträge sich durchaus bewährt haben. Die Verlängerung trotz der schlechten Konjunktur gibt das beste Zeugnis dafür. Bei den neuesten Verhandlungen haben die Reeder versucht, den Überstundenlohn wiederum auf 30 Pf. herabzusetzen; der Antrag wurde aber, da er sehr entschiedenem Widerspruch begegnete, bald zurückgezogen. Andrerseits ist von den Reedern die Fixierung der Heuer für den „Jungmann“ auf 35 Mk. abgelehnt worden. Der „Jungmann“ gilt gewöhnlich als ein anderer Name für den Leichtmatrosen, – man sagt wohl, es sei der im Ostseegebiet übliche Name –, indessen hat sich die Praxis herausgebildet, unter jenem Namen jüngere und billigere Arbeitskräfte als unter dem Namen „Leichtmatrose“ anzuwerben. Die Auffassung, als ob dies eine Umgehung des Tarifs darstelle, ist bisher von seiten der Arbeiter nicht geltend gemacht worden. C. Arbeitszeit: a) auf See. Das englische System („Wache um Wache“, jetzt gesetzlich geworden S-O § 36) war auf den Flensburger Schiffen schon fast allgemein durchgeführt, und zwar ist das Deckpersonal in 2, das Maschinenpersonal in 3 Wachen eingeteilt, es sei denn, daß nur 2 Heizer in Dienst sind, was auf kleinen Schiffen ziemlich oft der Fall ist. Die S-O (§ 36) schreibt nur auf transatlantischen Dampfern Einteilung des Dienstes in 3 Wachen vor. Jedoch herrscht wohl allgemeine Übereinstimmung, daß dies auch auf kleiner Fahrt notwendig ist und daß das Zwei-Wachen-System – also 12stündige Arbeitszeit – für die Heizer Überanstrengung bedeutet. Die vorhin schon erwähnte Vereinbarung vom 5. August 1901, betreffend Berechnung von Überstunden, lautet:

1. Für die Deckmannschaft.

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Die Seewache soll spätestens 2 Stunden nach Abgang des Schiffes aus jedem Hafen gesetzt werden. Wird über diese Zeit hinaus die dann zur Freiwache bestimmte Mannschaft an Deck gehalten, dann bekommt dieselbe die überschießende Zeit als Überstunden bezahlt. – Wird im Kohlenhafen Seewache gesetzt, sobald das Schiff unter die Spout kommt, erhöht die Freiwache, die zum Verholen des Schiffes und zu ähnlichen Arbeiten an Deck beordert wird, Überstunden für die Zeit, in der sie so beschäftigt

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wird; wird keine Seewache gegangen, dann ordnen sich die Überstunden wie sonst im Hafen üblich. – Im Hafen gilt die Arbeitszeit von 6 a.m. bis 6 p.m., ausgenommen sind: Sonntage und deutsche bezw. preußische und schleswig-holsteinische Feiertage; Arbeiten vor oder nach dieser Zeit, oder während der genannten Sonn- und Feiertage, werden als Überstunden bezahlt. – Im Hafen, ausgenommen im Kohlenhafen und auf offener Reede, wenn Seewache gegangen wird, erhält derjenige Deckmann, der von Sonnabend auf Sonntag Nachtwache geht, diese Zeit als Überstunden bezahlt. – Wer sonst im Hafen Nachtwache geht, hat am nächsten Tag frei.

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2. Für die Maschinenmannschaft. Die Seewache soll 4 Stunden vor Abgang des Schiffes aus jedem Hafen gesetzt werden. Wird die dann zur Freiwache bestimmte Mannschaft innerhalb dieser Zeit beschäftigt, dann bekommt sie hierfür Überstunden vergütet. Das Hieven und Überbordwerfen der im Hafen angesammelten Asche wird nur der Freiwache, wenn von ihr ausgeführt, als Überstunden bezahlt.

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3. Beide gemeinschaftlich. Auf See erhalten die Freiwachen Überstunden bezahlt für diejenige Zeit, in der sie beschäftigt werden. Diejenige Deckwache, die auf See die Morgenwache von 4-8 Uhr hat, ist selbstredend verpflichtet, während dieser Zeit auch Schiffsarbeiten, als: Schiffsreinigen, Malen u.s.w. ohne Überstundenvergütung zu verrichten. Überstunden werden nicht bezahlt, wenn die Sicherheit des Schiffes im Hafen, auf der Reede oder auf See die Mitarbeit der Freiwachen erforderlich macht.

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4. Berechnung der Überstunden. Hierfür kommen außerhalb der Hafen-Arbeitszeit und für die Freiwachen folgende Arbeiten in Betracht: Schiff verholen, Ladung festmachen, Löschgeschirr auf- und niederbringen, Schiff reinigen und malen. Überstunden werden bis zu 30 Minuten mit ½, über 30 und bis 60 Minuten mit einer vollen Stunde berechnet.

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Von einem der kleineren Reeder, der aber auch in der Gesellschaft, deren Schiffe den Verkehr in der Föhrde besorgen, bestimmenden Einfluß hat, wird gesagt, er weigere sich, obgleich er Mitglied des Reedervereins ist, die Vereinbarung anzuerkennen (siehe oben), und der Vorsitzende des Vereins bedaure, daß man ihn nicht zwingen könne. Auch von zwei

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anderen Einzelreedern heißt es, sie seien „knapp in der Überstundenberechnung“, deren Regelung wohl allgemein als ein Fortschritt anerkannt wird. Gleichwohl lassen die Bestimmungen Raum für manche verschiedene Auslegung, und die Überstunden bleiben der Hauptstreitpunkt. Bei weitem die meisten der beim Vorsitzenden des Verbandes einlaufenden Beschwerden bezogen sich während der letzten Jahre auf Überstundenberechnung. Manche davon beruhen auf Unkenntnis oder ungenügendem Verständnis der Bestimmungen und werden von dem genannten Vorsitzenden durch Belehrung erledigt. Einmal hat sogar eine umständliche Untersuchung, zu der die Zentrale des Verbandes herangezogen wurde, stattgefunden und hatte zum Ergebnis den Entscheid: „Aus dem Bericht geht klar und deutlich hervor, daß ihre vermeintlichen Forderungen der rechtlichen Grundlage entbehren.“ Zuweilen liegt aber eben solche Unkenntnis oder Vernachlässigung auf seiten des Steuermanns oder Maschinisten vor, der die Arbeiten kommandiert. So sind die Arbeiter in vollem Recht, wenn sie den Gründonnerstag als „schleswig-holsteinischen“ Feiertag anerkannt wissen wollen, was er nach gültigen Verordnungen, die durch kein Gesetz aufgehoben worden sind, ohne Zweifel ist. Schwieriger liegt die Streitfrage, wenn sie auf verschiedener Lesung, nämlich auf Betonung und Interpunktion beruht. Dies ist der Fall bei dem Satze unter 1: „Im Hafen, ausgenommen u.s.w.“ Diesen Satz verstehen die Arbeiter so, daß auch der Kohlenhafen nur ausgenommen sein soll, „wenn Seewache gegangen wird“, und diese Auslegung ist sachgemäß; dagegen wird von der anderen Seite zuweilen dahin gedeutet, daß Kohlenhäfen überhaupt ausgenommen sein sollten, wofür schwerlich ein Grund angegeben werden kann. Bei den jüngsten Verhandlungen haben sich die Reeder damit einverstanden erklärt, eine unmißverständliche Formel anzuerkennen, wenn eine solche gefunden werde. Nun ist vorgeschlagen worden: „Wer im Hafen Nachtwache geht, hat am nächsten Tage frei; falls im Kohlenhafen oder auf offener Reede keine Seewache gegangen wird, so ist der in der Sonnabend-auf-Sonntag-Nacht zu verrichtende Nachtwachedienst mit als Überstundenlohn zu vergüten“; und es darf erwartet werden, daß eine Einigung in diesem Sinne erzielt wird. Von der Klausel sub 3, in Betreff der Morgenwache, wird namentlich, was die Zeit von 4-6 Uhr betrifft, sehr selten Gebrauch gemacht, was die Arbeiter als gute Sitte anerkennen und loben. Um so mehr werden dann gelegentliche Ausnahmen als Unrecht empfunden, was sie der geschriebenen Vertragsformel nach nicht sind. Die Flensburger Reeder haben sich aber bereit finden lassen, den Kapitänen ausdrücklich vorzuschreiben, daß jene Bestimmung nicht in schikanöser Weise ausgebeutet und auch im Sommer nur in besonderen Fällen angewandt werden solle.

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Klagen über unberechtigte Ausdehnung des Begriffes „Notarbeit“ sind seltener geworden, während angegeben wird, daß vor den neuen Tarif­ abmachungen es damit nicht eben genau genommen worden sei. Indessen bleiben auch hier Streitpunkte. Als besonders wohltätig wird der erste Satz der Vereinbarung vom 5. August 1901 empfunden, wonach die Seewache spätestens 2 Stunden nach Abgang des Schiffes aus jedem Hafen „gesetzt“ werden soll. Früher sei es nichts Seltenes gewesen, daß, wenn das Schiff morgens den Hafen verließ, die Mannschaften den ganzen Tag mit Deckaufklaren, Raumfegen, Deckwachen und dergleichen mehr beschäftigt wurden, und erst gegen Abend Seewache aufgesetzt wurde. Daß auch unter den jetzt geltenden Bedingungen, durch das häufige Ein- und Auslaufen im Nord- und Ostseeverkehr, übermäßige Anstrengungen vorkommen, ist unverkennbar. Wenn z.B. das Schiff früh um 6 Uhr in den Hafen einläuft, so muß die Freiwache mit an Deck, wird also um 5 Uhr „ausgepurrt“ (nachdem sie höchstens 1 Stunde geschlafen hat), um alles klar zu machen. Ist das Schiff nun vertäut, so geht es an die Arbeit an den Winschen beim Löschen und Laden, die leicht den ganzen Tag über und in die Nacht hinein dauert. Nun wird die Arbeit nach 6 Uhr abends wohl als Überstunde bezahlt, aber so wie das Schiff klar ist, geht es nach See zu; wenn dann aber um Mitternacht Seewache aufgesetzt wird, so hat die Deckwache, die von 12 bis 4 Uhr nachts und wieder von 8 bis 12 Uhr vormittags geht, schlimmsten Falles, nämlich wenn es dieselbe Wache ist, die auch in der Nacht vorher 12 bis 4 Uhr ging, in diesen 36 Stunden kaum 5 Stunden Schlafes; wenn sich dies mehrmals in der Woche wiederholt, was keineswegs unmöglich ist, so ergibt sich ein arger Mißbrauch der menschlichen Arbeitskraft, der aber bei dem bestehenden Verhältnis der Bemannung als unvermeidlich betrachtet werden muß. Wenn nun von der Mannschaft gefordert wird, daß die ersten 2 Stunden nach Verlassen des Hafens als Überstunden bezahlt werden möchten, so heißt es dagegen: es sei Notarbeit. Im Sinne des Satzes: „Überstunden werden nicht bezahlt, wenn die Sicherheit des Schiffes ... die Mitarbeit der Freiwache erforderlich macht“ scheint es aber nicht zur Notarbeit gerechnet werden zu müssen; es handelt sich vielmehr um regelmäßige Arbeit, die aber in ein Intermezzo fällt: dem Hafentarif, der nach 6 Uhr abends Überstunden gewährt, unterliegt sie nicht mehr; Freiwache gibt es noch nicht, weil noch keine Seewache gesetzt ist. Indessen ist es, wie gesagt, ein erheblicher Fortschritt, daß durch die gedachte Bestimmung die Mehrarbeit (für die Freiwache) auf 2 Stunden reduziert wurde; man versuchte neuerdings (in den noch schwebenden Tarifverhandlungen), sie noch durch den Zusatz zu sichern: „auch wenn ein Revier der offenen See vorausgeht“, d.h. wenn 2 Stunden nach Verlassen

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des Ladeplatzes man noch im Strome oder im Hafengebiet sich befindet. – Für Mahlzeiten werden im Hafen folgende Zeiten gesetzt: um ½ 6 Uhr wird geweckt, dann gibt es Kaffee, 8 bis 8 ½ Uhr für Frühstück, 12 bis 1 Uhr für Mittag, 4 bis 4 ½ Uhr für Kaffee, um 6 Uhr ist Feierabend und Abendmahlzeit nach Belieben; auf See erhält die Morgenwache um 4 Uhr Kaffee, die Wache, die um 8 Uhr antreten soll, frühstückt ½ 8 bis 8 Uhr, die Freiwache um 8 Uhr, diese hat Mittag um 12 Uhr, Nachmittagskaffee um 4 Uhr, Abendessen um 6 Uhr und hat ihre Zeit dafür nicht begrenzt, (da es ja ihre Freizeit ist); die Ablösungswache mahlzeitet immer eine halbe Stunde früher und hat diese halbe Stunde dafür frei. Daß das Wachensystem durch Tagelöhnerei durchbrochen werde, indem z.B. ein Heizer in die Maschine abkommandiert wird, um als Gehilfe des Maschinisten zu fungieren, ist öfters Gegenstand der Beschwerde. Die Arbeitslast kann dadurch in empfindlicher Weise vermehrt werden; z.B. wenn nur 2 Heizer nachbleiben, die dann keine genügende Ruhezeit nach ihrer erschöpfenden Arbeit bekommen. Auch werden zuweilen die Deckswachen geschwächt, indem z.B. der Leichtmatrose in Tagelohn für Reinigungsarbeit und dergleichen verwandt wird. Jedoch scheint die Unzufriedenheit in dieser Beziehung auf die allgemeine Beschwerde über ungenügende Bemannung zurückzuführen zu sein, wovon später die Rede sein wird. Daß die schwache Bemannung allerdings Gefahren für Schiff und Ladung mit sich bringt, liegt auf der Hand. – Über Entschädigung bei Verringerung der Mannschaft war schon gesprochen worden. Zum Stauen und Löschen wird die Mannschaft regelmäßig nicht mehr verwandt, wohl aber zum Verholen und Vertäuen. Die Hauptarbeit in den Häfen besteht für die Decksleute in Bedienung der „Winschen“, d.h. der meist mit Dampf getriebenen Flaschenzüge, die zur Hebung der Lasten aus dem Raum und wiederum zum Herablassen beim Laden dienen. Das Maschinenpersonal hat gleichzeitig den Dampf dafür zu liefern. Über die Arbeitszeit auf Vergnügungsdampfern ist nur zu sagen, daß sie in keiner Weise geregelt ist, sondern ganz nach dem jeweiligen Bedürfnis sich gestaltet, und nicht selten übermäßig lang ist. Wachen und deren Ablösung gibt es hier nicht. In den Sommermonaten pflegt wohl der Dienst um 6 Uhr morgens zu beginnen und 10 Uhr abends zu enden. Dabei ist er allerdings leichter als auf größeren (Fracht-)Dampfern. Pausen zum Essen und wohl auch zu kurzer Rast werden nach Bedürfnis und Möglichkeit gewährt. D. Heuerwesen. Es gab in Flensburg seit Jahren drei Heuerbase, diese hatten auch Gastwirtschaft, aber keine Herberge, so daß die Seeleute hier den Vermittlern ihrer Arbeit immerhin freier gegenüberstanden und noch

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stehen. Auch gibt es eigentliche Schlafbase „erfreulicher Weise“, wie ein Berichterstatter sich ausdrückt, nicht6. Der unverheiratete Seemann sucht sich Logis und Kost irgendwo in der Hafengegend und pflegt dafür 10 Mk. pro Woche zu bezahlen. – Die Heuergebühren waren bis vor einigen Jahren unbestimmt; es ist von den Matrosen nicht selten 4-5 Mk., auch mehr, bezahlt worden. Im Juli 1897 wurde in einer Versammlung der Seeleute beschlossen, daß Matrosen und Heizer in Zukunft nicht mehr als 3 Mk., Trimmer und Leichtmatrosen nicht über 2 Mk. geben sollen. Dieser Beschluß hat sich im ganzen und großen als durchführbar erwiesen. Indessen kommt es begreiflicherweise immer vor, daß eine Extravergütung für eine gute „Schanz“ (Chance = Gelegenheit, der allgemein übliche Seemannsausdruck für eine Arbeitsstelle an Bord) angeboten wird. Die Arbeiter behaupten hin und wieder auch, daß solche gefordert worden sei, indessen scheint es nicht, daß die Flensburger Heuerbase sich als „Landhaie“ hervorgetan haben; wenigstens scheint dies einer vergangenen Zeit anzugehören. Bis vor einigen Jahren wurden den drei Agenten die Schiffe durch die einzelnen Reedereien zugewiesen, so daß jeder seine bestimmten Schiffe hatte; die Vakanzen wurden schriftlich dem Heuerbas durch den Kapitän angezeigt; bei der Nord- und Ostseefahrt gewöhnlich vom englischen Kohlenhafen aus. Jener hat dann immer Zeit genug, die Leute anzuwerben. Er kennt die Leute zumeist als Gäste seiner Schenke und sieht sich nur ausnahmsweise genötigt, sie in ihrem Logis aufzusuchen. Der Kapitän ist selten bei der An- und Abmusterung zugegen. Vorschuß wird in Form einer Note über den Betrag einer halben Monatsheuer gegeben; von dieser Note pflegt der Bas seine Gebühr abzuziehen. Eingelöst wird die Note nach Abgang des Schiffes, wenn der Mann an Bord ist. Der Heuerbas hat daher starkes Interesse, dafür zu sorgen, daß der Mann sich rechtzeitig an Bord begebe, um seinen Kredit bei den Händlern aufrecht zu halten. Die Händler machen keine festen Diskontabzüge, sondern halten sich durch relativ hohe Preise der Ausrüstungsgegenstände schadlos. Das Bureau der Mitgliedschaft Flensburg des S-V hat seit 1898 begonnen, die Vorschußnoten gegen bar einzulösen (also zu kaufen), zuerst ohne Abzug, dann erwies sich als nötig, für jede Note 10, endlich aber 50 Pf. einzubehalten. Das Geld dafür wird aber nicht der Verbandskasse entnommen, sondern es ist ein besonderer Fonds dafür gebildet worden. Im Jahre 1900 wurden 289 Noten mit 3515,30 Mk. ausbezahlt, davon wurden am Ende des Jahres 56 Mk. als verloren betrachtet, also ein geringer Bruchteil. Die Zahlstelle verlangt, daß Leute, die ihre Reise nicht antreten, den Betrag der Note zurückzahlen, und hat in einigen Fällen, wo dies nicht 6

Dritter Jahresbericht des Seemannsverbandes in Deutschland. Geschäftsjahr 1900. Hamburg o. J. S. 76.

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geschehen war, Strafantrag gestellt. Die Zahl der eingewechselten Noten stieg 1901 auf 357, ging aber im Jahre 1902 auf 185 zurück infolge des Umstandes, daß der neue Agent den Vorschuß teilweise in bar hergab. Der Fonds hatte am 1. Januar 1903 einen Bestand von 150,75 Mk. Im ersten Quartal 1903 wurden 96 Noten mit 2340,90 Mk. eingelöst; der Verlust betrug 29,50 Mk. – Von Errichtung eines Heuerbureaus ist bisher nicht die Rede gewesen; wohl aber hat in den letzten Jahren der im April 1900 gegründete Reederverein sich dafür interessiert, die Stellenvermittlung zu zentralisieren – vermutlich im Hinblick auf die neuen Bestimmungen der S-O –, und zwar wollte er dem einen der drei Agenten, mit dem unter den von ihm bedienten Kapitänen und Reedern am meisten Zufriedenheit sich kundgab, das Ganze zuwenden – dieser eine war freilich gerade derjenige, mit dem die Seeleute am wenigsten zufrieden waren. Man sagte ihm nach, daß er die Leute an seine Gastwirtschaft zu fesseln wisse; er pflegte ihnen das Musterbuch sogleich bei ihrer Meldung abzuverlangen und oft wochenlang zu behalten, wodurch dem Heuersuchenden eine andere Chance entgehen konnte; wurde es abgeholt, so fiel dieser bei ihm in Ungnade, die dann leicht fühlbar wurde. Ihm gerade wurde auch die Annahme und wohl gar Forderung von Übergebühren vorgeworfen, durch seinen „Übermut“ in Behandlung der Leute fühlten diese sich gekränkt; er galt für einen heftigen Gegner des Verbandes. Inzwischen ist nun diese Spannung dadurch gelöst worden, daß eben dieser Agent im Juli 1902 mit Tode abging. Seine Witwe versucht zwar das Geschäft weiterzuführen und hat noch einige Kundschaft, aber der Reederverein hat seine Gunst einem neuen Agenten zugewandt, der seinen Hauptberuf im Gewerbe eines Segelmachers hat und eine Gastwirtschaft nicht führt. Diese Wendung scheint eine glückliche zu sein, da bisher auch die Mannschaften gegen diesen Bas nichts einzuwenden haben; es wird nur geklagt, daß er schwer anzutreffen sei. (Der Gastwirt ist eben der Mann, den man am sichersten treffen kann.) Der neue Heueragent genießt (auch unter den Seeleuten) eines guten persönlichen Rufes, ebenso ist dem dritten Bas, der nach wie vor sein Geschäft mit Gastwirtschaft betreibt, niemals etwas zur Last gelegt worden. Gleichwohl wünschen die organisierten Seeleute, da sie das System der persönlichen Stellenvermittlung überhaupt als einen Schaden für sich ansehen, ein zentrales Heuerbureau „unter gemeinsamer Verwaltung“ oder doch unter „Mitkontrolle“ der Seeleute. So lange als dies nicht erreicht werde, wünschen sie wenigstens die Vermittlung in einer Person – als welche ihnen der neue Agent genehm wäre – zu konzentrieren, „um ausbeuterischen Gelüsten mehrerer Personen vorzubeugen“. Sie faßten am 15. Juli 1902 eine dahin gehende Resolution und unterbreiteten diese dem Reederverein, um nähere Verhandlungen über diese Sache

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bittend. Dieser gab zur Antwort, daß er den neuen Agenten zwar anerkenne, aber den Reedern nicht die Verpflichtung auferlegen könne, ihre Anheuerungen nur durch ihn besorgen zu lassen; es werde aber vom Reederverein angestrebt werden, daß eine Zentralisierung allmählich Platz greife, was voraussichtlich durch das am 1. April 1903 in Kraft tretende neue Gesetz betr. die Stellenvermittlung leichter zu erreichen sein werde. Die vom S-V gewünschte Mitverwaltung bei der Heuervermittlung finde bei den Reedern keinen Anklang, eventuelle Beschwerden, soweit sie später nicht durch das neue Gesetz geregelt würden, werde aber die betreffende Reederei, oder nötigenfalls der Verein, stets entgegenzunehmen bereit sein. – Die Mitgliedschaft beschloß darauf, bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes, bezw. bis zu den künftigen Tarifverhandlungen, von weiterem Vorgehen Abstand zu nehmen. Gleichzeitig versprach der neue Heueragent, daß er bei der Vermittlung möglichst den Wünschen der Seeleute Rechnung tragen wolle. – Heuern oder Löhne werden von den Heueragenten nicht ausbezahlt; die Vorschüsse wirken insofern nicht günstig, als sie die Neigung, vor Antritt der Reise (zum Abschiede) Geld zu vertun, befördern, da sonst die Aufwendungen für Ausrüstung selten etwas übrig lassen würden. Die Offiziere werden nicht von den Heuerbasen, sondern auf den Bureaus der Reedereien angenommen. – Sogen. „Runner“, d.h. Unteragenten, halten die Flensburger Heuerbase nicht. – Die durch die S-O vorgeschriebene polizeiliche Taxe für die Stellenvermittlung ist noch nicht erlassen. E. Die Kost an Bord der Flensburger Schiffe dürfte in der Regel genügend, nicht selten recht gut sein. Unter älteren Seeleuten aller Chargen, soweit sie noch die Zustände der Segelschiffahrt gründlich kennen, herrscht nur eine Stimme darüber, daß in dieser Hinsicht die Lage des Seemanns sich erheblich gebessert habe. Und zwar liege die Hauptursache der Verbesserung in den Verhältnissen. Gute und dauerhaft präservierte Gemüse und Früchte waren ehemals unbekannt. Durch das häufige Anlaufen der Häfen ist es den Dampfern ermöglicht, oft frisches Fleisch einzunehmen, das früher unbekannt war; ebenso ist frisches Brot jetzt wenigstens von Zeit zu Zeit zu haben. Als Speiserolle gilt die gemeinsame, vom 1. April 1899 für die sechs Seeuferstaaten gültige (abgedruckt Schriften dieses Vereins CIII S. 281). Eingehalten wird sie in Bezug auf die Fleischration, im übrigen gilt es als notwendig, daß sie überschritten werde, namentlich was die Fettmenge betrifft, und besonders bei nordischen Fahrten. Die laut werdenden Kla-

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gen haben regelmäßig zum Inhalt, daß „nach der Speisetaxe“ beköstigt werde. Der Kapitän erhält als tägliches Fixum gleichmäßig 1,20 Mk. pro Mann des Volkslogis, 1,50 Mk. pro Mann der Kajüte, um die Verpflegung zu bestreiten. Anspruch auf Bier, Wein oder Branntwein haben die Leute nicht, sie erhalten als regelmäßiges Getränk Kaffee oder Thee in reichlicher Menge, Branntwein führen sie zuweilen in geringer Quantität, die also bald verzehrt ist, auf eigene Kosten mit sich. Es kommt wohl vor, daß nach schwerer Arbeit eine Flasche Bier gereicht wird, in den Tropen wohl auch gelegentlich Branntwein. Sonst wird gegen die Hitze den Heizern Haferschleim gereicht; am Mittelmeer wird viel Citronensaft genossen und dem Thee beigemischt. Ob die Kapitäne Gelegenheit haben, an der Beköstigung zu sparen, hängt, wenn sie nicht wollen, daß die Mannschaft in ihren Rationen beeinträchtigt werde, davon ab, wo sie ihre Einkäufe machen; wenn z.B. in Rußland, so ist das sehr vorteilhaft und es liegt dann nahe, daß sie bei der Gelegenheit sich reichlicher mit Proviant versorgen, als nötig und im Interesse der öfteren Erneuerung wünschenswert wäre. Die Meinung von Reedern ist, daß „früher“ der Kapitän wohl ein paar hundert Mark jährlich übrig hatte, neuerdings bei den gestiegenen Preisen kaum. Prinzipiell erklären die Reeder nichts dagegen einzuwenden, daß die Kapitäne bei Verproviantierung der Schiffe zu ihrem Vorteil Ersparnisse machen; ja es scheint in Wirklichkeit die Sache darauf angelegt zu sein, daß sie einen Nebenverdienst aus diesem Handel gewinnen, und dies muß als ein Übel bezeichnet werden; es wäre nur billig, wenn der Besatzung auf deren Verlangen über die Verwendungen der Kostgelder Rechnung gelegt werden müßte; in diesem Sinne wurde von den Maschinisten vor einigen Jahren auf Einsetzung eines „Meßvorstandes“ angetragen, den sie aus 2 Offizieren – 1 vom Deck und 1 von der Maschine – zusammensetzen wollten. Daß die Köche den Leuten ihr Recht erkürzen können, unterliegt keinem Zweifel, zumal wenn etwa ein Kapitän seinen Koch dazu anhält, was in einzelnen Fällen wohl vorkommen mag, wenn auch nicht eben glaublich ist, daß es oft vorkommt. Daß die Köche für sparsames Umgehen mit dem Material durch Trinkgelder belohnt werden, ist wohl Regel; es bedeutet aber keineswegs notwendiger Weise, daß es zum Schaden der Mannschaft geschieht. Kapitäne sagen wohl mit Recht, daß der „schluderige“ Koch in der Regel auch ein schlechter Koch sei, der also die Leute am wenigsten zufrieden stellt. Indessen bleibt für den Kapitän immer eine starke Versuchung, sein „Geschäft“ bei der Verproviantierung zu machen. Vor einigen Jahren kam ein Fall vor das Flensburger Landgericht, der auf Denunziation der Offiziere eines Schiffes gegen den Kapitän beruhte, nachdem diese mit der Mann-

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schaft zusammen sich vergebens beschwert hatten. Die Anklage lautete auf Unterschlagung von Proviantgeldern, mußte aber fallen gelassen werden, weil weder durch Vereinbarung noch durch Gesetz vorgeschrieben sei, daß eine dem Kostgelde entsprechende Kost gegeben werden müsse. Der Koch sagte aus, ihm sei aufgetragen worden, nach der Speisetaxe zu kochen, daß dies aber bei weitem nicht genüge, sei ja wohlbekannt; er habe nur 75 Pf. bis 1 Mk. pro Mann verbraucht. Nach der Freisprechung soll der Staatsanwalt dem Schiffer eine artige „Moralpauke“ gehalten haben (Z.S. 1898 Nr. 6). In der Regel besorgt der Kapitän selber die Einkäufe und kann darauf rechnen, daß die Lieferanten sich um seine Kundschaft bemühen. Der Koch gibt ihm eine Liste der Materialien, die er zu brauchen meint; eine Liste, die dann freilich oft nur unter erheblichen Streichungen bewilligt wird. Öfter aber als böser Wille des Kapitäns oder des Koches ist die Unfähigkeit des letzteren schuld, wenn mangelhafte Kost bereitet wird. Daß es mit der Kochkunst zuweilen nicht weit her ist, begreift sich schon aus der gewöhnlichen Karriere des Koches, der vom Schiffsjungen zum Kajütssteward aufrückt; nachdem er als solcher dem Koch etwas abgeguckt hat, bald selber sich für einen Koch ausgibt und als solcher sich anmustern läßt. Zuweilen ziehen wohl die Kapitäne die jüngeren Köche vor, weil diese sich williger unterordnen. Neuerdings sehen aber die größeren Schiffe mehr darauf, einen ausgebildeten Schiffskoch zu bekommen; es zeigen sich solche, die eine Kochschule durchgemacht haben. Es werden in der Regel 3 warme Mahlzeiten gegeben, da die Leute es lieben, einen Teil ihrer Fleischration als warmes Frühstück nach englischer Weise zu erhalten; abends gibt es dann meistens Fleischreste des Mittags mit gebratenen Kartoffeln, besonders gern in einer, wohl zubereitet, für lecker geltenden dänischen Mischung unter dem Namen „Lapskov“ die aber zuweilen auch Mißfallen erregt, teils durch Qualität, teils durch zu häufige Wiederholung. Vergütung für Entbehrung in Folge von Knappwerden des Proviants wird nicht gewährt. Kontrolliert wird die Zubereitung in der Regel nicht; auch kümmert sich der Kapitän nicht um das Essen der Leute, sondern wartet ab, ob Klagen einlaufen, um dann die Ursachen zu ermitteln. Begründete Unzufriedenheit wird meistens von den Offizieren geteilt; auch kann dem Kapitän selber die Untüchtigkeit des Koches nicht lange verborgen bleiben. Ebenso hat der Kapitän selber am meisten Interesse, dem Verderben des Proviantes vorzubeugen und für Ersatz des frischen Wassers zu sorgen. Doch kommen wohl Nachlässigkeiten in beiden Beziehungen vor. Auch dürfte mit Anpassung der Kost an wärmeres Klima es zuweilen etwas leicht genommen werden. Die günstige Gelegenheit zu

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billigem Einkauf verführt wohl den Kapitän, zu große und auf langer Reise dem Verderben ausgesetzte Vorräte von einzelnen Proviantsorten mitzunehmen. In der Hauptsache hängt aber „die gute Stimmung an Bord von der Person des Kochs ab“ (U); wenn er geschickt ist, weiß er auch aus mäßigem Material etwas Schmackhaftes herzustellen; ob dies dann immer gesunde Kost ist, dafür ist wohl nicht einzustehen. – In der FRL war auch eine Frage nach der Beköstigung enthalten. Die 29 Antworten – dies gilt auch für nachher zu erwähnende andere Fragen – verteilen sich auf die sub A bezeichneten Reedereien wie folgt: 2 gehören zu I 2 „ „ II a 5 „ „ II b 7 „ „ III 2 „ „ IV 6 „ „ V 2 „ „ VI 3 „ „ VII Die Antworten lauteten in der Mehrzahl der Fälle (16) mehr oder minder günstig, in den übrigen (13) mehr oder minder ungünstig. Die 16 günstigen Antworten sind: 2 Mal „sehr gut“ bezw. „ohne Tadel“: VII u. VI, 6 Mal „gut“: 3 zu V, je 1 zu III, II b und I, 4 Mal „gut“ mit Zusätzen (im allgemeinen, einigermaßen, ziemlich): 2 zu III, 1 zu II b, 1 zu II a, 4 Mal „genügend“ u. dgl.: 1 zu VI, 1 zu III, 1 zu II b, 1 zu II a. Von den 13 ungünstigen Antworten lauteten 9 „mangelhaft“ „könnte besser sein“ „nicht zum besten“ „anfangs gut, in der letzten Zeit schlechter geworden“ „Proviant gut, Zubereitung nicht am besten“ „veränderlich“ „wir Matrosen sind zufrieden, die Heizer dagegen nicht“ „schlechtes Wasser aus den Häfen in die Trinktanks gebracht“: 1 zu II b, 3 zu III, 2 zu IV, 2 zu V, 1 zu VII, 4 einfach „schlecht“: je 1 zu I, II b, V und VII. Wenn es gestattet ist, aus dieser Verteilung der Zeugnisse einen zweifelnden Schluß auf die Zustände bei den verschiedenen Reedereien zu ziehen, so wird dieser zu Gunsten der kleineren Reedereien ausfallen (unter den 5 Antworten aus VI u. VII sind die beiden günstigsten und 3 überhaupt günstig; die 2 zu IV sind freilich unter die ungünstigsten gerechnet, in einem Falle aber heißt es ausdrücklich, daß wohl die Ursache der „Mangelhaftigkeit“ am Koch liege, in anderen bekennen die Matrosen sich „als zufrieden“); und dies könnte darin begründet sein, daß bei diesen kleineren Reedereien recht oft der Kapitän „mitreedert“, was auch von diesen „gern gesehen wird“ (S). Möglicherweise kommt es unter den Kapitänen, die bloße

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Beamte sind, eher vor, daß ein solcher aus der Verproviantierung einen Überverdienst zu gewinnen sucht; oder, wenn dies sogar als Regel gelten darf, daß er ihn über Gebühr auszudehnen sich angelegen sein läßt. Wenn ich nun auch die ziemlich zahlreichen Klagen über mangelhafte und schlechte Kost, die in den an den Verbandleiter gerichteten Korrespondenzen von 1898–1902 inkl. enthalten sind, heranziehe, so fällt mir darin als bemerkenswert nur auf, daß sie verhältnismäßig oft auf ältere Schiffe, die wie früher gesagt, meist auch kleiner und von Eisen gebaut sind, sich beziehen. Namentlich scheinen die kleinen Reedereien, die sonst günstig dastanden, hiedurch belastet. Seinen Grund kann dies daran haben, daß die besseren Köche lieber auf größere Schiffe gehen werden und daß diese kleinen oft mit geringwertigen vorlieb nehmen müssen. In einigen Fällen wird die Schuld ausdrücklich auf den Koch geschoben und einmal hervorgehoben, daß er ein 61 jähriger Mann sei, was wohl bedeuten sollte, daß er seiner Aufgabe an Bord nicht hinlänglich gewachsen sei. Übrigens finden sich in diesen Korrespondenzen auch Lobsprüche nicht selten; die Kost wird zuweilen gut, zuweilen auch sehr gut genannt, öfter kehren die Wendungen wieder: „wir haben nichts zu klagen“. „Über Beköstigung nicht zu klagen“. „Es ist hier ganz gut an Bord, Arbeit wie auch Essen“. Auf ein eisernes Schiff beziehen sich solche Lobsprüche nur 1 Mal, wo ein solches schlechthin „ein sehr gutes Schiff“ genannt wird. Die Klagen beziehen sich gelegentlich auf das Menu „Klippfisch und Wassersuppe“, sonst hauptsächlich auf den übermäßigen Gebrauch von Hartbrot. Daß dies bei längeren Reisen unentbehrlich ist und daß die Menge davon, die man einmal an Bord hat, „zeitweise auch einmal aufgegessen werden“ muß, wird völlig zugegeben. Wenn Klage geführt wird, so ist die Meinung, daß bei dem häufigen Besuch der Häfen (auf Ostund Nordsee) öfter einmal frisches Brot eingekauft werden könne und daß andererseits nicht Hartbrot in so großen Mengen eingekauft werden müsse, wenn man in einigen Tagen wieder einen Hafen anlaufe. Zuweilen gibt auch die Beschaffenheit des Hartbrotes, wenn es aus lauter Brocken besteht, Anlaß zur Unzufriedenheit. Ähnlich wie mit dem Verhältnis von Hartbrot zu frischem Brot steht es mit dem von Salzfleisch zu frischem Fleisch; daß das Salzfleisch bei längeren Reisen zuweilen schlecht wird, ist nicht zu verwundern; wenn die Klage an den Kapitän kommt, so läßt er es wohl über Bord werfen. In vereinzelten Fällen scheint aber der Kapitän sich allen Beschwerden hartnäckig zu verschließen. So sind über einen Dampfer der Reederei I die Klagen während der letzten Jahre immer aufs neue und trotz mehrfachen Wechselns der Köche laut geworden. Das Schiff fährt im Winter auf dem Mittelmeer. Nachdem schon mehrfach geklagt worden, lief gegen Ende des Jahres 1901 folgender Bericht

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in Flensburg ein (vgl. Z.S. 5. Januar 1902): „Die Kost wird von Tag zu Tag schlechter. In Cypern, wo wir längere Zeit lagen, bekamen wir weder Fleisch noch frisches Brot; auch wurden die Kartoffeln alle, so daß wir 10 Tage hindurch keine Kartoffeln mehr erhielten. Wollte man am Mittag zu seinem Salzfleisch etwas essen, so mußte man Hartbrot dazu nehmen . . . In Limasol erhielten wir endlich wieder Kartoffeln; auch wurde hier frisches Wasser an Bord genommen. Dasselbe wurde in einem offnen Boote ans Schiff gebracht. Die Leute standen mit den nackten Füßen im Trinkwasser (!). In Limasol kaufte der Kapitän 2 Schafe und 16 Hühner, jedoch bekamen wir hiervon nur an einem Sonntag die Suppe und zum größten Teil Knochen. Am andern Sonntag bekamen wir zu Mittag je 2 Frikadellen von 20 Gramm Gewicht; trotzdem meinte der Kapitän zum Koch, er gebrauche zu viel Proviant. Im übrigen erhielten wir morgens zum Frühstück Hartbrot und Präservenfleisch, sogenanntes Kabelgarn; mittags Kartoffeln und Präservenfleisch; zum Kaffee Hartbrot und abends Hartbrot und Präservenfleisch. So ging es fast jeden Tag, und erhielten wir Salzfleisch, so konnte es niemand vor Gestank essen. In Algier, wo wir bunkerten7, wurde auch kein nennenswerter Proviant gekauft. Hier soll der Kapitän dem Koch verschiedenes von der aufgestellten Proviantliste gestrichen haben. Auf der Reise von Algier nach London konnten die Heizer schlecht Dampf halten, was unter den hier geschilderten Verhältnissen ja begreiflich ist. . . . Als wir auf der Themse ankamen, gingen wir am nächsten Mittag mit unserer Portion Salzfleisch zum Kapitän, denn dasselbe war völlig ungenießbar. . . . Am nächsten Morgen bekamen wir zum Frühstück Grütze, die ebenfalls verdorben war. Ein Heizer ging hierauf wieder zum Kapitän und fragte, ob die Leute nicht bald bessere Kost bekommen könnten, denn bei der Kost könnten sie nicht arbeiten. Es wurde dann nach längeren Auseinandersetzungen ein Boot ausgeschickt, um etwas Proviant zu holen. An diesem Tage bekam die Mannschaft erst um 2 Uhr Mittag, und ein Heizer, der auf Wache war, erst um 3 Uhr“. Mehrere Monate später kehren die Klagen von demselben Schiffe verstärkt wieder. „Qualität und Quantität der Rationen waren manchmal derartig, daß die Mannschaft zeitweise tatsächlich Hunger leiden mußte. Der 2. Steuermann war der Verwalter des Proviants und wurde selbst dem Koch mehrmals Brot und Butter zugeteilt. Hatte der Koch Brot gebacken, so wurde es sofort vom zweiten Steuermann verschlossen. Einmal zeigte der Koch dem Kapitän sein Abendbrot, das nur in trockenem Hartbrot, in Thee aufgeweicht, bestand“. In demselben Jahre habe ein 5-6 maliger Wechsel der Köche stattgefunden. Ein Koch („der in Flensburg als sehr tüchtig in 7

Kohlen einnehmen.

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seinem Fach bekannt sei“) sei in Genua zu dem deutschen Konsul geführt und zwangsweise abgemustert. Ihm seien 7 Delikte in Bezug auf die Sorge für den Proviant zur Last gelegt, wegen deren er zu 30 Mk. Geldstrafe verurteilt worden sei. Eine Verteidigung habe ihm der Gericht haltende Konsul mit den Worten „Schweigen Sie“ abgeschnitten. Auch sei ihm auf See niemals von den Eintragungen seiner angeblichen Vergehen ins Journal etwas bekannt gegeben worden, obwohl der Schiffer gesetzlich dazu verpflichtet sei. – Die Reederei erklärt – in einem an mich gerichteten Schreiben, da ich um Auskunft über den Fall gebeten hatte –, sie habe, so oft ihr Klagen zu Ohren gekommen, sogleich an den Kapitän geschrieben, daß er Abhilfe schaffen müsse; soweit ihr bekannt, seien aber die Klagen bei weitem nicht immer berechtigt gewesen, sondern zum Teil in frivoler Weise vom Zaun gebrochen worden. Es sei allerdings in dieser ganzen Zeit die Wahl des Koches nicht immer günstig gewesen, und obschon Proviant in genügender Menge und in tadelloser Qualität angeschafft worden, habe es der Koch eben nicht verstanden, damit zu wirtschaften. Sie habe jedesmal alsbald dafür gesorgt, daß ein anderer Koch an Bord genommen wurde. – Von seiten der Arbeiter wird dagegen behauptet, gerade der Koch, unter dessen Regime das Übel am schlimmsten gewesen, sei ein tüchtiger Koch und auf früheren Schiffen recht lange bedienstet gewesen, ohne daß Klagen laut geworden seien. Dagegen sei die Kost an Bord jenes Schiffes von jeher schlecht gewesen: dies könne noch heute von Schiffsleuten nachgewiesen werden, die früher auf dem Schiffe gefahren seien. Auch der letzte Koch und ein Matrose, die erst vor kurzem von dem Schiffe abgemustert wurden, sagten aus, daß neuerdings zwar der Zustand sich verbessert habe, aber in mancher Beziehung und im Verhältnis zu anderen Schiffen noch zu wünschen übrig lasse. Auch dieser letzte Koch habe mehrere Auseinandersetzungen mit dem Kapitän gehabt. Erhobene Beschwerden habe dieser stets mit der Bemerkung zurückgewiesen: „ihr werdet nach Speisetaxe beköstigt und weiter gibts nichts“. – Ohne den Streit entscheiden zu wollen, kann man doch nicht umhin, die Vermutung für begründet zu halten, daß in diesem Falle die Ursache der auch von der Reederei teilweise zugestandenen schweren Übelstände an der Schiffs- und nicht an der Küchenleitung gelegen habe. Die Schiffsleute sprechen mit Resignation davon, daß nun einmal die Herren Reeder ihren Kapitänen eher als ihnen Gehör und Glauben zu schenken geneigt seien. Und doch seien in fast allen Fällen, wo über Kost geklagt werde, die Maschinisten und (wenigstens im stillen auch) die Steuerleute auf ihrer Seite. Andererseits darf aber angenommen werden, daß in manchen Fällen diese Unzufriedenheiten keinen ausreichenden Grund haben; sie können auch von Befinden und Stimmungen einzelner Personen herrühren. Man

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braucht nur an einen Junggesellentisch in Gasthöfen sich zu erinnern, um es für wahrscheinlich zu halten, daß auch in andern Kreisen oft aus bloßer übler Laune „auf das Essen geschimpft wird“. – Übrigens sind die Klagen der Maschinisten oft am stärksten. 5

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F. Die „Volkslogis“ sind regelmäßig unter der „Back“ (dem vordersten erhöhten Teile des Fahrzeuges), d.h. zur ebenen Erde vom Vorderdeck aus; daß sie (wie sonst wohl auf alten Dampfern) unter Deck sind, kommt in Flensburg kaum noch vor. Die Größe ist verschieden: Höhe meistens gute Mannshöhe, die Kojen nehmen die reichliche Hälfte des ganzen Raumes ein; daß sie in mehr als doppelter Lage übereinander liegen, kommt auf Schiffen der Ostseehäfen meines Wissens bis jetzt nicht vor; es ist ebenso unbeliebt, wie das Eisen als Material der Bettstellen. Das Deckpersonal hat seinen Logisraum auf der rechten, das Maschinenpersonal auf der linken Seite; das letztere ist meistens kleiner und enthält dann nur vier, während das Matrosenlogis sechs Kojen hat. Neben den Kojen läuft eine Bank hin, innerhalb derer jeder Mann einen Behälter für sein Eßgeschirr und anderes Gerät hat; eine Tischplatte pflegt nahe dem Eingang an einem Haken befestigt zu sein und wird also zum Gebrauche niedergeklappt. Wenn die Logis größer sind, so steht wohl ein fester Tisch in der Mitte, wofür die kleineren keinen Platz haben. Die Reinigung wird den Leuten als ihr eigenes Interesse und eigene Sorge überlassen, d.h. als Arbeit, die auf ihre wachfreie Zeit kommt und nicht bezahlt wird. Infolgedessen läßt die Reinlichkeit oft zu wünschen übrig, sei es, daß Ermüdung der Leute oder natürliche Trägheit und Gleichgültigkeit daran schuld ist. Besondere Räume zum Ablegen der schmutzigen Kleider kennen die Flensburger Schiffe bisher nicht; ebensowenig Baderäume; Waschhäuser selten. Von den Fragen in FRC beziehen sich mehrere auf das Logis, wir werden diese einzeln betrachten. Ausgefüllte Fragebogen, mit mehr oder weniger eingehenden Antworten, gingen bei der Flensburger Mitgliedschaft von 26 Schiffen ein, und zwar von 24 Schiffen Flensburger Reedereien, davon 3 zu I, 2 zu II a, 5 zu II b, 4 zu III, 2 zu IV, 4 zu V, 2 zu VI und 2 zu VII gehörig. Die sechste Frage lautet: „Wie waren die Logis beschaffen: Lage, Größe, Sitzplätze, Reinlichkeit, Ventilation?“ Was die Lage betrifft, so ist einmal abweichend geantwortet: „über Deck“. Die Größe wird 7 Mal als genügend bezeichnet. 1 Mal heißt es „geht an“, 1 Mal „sehr beschränkt“, 1 Mal „viel zu klein“, 1 Mal „klein“, 1 Mal „für 6 Matrosen nicht entsprechend“, 1 Mal „Größe ungenügend“, 2 Mal sind Maße angegeben, nämlich 1 Mal: „die Logis sind 3 ½ m lang, 3 ¼ m breit“, dies bezieht sich auf ein Schiff von 891 R.-T., das mit 4

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Matrosen, 2 Leichtmatrosen, 3 Heizern und 1 Trimmer bemannt war, 1 Mal ist angegeben, das Heizerlogis sei 6 Fuß lang, am oberen Ende 2, am unteren 3 Fuß breit, dies betrifft ein eisernes Schiff von nur 337 R.-T. Von Sitzplätzen heißt es 3 Mal „genügend“, 1 Mal „gut“, 2 Mal „fehlen“ (1 Mal „Bank oder Tisch nicht, nur ein Stück Spind“), 2 Mal „längs der Kojen“ (was wohl die Regel ist). Was die Reinlichkeit angeht, so wird sie 4 Mal als gut, 1 Mal mit dem Zusatz: „jedoch auf Freizeit reinzuhalten“ (was immer gilt), 2 Mal als „genügend“ bezeichnet, dagegen 1 Mal als „sehr schlecht wegen Durchgang zu den Aufbewahrungsräumen“, 1 Mal als „sehr mangelhaft“. 1 Mal heißt es „klein und unsauber“, 2 Mal: „rein gemacht wird selten wegen Zeitmangel“, 1 Mal: Reinigung 1 Mal in der Woche. 1 Mal heißt es: „Reinlichkeit unmöglich, weil Lieferung von Seife und Soda verweigert wird“. In Betreff der Ventilation wird 3 Mal einfach auf die Bullenaugen (die runden Fenster, die aber bei starkem Seegang verschlossen gehalten werden müssen) hingewiesen, 1 Mal heißt es: „Ventilation dient zugleich als Schornstein“, 4 Mal wird ihr Dasein verneint, 2 Mal „ungenügend“ genannt, 1 Mal bejaht, 4 Mal als „genügend“, 1 Mal als „gut“, 1 Mal als „für Ost- und Nordsee genügend“ bezeichnet. Einige Aussagen sind ganz allgemein gehalten, nämlich 3 Mal einfach „gut“, 1 Mal „alles gut, bloß etwas feucht“, 1 Mal „nicht zu klagen“ (dabei aber: „Ventilation und Reinigungen mangeln“), 1 Mal „läßt nichts zu wünschen übrig“ (dabei aber: „Licht ungenügend“), dagegen 1 Mal „leidlich“, 1 Mal „äußerst mangelhaft“, 1 Mal „schlecht“. Dazu kommen einzelne Unleidlichkeiten, als „bei schlechtem Wetter beständig naß“, „Wasser leckt durch“. Einmal heißt es: „wie gewöhnlich“ (zugleich mit „Ventilation ungenügend“). Einmal wird auf einem neuen Schiffe alles gelobt, nur „Licht ungenügend“ hinzugefügt. Die siebente Frage oder vielmehr Fragengruppe lautete: „War der Eingang zum Kabelgatt (d.h. dem bedeckten unteren Schiffsraum, worin die Ankerketten und in der Regel auch anderes Gerät, wie Segel, Trossen u. dgl. verwahrt liegen) oder das Farbenspind (Schrank für die Utensilien des Schiffsmalers) im Logis? War der Lampenraum in nächster Nähe des Logis und wie war die Art der Heizung?“ Die Frage in Betreff des Einganges zum Kabelgatt wird 11 Mal bejaht. Der hierdurch bezeichnete Übelstand besteht darin, daß durch das mit Luftlöchern versehene „grating“ (eiserne Gitter), das den Kabelgatt meistens bedeckt, die morastige Luft, die von den schmutzigen Ankerketten ausgeht, in das enge Gemach aufsteigt, das der Mannschaft zum Schlafen und Wohnen dient; auch ist der Durchgang, wenn Geräte aus dem Raum

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geholt oder zurückgebracht werden, für die Schlafenden ebenso störend, wie das Gerassel der Ketten, wenn vor Anker gelegt werden soll. Die Schiffe, worauf die Bejahung sich bezieht, sind alle vor 1893 gebaut, und zwar bis auf zwei von 1889–92. Wo der Eingang zum Kabelgatt, da ist zumeist, nämlich in 8 von den 11 Fällen, auch der zum Farbenspind im Logis oder doch in dessen Nähe, wodurch die Luft oft stark verdorben wird, was (zumal bei ungenügender Ventilation) ebenso unangenehm, wie, besonders für Schlafende, von schädlicher Wirkung sein kann. Ebenso ist dann auch regelmäßig der Lampenraum mit seinen Petroleum- und Trandünsten in unmittelbarer Nähe des Logis, „vorkante vom Logis“, „durch dünne Holzwand vom Logis getrennt“ u. dgl. Über die Art der Heizung kommen keine Klagen vor; meistens lautet die Antwort: „durch eisernen Ofen“; es pflegt ein kleiner „Kanonenofen“ in jedem Logis zu sein; wenn der kleine Raum geschlossen gehalten werden muß, so wird dieser ihn rasch überheizen und sehr schlechte Luft erzeugen. Jene Übelstände finden sich meistens da, wo auch über die allgemeine Beschaffenheit des Logis geklagt wird. Ebenso findet sich dann regelmäßig die 9. Frage dahin beantwortet, daß das Klosett „in nächster Nähe des Logis“, „nur durch eine dünne Holzwand vom Logis getrennt“, überhaupt „mangelhaft“ gewesen sei; einmal „gleichzeitig als Farbenspind benutzt wird“, sein ordentlicher Gebrauch „unmöglich“! Die 8. Fragengruppe geht speziell auf Unfallverhütung und lautet: „War der gewöhnliche Eingang zum Kabelgatt, die Falltür, genügend gesichert, daß niemand hineinfallen konnte? Wie waren die sonstigen Eingänge zum Heizraum, Proviantraum beschaffen?“ – In einem Falle waren die Fragen nicht beantwortet, von den übrigen 23 lauteten 16 befriedigt (in diesen Fällen war wohl immer ein Gitter – grating – vorhanden), 7 unzufrieden („der Eingang durch eine Falltür, ungenügend versichert“, „Eingang zum Heizraum eiserne Leiter ohne Geländer“ u. dgl.). Unter den 16 Schiffen sind 8, also die Hälfte, vor 1893 gebaut, unter den 7 übrigen alle bis auf 1. Frage IX: „Stand Waschhaus und Klosett mit dem Logis in Zusammenhang und wie waren dieselben beschaffen?“ Das Dasein eines Waschhauses wird in den weitaus meisten Fällen verneint, nur 5 Mal ist von Waschhaus oder besonderem Waschraum die Rede, und diese 5 Schiffe sind alle jünger als 1893, auch gehören sie sämtlich zu den größeren, 4 über 900 R.-T. Netto, 1 nahe daran (891). Indessen wird „das Waschhaus zum Aufbewahren von Tauwerk und sonstigen Gerätschaften benutzt“, „dient als Rumpelkammer“, „wird zu andern Zwecken benutzt“; nur 1

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Mal heißt es: „befindet sich an Deck, zu jeder Zeit benutzbar“. Die Frage nach dem Klosett wird 7 Mal ungünstig beantwortet, und auch unter diesen 7 ist nur 1 Schiff jünger als 1893, übrigens eins, an dem mehrere Mängel bejaht werden, das aber nichtsdestoweniger im allgemeinen stark von der Mannschaft gelobt wird; es sind die Leute hier wohl 2 Jahre lang an Bord geblieben, was sonst höchst selten ist. Klagen, daß die Speisetaxe und die Musterungsbedingungen im Volkslogis nicht aufgehängt seien, kommen zuweilen in der CO vor. Auch sonst begegnen darin Klagen über die Beschaffenheit der Logis, wenn auch viel seltener als über die Kost. Einmal kündigt die Mannschaft an, sie wolle abmustern, weil sie sich vor Ratten nicht bergen könne. Einmal wird aus dem Mittelmeer von Heizern berichtet, sie haben am Karfreitag das Logis reinigen wollen und dafür „Überstunden“, d.h. Bezahlung verlangt, weil sie nur 4 Heizer für ein Schiff von über 1100 R.-T., also überarbeitet gewesen seien; es sei versprochen worden, wenn das Schiff „nach draußen“ ginge, sollten 2 Trimmer nachgemustert werden, „aber nichts rührt sich; dann wurde uns wieder erzählt, wir sollten Hilfe von Deck erhalten, ist auch nichts daraus geworden“; so habe man auch an dem Festtage „in der Maschine rummontieren müssen“. Ein Recht auf „Überstunden“ hatten diese Leute allerdings für das Logisreinigen nicht; wenn es bewilligt würde, so wäre es sicherlich um die Reinlichkeit der Logis besser bestellt, und dies wäre im allgemeinen Interesse von hohem Werte. – Ein Briefschreiber klagt von einem der größten Schiffe, freilich einem älteren (1889 erbaut und eisern), das Logis sei so klein, „daß wir uns nicht mit 5 Mann rühren können“; „keine ,Back’ (so heißt auch der Eßtisch in Seemannssprache), die müssen wir uns erst machen“. Sonst wird am meisten geklagt, daß durch die hohen Deckslasten der Zugang behindert werde und bei „Schlagseite“ Wasser eindringe, dann, daß es oft an gehöriger Verkleidung der Wände fehle; auch finden die Heizer die Entfernung von der Maschine und dem Heizraum, den sie schweißtriefend verlassen, unbequem und bei kaltem und nassem Wetter ihrer Gesundheit nachteilig; sie wünschen, daß ihr Logis „Mittschiff“ angebracht werde, was auf einigen neuen Schiffen geschehen ist. G. Für die Krankenpflege ist auf den Flensburger Schiffen in der Weise gesorgt, wie auf Frachtdampfern, die keinen Arzt mitführen, üblich. Einer der Steuermänner vertritt die Stelle eines Arztes und hält die Medizinkiste in Verwahrung; in schwierigen Fällen konsultiert er den Kapitän; wenn nötig, werden Kranke bei Erreichung eines Hafens einem Hospital übergeben. Auf Flensburger Schiffen ist aber der Gesundheitszustand durchweg gut. Auch hierauf bezog sich eine Frage (XVII) der FRC: „War

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eine Medizinkiste an Bord, war der Inhalt derselben schon mal erneut?“ Dabei ist zu bemerken, daß die Umfrage im Jahre 1900 stattfand, als die Unfallverhütungsvorschriften der Seeberufsgenossenschaft zwar schon „in Kraft getreten“ waren – am 1. März 1899 – aber ihre Kraft noch wenig geltend zu machen vermochten: § 70 dieser Vorschriften verweist auf die „Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen“ (vom Kais. Gesundheitsamt herausgegeben) und für Schiffe außerhalb der kleinen Küstenfahrt auf die dort in Listen angegebenen Arznei-, Verband- und sonstigen Hilfsmittel für Krankheits- und Unglücksfälle. Die ferner vorgeschriebene mindestens alljährliche Untersuchung durch einen deutschen Arzt oder Apotheker ist seitdem in der Weise geregelt worden, daß zweimal jährlich Revision durch einen Arzt, einmal durch einen Apotheker stattfindet. Indessen dürfte auch vorher auf den Flensburger Schiffen in dieser Hinsicht mit wenigen Ausnahmen eine genügende Ordnung gewesen sein. Die bezeichnete Frage ist 3 Mal garnicht beantwortet, 2 Mal mit „unbekannt“. Sonst wird das Vorhandensein der Medizinkiste bejaht, in Betreff des Inhaltes und der Erneuerung wird meistens geantwortet: „unbekannt“, „uns unbewußt“ u. dgl., das Vorkommen von Kranken wird 6 Mal verneint, über Pflege und Behandlung von Kranken wird 10 Mal ausgesagt, und zwar heißt es nur 1 Mal „ließ zu wünschen übrig“, alle übrigen Aussagen lauten auf gut, eine sogar auf sehr gut. Hieraus ist zu schließen, daß Unzufriedenheit in dieser Hinsicht ziemlich selten gewesen ist. So ist denn auch nicht bekannt geworden, daß sich Reedereien der Kostenpflicht zu entziehen gesucht haben; auf Beitritt zu freien Hilfskassen hinzuwirken, haben sie nicht für nötig gehalten. Die Krankenversicherung für Seeleute unterliegt bekanntlich besonderen Schwierigkeiten. Fälle von Skorbuterkrankungen und anderen auffallenden Krankheiten sind neuerdings nicht bekannt geworden. – Besondere Vorkehrung gegen Infektionen und besondere Behandlung von Geschlechtskranken, die ohne Zweifel am häufigsten vorkommen – kann wegen Mangels an Raum auf diesen Schiffen nicht stattfinden. Einmal fragt ein Heizer (CO), ob der Maschinenstoreraum ein passender Aufenthalt für Kranke sei. Er habe ein Geschwür am Fuß gehabt; „die Herren Maschinisten vermuteten gleich Faulkrankheit“. Solche Vermutung mag ja zuweilen begründet sein; im allgemeinen muß es doch für sehr bedenklich gehalten werden, daß die Herren Maschinisten solchen Vermutungen nicht nur Raum, sondern auch Folgen geben dürfen. Da ohnehin, nach  9

Krankheits- und Unglücksfälle.: Von den Hülfsmitteln zur Krankenpflege, in: Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.), Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen. Berlin 1888, S. 150-173. Unfallverhütungsvorschriften der See-Berufsgenossenschaft für Dampfer, Hamburg 1899, S. 27.

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dem Ausdrucke des Hamburger Hafenarztes Dr. Nocht, auch „die Hilfe, die dem kranken oder verunglückten Seemann durch Laien geleistet wird, in den meisten Fällen nicht als eine sachgemäße anzusehen ist“ (Verhandlungen des Nautischen Vereinstages 1900), so sollte wenigstens einer unsachgemäßen Verweigerung jeder Hilfe besser vorgebeugt werden; daß in dieser Hinsicht die Rechte des Seemanns erweitert und bestimmt werden können, liegt auf der Hand. Über die Todesursachen der seemännischen Bevölkerung sind in Flensburg, soweit ich zu ermitteln vermocht habe, keine besonderen Wahrnehmungen gemacht worden. Was die Sicherung und das Rettungswesen betrifft, so ist vor allem auch hier auf die Neuerungen und Verbesserungen hinzuweisen, die durch die Unfallverhütungsvorschriften herbeigeführt worden sind. Wie weit diese befolgt oder aber umgangen werden, wie weit die Kontrolle ausreicht oder etwa nur der Schein gewahrt wird, habe ich zu ermitteln nicht vermocht. Die Vorschriften verlangen u.a. (§ 24), daß auf Frachtdampfern außerhalb der kleinen Küstenfahrt und Wattfahrt sämtliche Boote in Zwischenräumen von höchstens 3 Monaten auszuschwingen und dabei festzustellen sei, ob sie zum sofortigen Aussetzen bereit sind; das Ergebnis sei im Journal zu verzeichnen. Sie fügen freilich hinzu: „nur wenn zwingende Gründe das Ausschwingen in den vorgeschriebenen Zwischenräumen verhindern, kann die Prüfung hinausgeschoben werden; der Grund der Verzögerung sei dann im Journal anzugeben.“ Der zwingende Grund, daß bei regelmäßig schwacher Bemannung – wovon schon gesprochen wurde und ferner zu reden sein wird – und bei den raschen Fahrten von Hafen zu Hafen keine Zeit übrig bleibt, dürfte außerordentlich oft vorliegen. Eigentliche Bootsmanöver, wobei die Boote zu Wasser gelassen und die Leute auf ihre Bootskunde geprüft werden, sind nicht einmal vorgeschrieben, sondern nur, daß die Boote einmal jährlich auf ihre Beschaffenheit zu untersuchen und der Befund im Schiffsjournal zu verzeichnen sei (§ 19). So bleibt auch hier, wenngleich der Zustand seitdem verbessert sein möchte, die FRC für uns wertvoll, die in dieser Hinsicht folgende Fragen enthielt (XIII): „Wieviel Boote waren vorhanden? Wieviel Personen faßten sie? Waren dieselben gut ausgerüstet?, eventuell: Wurden sie als Lagerraum für sonstige Gegenstände benutzt? Wieviel bootskundige Leute kamen auf jedes Boot? Wurden Bootsmanöver gemacht?, eventuell:  1

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Dr. Nocht: Albrecht Eduard Bernhard Nocht war Hafenarzt, Tropenmediziner und -hygieniker. Von 1900 bis 1930 war er Leiter des 1942 nach ihm benannten BernhardNocht-Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg. zu verzeichnen.: § 24, Unfallverhütungsvorschriften der See-Berufsgenossenschaft für Dampfer, Hamburg 1899, S. 20.

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Wieviel Boote wurden zu Wasser gelassen?“ – Die Antworten sind freilich ziemlich unvollständig. In den meisten Fällen werden 3 Boote als vorhanden angegeben, wovon ein 1 kleineres, sog. Arbeitsboot ist. Nur 2 mal wird die Zahl 2 angegeben, wobei es 1 mal heißt: „Seit einem Jahre fehlt 1 Boot, das als Arbeitsboot benutzt wurde.“ Bei 2 Schiffen werden 4 Boote angegeben. Daß sie für die Bemannung ausreichten, wird einige Male ausdrücklich bejaht und darf in allen Fällen angenommen werden. Die Frage nach der Ausrüstung wird 17 mal beantwortet und zwar 7 mal in günstigem Sinne. 10 mal, also in der Mehrzahl der Fälle, mit „fehlt“, „mangelhaft“, „ungenügend“ u.s.w. Wenn vorausgesetzt wird, daß diese Ausstellungen begründet waren, so ergibt sich aus der Vergleichung, daß besonders neuere und größere Schiffe in dieser Hinsicht schlecht versehen waren; denn unter 10 sind 6 nach 1891 erbaut, unter den 7 nur 2, und wenn angenommen wird, daß auch mit den übrigen 7 es gut bestellt war, so kommen doch auf diese 14 nur 4 jüngere. Indessen ist es nicht glaublich, daß gerade die Boote der neuen Schiffe mangelhaft ausgerüstet waren; in einigen Fällen mögen gerade auf diesen die Leute weniger gute Gelegenheit gehabt haben, sich über den Stand der Dinge gehörig zu unterrichten. Auffallend ist aber wiederum, daß von den 10 Schiffen, die zu dieser Klage Veranlassung geben, 6 zu 3 Reedereien (darunter 2 kleinen) gehören, von deren Schiffen nur 8 an der Umfrage beteiligt waren, während von den übrigen 5 Reedereien (darunter nur 1 kleinere) 16 Schiffe beteiligt waren und auf diese nur 4 solche kommen, von denen der Übelstand gerügt wurde. Es läßt dies doch eine mindere Sorgfalt auf seiten jener ersteren Reedereien vermuten. Bewußte Unwahrhaftigkeit der berichtenden Personen liegt sicherlich nicht vor; wäre dies der Fall, so würde sie sich auch auf die Frage nach anderweitiger Benutzung der Boote erstrecken. Diese Frage wird ebenfalls 17 mal beantwortet und zwar in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle, nämlich 13 mal verneint, 1 mal heißt es „unbekannt“, 1 mal wird ein Fragezeichen dazu gemacht, nur 2 mal heißt es (bezw.): „In einem Kartoffeln und sonstige Sachen“, und „der Koch verwahrt in dem 1 Boot seine Klippfische“. Die Zahl der bootkundigen Leute wird nur wenige Male, und dann auf 3 oder 4 für jedes Boot, 1 mal aber auf nur 2 und 1 mal auf 8 für 3 Boote angegeben; daß es zuweilen etwas knapp damit bestellt ist, darf man, wenn z.B. vom Maschinenpersonal keiner und auch der Koch nicht bootskundig ist, vermuten. ‘Manöver’ werden durchgängig verneint: „doch werden die Boote zeitweise zu Wasser gelassen“, „zu Wasser sind sie schon gewesen“, „1 mal in 5 Monaten zu Wasser gelassen“; aber auch: „zu Wasser lassen kennen wir nicht“, „nicht bei unserer Zeit“, „8 Monate nicht zu Wasser gelassen“, „über 7 Monate nicht“ – wobei dann zu

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bemerken ist, daß von manchen Experten für genügend gehalten wird, wenn es 1 mal im Jahre geschieht. Dies auch zur Kritik einer Briefstelle, die zu Anfang 1902 an Bord eines Dampfers geschrieben wurde, der noch im selbigen Jahre durch Strandung verloren gegangen ist (die Besatzung wurde gerettet): „In Pensecola wurden die Rettungsboote zu Wasser gebracht, weil sie zur Beförderung der Arbeitsleute von Land an Bord und umgekehrt benutzt werden mußten, indem die Leute dort über keine eigenen Boote verfügen. Dieses Manöver hat meiner Ansicht nach den Booten nichts geschadet, es war das erste Mal in 10 Monaten, daß sie zu Wasser waren, ausgeschwenkt sind sie 2-3 mal.“ In CO ist sonst selten von den Rettungsapparaten die Rede. Im Jahre 1901 wird aber von einem (sonst mehrfach gerühmten) Schiffe erzählt, daß ein Boot, dessen Boden auf der Reise von London nach Bahia von einem „Brecher“ eingeschlagen war, trotz mehrfachen längeren Aufenthalts (7 und 8 Tage) in den südamerikanischen Häfen nicht repariert wurde. Der Kapitän habe gesagt, das Schiff habe auch schon vor 2 Jahren mit 2 kaputten Booten die Reise gemacht, und die Mannschaft habe nichts dazu gesagt. Er wolle das Boot unterwegs notdürftig reparieren. „Das hatte natürlich wenig Zweck, da auf der einen Seite sämtliche Rippen des Bootes gebrochen waren . . In Swansea wurde das Boot an Land gegeben. Beim Aussetzen gebrauchten wir mit alle Mann 23 Minuten! Auf See wäre es unmöglich gewesen, das Boot auszusetzen, da der vorderste Davit in seinen Angeln festgerostet war. Die Boote waren äußerst schlecht ausgerüstet. Kompaß und Segel fehlten ganz; die Riemen (Ruder) fehlten zum Teil oder waren unbrauchbar, u.s.w. . . . ich für mein Teil,“ schließt der Briefschreiber, „hätte keine Lust, bei schwerem Wetter in einem solchen Boote zu sitzen“ 8. Auch auf Rettungsgürtel und Korkwesten bezog sich FRC (XIV) in Bezug auf genügende Zahl, guten Zustand und Ort der Verwahrung. Als Gürtel wurden offenbar verstanden die in den UVV „Rettungsbojen“ (§ 21) genannten Apparate, an denen hier die Gürtel als „Schwimmwesten, Korkjacken“ unterschieden werden (§ 22). Die UVV schreiben für erstere vor, daß sie stets auf dem oberen Deck und derartig an geeigneten Stellen angebracht sein sollen, daß sie zum sofortigen, durch die Befestigungsart nicht behinderten Gebrauch ohne weiteres bereit sind; für die Westen oder Jacken, daß sie an Stellen, welche der Mannschaft und den Passagieren bekannt sind, derartig aufbewahrt werden, daß sie jederzeit leicht erreichbar sind. – Die Antworten sind unvollständig, lauten aber 12 mal durchaus befriedigend, z.B. „4 Bojen auf der Brücke, an die 20 Westen in Kiste auf der Brücke, 8

Der Fall auch in „Ein Notschrei der seemännischen Arbeiter in Deutschland, gerichtet an den Deutschen Reichstag und die Reichsregierung“. Hamburg 1901. S. 112.

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alles gut“ oder kurz: „ja, gut, in jeder Koje“; von den Bojen ist außerdem noch 7 mal die Rede. Ihre Zahl wird 2 mal auf 6, 1 mal auf 5, 4 mal auf 4, mehrmals auf 2 angegeben, einigemal als genügend, ihre Beschaffenheit als „gut“, „sehr schwer“ u.s.w., 1 mal als „unbekannt“, 1 mal: 2 gute, 2 total unbrauchbar. Von den Westen wissen die Leute mehreremale nicht, wo sie sich befinden, und vermissen sie in ihren Kojen; 2 mal heißt es: in den Böten, 1 mal: im Ruderhaus, 2 mal: in einer Kiste auf dem Schornsteinmantel, 1 mal: in der Kajüte, 1 mal: der Koch behauptet, sie seien in der Kajüte. 1 mal wird ihr Vorhandensein (vermutlich irrigerweise) geleugnet; 3 mal wird ihre Beschaffenheit stark bemängelt. – Auch in dieser Hinsicht dürften die UVV gut gewirkt haben. Es scheint aber sich als sehr wünschenswert zu ergeben, daß jeder Schiffsmann, der an Bord geht, von einem Vorgesetzten über die Rettungsapparate in einigermaßen eingehender Weise unterrichtet werde. Für die Sicherung gegen Unfälle im täglichen Betriebe, die ja trotz der UVV noch in allzugroßer Zahl auf Dampfschiffen vorkommen, ist die Beschaffenheit fast aller Einrichtungen an Bord, der Takelage, der Eingänge zu den unteren Räumen, der Leitern u.s.w. von großer Bedeutung. Die FRC bezieht sich darauf mit mehreren Fragen und zwar 1. (VIII): „War der gewöhnliche Eingang zum Kabelgatt, die Falltüre, genügend gesichert, daß niemand hineinfallen konnte? Wie waren die sonstigen Eingänge zum Heizraum, Proviantraum beschaffen?“ Die Antworten auf die erste Frage lauten mit wenigen Ausnahmen „genügend“, „gut“, „sehr gut“; 5 mal wird geklagt, und diese Klagen treffen 4 mal mit Klagen über den Zustand der Klosetts (die auch nur 7 mal vorlagen), ebenfalls 4 mal mit solchen über mangelhafte Ausrüstung der Boote zusammen (die außerdem noch 6 mal vorkommen). Der Verdacht könnte nahe liegen, daß die Personen der Antwortenden für diese kumulierten Klagen verantwortlich zu machen seien, mit anderen Worten: daß hier solche waren, die „an allem etwas auszusetzen finden.“ Dagegen spricht aber doch, daß auch diese Personen an ihren Schiffen manches zu loben finden. Wenn daher auch dieser Faktor etwas mitgewirkt haben möchte, so ist doch wahrscheinlicher, daß in der Tat dort, wo einige Übelstände angetroffen werden, auch andere sich bemerkbar machen, und dies dürfte auch einer allgemeinen Erfahrung in solchen Dingen entsprechen. In 4 von den 5 Fällen sind wiederum die vorhin bezeichneten 3 Reedereien (wovon 2 klei­­ nere) belastet, von denen man daher auch sagen darf, daß sie in Bezug auf Qualität der Einrichtungen nicht auf gleicher Höhe mit den übrigen stehen, während in anderen Hinsichten gerade mehrere der dazu gehörigen Schiffe stark gelobt werden. Die FRC bezieht sich auf die Schutzvorrichtungen 2. mit den Fragen (X): „Wie und auf welche Art wurden die Laderäume bei nächtlicher Arbeit be-

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leuchtet? Besteigt ihr die Räume vermittelst lose angesetzter Leitern, oder waren feste eiserne Raumleitern vorhanden?“ Die Frage nach Beleuchtung ist 18 mal beantwortet: meistens werden Petroleumlampen, mehrfach sog. Blusen (Öl- oder Terpentinlampen) genannt, 1 mal „Blusenlampen oder Trimmerlichter (Talglichter, die besonders beim Kohlenladen der Trimmer verwandt werden), 1 mal gewöhnliche Raumlampen, 1 mal Öllampen, 1 mal Laternen, 1 mal Laternen und offene Lampen, 1 mal lose Talglichter, 1 mal: mit 2 Gasapparaten und mehreren Lichtern, dagegen 4 mal: elektrisches Licht. Von den Blusen wird 1 mal gesagt: geben wenig Licht, feuergefährlich sind sie auch; 1 mal heißt es: Petroleum und sehr ungenügend. Von den 4 Schiffen mit elektrischem Licht gehören 3 zu einer und derselben Reederei und das 4. zu der A.-G., die durch ihren Vorstand mit dieser eng verbunden ist. Jene 3 sind ältere Schiffe (1888–92); alle 4 sind nicht von den größten. Beide Reedereien gehören nicht zu denen, die wir als durch minder gute Einrichtungen charakterisiert finden. Dagegen zeichnen diese sich aus durch das Vorhandensein „fester eiserner Raumleitern“, denn von 8 Fällen, in denen ich diese bejaht finde, gehören 5 zu diesen 3 Reedereien und ihren 8 an der Umfrage beteiligten Schiffen, während auf die 16 der 5 übrigen nur 3 solche Fälle kommen. Diese Beobachtung fällt also gegen die früheren und zu Gunsten dieser Reedereien ins Gewicht. Denn ohne Zweifel sind lose angesetzte Leitern, zumal wenn nur hölzerne, gefährlicher. – Die Frage 3 (XI): „Wie war es mit den Schutzvorrichtungen an Maschinen, Winschen und Spill (Spindel, die Winsche oder Winde, die vorzugsweise zum Ankerlichten dient) bestellt?“ hat erfreulicherweise einstimmige günstige Antwort erfahren. Sie lautet 1 mal sehr gut, 1 mal nicht zu tadeln, 9 mal gut, 7 mal genügend, 1 mal vollständig, 2 mal vorschriftsmäßig, 3 mal sind die Vorrichtungen näher beschrieben (z.B. Maschine mit Geländer versehen, Winschen und Spill mit Schutzblechen), dabei ist nur 1 mal eine kleine Ausstellung an der Aschwinsche gemacht. Ähnlich verhält es sich mit der Frage 4 (XV) nach dem „laufenden Gut“ (so heißen „alle Taue, die ihrer Natur und Bestimmung nach beweglich sind und bewegt werden durch Menschen, neuerdings auch durch Dampfkraft“, Goedel). Sie ist nur 13 mal beantwortet, aber alle Antworten lauten „gut“ und dergleichen, bis auf eine, worin es heißt: unbekannt; wir dürfen daraus schließen, daß auch die Nichtbeantwortungen sämtlich günstig zu deuten sind. Ebenso ist 5. die Frage (XVI) nach genügender Zahl von Pumpen und deren Zustand 16 mal beantwortet und 15 mal mit Ausdrücken wie „genügend und gut“, „genügend in brauchbarem Zustande“, nur 1 mal wird der Zustand als „häufig verstopft“ bezeichnet; und außerdem heißt es einmal:

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Goedel: Siehe dazu: Gustav Goedel, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Seemannssprache, Kiel und Leipzig 1902.

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„keine Notpumpen gesehen“. – Auch die erste Frage des FRC: „War das Schiff seetüchtig, gehörig ausgerüstet und verproviantiert?“ ist 21 mal mit „ja“, „gut“ u.s.w. beantwortet, nur 1 mal mit der Angabe: „Luken reparaturbedürftig“ und 1 mal mit einer Ausstellung, die sich auf das Volkslogis bezieht: „sämtliche Bullaugen im Matrosenlogis undicht; bei schlechtem Wetter Kojen und sämtliches Zeug naß“. – Weit überwiegend finden wir also ausgesprochene Zufriedenheit mit den Einrichtungen des Rettungswesens und der Sicherung. Allerdings fällt jeder Fall, wo es mangelhaft war, schwer ins Gewicht. H. In den Rechtsverhältnissen der Schiffsmannschaft ist bekanntlich mit dem 1. April 1903 eine ziemlich bedeutende Veränderung geschehen. Sie hatten, wie sie durch die alte S-O festgelegt waren, bei den Flensburger Verhältnissen keine große Bedeutung für die Praxis, da diese in überwiegendem Maße durch Herkommen, sonst aber durch Verträge bestimmt waren, die in Wirklichkeit nach der Musterrolle sich richteten, wie sie bei jedem Reeder üblich war. Eine Verbesserung darin geschah schon durch den früher genannten Kollektivvertrag, der die Musterungsbedingungen einheitlich regelt. Die Einführung der neuen S-O mit ihren durch Verträge nicht aufhebbaren gesetzlichen Normen, fällt in eine Zeit, wo auch die Seeleute ihrer Rechte und Rechtsansprüche bewußt geworden sind. Über die Bewährung jener kann jetzt (nach zwei Monaten) noch nichts Bestimmtes ausgesagt werden; gewiß ist, daß sie von den Reedern und vielen Kapitänen mit Bedenken, von den Seeleuten im ganzen mit Befriedigung aufgenommen wurde, wenn auch die Meinung ist, daß sie noch „viel zu wünschen übrig lasse“. Erhebliche Veränderungen des Gesamtzustandes hat man für Flensburg und die übrigen hier behandelten Häfen keinen Grund zu erwarten. Disziplinarbestrafungen wegen Dienstvergehen geschehen regelmäßig in Form einer festgesetzten Geldstrafe, die in einer halben, in schwereren Fällen wohl auch in einer ganzen Monatsheuer besteht. Der Mann unterwirft sich dieser mit sehr seltenen Ausnahmen, der Fall wird ins Journal eingetragen, bei der Abmusterung wird der fällige Betrag von dem Seemannsamt eingezahlt und der gleich zu erwähnenden SeemannsStiftung überwiesen. Diese Gelder betrugen z.B. 1902 Mk. 1017,34. Eine Verhandlung vor dem Seemannsamt, dessen Vorsitzender (ein Beamter der städtischen Verwaltung) bisher als Einzelrichter fungierte, kommt in Flensburg sehr selten vor; angeblich war die letzte im Jahre 1896. – Über willkürliche Mißhandlungen, namentlich des zweiten Steuermanns gegen das Deckpersonal, des zweiten „Meisters“ gegen das Maschinenpersonal wird zuweilen, aber doch nicht sehr oft geklagt. Körperliche Züchtigungen haben, wenigstens in den letzten Jahren, kaum eine Rolle gespielt.

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Daß eine Maulschelle oder Ohrfeige einem jungen Burschen verabreicht wird, kommt wohl öfters als gut ist vor und sollte lieber gänzlich unterbleiben, selbst wenn es nicht auf unsanfte Art geschähe, was wohl fast immer der Fall ist. Ein Fall von erheblicher dabei geübter Roheit ist aus den letzten Jahren bekannt geworden, der zu gerichtlichen Verhandlungen geführt hat; er könnte auch unter der Rubrik „Selbstmord von Schiffsleuten“ mitgeteilt werden, obgleich das Opfer nicht eigentlich sich hat ums Leben, sondern nur um jeden Preis aus den Klauen seiner Verfolger hat bringen wollen. In der Nacht vom 14./15. Januar 1900 ist ein holländischer Junge, der von einem Flensburger Schiffe als Steward angemustert war, über Bord gesprungen. Er hatte einen Brief an seinen Vater hinterlassen, daß er auf einer Korkweste zu schwimmen hoffe, bis ihn ein fremdes Schiff aufnehmen werde. Was ihn zu dieser Verzweiflungstat veranlaßte, sei die Schande des Diebstahlverdachtes und wiederholte körperliche Mißhandlungen, wodurch beide Steuerleute ihn für angeblich ausgeführte Diebstähle gezüchtigt hätten. Das K. Seeamt zu Flensburg hat nach sehr eingehender Untersuchung den Fall milde beurteilt, indem es als nicht erwiesen hinstellt, daß die Züchtigung den Steward veranlaßt habe, über Bord zu gehen; dem ersten Steuermann, dem diese hauptsächlich zur Last fiel, ist deshalb die Befugnis zur Ausübung des Schiffergewerbes nicht entzogen worden9. Es scheint allerdings, daß der Verdacht, die Diebstähle begangen zu haben, begründet gewesen ist, und daß ebenso sehr die Furcht vor der kommenden gerichtlichen Strafe, als der Druck der Mißhandlungen den allem Anschein nach moralisch nicht normal angelegten jungen Menschen in den Tod getrieben hat. Immerhin bleibt die Sache für die Praxis, die in solchen Fällen an Bord der Kauffahrteischiffe üblich ist, schwer belastend. Allgemeines über die Behandlung wird noch unter K berichtet werden. I. Stiftungen. Eine mit ihrem jetzigen Statut im Jahre 1654 begründete Gilde des Flensburger „Schiffergelags“ hat bei ihrem 200 jährigen Jubiläum eine „Stiftung für hilfsbedürftige Seeleute“ ins Leben gerufen, mit der Bestimmung, ohne eigene Schuld in Not geratene Seeleute und deren Angehörige zu unterstützen. Ein Seemann, der Schiffbruch erleidet, erhält aus 9

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Spruch vom 23. Mai 1901. Noch nicht in den Entscheidungen gedruckt. Von mir aus den Akten gezogen. K. Seeamt: Königlich Preussisches Seeamt; Behörde, die auf Grund des deutschen Reichsgesetzes vom 27. Juli 1877 mit der Untersuchung von Seeunfällen der Kauffahrteischiffe betraut ist. Die Seeämter sind Landesbehörden, jedoch werden ihre Bezirke durch den Bundesrat abgegrenzt, und sie stehen unter der Oberaufsicht des Reiches.

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der Kasse eine Monatsheuer. Jeder Schiffsmann, der von Flensburg fährt, bezahlt 1 Pf. von jeder verdienten Mark Heuer an diese Kasse, der auch die fälligen Strafgelder (s. oben) zufließen. Außerdem haben Schenkungen und letztwillige Verfügungen von Kapitänen und Kaufleuten zur Vermehrung des Kapitals beigetragen, das am 1. Januar 1903 Mk. 160827,49 betrug. An Unterstützungen wurden im Jahre 1902 Mk. 11112,65 ausbezahlt. Die 1 %igen Beiträge der Seeleute beliefen sich 1901 auf Mk. 8734,28, 1902 auf Mk. 8855,41, aus welchen Beiträgen zugleich die Gesamtsumme der verdienten Heuern ersichtlich ist. Gelegentlich hat wohl die Mitgliedschaft des S-V sich – z.B. mit einem Gesuch zu Gunsten eines seit über einem Jahr erkrankten Matrosen – mit Erfolg an die Stiftung gewandt. Dieser erhielt eine Gabe von 20 Mk. Ein Rechtsanspruch, der aus der erzwungenen Abgabe abzuleiten wäre, scheint in solchen Fällen nicht anerkannt zu werden. Die Stiftung scheint hauptsächlich zu Gunsten Schiffbrüchiger verwaltet zu werden. So erhielt die Mannschaft des im Jahre 1902 an der Chinaküste gestrandeten Dampfers „Adelheid“, die sämtliche Effekten eingebüßt hatte – für einzelne ein Verlust von 150-200 Mk. – à Person 60 Mk. von der Stiftung. In diesem Falle wandte sich der Vorstand des S-V an die Reederei, mit dem Erfolge, daß diese noch eine weitere Entschädigung in Höhe von 15 Mk. an jeden Mann auszahlte. – Es gibt außerdem noch eine Stiftung für alte Seeleute, von einem Advokaten Rönnekamp mit einem Kapital von 80000 Mk. begründet. Von dieser wird in einem Stiftshause alten Seeleuten ein vollständiges Unterkommen nebst Kost und Krankenpflege gewährt. Es können zwölf Personen darin Platz finden, bis jetzt sind aber nur elf Stellen besetzt worden, weil die Mittel nicht weiter reichten, obgleich das Vermögen sich gleichfalls durch Schenkungen und Legate bis auf 150000 Mk. vermehrt hat. Es sollen noch Schenkungen in Aussicht stehen, die ermöglichen werden, auch die zwölfte Stelle zu besetzen. Für die Seeleute der unteren Chargen dürfte diese Stiftung keine Bedeutung haben. – Versicherungen gegen Krankheit und gegen Effektenverlust sind nicht vorhanden. Beide Arten werden des öfteren in den Kreisen der Seeleute erwogen und erörtert (s. unten). – Bei Anwendung der Reichsversicherungen haben sich keine Besonderheiten gezeigt, außer daß die allgemeine Meinung dahin geht, die Altersversicherung für Seeleute sei unpraktisch, da diese als solche niemals ein Alter von 70 Jahren erreichen. Die Reedereien haben keine Seemannskassen, sind auch zu irgend welcher Entschädigung nicht verbunden. Daß sie unter Umständen sich zu freiwilligen Leistungen verstehen, zeigt der oben genannte Fall. K. Über die sittlichen Zustände der Schiffsleute läßt sich für unsere Häfen sehr wenig ermitteln. Daß mancher junge Mensch zur Seefahrt seine

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Zuflucht nimmt, nachdem er in moralischer Hinsicht schon Schiffbruch gelitten hat, steht fest; auch daß mancher nur die Gelegenheit sucht, in fernes Ausland zu entkommen. Solche Elemente sind dem berufsmäßig der Schiffsarbeit sich widmenden Volke nicht beizurechnen. Der Beruf selber hat in mancher Hinsicht ohne Zweifel moralisch günstige Seiten. Das Erfreuende und Belebende, das dem Hauch des Meeres eigen ist, gibt der Tätigkeit einen Reiz und Wert, der gegen viele Unannehmlichkeiten und Gefahren ins Gewicht fällt. Im Verein mit der Disziplin und der Absonderung von den gewohnten, die Willenskraft so oft lähmenden Umständen des täglichen Lebens auf den Straßen der Stadt, mag es in manchen Fällen zur sittlichen Gesundung eines leichtsinnigen jungen Mannes beitragen. Dem stehen freilich besondere sittliche Gefahren gegenüber, die dem Berufe als solchem eigen sind. Völlerei ist ein Laster, wozu der Seemann bekanntlich, zumal nach längeren Reisen, allzu geneigt ist. Der kameradschaftliche Geist begünstigt, wie in allen Volkskreisen, das Übel, ist aber unter Seeleuten meistens lebendiger als irgendwo. Aus ihm folgt das „Traktieren“, wobei der Anfang eines einzigen es zur Ehrensache für alle übrigen macht, auch einen „Rundgang“ auszugeben und „sich nicht lumpen zu lassen“. Eigentliche Trunksucht ist oft die traurige Folge der Unmäßigkeit; daß sie aber unter den Flensburger Seeleuten oft vorkommt, wird man nicht sagen können. Ein trunksüchtiger Seemann macht sich sehr bald an Bord unmöglich. Der Hang zu geschlechtlichen Ausschweifungen ist ebenfalls stark, zumal nach langer Entbehrung; und um so mehr, je weniger der Seemann als solcher daran denkt, sich zu verloben und zu verheiraten. Gutmütigkeit und kindlicher Leichtsinn, die so oft in diesem Stande sich finden, werden von dem Frauenzimmer oft in schonungsloser Weise ausgebeutet und bringen den Seemann, zumal den längere Zeit unbeschäftigten, gar leicht in eine Art von „Verhältnis“ zu prostituierten Weibern. Es gibt in Flensburg, wie wohl in allen Hafenstädten, tatsächlich, wenn auch in schwach verhüllter Form, Toleranzhäuser. Aus dem Besuch in trunkenem Zustande ergeben sich oft Streitigkeiten und Exzesse, die in Körperverletzungen enden und zu polizeilichen oder gerichtlichen Bestrafungen führen. Indessen ist Flensburg ein kriminell nicht schwer belasteter Platz; speziell zu Messerstecherei ist unser einheimisches Volk sehr wenig geneigt – auch der Trunkene läßt sich nicht leicht dazu fortreißen. Der Polizeikommissar, der so freundlich war, mir über seine Erfahrungen Mitteilung zu machen, erklärte, sich schon manchmal gewundert zu haben, daß gerade bei dem Schwarm von Seeleuten, den die Stadt oft berge, dergleichen doch verhältnismäßig selten vorkomme. Im ganzen gelten bei (M) und (S) die sittlichen Qualitäten der Heizer und Trimmer für geringer als die der eigentlichen Seeleute. In

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(CO) wird aber im Jahre 1901 einmal berichtet, daß ein Matrose eine Uhr an Bord gestohlen habe. Die Umstände des Heuer- und Schlafbaswesens werden in fremden Häfen, namentlich in ausländischen, für das ökonomische und sittliche Wohl des Seemanns im höchsten Grade gefährlich und verderblich. Ein Flensburger Matrose, der neun Jahre auf Segelschiffen, später auf Dampfern gefahren ist, drückte sich dahin aus, man werde z.B. in Antwerpen „rein belagert“ durch die Runner und Agenten, die wie Hornissen in die Volkslogis eindringen, wenn ein Schiff eingelaufen ist; auch in Amerika werde gar mancher „ausgesogen bis aufs Blut“; in England sei es nicht viel besser, in Hamburg gerade arg genug. Sein letztes Schiff (Flensburger), auf dem alle organisiert waren, habe keine Fremden im Logis geduldet; er habe sogar ein Schild ausgehängt, mit der Inschrift „Zutritt verboten für Händler, Gastwirte u.s.w.“, habe es indessen auf Veranlassung des Kapitäns wieder entfernen müssen. – In Flensburg ist auch das Heuerbaswesen harmloser. Gleichwohl hat es auch hier durch die Verbindung mit der Schenke regelmäßig zur Folge gehabt, daß die Leute sich genötigt fanden oder glaubten, durch reichlichen Verzehr sich in Gunst zu erhalten oder zu setzen. – Übrigens macht sich neuerdings, nicht ohne Zusammenhang mit dem erwachenden Klassenbewußtsein, der Sinn für bessere Vergnügungen bemerklich. Die Abstinenzbewegung, die in Flensburg stark ist und in drei Organisationen begegnet (Guttempler, freie Guttempler, deutscher Abstinentenbund), hat auch unter Seeleuten einige Anhänger und findet wenigstens Sympathien in ihrem Kreise, die von der Verbandsleitung begünstigt werden. Diese veranstaltet auch Tanzvergnügungen, Theateraufführungen u. dgl. für ihre Mitglieder. Die „Seemanns-Mission“ ist am Orte nur durch einen jungen Prediger vertreten, der Traktate an Bord der Schiffe bringt; er findet, daß diese im allgemeinen gern angenommen werden, eigentlichen Anhang hat er aber nur unter der Mannschaft kleiner, namentlich skandinavischer Segelschiffe, die den Hafen stark frequentieren. Die Reedereien leisten zu dieser Mission jährliche Beiträge. Die Kapitäne und Offiziere der einheimischen Schiffe verhalten sich mit einigen Ausnahmen ebenso gleichgültig dazu wie die Mannschaft. Von einem Verhältnis zum Seemannsverbande kann nicht die Rede sein, da man sich gegenseitig ignoriert. In fremden Häfen gehen aber auch Mitglieder des Verbandes wohl einmal zur „Mission“ oder in eines der von dieser gegründeten Logierhäuser. Vor einigen Jahren hat zwischen einem Mitgliede des Flensburger Verbandes und dem damaligen Hauptvertreter der Mission in Hamburg eine Diskussion über die Berechtigung gewerkschaftlicher Organisationen, speziell für Seeleute, stattgefunden, die in verbindlicher brieflicher Form geführt wurde. – Die Flensburger Mitgliedschaft des Seemannsverbandes hat in sittlicher Hinsicht überwiegend güns-

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tige Wirkungen. Schon dadurch, daß sie den zumeist recht jungen Männern, die sonst auf sich selber und auf lockere und oberflächliche Kameradschaft angewiesen sind, einen Halt und ein erhöhtes Selbstbewußtsein gewährt. Mag der Zusammenhang dieser wie anderer Gewerkschaften mit der politischen Arbeiterbewegung bedenklich erscheinen: an und für sich ist die Verbindung, obgleich ihrem Ursprunge nach reine Interessen- und Kampfverbindung, nicht nur sittlich unschädlich, sondern schon dadurch nützlich, daß sie mittelst des Korporationsgeistes das Ehrgefühl hebt, daß sie Menschen, die sonst in den Tag hineinleben und außerhalb ihrer sauren Wochen auf den Genuß des Augenblickes sich geradezu hingedrängt fühlen, in dem Zweck der Assoziation: der Verbesserung ihrer sozialen Lage, und in der Assoziation selber, der „Solidarität“, Ideen und Ideale einflößt, die – auch soweit der Zweck ganz materieller Natur ist – doch einen der Entwicklung fähigen Keim zur Kultur des Geistes und Gemütes in sich tragen10. Auch für Lektüre an Bord sorgt fast ausschließlich der Verband; denn die Beiträge der Seemannsmission haben für diese Schiffe (s. oben) sehr geringe Bedeutung. Den Hauptgegenstand der Lektüre bildet daher die seit 1897, anfangs monatlich, seit 1900 zweimal im Monat erscheinende Zeitschrift „Der Seemann; Zentralorgan für die Interessen der seemännischen Arbeiter in Deutschland“. Jede Nummer dieses Blattes wird von der Flensburger Mitgliedschaft (zugleich für ihre Filialien in Apenrade, Sonderburg, Rendsburg, Tönning) in ca. 300 Exemplaren bezogen. Der „Seemann“ charakterisiert sich selber in dem neuesten Jahresbericht des Verbandes11 wie folgt: „Nichts ist unseren Gegnern verhaßter als der „Seemann“, unsere literarische Waffe, das Sprachrohr unserer Massen, die öffentliche Geißel für unsere Ausbeuter, der Verfechter unserer Ideen, der ständige Begleiter und Ratgeber unserer fahrenden Kollegen, der Kundgeber unseres Willens. Mit welchem Haß unsere Gegner erfüllt sind, mit welcher Niedertracht und niedrigen Gesinnung sie gegen unsere Gesamtbewegung wie gegen unser Organ zu Felde ziehen, hat uns die im Laufe des Jahres wiederholt mit ihnen geführte Polemik bewiesen. Scharf war der Kampf, und scharf und unzweideutig die Ausdrucksweise, rücksichtslos wurden die vorhandenen Mißstände kritisiert, scharf, aber durchaus berechtigt und sachlich wurden behördliche und parlamentarische Maßnahmen entsprechend gewürdigt. Der heftigste Kampf drehte sich naturgemäß um die Seemannsordnung u.s.w. . . . . Man hat uns im gegnerischen Lager der Lüge, der Übertreibung, der Einseitigkeit beschuldigt. Man hat uns gesagt, wir verletzten den literarischen Anstand, mu10 11

Vgl. die nähere Ausführung sub. N. Z.S. 6. Jahrg. Nr. 8 (11. April 1903).

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tet uns aber damit zu, die unerhörtesten Verleumdungen, Verdächtigungen und Unterstellungen ruhig hinzunehmen bezw. abzuwehren.“ U.s.f. Diese Sprache („unsere Sprache ist die des Seemanns, wir sprechen eben als Seeleute zu den Seeleuten“ heißt es sogleich weiter) wird unter den Flensburger Seeleuten allgemein als zu scharf und zu heftig abgelehnt, sie entspricht nicht den dort herrschenden Empfindungen und Verhältnissen. Von der aufreizenden Wirkung solcher Sprache macht man sich indessen unrichtige Vorstellungen. So wenig wie ein Dorfprediger, der gegen die ungläubigen Zeitgenossen, gegen die gottlosen Bewohner der Großstadt zetert und wettert, seine harmlosen Zuhörer zu leidenschaftlichen Gefühlen gegen die ihnen bekannten Ungläubigen und Großstädter zu erregen vermag, ebensowenig lassen sich Arbeiter durch allgemein gehaltene Reden, auch nicht durch spezielle Angriffe, zu Trotz und Haß gegen die ihnen bekannten, sie angehenden Mitglieder der besitzenden Klasse hinreißen; wenigstens unsere nordischen Landsleute sind im allgemeinen zu ruhigen Temperamentes und zu vorsichtig dafür. Es gibt Naturen, die sich durch Lektüre leicht zu Empörung und Entrüstung angestachelt finden; auf diese – sie sind aber in der Arbeiterklasse viel seltener als unter den Gebildeten – wirken aber Berichte von bestimmten Vorgängen, wie sie jede Tageszeitung bringt, sagen wir von der meuchlerischen Körperverletzung, die ein alberner Fähnrich gegen einen Soldaten begangen hat, unendlich viel aufreizender als irgendwelche pathetische Deklamationen über Ausbeutung, Profitwut u. dgl., gegen die wenigstens sehr rasch eine gewisse Abstumpfung des Gefühles eintritt. – Mag nun gegen den „Seemann“ und seine Ausdrucksweise sehr viel einzuwenden sein, auf der anderen Seite muß anerkannt werden, daß er den Kampf für die Interessen der Schiffsmannschaft mit Eifer, Nachdruck und Gewandtheit führt. Viel mehr aber fällt zu seinen Gunsten ins Gewicht, daß er außer den „tausend Aufschreien seemännischer Arbeiter gegen das bittere ihnen zugefügte Unrecht“ (a.a.O.), eine große Anzahl sachlicher und belehrender Artikel teils nautischen, teils und besonders sozialpolitischen Inhaltes bringt, deren Lektüre den Seeleuten ausschließlich von Nutzen sein kann. Wir greifen eine beliebige neuere Nummer heraus (14. März 1903): sie bringt einen Leitartikel „Seeleute und Krankenversicherung“, der sich darüber ausläßt, daß die Schiffsmannschaft dem Krankenversicherungsgesetz „leider nicht unterstehe“ und daß es Unrecht sei, wenn nach § 59 der S-O der Reeder nur für die Kosten der Krankenbehandlung während 13 Wochen hafte, während die Krankenkassen nunmehr für 26 Wochen  2

bezw. abzuwehren.“: Jahresbericht des Seemanns-Verbandes, in: Der Seemann, Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter vom 11. April 1903, 6. Jahrgang, Nr. 8.

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aufzukommen haben (man mag über das „Unrecht“ anderer Meinung sein, die Tatbestände sind sachgemäß behandelt). Es folgt dann ein Abschnitt „Auf dem Ausguck“, dessen erster ziemlich langer Artikel eine Belehrung über den § 24 des Seeunfallversicherungsgesetzes enthält und die Seeleute, wie auch deren Eltern und Großeltern dringend ermahnt, jedweden Postausweis über gesandte und empfangene Gelder mit größter Sorgfalt aufzubewahren, desgl. über jeden persönlich oder durch Freundeshand der Mutter u.s.w. zugestellten Geldbetrag eine Bescheinigung ausstellen zu lassen und dies ebenfalls sorgfältig aufzubewahren. „Über bezahlte Miete, beglichene Rechnungen, sowie sonstige im Interesse der Eltern gemachte Aufwendungen muß ebenfalls der Beleg aufbewahrt und zur Stütze des Rentenanspruchs beigebracht werden“, um den Beweis zu führen, daß der Lebensunterhalt der Ansprüche erhebenden Ascendenten ganz oder teilweise durch einen tödlich Verunglückten bestritten worden sei. Dann folgt ein Artikel „Witwen- und Waisenversicherungskasse in Sicht“, ferner „Tiefladelinie in Sicht“, „Die Vorschriften über die Ausrüstung von Kauffahrteischiffen mit Heilmitteln zur Krankenpflege“, „Hat die neue Seemannsordnung rückwirkende Kraft?“ u.s.w. Man kann überhaupt der Leitung des Blattes nicht vorwerfen, daß sie nicht praktische Gewerbspolitik treibe; der Verband selber (dessen Vorsitzender mit dem Leiter identisch) ist nicht intransigent, tritt für Tarifverträge und für entgegenkommendes Verhalten bei Verhandlungen ein u.s.w. Es werden auch einige Exemplare der „Schleswig-holsteinischen Volkszeitung“ auf den Schiffen gehalten, eines sozialdemokratischen Parteiblattes, das meines Wissens eine gemäßigte Haltung einnimmt. Die Fürsorge für Lektüre von seiten des Verbandes beschränkt sich aber nicht auf Zeitungen und verwandte Publikationen (wie den Seemannskalender, der 1901 in 200, 1902 in 400 Exemplaren verteilt wurde, und die Geschäftsberichte, Flugblätter u. dgl.). Es wird auch andere Literatur buchhändlerisch vertrieben. Der Gesamtumsatz in Flensburg belief sich 1901 auf 245, 1902 auf 461,75 Mk. Ein Korrespondent bittet um Bücher aus „Kürschners Bücherschatz“ und führt 25 Titel von solchen auf. Ein anderer wünscht einen größeren See-Atlas als den von Justus Perthes zu  2  4 32

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sachgemäß behandelt).: § 59 der Seemannsordnung vom 2. Juni 1902, in: Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1902, Nr. 27, S. 190. über den § 24: Hier irrt sich Tönnies. Es muß § 14 heißen, da dieser § sich mit Renten für Hinterbliebene befaßt. § 24 bezieht sich auf das „Statut der Berufsgenossenschaft“. „Kürschners Bücherschatz“: Joseph Kürschner, Kürschners Bücherschatz. Bibliothek fürs Haus. Eine Sammlung illustrierter Romane und Novellen. Berlin / Eisenach / Leipzig. 1. Ausgabe 1897. Vermutlich 1922 eingestellt. Justus Perthes: Johann Georg Justus Perthes war ein deutscher Buchhändler und Verleger.

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2,50 Mk. Eine Broschüre „Tod dem Alkohol“ wird ziemlich viel gelesen. Außerdem steht wie überall in Arbeiterkreisen die Aufklärung in Religionssachen in Gunst, ein popularisierendes Schrifttum, das bekanntlich literarisch zumeist ziemlich tief steht. Der Seemann ist im allgemeinen hungrig nach Lektüre und klagt zuweilen über Langeweile, da ihm von seiner Freiwache Schlaf und Mahlzeiten immer noch einige Stunden übrig lassen. Erzählungen und Späße, namentlich schlüpfriger Art, sowie das alle Poren des Lebens erfüllende Kartenspiel genügen doch nicht jedem und nicht immer. Geselligkeit, die Offiziere und Mannschaften verbindet, beschränkt sich auf gelegentliches Plaudern und auf die Weihnachtsfeier, die auf einem deutschen Schiffe nicht leicht fehlen dürfte. Der Umgangston ist auf den Flensburger Schiffen durchweg „gemütlich“ und freundlich, sowohl von seiten der Vorgesetzten als zwischen den Leuten selber. „Klassengeist“ (so nennen die Arbeiter selber das, was man sonst etwa Standesbewußtsein oder Berufsstolz nennen würde) zum Nachteile der Feuerleute ist nicht sonderlich bemerkbar, eher zwischen den Feuerleuten selber; wenn unbefahrene Heizer angenommen werden, erfahren diese aus nahe liegender Ursache eine geringschätzige und von Ärger eingegebene Behandlung von seiten der Heizer. Auch werden von diesen oft die Trimmer schlecht behandelt. Daß das proletarische Klassenbewußtsein Fortschritte gemacht hat auf Kosten des seemännischen Standesbewußtseins ist dagegen offenbar, auch daß es weit mehr in der Sache, als in Agitationen beruht. Die Sache ist die, daß die Feuerleute mit dem seemännischen Beruf keine innere Verbindung haben, selten aus Seemannsfamilien stammen, selten aus Neigung zur See gegangen sind; daß ferner diejenigen Matrosen, die von vornherein sich ein höheres Ziel stecken, weil sie durch Vermögen und Bildungsstand sich berufen fühlen, ein Steuermannsexamen zu machen, auf den Dampfschiffen mehr und mehr eine kleine Minderheit bilden; endlich daß auch das Matrosentum als Lebensberuf – der schon vorher vorhanden war – immer mehr den Charakter einer Handwerksgesellenschaft abgestreift und den des allgemeinen Arbeitertums angenommen hat. Dieser letztere Prozeß ist jedoch keineswegs vollendet und es wirken noch starke Gegengewichte dagegen. Teils gibt es noch in erheblicher Zahl ausgelernte Segelschiffmatrosen, die die bloßen „Dampfermatrosen“ vielleicht menschlich, aber nicht technisch als ihresgleichen ansehen; teils wirkt auch unter diesen die „Erfahrung“ im eigentlichen Sinne, nämlich die Befahrenheit und Fahrzeit, dahin, daß der ältere Matrose als solcher sich fühlt und ein – wie es in seinen eigenen Kreisen wohl genannt wird – zünftlerisches Interesse geltend macht. Diesem wohlbegründeten und berechtigten Interesse will auch gerade die Gewerkschaft,

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der „Verband“ dienen, wenn er sorgfältig darüber wacht, daß nicht Leute mit zu geringer Fahrzeit „unter direkter Zurücksetzung von tüchtigen und befahrenen Matrosen“ angenommen werden und darauf gedrungen hat, daß eine dahin gehende Bestimmung – mit geringerer und schwerer durchführbarer Ausdehnung für die Heizer – in die Musterungsbedingungen aufgenommen wurde. „Manche Kollegen glauben nun, auch ohne die Fahrzeit die nötige Courage zu besitzen, um als Leichtmatrose bezw. Matrose anmustern zu können und fühlen sich zurückgesetzt, wenn sie hiervon abgehalten werden. Diese Kollegen verkennen aber doch tatsächlich den Wert einer solchen Abmachung, die unserer Ansicht nach doch nur erzieherisch wirken und das Ansehen unseres ganzen Standes heben kann“. So der Jahresbericht der Mitglieder des S-V für 1900. Es wird dann auf einen vor kurzem in den „Flensburger Nachrichten“ erschienenen, offenbar aus Kapitänskreisen stammenden Artikel mit Entrüstung hingewiesen, worin zwar anerkannt war, daß es „auch ganz fixe Kerls unter den Matrosen gebe“, aber sehr viele, „die von den seemännischen Arbeiten ihres Berufes keine Ahnung haben, höchstens Farbe waschen, Rost kratzen und ähnliche Arbeiten machen können, aber frech sondergleichen sind“. – Daß ein Bewußtsein gemeinsamer Interessen auf Steuerleute und Maschinisten sich ausdehnt, wird man nicht finden; beide Kategorien halten sich nicht allein als Vorgesetze von der Mannschaft geschieden, sondern betonen auch im Gegensatze gegen diese ihren „bürgerlichen“ politischen Standpunkt. Ein Verein der Seesteuerleute, der vor etwa 10 Jahren, auch mit der Absicht auf Lohnerhöhung zu wirken, sich gebildet hatte, ist, nachdem diese inzwischen von selber eingetreten und die meisten damaligen Steuerleute zu Kapitänen aufgerückt sind, wieder eingeschlafen. Dagegen hat ein noch bestehender „Maschinistenverein“ allerdings vor einigen Jahren den Standpunkt der Lohnarbeiter scharf hervorgekehrt, ohne sich aber deshalb mit den unteren Chargen zu alliieren. Ihre Forderungen gingen auf Erhöhung der Gagen und u.a. auch auf Einsetzung eines „Meßvorstandes“ zur Kontrolle der Kostgelderverwendung. Der Bericht über die Tätigkeit des Reedervereins für das Geschäftsjahr 1900/01 schreibt darüber, nachdem der mit dem S-V abgeschlossene Tarifvertrag von 1900 mitgeteilt worden: „Hartnäckiger noch als die See27

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wieder eingeschlafen.: Der Verein deutscher Seesteuerleute zu Hamburg-Altona wurde 1892 gegründet. Nachfolger ist der „Verein Deutscher Kapitäne und Officiere der Handelsmarine“. unteren Chargen zu alliieren.: Mit der Einführung von Antriebsmaschinen auf Schiffen entstand der Berufszweig der Maschinisten, der mit steigender Schiffsgröße, Maschinenleistung und Ausweitung der Fahrtgebiete spezielle Prüfungen absolvieren musste. Ab 1908 / 1909 wurde dann der Schiffsingenieur eingeführt.

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leute bestanden die Maschinisten auf Erfüllung von Forderungen, die sich ebenfalls im wesentlichen auf Erhöhung der Gage richteten. Hier waren die Verhandlungen für den Verein und den Vorstand um so schwieriger, als der Maschinistenverein für Flensburg auch in der Form der Verhandlungen einen Ton anschlug, der von vornherein verletzend und daher auch auf die Unterhandlungen hemmend wirkte“. (Der S-V wird hier also indirekt belobt.) Es kam zu einer Arbeitseinstellung in der Form, daß eine große Anzahl aktiver Maschinisten sich „auf Schule“ begaben, d.h. in die k. Seemaschinistenschule eintraten. Die Bewegung hatte insoweit Erfolg, daß eine Erhöhung der Gagen bewilligt und versprochen wurde, die Kost angehend, Beschwerden, sofern solche bei einzelnen Reedereien erfolglos sein sollten, von Vereinswegen unparteiisch zu prüfen. Auch hier wurde die Form eines Übereinkommens zwischen Reedereiverein einerseits, Maschinistenverein andererseits beliebt, das für 3 Jahre gültig sein sollte und mit dem 31. Oktober dieses Jahres (1903) abläuft. – Die Flensburger Kapitäne stehen durchweg, wie früher erwähnt, auf seiten der Reeder, von denen mehrere aus ihrem Stande hervorgegangen sind; viele Kapitäne sind durch Parten oder (weniger oft) durch Aktien am Reedereikapital beteiligt. Auf das „Verhältnis der Offiziere zur Mannschaft“ bezieht sich auch der FRL mit seiner ersten Frage. Die Antworten der Seeleute lauten ganz überwiegend günstig, nämlich 5 Mal „sehr gut“, und ähnlich („nicht zu klagen“ u. dgl.), 12 Mal einfach „gut“, 2 Mal „gut“ mit Zusätzen („im großen und ganzen“, „soweit noch“), 1 Mal „verträglich“, 1 Mal „kann eben angehen“. Es bleiben 8 Fälle, wo etwas ausgesetzt wird. Einmal heißt es: „gut mit Ausnahme des ersten Meisters“ (Maschinenmeisters), 1 Mal „ziemlich gut bis auf den zweiten Maschinisten, um den in sehr kurzer Zeit mehrere Heizer das Schiff verlassen mußten“, 1 Mal: „Kapitän und Steuerleute lobenswert, erste Maschinist läßt viel zu wünschen“; 1 Mal: „der erste Steuermann sehr brutal, sonst sehr gut“; 1 Mal: „Die Meister ziemlich launenhaft, schlechte Laune vorherrschend, Steuerleute gut“; 1 Mal: „lächerlich kindische und schlechte Maschinenvorgesetzte, sonst gut“. Es bleiben nur 2 generell ungünstige Urteile: 1 „läßt viel zu wünschen übrig“, 1 „humanere Behandlung wünschenswert“. Außerdem sieht man, daß das Mißvergnügen 5 Mal auf die „Meister“, nur 1 Mal auf einen Steuermann sich bezieht. – In den Korrespondenzen sind Klagen über schlechte Behandlungen nicht ganz selten, und zwar weniger über selbsterlittene, als über solche, worunter der Berichterstatter die jungen Leute (Leichtmatrosen, Meßjungen, Stewards) leiden sah. Es sind aber nicht immer Offiziere, sondern z.B. auch der Bootsmann, über den er sich empört, z.B. mit dem Ausdruck: „scheint sehr viel vom freien Faustrecht

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zu halten“ oder „hat auch an dem Steward, einem Kind, seine Kraft probiert, indem er ihn mit der Faust ins Kreuz schlug“. Aber auch eigene Beschwerden, z.B. eines Heizers: „der erste Maschinist hat mir mit die Füße gestoßen, ich laß bitten, daß es in den Seemann kömmt“. – Ein Meßsteward, der seine „erste Seereise“ macht, seufzt über Mißhandlungen des ersten Maschinisten und ersten Steuermanns, während er von den zweiten ziemlich gut behandelt werde; mit dem Koch stehe er sich ganz gut und auch mit dem Kapitän. Der Junge versichert, „er könne alles beschwören“. – Ähnliches ziemlich häufig in (CO): z.B. „Hier ist die Prügelstrafe sehr Mode gewesen in der letzten Zeit“ – „Behandlung durch den ersten Steuermann war in den ersten zwei Monaten unbeschreiblich“ – „Arbeiterei unmenschlich“ – „Arbeit über alle Maßen“ u. dgl. – Andererseits wird auch recht oft die Behandlung gelobt, teils implizite mit den Worten „nichts zu klagen“, „bis jetzt geht noch alles ganz gut zu“, „über Schiff und Leitung ist wirklich nicht zu klagen“, „ich glaube, daß dies das beste Schiff von Flensburg ist“ u. dgl., teils ausdrücklich, z.B. „hier an Bord alles ganz schön bis jetzt, sehr gutes Essen und gute Behandlung“. „Wir können an Bord bis jetzt über nichts klagen, können sogar unseren Vorgesetzten, speziell unsern Herrn Maschinisten mit gutem Gewissen ein kleines Lob aussprechen in Bezug auf humane Behandlung und auf Überstunden bezahlen. Haben einen neuen Kapitän bekommen und dieser hat sich bis jetzt sehr gut eingeführt bei uns“. „Wir können bis jetzt nicht klagen, es ist ganz gut, die Achtergäste (die hinten in der Kajüte) sind auch alles gute Leute, die sagen keinen Menschen was“. Und einer, offenbar dänischer Muttersprache: „vier habt es gans gutt, das Essen ist gutt und aug der Behandlung“. Endlich meint ein Briefschreiber, sein Steuermann sei nicht bloß ein guter Kerl, er sei in vielen Fällen zu gut, ein Vorwurf könne ihm nicht gemacht werden. Alle diese Äußerungen sind in den Briefen des Jahres 1902 enthalten, im vorhergehenden Jahre sind die Klagen häufiger. Ob der Unterschied dem heißen Sommer des letzteren, dem kühlen des ersteren Jahres zuzuschreiben ist? – Verheiratete Schiffsleute sind nicht in erheblicher Zahl vorhanden. Sie ziehen natürlicherweise die direkten Linien – die aber in Flensburg fast garnicht vorhanden – und den Dienst des allerdings bedeutenden Föhrdeverkehrs, der sich auch über die Föhrde hinaus erstreckt, vor. Hier sind auch alte Matrosen und Heizer anzutreffen. Die Heizer scheinen öfter als die Matrosen verheiratet zu sein. Im allgemeinen weiß aber der Seemann, daß seine Heuer nicht ausreicht, um eine Familie zu ernähren. „Der schlechteste Mann an Land ist besser gestellt als ein Seemann“, lautet eine umlaufende Rede. Dabei werden dann auch Strapazen, Gefahren, die lange Abwesenheit in Rechnung gebracht. Der verheiratete Seemann sucht daher bald eine Arbeitsstelle an Land, wenn

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er auch, etwa als Werftarbeiter, zuerst nur 26 bis 28 Pf. Stundenlohn erhält. Auch nach Aussage von (S), die der Arbeiterbewegung als scharfe Gegner gegenüberstehen, fristen verheiratete Seeleute mit wenigen Ausnahmen nur ein kümmerliches Dasein; Frauen und Kinder müssen nach Kräften mit zum Erwerb beitragen, erstere als Wasch- oder Scheuerfrauen, letztere durch kleinere Dienstleistungen außer der Schulzeit. So fand ich auch die Wohnungen verheirateter Matrosen dürftig bis ärmlich. Als Betrag des gezahlten Mietzinses fand ich in einem Falle 130, in einem anderen – es war ein Ehepaar mit Säugling – 140 Mk. Hier gab es nur eine winzige Küche neben den zwei Stuben. Etwas bessere Arbeiterwohnungen kosten in Flensburg 160-170 Mk. – Verheiratete Köche sind nicht selten und diese leben wie besser gestellte Arbeiter. Manche (übrigens auch Matrosen) haben ihre Familie irgendwo auf dem Lande; so sprach ich mit einem Koch, dessen Hauswesen unweit Rendsburg (einer Stadt ca. 50 km südlich von Flensburg) sich befand; er komme selten nach Hause. Ein etwa 50jähriger Matrose, den ich an Bord desselben Dampfschiffes sprach, hatte seine Familie in Memel; habe sie, gab er knurrend zu verstehen, seit vier Jahren nicht gesehen. L. Über die lokale Herkunft der im Jahre 1902 an- und abgemusterten Seeleute habe ich durch Auszählungen folgendes ermittelt (siehe die Darstellung Tab. 1 und 2): Tab. 1. Angemusterte.

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Matrosen u.s.w. ................... % von 4 Heizer ................................. % von 4 Trimmer .............................. % von 4 Meßjungen u.(3)Stewards .... % von 4 Köche ................................. % von 4

SchleswigHolsteiner 1 199  60,3  63  48,8  24  61,5  40  86,9  27  69,2

Andere Deutsche 2 75 22,7 50 38,7 10 25,6  5 10,8  8 20,5

Ausländer 3 56 17,0 16 12,5  5 12,9  1  2,3  4 10,3

Insgesamt 4 330 100,0 129 100,0  39 100,0  46 100,0  39 100,0

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Tab. 2. Abgemusterte.

Matrosen u.s.w. ................... % von 4 Heizer ................................. % von 4 Trimmer .............................. % von 4 Meßjungen u.(3)Stewards .... % von 4 Köche ................................. % von 4

SchleswigHolsteiner 1 157  43,0  58  36,4  14  51,8  31  75,6  30  66,6

Andere Deutsche 2 143  39,2  75  47,1   9  33,3   9  21,9  12  26,1

Ausländer 3 65 17,8 26 16,5  4 14,9  1  2,5  3  6,8

Insgesamt 4 365 100,0 159 100,0  27 100,0  41 100,0  45 100,0

Aus Tab. 1 ist ersichtlich, daß unter den angemusterten Matrosen u.s.w., auch unter Trimmern und noch mehr unter Köchen erheblich über die Hälfte (60,3, 61,5, 69,2 %), unter den Heizern etwas weniger als die Hälfte (48,8 %) einheimisch, d.h. geborene Schleswig-Holsteiner sind. Unter diesen sind die geborenen Flensburger sehr zahlreich, dann sind auch die Orte der Nebenhäfen, als Schleswig, Apenrade, Sonderburg, Ekersund, Maasholm, Hadersleben vertreten; das Binnenland sehr wenig, auch bei den Heizern. Die Meßjungen sind fast ausschließlich aus dem Herzogtum Schleswig, und zwar meist aus Flensburg und Umgegend selbst, sonst aus anderen Städten, wenige vom Lande gebürtig. Das Verhältnis der „anderen Deutschen“ ist bei den Heizern bei weitem am stärksten (38,7 und 25,6, 22,7, 20,5 % bei Trimmern, Matrosen und Köchen). Die Zugewanderten stammen meist von der mecklenburgischen, pommerschen und preußischen Küste (Memeler sind ziemlich häufig), doch begegnen auch solche aus Naumburg, Halle a./S., Chemnitz, Braunschweig, Berlin; diese Binnenländer machen aber nur einen geringen Bruchteil aus. Die Ausländer sind meist Dänen, einige Schweden, Finnen, Holländer. Die drei letzteren Nationen treten bei den Abgemusterten stärker hervor. Überhaupt sind die Ausländer hier, außer bei den Köchen, etwas stärker vertreten, am meisten unter den Heizern (16,5 gegen 12,5 %), viel stärker tritt aber hier der Unterschied der anderen Deutschen gegenüber den Schleswig-Holsteinern in allen Kategorien hervor (39,2, 47,1, 33,3, 21,9, 26,6 gegen 22,1, 38,7, 25,6, 10,8, 20,5 %). Die Schleswig-Holsteiner

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sind in der Küstenfahrt noch ein wenig stärker vertreten als sonst. Als d Lebensalter der angemusterten Seeleute fand ich12: von 230 (Voll-)Matrosen 27-28 Jahre, „ 58 Leichtmatrosen 20 „ „ 18 „Jungmannen“ 19 „ „ 32 Jungen 18 „

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Ausländer sind unter den Jungen nur 3, unter den Jungmannen nur 1, dagegen unter den Leichtmatrosen 11, unter den Vollmatrosen 28. Das d Alter weicht bei den letzteren fast garnicht ab, bei den Leichtmatrosen beträgt es aber 24 Jahre, ist also um 4 Jahre höher; auch die 3 Jungen sind mit d 19, der 1 Jungmann mit 20 Jahren oberhalb des Durchschnittes ihrer Gruppe. Dies dürfte darauf schließen lassen, daß die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, auch wenn für die gleiche Charge die tarifierte Zahlung geschieht – was nicht immer der Fall ist – doch mit der Annahme wohlfeilerer Arbeitskräfte oft sich deckt, indem solche zufrieden sind, unter dem Namen und mit der Heuer des Leichtmatrosen angemustert zu werden, wenn sie nach Alter und Fahrzeit Anspruch hätten, als Vollmatrosen zu gelten. Auch der hohe Prozentsatz von Ausländern gerade unter Leichtmatrosen (20 % unter 12 % unter Vollmatrosen) deutet darauf. – Bei 39 Köchen ergab sich ein d Alter von 35 Jahren, hier waren die 3 Ausländer etwas jünger (d 33). Auch 15 ausländische Heizer waren mit d 25-26 Jahren etwas jünger als die Gesamtheit von 128 mit d 27. Dagegen ausländische Trimmer (3) wieder etwas älter (d 25) als die Gesamtheit (30) mit d Alter von 24 Jahren. Die 45 Meßjungen haben ein d Alter von 17 Jahren. Bei den Abgemusterten sind die Verhältnisse ähnlich; allerdings übertrifft hier das d Alter der ausländischen Leichtmatrosen mit 21 Jahren das allgemeine von 20 nur um 1 Jahr. Es sind aber auch unter 83 19=23 %, unter den 249 Vollmatrosen 34=13,5 %. Es ist wohl begreiflich, daß die Ausländer von ihren Kollegen an Bord nicht immer gern gesehen werden. Zwar mit Dänen und besonders mit Holländern verständigt man sich leicht; immer aber hält man, nicht ohne Grund, es für gefährlich, wenn die deutsche Sprache gar nicht oder doch nur in mangelhafter Weise verstanden wird: in schwieriger Lage und aufgeregtem Zustande wird selbst bei Geübten das Verständnis versagen; die Verwirrung wird durch das Sprachgemenge und durch Mißverständnisse vielleicht in verhängnisvoller Weise gesteigert werden. Der FRC enthielt auch die Frage (IV): 12

Die Auszählungen hat Herr Stud. Bramstedt für mich gemacht, nachdem Herr Kanzlist Johannsen in Flensburg die Auszüge aus den Musterrollen zusammengestellt hatte. d = durchschnittlich.

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wie viele Ausländer an Bord, ob sie der deutschen Sprache mächtig und von gehöriger seemännischer Ausbildung seien. Von 12 Schiffen wurden 28 Mann als des Deutschen nicht mächtig oder nur etwas Deutsch sprechend oder im Deutschen sehr schwach, gemeldet; außerdem 24 als des Deutschen mächtig oder doch „ziemlich gut“, von 10 (zum Teil denselben Schiffen), und von diesen sind 5 als Dänen, 11 als Holländer bezeichnet; bei den Holländern wird wohl hinzugefügt: „verstehen Plattdeutsch“. – Die seemännische Ausbildung der Ausländer wird in nicht wenigen Fällen bemängelt oder geleugnet; und es ist wahrscheinlich genug, daß unter ihnen oft Leute sind, die aus anderen Berufen hinausgeworfen wurden. Eine Ermittlung über das Vorleben dieser und der Leute überhaupt würde sicherlich recht charakteristische Ergebnisse, namentlich für den Verfall des Handwerks in kleinen Städten, ans Licht fördern; ich bin nicht in der Lage gewesen, solche Ermittlungen anzustellen. – Die Kriegsmarine hat namentlich für den Bruchteil der einheimischen Heizer besondere Bedeutung, die eine gewisse Fahrzeit auf Kauffahrteischiffen haben wollen, um dann als Dreijährig-Freiwillige in die Marine einzutreten, und die dabei sich Rechnung auf Avancement im Maschinenfach machen. – Viele harren überhaupt nur kurze Zeit in der Handelsmarine aus, sowohl Matrosen als Heizer. Meistens werden die Ausscheidenden in Flensburg Werftarbeiter, nicht wenige aber auch Hafenarbeiter; einige finden auch als Maschinenheizer an Land Verwendung. Länger als bis zum 50. Jahre wird selten ein Schiffsmann der unteren Chargen fahren. Eine Ausnahme ist es auch, daß der Dampfermatrose noch seine Segelschiff-Fahrzeit erwirbt und zum Steuermann avanciert. Als dauernde Lebensstellung wird aber auch der Beruf des Steuermanns auf Flensburger Schiffen nicht geschätzt. Wenn es nicht gelingt, die Stufe zum Kapitän zu erklimmen, so wird auch der Steuermann bald der Schiffahrt Valet sagen. Viele werden „Takler“ auf der Werft, d.h. sie bedienen die Takelage einlaufender oder in Dock gegebener Schiffe und haben als solche ein ziemlich gutes Einkommen. Auch die Maschinisten suchen, wenn sie etwa 45 Jahre alt geworden sind, Stellungen an Land. – Desertionen kommen nur in geringer Zahl (jährlich 5-7) zur Kenntnis des Seemannsamtes; in Wirklichkeit kommen sie viel öfter vor; die häufigen Nachmusterungen in fremden Häfen geben auch Zeugnis davon (Ziffern dafür habe ich nicht gewinnen können). Vermehrung der Arbeitslast für die ohnehin schwache Besatzung ist eine häufige Folge, da es nicht immer gelingt, auch wohl zuweilen an der ernstlichen Bemühung des Kapitäns fehlen mag, sogleich Ersatz zu bekommen. Der Ersatz besteht oft genug in mittelmäßigen Ausländern, die ebenso nichts im Auge haben, als ihr Vaterland zu verlassen und „überzugehen“.

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Die in chinesischer Küstenfahrt tätigen Flensburger Schiffe haben zum größten Teil chinesische Mannschaft an Bord und beschränken sich, wie es scheint, immer mehr darauf. Die Reedereien geben als Grund dafür an, daß einheimische Leute das Klima dort nicht vertragen. Es versteht sich, daß den wirklichen Grund die Billigkeit der chinesischen und malayischen Arbeitkraft darstellt. Es ist nicht einzusehen, warum die einheimischen Offiziere (derer man nicht entraten kann) das Klima besser vertragen sollten als die Mannschaft. – Ein Beruf des unteren Maschinenpersonals ist nicht vorhanden. Es gibt aber einige, die als Heizer alt werden, oder auch das vierte Patent des Maschinisten erwerben und dann an Bord der Föhrdedampfer die Stelle des Maschinisten versehen, der in vielen Fällen die Heizung gleichzeitig versehen muß. – Von einem Selbstmord, der auf Mißhandlungen zurückzuführen war, ist sub H die Rede gewesen. In einem anderen neueren Fall, wo ein Kuli über Bord eines Flensburger Dampfers sprang, war es zweifellos, daß der Mann im Fieberdelirium gewesen ist (nach den von mir eingesehenen Akten des k. Seeamtes). – Daß ausländische, namentlich amerikanische, Heuerbasen Desertionen veranlassen und die Deserteure dann von sich abhängig zu machen wissen, ist befahrenen Leuten wohl bekannt. Bestimmte einzelne Fälle dieser Art sind mir nicht mitgeteilt worden. M. Die Veränderungen in der Lage der Flensburger Seeleute sind durchaus bedingt durch das Aufhören der Segelschiffahrt von diesem Hafen aus. Die alte Handelsreederei von Flensburg, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ihre glänzende Zeit hatte und vorzugsweise nach Dänemark und den dänischen Kolonien (Westindien) ging, hatte schon durch die Kriegszeit 1848–51 und dann in entscheidender Weise durch die politische Trennung von Dänemark stark gelitten. Flensburg besaß noch 1861 112 Segelschiffe mit 10301 R.-T., 1871 nur noch 47 mit 4813, daneben an Dampfschiffen 7 mit 2255. Im Jahre 1891 finden wir die Seglerflotte auf 10 mit 1870 R.-T. zurückgegangen, die Dampfer auf 52 mit 30533 angewachsen. Heute sind die Segler so gut wie verschwunden, die Dampfer sind auf die früher angegebene Höhe gewachsen. Von Anfang an sind nur eiserne Dampfschiffe gebaut worden, neuerdings fast nur stählerne. Die Handelsreederei ist völlig in Frachtfahrt übergegangen. – Die augenfälligste Veränderung in dem Zustande der Schiffsarbeit besteht nun darin, daß eine Kategorie von Arbeitern an Bord gekommen ist, die im eigentlichen Sinne nicht seemännisch ist, das Maschinenpersonal. Wohlmeinende (S) urteilen, das Zusammenleben der Matrosen mit dem niederen Maschinenpersonal der Dampfer, auf engem Raume, habe auf jene demoralisierend gewirkt und einen sozialistischen Zug hineingebracht,

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der bei dem früher mehr patriarchalischem Leben an Bord unbekannt war. Tiefer geht die Veränderung in der Arbeit der Matrosen selbst. Die eigentliche Seemannsarbeit tritt völlig zurück gegen allgemeine Arbeit, namentlich Deckwaschen und den Gebrauch des Farbentopfes, wozu in dem Hafen noch der Dienst an den Winschen, das Auf- und Abbringen der Lösch- und Ladegeschirre u.s.w. kommt. Es bleibt hauptsächlich die Tätigkeit am Steuerrade (dem „Ruder“) und der Ausguck, zu beidem gehört Aufmerksamkeit und einige Übung. Das „Handwerk“, als Mastenaufrichten, Taue splissen und knoten, ist ziemlich selten in Gebrauch. Dabei versagt dann der Dampfermatrose. Der 2. Steuermann muß häufig einspringen, um die einfachste derartige Arbeit fertig zu bringen. Ältere Matrosen, die auch lange auf Segelschiffen gefahren haben, beklagen diesen Verfall der Kunst ebenso sehr (auch solche, die mit Leib und Seele in der Arbeiterbewegung stehen), ja bitterer, als die (M) und (S). Jene haben zumeist ein starkes Mißfallen am Dampfschiffbetrieb, auch wenn sie anerkennen, daß Kost- und Logisverhältnisse erheblich besser, die Arbeit teilweise viel leichter sei; einige meinen aber, die Häuser oder Roofs auf den größeren Seglern seien, auch wenn sehr eng, bei weitem wohnlicher und angenehmer gewesen. Überhaupt war das Leben behaglicher und heiterer. Was sie an dem Dampfschiffsleben mit Widerwillen erfüllt, ist vor allem zweierlei: 1. die Schmutzarbeit – zumal auf Kohlendampfern –, 2. die Hast. Beides wird wohl zusammengefaßt als die „Schweinerei in den Häfen“, womit die raschen Rundreisen in Nord- und Ostsee, bei denen eben alles mit Dampf geht, gemeint sind. Es bleibe eben für nichts Zeit, namentlich auch nicht für das Rein- und unter frischem Anstrich-Halten der Logis. Auch für ordentliche Unterweisung bleibe die Zeit nicht übrig; sie würde den Steuerleuten obliegen, die selber oft am meisten überbürdet seien. Die Hetzerei führe oft zu Unfällen; sie mache Leiter und Leute „nervös“. Die Ausbildung des Deckpersonals auf Segelschiffen wird namentlich auch deshalb, weil der Dampfermatrose in der Gefahr leicht so hilflos sei wie ein Passagier, da auch seine Bootskundigkeit oft nur mangelhaft sei, allgemein noch für notwendig gehalten, geschieht aber nur noch in verschwindendem Maße. Mangel an tüchtigen gelernten Seeleuten ist also in offenbarer Weise vorhanden. In der Praxis begnügt man sich aber zum guten Teil mit minder tüchtigen. Die Schiffsjungenschulschiffe werden schon nötig, um der erforderlichen Zahl von Steuerleuten und Kapitänen die unerläßliche Ausbildung zu geben. Der Flensburger Reederverein ist neuerdings dem unter Protektorat des Großherzogs von Oldenburg stehenden Schulschiffverein beigetreten. – Ein großer Teil der Matrosenarbeit könnte und kann ohne Zweifel durch ungelernte Arbeiter getan werden. Um so mehr würde sich aber das Vorhandensein

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auch eigentlicher, auf Segelschiffen technisch ausgebildeter Matrosen als dringend erforderlich erweisen. – Eine weitere Verdrängung der gelernten durch ungelernte Arbeit findet noch insofern statt, als auch tüchtige Heizer oft knapp sind und mit unbefahrenen fürlieb genommen wird. Dies bedeutet dann oft Mehrarbeit für die übrigen. Ungeschickte Heizer häufen das Feuer in der Mitte, wo dann die Kohlen in dicken Klumpen zusammenliegen; der Nachfolger hat dann vermehrte Mühe, das Feuer „rein“ zu halten, was nur geschehen kann, indem die Kohlen zerstreut und flach gehalten werden. – Auch auf das Domizil der Seeleute hat die Umwälzung sichtlich gewirkt. Insoweit als auch der Dampferbetrieb im Winter sistiert – wie zum Teil die direkten Linien –, gibt es auch hier noch Matrosen, die auf dem Lande wohnen und sich als Söhne oder Gatten an Fischerei und landwirtschaftlicher Arbeit beteiligen, soweit solche im Winter sich tun läßt. Einzelne kehren auch durch Erwerb einer kleinen Yacht oder Tjalk zur Segelschiffahrt zurück. – Alte Schiffe werden meistens rasch durch Verkauf abgestoßen; so daß die durchgängige Seetüchtigkeit der Flensburger Dampfer ohne Zweifel hoch steht. Wir fanden dies in der Antwort des FRC anerkannt. Auch der FRL enthielt eine Frage: „In welchem Zustande befindet sich das Schiff?“ Sie ist 20 Mal mit „gut“, 1 Mal ziemlich, 1 Mal einigermaßen gut, 1 Mal garnicht, 2 Mal mit Fragezeichen beantwortet; 1 Mal findet sich der Zusatz: „aber Logis!“, 1 Mal: „aber die Stange des Fockmastes verrottet“. 1 Mal heißt es kurz: 20 Jahre alt, 1 Mal: „soll im Winter in Dock“, 1 mal: Kessel leck, Schornstein mit Zement gedichtet. Nur 1 Mal heißt es schlechthin „nicht besonders“. Die Frage der Tiefladelinie ist, wie auch (U) anerkennen, eine „sehr schwierige“. Bekanntlich werden Erhebungen von der Seeberufsgenossenschaft in Verbindung mit dem Germanischen Loyd angestellt13. Einer allgemeinen gesetzlichen Vorschrift über das „Freibord“ sind in Flensburg auch die Kapitäne wenig geneigt; sie und auch andere (S) behaupten, jedes Schiff sei ein Individuum und müsse für sich beurteilt werden, es sei ein großer Unterschied, ob homogene Ladung oder nicht, überhaupt die Art der Ladung müsse bestimmend sein. Andere weisen auf den Unterschied im Bau der englischen Schiffe hin, die auch bei größerem Freibord eine stärkere Beladung gestatte und, wenn das Schiff bis zur gesetzlichen Linie beladen sei, doch eine bedeutende Gefahr mit sich bringe. Daß aber auch auf Flensburger Schiffen Überstauungen nicht selten vorkommen, wagt wohl kein Unbefangener und Kundiger in Abrede zu stellen. Namentlich wird von (S) auf die „kolossal hohen“ Deckslasten hingewiesen (fast immer Holz), die auch den Gegenstand ständiger Beschwerden der 13

Es verlautet eben jetzt (Juni 1903), daß die Vorschrift einer Marke beschlossen worden ist. Offenbar wollte man der gesetzlichen Bestimmung zuvorkommen.

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Seeleute selber bilden. Sowohl der FRL als der FRC hat sich darauf bezogen. Jener stellte die Frage exakt in zwiefacher Richtung: Wie hoch befand sich die eventuell geladene Deckslast 1. vom Deck aus gemessen, 2. von der Reeling (der Schutzwand im Mittschiff) aus gemessen? Von den Antworten lautet nur eine „nie gehabt“, die übrigen geben Maße, teils in Metern, teils in Fuß an. Die Angaben tun zur Genüge dar, daß sehr hohe Deckslasten nicht selten sind, z.B. 20 Fuß vom Deck, 16 Fuß über der Reeling, auf einem Schiff von 790 R.-T., 18 und 12 auf einem größeren, viele, die diesen Maßen nahe kommen. Das FRC wiederholt die Frage (X 11) und frägt auch nach Art der Deckslast; fügt dann die Frage hinzu: „War die Reeling resp. Notreeling den Verhältnissen entsprechend und wurden Strecktaue gezogen?“ Auch hier begegnen Höhen von 12-14, 14-16 Fuß mehrmals; meist sind es Bretter, zuweilen Planken oder runde glatte Balken. Die Frage nach der Sicherung wird 18 Mal und zwar 2 Mal dahin beantwortet, daß die Notreeling ungenügend oder mangelhaft war, in allen übrigen Fällen wird sie als genügend, gut, vorschriftsmäßig angegeben, auch die Frage nach den Strecktauen wird meistens bejaht. Bei schwerem Wetter nützt aber die Notreeling wenig, das Schiff bekommt, wenn die Ladung sich verschiebt, „Schlagseite“, d.h. Übergewicht nach einer Seite, was eine gefährliche Situation bedeutet. Der FRC stellt auch die Frage (XVIII), ob das Schiff mitunter Schlagseite hatte, ob die Ladung überging, und woran lag das? Die Frage wird 20 Mal beantwortet und zwar 13 Mal mit „Nein“, 7 Mal bejahend, z.B. 1 Mal „oft Schlagseite durch das Übergehen der Deckslast“, 1 Mal „fortwährende Steuerbordschlagseite“, die beiden letzteren von Schiffen, über die sonst vorzugsweise Gutes ausgesagt wird, was die Glaubwürdigkeit erhöht. Bei schönem Sommerwetter – und nur um Sommer- und Herbstreisen handelt es sich hier – ist die Gefahr wohl gering; es kommen aber schon im Hochsommer schwere Stürme vor, die ein so überladenes Schiff für die Besatzung sehr ungemütlich machen. – Die Photographie eines überladenen Flensburger Dampfers (Deckslast 3,48 m hoch), der von Schweden nach Spanien ging, ist 1901 dem Reichstag vorgelegt worden. Ein G von 1895 richtet sich gegen einen kleinen Föhrdedampfer, der mit Holz nach Hamburg ging und voll Wasser lief; im Erkenntnis heißt es, es müsse auf mehr Freibord gehalten werden. Der Schiffer erklärte dem Seeamt, daß er in seinem Schiffe nur bei gutem Wetter riskieren könne über See zu gehen, da andernfalls die Fahrt auf dem Schiffe eine sehr gefährliche sei. Die Beladung sei stets in gleicher Weise erfolgt. Die verhältnismäßige Bemannung kann bekanntlich auf Dampfschiffen eine weit geringere als auf Segelschiffen sein und kann im Verhältnis zur Größe bei Ausdehnung maschineller Vorrichtungen auf den Decks be-

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trächtlich sinken. Der hauptsächliche Beweggrund für die Vergrößerung der Frachtdampfer ist die Absicht, an Besatzung zu sparen. Dies geschieht dann auch so, daß die Bemannung für glatte Fahrt eben ausreicht, für schwierige Lagen aber nicht ausreicht. Regelmäßige Unterbemannung ist die Charakteristik, die man nach unbefangener Prüfung, auch den Flensburger Schiffen, namentlich denen, die über 1000 R.-T. netto fassen, angedeihen lassen muß. Alle anderen Übelstände hängen teils mit diesem zusammen, teils sind sie verglichen mit diesem an Bedeutung gering oder vorübergehender Natur oder sind doch nicht mit den wesentlichen Prinzipien des Betriebes verknüpft, wie es mit diesem der Fall ist. Die Konkurrenz ist hier maßgebend, nach dem Urteil der Reeder zwingend. Wird aber auf die Dauer das Wohl der Menschen den Interessen des Geschäftes aufgeopfert werden dürfen? Ohne Ausnahme fahren in jedem Flensburger Dampfschiff außer dem Kapitän 2 Steuerleute und 2 Maschinisten; neben den Maschinisten oft noch 1 Assistent, zuweilen deren 2. Auf den 29 Schiffen, die den FRL beantworteten, waren 15 Mal 1, 2 Mal 2 Assistenten, ferner ist immer 1 Koch vorhanden, dem ein Meßjunge, der zugleich als Steward dient, zur Seite steht, zuweilen aber ein erwachsener Steward. Bleibt das Decks- und Maschinenpersonal. Das Maschinenpersonal ist öfters schwach, indem kleinere, aber nicht selten auch ziemlich große Schiffe sich mit 2 Heizern nicht nur für die Küstenfahrt – wo zuweilen ein einziger Mann als Maschinist und Heizer zugleich dienen muß – sondern auch für Nord- und Ostseefahrt begnügen wollen; diese haben dann je 16 Stunden hintereinander Dienst und im ganzen 12 Stunden täglich. Es herrscht allgemein die Ansicht, und liegt wohl auf der Hand, daß dies eine schlimme Überanstrengung bedeutet. Diese schwere, erschöpfende Arbeit erfordert längere Pausen und darf innerhalb 24 Stunden nicht mehr als 8 erfüllen. Oft muß der Maschinisten-Assistent als Heizer aushelfen. – Schlimmer aber und häufiger ist die ungenügende Bemannung mit Deckspersonal, und eben an diesem wird mit dem größten Erfolge gespart. Teils direkt durch zu geringe Besatzung der Wachen, teils indirekt durch Anheuerung qualitativ ungenügender Mannschaft, namentlich junger Leute, die als ‘Jungmann’ oder ‘Leichtmatrose’ eine geringere Heuer beziehen. Einzelne schwere Fälle dieser Art wurden im Herbst 1900 aus Flensburg berichtet. Ein Schiff von 884,46 R.-T. war mit nur 1 Matrosen, 4 Leichtmatrosen und Jungen bemannt; ein anderes von 796,48 R.-T. war mit 1 Matrosen

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nebst 3 oder 4 Jungen bemannt14! Solche Fälle sind zwar selten, darum aber nicht weniger der schärfsten Rüge ausgesetzt. Als Grund war angegeben worden, daß „keine Matrosen zu haben waren“ und das mag in diesen Fällen die wahre Ursache gewesen sein; man wird sich bemüht haben, in einem anderen Hafen Ergänzung oder Ersatz zu bekommen. In der Regel wird man mindestens 3 Vollmatrosen auf jedem Dampfschiff finden, und diese Zahl ist sehr gering, sie gestattet nicht, daß auf jeder Wache 2 Vollmatrosen vorhanden sind, und wenn auch bei klarem Wetter ein Leichtmatrose oder Jungmann den „Ausguck“ hinlänglich versehen kann, so muß doch eben auf schlechtes Wetter fortwährend gerechnet werden. Dazu kommt, sobald man in niedriges Fahrwasser läuft, die Notwendigkeit des „Lotens“ (Ermittelung der Wassertiefe). Die Rüge, daß es daran gefehlt habe, kehrt regelmäßig in den Seeamtserkenntnissen über Strandungen wieder. So auch in 3 neueren Erkenntnissen gegen Flensburger Schiffe; in dem einen heißt es, der Steuermann habe die Strandung dadurch verschuldet, daß er es unterlassen habe, seinen Schiffsweg durch Lotungen festzustellen; in beiden anderen: „die Strandung hätte vermieden werden können, wenn der Schiffer zur rechten Zeit seinen Schiffsort durch Lotungen gehörig kontrolliert hätte“ (Entscheidungen XIV. S. 161, 148, 574). Auf größeren Schiffen sind nun zwar regelmäßig 4-6 Vollmatrosen vorhanden, aber auch diese Zahlen ergeben oft für die vielfachen Extraarbeiten, die durch schlechtes Wetter notwendig werden, durchaus ungenügende Deckswachen, zumal, wenn ein Teil der Decksmannschaft in „Tagelohn“ genommen wird, was keineswegs selten der Fall ist und zur Bewältigung der Arbeiten nötig genug sein mag. Von den 29 Schiffen des FRL finde ich die Stärke der Besatzung im ganzen und im einzelnen angegeben. Hier ergibt sich ein Durchschnitt von 176,50 R.-T. auf jeden Vollmatrosen; in den 9 Fällen, wo nur 3 oder weniger Vollmatrosen vorhanden sind, ist dieser Durchschnitt 6 Mal übertroffen, unter diesen 6 ist 1 Schiff von annähernd 800, 3 haben ca. 600 R.-T. 540, 1 nur 332 – hier ist aber auch nur ein einziger Vollmatrose. In den 20 Fällen, wo mehr als 3 Vollmatrosen vorhanden waren, ist dagegen der Durchschnitt nur 9 Mal übertroffen, und von diesen 9 Schiffen sind 5 von 700-1000, 4 von 14

Z.S. 1. November 1900. Vgl. „Ein Notschrei“ S. 119.

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S. 161, 148, 574).: Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reiches. Vierzehnter Bd., Hamburg 1904, S. 148, 161 und 574. „Ein Notschrei“ S. 119.: Paul Müller (Hg.), Ein Nothschrei der seemännischen Arbeiter in Deutschland, gerichtet an den Deutschen Reichstag und die Reichsregierung, Denkschrift des Seemanns-Verbandes, in: Der Seemann, Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter. 1. November 1900, Hamburg 1900, S. 119.

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über 1000 R.-T. Freilich waren auf jenen 5 Schiffen der ersten Gruppe allemal neben den (oder dem) Vollmatrosen noch 2 Leichtmatrosen gemustert, was auf den 9 Schiffen der 2. Kategorie nur 1 Mal der Fall war, sonst 5 Mal 1 Leichtmatrose; so daß in den 3 übrigen Fällen die überlasteten Vollmatrosen nicht einmal einen Leichtmatrosen, sondern höchstens 1 Jungen oder 1 Trimmer zur Hilfe hatten (oft müssen die Matrosen auch das Kohlentrimmen besorgen, was ihnen nicht gerade willkommen ist, sie sagen dann wohl: „wir haben nicht als Trimmer gemustert“). Die Gesamtbemannung mit Einschluß des Kapitäns war in 5 Fällen weniger als 16 Köpfe, sie betreffen 3 Mal Schiffe von unter 400 R.-T., und hier war die Anzahl nur 12, 13, 14 Köpfe; 2 Mal Schiffe von über 500 R.-T. mit 15 Köpfen. Am häufigsten, nämlich 14 Mal auf die 29, werden 16 Köpfe gezählt, und zwar 7 Mal auf Schiffen von 5-600 R.-T. – für diesen Typus scheint die Besatzung der Zahl nach einigermaßen normal zu sein, – 2 Mal auf solchen von etwas über 600 R.-T., von den übrigen 6 aber haben 2 über 700, 1 über 800, 1 über 1300 R.-T. netto Rauminhalt! Im Gesamtdurchschnitt der 29 Fälle kommen auf den Mann 44,37 R.-T., dieser Durchschnitt wird 13 Mal übertroffen, und bei diesen 13 zeigt sich die Steigerung der auf den Mann kommenden Raummenge wie folgt: Netto-Raumgehalt in R.-T. 7-800:  4 Schiffe

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Es kommen auf 1 Mann der Besatzung R.-T. 45 45 46,8 49 50 51 53 53 56 56 58 69 81,9

Die Steigerung geht parallel mit der Vergrößerung der Schiffe; aber die größten Sprünge liegen in den beiden Fällen, wo der Raumgehalt über 1200 R.-T. netto gestiegen ist, vor. Vor etwa 18 Jahren erklärte eine Seeamtsentscheidung bei einem Raum von über 900 R.-T. eine Bemannung

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von 19 Köpfen für „sehr flau“. Heute würden die Seeämter vielleicht eine etwas höhere Grenze setzen. Es scheint aber, daß auf diesen Frachtdampfern eine größere Zahl überhaupt selten ist; daß wenigstens Schiffe von über 1200 R.-T. ganz gewöhnlich auch mit nur 19 Köpfen fahren. An Reserve in Erkrankungsfällen usw. fehlt es bei der schwachen Bemannung gänzlich. – Ein (S), der sonst das Verhalten der Reedereien in sehr günstiges, das der Arbeiter in sehr ungünstiges Licht stellt, meint, daß die Besatzung für gewöhnlich ausreiche, da die schweren Arbeiten mit Dampfkraft ausgeführt werden; in besonderen Fällen, bei Nebel usw., werde zuweilen ein Mangel fühlbar, um den Ausguck und das dann öfters notwendig werdende Loten auszuführen. Andere drücken sich sehr viel schärfer und allgemeiner aus15. – Die Frage, ob sich der Dienst der unteren Offiziere dem der Mannschaft nähere, ist eben wegen der schwachen Bemannung sehr oft zu bejahen. Versuche mit Ölfeuerung sind auf Flensburger Schiffen bisher nicht gemacht worden. N. Die gewerkschaftliche Organisation der Seeleute befindet sich in Flensburg in einem verhältnismäßig blühenden Zustande. Sie wurde ins Leben gerufen unter dem Einflusse des Hamburger Streiks von 1896/97; die Heuer der Matrosen und Heizer betrug damals nur 45 Mk., und es gelang, durch eine kurze Arbeitseinstellung eine Erhöhung auf 50 Mk. durchzusetzen. Im Jahre 1898 schloß sich der Lokalverein alsbald dem neubegründeten Zentralverbande der Seeleute an. Im August dieses Jahres kam es, nachdem mehrere Monate lang verhandelt worden, abermals 15

Auf den Flensburger Kapitänen und Steuerleuten lastet beständig die Gefahr der Patententziehung. Es ist berechnet worden, daß in den Jahren 1894/99 von sämtlichen in Flensburg verhandelten Seeunfällen ca. 10 % dem Reichskommissar Veranlassung gegeben haben, dahin zielende Anträge zu stellen, während dies in Hamburg kaum bei ½ %, bei anderen Seeämtern noch weniger vorkam. Seit Jahren herrscht in den Familien dieser Leute eine tiefe Erregung darüber. Der Reichskommissar ist ein z. D. gestellter höherer Marineoffizier. Man meint nun, ein solcher könne sich nur schwer in die Lage des Führers eines Kauffahrteischiffes hineinversetzen; denn „während letzterer häufig mit schlecht disziplinierter, arbeitsunlustiger, teilweise kaum arbeitsfähiger und der Zahl nach nur notdürftig ausreichender Mannschaft sein Schiff zu führen hat, ist der Marineoffizier an zahlreiche, gut disziplinierte und im höchsten Grade arbeitsfähige Mannschaft gewöhnt, und macht daher nicht selten übermäßige Ansprüche an die Manöverierfähigkeit eines Schiffes und an die Aktionsfähigkeit der Schiffsoffiziere“. (Navigationslehrer Th. Lüning in Hansa, Deutsche Nautische Zeitschrift 1901 S. 329.) Der Reichskommissar hat ohne Zweifel Recht, hohe Ansprüche in dieser Hinsicht zu stellen. Die Schuld an den Unfällen wird aber in den meisten Fällen nicht an der Qualität der Kapitäne und Steuerleute, sondern in der Unterbemannung zu suchen sein; wenn also persönliche Schuld Personen zu geben ist, so muß sie auf die Reeder, und nicht auf ihre Angestellten geworfen werden!

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zu einem kurzen Lohnkampf, der wiederum einen für die Mannschaft günstigen Ausgang nahm: die vorhin genannten Lohnsätze wurden um fernere 5 Mk., diejenigen der übrigen Chargen in entsprechender Weise verbessert. Vorzüglich wichtig war aber die Erhöhung des Überstundenlohnes von 30 auf 40 Pf. Auch das folgende Jahr (1899) brachte einen bemerkenswerten Erfolg. Der Angriff richtete sich gegen die Willkür in den Musterungsbedingungen. Von dem Rechte, das die alte Seemannsordnung gab, diese ihrem hauptsächlichen Inhalte nach durch „freie Vereinbarung“ festzusetzen, war regelmäßig in einer Richtung Gebrauch gemacht worden, gegen die der unorganisierte Seemann nichts vermocht hatte; er mußte sich den ihm gestellten Bedingungen unterwerfen. Begründet war nun das Verlangen, einheitliche und durchweg bessere Bedingungen zu erreichen, wenn auch gleichzeitig die Aussicht auf allgemeine gesetzliche Regelung bestand, wie sie durch die neue Seemannsordnung seitdem geschehen ist. Es kam hierüber – und dies stellte an sich schon eine Errungenschaft dar – zu einer mündlichen Verhandlung zwischen den Flensburger Reedern einerseits, den Vertretern der Mitgliedschaft andererseits, am 21. Juni 1899, die das Ergebnis hatte, daß die früher erwähnten Vereinbarungen über Berechnung der Heuer, über Nachtwachen, über Ansprüche auf ersparte Heuern, über Kündigungsfristen u.s.w. getroffen wurden. Diese Erfolge und die fortdauernde glänzende Konjunktur ermutigten zu einer neuen Lohnbewegung im Frühjahr 1900. Um diese Zeit hatte sich als Gegenorganisation der „Reederverein für den Bezirk der Handelskammer Flensburg“ gebildet. Diesem wurden die neuen Lohnforderungen vorgelegt, zunächst ohne weiteren Erfolg als mehrfache Korrespondenz, Besprechungen, Ablehnungen. So kam es nochmals zu einem kurzen Ausstande, der am 20. April proklamiert und „mit großer Bravour von der organisierten Seemannschaft Flensburgs durchgefochten wurde“16. Acht Tage später fand eine neue mündliche Verhandlung statt, und hier „gelang es zum erstenmal, feste kontraktliche Abmachungen für die Dauer von zwei Jahren abzuschließen“ (den früher erwähnten Tarifvertrag). Der Reederverein erklärte, vom 15. Mai ab die Gagen für Matrosen und Heizer auf 60, für Leichtmatrosen und Trimmer auf 45 Mk. „auf sämtlichen Flensburger Dampfern“ erhöhen zu wollen. Er verpflichtete sich, bis zum 1. Mai 1902 16

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„Die Heuer- und Arbeitsverhältnisse auf Flensburger Schiffen“ (Flugschrift) S.  6. Der Bericht „über die Tätigkeit des Reeder-Vereins . . . erstattet in der G.-V. vom 16. März 1901“, tut dieses Ausstandes keine Erwähnung, sondern gibt – offenbar als Grund der Verzögerung – an, daß er sich zunächst bei den übrigen Reedereien der Ost- und Nordseehafenplätze über die Höhe der gezahlten Heuern und die die sonstigen Forderungen der Seeleute betreffenden Fragen „orientiert“ habe.

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diese Heuer zu zahlen und in den Musterungsbedingungen, wie solche in Flensburg üblich seien, keine Veränderungen eintreten zu lassen. Dagegen verpflichtete sich der Seemannsverband – der auch durch den Vorsitzenden seiner Zentrale an den Verhandlungen teilnahm –, seinerseits bis zu dem genannten Tage weder mit einer weiteren Lohnforderung noch mit dem Verlangen sonstiger Veränderungen irgend welcher Art in den Musterungsbedingungen an die Flensburger Reeder heranzutreten. Es wurde ferner auch vereinbart, daß bei Heizern der Nachweis einer Fahrzeit von 6 Monaten gefordert werden und genügen, dagegen bei Leichtmatrosen eine solche von 24, bei Matrosen von 36 Monaten bedingt werden solle. Zu diesem wichtigen Vertrage brachte sodann das Jahr 1901 noch die Novelle, betreffend Überstunden und deren Berechnung (s. oben). Am 14. Mai 1902 wurden beide Abmachungen bis zum 31. Dezember 1902 verlängert. „Es wurden mehrere Schriftstücke mit dem Reederverein gewechselt, die dererseits eine prompte Erledigung fanden. Gleichfalls fanden mehrere mündliche Verhandlungen statt, in welchen auf beiden Seiten mit der größten Sachlichkeit über die schwebenden Fragen diskutiert wurde.“ (Rechenschaftsbericht des Seemannsverbandes in Deutschland, Mitgliedschaft Flensburg, für das Geschäftsjahr 1902. S. 11.) Die Mitgliedschaft wuchs in den ersten Jahren ihres Bestehens rasch. So war der Bestand zu Ende des Jahres 1898 470, dagegen ult. 1899 791. Freilich darf nur auf weniger als die Hälfte als regelmäßige Beiträge zahlend gerechnet werden. Zu Ende 1901 wurden als solche „vollzahlenden aktiven Mitglieder“ 306, zu Ende 1902 301 gezählt. Die Krisenjahre haben den Bestand gefährdet, aber nicht erschüttert. Die Fluktuation, ohnehin immer stark, hat zugenommen. Im Jahre 1902 wurden 216 Mitglieder neu aufgenommen. Am Ende des Jahres gab es 920 „eingeschriebene“ Mitglieder, von denen 175 gestrichen wurden, weil sie über zwei Jahre lang mit ihren Beiträgen im Rückstande waren. Von diesen sind die meisten aus dem Gesichtskreise der Mitgliedschaft verschwunden: einige zahlen in anderen Häfen für die dortigen Mitgliedschaften, manche sind in andere Berufe übergegangen, andere fahren auf ausländischen Schiffen u.s.w. Die Mitgliedschaft rühmt sich aber, „über einen guten Stamm alter Mitglieder zu verfügen, die ihren Verpflichtungen seit der Gründung der Organisation voll und ganz nachgekommen sind“. Der Vorsitzende der Mitgliedschaft ist acht Jahre lang als Koch auf Segel- und Dampfschiffen gefahren. Dem Vorstande gehören außer ihm sechs Personen an. Die Vorstandmitglieder des Jahres 1902 waren sämtlich, bis auf einen der Revisoren, einen Hafenarbeiter, alte Matrosen, davon mehrere Familienväter. Da im Laufe des Jahres drei Personen ausschieden, werden drei andere gewählt, ebenfalls Matrosen. Die bei (M)

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und (S) zuversichtlich auftretende Ansicht, daß die Bewegung von den Feuerleuten ausgehe und getragen werde, die ja nicht eigentliche Seeleute und von ihrer Arbeit an Lande her „ausgepichte Sozialdemokraten“ seien, wird durch diese Beobachtung nicht bestätigt. Es ist Grund, zu vermuten, daß auch unter den Mitgliedern die Matrosen stark überwiegen. Eine Auszählung hat bisher nicht stattgefunden. Nach einer Stichprobe, die ich nach dem Einnahmebuch des Vorschußnotenfonds vom 1. Quartal 1903 vorgenommen habe, kamen auf 49 Matrosen, 13 Leichtmatrosen, 4 Jungen nur 24 Heizer und 6 Trimmer. – Unter den Vorstandsmitgliedern sind mehrere, die noch als „Segelmacher“ gefahren haben (und jetzt als solche an Land arbeiten); einer von diesen besitzt von seiner Fahrzeit wie von späterer Dienstzeit her die glänzendsten Zeugnisse, z.B.: „Diensttüchtigkeit sehr gut, Nüchternheit ohne Tadel, Betragen gut.“ Von den Führern der Mitgliedschaft nehmen einige auch an der politischen Arbeiterbewegung als „Zielbewußte“ teil. Jedoch wird man, außer gelegentlichen Hinweisungen in ihren Reden, nur geringe Spuren dieses Zusammenhanges im Leben der Mitgliedschaft selber wahrnehmen können. Am ehesten kann die Teilnahme an der Maifeier dafür gelten, wobei im Jahre 1901 „unser Zentralvorsitzender P. Müller die Festrede übernommen hatte und . . . den äußerst zahlreich Erschienenen in helltönenden Worten das Evangelium der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ verkündete“17. Übrigens habe ich in vielen Hunderten an den Vorsitzenden gerichteter Briefe, d.h. in den Korrespondenzen ganzer Jahre, soweit sie von Bord und von den Häfen aus nach Flensburg gingen, kaum eine andere Andeutung politischer Art gefunden, als daß einzelne Male das Verlangen laut wurde, die „Schleswig-holsteinische Volkszeitung“, das sozialdemokratische Provinzialblatt zu lesen; auch wird im Jahresberichte von 1900 erwähnt, daß „zwölf Kollegen“ auf diese Zeitung abonniert seien. Im laufenden Jahre (1903) wird sich aus Anlaß der Wahl zum Reichstage vermutlich etwas mehr politische Teilnahme zeigen, doch bleibt im allgemeinen der Seemann in dieser Hinsicht ziemlich indifferent; mehr noch, als es auch sonst der durchschnittliche Arbeiter ist. Übrigens ist unter den Führern der Mitgliedschaft vor einigen Jahren ein Mann tätig und beliebt gewesen, der sich als „Liberaler“ bekannt und, wie es scheint, mit seinen Sympathien zu den Nationalsozialen gehalten hat. Er war Heizer und ist später Maschinist geworden. 17

Bericht für das Geschäftsjahr 1901 S. 11.

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Zentralvorsitzender P. Müller: Paul Müller war ein deutscher Matrose, Journalist und Gewerkschaftsfunktionär.

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Die allgemeinen Forderungen der organisierten Seemannschaft, wie sie von hier aus unterstützt werden, konzentrieren sich in dem Verlangen staatlicher Kontrolle des Schiffahrtbetriebes, namentlich in Bezug auf Seetüchtigkeit, Tiefgang und Bemannung. Bekanntlich hat der Reichstag eine Resolution angenommen, die sich diesem Verlangen anschließt. Außerdem bestehen, wie bekannt, noch unerledigte Wünsche in Bezug auf die Seemannsordnung, am lebhaftesten wohl das Verlangen nach Einsetzung von See-Schöffengerichten, deren Rechtsprechung als derjenigen der Gewerbegerichte gleichartig vorgestellt wird. Die lokalen Bestrebungen richten sich nach den jedesmal durch Briefe oder mündliche Mitteilungen vorliegenden Wünschen und Beschwerden, von denen dieser Bericht einige Proben gegeben hat, die das Leben an Bord nach verschiedenen Seiten hin illustrieren sollten. Außerdem erstrebt der Vorstand die Beseitigung der 1 %igen Abgabe für die oben genannte Stiftung oder aber Teilnahme an der Verwaltung dieses Instituts, und es scheint allerdings, daß es nur der Billigkeit entsprechen würde, diese Teilnahme in irgend einer Form zu gewähren. – Die übrigen Wünsche und Forderungen ergeben sich zum größten Teil aus den obigen Mitteilungen über die einzelnen Mißstände, wie sie empfunden und behauptet werden. Verbesserung der Logisverhältnisse wird auf mehreren Schiffen für notwendig gehalten, namentlich daß für gehörige Verkleidung und Schutz vor Nässe gesorgt werde. Bei Neubauten – so ist die Meinung – müsse das Heizerlogis Mittschiff, unweit der Maschine, gelegt werden, damit der Heizer, wenn er schweißtriefend aus dem Heizraume käme, nicht genötigt sei, sich der Kälte und dem Regen auszusetzen, um nur in seine Koje zu gelangen. – Die Einsetzung eines „Meßvorstandes“ gilt als erwünscht, um gelegentlich legitimen Einfluß auf die Proviantverwaltung üben zu können. – Viel wichtiger und dringender ist aber das Verlangen nach einem Heuerbureau mit paritätischer Verwaltung. Im inneren Dienst wird Abschaffung der „Tagelöhnerei“ ver­langt; dies steht in engem Zusammenhang mit der Bemannungsfrage; ebenso die Verringerung der Decklasten mit der Beladungsfrage. Die Neigung und Meinung für Streiks ist auch hier bei einem erheblichen Teile der Mitglieder stärker als bei den Leitern des Verbandes. Diese haben von Zeit zu Zeit einige Mühe, solche Neigungen einzudämmen. So hielten sie nach Ablauf des Tarifvertrages – im Frühjahr 1902 – für geboten, um dessen Verlängerung nicht zu gefährden, auf alle Neuforderungen und Abänderungsanträge zu verzichten. „Die Situation war eine sehr kritische, die Schiffahrt flau, der Stand der Frachten niedrig, die Arbeitslosigkeit unter den Seeleuten Deutschlands keine geringe.“ Gleichwohl bedurfte es einer mit Nachdruck geführten Auseinandersetzung in einer kleinen Broschüre, die im Juli herausgegeben wurde – und der die zitierten Worte entnom-

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men sind –, um die mit diesem negativen Erfolge unzufriedenen Elemente zu beschwichtigen. Im Gewerkschaftskartell ist die Mitgliedschaft durch 2 Delegierte vertreten; der geleistete Beitrag betrug insgesamt im Jahre 1901 42 Mk. Die stattgehabten kleinen Ausstände, wovon oben die Rede war, verursachten nur geringe Kosten und erforderten keine Unterstützung von auswärts. – Die Reeder Flensburgs haben sich zu der Organisation überhaupt und ebenso, wie aus früher Mitgeteiltem hervorgeht, zu den Lohnbewegungen auf einen vernünftigen, geschäftsmäßigen Standpunkt, den der gegebenen Tatsachen und Machtverhältnisse, gestellt; wie wir sehen, mit bis dahin für beide Teile günstigem Erfolge. Wie überall zwischen Unternehmern und Arbeitern, die sozial weit voneinander abstehen, ist ohne Zweifel gegenseitiges Mißtrauen vorhanden. Jedoch ist dies Mißtrauen, soweit meine Beobachtung reicht, stärker auf seiten der Reeder als auf seiten der Seeleute; diese sind, wenn auch in ihren Versammlungen von Profitwut und Rücksichtslosigkeit, ja, von Brutalität der Reeder gesprochen wird, privatim doch im allgemeinen geneigt, an deren guten Willen, ihnen „ihr Recht“ zukommen zu lassen, soweit es das Geschäft zulasse, zu glauben. – Das Verständnis für den Sinn und die Berechtigung der Arbeiterorganisation ist begreiflicherweise geringer bei den Vorgesetzten der Arbeiter, soweit diese nicht etwa – was nur für den kleineren Teil und am ehesten für die Maschinisten zutrifft – selber sich in einem – wenn auch viel schwächeren – Interessengegensatz zur Unternehmung fühlen. Jedoch gibt es, wie mitgeteilt wird, auch einige Kapitäne, die sich zu den Leuten dahin äußern: „Ich kann es euch gar nicht verdenken, daß ihr euch zusammenschließt.“ Im allgemeinen sind jene ungehalten über die Sache, weil sie von den „Sozialdemokraten“ Lockerung der Disziplin und des herkömmlichen guten Verhältnisses an Bord der Schiffe besorgen. Dabei begegnen nun, wie es scheint, sonderbare, aber auch sonst recht häufig vorkommende Mißverständnisse. Weil man von den Sozialdemokraten nichts Gutes erwartet, so schiebt man das Unerfreuliche, was sich zuträgt, auf die Sozialdemokraten. Ist ein Heizer da, der mürrisch oder störrisch oder unverträglich oder dreist und respektlos ist, oder der gar aufrührerische Reden gegen Gott und Obrigkeit führt, – „natürlich, der echte Sozialdemokrat“ wird der wohlmeinende, besonnene Schiffsführer oder Steuermann sagen. In Wirklichkeit ist es wahrscheinlich ein Mensch, der am Lande seinem Vergnügen nachgeht, um Sozialdemokratie oder irgend welche allgemeinen Interessen sich nicht im mindesten bekümmert und für die gewerkschaftliche Tätigkeit völlig unbrauchbar ist, weil er viel zu sehr dem Augenblicke lebt, um für so „unpraktische“ Dinge etwas übrig

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zu haben. Murren und Schimpfen und sich ein Air geben ist wohlfeiler und bequemer. Über die sittlichen Wirkungen der Organisation, wie sie sich in Flensburg darstellen, ist schon einiges gesagt worden. Ich füge dem noch hinzu, daß die Mitgliedschaft auch auf eine vernünftige ökonomische Haltung, daher auf die Sparsamkeit der Leute mit gutem Erfolge hinwirkt. Sie hatte schon im Jahre 1898 die Forderung gestellt, daß jeder Mann auf Verlangen monatliche „Ziehzettel“ bis zum Betrage von 5/6 der Heuer erhalte; diese Forderung ist zwar abgelehnt worden, aber der Gebrauch solcher Ziehzettel, die bisher nur verheirateten Leuten, meist in kleiner Fahrt, gegeben wurden, hat erheblich zugenommen, seitdem in der Mitgliederversammlung vom 28. Februar 1899 der Vorstand sich bereit erklärte, solche in Empfang zu nehmen und zu verwerten; der Vorsitzende ermahnte in dieser Versammlung, wie auch sonst öfters, „die jüngeren ledigen Kollegen, ihr Geld nicht leichtsinnig zu verschwenden“ (Z.S. 1. April 1899). Mitglieder des Verbandes, die auf Wunsch von ihrem Kapitän Ziehzettel erhalten, senden solche an den Vorsitzenden, der sie im Kontor der Reederei einlöst und die Gelder im Interesse jener verwaltet. „Die von der Lokalverwaltung in Verrechnung gehabten Guthaben der Mitglieder beliefen sich (im Jahre 1902) auf ca. 12000 Mk. Ein Teil von diesen Guthaben wurde den Anverwandten übermittelt, ein anderer Teil auf der Sparkasse belegt, während ein dritter Teil von den Kollegen selbst bei der Rückkehr bezw. Abmusterung wieder erhoben wurde.“ (Bericht a.a.O. S.  25.) Der Vorsitzende ist der Meinung, es würde viel mehr gespart werden, wenn allgemein das „Recht auf Ziehzettel“ verliehen würde; mindestens die Hälfte der Leute würde davon Gebrauch machen. Ein Verdienst hat sich ferner die Mitgliedschaft wie der Verband überhaupt durch den energischen Kampf, den sie gegen das Heuerbasunwesen aufgenommen haben, erworben. So geschah vor kurzem von Flensburg aus eine Warnung vor dem deutschen Heuer- und Schlafbas H. D. in Marseille. „Ein dort gemusterter Trimmer weiß zu berichten, daß er für seine Vorschußnote nur etwas Tabak und Seife erhielt. Den übrigen Teil des Vorschusses im Betrage von 20-30 Fr. berechnete dieser Seemannsfreund für seine Bemühungen; für das Einwechseln der Note mußte der Trimmer 5 Fr. zahlen.“ (Z.S.  31. Januar 1903.) In (CO) und in Versammlungen werden auch Fälle berichtet und verhandelt, daß z.B. ein Heuerbas in

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wohlfeiler und bequemer.: Sich ein Air geben = vornehm tun. (Bericht a.a.O. S. 25.): Rechenschafts-Bericht des Seemanns-Verbandes in Deutschland (Mitgliedschaft Flensburg) für das Geschäftsjahr 1902. Flensburg, S. 25.

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Wismar von einem Trimmer sich 10 Mk. für eine „Schanz“ habe geben lassen, und ähnliche Fälle. Zu Ehren des Verbandes soll auch erwähnt werden, daß er seine Toten ehrt und die Hinterbliebenen nach Kräften durch Ausgabe von Sammellisten u.s.w. unterstützt. Im letzten Jahre wurde für Flensburg ein besonderer „Unterstützungsfonds“ für solche Zwecke begründet und im Bureau ein Sammelbecken „in Bootsform“ ausgestellt; dieser Fonds hatte in diesem Jahre 278,25 Mk. Einnahmen und gewährte an direkten Unterstützungen 170 Mk., außerdem zu Begräbnissen 80 Mk., einschließlich Ehrenspenden (man ist bekanntlich in Arbeiterkreisen sehr für schöne Totenkränze!). Das Hauptbudget der Mitgliedschaft balancierte im Jahre 1902 mit 4599,49 Mk. Einnahmen und 4236,00 Mk. Ausgaben, woraus sich ein Kassenbestand am 1. Januar 1903 von 363,49 Mk. ergab. Der Vorsitzende erhält eine Besoldung von 20 Mk. wöchentlich. An die Zentralkasse zu Hamburg wurden – einschließlich der Abonnements für das „Fachorgan“ – eingesandt 2149,82 Mk. Eintrittsgelder (A), und Beiträge (B) wurden erhoben: 1900: 1901: 1902:

(A) 237 mit 219 “ 216 “

Mk. 355,50, 328,50, 324,00,

(B) 3299 mit 3672 “ 3615 “

Mk. 2474,25 3121,50 3586,50

Die Hälfte der Eintrittsgelder und Beiträge wurde an die Zentrale gesandt.

Nebenhäfen von Flensburg (im ehem. Herzogtum Schleswig). 25

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1. Apenrade. Wenn auch das Geschäft der Reederei keineswegs bloß durch Tradition an bedeutende Häfen gebunden bleibt, so gibt doch das unternehmende Kapital sein abstraktes Wesen auch in diesem Gebiete dadurch kund, daß sich in manchen Zweigen die Frachtdampferfahrt völlig von dem Zusammenhange mit dem Heimathafen der Schiffe ablöst und – wenn man es mit starker Übertreibung ausdrücken will – ihre Direktiven eben so gut vom Monde her wie von dem Bureau eines bestimmten Hafenplatzes empfangen könnte. So hat Apenrade mit seinem schönen, geschützten Hafen eine bedeutende Zahl von großen Schiffen, die mit diesem Hafen nichts weiter zu tun haben, ihn sehr selten berühren und für die einheimische Schiffsmannschaft nicht oder doch nur sehr ausnahmsweise und vorübergehend in Betracht kommen. Es sind die Schiffe der Jebsenschen Reederei, die sämtlich in chinesischer Küstenfahrt beschäftigt sind, und von denen dasselbe gilt, was über ebensolche Flensburger

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

Schiffe gesagt wurde: 14 an der Zahl, 600 bis 1800 R.-T. fassend, außerdem 4 im Bau, die von ihren Werftplätzen (Hamburg und Lübeck) aus und mit einheimischer Mannschaft hinausgehen, diese aber sogleich nach Ankunft abmustern. Es gibt aber außerdem seit wenigen Jahren eine zweite Reederei in Apenrade (Hansen & Colster), die bis jetzt 3 Schiffe von je rund 1000 R.-T. netto besitzt und diese nach denselben Regeln wie die Mehrzahl der Flensburger fahren läßt. Die Reederei anerkennt auch die Flensburger Tarifverträge und mustert im Inlande zu diesen Bedingungen. Sie mustert aber auch oft im Auslande an und dann wohl meistens unter Bedingungen, die für sie vorteilhafter sind. Über die Zustände der Mannschaften ist mir nichts Besonderes bekannt geworden, außer daß einige der Leute zur Flensburger Mitgliedschaft des S-V gehören, und daß von diesen, ebenso wie sonst oft, Klagen über Vorenthaltung von Überstundenlöhnen lautgeworden sind. 2. Schleswig. Auch in dieser alten Stadt, die landeinwärts, an dem Westende des gegen 40 km langen Meerbusens der Schlei, gelegen ist und von altersher bedeutende Fischerei, aber so gut wie keine Schiffahrt getrieben hat, ist aus einem Kohlenimportgeschäft (H. C. Horn) eine stattliche moderne Reederei entstanden, die 14 große Dampfschiffe besitzt (von den 13, die Ende 1901 vorhanden waren, hatte das kleinste 368, das größte 1530 ½ R.-T. netto Raumgehalt) und außerdem sich vor kurzem mit 7 solchen und 4 Neubauten nach Lübeck verzweigt hat. Die Reederei ist dem Flensburger Reederverein angeschlossen; auch für sie gelten also dieselben Bedingungen, wie sie auch sämtliche Schiffe gleichfalls in wilder Fahrt beschäftigt hat. Auch die Erträge dieser Schiffe – und das gilt ebenso für die Apenrader – dürften denen der Flensburger Schiffe und zwar der gewinnreichsten und neuesten gleichkommen. So erzielten im Jahre 1901 8 von jenen einen Reingewinn von durchschnittlich über 21 %, wovon durchschnittlich fast 12 % zur Verteilung kamen, während von dem Rest teils die Reservefonds bedacht, teils Abschreibungen gemacht wurden. Von 13 Schiffen der Linie liegen mir die Ergebnisse für 1902 vor; 2 von diesen haben keinen Reingewinn erzielt, 1 neues ist nur 3 Monate in Fahrt gewesen und hat 3 % Abschlagsdividende verteilt, die übrigen 10 gewannen durchschnittlich 9,65 % ihres Kapitals, wovon 6,2 % zur Verteilung gelangten.

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(Hansen & Colster): Tatsächlich „Hansen & Closter“. (H. C. Horn): Die Firma H. C. Horn, 1864 als Zündholzfabrik gegründet, eröffnete 1879 einen Reedereibetrieb in Schleswig, der 1921 nach Flensburg und 1933 nach Hamburg verlegt wurde.

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2. Schleswig

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Über die Zustände der Seeleute auf den Schleswiger Schiffen liegen mir Notizen vor, die sich auf ihrer 7 beziehen. 2 derselben sind an dem FRC beteiligt, alle 7 kommen häufig in den Korrespondenzen der Verbandsmitglieder vor. Aus beiden Quellen ergibt sich ein etwas ungünstigeres Bild als das durchschnittliche der Flensburger Schiffe, fast in allen Beziehungen. Ich konstatiere dies einfach, ohne untersuchen zu können, ob dies an zufälligen und vorübergehenden oder an wesentlichen und bleibenden Ursachen gelegen hat. Was der Mitteilung wert schien, gebe ich in der Reihenfolge des Schemas wieder.

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Zu B wird geklagt, daß gerade diese Reederei öfter Heizer annehme, die keine Fahrzeit von 6 Monaten, wie verabredet, aufzuweisen haben, und daß solche gelegentlich in fremden Häfen zu 50 Mk. Monatsheuer angemustert werden; ebenso wird noch 1902 berichtet, daß ein Leichtmatrose in Holland zu 40 Mk. angemustert sei.

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Zu C tritt die gewöhnliche Klage auf, d.h. daß „furchtbar an Stunden geknappt werde“, d.h. daß in Betreff der Berechnung von Überstunden vielfach Differenzen vorkommen; z.B. daß einmal die Freiwache des Nachts die Trossen herausholen mußte, und daß dies für Notarbeit erklärt wurde. Ebenso daß der Gründonnerstag nicht anerkannt wurde. Ja, es wird behauptet, daß im Widerspruch zum Tarifvertrag mehrfach die Stunde mit nur 30 anstatt 40 Pf. bezahlt worden sei. Zu E. Die Frage des FRC, ob das Schiff gut ausgerüstet und gut verproviantiert, sonst fast ausnahmslos und auch von dem anderen Schleswiger Schiff bejaht, wird von dem einen Schiffe schlechtweg mit „Nein“ beantwortet; in einer zusätzlichen Bemerkung an anderer Stelle wird über „Hartbrod mit Würmern“ geseufzt. Sonst sind die Beschwerden über Kostverhältnisse nicht von erheblicher Bedeutung. Als besonders unerfreulich wird einmal hervorgehoben, daß man selbst in englischen Häfen mit „Kabelgarn“ – einem billigen präservierten Fleisch in seemännischem Ausdruck – gefüttert worden sei, und daß selbst am 2. Ostertage der Koch nichts Besseres zum Frühstück und Mittagessen zu bieten gehabt habe. „Bei dieser miserabeln Kost mußten wir Tag und Nacht herumexercieren.“ Eine Beschwerde geht an das Kontor über englische, sehr schlechte Margarine. Und doch liegt von demselben Schiff ein wenige Monate früher geschriebener Brief vor, worin es heißt: „Essen und Trinken ist sonst tadellos hier,“ und ein anderer mit dem Satze: „Bis jetzt noch über nichts zu klagen,“ sodann wieder ein späterer, der sagt: „Dem Be-

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

richte nach (d.h. offenbar: nach dem Zeitpunkte des früheren Berichtes) ist es hier bedeutend besser geworden.“ F. Über Logisverhältnisse lauten beide Antworten in FRC ungünstig. Die eine generell „sehr schlecht“; dann werden sämtliche Eingänge – zum Kabelgatt, zum Heiz- und zum Proviantraum – ebenfalls als sehr schlecht bezeichnet. Vom anderen Schiff heißt es: „die Logis sehr klein, Ventilation ungenügend, sehr dunstig wegen Nähe vom Klosett, Lampenraum und Farbenspind“; sodann „Falltür zum Kabelgatt ungenügend, sonst gut“. In den (CO) berichtet ein drittes Schiff: „Was die Logis anbetrifft, das ist miserabel, das Heizerlogis hat keine Klappe über das Ofenlochrohr, und die Fenster sind ebenfalls nicht dicht, nicht viel besser sieht es bei den Matrosen aus, da kommt das Wasser durch die Fenster und noch viel mehr durch das Deck selber, so daß alles voll Wasser steht, und Speigats (d.i. Löcher zum Ablaufen des Wassers) hat weder das eine noch das andere Logis, und dazu sind die Logis noch unter Deck, das Kloset, welches sich auch da befindet, hat zwar ein Fenster, aber das Glas ist darin nach allen Himmelsrichtungen gesprungen und eine Blände ist da nicht vor: infolgedessen kann im Augenblick alles unter Wasser sein, wenn das Glas ausfällt.“ Endlich wird geklagt, daß durch Undichtheit der Ankerklüsen (gedeckte Behälter, wo die Ankerketten hindurchgehen) Unrat und Feuchtigkeit ins Matrosenlogis dringe. Wegen der Mängel dieses Schiffes geschah vor kurzem eine Vorstellung bei der Reederei, worauf diese, die auch sonst für entgegenkommend gilt, versprochen hat, die Mängel untersuchen zu lassen. G. Auch die Krankenpflege wird in dem einen Fragebogen „sehr schlecht“ genannt; in dem anderen die Medizinkiste als „nur der Notdurft nach ausgerüstet“. Auf die Fragen nach Sicherungen und Rettungswesen wird im allgemeinen teils günstig, teils ohne besondere Ausstellungen geantwortet; nur werden „Raumleitern“ einmal als nicht vorhanden, das andere Mal als nur „lose“ bezeichnet, und das laufende Gut wird auf dem einen Schiffe sehr mangelhaft genannt, weil das Tauwerk zu dick für die Blöcke sei. Auch von einem anderen Schiffe heißt es, die Ausrüstung sei sehr mangelhaft: z.B. seien die Taljenläufer (Flaschenzugtaue) von den Ladebäumen „total verrottet“. K. Auch über Behandlung kommen die gewöhnlichen Klagen in Briefen vor. Ein Briefsteller schreibt über Roheiten des 2. Steuermanns gegen einen Leichtmatrosen und bemerkt: „denn ich meine, wenn ein Große Kerl

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3.  Schleswiger Nebenhäfen

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ein 17 jährigen Jungen verhauen thut, das ist kein Kunst.“ Anderseits kommen auch zufriedene Äußerungen vor.

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M. Über Deckslasten sagt das eine Schiff: „noch nicht gehabt“; das andere: Holz durchschnittlich 8 Fuß über die Reeling; doch sei Notreeling vorhanden, auch Strecktaue seien gezogen. Einmal wird brieflich gerühmt, daß nur eine Deckslast von 3 Fuß Höhe, nicht einmal so hoch wie die Reeling, vorhanden sei, und daß „man auch auf den Schleswiger Schiffen dem Englischen Gesetzt beachtet“. Hingegen klagt man von einem Bruderschiff gerade über „lebensgefährliche Deckslast bis gut zur obersten Kommandobrücke“; es seien keine Planken gelegt und keine Strecktaue gezogen. Diese Nachricht wurde durch ein neueres G. bestätigt: eins der Schleswiger Schiffe war auf der Weser an Grund geraten: „das hierbei erfolgte Springen des Hochdruckzylinderdeckels ist hervorgerufen durch das übermäßige Überholen des Schiffes, als es den Grund berührte . . .; das übermäßige Schieffallen des Schiffes ist wiederum durch die 12’4“ hohe und nasse Decksladung hervorgerufen; diese hatte sich mehrfach verschoben und das Schiff entsprechend Schlagseite bekommen.“ Entscheidungen des Oberseeamts und der Seeämter des D.R. XIV, S.  458. – Ungenügende Bemannung wird auch hier mehrfach behauptet, z.B. auf einem Schiffe von über 1000 R.-T. nur solche mit 3 Matrosen und 2 Leichtmatrosen. 3. Die Anzahl sämtlicher in Schleswiger Nebenhäfen – das sind außer Apenrade und Schleswig: Eckernförde, Arnis, Kappeln, Maasholm, Holnis, Dalsgaard, Alnoor, Ekensund, Höruphaff, Sonderburg, Norburg, Kallö, Aarösund, Insel Aarö, Hadersleben – am 1. Januar 1900 vorhandenen Segelschiffe, soweit diese über 50 cbm = 17,65 R.-T. BruttoRaumgehalt hatten, also als Seeschiffe registriert waren, betrug 75 mit zusammen 2532 R.-T. brutto und einer regelmäßigen Besatzung von 162 Mann; es waren also 12 darunter, die mehr als einen Mann außer dem Schiffer an Bord hatten. Die Häfen, deren Namen hervorgehoben sind, besaßen auch Dampfschiffe, nämlich Kappeln 2 mit 195 und Sonderburg 8 mit 1159 R.-T. brutto. – Die Segelschiffe sind zum größeren Teil 1mastige Jachten, zum kleineren 2mastige Galeassen und einige Schoner. Dreimastige Segelschiffe kommen nicht mehr vor. Jene betreiben überwiegend kleine Küstenfahrt; einige fahren aber auch nach den skandinavischen Häfen. Als typisch dürfen die Verhältnisse eines dieser kleinen Schifferplätze gelten, über den ich mich etwas genauer unterrichtet habe. Es ist der Flecken Arnis an der Schlei (500 Einw., 1845 noch über 800). Er betrieb in der zweiten Hälfte des 18. und in der ersten des 19. Jahrhun-

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

derts einen für damalige Zeit lebhaften Export von landwirtschaftlichen Produkten aus der fruchtbaren Landschaft Angeln; so wurden noch 1821 nach Kopenhagen ausgeführt: 1394 ¼ Tonnen Butter, 23784 Stück Käse und 58091 Mettwürste, die zum großen Teil im Flecken selbst hergestellt waren. Er besaß 1854 noch 50 Schiffe, die zusammen freilich nur ca. 380 Kommerzlasten, also ungefähr die doppelte Zahl R.-T. netto maßen. Von diesem Schiffergewerbe hat sich noch ein Rest erhalten, der heute durch 1 Schoner, 5 Galeassen und 6 Jachten repräsentiert wird. Jeder Schiffer ist Eigentümer seines Schiffes; früher besaß wohl auch einer 2 oder mehr Schiffe, die er dann von seinen Söhnen führen ließ. Aber die Söhne haben heute keine Meinung mehr dafür; sie gehen lieber nach Hamburg und bilden sich zu Offizieren der Hamburg-Amerika-Linie oder der KosmosLinie aus. In ihrem reduzierten Zustande ist aber die Schiffahrt von Arnis noch einträglich. Der Schiffer treibt auch den Handel für eigene Rechnung. Die Ausfuhr von Butter nach Kopenhagen lohnte sich bisher, weil in Angeln noch die von Feinschmeckern immer vorgezogene und besser haltbare Büttenbutter produziert wurde, während Dänemark längst die Zentrifugenmolkerei verallgemeinert hat; mehr und mehr verschwindet aber auch in Schleswig-Holstein die ältere Technik völlig, und mit ihr wird auch dieser Rest primitiven Handelsverkehrs aufhören. Noch fahren auch mehrere Arniser Schiffe nach Stockholm und Christiania, dies ist großenteils Frachtfahrt für fremde Rechnung. Sie führen z.B. rundes Holz nach Norwegen und bringen Bretter zurück. Es gibt in Arnis noch eine 1775 gestiftete „Schiffergesellschaft“, daneben sei 1798 eine „Matrosengesellschaft“; diese letztere hat noch 2 mehr als 70jährige Mitglieder, und mehrere Witwen ziehen eine Pension von ihr. – Die Arniser Schiffer sind für kleinbürgerliche Ansprüche recht wohlhabende Leute und ihr Geschäft ist in seiner jetzigen Ausdehnung noch einträglich. Sie sind aber überzeugt, daß es mit ihnen zu Ende gehe. Über die Konkurrenz der Leichterfahrzeuge (Schlepper) hörte ich hier zwar nicht klagen, aber es gilt als feststehend, daß die jüngere Generation sich zu dieser Art von Schiffahrt nicht mehr hergibt; nur die Liebe zur Heimat und zur Freiheit bringt den Einen oder Anderen wieder dazu. Damit ist freilich der Untergang noch nicht gewiß, aber doch recht wahrscheinlich gemacht, da das Gewerbe auf familienhafter und lokaler Tradition beruht hat. Die erheblicheren Nebenhäfen haben ein eigenes Seemannsamt. Über die stattgehabten An- und Abmusterungen der Jahre 1901 und 1902 gibt

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Kommerzlasten: Altes norddeutsches und skandinavisches Handelsgewicht, das die Grundlage für die Schiffsvermessung und die Erhebung des Tonnengeldes war.

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3.  Schleswiger Nebenhäfen

nachfolgende Tabelle18 Auskunft (die obere Zahl gilt für das erste, die untere für das zweite Jahr): Tab. 3.

Schleswig ............... Eckernförde ........... 10

Arnis ...................... Kappeln .................

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Eckensund ............. Sonderburg ............ Apenrade ...............

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Hadersleben ...........

4 6 1 2 16 14 6 5 40 39 8 12 7 8 8 16

20 32 2 3 27 20 7 5 48 40 13 27 36 37 10 21

28 44 9 7 6 6 4 10 28 24 80 83 63 39 14 7

24 24 14 8 18 17 11 13 46 61 60 60 28 26 25 22

abgemusterten Seeleute

Abmusterungen

nachgemusterten Seeleute

Nachmusterungen 15 19 7 7 6 6 3 7 18 23 50 52 20 14 14 7

50 82 18 11 27 23 14 13 58 82 103 103 98 93 32 30

Es ersieht sich auch hieraus, daß alle diese Häfen zusammen nur noch für einen sehr kleinen Teil des seefahrenden Volkes Bedeutung haben, und daß selbst diejenigen, die eine beträchtliche neuere Reederei besitzen, für die Ausbildung von Seeleuten sehr wenig leisten können. – Die Zustände in Bezug auf Logis und Kost sind auf diesen Schiffen äußerst bescheiden, aber sie sind gemeinschaftlich, wenn auch die „Kajüte“ einen etwas besseren Schlafraum bietet als der Verschlag des Bestmannes und Jungen. Daß auch diese Schiffe nicht selten überladen werden – namentlich mit Steinen, deren Gewicht durch eindringendes Wasser stark vermehrt wird19 18 19

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15 20 5 4 12 6 2 4 15 18 38 37 19 17 10 14

angemusterten Seeleute

Seemannsamt

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neu ausgefertigten Seefahrtsbücher Anmusterungen

Anzahl der

Deren Inhalt ich einer geneigten Mitteilung des Herrn Regierungspräsidenten verdanke. Wenn ein solches Fahrzeug ein kleines Leck bekommt, so dringt das Wasser sofort in die Steine und ist nie wieder auszupumpen. Man hat gefunden, daß das Gewicht eines trockenen Steines von 25 x 12 x 6,5 cm durch 10 Min. langes Liegen im Wasser sich von 3,550 auf 4,200 kg, also um 0,650 kg = 18,3 % vermehrte. (S). Es folgt daraus, wie große Vorsicht bei solcher Ladung geboten ist.

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

– darf als feststehend gelten. Daß es auch mit der Wache und mit der Navigierung zuweilen recht flau bestellt ist, lehrt folgender Fall (G): Seeamt Flensburg, 15. Dez. 1902. Zu schwache Bemannung und grobes Vergehen des Schiffers. Am 28. August 1902 ist die Eckensunder Galeasse „Anna Maria“ bei Bornholm gestrandet. Während der letzten Nacht herrschte stürmisches Wetter. Nachdem das Wetter ruhiger geworden, ging der Bestmann zur Koje; der Schiffer und Eigentümer Hans P. aus Broacker zog sich nach der Kajüte zurück und rauchte seine Pfeife. Die Führung des Schiffes überließ er, trotzdem es Nacht war, dem 14jährigen Schiffskoch Sch. Gegen 3 Uhr stieß der Segler auf Grund; er ist total verloren gegangen. Der als Zeuge erschienen P. erklärt den Schiffskoch als einen zuverlässigen Jungen, den er auch stets im Auge behalten habe. Der Reichskommissar bedauert, daß der Junge nicht aufzufinden sei. Die Strandung ist durch die grobe Pflichtverletzung des Schiffers P. verschuldet worden. Das Seeamt stimmt diesen Ausführungen zu und erklärt gleichfalls die Handlungsweise des P. für ein grobes Vergehen.

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II. Kiel A. Das Verzeichnis der Kieler Seeschiffe – wozu auch die der Orte Ellerbek, Wellingdorf und Neumünster gerechnet werden – vom Anfang Januar 1903 zählt 105 Nummern, davon 31 Schraubendampfer, die als Schlepp- und Föhrdedampfer dienen, 12 kleine Segelschiffe, die bis auf 1 ihren Kapitänen gehören, das Südpolarschiff „Gauß“ des Reiches, 15 Dampfer für den Passagier- und Frachtverkehr im Hafen, je 2, die der Howaldtschen und der Kruppschen Werft gehören und deren Zwecken dienen; bleiben 43 größere Kauffahrteischiffe, darunter 2 Segelschiffe (Jacht-Schoner), 19 eiserne und 22 stählerne Schraubendampfer. Nur die Hafendampfschiffahrt wird von einer Aktiengesellschaft betrieben, deren Vorstand zugleich der größte Korrespondentreeder ist; die übrigen Reedereien sind Partenreedereien. Die eine Firma führt nur in chinesischer, wohl auch nordamerikanischer Küstenfahrt ihre 7 Schiffe und bemannt diese mit Chinesen, Malayen, Negern als Matrosen und Heizern. Die Gewinne der Kieler Hafendampfschiffahrt sind, an den durchschnittlich verteilten Dividenden gemessen nicht bedeutend; dieser Durchschnitt betrug für 1891–1900 nur 4,55 %. Die Erträge der übrigen Reedereien können hingegen als glänzend gelten. Namentlich haben in den Jahren 1900/01 die Truppentransporte und was daran hing, außer-

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ordentliche Gewinne gebracht; nicht nur direkt, sondern auch indirekt, da eine allgemeine Knappheit der Tonnage eintrat. So konnte eine Kieler Reederei für 1900 auf ein Kapital von 2298000 Mk. insgesamt 302140 Mk. = 13,149 % verteilen. Das Jahr 1901 ist freilich weniger günstig, 1902 sehr ungünstig gewesen. Die Ziffern der beim Kieler Seemannsamt a) 1901, b) 1902:

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a) b)

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II. Kiel

neu ausgefertigten SeefahrtsBücher

Anmusterungen

angemusterten Seeleute

Nachmusterungen

nachgemusterten Seeleute

Abmusterungen

abgemusterten Seeleute

411 423

57 82

486 489

387 447

1038 1128

479 545

1502 1504

sind

Über die Verteilung nach Chargen liegt eine im MS vervielfältigte „Statistik des Seemannsamtes in Kiel für das Jahr 1898“ vor; die Verhältnisse bleiben vermutlich in diesen Jahren annähernd die gleichen. Danach waren von 1027 angemusterten Seeleuten 236 164 269 107

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Matrosen, einschließlich Zimmerleute und Bootsleute, Leichtmatrosen und Jungen20, Heizer und Trimmer, Köche und Stewards.

Der Rest (251) sind Offiziere, einschließlich „Bestmänner“ (Altmatrosen auf Seglern), nämlich 91 Steuerleute und Bestmänner, 107 Maschinisten und 53 Maschinistenaspiranten. – Von 929 abgemusterten Leuten waren 204 Matrosen etc., 162 Leichtmatrosen, 247 Heizer und Trimmer, 85 Köche und Stewards.

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Dazu 81 Steuerleute, 105 Maschinisten, 43 Assistenten. Das Verhältnis von Decks- und Maschinenpersonal der unteren Chargen war demnach bei den Anmusterungen 400 : 269, bei den Abmusterungen 368 : 247, beide Mal annähernd 1,5 : 1. Die Heuersätze halten sich durchweg ein wenig niedriger als in Flensburg; doch ist in den letzten zwei Jahren 60 Mk. für Matrosen und Heizer auch in Kiel vorherrschend gewesen; nur die Reederei, welche die direk20

Hier sind 2, die als „sonstige Chargen“ bezeichnet werden, eingerechnet; ebenso bei den Abmusterungen.

232

Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

ten Linien, darunter auch die der „subventionierten“ Post- und Passagierdampfer, beherrscht, pflegt um 2-5 Mk. darunter zu bleiben – wenigstens ergibt sich dies, indem 36 Mk. nach der Regel als Kostgeld gerechnet wird. Die Heuer der Leichtmatrosen wird offiziell auf 35-40 Mk. angegeben, doch kommt auch der Heuersatz von 45 Mk. vor. Im übrigen sind nennenswerte Unterschiede von Flensburg nicht vorhanden. Auf den Passagierdampfern wird auch hier mit Selbstbeköstigung geheuert, und zwar zu 90 Mk., dazu kommt 1 Mk. Kleidergeld. Das Jahreseinkommen der Vollmatrosen wird auf 900-1000 Mk., das des Heizers auf über 1000 Mk. geschätzt, vorausgesetzt, daß die Leute das ganze Jahr hindurch fahren. Die Beschäftigung ist hier aber zum großen Teil außerordentlich unregelmäßig. Tüchtige einheimische Leute meiden die Kieler Dampfer, teils weil sie die kurzen direkten Fahrten mit ihrer hastigen Arbeit Tag und Nacht nicht lieben, teils weil sie schon zu oft minder fähige „Kollegen“ antreffen, namentlich aber wegen der Logisverhältnisse (s.u.). – Auf den Föhrdedampfern beziehen die Leute Tagelohn, und zwar jetzt 4 Mk. Tarifverträge sind hier nicht geschlossen. Auf Hilfs- und Bergelohn wurde nach den bisher herrschenden freien Vereinbarungen die Mannschaft regelmäßig genötigt, zu Gunsten der Reederei zu verzichten. C. Das Wache-um-Wache-System war bisher noch nicht allgemein eingeführt; noch im Jahre 1900 stellten die organisierten Seeleute die Forderung, daß das Aufbleiben der Freiwache bis 10 Uhr morgens und 3 Uhr nachmittags in Wegfall kommen möge. Der Überstundenlohn beträgt auch hier 40 Pf., jedoch zahlt die oben bezeichnete Reederei nur 30 Pf. in europäischer Fahrt. Überstunden kommen fast nur in Häfen in Frage; daß die Freiwache auf See Überstundenlohn erhält, kommt selten vor. Der Begriff der Notarbeit pflegt in solchen Fällen zur Anwendung zu kommen. – Daß sich auf Kieler Schiffen – wie anderswo – schwere Übelstände beim Wachewechsel der Offiziere herausgestellt haben, dürfte aus einer Verhandlung hervorgehen, die am 23. Februar 1903 im Deutschen Nautischen Vereinstage stattgefunden hat: im Kieler Nautischen Verein hatte man nämlich sich darüber geeinigt, daß diese Angelegenheit, nachdem sie lange in nautischen Kreisen (besonders nach der Strandung des Bremer Dampfers „Helios“ 22. April 1901) erörtert worden, auch zu einer öffentlichen Diskussion auf dem Vereinstage gestellt werden müsse, und so gelangte durch den Syndikus der Kieler Handelskammer, Dr. Boysen, nachdem privatim auch Vertreter des Verbandes deutscher Schiffsmaschinisten sich dahin ausgesprochen, der Antrag an den Vereinstag: „Der wachthabende Schiffsoffizier darf seinen Kommandostand ohne Ablösung nicht verlassen. Der wachthabende Schiffsoffizier hat die von

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II. Kiel

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seinem Vorgänger im Bereich seiner Tätigkeit mitzuteilenden wichtigen Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen.“

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Dieser Antrag hatte nur den Zweck, „eine Klärung herbeizuführen“ (man erkennt nicht recht, was denn als Folge gedacht war, wenn er zum Beschluß erhoben wäre, anstatt, wie es geschah, mit 23 gegen 18 Stimmen abgelehnt zu werden). Es lag aber auch ein schärferer und klarerer Antrag des Vereins deutscher Kapitäne und Offiziere der Handelsmarine zu Hamburg vor, dahingehend, „die Reichsregierung zu ersuchen, in die Ausführungsbestimmungen der S-O aufzunehmen, daß die Kapitäne dafür verantwortlich gemacht werden, daß an Bord ein geordneter Wachtdienst eingeführt ist, daß der Wachthabende nicht durch die Übertragung anderweitiger Arbeiten an der ordnungsmäßigen Übernahme oder Ausübung des Wachtdienstes gehindert wird, und ferner daß der Wachthabende so lange verantwortlich bleibt, bis er in formeller Weise die Wache seinem Nachfolger übergeben hat“. Schon im Wortlaute dieses Antrages stoßen wir auf den Punkt, der für unsere Aufgabe, die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter darzustellen, die Offizierswachen von ganz besonderer Bedeutung sein läßt. Es ist dies der eigentliche wunde Punkt der modernen kapitalistischen Schiffahrt, die ungenügende Bemannung, zumal wenn die Qualität der Mannschaft in Betracht genommen wird. Obgleich der Hamburger Antrag mit allen gegen 3 Stimmen fiel, so wurde doch auch in der Besprechung von den Gegnern anerkannt, daß gegen den Offizierwachtdienst „in arger Weise gesündigt“ werde; und wenn ein Redner meinte, der Grund liege entweder in dem geringen Grad der Gewissenhaftigkeit der Wachthabenden oder in einer „gewissenlosen Schiffsleitung, welche es für nötig erachtet, daß der Wachthabende sich außer seinem Wachtdienst nebenbei oder auch in der Hauptsache mit dem Schiffsdienst an Deck oder in den Schiffsräumen beschäftigt, ohne daß die Kommandobrücke durch einen andern Offizier besetzt wird“, – so hätte ihm entgegengehalten werden sollen, daß zur Ehre seines Standes eine solche Gewissenlosigkeit für selten gehalten werden dürfe, für recht oft vorkommend aber die liebe Not, der das, was „für nötig erachtet“ wird, auch wirklich nötig ist. Ein Navigationslehrer, der dem Antrag gar nicht geneigt ist, und der dem Vereinstag zuruft: „Vergessen Sie doch  2



zur Kenntnis zu nehmen.“: Über das Verfahren vor dem Seeamt zu Bremerhaven wird in der Zeitschrift „Hansa“ berichtet: C. Schroedter (Hg.), Die Strandung des Dampfers „Helios“. In: „Hansa“, Deutsche Nautische Zeitschrift. No. 38. 21. September 1901, 38. Jahrgang, Hamburg 1901, S. 452f. Dr. L. Boysen war von 1890–1917 Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer zu Kiel.

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nimmer, meine Herren, daß Zweck der Schiffahrt ist, Geld zu verdienen!“ (was von den Anwesenden schwerlich einer vergessen hatte), spricht das Geheimnis mit den Worten aus: „Die ,ordentliche Übergabe der Wache‘ als Antrag ist nur der Deckmantel für möglichst ungestörtes Wachegehen“ . . . . „denn mittelgroße Segler und Dampfer können sich nicht so viel Schiffsoffiziere leisten, daß auf jeder Wache einer nichts „täte als nur Wache gehen“. Die Sache ist die, daß der Steuermann, insbesondere der zweite, wo ein solcher an Bord ist, regelmäßig zugleich Werkführer und Vorarbeiter, ja, oft nichts als gewöhnlicher Schiffsarbeiter sein muß, weil das Matrosenpersonal weder der Menge noch der Leistungsfähigkeit nach genügt21. Wir werden auch für Kiel sub (M) gerichtliche Feststellungen aus neuester Zeit anführen, die diese Tatsache erhärten. D. Die Anheuerung geschieht jetzt nur durch einen Heuerbas, der noch neuerdings auf Eingabe die Erlaubnis erhalten hat, Bier zu schenken. Die Heuergebühren, durch polizeiliche Taxe festgesetzt, sind im Vergleich mit Flensburg, wo das Geschäft doch auch noch für einträglich gilt, sehr hoch; der Bas ist berechtigt, 6 Mk. von Matrosen und Heizern für eine Chance zu fordern, und bleibt mindestens nicht darunter. Diese Vermittlungsgebühr hatte bekanntlich bis zum 1. April 1903 der Seemann allein zu tragen. Früher, wo es mehrere Heuerbase und keine Taxe gab, nahm erst recht jeder, „was er kriegen konnte“. Der jetzt einzige Heuerbas ist zugleich Schlafbas. Eine Zeitlang ist ihm verboten gewesen, Logisgäste zu haben. Unter den Seeleuten wird ihm auch jetzt zum Vorwurf gemacht, daß er diese vorziehe, auch daß er sich in der Penne beliebige Handwerksburschen heranhole, dagegen briefliche Anfragen wirklicher Seeleute gelegentlich unbeantwortet lasse. Ebenso wird behauptet, daß er mit einem anderen Schlafbas und mit einem Ausrüstungshändler in enger Verbindung stehe, die namentlich unbefahrenen, minderwertigen Leuten zu gute komme. Ein Bruder des Bases hat den Effektentransport, den die Flensburger Organisation einem der Ihrigen zugewiesen hatte. – Wie weit die Klagen begründet, übertrieben oder unrichtig sind, habe ich nicht festzustellen vermocht – „relata refero“. Von (M) und (S) wird bestätigt, daß es „früher“ in Kiel arg genug mit dem Heuerbaswesen gewesen sei; es scheint aber, daß „früher“ auch der jetzt einzige Agent schon tätig 21

„Das eigenartige dienstliche Verhältnis des 2. Steuermanns zum Kapitän und zum 1. Steuermann ist solchen Seeleuten, die auf Schiffen mit geringer Besatzung fahren oder gefahren haben, wohlbekannt.“ Hansa, Deutsche nautische Zeitschrift 1901. Nr. 38.

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„relata refero“: (lat.), „ich erzähle das Erzählte wieder“ (ohne die Wahrheit zu verbürgen).

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gewesen ist. – Über dessen persönlichen Ruf ist nichts zu sagen, als daß ältere Seeleute sich daran stoßen, daß er selber ein unbefahrener Mann sei und durch seinen früheren Beruf (den des Hausknechtes) nicht einmal der Schiffahrt nahestehe. Vor 5-7 Jahren, als sehr viele Klagen lautgeworden waren, versuchten die Reedereien, das Heuerwesen durch einen ehemaligen Marineunteroffizier, der für „unbedingt zuverlässig“ galt, zu zen­ tralisieren. Indessen hielt sich nur 1 Reederei dauernd an diesen, so daß er der Konkurrenz doch wieder weichen mußte; er behauptet, daß diese sich unlauterer Mittel bedient habe. Zwischen den Reedereien soll ziemlich ausgesprochene Eifersucht herrschen, die ein einheitliches Vorgehen, auch in Bezug auf das Heuerwesen, bisher gehemmt habe. – Mit Nachdruck wird von (M) hervorgehoben, daß das Vorschußwesen früher und wohl auch jetzt noch, bei dem Leichtsinn und der Einfalt junger Seeleute, sehr verderblich gewirkt habe oder wirke. Das vorgeschossene Geld – für das der Heuerbas durch eine halbe oder ganze Monatsheuer gedeckt sei – wandere rasch an ihn zurück; die Rechnungen sind fertig, der Mann muß an Bord und hat zur Prüfung weder Lust noch Verstand. „Der Seemann kriegt 1 Pfd. Tabak, 1 Kalkpfeife, und denn man los.“ – Diese Darstellung soll aber mehr generell das Heuerbasunwesen charakterisieren, als daß sie speziell für Kiel behauptet würde. – Vorschußnoten werden in Kiel nicht gegeben, sondern der Vorschuß bar ausbezahlt. Die Errichtung eines unter gemeinsamer Kontrolle stehenden Heuerbureaus ist von den Kieler organisierten Seeleuten im März 1900 beantragt worden; der Antrag ist aber von den Reedern keiner Antwort gewürdigt worden. E. Die Kostverhältnisse sind wie in Flensburg und werden im allgemeinen auch von den Leuten als gut anerkannt, besonders auf Dampfern, die Passagiere führen. Über mangelhafte Verproviantierung wird freilich 2 Mal unter den 7 Antworten der FRC geklagt, man darf aber annehmen, daß dies auf vorübergehenden Ursachen beruht hat. Übrigens ist die Meinung, daß auf den kleineren Schiffen die Köche es mehr mit den Leuten halten. Auch daß die Kapitäne in der Regel sich das leibliche Wohl der Leute angelegen sein lassen, wird nicht bezweifelt. Fälle, daß die einen oder anderen am Kostgelde ihren Vorteil wahrzunehmen versucht haben, sind nicht bekannt geworden. Mangelhaft soll auf einigen Schiffen die Einrichtung der Wassertanks und die Beschaffenheit des Trinkwassers infolgedessen zuweilen schauderhaft sein. – Manche Kapitäne halten darauf, daß auch bei den kurzen Fahrten keine Spirituosen an Bord seien, und beobachten, daß die Leistungsfähigkeit der Leute erheblich größer sich herausstelle, gerade bei schwerem Dienste, bei der häufigen nächtlichen Arbeit u.s.w.

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F. Was hingegen die Beschaffenheit der Logis betrifft, so wird selbst von einem (S), der zwar den Reedereien nahesteht, aber zugleich ein unparteiisches und menschenfreundliches Urteil sich angelegen sein läßt, zugegeben, daß dies auf Kieler Schiffen „ein etwas schwacher Punkt“ sei. Von Arbeiterseite wird begreiflicherweise mit stärkerem Ausdrucke gesagt: „spotten durchweg jeder Beschreibung“. Unter den 7 Antworten kommen freilich 2 vor, die aussagen: „zur Zufriedenheit“ bezw. „genügend“; beide sind von neuen, großen Postdampfern der nach Korsör gehenden Linie. Von den 5 anderen lauten 3 durchaus abfällig: „sehr kümmerlich“, „viel zu wünschen übrig“, „sehr miserabel und einfach“. Der letzten und schlimmsten Antwort ist hinzugefügt: „Bullaugen, welche entzwei sind, und das Back, welches in schlechtem Wetter so leckte, daß man nicht in der Koje liegen konnte, müßten, wie wir schon oft dem Kapitän gesagt haben, ausgebessert werden.“ Und ferner: „sehr dunkel, den ganzen Tag muß die Lampe brennen; Sitzplätze genügend, Reinlichkeit ist sehr schlecht, denn wenn mit Ladung über See gehen, so kömmt das Wasser überall durch in die Vohr Pik (vordere Spitze) und Volge dessen treibt der Dreck alles im Logis hinein.“ Die 4. Aussage lautet: „alles genügend bis auf Reinlichkeit, da Reinigen in Freizeit gemacht wird“; die 5. ähnlich: „genügend groß, Sitzplätze in hinreichender Anzahl; Reinlichkeit mangelhaft, da den Matrosen wenig, den Heizern nie Freizeit zum Reinmachen gegeben wird,“ und fügt hinzu: „Ventilation außer 2 Bullaugen nicht vorhanden.“ – Privatim wurde (nicht von Arbeiterseite, sondern durch (S)), von einem Schiffe gesprochen, in dem die Kojen so angelegt waren, daß bei schlechtem Wetter gar nicht anzukommen war. (Vielleicht ist aber dies Schiff seitdem verkauft worden.) Von einem andern Schiffe heißt es, daß es auf See frische Luft durch den Maschinenraum holen müsse; von einem dritten, daß man 1½ bis 2 Fuß Stauholz in die Nebenkojen habe legen müssen, damit die Leute nur trocken lagen. Auch wird zuweilen über „Rattenmist und unsäglich viel Ungeziefer“ geklagt. – Auch in Betreff des Kabelgatts, des Farbenspinds, Lampenraums, Klosetts lauten die beiden Antworten der Postschiffe günstig; von den übrigen sind 2 ungünstig: „Kabelgatt im Logis“ u.s.w. Über Eingänge zu den unteren Räumen wird nur 1 Mal geklagt, sonst alles gut befunden und sogar von dem einen Schiffe hervorgehoben: „Eingang zu Heizraum und Proviantraum sehr gut beschaffen.“ Über Lage und Zustand der Klosetts heißt es 1 Mal: „an der Backbordseite neben Logis; sonst genügend“, 1 Mal: „Kl. und Farbenspind dicht am Heizerlogis“, 1 Mal: „Kl. in nächster Nähe wie gewöhnlich; Zustand sehr miserabel.“ In den übrigen 4 Fällen wird nichts ausgesetzt oder sogar gelobt.

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G. Über Krankenpflege und Medizinkiste sagen die Antworten des FRC entweder nichts oder bejahen den vorschriftsmäßigen Zustand. – In betreff der Sicherung und des Rettungswesens verdienen die Antworten etwas mehr Beachtung, wenn auch nur um die Einsicht zu bekräftigen, daß die Unfallverhütungsvorschriften und die Kontrolle der Seeberufsgenossenschaft Sachen von höchstem Werte sind, wenn sie durchgeführt werden. Zu (X) hatten die beiden Postschiffe elektrische Beleuchtung und feste eiserne Raumleitern; von den übrigen hatte 1 Petroleumlampen, 1 Lampen und Lichter, 1 bloß Kerzen, 1 von Bord aus geschlossene, von Land aus aber meist offene Lampen. Auf allen 5 gab es nur lose angesetzte Leitern. – Frage (XI) nach Schutzvorrichtungen an Maschinen u.s.w. wird auch hier übereinstimmend mit „gut“, „vorschriftsmäßig“, „genügend“ beantwortet. Nun zu Frage (XIII) wegen der Rettungsboote. Die beiden Passagierschiffe hatten 6, die je 25 Mann aufnehmen konnten. Die Ausrüstung wird als vollständig und gut bezeichnet; als Lagerraum wurde keins benutzt. Auf jedes Boot kam 1 Offizier, 1 Matrose, 1 Heizer als bootskundige Leute. Von dem einen heißt es „keine Bootsmanöver“, von dem anderen „alle Boote zu Wasser gelassen“. Die Antworten der übrigen sind ebenfalls zum Teil günstig; von einem Schiffe heißt es aber: „Die 4 Boote sind nicht genügend mit Proviant ausgerüstet,“ von einem anderen: „Ausrüstung ungenügend, wurden als Lagerraum benutzt; Manöver nicht; auch war die Mannschaft nicht im stande, die Boote zu Wasser zu lassen, da Taljen (Flaschenzüge) und Davits (Kräne zum Aufhissen der Boote) in sehr schlechtem Zustande waren.“ Von einem dritten wird geschrieben: „Außer die Bootsriemen (Ruder) ein leeres Wasserfaß und ein Beil befindet sich nichts in die Boote,“ und dazu wird erzählt: „Als wir in London das an Backbord befindliche große Boot gebrauchen mußten, mußten wir mit Hammer und Handspaken arbeiten, um die Bootsklampen (worin die Boote stehen) nieder zu klappen. Freilich sind dieselben gleich darauf in Ordnung gebracht. Das andere, an Steuerbord befindliche große Boot ist noch nicht zu Wasser gelassen worden, doch sind auch da die Bootsklampen, die sich im selbigen Zustande befanden, in Ordnung gemacht.“ Über Gürtel und Westen (XIV) lautet nur 2 Mal die Antwort unbefriedigt, nämlich 1 Mal: „Korkwesten bekommen wir keine, wissen auch nicht wo sind,“ und 1 Mal: „Gürtel genügend, Westen während 3 Monaten nicht zu sehen bekommen.“ Auch die Fragen (X) und (XVI) nach laufendem Gut (das eine Postschiff hat überhaupt keine Takelage) und Pumpen finden fast immer günstige Antworten. Nur lautet zu (XV) eine: „Laufendes Gut in gutem Zustande, doch ist der eine Läufer vom Backbordschen Boote zu kurz; Raaen (Segelstangen) und Klüverbaum (die Verlängerung des über den Bugbauch des Schiffes schräg hinausliegenden Mastes, des

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sog. Bugspriets) nicht vorhanden,“ und zu (XVI) von demselben Schiffe: „Dampfpumpen sind in Ordnung; auch 2-3 Handpumpen an Bord, doch sind diese rostig und in unbrauchbarem Zustande.“ – Eine auffallend hohe Sterblichkeit ist unter den Kieler Seeleuten bisher nicht festgestellt worden, und die amtlich gestellte Frage, ob die Beobachtungen des Hamburger Hafenarztes hinsichtlich der Tuberkulose sich hier bestätigen, ist durch den Kreisarzt Herrn Dr. Bockendahl verneint worden. Indessen, wie dieser die Güte hat, mir brieflich mitzuteilen, waren die Ziffern, die dafür verglichen werden konnten, sehr klein, und es gelang nicht, die Gesamtzahlen, auf die sie zu beziehen waren, festzustellen; auch sei in den Todesbescheinigungen und in den Akten der Klinik, die Herr Dr. Bockendahl ausgezogen hat, die Angabe des Berufes zu ungenau und unsicher gewesen; es werde aber nunmehr für eine sorgfältigere Ausfüllung durch die Standesämter gesorgt, so daß eine zukünftige Untersuchung der Frage bessere Chancen habe. H. Von der alten Seemannsordnung meint ein Gewährsmann (M), der auch die Ansichten der Reeder vertritt, sie „habe noch immer genügt“. Körperliche Züchtigungen werden, nach demselben Gewährsmann, „meistens mit der Hand“ vollzogen; es komme aber sehr wenig vor. Daß aber auch willkürliche Mißhandlungen brutaler Art und mit gefährlichen Instrumenten ausgeführt nicht völlig unerhört sind, lehrt folgende Mitteilung aus jüngster Zeit (Z.S. 29. Dez. 1902), wenn auch für deren Einzelheiten nicht eingestanden werden kann; Berichtigung oder andere Folgen hat sie bisher – im Laufe von ca. 6 Monaten –, wie es scheint, nicht gefunden; und sie möge zugleich von der Art der Berichterstattung in dem Arbeiterblatt ein Beispiel geben: Kiel. Mißhandlungen und kein Ende. Im Hafen von Halmstad (Schweden) lag der Kieler Dampfer M. Einige Matrosen befanden sich an Land, wo einer über den Durst getrunken wurde. Was nicht zu billigen ist, ist, daß einer dieser Matrosen, ein Norweger, im Rausche abends nicht an Bord zurückkehrte und auch noch den nächsten Tag ausblieb. In der Auffassung, daß er es mit einem Deserteur zu tun habe, ließ der Kapitän sofort seine Effekten in Beschlag nehmen und beauftragte die Polizei zur zwangsweisen Anbordführung. Über die Notwendigkeit bezw. Berechtigung dieser Maßnahme läßt sich streiten, denn der Norweger hatte nicht die Absicht, zu desertieren. Immerhin lassen wir die Maßnahmen des Kapitäns gelten. Die Polizei erwischte den vom Rausch sich erholenden Jan Maat sofort und führte ihn an Bord. Nunmehr begannen die Gewaltakte. Der Matrose wollte sich Arbeitszeug anziehen, was natürlich mitbe-

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schlagnahmt war und sich in Gewahrsam des Kapitäns befand. Der Steuermann, der um die Herausgabe befragt wurde, schickte den Mann zum Kapitän. Dieser empfing, ohne ein Wort gesagt bezw. gehört zu haben, den Matrosen mit wuchtigen Faustschlägen ins Gesicht. Der Steuermann hatte sich vor der Kajüte postiert und forderte den aus der Kajüte herausgeschmissenen und stark blutenden Matrosen auf, nach vorne zu gehen. Als diesem Befehl nicht sofort Folge geleistet wurde, hieb und stieß auch er auf den Matrosen ein. Er schlug ihn mit der Faust auf den Kopf, und da seine Faust mit einem Segelhandschuh versehen war und der Schlag mit der eisernen Platte ein schwerer war, blutete der Matrose noch stärker. Als der Matrose wiederholt die Herausgabe seines Zeuges verlangte, kam es schließlich zu einem nochmaligen Zusammenstoß zwischen dem Steuermann und dem Matrosen. Dem ersteren sprang dann auch noch der Kapitän bei. Beide hieben und stießen gemeinsam auf den auf Deck liegenden Norweger ein. Der Kapitän trat den an Deck Liegenden mit Füßen, während ihn der Steuermann am Halse würgte, daß er blau im Gesicht wurde. Als der Matrose wieder aufkam, packte ihn der Steuermann und stieß ihn mit dem Kopfe gegen die eisernen Außenwände des Kartenhauses. Von einer Fesselung nahmen diese brutalen Herren Abstand. – Wir können die Bummelei des Matrosen im trunkenen Zustande während der Dienstzeit nicht dulden, aber diese Schindereien verdienen doch die schärfste Verurteilung. Sie sind bestialisch und charakterisieren demgemäß auch ihre Ausführer. Genau so liegt die Sache mit dem zweiten Steuermann an Bord des Kieler Dampfers R. Auch er mißhandelte ohne Grund den Jungen wie auch einen alten Matrosen mit einem Tauende ganz ungehörig. Außerdem verleitete er in Holtenau den mißhandelten Jungen zur Schmuggelei. Während er mit dem überwachenden Zollbeamten auf der einen Seite des Schiffes ein Gespräch einging, mußte der Junge auf der anderen Seite ein in Segeltuch genähtes Paket an Land tragen. Verhandlungen wegen Desertion und Inhaftierung von Seeleuten fanden z.B. im Jahre 1898 16 statt; ebenso wurden 1901 (für die Zwischenjahre liegen mir die Ziffern nicht vor) Untersuchungen nach § 101 der S-O eingeleitet 18, 1902 jedoch nur 6. – An Geldstrafen wurden 1898 der Kreiskasse in Asservation gegeben 429,97 Mk., der Seemannskasse zu Kiel überwiesen 419,97 Mk., derselben als Sühne 51 Mk. 4 Strafanträge wurden der Polizeibehörde zur weiteren Veranlassung übergeben. I. Wie schon aus den letzten Notizen hervorgeht, besteht eine „Kieler Seemannskasse“, deren Zweck ist, „den Seeleuten, welche auf deutschen

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Schiffen fahren oder früher fuhren, für den Fall ihres Todes ihren Witwen und Waisen, eine jährliche Pension zu teil werden zu lassen; ferner den fahrenden Seeleuten durch eine gegenseitige Versicherung für den Fall des Verlustes des Schiffes und der Einbuße ihrer Effekten eine Vergütung für diejenigen (so!) zu sichern und in dem Fall, daß sie durch Verletzung oder Alter erwerbsunfähig geworden, eine Unterstützung zu gewähren. Auf die Satzungen näher einzugehen, scheint überflüssig, da die Kasse für die Seeleute der unteren Chargen so gut wie keine Bedeutung hat. Es gibt 4 Klassen, deren Einkaufsgeld und Jahresbeiträge abgestuft sind. Nun zählte, nach dem Jahresbericht für 1901/1902, die Kasse in der 1. Klasse 128, in der 2. und 3. je 1, in der 4. 8 Mitglieder. Die 4. Klasse ist etwas stärker besetzt, weil Kapitäne wohl ihre Söhne als Jungen einkaufen. Übrigens ist es eben ein Verein von Kapitänen, der als solcher sehr nützlich ist, leider aber auch große Mühe hat, sich zu erhalten. Auf 38 Mitglieder kommen 39 Witwen. Dazu kommen Altersrenten für Mitglieder. Obgleich die Kasse 216 Ehrenmitglieder hat, die jährlich 5 Mk. zahlen ohne Ansprüche, so kann sie doch ohne Nebeneinnahmen, die ihr unregelmäßig zufließen, nicht bestehen. Ebendarum besteht eine erhebliche Schwierigkeit, die Rechtsfähigkeit zu erlangen. Man wird die Beiträge wesentlich erhöhen müssen, und dies bedeutet eine zu schwere Belastung des Einkommens der Kapitäne, deren ökonomische Lage kaum den Mittelstandsansprüchen genügen dürfte. – Mit der Kasse ist eine Effektenversicherung fakultativ verbunden. – Für das Gros der Seeleute gibt es außer den reichsgesetzlichen keine Versicherungen. Die Schwierigkeit für die Angehörigen des Seemanns, den Beweis zu führen, daß er der Versorger gewesen, speziell für Aszendenten, wird auch hier vielfach empfunden. Die Kieler Handelskammer hat sich, in Übereinstimmung mit den Reedern und dem nautischen Vereinstag, gegen die Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht auf die Besatzung von Seeschiffen ausgesprochen. Die Angliederung an die Ortskrankenkassen werde sowohl für die Kassen als für die Reeder unbequem werden, für die Kassen namentlich durch erschwerte Kontrolle und Berechnung. Die Handelskammer empfiehlt dagegen, wenn die Verbindung der Invaliditäts-Alters-Witwen- und Waisenversicherung mit der Seeberufsgenossenschaft zu stande komme, auch die Krankenversicherung an diese Gesamtheit anzuschließen. – Das Bedürfnis einer Effektenversicherung wird von den Kielern besonders stark empfunden, „da mehrere Kol-

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abgestuft sind.: Die 4 Klassen finden sich auch in o.g. Statuten der Hamburg-Altonaer Seemanns-Kasse.

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legen wiederholt ihr Hab und Gut auf und mit unseren Schiffen verloren haben“22.

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K. Für die sittlichen Zustände gilt im allgemeinen dasselbe, wie zu Flensburg bemerkt wurde. Jedoch darf als gewiß behauptet werden, daß – in Korrespondenz mit der verhältnismäßigen Bedeutung der Seeschiffahrt – das Kieler Niveau nicht unerheblich niedriger steht als das Flensburger (vgl. auch sub N). Von Seiten der (M) wird nicht nur über Untüchtigkeit der Leute schärfer geklagt, sondern auch über Verrohung. Auch die Nähe der Kriegsmarine wirkt in dieser Beziehung teilweise ungünstig. Es wird anerkannt, daß sie auch brauchbare Kräfte liefere, aber namentlich solche, die lange gedient haben, also Kapitulanten, seien vielfach Alkoholisten, von denen ein schlechter Einfluß ausgehe. – Die Seemannsmission vermag auch hier sehr wenig oder nichts, obgleich sie von Reedern und von Kapitänen begünstigt wird. Sie beschränkt sich im allgemeinen auf Schriftenverteilung, bemüht sich aber neuerdings auch um Gründung von Schiffsbibliotheken. Das größere Verdienst in dieser Sache ist aber einer einzelnen Person, Herrn Versicherungsrat Hansen, zuzuschreiben. – Auch der S-V hat hier (s.u.) viel geringere Bedeutung, darum auch wenig Einfluß auf das gesellige Leben. – Seit mehreren Jahren findet in Kiel unter Mitwirkung von Geistlichen eine Weihnachtsbescherung für Seeleute statt, wozu Reeder und Kapitäne subskribieren und einige auch persönlich sich einfinden. – Der Umgangston ist noch überwiegend pa­ triarchalisch. Gerade diejenigen Kapitäne, von denen bekannt ist, daß sie ein Herz für die Leute haben, reden diese mit du an, und es wird gern gelitten. Allerdings werden die Feuerleute nicht als Seeleute geschätzt, und es scheint, daß auf Kieler Schiffen öfter ein minder gutes Verhältnis zwischen Deck und Maschine vorkommt. Unbefahrene Heizer, die gar nicht selten angenommen werden, verursachen auch hier Schwierigkeiten. Ohne daß von einem entwickelten Klassengegensatz die Rede sein kann, fühlen doch hier öfter die Kapitäne und Offiziere sich in einem gewissen Interessengegensatze zur Reederei. Die Kapitäne beklagen, daß sie so wenig „frei“ seien, namentlich auch daß ihnen jede Bestimmung über die Auswahl der Offiziere benommen sei, da diese direkt vom Kontor angenommen werden. Das Zusammenarbeiten werde dadurch erschwert. Auch fühle sich der Kapitän in seiner Herrschaft beeinträchtigt durch den Dualismus, der mit der Maschine eingezogen sei; der erste Maschinist spiele sich nicht selten als der andere Kapitän auf, und unter den Feuerleuten komme wohl die Rede vor: „Der Kapitän hat nichts über mich zu sagen; ich stehe unter dem Maschinisten.“ Im übrigen vergleichen sich die 22

Dritter Jahresbericht des S-V S. 159.

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Kapitäne gern mit „Droschkenkutschern“, um zu kennzeichnen, wie sehr ihr Stand bei der heutigen Betriebsweise gelitten habe. Ehemals waren sie die Geschäftsagenten des Reeders, die in fremden Häfen die Verträge über Befrachtung abschlossen. Verheiratete Matrosen u.s.w. sind nicht viele vorhanden; wenn sie in der Stadt wohnen, so sind die Verhältnisse armselig. Es gibt aber manche, die ein kleines ländliches Anwesen, das von den Frauen bewirtschaftet wird, besitzen. Solche erben oder kaufen mitunter noch ein kleines Segelschiff und erwerben das Patent für kleine Küstenfahrt. L. Die Matrosen rekrutieren sich auch hier noch zum großen Teile aus der heimischen Küstenbevölkerung. Neuerdings aber ebensosehr aus der mecklenburgischen und pommerschen. Die Reedereien begünstigen Anmusterungen in Stettin, Rostock, Danzig. Unter den in Kiel im Jahre 1898 angemusterten 222 Vollmatrosen befanden sich 20, also annähernd 10 %, Ausländer, unter 162 Leichtmatrosen und Jungen 8 = 5 %, unter 269 Heizern und Kohlenziehern 7 = 3 %, unter 107 Köchen und Stewards 4 = 4 %. Die Anmusterung deckt sich aber keineswegs mit derjenigen für Kieler Schiffe; unter den 282 Schiffen waren 60 in anderen deutschen Häfen beheimatet (in Kiel also 222 = 78 %). Die Kieler Schiffe mustern stark in anderen deutschen Häfen, namentlich die Postdampferlinie in Korsör, so daß diese eine große Zahl Dänen an Bord hat. So hatte eines dieser Schiffe 1900 6 Dänen, von denen nur 3 der deutschen Sprache mächtig waren, ein anderes 4, von denen nur 1. Von den 45 Ausländern, die 1898 in Kiel angemustert wurden, waren 20 Dänen, 6 Schweden, 4 Norweger, 8 Russen (wohl Deutsch redende Balten), 10 Österreicher, 2 Belgier, 2 Schweizer, 2 Amerikaner. – Unter den 309 im selbigen Jahre zur Abmusterung gekommenen Schiffen sind die in Kiel beheimateten Schiffe etwas stärker, nämlich mit 256 = 83 % vertreten. Hier tritt denn auch das ausländische Element stärker hervor, z.B. unter 196 Matrosen 26 = 13 %, unter 162 Leichtmatrosen 12 = 7,5 %. Unter den 60 Ausländern waren 20 Dänen, 9 Schweden, 7 Norweger, 6 Russen, 6 Holländer, 1 Österreicher, 1 Belgier, 1 Engländer, 2 Schweizer, 2 Amerikaner, 1 Australier. Desertionen sind von Kieler Schiffen ziemlich zahlreich; es werden aber nur wenige dem Seeamt angezeigt. Man weiß wohl in vielen Fällen vorher, daß man es mit Übergehern zu tun hat. Die in chinesischer und amerikanischer Küstenfahrt fahrenden Kieler Schiffe nehmen ihre Mannschaft, ebenso wie die Flensburger und Apenrader, aus Chinesen, Malayen, Negern, Indianern; sie führen dieselben Gründe dafür an wie jene, um den wirklichen Grund – die Billigkeit der exotischen Arbeitskraft – zu verhüllen.

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Ein Fall von Selbstmord, der vor kurzem an Bord eines Kieler Dampfers vorkam, hatte mit Zuständen desselben offenbar nichts zu tun. Der Selbstmörder war ein Koch, der längere Zeit sich schwermütig und trübsinnig gezeigt hatte; vermutlich im Zusammenhange mit Liebesaffären. 5

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M. Die Veränderungen während des letzten Menschenalters kommen auch für Kiel einer Umwälzung gleich. Im Jahre 1875 gab es in Kiel noch eine Segelschiffreederei von 68 Schiffen mit zusammen circa 7000 R.-T. netto. Sie hatte sich 1890 bis auf 6 mit zusammen circa 400 R.-T. netto vermindert; seitdem ist sie wieder auf 14 mit circa 750 gestiegen. Die Anzahl der Dampfschiffe hat sich in dieser Zeit von 13 mit circa 3000 auf 91 mit circa 23000 R.-T. netto vermehrt. Auch hier sind von Anfang an eiserne Dampfschiffe gebaut und sonst erworben worden. – Die Wirkungen der Umwälzungen möchten insofern noch etwas schärfer als in Flensburg sein, als der Seemann von Beruf, der alte Segelschiffmatrose und der jüngere Matrose, der etwas auf sich hält und vorwärtsstrebt, die Kieler Schiffe meidet und nicht lange auf ihnen verweilt. Alte Schiffe werden von der Kieler Reederei mit Vorliebe angekauft. Es versteht sich, daß es solche sind, die für seetüchtig genug gelten und amtlich als solche beglaubigt sind. Daß hierbei aber schwere Irrtümer vorkommen, und daß die Vorgeschichte solcher Schiffe zuweilen etwas zweifelhafter Natur ist, dürfte folgender durch G. erhärteter Fall lehren: Der Dampfer „Trinidad“, 1872 in Glasgow aus Eisen erbaut, 228 britische R.-T., lag zu Liverpool im Dock, zur „Hulk“ („ein altes, für seinen Zweck nicht mehr gebrauchtes Schiff, das als Kaserne, Werkstatt, zu Unterrichtszwecken benutzt wird,“ Goebel S. 209) bestimmt. Es wurde von einem Kieler Reeder, unter Assistenz von Ingenieuren, besichtigt, und man hatte gefunden, daß es „für die Verwendung als Hulk viel zu gut sei“. Die Sachverständigen stellten im Namen des „Board of Trade“ ein Zertifikat aus, wonach der Rumpf und die Maschine des Trinidad in gutem Zustande befunden waren. Daraufhin wurde das Schiff von der Kieler Reederei am 16. Mai 1898 gekauft. Sie erwarb ein ferneres Zertifikat vom 17. Mai 1898, wonach der Dampfer bis zum 14. Mai 1899 20 Passagiere (!) und 32 Mann Besatzung fahren könne. Am 18. Mai wurde ein Flaggenattest vom Kaiserl. deutschen Konsulat in Liverpool ausgestellt. – Das Schiff wurde bestimmt, Preßkohlen nach Kiautschou zu bringen, um nach glücklicher Ankunft daselbst als Kohlenhulk zu dienen (obgleich es für die Verwendung als Hulk viel zu gut war?). Nach einem Berichte des Kaiserl. deutschen Konsuls in Singapore war damals (im Juli) in dortigen Schiffahrtskreisen verbreitet, daß der Dampfer „Trinidad“, von dem bekannt war, daß er ein alter Cunard-Dampfer sei, ein schweres Wetter in

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ostasiatischen Gewässern nicht aushalten werde. Der Konsul meint, diese Ansicht habe sich nur darauf gegründet, daß der Dampfer sehr alt gewesen sei und schon in Singapore wie eine Hulk ausgesehen habe. Am 28. August setzte ein Taifun ein, den der Schiffer, der noch nicht in der Chinasee gefahren war (!), nicht als solchen erkannte. Das Schiff wurde voll Wasser: „es war gar nicht daran zu denken, daß das Schiff noch längere Zeit vor dem Sinken zu bewahren gewesen wäre.“ Die völlig erschöpfte Mannschaft wurde am Nachmittage des folgenden Tages von einem englischen Dampfer aufgenommen. Der Spruch des Seeamtes Flensburg vom 19. Juni 1899 lautet: „Mag es immerhin bedenklich erscheinen, mit einem so alten Schiffe wie „Trinidad“ war, in Gewässern zu fahren, die von Taifunen heimgesucht werden, so liegen doch keine Umstände vor, welche berechtigten, dem Schiffe die Seetüchtigkeit abzusprechen. Die Reederei ist jedenfalls in dieser Richtung durch die vorliegenden, unter der Autorität des Board of Trade ausgestellten Zertifikate außer Verantwortung gesetzt.“ (Entscheidungen Bd. 13, S. 369.) Es wäre gewiß, wenn das englische Schiff nicht gerade die Straße passiert hätte, ein süßer Trost für die Hinterbliebenen der Besatzung gewesen, daß der Schiffbruch ein völlig rechtmäßiger war und daß der Reeder sich jeder rechtlichen Verantwortung überhoben wußte. Wenn aber eine alte Hulk unter Führung eines der chinesischen Gewässer unkundigen Kapitäns in den Taifun hinausgesandt wird, so darf man sich auch nicht allzusehr über die stürmische Sprache wundern, die zuweilen in einem den Interessen der Seeleute gewidmeten Journal ihre Töne gegen das Reederkapital brausen läßt, der Seeleute, die denn doch noch ein anderes Risiko dabei laufen als der Reeder, der vermutlich für die Hulk einen angemessenen Preis bezahlt und sie hoch genug versichert hatte. – Auch die bitteren, über die Logiszustände einiger Kieler Schiffe lautwerdenden Klagen dürften zum Teil daraus sich erklären, daß die Beschaffenheit des Volkslogis sicherlich keinem Reeder einen Grund abgibt, ein altes Schiff, das sich sonst – durch „Seetüchtigkeit“, Billigkeit u.s.w. – empfiehlt, nicht zu kaufen. Mit der Überstauung verhält es sich in Kiel insofern anders als in Flensburg, als die hohen Decksladungen eine weniger große Rolle spielen. Die Notwendigkeit einer Tiefladelinie wird aber hier von (M) und (S) noch schärfer und einhelliger als dort betont. Es wird als gar keinem Zweifel ausgesetzt bezeichnet und als auch für die Kieler Reedereien geltend, 16

(Entscheidungen Bd. 13, S.  369.): 58. Spruch des Seeamts zu Flensburg vom 19. Juni 1899, betreffend den Seeunfall des Schraubendampfers „Trinidad“ von Kiel. In: Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reiches. 13. Bd., Hamburg 1902, S. 368-373.

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daß die Schiffe teilweise überladen werden; der Ehrgeiz jüngerer Kapitäne wirke nicht selten dazu mit. Man meint aber, die englische Linie sei nicht bei allen Schiffen passend; Spardeckschiffe (bei denen der obere Schiffskörper leichter ist) könne man garnicht so tief beladen, wie die Linie liege. Der einen Kieler Reederei (der Zahl der Schiffe nach ist es die größte) wird nachgerühmt, der Kapitän bekomme bei ihr nie zu hören: „Hast nicht genug geladen,“ während es bei den anderen allerdings mitunter heiße: „Hättest gern noch 50-100 Tons mehr laden können.“ Was unzureichende Bemannung betrifft, so ist diese bei Erörterung über die Offizierswachen berührt worden. Zwei neuere (G) weisen in dieselbe Richtung; beide betreffen Strandungsfälle Kieler Schiffe. „Anzunehmen, wenn auch nicht erwiesen ist, daß P. (der zweite Steuermann) sich zu sehr um die von ihm angeordneten Reinigungsarbeiten an Deck gekümmert und infolgedessen nicht genügend auf die Navigierung des Dampfers geachtet hat.“ (Entscheidungen v.s. XIV. H. 3.) Im anderen Falle war die Strandung nach dem Erkenntnis dadurch verschuldet, daß unterlassen war, den Schiffsort durch Lotungen zu kontrollieren. „Der Schiffer mußte krankheitshalber auf der ganzen Reise das Bett hüten. Der Steuermann hat versucht, seine Nachlässigkeit dadurch zu entschuldigen, daß er anführte, er habe mit Rücksicht auf die Zusammensetzung und Unzuverlässigkeit seiner Mannschaft vermeiden müssen, auf die zur Eintragung der Kreuzpeilung (Bestimmung von Landmarken durch den Kompaß) in die Karte erforderte Zeitdauer das Deck zu verlassen.“ (Das. S. 290.) Im FRC ist die Frage nach genügender Bemannung 4 Mal mit „Ja“, 1 Mal mit Angabe der Matrosen- und Heizerzahl, die gleichfalls als genügend gelten kann, 2 Mal verneinend beantwortet. Das eine Mal wird die Ziffer angegeben; sie beläuft sich auf 14 Köpfe für ein Schiff von nur 352 ½ R.-T. und darf als ausreichend gelten; es wird aber dann – offenbar mit Übertreibung – hinzugefügt: „aber wir fahren oft mit die halbe Besatzung,“ und dahin erklärt: „in Danzig gingen 2 Leichtmatrosen ab – kein Ersatz – in Hamburg hatten wir wieder volle Besatzung, in Kiel musterten 2 ab, kein Ersatz, dann wieder in Hamburg 1 Heizer ab, kein Ersatz.“ Bei der Hast des Betriebes wird eben lieber mit ungenügender Besatzung gefahren als einen halben Tag gewartet, wenn nicht sofort Ersatz zu haben ist. Im anderen Falle heißt es: „3 Heizer und 1 Trimmer zu 2 Heizräumen, jeder Heizraum hat 2 Feuer, der Trimmer mußte 10 Stunden arbeiten, Nachts jede Wache Asche mithieven, weil ein Mann nicht im Stande 15 23

(Entscheidungen v.s. XIV. H. 3.): Gemeint ist: Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reiches. Vierzehnter Bd., Heft 3, Hamburg 1904. (Das. S. 290.): Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reiches. Vierzehnter Bd., Hamburg 1904, S. 290.

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

dazu war; es hätten 2 Trimmer sein müssen.“ Dies betrifft einen eisernen Schraubendampfer von 883,26 R.-T. netto. Von einem Schiffe derselben Reederei wurde in der Presse berichtet, es sei, obgleich 531,61 R.-T. fassend, im Frühling 1901 in See gegangen mit einem 18jährigen Matrosen und drei Leichtmatrosen (Z.S. 1. April 1901). An der Richtigkeit dieser Angabe zu zweifeln, ist kein Grund vorhanden. N. Die Organisation der Seeleute ist in Kiel recht schwach. Sie entstand als Mitgliedschaft des S-V im Jahre 1898 und erhob sich aus geringen Anfängen in den folgenden Jahren fortschreitend, um dann aber, nach dem Eintritt der Krise in den Schiffahrtverhältnissen, bedeutend wieder zurückzugehen. Reeder und Kapitäne schenken der Sache nur insofern Beachtung, als sie das „sozialdemokratische Unkraut“ im Keime zu ersticken suchen. Es gilt deshalb, besonders bei dem Deckspersonal, für gefährlich, teilzunehmen oder doch die Teilnahme bekannt werden zu lassen. Die Vorstandmitglieder lassen, außer dem Vorsitzenden, der nicht mehr aktiver Seemann ist, ihre Namen nur durch Buchstaben öffentlich bezeichnen. Der ganze Zustand charakterisiert, mit dem Flensburger verglichen, die stärkere Fluktuation und die inferiore Qualität der Kieler Seemannschaft, indirekt der Kieler Reederei und Schiffahrt überhaupt. Auch dies ein Zeichen dafür, daß es vorzugsweise die gesetzteren und vernünftigeren Arbeiter sind, die sich organisieren, und daß sich, auch in den modernen – wenn auch noch so „sozialdemokratischen“ – Arbeiterverbindungen ein gut Teil Standesgeist erhält, der nicht nur gegen die ökonomische, sondern auch gegen die moralische Proletarisierung sich wehrt. Je weiter diese fortgeschritten ist, desto größer sind die Schwierigkeiten. So wird nicht nur von (M) und (S) über „unstete, halbverkommene Leute“, „außerordentlich minderwertige Elemente“; „bessere Leute geben sich nicht dazu her, weil sie (in der Küstenfahrt) Tag und Nacht auf den Beinen sein müssen“; „nur diese kleinen Dampfer können solchen Schund brauchen“ u. dgl. m. geklagt, sondern nicht minder, in etwas anderen Ausdrücken, von seiten des Verbandes. Der Ausdruck „Rinnsteinschiffer“ wird von beiden Seiten aus gebraucht. „Ich nehme solche überhaupt nicht auf;“ „wenn die Kunden in unsere Versammlungen kommen, schmeiß’ ich sie ’raus,“ erklärte der Vorsitzende der Mitgliedschaft. Es seien vielfach Louis, Lumpenproletariat, das nur gelegentlich mal zur See gehe, oder Ausschuß von der Marine, Übergeher, die im ersten englischen oder amerikanischen Hafen Reißaus nehmen. – Die Ziffern der Mitgliedschaft sind, da es nur einen ganz kleinen festen Stamm gibt, schwer festzustellen. An Eintrittsgeldern wurden 1900 66 mit 99 Mk., 1901 77 mit 115,50 Mk., 1902 aber nur 21 mit 31,50 Mk. erhoben. Die Monatsbeiträge beliefen sich auf

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377,25, 568 und 468 Mk. Die Verwaltungskosten (persönliche und sachliche), die 1902 sich in Flensburg auf ca. 2000 Mk. beliefen, hatten in Kiel nur die Höhe von 219,15 Mk. Der „Seemann“ wird in ca. 100 Exemplaren gehalten, wird wohl auch in anderen Kreisen hin und wieder gelesen. Die Berichte, die darin über Kieler Schiffe erscheinen, sind nach Umfang und Inhalt nicht erheblich. Eine regelmäßige Korrespondenz zwischen Mitgliedern und Leitung des Verbandes findet nicht statt; hin und wieder gelangen aber Briefe an den Vorsitzenden, der, in einer Buchdruckerei als Faktor tätig, nur nebenamtlich und unbesoldet seine Funktionen übt. Vor Streiks hat die Leitung bisher mit Erfolg gewarnt und es hat nichts Nennenswertes in dieser Hinsicht sich ereignet. Die Erhöhungen der Heuern und Überstundenlöhne seit 1897 sind hier den übrigen Ostseehäfen zögernd und nicht vollständig gefolgt. Dem Gewerkschaftskartell ist die Mitgliedschaft angeschlossen und sammelt auch Beiträge für ein in Kiel zu gründendes „Gewerkschaftshaus“. – Über die sittlichen Wirkungen der Organisation läßt sich hier kaum etwas beobachten; vermuten läßt sich nur, daß eine gewisse günstige Wirkung auch hier nicht ganz fehlt. Daß ungünstige Wirkungen auf die Disziplin bemerkbar seien, wird auch von (S) und (M) kaum behauptet. Die Meinung geht nur immer dahin, die Lektüre eines Blattes wie der „Seemann“ müsse die Disziplin an Bord lockern und lösen. Deduktion ist Tummelplatz der Praktiker.

Nebenhäfen In den kleinen Ostseehäfen des Bezirks der Kieler Handelskammer waren Ende Dezember 1902 vorhanden23: 25

In Eckernförde ....... 1 Segelschiff “ Fehmarn ............ 7 Segelschiffe 3 Dampfschiffe “ Heiligenhafen .... 8 Segelschiffe “ Hohwacht .......... 2 “ “ Laboe ................ 9 “ In Möltenort .......... 3 Segelschiffe “ Neustadt ............ 2 “ 1 Dampfer

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mit “ mit mit “ “ mit “ mit

115 503 286,6 597,7  81,4 509,9 219,8 146,9  50,9

cbm, “ und cbm, cbm, “ “ cbm “ und cbm.

Vorläufiger Bericht der Handelskammer zu Kiel 1902. S.  59. Die (nicht angegebene) Größe in R.-T. ist ungefähr 35,3 % derjenigen in cbm.

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

abgemusterten Seeleute

Abmusterungen

nachgemusterten Seeleute

Nachmusterungen

angemusterten Seeleute

Anmusterungen

neu ausgefertigten Seefahrtsbücher

Die Anzahl der

betrug 1901 und 1902 bei der Musterungsbehörde zu Neustadt ................................... Burg a. Fehm. ........................... Heiligenhafen ........................... Neudorf .................................... Laboe ....................................... Holtenau ................................... Eckernförde ..............................

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Hierzu ist nichts weiter zu bemerken, als daß im Kieler Hafen (Laboe, Holtenau) die kleine Segelschiffahrt neuerdings wieder etwas zugenommen hat und Jungen, die nachher als Matrosen auf Kieler Dampfschiffe gehen, wenigstens eine notdürftige Ausbildung gewährt. – Allgemein wird aber die Ansicht geltendgemacht, daß die – besonders von Hamburg aus betriebene – Leichterfahrt der kleinen Küstenschiffahrt den letzten Stoß geben werde.

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III. Lübeck A. Die Lübecker Reederei hat in den Jahren 1901 und 1902 einen bedeutenden Aufschwung genommen. Bis dahin war sie in recht schwachem Zustande. Die moderne Reederei mit ihrer wilden Frachtenfahrt hatte sich, wie alles Moderne, hier wenig entwickelt. Im Jahre 1900 schrieb „ein Lübecker Kaufmann“ in den „Lübischen Blättern“: „Eines ist feststehend, und kein einsichtiger Lübecker verschließt sich der Einsicht, daß es um die Lübecker Schiffahrtsbetriebe nur sehr mäßig bestellt ist,“ und ein andermal: „Der Lübecker Schiffbestand geht von Jahr zu Jahr zurück

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III. Lübeck

und besteht außerdem zu ca. ¾ Teilen aus ganz veralteten Dampfern.“ Seitdem hat, wie früher erwähnt, die Schleswiger Reederei eine Filiale als Aktiengesellschaft mit einem Kapital von 2 Mill. Mk. in Lübeck gegründet. Sie eröffnete ihren Betrieb im Jahre 1901 mit 4 Schiffen von einer Größe, wie sie bis dahin in Lübeck unbekannt war (1000-1600 R.-T. netto) und hat ihn seitdem um 3 fernere (darunter ein kleineres) erweitert und 4 große Neubauten in Auftrag gegeben; außerdem hat auch die Mutterfirma 2 ihrer Schiffe und 1 Neubau in Lübeck beheimatet. Sodann hat sich unter dem Namen „Hanseatischer Lloyd“ am 15. August 1902 eine fernere Aktiengesellschaft gebildet, die vorläufig den Bau von 8 größeren Dampfern geplant hat, von denen 2 schon im Frühjahr 1903 zu Ablieferung gelangen sollten. Endlich hat eine Lübecker Handelsfirma 2 neuerworbene Dampfer von resp. 2087 und 1436 R.-T. netto in Dienst gestellt. Unter den älteren Reedereien steht die „Hanseatische DampfschiffahrtGesellschaft“ an der Spitze mit 4 Schiffen und zusammen 1773 R.-T. Netto Raumgehalt. Dann gibt es mehrere kleinere Aktiengesellschaften und Partenreedereien mit je 1-2 kleineren Dampfern (à 100-717 R.-T. netto). Endlich direkte Linien: 1. Lübeck-Wyburg, 2. Riga-Lübeck, 3. LibauLübeck, 4. Lübeck-Königsberg, 5. Lübeck-Bremen. Alle diese haben nur Schiffe von 100-500 R.-T. Mit technischen Neuerungen sind sie wenig versehen. – Die neueren Schiffe bedeuten auch in dieser Hinsicht einen großen Fortschritt. – Auch die Rentabilität der älteren Reedereien ist im letzten Jahrzehnt gering gewesen. Die älteste hat von 1896–1902 inkl. keine Dividende verteilt; die nächstältere, deren Aktien neuerdings aufgekauft worden sind, um den gesamten Betrieb zu reformieren, ergab im Durchschnitt der Jahre 1896–1902 immerhin noch etwas über 6 %, die Linie Lübeck-Wyburg in denselben Jahren nur ca. 3 ½ %; Libau-Lübeck nur im Jahre 1900 2 %, sonst 0, Lübeck-Königsberg im Durchschnitt 1,2 %, die Gesellschaft Europa 2,4 %, Lübeck-Bremen 0,7 %, die Aktiengesellschaft Marie Luise 2,57 %; nur Riga-Lübeck hält sich mit einem Durchschnitt von 6,3 %. Die neue Reederei Horn hat für 1902, ein Jahr, das für die meisten anderen ertraglos war, immerhin 5 % Dividende verteilt. An- und nachgemustert wurden 1901: 1124 Mann für 316 Seeschiffe 1902: 1056 “ “ 304 Seeschiffe

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1901: 28 Bootsleute, 22 Zimmerleute, 320 Matrosen, 1902: 21 “ 11 “ 318 “ 1901: 79 Leichtmatrosen, 55 Jungen, 275 Heizer,

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

1902: 59 “ 44 “ 263 “ 1901: 9 Trimmer, 53 Köche, 6 Köchinnen, 1902: 10 “ 60 “ 9 “ 14 Aufwärter, 22 Aufwärterinnen. 21 “ 17 “ Überhaupt 1902: 638 Personen für 196 Lübecker Schiffe, 418 “ “ 108 andere deutsche Schiffe.

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Abgemustert wurden in diesen Jahren 1901: 954 1902: 1059

Mann für 288 Schiffe, “ “ 313   “

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und zwar: 1901: 25 Bootsleute, 19 Zimmerleute, 268 Matrosen, 1902: 26 “ 13 “ 327 “ 1901: 55 Leichtmatrosen, 61 Jungen, 231 Heizer, 1902: 60 “ 40 “ 262 “ 1901: 8 Trimmer, 47 Köche, 4 Köchinnen, 1902: 10 “ 62 “ 9 “ 11 Aufwärter, 21 Aufwärterinnen. 15 “ 19 “ Überhaupt 1901: 709 Personen für 226 Lübecker Schiffe, 1902: 699 “ “ 201 “ 1901: 245 “ “ 72 andere deutsche Schiffe. 1902: 360 “ “ 112 “ “ “ Wie oft dieselben Personen wiederkehren, ist nicht ausgezählt worden, der Wechsel ist aber sehr häufig; eine Schätzung ist möglich nach dem Gesamtbetrag der für dieselbe Charge gezahlten Heuer, worüber mir (A) vorliegen. Wird nämlich eine durchschnittliche 10 monatliche Fahrzeit bei Matrosen und Heizern angenommen, so wären in Wirklichkeit

1901: 121 Matrosen, 101 Heizer 1901: 113 “ 107 “

bei den Anmusterungen vorgekommen; diese Ziffern sind aber wiederum zu niedrig, weil – abgesehen von Berufsveränderungen, Todesfällen etc. – auch die Häfen gewechselt werden.

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B. Die Heuern stehen jetzt auch hier auf der Norm von 60 Mk. für Matrosen und Heizer, von 45 Mk. für Leichtmatrosen; auch die übrigen Sätze kommen den Flensburgern gleich oder nahezu gleich. Bergelohn wurde früher nach Ermessen der Reederei, meistens aber ein Drittel der Mannschaft bewilligt. Der Stundenlohn („Überstunden“) beträgt auch hier 40 Pf. Das Jahreseinkommen des Matrosen wie des Heizers wird von der Steuerbehörde auf 900 Mk. geschätzt. Die Heuerverhältnisse beruhen seit 29. Juni 1900, wie in Flensburg, auf einem Tarifvertrag, der zwischen dem Reederverein zu Lübeck einer-, dem Seemannsverbande anderseits auf 2 Jahre abgeschlossen und bis zum 1. April 1903 verlängert wurde. Die neue, von Schleswig aus gegründete Reederei war dem Lübecker Reederverein nicht angeschlossen, erklärte sich aber, nach einer mündlichen Verhandlung mit dem Vorsitzenden des Verbandes, bereit, nach Flensburger Tarif, den die Seeleute in Einzelheiten für noch etwas günstiger halten, zu zahlen und auch die Vereinbarung in betreff der Überstunden, wie in Flensburg geltend, anzuerkennen. „Dieses Entgegenkommen . . . verdient alle Anerkennung.“ (Z.S. 21. Juni 1902.) Die Tarifverträge und ihr Prinzip dürfen also auch hier als bewährt, d.h. für beide Teile zufriedenstellend gelten. C. Auf Lübecker Schiffen herrschte bis vor einigen Jahren die „deutsche Wache“ mit dem gemeinsamen 2-3stündigen An-Deck-bleiben beider Wachen vor. Dabei war die Bemannung verhältnismäßig stark, so daß der Nachteil sich ausglich durch gemächlicheres Arbeiten und für Reinlichkeit besser gesorgt werden konnte. Die Frage nach „Tagelöhnerei“ wurde im FRC von 6 Schiffern, und zwar von allen verneinend, beantwortet. – Entschädigung für Mehrarbeit bei verringerter Besatzung scheint bisher ziemlich unbekannt gewesen zu sein. D. Es gibt 2 Heuerbase, – der eine ist Schankwirt, gelegentlich auch Schlafbas, der andere Kolonialwarenhändler. Die Gebühren betrugen für Matrosen auf langer Reise 5 Mk., auf Ostseereisen 3 Mk., sonst je nach Charge 2-10 Mk. (für Koch und Bootsmann), aber „sie nahmen, was sie kriegen konnten“. Noch ehe die S-O in Kraft getreten war, erschien eine Verordnung des Lübecker Senats über Stellenvermittlung, gültig vom 1. Oktober 1902 ab. E. „Über die Kost ist auf Lübecker Schiffen nicht zu klagen“, so lautet auch hier das im allgemeinen übereinstimmende Urteil. Von 2 Schiffen, die beide derselben Reederei gehören, sagen die Leute sogar: „geben großartiges Essen“ – „jeden Morgen warmes Frühstück“, was auf den

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

Lübecker Schiffen nicht so die Regel ist wie auf Flensburger und Kielern. An Ausnahmen fehlt es auch hier nicht, der Umstand aber, daß die direkten Linien großenteils auch Passagiere führen, gilt als besonders günstig in dieser Hinsicht. Die Kostgelder sind dieselben wie in Flensburg und Kiel. Was die Küche betrifft, so sagen die Leute, sie sei am besten, „wo keine Frauensleute“, die zum Teil als Köchinnen, öfter aber, und besonders auf Passagierdampfern, als Stewardessen fungieren; sie sind meistens ausländisch, Schwedinnen oder Finnen. Die schwierige Verständigung ist den Leuten im Wege. F. Über Logis auf den kleinen, alten Schiffen wird stark geklagt. Diese Klagen werden auch in den Antworten des FRC laut. Die 7 Schiffe, von denen berichtet wird, verteilen sich auf 6 Reedereien. Die allgemeine Antwort (VI) lautet 1 Mal einfach „ja“, 1 Mal im selben Sinne, „alles in Ordnung“, 1 Mal: „alles so weit genügend, nur Ankerspill im Logis“; die übrigen 4 sind mehr oder weniger absprechend, nämlich: 1. „Ja, nur rein nicht zu halten, weil Farbenspind, Tauwerk, große Pläne u.a. untergebracht werden“; 2., „die Logis – das der Matrosen unter der Back, das der Heizer Mittschiffs – sehr klein, Sitzplätze genügend; seit 4 Monaten nicht gereinigt, Ventilation mangelhaft“; 3. „unter der Back, eine Treppe hinunter (also unter Deck). Es können sich 3 Mann knapp anziehen, Ankerkette führt durchs Logis; keine Bullaugen; Lampe muß Tag und Nacht brennen“; 4., „sehr unbeschaffen; sehr unsauber; Ventilation ist nicht.“ – Die übrigen Logisfragen sind nicht immer auf klare, aber im ganzen entsprechende Weise beantwortet. Im einen Falle heißt es z.B. „Farbenspind, Kabelgatt und Lampenraum im Logis. Heizung auch nicht die beste, weil 1. auf der Back kein Schornstein, 2. keine Ofentür“; die Sicherung des Kabelgatts wird aber nur 1 Mal ungenügend, sonst gut gefunden. Die Klosettverhältnisse werden in allen Fällen gelobt, einmal sogar als „sehr gut“ bezeichnet. – Von dem einen kleinen Schiffe, das hier ungünstig beurteilt war, wird auch sonst das Logis als äußerst nichtswürdig geschildert: bald wird es ein „Ratzenloch“ genannt, bald „ein Keller, wo keine Sonne noch Mond hineinscheint“; „der Mensch kann nicht mal aufrecht gehen in dem Loch“. Das alte Schiff, das ursprünglich als Schlepper gebaut sein soll, seit mehr als 20 Jahren aber regelmäßig auf Königsberg lief, ist jetzt verkauft worden; es soll aber noch mehrere geben, wo es nicht viel besser sei. Auf dreien sei das Ankerspill noch im Logis; „die Klüsen werden dicht gemacht mit Matten und mit Holzkeilen, schlagen aber offen bei schlechtem Wetter, in der Unterkoje wird hoch Wasser“. Auf solchen Schiffen sind unsere deutschen Seeleute jahrzehnte-

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lang gefahren, ohne daß von ihrem Murren ein Laut in die Öffentlichkeit gedrungen ist.

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G. Über Verhältnisse der Krankenpflege ist nichts Besonderes zu sagen. Sie spielen bei den direkten Ostseelinien eine geringere Rolle als sonst. – Die Fragen des FRC in betreff der Sicherungen der Maschinen, Vieschen u.s.w. werden, ähnlich wie sonst, 5 Mal mit „gut“, 1 Mal mit „alles vorhanden“, 1 Mal mit „genügend“ beantwortet; in entsprechender Weise die nach den Pumpen; und in Bezug auf das „laufende Gut“ heißt es nur 1 Mal „sehr mangelhafter Zustand“. Beleuchtung der Laderäume ist 2 Mal durch „große 4eckige Laternen“, 2 Mal durch Petroleumlampen, 1 Mal nur als „sehr schwach“ bezeichnet, 2 Mal als „elektrisch“. Wo die Beleuchtung „sehr schwach“, da sind auch nur „lose Leitern“, auch auf dem schlechtesten Logisdampfer „Holzleitern“ (was dasselbe bedeutet wie lose), sonst „feste eiserne Raumleitern“. – Über die Rettungsboote sind mehrere Klagen vorhanden. „Zwei an Bord, sehr alt, mangelhaft ausgerüstet.“ „Vier, mangelhaft ausgerüstet, werden als Lagerraum benutzt.“ „Zwei, mit Proviant nicht ausgerüstet.“ In 3 Fällen – wovon 2 mit diesen 3 zusammenfallen – heißt es auch: „noch nicht zu Wasser gelassen“. Was Gürtel und Westen angeht, so wird alles bejaht, nur daß 2 Mal man die Westen „noch nicht bemerkt hat“. – Der Zustand der Boote auf Lübecker Dampfern wird auch sonst gerügt. So in einem zwei Jahre späteren Bericht von dem einen Schiffe, an dem im FRC in Bezug auf die Boote nur ausgesetzt war, daß sie „noch nicht zu Wasser gelassen“: es wird behauptet, daß hier im Sommer 1901 die Boote als Kabelgatt gedient hätten und undicht gewesen seien. Die Davits seien nicht auszuschwingen gewesen, und die Besatzung habe einmal im Lübecker Hafen 2 Stunden gebraucht, um 1 Boot zu Wasser zu lassen (Z.S. 29. März 1902). Von demselben Schiffe wird mündlich aus etwas späterer Zeit erzählt, es sei auf Strand gekommen, der Kapitän wollte Ladung über Bord werfen, die Mannschaft wollte erst die Boote klarmachen, sie habe aber ¾ Stunde gebraucht, um die Boote auszuschwenken; dann wurde man gewahr, daß sie keine Dollen (Ruderklammern) hatten, der Meister mußte erst Stangen abhauen, der Zimmermann erst Löcher bohren; der Steuermann habe gesagt: „Min Bootsmann hett dat all versluttert“. Auf anderen Schiffen findet man ein Boot auf Deck liegend; die Davits seien da nicht mal hoch genug, daß es über die Reeling gehe. U. dgl. m. H. Willkürliche Mißhandlungen werden ausdrücklich von seiten der Arbeiter als selten bezeichnet. Hin und wieder wird aber auch hier Klage über einen „schlagfertigen Herrn“ laut. – Ein „Wasserschout“ steht an der

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Spitze des Seemannsamtes. Bei diesem Amte wurden (1901) 39, (1902) 34 Vergehen gegen die S-O angezeigt und hierfür (1901) 25, (1902) 21 Strafverfügungen und Strafbescheide erlassen. In (1891) 7, (1892) 4 Fällen mußte polizeiliche Hilfe requiriert werden, um die betreffenden Seeleute zwangsweise zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten. Der Betrag der erkannten Geldstrafen war (1901) 330,50 Mk., (1902) 333 Mk., wovon (1901) 240,50 Mk., (1902) 115 Mk. an die Lübecker Seemannskasse und (1901) 90 Mk., (1902) 188 Mk. an fremde Seemannsämter überwiesen wurden. Nur einmal in beiden Jahren wurde Einspruch und zwar von dem Verurteilten erhoben. Berufungsinstanz ist das Amtsgericht. I. Die „Seemannkasse“ in Lübeck ist im Jahre 1840 von der „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“ gegründet worden; ihr Zweck wird jetzt dahin bestimmt, hilfsbedürftige Seeleute und die Witwen von Seeleuten zu unterstützen, Fürsorge hinsichtlich des Besuches einer Navigationsschule durch junge Seeleute zu treffen und Unbemittelten solchen Besuch sowie die Ablegung von Steuermannsprüfungen und die Ableistung des einjährigen Freiwilligendienstes durch Geldbeiträge zu erleichtern. Sie verfügt über ein Kapital (aus Stiftungen und Schenkungen) von über 49000 Mk. und hatte in den Jahren 1900/01 Einnahmen von 2100 bis 2200 Mk. Ihre Ausgaben bestanden in diesen Jahren hauptsächlich in einer regelmäßigen monatlichen Unterstützung an 12 alte Seeleute; dazu kommen Unterstützungen alter und kranker, Mietunterstützungen, Unterstützungen zur Ausrüstung, Beihilfen zum Besuche der Navigationsschule. Die Witwenunterstützungen sind seit 1901 einem eigenen Konto für Unterstützung der Hinterbliebenen von Seeleuten überwiesen worden. Außerdem besteht unter Verwaltung der Seemannskasse eine besondere Seemannswitwenkasse, die 1901 Unterstützungen an 8 Witwen à 10 Mk. verteilte. – Ferner gibt es eine 1858 begründete Seefahrerkrankenkasse (freie Hilfskasse), die jetzt (1903) 227 Mitglieder zählt, zum großen Teil inaktive Seeleute. Das Eintrittsgeld ist nach dem Alter abgestuft, beginnend mit 1,60 Mk. Die regelmäßigen Beiträge – alle 4 Wochen – sind 60 Pf. à Person. Außerdem wird noch in eine „Totenlade“ gelegt, die bei Todesfall des Mannes oder der Frau 100 Mk. auszahlt. Es wird jetzt 10,10 Mk. Krankengeld gezahlt, außerdem nach Bedarf für ärztliche Behandlung, für Arznei- und Heilmittel, für Krankenhaus.

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gegründet worden;: Die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit ist Lübecks älteste Bürgerinitiative. Durch Dekret des Lübeckischen Senats vom 25. November 1795 ist ihr Rechtsfähigkeit und damit der Status eines rechtsfähigen Vereins alten Lübecker Rechts verliehen worden.

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K. Im allgemeinen gelten die sittlichen Zustände der Lübecker Seeleute nicht für schlecht. Die Seemannsmission hat auch hier keinen Einfluß. – Verheiratete Seeleute sind bei dem Überwiegen fester Linien viel häufiger. Matrosen, die regelmäßig auf Lübecker Schiffen fahren, wohnen an der pommerschen Küste und haben einen kleinen, von der Frau geführten Landbetrieb. Verheiratete Heizer wohnen meist in Lübeck. Die Wohnungen in der Lübecker Hafengegend sind sehr bescheiden; für die geringsten – wie ich solche von Matrosen gesehen habe – wird 125 Mk. Mietzins gezahlt, sonst 160-180 Mk. Die Frau erwirbt regelmäßig mit, was durch die Abwesenheiten des Mannes erleichtert wird, für die Kinder aber um so ungünstiger ist. L. Unter den Angemusterten des Jahres 1902 (die aber, wie immer bemerkt werden muß, nicht ebenso viele Individuen sind) waren:

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von  “  “  “

Matrosen . . . . . . 67 Lübecker, 218 andere Deutsche, 35 Ausländer, Leichtmatrosen . . . 32    “ 33   “    “ 14    “ Jungen . . . . . . . 30    “ 23   “    “ 2    “ Heizern und Trimmern 109    “ 156   “    “ 19    “

In der Decksmannschaft sind die Lübecker schwach vertreten; sie gehen lieber auf Hamburger Schiffe. – Die älteren Matrosen gehen zur Hafenarbeit über. Für die Ausbildung von Steuerleuten haben die Lübecker Schiffe ebensowenig Bedeutung, wie für die Maschinisten. Desertionen von Lübecker Schiffen sind selten (1-2 im Jahre). M. Auch in Lübeck beobachten wir ein völliges Verschwinden der Segelschiffahrt, die einst Reichtum und Macht der Hansakönigin begründet hatte. Am Ende des 16. Jahrhunderts besaß sie noch über 300, 1829 nur noch 72 eigene Schiffe, aber selbst 1865 noch 2 Backschiffe, 17 Briggs, 11 Schoner und 1 Galeasse, daneben 3 Räder- und 7 Schraubendampfer. Lübeck hat das Besondere, daß dem völligen Verschwinden der Segelschiffahrt nur eine recht schwache Entwicklung der Dampferkauffahrtei gefolgt ist. Über das letzte Dezennium ist schon sub A Auskunft gegeben. – Überstauung spielt auf Lübecker Schiffen eine geringere Rolle als sonst. Von Deckslasten ist zwar 6 Mal im FRC die Rede, aber nicht von besonders hohen; die Sicherung durch Reeling, Notreeling, Strecktaue wird als genügend angegeben. Auch die schwache Bemannung macht sich auf diesen meist alten Schiffen wenig bemerkbar. Die mangelhafteren Einrichtungen erlauben weniger, an Mannschaft zu sparen. Vor einigen Jahren wurde in den „Lübischen Blättern“ getadelt, daß Lübecker Schiffe oft ein größeres Personal

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Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck

führen als weit größere Hamburger, und daß jenes auf See oft kaum notdürftig beschäftigt werden könne. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß Lübeck in der Statistik der Unfälle günstig dasteht. – Auf den neuen Schiffen dürfte es mit der Bemannung sich ebenso verhalten wie in der Ostseereederei überhaupt. N. Die Lübecker Mitgliedschaft des Seemannsverbandes ist am 1. Juni 1899 gegründet; sie zählt etwa 90 Mitglieder. Die Leitung ist in den Händen inaktiver Seeleute, nunmehriger Hafenarbeiter, hat daher „wenig Gelegenheit, mit den Mitgliedern in Verbindung zu treten“ (Z.S. 28. Februar 1903). Die Versammlungen wurden aber ziemlich gut besucht. Die Mitgliedschaft ist im Gewerkschaftskartell durch einen Delegierten vertreten. Der „Seemann“ wird in ca. 60 Exemplaren gelesen. Die Reeder haben auch in Lübeck sich auf den Standpunkt gestellt, den Verband als Vertretung der Seeleute anzuerkennen und mit ihm zu verhandeln. Bei Gelegenheit der Verhandlungen über Verlängerung des Tarifs, die im Juni 1902 in der Handelskammer stattfanden, wurde auch vereinbart, daß in Zukunft alle Beschwerden der Seeleute erst der Organisationsleitung und von dieser dann der interessierten Reederei zwecks Abstellung der Mißstände weitergemeldet werden sollen. Die Vertreter des Verbandes erklärten sich bereit, von der öffentlichen Kritik der gemeldeten Mißstände, im Falle, daß sie abgestellt würden, Abstand zu nehmen (Z.S. 7. Juni 1901). Die Leiter der Mitgliedschaft sind ernsthafte ältere Leute; die meisten haben lange auf Segelschiffen gefahren und sehen etwas mitleidig auf die Dampfermatrosen herab, halten es aber für kollegialische Pflicht, ihnen durch die Organisation zu helfen. Man darf annehmen, daß auch hier die Bemühungen nicht ganz vergeblich sind. Die Vergrößerung des Reedergeschäftes wird ihnen zu gute kommen. Die Zahl der Eintrittsgelder, die von der Mitgliedschaft erhoben wurden, war 1900–1902 62, 37, 51; die regulären Beiträge beliefen sich auf Mk. 474,75, 414, 684,75, nachdem der monatliche Beitrag von 75 Pf. auf 1 Mk. erhöht worden. Es sind also unter den 90 Mitgliedern 57 regelmäßig zahlende gewesen. Die Verwaltungskosten betrugen z.B. 1902 nur a) persönliche 50,03 Mk., b) sächliche 65,31 Mk.

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[Schreiben an die Herren Geistlichen mit der Bitte um Charakterisierung ihrer Konfirmanden] Altona, im Februar 1900. Mathildenstraße 21. 5

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Die geehrten Herren, welche diese Blätter empfangen, brauche ich auf den Wert und die Bedeutung der Moral-Statistik nicht hinzuweisen. Die Meisten von Ihnen wissen auch, daß zwar die ökonomischen Volkszustände vielseitig untersucht werden, daß aber eine genügende Kenntnis der Thatsachen des sittlichen Volkslebens keineswegs vorhanden ist und z.B. bei der Begründung von Gesetzvorlagen, die verbessernd darauf zu wirken bestimmt sind, vielfach vermißt wird. Die kleine Tabelle, die ich hiermit vorlege, soll für mich nur als Hülfsmittel für andere Forschungen dienen, deren Charakter hier des Näheren darzulegen ich mir versagen muß. Ich bin nicht in der Lage (der großen Kosten halber), diese Ermittelung etwa auf alle Konfirmanden unseres Landes zu erstrecken, sende daher diese Bogen nur an solche Herren, die ich persönlich zu kennen die Ehre habe, oder von denen ich sonst Gründe habe zu erwarten, daß sie, um der Sache willen, der Mühe, diese Listen auszufüllen, sich gerne unterziehen werden. Ich bitte dabei die Überschriften der Rubriken möglichst genau zu lesen und zu erwägen. Zur Erstattung etwaiger Auslagen (auch für Porto) bin ich bereit; wenn z.B. einer der Herren wegen mangelnder Zeit einem Lehrer oder anderen Gehülfen die Arbeit übertragen und diesen dafür entschädigen will.1 1

Ich möchte nur den Wunsch aussprechen, in diesem Falle, der in größeren Städten wahrscheinlich genug ist, die Arbeit der Hülfsperson wenigstens einer Kontrolle oder Nachprüfung zu unterwerfen.

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Charakterisierung ihrer Konfirmanden]: Bei diesem Text handelt es sich um die Druckversion eines zweiseitigen Briefes, der in der Beilage zum Schleswig-Holsteinischen Kir­­ chenblatt erschienen ist. Der moralstatistischen Umfrage unter Pastoren in Schleswig-Holstein sind erläuternde Fragebögen beigefügt (Tönnies Nachlass in der Landesbibliothek Schleswig-Holstein Cb 54.39:03). Die kleine Tabelle: Es sind keine Originale der Tabellen im Bestand der Landesbibliothek gefunden worden. Der Aufbau der 2 Fragebögen ist aus der den „Mitteilungen Moralstatistik betreffend.“ in der „Beilage zum Schleswig-Holsteinischen Kirchenblatt.“, Nr. 11 vom 2.12.1900 (DSN 141 des Werkverzeichnisses) zu entnehmen. Siehe dazu Seite 263 ff. in diesem Band.

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Man möge dann nur bei Rücksendung gütigst verzeichnen: „Auslagen .............. M. .............. ₰.“ Meine Bitte geht aber dahin, die gewünschten Angaben für sämtliche jetzt von Ihnen zur Konfirmation vorbereitete Knaben sorgfältig einzutragen, und vor dem 30. April an mich zurückzusenden. (Vom 1. April ab gilt 10 ₰ Porto bis zu 20 gr.). Sollte einer der Herren in diesem Jahre keine Konfirmanden haben, und seinen Herrn Amtskollegen geneigt finden, die Leistung zu übernehmen, so bitte ich, diesem gefälligst die Papiere zu übergeben. Auch sonst werde ich dankbar sein, wenn mir die Adressen solcher Herren Geistlichen mitgeteilt werden, die das Schema nicht erhalten haben, und sich ausdrücklich bereit erklären, der Aufgabe zu dienen. Ebenso wird die Nachlieferung von Formularen (auf Einforderung per Postkarte) erfolgen. Wenn etwa Bedenken entstehen wegen Preisgebung der Namen mit den beigefügten Urteilen, so bemerke ich 1) daß ich von den Namen durchaus keinen öffentlichen Gebrauch machen werde; 2) daß aber auch der bloße Vorname genügen wird, wenn nur Geschwister als solche kenntlich gemacht werden. Dies geschieht am einfachsten, indem die Reihen von Brüdern einander folgen, durch geschwungene Klammer verbunden, (eventuell auch durch Andeutung: „Stief“-), und ich bitte darum, diese Kenntlichmachung nicht zu unterlassen. Wenn im übrigen einzelne der äußeren Daten zweifelhaft bleiben, so wolle man dies nur durch ein Fragezeichen andeuten. – Ich bemerke aber ausdrücklich, daß mir an den Urteilen (über Begabung und Anlagen) der Herren Geistlichen besonders gelegen ist, wenn auch der Lehrer das Kind länger und besser kennen sollte. Gerade diese Urteile möchte ich nicht nach Gesichtspunkten der Schulerfahrung, sondern auf Grund unbefangener, aber durchdachter Beobachtung und mit dem Blicke, der den Kern der (intellektuellen und moralischen) Persönlichkeit zu erfassen sucht, ausgeführt wissen. Dabei ist eine kurze, schlagende Charakteristik, wie sie durch das Schema geboten ist, am ehesten möglich; so empfehle ich für Rubrik 8 folgende Abstufungen: „sehr schwach,“ „schwach,“ „mittelmäßig,“ „gut,“ „sehr gut;“ einer von diesen Graden pflegt, wenn auch nicht auf der Hand zu liegen, so doch leicht entdeckbar zu sein; ich mache aber darauf aufmerksam, daß als „sehr“ (schwach oder gut) nur die wirklich ungewöhnlichen Fälle bezeichnet werden dürfen. Ungleich schwieriger ist ohne Zweifel die moralische Charakteristik, zumal da sie hier nur ganz allgemein gehalten sein kann. Die Bekannt-

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Rubrik 8: „Urteil über (ausgeprägte) geistige Begabung des Kindes“; siehe Seite 264 in diesem Band.

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schaft mit dem jugendlichen Individuum wird, je nach der Größe der Gemeinde, und je nach dem Umstande, ob der konfirmierende Geistliche zugleich Schul-Inspektor ist oder nicht, mehr oder minder vollkommen, sie wird in größeren Städten, nach der eigenen Meinung, oft zu gering sein; eine nähere Prüfung, etwa mit Heranziehung des Lehrers, wird nicht immer angängig erscheinen. Auch würde mancher, wenn es sich darum handelte, eine bestimmte Ansicht über den moralischen Wert des Kindes zu gewinnen, zaudern, ein geschriebenes Votum abzugeben, teils wegen allgemeiner Bedenken, teils weil Thatsachen, ein solches zu rechtfertigen, zu wenig oder garnicht vorliegen. Ich möchte daher ausdrücklich betonen, daß mir an einer solchen Ansicht nicht gelegen ist; ein Geringeres wird mir sogar mehr bieten. Es ist nur ein Urteil über die sittlichen Anlagen, wozu ich anregen möchte. Ich meine, wenn die Aufmerksamkeit, vom Zeitpunkte des Empfanges dieser Blätter an, mehrere Wochen lang darauf gerichtet wäre, so dürfte ein Urteil dieser Art, unter folgendem Gesichtspunkte, sich erzielen lassen: „wird dem Knaben nach seinem Naturell und Charakter – abgesehen von Einflüssen häuslicher, religiöser und sozialer Art, die darauf wirken mögen – das Sittlich-Gute relativ leicht oder relativ schwer werden? ist er in dieser Hinsicht eine glückliche oder eine Natur, die zu Besorgnissen Ursache giebt?“ Ich denke mir auch hier eine 5fache Graduierung mit einer kleinen Modifikation des mittleren Grades und möchte vorschlagen, folgende Zeichen anzuwenden (ergänzt werde immer „sittliche Anlagen“): A = „sehr erfreulich“ B = „recht erfreulich“ C = „mittelmäßig“ oder „durchschnittlich“ und zwar C I eher günstig C II minder günstig D = „nicht unbedenklich“ E = „bedenklich.“ Ich bitte, dabei (sofern nicht bestimmte Thatsachen, z.B. Lügenhaftigkeit, dem Urteile zu Grunde gelegt werden können) – neben der Gemütsart (ob warm, freundlich oder kalt, finster; ob harmlos, hingebend, kindlich und offen oder berechnend, verstockt, verschlagen) – besonders die Qualität der Willensbestimmung ins Auge zu fassen, die zumeist schon in der körperlichen Erscheinung, der Physiognomie, dem äußeren Gebahren sich

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„bedenklich.“: Bezieht sich auf Rubrik 9 des Fragebogens; siehe Seite 264.

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ausprägt: ob „energisch,“ „fest“ oder „schlaff,“ „träge,“ „indolent.“ Ich weiß wohl, daß diese Merkmale in Wirklichkeit sehr kompliziert zu sein pflegen und selten in reinen Fällen vorliegen; aber ich meine wiederum: da hier eine eingehende Charakteristik nicht erfordert wird, so läßt sich doch durch Beobachtung ein hinlänglich starker Eindruck gewinnen, um eine Prognose und Classifikation der Persönlichkeit unter dem angegebenen Gesichtspunkte zuzulassen; wie etwa ein Arzt, nach körperlicher Untersuchung, die wahrscheinliche Militärtüchtigkeit beurteilt. – Manchem dürfte die Schablone zuwider sein. Ich weise deshalb darauf hin, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis der Schablone sich bedienen muß, und daß der Forscher sich nur zu hüten hat, die Schablone für mehr anzusehen, als sie ist; in dieser Hinsicht verspreche ich, wie in jeder andern, die gewissenhafteste Behandlung der gebotenen Daten, so daß sie, wie ich mit Sicherheit sagen darf, niemandem zum Schaden gereichen, vielleicht aber dem gemeinen Wohle förderlich sich erweisen wird. Um den privaten und vertraulichen Charakter dieser Enquete von vorn­ herein auszuprägen, versende ich diese Drucksachen, trotz des höheren Portos, in verschlossenem Kouvert, und bedaure nur, daß ich für die große Zahl der Empfänger, mit denen ich mich durch Verwandtschaft, Schulkameradschaft oder sonst verbunden weiß, nicht Grüße und Mitteilungen anderer Art schriftlich hinzufügen kann. Ich bitte aber Alle, die Behelligung mit Nachsicht aufzunehmen und meines wärmsten Dankes gewiß zu sein. Ferdinand Tönnies, Dr. Professor an der Universität Kiel.

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Im Februar d.J. hatte ich mir erlaubt, zum Behufe moralstatistischer Untersuchungen einen Fragebogen an eine erhebliche Anzahl, zum größten Teil mir persönlich bekannter Pastoren unseres Landes zu senden; später ist dann Herr Professor D. Titius so gütig gewesen, mir zu Hülfe zu kommen, und den Bogen auch in dem Kreise seiner Bekannten zu verbreiten. Wenngleich ich mir vorgenommen hatte, Sorge zu tragen, daß von den wissenschaftlichen Ergebnissen einiges den geehrten Herren zugänglich werden sollte, die durch ihre Mitarbeit zu denselben beitragen würden, so war doch meine ausgesprochene Meinung, die Sache zunächst als eine rein private und vertrauliche zu behandeln. Indessen, da der bisherige Erfolg, obschon befriedigend, nicht völlig meinen Zweck erfüllt, und da meine Absicht von dem sicheren Gefühl getragen wird, daß der Wert der Sache nicht in Zweifel gezogen werden kann, so glaube ich es der Sache selber schuldig zu sein, die Scheu vor der Öffentlichkeit auch in diesem Falle zu überwinden; und dies wird mir um so leichter, wenn eine Zeitschrift, die, jung und hübsch wie sie ist, doch nicht auf der breiten Heerstraße wandelt, und die mir vorzüglich geeignet scheint, Interesse und Verständnis für jene Sache zu fördern oder zu erwecken, sich dazu verstehen wird, den Mitteilungen darüber einen Platz freundlich einzuräumen. Es handelt sich um die Feststellung gewisser äußerer Tatsachen, und um einige subjektive Beobachtungen an den zur Confirmation vorbereiteten Knaben; auf Mädchen hatte ich die Fragen nicht ausgedehnt, um die Sache zu beschränken; wenn gleich an sich diese Kunde ebenso wichtig wäre. Das Schema war folgendes:

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Mitteilungen Moralstatistik betreffend: Mitteilungen Moralstatistik betreffend. In einer Beilage zum Schleswig-Holsteinischen Kirchenblatt vom 2.12.1900 Beilage Nr. 11, Sp. 5-8, Lunden 1900, S. 5 und 6. Im Februar 1900 übersendete Tönnies dazu einen Fragebogen nebst Anschreiben und Anmerkungen zum Ausfüllen an die „Geistlichen“ (DSN 130, siehe Seite 259 in diesem Band). Es sieht so aus, als ob das „nicht so gut bei den Pastoren ankam“ und Tönnies über diesen Weg (Kirchenblatt) erneut für die Umfrage wirbt.

Offenbare körperliche Gebrechen oder andere offenbare Kränklichkeit des Kindes

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Ein Vorname

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Ist das Kind schon erwerbsthätig gewesen als?

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6 Das Kind hat (oder hatte) einen Stiefvater? (auch bei Unehelichen); hat (oder hatte) eine Stiefmutter? Eventuell Todesjahr des Stiefvaters oder der Stiefmutter?

13 Besondere Anmerkungen über häusliche Verhältnisse und individuelle EigenWas will tümlichkeiten(soweit nicht in vorstehenden oder Rubriken enthalten). soll er werden? Beispiel: „in einer Anstalt erzogen;“ „schon bestraft mit –,“ „in Zwangserziehung“ u. dgl.

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Berufsart des (rechten) Vaters [Außerhäusliche regeloder U (= unehelich geboren); mäßige Thätigkeit der in diesem Falle hinzuzufügen, ob (rechten) Mutter? Heimat legitimiert(Abkürzung l). (Heimat (wenn außerhalb Schles(wenn außerhalb Schleswig-Holwig-Holsteins) und] steins) und).(eventuell) Todesjahr (eventuell) Todesjahr der des (rechten) Vaters (rechten) Mutter

Urteil über Urteil über (ausgeprägte) (ausgeprägte) geistige Begabung sittliche Anlagen des des Kindes Kindes

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Geburtstag

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Der Knabe wird konfirmiert aus Schulklasse

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In dem Begleitschreiben hatte ich für die Urteile eine Abstufung von 5 Prädikaten vorgeschlagen, deren Anwendung durch Zeichen erleichtert werden könne; etwa so, daß für die intellektuelle Charakteristik die Ziffern 1-5, für die moralische die Buchstaben A-E gebraucht würden; was aber diese letztere betrifft, so wünschte ich, daß für das mittlere und naturgemäß häufigste Prädikat (C) eine Unterscheidung zur Anwendung käme, indem C I „eher günstig“, C II „eher ungünstig“ bedeuten sollte, womit eben lediglich der subjektiven, aber unbefangenen Meinung des Beobachters Ausdruck gegeben werden sollte. Überhaupt hatte ich ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ich über die Schwierigkeit gerade dieses Urteils mich keiner Täuschung hingebe; und daß – wie sich wohl von selbst versteht – ein Urteil über den absoluten Wert der Persönlichkeit und deren schließliche Bewährung nicht gemeint sei, sondern nur eine Art von Prognose auf Grund einer Schätzung der Anlagen, die einem kompensierenden Einfluß nach der guten Seite hin – z.B. durch die Vorbereitung zur Konfirmation selber und durch spätere ähnliche Wirkungen – ebenso wohl Raum läßt, wie nach der üblen Seite hin die Gefahren auch für die sittlichen Anlagen nur allzu groß, im heutigen sozialen Leben vielleicht größer als je, sich geltend machen. Bei alledem wird kein Kenner der Wirklichkeit leugnen, daß die Anlagen, mit denen der Jüngling ins Leben hinaustritt, wie sie also im Konfirmandenalter sich entwickelt zeigen, einen gewaltigen und mitentscheidenden Faktor für seine spätere Charakter-Entwicklung und Lebensführung darstellen. Eben diese nun richtig zu beurteilen, ist in vielen Fällen schwer; am leichtesten natürlicher Weise für den Geistlichen, der in einer nicht zu großen Gemeinde ohne erhebliche fluktuierende Bevölkerung schon geraume Zeit amtiert, der etwa auch die Funktionen des Schulinspektors versieht, der zugleich mit Interesse und mit Begabung für solche Beobachtung ausgestattet ist – Bedingungen, die sich nicht immer, aber auch nicht allzu selten zusammenfinden. Dagegen gibt es viele Gemeinden, regelmäßig die der großen Städte, wo eine so nahe Kenntnis der Familien und der Individuen einfach unmöglich ist. Dennoch wird es selbst hier nicht ausgeschlossen sein, und wird dem Pastor, der während dieser Vorbereitungsmonate als Lehrer fungiert, nicht gleichgültig sein, sich ein solches provisorisches Urteil über den einzelnen ihm anvertrauten Menschen zu bilden. Wenn auch dies weniger sicher sein kann und die feinere Unterscheidung von C I und C II sich hier meistens verbieten dürfte, so wird doch eine Auszeichnung der sich deutlich abhebenden Fälle offenbar günstiger und glücklicher sittlicher Anlagen auf der einen, offenbar bedenklicher oder durchaus schlimmer auf der anderen Seite, einigermaßen möglich sein, wenn auch vielleicht

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die Erkundigung und die Heranziehung der Lehrer, die das Kind bis dahin unterrichtet haben, dabei unentbehrlich sein möchte. Übrigens hatte ich in meinem Begleitschreiben versucht, dem Urteil nach dieser Richtung hin eine gewisse Wegweisung zu geben; insbesondere durch folgende Worte: „Ich bitte, dabei (sofern nicht bestimmte Tatsachen, z.B. Lügenhaftigkeit, dem Urteile zu Grunde gelegt werden können) – neben der Gemütsart (ob warm, freundlich, oder kalt, finster, ob harmlos, hingebend, kindlich und offen oder berechnend, verstockt, verschlagen) – besonders die Qualität der Willensbestimmung ins Auge zu fassen, die zumeist schon in der körperlichen Erscheinung, der Physiognomie, dem äußeren Gebahren sich ausprägt: ob „energisch“, „fest“, oder „schlaff“, „träge“, „indolent“. Ich weiß wohl, daß diese Merkmale in Wirklichkeit sehr kompliziert zu sein pflegen und selten in reinen Fällen vorliegen: aber ich meine wiederum: da hier eine eingehende Charakteristik nicht erfordert wird, so läßt sich doch durch Beobachtung ein hinlänglich starker Eindruck gewinnen, um eine Prognose und Klassifikation der Persönlichkeit unter den gegebenen Gesichtspunkten zuzulassen; wie etwa ein Arzt nach körperlicher Untersuchung die wahrscheinliche Militärtüchtigkeit beurteilt“. Es liegt nahe, einzuwenden, daß die beiden Merkmale, Gemütsart und Qualität der Willensbestimmung, nach ihrer Güte und Tüchtigkeit keineswegs immer übereinstimmen; ein energisches Wesen wird sogar oft mit einer kalten und finsteren Gemütsart zusammentreffen. In der That habe ich keinen Zweifel darüber lassen wollen, daß ich den Kern der sittlich guten Anlagen in der Gemütsart, und zwar eben in der Freundlichkeit und (wenn das Wort gestattet ist) Lieblichkeit des Gemütes – die von dem, was gewöhnlich „Liebenswürdigkeit“ genannt wird, wohl zu unterscheiden ist – suchen würde. Niemand wird aber verkennen, daß noch manches dazu kommen muß, um einen guten und zuverlässigen Charakter zu bilden, und zwar vorzugsweise jene – an und für sich sittlich indifferente – Festigkeit, Beharrlichkeit, Tatkraft, kurz, was man wohl auch schlechthin als „Charakter“ zu bezeichnen pflegt. Der Beobachter wird also, um die Anlagen richtig zu erkennen, gleichsam eine Diagonale aus diesen Eigenschaften zu ziehen versuchen. – Ich bemerke noch zu dem Schema, daß Rubrik 11 ganz wohl wegfallen kann, wenn Rubrik 8 ausgefüllt ist. Um so wichtiger ist Rubrik 12 (Berufswahl) und hier kann ich auch an einem Punkte durchblicken lassen, wiefern diese Untersuchungen eine praktische Bedeutung unmittelbar gewinnen können. Sollte sich z.B. herausstellen, daß Knaben von bedenklichen oder doch minder günstigen Anlagen 18

Militärtüchtigkeit beurteilt“: Zitat aus dem Anschreiben vom Februar 1900 (DSN 130; siehe Seite 262) und auch von 1904 (siehe Seite 270).

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da, wo von einer Wahl überhaupt die Rede sein kann, in irgendwelchem Grade zu sittlich gefährlichen Berufsarten tendieren, zu Berufsarten heißt das, die mehr als andere zuverlässige Charaktere erfordern oder deren Ausübung leicht verrohend auf die Gemütsart wirkt; so sähe sich durch solche Erkenntnis der Volkserzieher und Seelsorger vor die Aufgabe gestellt, sofern es möglich wäre, diesem Zusammentreffen energisch entgegenzuwirken; wie das wohl in einzelnen Fällen häufig geschehen mag, keineswegs aber systematisch und auf Grund methodischer Wissenschaft geschieht. Endlich bemerke ich noch, daß unter Rubrik 13 Notizen, wie „Vater Potator“, „Mutter übelberufen“ oder auch erfreulichere Zeugnisse dieser Art immer geeignet sind, die übrigen Daten auf wichtige Art zu beleuchten und zu ergänzen. Manche solche Angaben finde ich schon in den Listen, die mir ausgefüllt zurückgekommen sind. Es versteht sich, daß diese Angaben, wie alle übrigen; von mir nur in abstrakter, mithin allerdiskretester Art benutzt werden; auch werde ich das Rohmaterial später vernichten. – Fragen, deren Beantwortung am ehesten entbehrt werden kann, habe ich in obigem Abdruck in eckige Klammern gesetzt. Ich sage nun zuvörderst allen werten und geehrten Herren, die meiner Bitte, zum Teil mit nicht geringen Mühen, nachgekommen sind, einen persönlichen und fachlichen Dank dafür. Denen aber, die es unterlassen haben, möchte ich mir erlauben, kundzuthun 1. daß mir der Empfang auch jetzt noch sehr willkommen wäre, auch wenn einige Rubriken unvollständig oder garnicht ausgefüllt worden sind, 2. daß ebenso dankenswert die Benutzung der Formulare (oder ihnen nachgebildeter Bogen) für die Fälle von 1901 sein würde, 3. daß ich zu jeder näheren Auskunft gerne bereit bin. Ich habe die Mitteilungen aus allen Gegenden des Landes, aus Städten und Landgemeinden empfangen, im ganzen über beinahe 900 Personen. Eine Vermehrung des Materials ist in hohem Grade erwünscht. Ich wage aber nicht, noch einmal ungerufene Formulare in die Pastorate zu senden. Ich appelliere daher an einen noch höheren Grad der Freiwilligkeit, der die Gabe, wie jede Gabe, nur um so wertvoller machen wird. Und zwar werde ich auf Einforderung (Postkarte oder Brief) mit Vergnügen Exemplare der Liste senden, so lange der Vorrat reicht; ich könnte aber auch noch eine neue Auflage drucken lassen. Jeder Leser, der der Sache gewogen ist, kann aber auch leicht selber ein solches Formular anfertigen oder sich anfertigen lassen; es gehört nur die Innenseite eines Foliobogens, Bleistift und Lineal dazu. Die Fragen brauchen nicht abgeschrieben zu werden; eine Kennzeichnung der Rubriken durch die Nummern (1-13, wobei 11 ausgelassen werden kann), würde vollauf genügen. In dieser Weise ausgeführt, würde es sich namentlich in kleinen Gemeinden um

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eine geringe, darum aber nicht minder anerkennenswerte Mühe handeln, da ja gerade hier die Bedingungen für genaue Kenntnis der Individuen und ihrer Lebensverhältnisse vorzugsweise günstig sind. Fünfzig solche Listen mit durchschnittlich je 10 Fällen würden zusammen eine erkleckliche Bereicherung des Materials ergeben. – Einen Termin für die Einsendung will ich nicht setzen, sondern auch diesen gänzlich dem eigenen Ermessen meiner Herren freiwilligen Mitarbeiter überlassen. Auf jeden Fall ist jetzt reichlich Zeit für Überlegung, Erfragung, Beobachtung, während in diesem Frühling manchem die Sache etwas plötzlich gekommen sein mag, was ich mir vorzuwerfen habe. Prof. Ferdinand Tönnies, Altona, Mathildenstr. 21.

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Auszug aus dem Begleitschreiben vom Februar 1900

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Ich bemerke ausdrücklich, daß mir an den Urteilen (über Begabung und Anlagen) der Herren Geistlichen besonders gelegen ist, wenn auch der Lehrer das Kind länger und besser kennen sollte. Gerade diese Urteile möchte ich nicht nach Gesichtspunkten der Schulerfahrung, sondern auf Grund unbefangener, aber durchdachter Beobachtung und mit einem Blicke, der den Kern der (intellektuellen und moralischen) Persönlichkeit zu erfassen sucht, ausgeführt wissen. Dabei ist eine kurze, schlagende Charakteristik, wie sie durch das Schema geboten ist, am ehesten möglich; so empfehle ich für Rubrik 8 folgende Abstufungen: „sehr schwach,“ „schwach,“ „mittelmäßig,“ „gut,“ „sehr gut;“ einer von diesen Graden pflegt, wenn auch nicht auf der Hand zu liegen, so doch leicht entdeckbar zu sein; ich mache aber darauf aufmerksam, daß als „sehr“ (schwach oder gut) nur die wirklich ungewöhnlichen Fälle bezeichnet werden dürfen. Wenn – wie empfohlen wird – hier Ziffern angewandt werden, so wird 5 immer = sehr schwach, 1 = sehr gut, und so im übrigen verstanden werden. Ungleich schwieriger ist ohne Zweifel die moralische Charakteristik, zumal da sie hier nur ganz allgemein gehalten sein kann. Die Bekanntschaft mit dem jugendlichen Individuum wird, je nach der Größe der Gemeinde, und je nach dem Umstande, ob der konfirmierende Geistliche zugleich Schul-Inspektor ist oder nicht, mehr oder minder vollkommen, sie wird in größeren Städten, nach der eigenen Meinung, oft zu gering sein; eine nähere Prüfung, etwa mit Heranziehung des Lehrers, wird nicht immer angängig erscheinen. Auch würde mancher, wenn es sich darum handelte, eine bestimmte Ansicht über den moralischen Wert des Kindes zu gewinnen, zaudern, ein geschriebenes Votum abzugeben, teils wegen allgemeiner Bedenken, teils weil Tatsachen, ein solches zu rechtfertigen, zu  2

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Auszug aus dem Begleitschreiben vom Februar 1900: Anschreiben zu dem Fragebogen 1904. Stimmt größtenteils mit dem Brief von 1900 überein (siehe Seite 259 ff.). Es gibt aber durchaus Unterschiede. Die in der Landesbibliothek vorgefundenen Fragebögen stammen aus dieser erneuten Umfrage und sind am Ende dieses Textes (Seite 272f.) abgedruckt. Rubrik 8: „Urteil über (ausgeprägte) geistige Begabung des Kindes“; siehe Seite 264 in diesem Band.

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wenig oder gar nicht vorliegen. Ich möchte daher ausdrücklich betonen, daß mir an einer solchen Ansicht nicht gelegen ist; ein Geringeres wird mir sogar mehr bieten. Es ist nur ein Urteil über die sittlichen Anlagen, wozu ich anregen möchte. Ich meine, wenn die Aufmerksamkeit, vom Zeitpunkte des Empfanges dieser Blätter an, einige Wochen lang darauf gerichtet wäre, so dürfte ein Urteil dieser Art, unter folgendem Gesichtspunkte, sich erzielen lassen: „wird dem Knaben nach seinem Naturell und Charakter – abgesehen von Einflüssen häuslicher, religiöser und sozialer Art, die darauf wirken mögen – das Sittlich-Gute relativ leicht oder relativ schwer werden? ist er in dieser Hinsicht eine glückliche oder eine Natur, die zu Besorgnissen Ursache gibt?“ Ich denke mir auch hier eine 5fache Graduierung mit einer kleinen Modifikation des mittleren Grades und möchte vorschlagen, folgende Zeichen anzuwenden (ergänzt werde immer „sittliche Anlagen“): A = „sehr erfreulich“ B = „recht erfreulich“ C = „mittelmäßig“ oder „durchschnittlich“ und zwar C I eher günstig C II minder günstig D = „nicht unbedenklich“ E = „bedenklich“. Ich bitte, dabei (sofern nicht bestimmte Tatsachen, z.B. Lügenhaftigkeit, dem Urteile zu Grunde gelegt werden können) – neben der Gemütsart (ob warm, freundlich oder kalt, finster; ob harmlos, hingebend, kindlich und offen oder berechnend, verstockt, verschlagen) – besonders die Qualität der Willensbestimmung ins Auge zu fassen, die zumeist schon in der körperlichen Erscheinung, der Physiognomie, dem äußeren Gebahren sich ausprägt: ob „energisch,“ „fest“ oder „schlaff,“ „träge,“ „indolent.“ Ich weiß wohl, daß diese Merkmale in Wirklichkeit sehr kompliziert zu sein pflegen und selten in reinen Fällen vorliegen; aber ich meine wiederum: da hier eine eingehende Charakteristik nicht erfordert wird, so läßt sich doch durch Beobachtung ein hinlänglich starker Eindruck gewinnen, um eine Prognose und Klassifikation der Persönlichkeit unter dem angegebenen Gesichtspunkte zuzulassen; wie etwa ein Arzt, nach körperlicher Untersuchung, die wahrscheinliche Militärtüchtigkeit beurteilt.

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„sittliche Anlagen“): Bezieht sich auf Rubrik 9 des Fragebogens; siehe Seite 264.

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Diese vor 4 Jahren meinen Listen beigegebenen Erläuterungen habe ich (ihrem Hauptinhalte nach) jetzt nochmals abdrucken zu lassen für zweckmäßig gehalten, weil der damalige Erfolg dafür zu sprechen schien, daß sie nicht ohne Nutzen gewesen sind. Besonders hat sich die Hinweisung auf eine Modifikation des mittleren Grades unter Rubr. 9 (C I und C II) als ein brauchbarer Fingerzeig erwiesen. Ferdinand Tönnies.

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Das Kind hat (oder hatte) Beruf des (rechten) Vaters Außerhäusliche Berufseinen Stiefvater? (auch oder U (= unehelich getätigkeit der (rechten) bei U); hat (oder hatte) borenes Kind). Des Vaters Mutter. Ihre Heimat eine Stiefmutter? Heimat (wenn nicht (wenn nicht SchleswigEvent. Todesjahr des StiefSchleswig-Holstein) und Holstein und (wenn vaters oder der Stiefmutter? (wenn gestorben) Todesgestorben) Todesjahr Pflege-Eltern? jahr



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Auszug aus dem Begleitschreiben vom Februar 1900 8

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Ist das Kind schon Offenbare körperUrteil über (aus- Urteil über (auserwerbstätig liche Gebrechen geprägte) geistige geprägte) sittliche gewesen? oder andere offenAnlagen des Begabung des als? bare Kränklichkeit Kindes Kindes des Kindes

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Schulklasse?

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Wahl oder Bestimmung des künftigen Berufes

Besondere Anmerkungen über häusliche Verhältnisse und individuelle Eigentümlichkeiten (soweit nicht in vorstehenden Rubriken enthalten)

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P.P. Unter dankbarster Anerkennung früher gewährter Beihülfe erlaube ich mir, im Interesse einer Forschung, deren Bedeutung von Theologen jeder Richtung gewürdigt wird, nochmals mich an die Herren Geistlichen, denen diese Blätter übersandt werden, mit der ergebenen Bitte zu wenden, die Liste der diesjährigen Konfirmanden so vollständig, als ohne große Mühe möglich ist, auszufüllen und sodann – etwa bis Ende Mai, jedoch wäre auch spätere Erledigung noch willkommen – an mich zurückzusenden. Für alles übrige verweise ich auf die jetzt der Liste beigedruckten Anmerkungen. Die Herren Empfänger, welche der evangelisch-sozialen Konferenz nahe stehn, mache ich darauf aufmerksam, daß ich ihre werten Adressen der Güte des Professor Titius verdanke, der meine Arbeit mit seinem tatkräftigen Interesse begleitet. Januar 1904.

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Ferdinand Tönnies.

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P.P.: pp.  „perge, perge“ (pp.), lateinisch für „fahre fort, fahre fort“. Hier handelt sich auch um ein Anschreiben zur erneuten Fragebogenaktion 1904. evangelisch-sozialen Konferenz: Der Evangelisch-Soziale Kongress (ESK) ist eine am 28. Mai 1890 von Theologen, Volkswirtschaftlern, Politikern, Juristen und anderen gegründete Vereinigung, die auf ihren jährlich stattfindenden Tagungen soziale Probleme vom Standpunkt der protestantischen Ethik aus erörtert.



Auszug aus dem Begleitschreiben vom Februar 1900

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Liste Anmerkungen:

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1. Die Ausfüllung der Rubriken wird in erster Linie für die zur Konfirmation vorbereiteten Knaben erbeten. Jedoch ist auch eine gleichartige Liste der Mädchen sehr willkommen. Wenn diese auf dem gleichen Blatte unmittelbar angeschlossen wird, so genügt die Trennung durch einen Strich. 2. Es wird bei der Rubrik 8 und 9 nur auf die subjektive Meinung des Konfirmanden-Geistlichen, die also unverbindlich ist, reflektiert. Wenn diese zugleich feste Überzeugung ist, so kann dies durch Unterstreichen kenntlich gemacht werden. Wenn nur das Urteil des (oder der) Lehrer wiedergegeben wird, so wolle man ein L davorschreiben. 3. Es wird empfohlen, unter Rubrik 8 die arabischen Ziffern 1 bis 5, unter 9 die Literae A bis E anzuwenden (wie früher geschehen). 4. Auch wenn auf Beantwortung von Rubrik 8 und 9 verzichtet wird, ist doch die Ausfüllung der übrigen Rubriken durchaus erwünscht, wenn sie als zuverlässig gelten darf. 5. Unter Rubrik 13 wird nicht nur an etwanige (günstige oder ungünstige) Tatsachen gedacht, sondern ist auch jede mitgeteilte Ansicht über häusliche Verhältnisse und dergl. willkommen. Ob große Armut? ob selbstverschuldet durch Eltern? Trunksucht oder sonstiger übler Ruf des Vaters? der Mutter? Ruf von Geschwistern? 6. Da ich die geehrten Herren, die diesen Bogen ausfüllen, als meine Mitarbeiter betrachte, so werde ich mir erlauben, in der von mir vorbereiteten und von der Königl. Akademie zu Berlin unterstützten Publikation moralstatistischer Studien die Namen solcher Mitarbeiter zu nennen, wenn dies nicht ausdrücklich verbeten wird. 7. Porto-Auslagen werde ich mir erlauben zu erstatten, wenn es nicht ausdrücklich (etwa durch eine Notiz auf dieser Seite des Blattes) abgelehnt wird. Auch sonstige Auslagen (z.B. für Schreibhülfe) wolle man gütigst vermerken, um die Erstattung zu bewirken. 8. Wer zur Ergänzung selbst einen Formular-Bogen entwirft, braucht die Rubriken nur durch Ziffern kenntlich zu machen. Wenn durch Post-

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Liste: Anmerkungen zur erneuten Fragebogenaktion 1904.

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karte der Wunsch ausgesprochen wird, so erfolgt Zusendung einer oder mehrerer Ersatz-Exemplare dieser Liste. 9. Geehrte Empfänger, die noch von früher her im Besitze einer ausgefüllten Liste sind, werden freundlichst ersucht, auch diese einzusenden. Solche, die in der Lage sind, die Ausfüllung für das vorige Jahr oder ein früheres nachzuholen oder zu ergänzen, werden gebeten, dies zu tun. 10. Für früher empfangene, willkommene und wertvolle Begleitbriefe erlaube ich mir an dieser Stelle ganz ergebenen Dank auszusprechen, sofern dies nicht individuell auf schriftlichem Wege oder mündlich schon geschehen ist. Januar 1904.

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GESETZGEBUNG PREUSSEN Die Erweiterung der Zwangserziehung Von PROF. DR. FERDINAND TÖNNIES1

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In langwierigen Kämpfen wehren sich die ursprünglichen, im unmittelbaren Wollen und Glauben beruhenden Verbände und Gemeinschaften der Menschen gegen die zersetzende, vereinzelnde, sie zu Mitteln für ihre Zwecke herabsetzende Vernunft der Individuen auf der einen, gegen die ebenso individualistisch wirkende Staatsraison auf der anderen Seite: in diesen Kämpfen vollzieht und verzehrt sich die gesamte neuere Entwicklung des sozialen Lebens. Jeder so geartete Kampf ist ein Todeskampf, sie erfüllen den Prozeß des Unterganges jener durch Wesen und Ueberlieferung geheiligten Verbände. Der letzte, einfachste, aber zäheste, weil innerlichste von allen ist die Familie. Daß ihre hergebrachte Gestalt durch die moderne ökonomische Entwicklung aufgelöst wird, ist beinahe ein Gemeinplatz geworden. Die Staatsgewalt wird angerufen, sie zu retten. Schutz der Frauen und Kinder vor der – formell durch ihren eigenen oder durch den Willen des Familienvaters, materiell durch das Interesse des Kapitalisten bewirkten – Individualisierung, die sie den Männern gleich zu Verkäufern ihrer Arbeitskraft macht, bildet den Kern der ganzen be1

Wo ich bei Citaten Worte durch Sperrdruck hervorhebe, die es im Originale nicht sind, setze ich die gesperrten Worte zwischen Asterisken (* *)

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Die Erweiterung der Zwangserziehung: Ferdinand Tönnies, Die Erweiterung der Zwangserziehung. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik (ab 1904: Namensänderung) (Braun, H. [Hg.]), Bd. 15, Berlin 1900, S. 458-489. Nachweis: SHL: (Cb 54.39:03).

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wußten Reaktion der Gesellschaft gegen ihre gegebenen Entwicklungstendenzen, die in der Fabrikgesetzgebung enthalten ist; und der Fortschritt wird immer lebhafter gefordert werden, wie er immer dringender notwendig und unaufhaltbar wird, der sie zu einer Hausindustrie-Gesetzgebung erweitert. Das Problem wird aber auch immer mächtiger sich erheben, ob und wieweit der gegebene Staat, der Arm der Gesellschaft, diese Aufgaben, die ihm die Gesellschaft zu überweisen gezwungen ist, zu tragen und zu erfüllen fähig sein werde, ohne seinerseits eine tiefe, innere Umbildung zu erfahren und sich gefallen zu lassen. Eine besondere, an sich verhältnismäßig geringfügige, in ihren Konsequenzen sehr bedeutende Seite dieses Problems ist es, die in der Erweiterung der Zwangserziehung verborgen ist. Im heutigen Privatrecht, wie es in unserem Bürgerlichen Gesetzbuche sich ausprägt, ist die Familie eine Anomalie. Sein gesamter Inhalt bezieht sich auf die Regelung des Austausches von Vermögenswerten zwischen einzelnen Personen, natürlichen oder juristischen Personen (die Familie ist weder das eine noch das andere). Grundbegriffe sind: die Fähigkeit, Rechte zu haben – allgemeines Merkmal der Person; und die Fähigkeit, Rechte auszuüben – besonderes Merkmal der mündigen Person.2 Die unmündige Person muß durch eine mündige Person, den Vormund, im Rechte (d.h. vor Gericht) vertreten werden. Die Staatsgewalt erzwingt, 2

Das B.G.B. schiebt dazwischen noch den „beschränkt geschäftsfähigen“ Minderjährigen.

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Fabrikgesetzgebung: Unter den Fabrikgesetzen oder der Fabrikgesetzgebung (Factory Act) wird die in England ab 1833 und später auch in anderen Ländern langsam einsetzende staatliche Gesetzgebung zum Schutz der Arbeiter, in England vor allen Dingen auch der als nationale Ressource als besonders schützenswert empfundenen Frauen und Kinder, vor der Willkür der Fabrikherren (Unternehmer), die die ihnen zu Beginn der Industrialisierung vollkommen ausgelieferten Arbeiter üblicherweise 15 Stunden und mehr beschäftigten. Siehe dazu: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6, Leipzig 1906, S. 247-253. Hausindustrie-Gesetzgebung: Am 20. Dezember 1911 verabschiedete der Reichstag das Hausarbeitsgesetz; es trat am 1. April 1912 in Kraft. Die wichtigste Anordnung, die zu fordern war, nämlich die Einrichtung von Lohnämtern zur gesetzlichen Festlegung von Minimallöhnen, wurde in das Gesetz nicht aufgenommen. Siehe dazu: Hausarbeitsgesetz vom 20. Dezember 1911, Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1911, Nr. 68, Nr. des Gesetzes 3980, Berlin, S. 976-985. Zwangserziehung: Definition von Zwangserziehung in Meyers Großem Konversationslexikon: Zwangserziehung, die staatlich überwachte Erziehung verbrecherischer und verwahrloster Kinder oder Jugendlicher, sei es in staatlichen oder privaten Anstalten, sei es in geeigneten Familien. Sie bildet begrifflich den Gegensatz zur Strafe, kann sich aber ergänzend an diese anschließen. Sie enthält einen Eingriff nicht sowohl in die Freiheit des zu Erziehenden, sondern in die elterliche Gewalt.

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nach Feststellung der Rechtsthatsachen durch Richterspruch, die Rechte jeder Person gegen alle anderen. Der Mündel hat auch Rechte gegen den Vormund; sie können durch einen Gegenvormund vertreten werden im gewöhnlichen Rechtswege, sie können aber auch direkt durch die Staatsgewalt vertreten werden, im Wege der Polizei, sei es durch ein besonderes Amt, oder durch „freiwillige“ Gerichtsbarkeit, d.h. eine Gerichtsbarkeit, die funktioniert, ohne durch Klage dazu veranlaßt zu werden. Dies ist das System der preußischen Vormundschaftsordnung gewesen, ist dem Prinzipe nach auch das des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Kernpunkt ist die ständige Aufsicht über alle geführten Vormundschaften. Nun ist, der begrifflichen Konsequenz nach, jede Vertretung der Rechte von Kindern durch Vater und Mutter nichts als ein besonderer Fall der Vormundschaft; sie müßte mithin einer ganz gleichartigen Aufsicht unterliegen. Diese Aufsicht ist ihrem Wesen nach, wie die ganze freiwillige Gerichtsbarkeit, eine öffentlich-rechtliche Funktion. Daß sie in das Privatrecht aufgenommen wird, hat seinen Grund darin, daß sie materiell ihre weit überwiegende Bedeutung im Vermögensrecht, daher für vermögenslose Vormundschaften praktisch fast keine Bedeutung hat. Wenn nun im Privatrecht der Gleichstellung von Kindern unter elterliche Gewalt mit bevormundeten Kindern die Tradition starke Hemmungen entgegenstellt, so bestehen hingegen für das öffentliche Recht solche Hemmungen nicht. Die polizeiliche Sorge für das Wohl von Kindern und die polizeiliche Befugnis zu Maßregeln gegen Kinder leiten sich direkt aus der allgemeinen Macht der Polizei, nach Maßgabe von Gesetzen öffentlichen Gefahren vorzubeugen, ab. Mit ihr konkurriert nur die strafrechtliche Behandlung solcher Kinder, die für strafbare Handlungen verantwortlich gemacht werden. Insoweit als diese einfach verurteilt und die Urteile vollstreckt werden, liegen sie außerhalb jener Sorge. Wenn aber die Absicht, solche Kinder zu erziehen und zu bessern, mit der Strafvollstreckung verbunden wird, oder sich daran anschließt, oder sie ersetzen will, so ist die strafbare Handlung nur ein möglicher Erkenntnisgrund, aus dem auf das Bedürfnis jener Absicht, d.h. auf den verwahrlosten Zustand des Kindes geschlossen wird. Und wenn der allgemeine Satz zum Rechtssatz wird: „verwahrloste Kinder fallen der Sorge des Staates anheim“, und wenn sogar dieser Satz von Kindern auf alle Minderjährige ausgedehnt wird – so ist dies von unermeßlicher Tragweite. So eng auch der Begriff der Verwahrlosung umschrieben werden möge, prinzipiell ist damit das Recht des Staates gesetzt, das Erziehungsrecht der Eltern nach seinem Ermessen aufzuheben, den Vater oder die Mutter, ganz wie einen Vormund, ihres Amtes

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zu entsetzen.3 Soweit es dabei um festgestellte Schuld an der Verwahrlosung sich handelt, ist der Grundsatz längst in theoretischer Geltung (die Fälle des § 1666 B.G.B.); praktisch aber fast nur nach Maßgabe neuerer Zwangserziehungs-Gesetze zur Anwendung gelangt. Dagegen ist auch theoretisch kontrovers die Unabhängigkeit des Einschreitens von schuldhaftem Verhalten; im Reichsrechte nicht zugelassen, ist sie, wie wir sehen werden, den Landesgesetzgebungen freigegeben worden. Der Gebrauch, den die Gesetzgebung des größten Staates im Reiche von dieser Befugnis macht, wird daher von einschneidender Bedeutung sein. Wenn ein radikaler Gebrauch davon gemacht wird, so wird um so schärfer die Frage geltend gemacht werden müssen: ob der Staat entschlossen und vorbereitet sei, eine gerechte Anwendung durchzuführen, ob er der großen moralischen Aufgabe, die er damit übernimmt, auch moralisch gewachsen sei; welche Frage jedoch nicht minder für die Sache überhaupt, also auch wenn Schuld der Eltern oder des Vormundes behauptet wird, gelten. Wir wollen unter diesen Gesichtspunkten die für Preußen beantragte Erweiterung der Zwangserziehung prüfen. Der „Entwurf eines Gesetzes über die Zwangserziehung Minderjähriger“ der am 8. Januar d.J. dem preußischen Herrenhause unterbreitet wurde, enthält gegenüber dem geltenden Gesetze vom 13. März 1878 drei sehr bedeutende Neuerungen, die sich als prinzipielle Erweiterungen der mit dem Namen „Zwangserziehung“ behafteten Institution darstellen: 3

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Ganz abzusehen von dem Rechte, solche Minderjährigen, die der häuslichen Erziehung entwachsen sind, durch eine Art von administrativer Justiz der „Zwangserziehung“ zu unterwerfen.

zur Anwendung gelangt.: „§ 1666. Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes da­­durch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes miß­­braucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhal­tens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Ge­­fahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbeson­dere an­­ordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird. Hat der Vater das Recht des Kindes auf Gewährung des Unterhalts verletzt und ist für die Zukunft eine erhebliche Gefährdung des Unterhalts zu besorgen, so kann dem Vater auch die Vermögensverwaltung sowie die Nutznießung entzogen werden.“ In: Reichsgesetzblatt, Bürgerliches Gesetzbuch des Deutschen Reiches vom 18. August 1896, Nr. 21, Nr. des Gesetzes 2322, Viertes Buch, Dritter Abschnitt, Rechtsgeschäfte, Vierter Titel, Rechtliche Stellung der ehelichen Kinder, § 1666, Berlin. Zwangserziehung Minderjähriger“: Der Entwurf ist am Ende dieses Textes abgedruckt. Außerdem zu finden im Anhang von: Die Zwangserziehung Minderjähriger und der zur Zeit hierüber vorliegende Preussische Gesetzentwurf. Dr. P. [Paul] F. [Felix] Aschrott, Landgerichtsrath in Berlin. Berlin 1900, S. 47 ff.

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1. Während bisher nur Kinder zwischen 6 und 12 Jahren (denn die Fälle nach § 56 des Str.G.B. lagen außerhalb des Gesetzes) so können ihr, nach dem Entwurfe, alle Minderjährigen, von der Geburt an bis zum vollendeten 18. Lebensjahre unterstellt werden. 2. Während bisher die Maßregel auf richterliche Feststellung einer von dem Kinde begangenen, sonst strafbaren Handlung gebunden ist, so wird sie nach dem Entwurfe davon gelöst; sie wird auch möglich, wenn dieser Thatbestand nicht gegeben ist, aber eine von zwei anderen Voraussetzungen vorliegt: A) ein schuldhaftes Verhalten des Vaters oder, wenn ihr die elterliche Gewalt zusteht, der Mutter des Kindes, wodurch das geistige oder leibliche Wohl des Kindes gefährdet wird (hierauf geht § 2,1 des Entwurfes); B) „wenn die Zwangserziehung außer diesen Fällen wegen Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen Erzieher, oder der Schule, zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist“ (Entwurf § 2,3). Die vorgeschlagenen Neuerungen des preußischen Landesgesetzes beruhen teils in Bestimmungen des B.G.B. teils in solchen des Einführungsgesetzes dazu. Im B.G.B. regelt § 1666 die Befugnis des Vormundschaftsgerichtes, inbezug auf Kinder, die unter elterlicher Gewalt stehen, § 1838 inbezug auf bevormundete Kinder, erzieherische Anordnungen zu treffen. Nach § 1838 ist diese Befugnis unbeschränkt, sofern nicht dem Vater oder der Mutter die Sorge für die Person des Mündels zusteht. Wenn dies der Fall ist, so wird, ebenso wie im § 1666 inbezug auf nicht bevormundete Kinder, die Befugnis an die Konstatierung einer Gefahr für das Kind gebunden und zugleich zu einer Pflicht erhoben. Wenn nämlich „das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet wird, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt *oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht*, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder in einer 14 20

(Entwurf § 2,3).: Das Gesetz für das Königreich Preussen über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger wurde am 2. Juli 1900 verabschiedet. GS, Berlin 1900, S. 184 ff. erzieherische Anordnungen zu treffen.: „§ 1838. Das Vormundschaftsgericht kann anordnen, daß der Mündel zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird. Steht dem Vater oder der Mutter die Sorge für die Person des Mündels zu, so ist eine solche Anordnung nur unter den Voraussetzungen des § 1666 zulässig.“ In: Reichsgesetzblatt, Bürgerliches Gesetzbuch des Deutschen Reiches vom 18. August 1896, Nr. 21, Nr. des Gesetzes 2322, Viertes Buch, Dritter Abschnitt, Rechtsgeschäfte, Vierter Titel, Rechtliche Stellung der ehelichen Kinder, § 1838, Berlin.

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Besserungsanstalt untergebracht wird.“ Dieselbe Befugnis inbezug auf Mündel tritt in § 1838 als besondere Anwendung der allgemeinen Pflicht des Vormundschaftsgerichtes zur „Fürsorge und Aufsicht“ über geführte Vormundschaften auf. Das Wort „Zwangserziehung“ kommt im B.G.B. selber nicht vor. (In der That fehlt dem Vormundschaftsrichter, wie ein Erkenntnis des Reichsgerichts festgestellt hat, die unmittelbare Zwangsgewalt.) Dagegen bestimmt das Einführungsgesetz zum B.G.B. in seinem Art. 135: „Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die Zwangserziehung Minderjähriger. Die Zwangserziehung ist jedoch, unbeschadet der Vorschriften der §§ 55, 56 des Strafgesetzbuches nur zulässig, wenn sie von dem Vormundschaftsgericht4 angeordnet wird. Die Anordnung kann, außer den Fällen der §§ 1666, 1838 des B.G.B. nur erfolgen, wenn die Zwangserziehung zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist...“ Der hier gezogenen Richtlinie will nun der preußische Gesetzentwurf folgen. Auch früher, ja früher – nämlich ehe es ein Reichs-Privatrecht, einschließend Vormundschaftsrecht, gab – auf minderbedingte Weise, stand den Landesgesetzgebungen zu, diese Materie zu ordnen, und sie haben es nach verschiedenen Prinzipien gethan, nämlich teils, wie die preußische5 in der eingeschränkten Weise, daß die Regelung nur als Ausführung von § 55 des Str.G.B. sich darstellt, also an die sonst strafbare Handlung des Kindes geknüpft bleibt; teils in der ausgedehnten Weise, wie es nunmehr durch das Einführungsgesetz ausdrücklich, wenn auch mit Limitierung, freigegeben wird. Der vorliegende Entwurf will nun für Preußen einmal (1) „die Durchführung der vormundschaftlichen Zwangserziehung in allen Fällen, wo sie sonst aus Mangel an materiellen Mitteln unter4

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Es gehört zu den technischen Schönheiten des B.G.B., die selbst den geschulten Juristenkopf zu ermüden geeignet sind, daß hier überall wo etwas ausschließlich dem Vormundschaftsgericht zugewiesen wird, dies doch dahin verstanden werden muß, daß die Landesgesetze eine besondere Verwaltungsbehörde an dessen Stelle setzen können (Einführungsgesetz Art. 147). Soweit als das Allgemeine Landrecht galt, hatte freilich außerdem das vormundschaftliche Gericht ganz allgemein die Obliegenheiten, sich verwahrloster Kinder „von Amtswegen“ anzunehmen, wenn die Eltern sie „grausam mißhandeln, oder zum Bösen verleiten, oder ihnen den notdürftigen Unterhalt versagen“ (A.L.R. II, 2 § 90) und war berechtigt solchen Eltern die Erziehung zu nehmen, freilich nur „auf deren Kosten“ sie in andere Hände zu geben; ähnliches galt in anderen Gesetzbüchern. notwendig ist...“: Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche. In: Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1896, Nr. 21, Nr. des Gesetzes 2323, Fassung vom 18. August 1896, Berlin, S. 604 bis 650.

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bleiben mußte, sicherstellen“;6 er will aber zugleich, indem er Zwangserziehung überhaupt aus „die Erziehung ... Minderjähriger unter öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten“ definiert (§ 1) diese Art (die vormundschaftliche) an die „materielle Bedingung“ knüpfen, daß sie „als erforderlich“ befunden werde „um die sittliche Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten“ (§ 2,1 s. Begr. S.  13). Er will sodann (2) die geltenden Bestimmungen über Zwangserziehung strafmündiger Delinquenten in sich aufnehmen „mit Beseitigung der unteren Altersgrenze“; hier heißt es wiederum, wie in dem bestehenden Gesetze, ... „wenn die Zwangserziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Persönlichkeit der Eltern oder sonstiger Erzieher und die übrigen Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung des Minderjährigen erforderlich ist.“ Er will endlich, (3) von der Anweisung des Einführungsgesetzes Gebrauch machend, die Maßregel auch dann zur Geltung bringen, wenn außer den Fällen ad 1 und 2 die Zwangserziehung „wegen Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist“. In allen 3 Fällen oder Gruppen von Fällen handelt es sich also um Verhütung: es ist aus keinem der Gesetze oder ihren Begründungen irgendwie ersichtlich, welchen Unterschied ihre Urheber zwischen „sittlicher Verwahrlosung“, „weiterer sittlicher Verwahrlosung“ und „völligem sittlichem Verderben“ machen, wenn aber bei dieser Mannigfachheit der Ausdrücke irgend etwas gedacht worden ist, so muß es darin um das Schlimme, das Schlimmere und das Schlimmste sich handeln, so daß, wenn die Gefahr ersten Grades besteht, erst bei schuldhaftem Verhalten der Erzieher (kraft regulärer Obervormundschaft); wenn aber die Gefahr dritten Grades vorliegt, schon bei ungünstigen Verhältnissen diese „einschneidendste Maßregel“ (Begr. S.  13) verhängt werden darf resp. soll. Der Fall eines die Verwahrlostheit zur Erscheinung bringenden Delikts würde dann die mittlere Gefahr bezeichnen. Für alle Fälle ist mithin die Aufgabe gestellt, die Gefahr zu erkennen und Vorkehrungen gegen sie zu treffen. Eine höchst bedeutende Aufgabe! Und eine höchst bedeutende Machtbefugnis – die wer damit empfängt? Der königlich preußische Amtsrichter. Und wer hilft ihm zu jener wichtigen und folgenschweren Erkenntnis? „Das Vormundschaftsgericht beschließt von Amtswegen oder auf Antrag. Zur Stellung des Antrages ist der Landrat, in Stadtkreisen der Magistrat und der Vorstand der Königlichen Polizeiverwaltung berechtigt und verpflichtet. Vor der Be6

So drückt sich die Begründung aus S. 13. Ich halte zwar diese Ausdrücke für juristisch ungenau, lasse sie aber auf sich beruhen.

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schlußfassung soll das Vormundschaftsgericht, soweit dies ohne erhebliche Schwierigkeit geschehen kann, die Eltern, den gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen, und in allen Fällen den Gemeindevorstand, den zuständigen Geistlichen und den Leiter oder Lehrer der Schule, welche der Minderjährige besucht oder zuletzt besucht hat, hören. Auch hat, wenn die Beschlußfassung nicht auf Antrag erfolgt, das Vormundschaftsgericht zuvor dem Landrate etc. unter Mitteilung der Akten Gelegenheit zu einer Aeußerung zu geben. ... Gegen den Beschluß findet die sofortige Beschwerde statt. Die Beschwerde hat aufschiebende Wirkung“: § 4 des Entwurfes. Nach geltendem Rechte (in Preußen) bestehen ähnliche Kautelen; aber als zur Stellung des Antrages berechtigt ist keine besondere Kategorie von Personen ausgezeichnet; die Staatsanwaltschaft aber ist verpflichtet, von den „strafbaren Handlungen“ 6-12 jähriger Kinder, die zu ihrer Kenntnis gekommen sind, Mitteilung an das Vormundschaftsgericht zu machen. Es darf nun vielleicht mit Grund erwartet werden, daß – wenigstens einstweilen – in Preußen, wie in anderen Bundesstaaten, wo schon ähnliches Recht besteht, Polizei und Gericht von diesen sehr weitgehenden Befugnissen, die so tief in die elementaren Bestandteile des Privatrechts hineingreifen, einen diskreten, gewissenhaften und vorsichtigen Gebrauch machen werden. Diese Erwartung kann aber nicht davon abhalten, mit aller Schärfe darauf hinzuweisen, welche neue Gefahren des Mißbrauchs der Amtsgewalt hier vor unseren Augen emporwachsen. Gegen den Grundgedanken des Gesetzentwurfs, daß man Kinder, die in einer offenbar demoralisierenden Umgebung leben, von Staatswegen und eventuell auf Staatskosten in eine bessere Umgebung bringen solle, wird nicht leicht ein bedeutender Einwand sich geltend machen; auch darüber, daß zwar die Begehung mancher strafbarer Handlungen, und die Art solcher Thaten, einen guten Erkenntnisgrund für das Vorhandensein solcher Gefahr, aber keineswegs den einzigen möglichen Erkenntnisgrund dafür abgebe, dürfte ziemlich allgemeines Einverständnis herrschen. Was aber starken und entschiedenen Einspruch herausfordert, ist die leichte, oberflächliche, äußerliche Art, in der sowohl im B.G.B., wie in diesem Gesetzentwurfe, ein so schwerwiegendes sozialethisches Problem behandelt und – keineswegs gelöst wird. „Das B.G.B. hat den Vormundschaftsrichter mit weitgehenden Befugnissen ausgestattet; es hat ihn zum gesetzlichen Fürsorger und Beschützer der Minderjährigen gemacht und ihn zu dem tiefsten Eingreifen in die elterliche und vormundschaftliche Gewalt zum Schutze des Minderjährigen berechtigt und verpflichtet“, so heißt es in der Begründung dieses Entwurfes S.  13. Ist denn aber auch der durchschnittliche Vormundschaftsrichter zur Ausübung so tiefgehender Befugnisse innerlich berufen, kann er den Befähigungsnachweis dafür

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bringen? macht ihn seine normale Thätigkeit, die Entscheidung von Bagatellprozessen, macht ihn auch nur seine außerordentliche Thätigkeit, die Ueberwachung von vormundschaftlichen Vermögensverwaltungen, sonderlich geeignet und geschickt, jene seelsorgerische Thätigkeit mit der hohen Einsicht in die Thatsachen und Bedürfnisse des Volkslebens, in die Psychologie des Kindes, auszuüben, die dafür erforderlich ist? Ist das, was wir über das Vorleben des jungen Juristen erfahren, ist die ganze Art seiner Vorbildung, selbst wenn er ausnahmsweise mit erheblichem Eifer und Fleiß ihr obliegen sollte, danach angetan, ein solches Vertrauen in uns zu erwecken? Diese Fragen sind von den Verfassern des B.G.B. ohne Zweifel nicht aufgeworfen worden; sie waren ja selber Juristen, die es verfaßten, und durch den Reichstag ist aus unrühmlich bekannten Gründen der Entwurf des B.G.B. nur hindurchgejagt worden. Wer aber des Volkswohles sich annehmen will, darf an diesen Fragen nicht vorbeigehen, wie unliebsam, wie unbequem sie auch erscheinen mögen. Ich habe persönlich, obgleich ich alle jene Fragen mehr oder minder scharf verneinen muß, gleichwohl von einem recht großen Teile des deutschen Richterstandes eine hohe Meinung; ich hege auch zu diesem Teile das volle Vertrauen, daß sie der moralischen Obervormundschaft in allen Stücken gewachsen sind; allerdings behaupte ich, daß damit ihre Eigenschaft als Richter sehr wenig zu thun hat, daß diese befriedigende Thatsache vielmehr allgemein-menschlichen Qualitäten verdankt wird, die sie durch Herkunft, Erziehung, Lebensalter und durch die geachtete Lebensstellung des höheren Beamten besitzen. Ich leugne aber ganz und gar, daß für den Durchschnitt der oft sehr jugendlichen Einzelrichter und sie vertretenden Assessoren irgendwelche Garantien moralischer Art gegeben sind, die für den unzweifelhaften Mangel einer psychologischen, sozialwissenschaftlichen, philosophischen Vorbildung und Zurüstung entschädigen könnten, welcher Mangel geradezu als für den jungen Juristen charakteristisch bezeichnet werden darf. Ich sehe dabei ganz ab von der nicht unerheblichen Menge solcher Herren, die ihrer ganzen Persönlichkeit und Qualifikation nach unter diesem Durchschnitte stehen, die durch moralische Niaiserie, wo nicht gar durch Frivolität und Liederlichkeit sich in auffallender Weise bemerklich machen. „Es giebt räudige Schafe in jedem Stalle“. Gewiß; aber man darf getrost sagen, daß in einer so aristokratischen, hochbegünstigten Berufsgruppe, wie die Juristen darstellen, die sogenannten aristokratischen Laster und die ebenso pseudo-aristokratische Blasiert-

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moralische Niaiserie: Niaiserie (französisch), Albernheit, Einfalt. in jedem Stalle“.: „In jeden Stall können räudige Schafe dringen.“ aus: Sagen der Vorzeit, Sechster Theil, Veit Weber [Pseudonym von Leonhard Wächter], Berlin 1810, S. 49.

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heit, zum mindesten aber der ethische Indifferentismus und Stumpfsinn naturgemäß viel stärker vertreten sind, als etwa in der an wissenschaftlicher Bildung zumeist überlegenen, aber weit minder begünstigten Berufsgruppe der höheren Lehrer oder gar in dem immer noch volkstümlichsten gelehrten Stande, dem der Geistlichen. Von den intellektuellen Vorzügen oder Mängel der Richter haben wir damit noch garnicht einmal reden wollen. „Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob das Ansehen der Rechtspflege und die Autorität der Gerichte in der letzten Zeit die vielfach behauptete Verminderung in der That erfahren haben; zweifellos aber sind manche der dahin gehenden Behauptungen gerade durch einzelne unberechtigter Weise verallgemeinerte Fälle hervorgerufen, in denen Ungeschicktheit, Taktlosigkeit und mangelnde Reife der Erfahrung bei Richtern zu Entscheidungen, welche dem öffentlichen Rechtsgefühl nicht entsprachen oder zu ungerechtfertigter Belästigung der Rechtsuchenden geführt haben.“ So heißt es in einem offiziellen Aktenstücke des preußischen Justizministeriums aus dem Jahre 1896.7 Und in der Rede, womit der Justizminister den Gesetzentwurf einführte, den diese Worte mitbegründen sollten, beklagte er die ungünstige Lage, in der sich die Justizverwaltung dadurch befinde, „daß das beste Material (aus dem Vorbereitungsdienst) zu einem erheblichen Teile zu anderen Verwaltungen, zu anderen Verwendungen übergeht, während das weniger hervorragende Material der Justiz verbleibt.“8 Und in der Beratung nannte der konservative Abgeordnete Schettler die Justiz „die Ablagerungsstelle aller derjenigen Elemente, die in anderen Verwaltungsstellen nicht unterkommen können“ und wollte „eines festhalten, daß wir den Richterstand etwas purifizieren müssen von den Elementen, die heute schon hineingekommen sind und – ich spreche es als Richter ruhig offen aus – überhaupt nicht hineingehören.“ Und derselbe Redner ließ sich des weiteren aus über die Ursachen des Umstandes, daß die Kritik sich immer rückhaltloser an die richterlichen Erkenntnisse heranmache und des anderen Umstandes, daß die Furcht, von dem kleinen Manne bis zum Höchstgestellten, so weit verbreitet sei, aufs Gericht zu gehen ... er fand die Ursachen dieser Erscheinungen in den Qualitäten und in der Art des Auftretens der Richter. Der Paragraph, für den dieser Abgeordnete mit dem Justizminister eintrat, ist nicht Gesetz geworden, die Purifizierung des Richterstandes hat nicht stattgefunden. – Und nun vergleiche man einmal die hier teils implicierte, teils offen ausgesprochene Charakteristik eines Teils des Richterstandes mit dem Geiste des vorliegenden 7

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Anlagen zu den Stenograph. Berichten über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten 1896. Nr. 98 (III S. 1695). Verhandlung des Hauses der Abgeordneten 1896 (II S. 1482).

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Gesetzzentwurfs, der nicht nur, wie schon das B.G.B., den Amtsrichter zum Sittenrichter macht (er hat über ehrloses oder unsittliches Verhalten von Vätern und Müttern zu befinden), sondern ihm die Macht giebt zu bewirken, daß selbst das – vielleicht mutwillig-zügellose, oder aber schwachsinnige – Kind „guter Leute“, d.h. solcher, an denen der Sittenrichter keinen Makel finden kann, gegen deren Wunsch und Willen, in die Gesellschaft von Kindern, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, einer sogenannten Besserungsanstalt überliefert wird; mit anderen Worten ein solches Kind zur Zwangserziehung zu verurteilen, wie die landläufige Rede lautet, wodurch diese bestehende Zwangserziehung ihrem Namen gemäß bezeichnet wird als das, was sie zum Teile auch ihrem Wesen nach ist: eine Art des Strafvollzuges, ein Kinder-Zuchthaus.9 Bei dieser Kritik haben wir von den erweiterten Befugnissen, die der Polizei verliehen werden sollen, noch völlig abgesehen, auch ist es nicht nötig, darauf einzugehen; denn das liegt allzusehr auf der Hand, daß die königlichen Landräte und die königlichen Polizeipräsidenten bei ihren Anträgen sich nicht ausschließlich von staatspädagogischen Gesichtspunkten werden leiten lassen; vielmehr liegen diese fast gänzlich außerhalb ihrer Sphäre. Viel eher würde ich solche Gesichtspunkte und eine in dieser Beziehung strengsachliche Denkungsart etwa von den Kreisphysicis oder anderen Aerzten erwarten, die zumeist eine persönliche Anschauung und Kenntnis, sehr oft ein lebendiges Verständnis der sittlichen und sozialen Zustände besitzen und nicht wie jene hohen Verwaltungsbeamten, auf die nicht selten in charakteristischer Pseudographie geschriebenen Berichte der Herren Offizianten und Gendarme angewiesen sind, und sich daran genügen lassen. Aber die ganze Wucht des Unwillens und der Kritik muß sich nicht gegen die etwaige Beschaffenheit der Behörden richten, deren Machtbefugnis hier erweitert werden soll, sondern gegen die Sache selbst, gegen den Begriff der Zwangserziehung. Den Begriff, nicht bloß den Namen, der allerdings für diesen Begriff bezeichnend ist, wenn auch sein eigentlicher Sinn ein anderer sein soll. Der Begriff der Zwangserziehung, der thatsächlich im Volksbewußtsein lebendig ist, und der auch durch den 9

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„Denn das versteht sich ganz von selbst, daß die Bengels in den Zwangserziehungsanstalten die so heilsam wirkenden Prügel bekommen“: Freiherr v. Manteuffel bei Beratung dieses Gesetzentwurfs, am 11. Januar 1900, im preußischen Herrenhause. Im stenogr. Berichte folgt darauf, sehr charakteristischer Weise: („Sehr richtig! Heiterkeit.“)! – Die heiteren Herren hatten schon vergessen, daß in derselben Sitzung der Minister des Innern Kinder ihres Standes, den Pflegern nobelster Passionen, die Zwangserziehung, als Heilmittel gegen diese Passionen, in Aussicht gestellt hatte. Dieselben Herren haben, in der 2. Lesung (28. März 1900) den aller Scheu spottenden Beschluß gefaßt, solche Kinder mit Vagabunden und Prostituierten in – Korrigendenanstalten zusammen zu sperren.

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II. Schriften

Umstand, daß nur noch der Vormundschaftsrichter soll auf Zwangserziehung erkennen können, in seinem Wesen nicht verändert wird, ist eben der einer Strafe: und zwar einer Bestrafung nicht des etwaigen ehrlosen oder unsittlichen Erziehers, sondern des verwahrlosten oder der Gefahr ausgesetzten Kindes selber. In der Begründung des vorläufigen Entwurfes wird zugestanden: daß die im bestehenden Gesetze vorgesehene Zwangserziehung „mehr unter dem Gesichtspunkte einer strafrechtlichen als einer erziehlichen Maßregel aufgefaßt wurde“ (§ 14); darin, und weil nach gemeinem Recht der infans nicht als strafbar galt, habe es gelegen, daß bisher mit dem 6. Lebensjahre eine untere Altersgrenze gezogen war. Diese wird nunmehr in dem Absatze des Entwurfes, der dem geltenden Gesetze entspricht, beseitigt; nicht beseitigt wird darin, daß die Begehung einer strafbaren Handlung eine der Veranlassungen zur Zwangserziehung geben soll. Es wird also in dem Entwurfe unterstellt, daß auch infantes daß selbst Säuglinge strafbare Handlungen begehen können: gewißlich eine Errungenschaft modernster Gesetzgebungskunst! – Daß „die Verwahrlosung eines Kindes sehr häufig schon vor dem 6. Jahre beginnt, zuerst die leibliche und geistige, aus der dann die sittliche erwächst“ (Begr. S. 14) wird kein Kundiger leugnen; für die Erkenntnis dieser leiblichen und geistigen Verwahrlosung wird aber die Thatsache, daß ein 4-5 jähriges Kind etwas thut, was sonst eine strafbare Handlung heißt, ziemlich gleichgültig sein; wenn z.B. ein derber Junge mit einem Altersgenossen sich prügelt und dem einige Kratzwunden beibringt; oder wenn ein solches Kind als Zeitungsträger „erwerbsthätig“ ist und bei der Gelegenheit eine Schrippe aus dem Brotbeutel „stiehlt“. Aus der Erwerbsthätigkeit, aber nicht aus der Entwendung, wird man auf Verwahrlosung schließen dürfen; vielleicht auch auf Verwahrlosung der Polizei, die diese Erwerbsthätigkeit duldet, die so manches Unschuldige nicht duldet. Wenn aber in der Begründung (a.a.O.) hinzugesetzt wird (als „richtiger Gedanke“), „daß dieser Verwahrlosung nur dann erfolgreich entgegengetreten werden kann, wenn das Kind rechtzeitig in Zwangserziehung genommen wird“, so fliegt damit ein Postulat wie aus der Pistole, dem wir mit aller Schärfe widersprechen müssen. Einmal sind die „Erfolge“ der Zwangserziehung, zumal der in Anstalten vollzogenen, oft sehr zweifelhafter Natur; manche dieser Anstalten sind Schulen spezifischer kindlicher Laster. Und sicherlich wird ein strenges und durchgeführtes Verbot aller Kinderarbeit sehr viel nützlicher sein und nicht bloß dem zufälligerweise in Erscheinung getretenen einzelnen Falle, sondern der Kinderverwüstung generell entgegenwirken, die so wesentlich auf das Conto

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des heutigen gewerblichen Lebens fällt. In Charlottenburg hatten10 von 1026 Kindern 10 im Alter von 4 und 5 Jahren ihre Erwerbsthätigkeit begonnen; wenn man sie in Zwangserziehung genommen hätte, so wären vermutlich 10 andere an ihre Stelle getreten! – Es ist aber ferner wie durch ein Vergrößerungsglas sichtbar, daß jede Erhöhung der Lohnsätze, und ganz besonders die Erhöhung jeder Art von Frauenlöhnen und die Verkürzungen der Arbeitstage in unvergleichlich viel intensiverer Weise zur Verhütung „leiblicher und geistiger Verwahrlosung“ armer Kinder wirken muß, als alle hochnotpeinlichen Aktionen der Herren Amtsrichter gegen ein armes Kind, das der Herr Landrat oder der Herr Polizeiinspektor wegen einer „strafbaren Handlung“ angezeigt hat. Wenn also der preußischen Regierung es so bitterlich ernst darum ist, der Verwahrlosung von Kindern entgegenzuarbeiten – wohlan! fördere sie mit allen Mitteln, nein! entferne sie nur alle Hemmnisse einer erfolgreichen Selbstorganisation der Arbeit, insbesonders der weiblichen Arbeit! Die Regierungen wissen, daß Erziehung Geld kostet: aus zahlreichen offiziellen Schriftstücken wird man ihnen nachweisen können, daß sie es wissen – oder gilt ihnen der Satz etwa nur für Beamte und Bedienstete? während in der Arbeiterklasse Erziehung oder Verwahrlosung eine „rein sittliche Frage“ wäre?! Aber ausdrücklich wird in der vorliegenden „Begründung“ anerkannt, daß aus der leiblichen und geistigen Verwahrlosung „dann die sittliche erwächst“. Für wissenschaftlich denkende Menschen folgt daraus, daß man, um der sittlichen Verwahrlosung erfolgreich entgegenzutreten, den Ursachen der leiblichen und geistigen Verwahrlosung nachforschen und an diesen die Kur beginnen muß. Jeder praktische Arzt weiß, daß bei verwahrlosten Kindern sehr oft in chronisch leeren Mägen oder in überreiztem Nerven- und Muskelgewebe der Sitz des Uebels steckt. Soweit aber als Schuld der Eltern vorhanden ist, wollen wir auch den ungemein hohen Wert nicht verkennen, den eine rein moralische Bewegung, wie die des Good-Templar-Ordens, für das häusliche Leben, und also für Erziehung der Kinder, gewinnen kann. In der That wird sich leicht der Beweis führen lassen, daß die guten Erfolge sogenannter Zwangserziehung in Familien, zumal auf dem Lande, 10

Nach einer Erhebung Agahds, siehe dessen verdienstvolle Arbeit „Die Erwerbsthätigkeit schulpflichtiger Kinder im Deutschen Reich“, Archiv für soz. Gesetzgebung etc. Bd. XII S. 401.

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gewinnen kann.: Gut-Templer-Orden (The Independent Order of Good Templars), ein 1852 in New York als Abzweigung von dem bedeutungslos gebliebenen Order of Good Templars entstandener Verein zur sittlichen Erneuerung der Menschheit, namentlich durch völlige Enthaltung von alkoholischen Getränken.

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zum guten Teile an normal- oder sogar gut-gearteten Kindern, von denen ein kleiner Teil auch normal- oder sogar gut-geartete Eltern hat oder hatte, erzielt werden. Wenn diese Erziehung durch lebende und im geeigneten Alter stehende Pflegeeltern Kindern zu Teil wird, die sonst ganz- oder halbverwaist waren, oder als uneheliche von der Mutter allein oder von hätschelnden Großeltern erzogen wurden, so läßt sich immer präsumieren, daß diese Art der Waisenpflege – denn um nichts anderes handelt es sich da – wohlthätige Folgen haben wird; um so mehr, wenn solche Kinder aus der Großstadt in den Dorffrieden versetzt werden. Nicht selten werden sich auch lasterhafte Neigungen so im Keime ersticken lassen, wenn auch dies gerade bei solchen Neigungen, die später zu Verbrechen führen, ganz besonderen Schwierigkeiten immer begegnen wird. Hingegen wirken großstädtische Umgebungen und Defektheit der Familie als ungünstige Faktoren zusammen, ganz abgesehen von der Beschaffenheit der Erzieher, abgesehen auch von der materiellen Not, die alle übrigen Wirkungen verschlimmert; abgesehen endlich von individuellen Anlagen des Kindes, die für dessen Entwicklung, gerade in sittlicher Hinsicht, doch zuletzt eine entscheidende Bedeutung haben. Wenn man also, in einem gegebenen Falle, diese 3 inneren Faktoren – dazu gehört auch die Not als Element des Familienlebens – sämtlich oder doch ihre Kombination, als perniciös erkennt, dann wird man unter allen Umständen jene äußeren Faktoren dissociieren müssen; und dies kann dadurch geschehen, daß man die ganze Familie oder daß man das Kind allein in eine günstigere Umgebung bringt; jenes wird angezeigter sein, wenn die Anlagen des Kindes schlecht, die Beschaffenheit des oder der Erzieher relativ gut, dieses angezeigter, wenn das entgegengesetzte Verhältnis angetroffen wird. Ist endlich die materielle Not allein oder doch wesentlich die materia peccans, so wird im einzelnen Falle eine richtig differenzierende Armenpflege den Zustand verbessern können; hingegen wird gerade dann – und der Fall wird besonders oft vorliegen, wo „strafbare Handlungen“, nämlich Bettelei oder einfacher Diebstahl die Veranlassung zum Einschreiten geben – die gewaltsame und auf Jahre hinaus verhängte Losreißung des Kindes aus seiner Familie als eine unangemessen schwere, mithin ungerechte Bestrafung des Kindes empfunden werden, unter der die Eltern moralisch mitleiden, selbst wenn sie materiell – wenigstens für den Augenblick – entlastet werden. Die ökonomischen Zustände der Arbeiterfamilie, zumal in der breiten und tiefen Schicht der Ungelernten, sind ra-

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materia peccans: Materĭa peccans (M. morbi, lat.), „der sündigende oder Krankheitsstoff“, den man früher durch „blutreinigende Mittel“ aus dem Körper zu entfernen suchte.

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schen Veränderungen unterworfen; teils durch individuale teils durch soziale Ursachen, und durch die Komplikationen beider, heben und senken sie sich, mit ihnen regelmäßig die Wohlfahrt der in ihr aufwachsenden Kinder. Daher können z.B. die schlecht versorgten Kinder des Witwers, wenn der Mann in der Lage ist, eine neue Ehe einzugehen, mit einem Schlage sich der besten Pflege erfreuen; denn es giebt auch liebevolle und pflichtgetreue Stiefmütter. Es kann eine entsetzliche Härte darin liegen, wenn ein Kind, das die Haushälterin, weil der Mann nichts verdiente, vernachlässigt und etwa zum Betteln ausgeschickt hat, als verwahrlost zur Zwangserziehung verurteilt wird, obgleich der Vater weiß, daß er binnen kurzem alle Lebensbedingungen des Kindes hätte reformieren können. Der Entwurf hat allerdings solche Fälle vorgesehen, wenn er bestimmt (§ 10 Abs. 2): „In Ausführung einer eingeleiteten Zwangserziehung kann die Erziehung in der eigenen Familie des Zöglings ... widerruflich angeordnet werden.“ Aber mit keinem Worte ist es begründet, warum nicht unter Umständen von Anfang an eine befristete Aufsicht über die häusliche Erziehung genügen soll. In der Theorie übt das Vormundschaftsgericht nach dem B.G.B. eine solche Aufsicht fortwährend; es ist sogar verpflichtet, die „zur Abwendung der Gefahr“ für das geistige oder leibliche Wohl des Kindes „erforderlichen Maßregeln zu treffen“. Was die Praxis daraus gestaltet, wird die Erfahrung lehren. Die ausgesprochene Tendenz des vorliegenden Entwurfes ist es, die Zwangserziehung nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer strafrechtlichen sondern einer erziehlichen Maßregel aufzufassen. Die Maßregel wird als Ausführung des Vormundschaftsrechts im B.G.B. in rein sittlicher Absicht gedacht: es soll die sittliche Verwahrlosung, die weitere sittliche Verwahrlosung, das völlige sittliche Verderben verhütet werden. Die Meinung ist: wo die Gefahr am größten, da soll der energische Eingriff erfolgen, auf extreme Fälle soll die harte Maßregel beschränkt bleiben. Die Aufgabe ist damit gegeben: solche Fälle richtig herauszufinden, und d.h., da die Verwahrlosung und sittliches Verderben immer in Beziehung zum Verbrechertum gesetzt werden, die Brutstätten des Verbrechertums herauszufinden. Die sichtbaren Brutstätten des Verbrechertums sind teils durch Vererbung von Eigenschaften, teils durch direkte und indirekte Einflüsse, die Familien und Wohnstätten von Verbrechern, von liederlichen Weibern, Zuhältern u. dgl. Es ließe sich der generelle Satz aufstellen, daß solche Familien zur Aufzucht von Kindern schlechterdings untauglich sollen gehalten, daß ihre Kinder vom 6. Lebensjahre ab Staats- oder Kommunalkinder sein und heißen sollen. Der Begriff der Zwangserziehung als einer gegen delinquirende oder lasterhafte Kinder gerichteten Maßregel würde völlig verschwinden; es würde sich um eine grundsätzliche öffentliche Pflegeerzie-

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hung für eine bestimmte Kategorie von Menschen handeln. Das Recht der Erziehung müßte der Strafrichter unter genau zu bestimmenden Voraussetzungen als ein „menschliches Ehrenrecht“ aberkennen können. Auf der anderen Seite wäre auch der undurchführbare Gesichtspunkt einer allen unter ungünstigen Verhältnissen lebenden Kindern zu erweisenden Wohlthat nicht der leitende Gesichtspunkt. Vielmehr würde die reine Zweckbestimmung der Kriminal-Politik auf ihren eigenen Füßen stehen, darauf ausgehend, die Gesellschaft vor der Ausbildung von Verbrechern, soweit sie nachweislich die bezeichnete Ursache hat, zu beschützen. Was soll aber dann, wenn die Gesellschaftsordnung bleibt, und nach wie vor Massenarmut hervorbringt, aus den anderen Kindern werden, denen wir die Wohlthat der Zwangserziehung erweisen wollen? – Ich sage: die Sorge für sie, soweit ihnen überhaupt geholfen werden soll und kann, gehört teils der Armen- teils der Waisenpflege an; mit beiden in organischer Verbindung müßte aber – wenigstens in größeren Städten – eine besondere Erziehungsbehörde11 wirken und eine pädagogische Autorität in jeder Familie geltend machen können; diese würde unter der Vormundschaftsbehörde, also wo und solange als diese gerichtlich ist, unter dem Vormundschaftsrichter stehen, aber so sehr als möglich selbständig sich zu ent­wickeln berufen sein; sie würde Zuchtstrafen zu verhängen befugt sein und damit oft die häusliche Erziehung unterstützen oder moderieren können; sie würde auch den Antrag auf Entmündigung der Eltern, wenn sie diese zu genügender Erziehung unfähig hält, stellen dürfen, und die Entmündigung, für die, ebensowohl wie für Sachen, bei denen es sich um größeren Geldwert handelt, nur Landgerichte zuständig sein sollten, wäre die notwendige privatrechtliche Voraussetzung jeder zwangsweisen Trennung der Kinder von den Eltern; diese aber dürfte, von der Erziehungsbehörde aus, niemals anders als in Form der Versetzung in eine andere Familie geschehen; während die zwangsweise Versetzung in (Erziehungs- oder Besserungs-) Anstalten nur strafrechtlich, auf Grund bestimmter Delikte, daher auf Grund ausdrücklicher strafgesetzlicher Androhung, ausschließlich gegen strafmündige Minderjährige – nach geltendem Rechte also über zwölfjährige, wenn dieses verbessert sein wird, hoffentlich nur gegen schulentlassene – ausgesprochen werden sollte. Will man diese Strafe 11

Den Keim einer solchen hat das B.G.B. von der preußischen Vormundschaftsordnung als die Institution des „Waisenrats“ übernommen. Wenn dieser Keim entwickelt werden soll, so versteht sich, daß aus dem kommunalen Ehrenamt ein besoldetes und fachmäßig zu besetzendes Staatsamt oder doch ein den größeren Selbstverwaltungskörpern zu unterstellendes Amt gemacht werden müßte. Es ist bezeichnend für diesen Gesetzentwurf, daß er die im bestehenden Gesetze enthaltenen Befugnisse des Waisenrats einfach gestrichen hat.

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„Zwangserziehung“ nennen, sei es; es wird sich auch nichts dagegen einwenden lassen, daß bestimmte Paragraphen des Strafgesetzbuches aussprechen: wer als Minderjähriger solches und solches Verbrechen begeht, wird mit Zwangserziehung bestraft; eine Strafe wäre die Freiheitsberaubung für Knaben wie für erwachsene Menschen immer, und daß sie mit dem Zwecke der Erziehung oder Besserung unmittelbar verbunden wird, würde sie prinzipiell nicht einmal von anderen Freiheitsstrafen, nach der Auffassung, die diesen thatsächlich – wenigstens theoretisch – gewidmet wird, unterscheiden; dieser Zweck würde aber hier, in der Anwendung auf jugendliche Personen, weit mehr in den Vordergrund treten, er würde den Strafvollzug beherrschen. Je mehr aber dies der Fall wäre, desto eher ließe sich eine längere Freiheits-„Strafe“ rechtfertigen; hat doch schon vor etwa 10 Jahren ein Reskript des preußischen Justizministers die Gerichte dazu angehalten, gegen jugendliche Personen, um den Zweck der Besserung eher zu erreichen, längere Gefängnis-Strafen auszusprechen, als sonst der Fall erheischen würde: ein Eingriff der Verwaltung in die Justiz, der um so weniger ersprießlich war, da er an der Beschaffenheit der Gefängnisse, die sie von Erziehungsanstalten zu ihrem Nachteil unterscheidet, nicht das Mindeste zu ändern unternahm. Was wir also in dieser Hinsicht fordern, ist die Errichtung von besonderen Anstalten zum pädagogisch geregelten Vollzug von Freiheitsstrafen an jugendlichen Personen12; dieser bleibt aber, was er der Natur der Sache nach ist, eine Angelegenheit der Straf-Justiz; liegt also außerhalb dieses Gesetzentwurfs, dessen „Begründung“ wir noch einer besonderen Prüfung unterwerfen müssen. Die Begründung sagt (S. 8) das Gesetz vom 13. März 1878 habe sich nicht als ausreichend erwiesen, um der stetig wachsenden Kriminalität, Verwahrlosung und Verrohung unter den Jugendlichen13 zu wehren. Mithin ist die Meinung, ein neues Gesetz herzustellen, das diese Aufgabe erfüllen werde. Daß ein Gesetz von dieser Art solche Wirkungen haben 12

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Wie oft, wie lange, wie dringend – und wie vergeblich ist diese Forderung erhoben worden! In einer Staatsschrift sollte nicht ein Jargon angewandt werden: „die Jugendlichen“ schlechthin ist kein Deutsch; es müßte mindestens heißen: ... Verrohung jugendlicher (oder unmündiger) Personen. Man kann jenen abgekürzten Ausdruck anwenden, im Verlaufe einer Erörterung, nachdem durch den Zusammenhang der Sinn jenseits alles Zweifels gestellt worden.

nicht das Mindeste zu ändern unternahm.: Nachzulesen in: Die Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend und Vorschläge zur Reform, Dr. P. F. Aschrott, Berlin 1892, S. 30. Zu der Zeit war Heinrich von Friedberg preußischer Justizminister.

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könne, wird also vorausgesetzt. Man müßte nun erwarten: wenn eine ausgedehnte Zwangserziehung große Wirkungen in dieser Richtung haben soll, so müßte eine eingeschränkte Zwangserziehung entsprechend kleinere Wirkungen doch auch haben, also gehabt haben. Es scheint aber die Meinung, der bestehenden eingeschränkten Zwangserziehung, der vom 1. Oktober 1878 bis Ende März 1899 dreißigtausendachthundertfünfundachtzig Kinder in Preußen unterstellt wurden – sämtliche in dem frühen Alter von weniger als 12 Jahren – dieser gar keine Wirkungen zuzuschreiben; oder sogar ihr ungünstige Wirkungen nachzusagen. Das letzte würde nun freilich den Sinn des ganzen Entwurfes aufheben; die üblen Thatsachen werden daher insgesamt auf die ungenügende Ausdehnung der Zwangserziehung geschoben: „indem man, so fährt die Begründung fort, die verwahrlosten nicht verbrecherischen Jugendlichen unter 12 Jahren und die Verwahrlosten über 12 Jahren sich selbst überließ und gegen die letzteren nur strafrechtlich einschritt, wenn sie eine strafbare Handlung begangen hatten (offenbar ein ganz veralteter Grundsatz: nulla poena sine lege), *ist die Kriminalität der Jugendlichen in einer die Gesellschaftsordnung ernstlich bedrohenden Weise gestiegen*.“ Dies zu erhärten dient dann eine statistische Ausführung. „Nach der Reichskriminalstatistik für 1896 (Stat. DR. N. F. Bd. 95 I S. 28 ff.) sind Verurteilungen Jugendlicher wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze ergangen 1882 ... 30697 1896 ... 43962 17 20

nulla poena sine lege: Nulla poena sine lege poenale (lat.), keine Strafe ohne eine strafrechtliche Bestimmung, die sie ausspricht. Reichskriminalstatistik: Das „Kaiserliche Statistische Amt“ war eine am 23. Juli 1872 an Stelle des Zentralbureaus des Zollvereins ins Leben gerufene statistische Zentralbehörde des Deutschen Reiches. Seine Aufgaben waren nach den „Geschäftsinstruktionen für das kaiserliche Statistische Amt“ vom 23. Juni 1872 das auf Grund von Gesetzen oder auf Anordnung des Reichskanzlers für die Reichsstatistik zu liefernde Material zu sammeln, zu prüfen, technisch und wissenschaftlich zu bearbeiten sowie auf Anordnung des Reichskanzlers statistische Nachweisungen aufzustellen und über statistische Fragen gutachtlich zu berichten. Seine Veröffentlichungen waren die „Statistik des Deutschen Reiches“, seit 1873; „Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches“, 1884–1891, fortgesetzt durch „Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches“; „Monatliche Ausweise über den auswärtigen Handel des deutschen Zollgebietes nebst Angaben über Großhandelspreise sowie über die Gewinnung von Zucker“, seit 1892; „Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich“, seit 1880; und das „Reichsarbeitsblatt“. Tönnies beruft sich in Bezug auf die Zahlen auf diese Veröffentlichungen. Sie sind einzusehen im Bundesarchiv in Koblenz: „Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. 1880–1942. [RD 75/2]“ und „Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs 1898–1943.

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das bedeutet eine Steigerung um 43,2 Prozent; im Jahre 1897 betrug die Zahl 45327, die Steigerung gegen 1882 47,3 Prozent. Eine vorläufige Ermittelung weist für das Jahr 1898 eine weitere Steigerung auf.“14 Aber nicht nur absolut ist die Steigerung, sondern auch relativ im Verhältnis zur Bevölkerung. Auf 100000 Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren entfielen im Jahre 1882 568 Verurteilungen, 1896 697, Steigerung 22 Prozent. Diese Thatsache ist um so bedenklicher, als das Anwachsen der Kriminalität bei den Erwachsenen in demselben Zeitraum absolut nur 34, relativ nur 16 Prozent betrug. Die Kriminalität also – das ist der Sinn dieser Ausführung – in der Begrenzung, die ihr die Kriminalstatistik des Deutschen Reiches giebt, ist ein unmittelbarer Ausdruck der sittlichen Zustände, in dem Verstande, daß jede Vermehrung jener „Kriminalität“ eine Verschlechterung der sittlichen Zustände bedeutet. Diese Meinung ist durchaus falsch und völlig unhaltbar. Zunächst sind alle ‚Uebertretungen’ des Reichs-Strafgesetzbuches außer acht gelassen; innerhalb dieser manifestiert sich aber die gerade in moralstatistischer Hinsicht außerordentlich wichtige Vagabondage, an der auch Personen unter 18 Jahren erheblichen Anteil haben. Es fehlen ferner alle Vergehen gegen Landesgesetze: dazu gehören aber die für die sozialen Zustände auf dem Lande, zumal in Gutsbezirken, überaus charakteristischen Feld- und Forstdiebstähle; ebenso wie diese, sind aber viele andere Diebstähle moralisch von sehr wenig gravierender Bedeutung, im Vergleiche mit unzähligen unbestraft bleibenden Handlungen. Dagegen ist die Kriminalität der Reichsstatistik bedingt durch die Reichsgesetzgebung, die immer neue Handlungen unter Strafe stellt: von den 1896 verurteilten Personen wurden 9024 wegen Vergehen gegen Gesetze verurteilt, die 1882 noch nicht in Geltung waren.15 Für die Steigerung überhaupt fallen diese freilich wenig ins Gewicht, und für die Jugendlichen hat die Differenz noch weniger zu bedeuten; gleichwohl darf sie nicht ohne Erwähnung bleiben: exakte Vergleichung kann nur nach Abzug dieser Vergehen geschehen. Von den übrigen Verurteilungen haben die Bearbeiter der Reichsstatistik von je diejenigen wegen Verletzung der Wehrpflicht ausgenommen, wenn sie die Entwicklung der Kriminalität beleuchten wollten, neuerdings nimmt die im Reichsjustizamt ausgearbeitete Erläuterung auch die Vergehen gegen die Gewerbeordnung heraus (a. O. I 27), nimmt dagegen auf den oben bezeichneten Einfluß neuer Gesetze keine Rücksicht. Die so gewonnenen Ziffern hat unsere Begründung sich angeeignet. In Wahrheit sagen sie in ihrer Gesamtheit für die Entwicklung 14 15

Die Zahl ist 47975 nach Vierteljahrsh. zur Statistik des Deutschen Reichs 1899 IV. 76. Stat. des Deutschen Reichs, Neue Folge, Bd. 95 II 8 [S. 8].

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II. Schriften

wirklich verbrecherischer Tendenzen nichts, denn die darin enthaltenen Verurteilungen sind von so außerordentlich verschiedener Bedeutung, daß schon wenn die Zunahme etwa ganz auf die eine (die leichtere) Seite fiele, bei gleichzeitiger Abnahme oder doch Beharrung auf der anderen (der schwereren) Seite, die Gesamtzunahme keineswegs eine ungünstige, sondern durchaus eine günstige Entwicklung bezeichnen würde; soweit sie für eine solche Tendenz der Entwicklung überhaupt beweiskräftig wäre. Daß die Ziffern so nebeneinander gestellt, nichts beweisen, hat der Verfasser der Begründung nicht erkannt; daß sie für sich allein nicht genügen, hat er wenigstens empfunden. Daher fährt er fort: „Auch die Art der strafbaren Handlungen, an denen die Jugendlichen beteiligt sind, giebt zu den schwersten Bedenken Anlaß. Während die Zahl der Verurteilungen wegen Diebstahls relativ in diesem Zeitraume annähernd gleichgeblieben ist – auf 100000 Jugendliche entfielen 344 im Jahre 1882, 340 im Jahre 1896, *Abnahme 1 Prozent* – ist die Verhältniszahl der Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung von 48 auf 102 – Zunahme von 112,5 Prozent – gestiegen; die Verurteilungen wegen Sachbeschädigung haben sich um 48 Prozent vermehrt, die Verurteilungen wegen Nötigung und Bedrohung verdreifacht.“ Diese Angaben sollen erhärten, daß das preußische Zwangserziehungsgesetz vom 13. März 1878 „sich nicht als ausreichend erwiesen hat, um der stetig wachsenden Kriminalität, Verwahrlosung und Verrohung unter den Jugendlichen zu wehren“. Worauf beziehen sich aber die Angaben? auf das gesamte Deutsche Reich! Eine seltsame Methode, in der That. Sie würde allein genügen, um den Wert der ganzen Begründung als zweifelhaft erscheinen zu lassen, weil es aber um ein amtliches Schriftstück, das den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt wird, sich handelt, widmen wir ihm noch weitere kritische Achtung. Man bemerke! Der Gesetzentwurf ist dazu bestimmt, der Zwangserziehung in Preußen dieselbe Ausdehnung zu geben, die sie in anderen Bundesstaaten schon hat. Dies wird ausdrücklich hervorgehoben S. 16, wo die Frage erörtert wird, wie groß in Zukunft die Zahl der preußischen Zwangszöglinge sein werde ... „einen Anhalt dafür bieten die in Baden, Elsaß-Lothringen und Hessen gemachten Erfahrungen, *deren seit etwa 10 Jahren in Wirksamkeit stehende Gesetze der Zwangserziehung ungefähr dieselbe Ausdehnung gegeben haben, wie im Entwurfe beabsichtigt wird“.* Von der ausgedehnten Zwangserziehung werden Wirkungen erwartet, welche die eingeschränkte nicht gehabt habe. Die Wirkungen werden an der Kriminalität jugendlicher Personen gemessen. Nun fordert die Methode der Induktion, daß die Wirkungen der eingeschränkten mit denen der ausgedehnten Zwangserziehung verglichen werden. Die Wirkungen des preußischen

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Gesetzes müssen in erster Linie in Preußen beobachtet werden, und auch Länder wie Baden und Hessen sind groß genug, um in dieser Beziehung für sich betrachtet zu werden, zumal wenn sie als Nachbarländer, die in lebhaftem Bevölkerungsaustausch stehen, zusammengefaßt werden. Die in der Begründung vorgeführten Ziffern für das ganze Reich können uns jedenfalls gar nichts helfen. Nun hat freilich die Messung der jugendlichen Kriminalität in den einzelnen Bundesstaaten und Landesteilen ihre besonderen Schwierigkeiten. Die Entwicklung der entsprechenden Altersklassen in der Bevölkerung kann nur von einer Volkszählung zur anderen verfolgt werden. „Nach den bei der 1890er und 1895er Volkszählung gemachten Erfahrungen stellen sich gerade bezüglich des Anteiles der 1218 jährigen an der Zusammensetzung der Bevölkerung zeitweise ganz besonders erhebliche Verschiebungen heraus, deren Wirkungen weder im voraus berücksichtigt, noch auch nachträglich, selbst wenn wieder die Ergebnisse einer neuen Volkszählung vorliegen, in entsprechender Weise auf die einzelnen Bezirke verteilt werden können“.16 Das Statistische Amt will daher fortan nicht nur von jeder Zerlegung nach Staaten etc. absehen, sondern auch vor allen Dingen auf jede Vorausberechnung überhaupt verzichten, wie solche bisher geschehen sind. Es will also die früher berechneten Relativ-Ziffern nicht mehr vertreten. Ich glaube nun freilich, wenn man den sogenannten Ergebnissen der Kriminalstatistik überhaupt mit der gehörigen Menge von Skepsis begegnet und sie nur als Beiträge zur Erkenntnis der Wirklichkeit auffaßt, so sind selbst jene ungenau berechneten Relativ-Ziffern nicht ganz ohne Wert. Die hier uns interessierende Vergleichung zwischen verschiedenen Bundesstaaten können wir wenigstens auf folgende Weise anstellen. Wir nehmen je 2 Jahre, die sich um je eine Volkszählung (1885, 1890, 1895) gruppieren; wir beziehen den Durchschnitt der wegen bestimmter Verbrechen verurteilten jugendlichen Personen auf die entsprechenden Altersklassen dieser Zählung. Dabei werden Baden und Hessen zusammengenommen (von ElsassLothringen sehen wir wegen des Bevölkerungsaustausches mit Frankreich ab). Ich sage: wenn die Wirkungen der ausgedehnten Zwangserziehung in der jugendlichen Kriminalität sich zeigen sollen, so muß die Entwicklung dieser in Baden und Hessen wesentlich günstiger, als in Preußen sich darstellen. Es ergeben sich aber folgende Zahlen für die in der Begründung angeführten Delikte:

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Stat. des Deutschen Reichs, Neue Folge, Bd. 95 II 6.

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II. Schriften in Preußen in Baden und Hessen

I. Diebstahl (= einfacher Dieb­ stahl, auch im wieder­ holten Rückfalle; und schwerer Diebstahl, auch im wiederholten Rückfalle).

Verurteilte 12-18 Jahre alt: Mittel der Jahre 1885/86 . . . relativ zur gleichalterigen Zivil­ bevölkerung vom 1. Dez. 1885. (auf Zehntausend) Mittel der Jahre 1890/91 . . .

9368,5 24,9 12785,5

relativ zur gleichalterigen Zivil­ bevölkerung vom 1. Dez. 1890. (auf Zehntausend) Mittel der Jahre 1895/96 . . . relativ zur gleichalterigen Zivil­ bevölkerung vom 2. Dez. 1895. (auf Zehntausend)

824,5 26,0 1172

33,4

30,6

13037 34,6

983,5 28,3

II. Gefährliche Körperverletzung (A).

Sachbeschädigung (B).

Nötigung und Bedrohung (C).

Verurteilte 12 bis 18 Jahr . . . Mittel 1885/86 (auf Zehntausend) Verurteilte 12 bis 18 Jahr . . . Mittel 1890/91 (auf Zehntausend)

5,9

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2681

1389

7,0

3,6

Verurteilte 12 bis 3489,5 1673,5 18 Jahr . . . Mittel 1895/96 9,0 4,3 (auf Zehntausend)

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Man sieht (aus den Relativ-Ziffern): sowohl in Preußen als in Baden und Hessen hat zwischen 1885/86 und 1890/91 eine erhebliche Steigerung stattgefunden, die freilich in Preußen stärker ist (34 Prozent gegen 18 Prozent) und sich hier, wenn auch nur in geringerem Maße, bis 95/96 fortgesetzt hat, während in Baden und Hessen eine Abnahme sich bemerklich macht: dort eine Zunahme um 3,6, hier eine Abnahme um 7 Prozent der jedesmal vorausgehenden Relativ-Ziffer. in Preußen A B 2016,5 974,5

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C 85,5

in Baden u. Hessen A B C 212 85,5 11,5

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Man gewahrt, daß in diesen 3 Delikten die Entwicklung in Baden und Hessen, den Ländern der seit 1886 resp. 1887 erweiterten Zwangserziehung, weit ungünstiger ist, als in Preußen. Die Steigung von 1885/86 bis 1890/91 in A (gefährlicher Körperverletzung, dem numerisch bedeutendsten dieser Delikte) dort 55, hier 18 Prozent, von 1890/91 bis 1895/96 dort 26, hier 28; die mittlere Steigung also dort 40,5, hier 23 Prozent. Ebenso die mittlere Steigung in B dort 36, hier 21,5; in C dort 63, hier 58 Prozent. Ich lege indessen wenig oder gar kein Gewicht auf diese Vermehrung der Bagatellkriminalität. Daß es um diese insbesondere bei den angeführten Vergehen gegen die Person sich handelt, lehrt deutlich genug, die Betrachtung der Entwicklung, die in den Straferkenntnissen stattgehabt hat. Wegen „gefährlicher Körperverletzung“ wurden von je 1000 verurteilten Jugendlichen zu Gefängnisstrafen verurteilt: im Jahre 1889: 705; dieser Anteil hat sich fortwährend vermindert bis auf 536 im Jahre 1896, insbesondere haben ebenso die Verurteilungen zu Gefängnisstrafen von 3 Monaten und darüber sich stetig vermindert von 121 auf 109; dagegen hat in der gleichen Zeit der Anteil der Geldstrafen von 247 auf 379, der des „Verweises“ von 48 auf 85 zugenommen. Auf „Verweis“ darf, nach Vorschrift des Strafgesetzbuches, nur in „besonders leichten Fällen“ erkannt werden. Diese Entwicklung (sie ist ähnlich beim einfachen Diebstahl, bei Unterschlagung, und bei Beleidigung, wahrscheinlich auch bei „Nötigung und Bedrohung“ der Jugendlichen),17 zusammengestellt mit der gleichmäßig wachsenden Zahl der zur Aburteilung gelangenden Fälle, läßt keinen anderen Schluß zu, als daß fortwährend die Zahl der leichtesten Fälle sich vermehrt und zwar vermutlich nicht ihrer Begehung, sondern der Verfolgung. Freilich kann die Polizei – insonderheit die unserer Großstädte – bei wirklichen Verbrechen, und gerade bei schweren Verbrechen, ebenso glänzender Erfolge sich nicht rühmen; und dies zu erwarten, wäre unbillig. Was aber die gefährliche Körperverletzung betrifft, so hat schon eine Untersuchung des Jahres 1886 festgestellt, daß von den Verurteilungen, die durch preußische Gerichte ausgesprochen waren, nur 11,1 Prozent wegen einer Strafthat, die mit einem Messer oder einer anderen eigentlichen Waffe verübt war, erfolgten; dagegen in 35,0 Prozent

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Es handelt sich hier um Bedrohung, also um bloße Schimpfworte, in ca. 85 Prozent der Fälle (bei Jugendlichen); mit Gefängnis bestraft wurden von 1000 im Jahre 1896 wegen beider Delikte Verurteilten nur 559. Stat. des Deutschen Reichs, Neue Folge, Bd. 95, I. 53.

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der Fälle war die gemeinsame Ausübung das Merkmal der Gefährlichkeit, die Verletzung selber also auch im Sinne des Gesetzes eine leichte.18 Ferner ist es völlig unrichtig, diese Roheits-Delikte (um sie so zu nennen) als charakteristisch für eine verwahrloste d.h. der normalen Erziehung entbehrende Jugend aufzufassen. Nur zu einem geringen Teile, und am ehesten noch bei der Sachbeschädigung, wird das zutreffen. Im allgemeinen aber gilt der Satz: die verwahrloste Jugend ist schlecht genährt, skrophulös, schwächlich und arm an Mut; die zu Schlägereien und dergleichen geneigte Jugend ist im Gegenteil kräftig und dreist. Jene ist überwiegend ein Produkt der Großstädte, diese hat ihren natürlichen Boden immer auf dem Lande; wenn sie auch in Städten sich sehr bemerklich macht, so zähle man einmal, wie viele dieser derben und üppigen Jungen beiderseits landgeborene Eltern haben, oder sogar selber noch auf dem Lande geboren sind; wie viele an der Mutter Brust, und wie lange, genährt worden sind, u. dgl. m. Ueber die leichteren Delikte dieser Art ein Lamento zu erheben, ist unweise; sie dokumentieren auch die noch vorhandene urwüchsige Volkskraft, wenn sie gleich solchen nahe stehen, die auf brutale Neigungen und wilde Temperamente, und mit solchen sich berühren, die auf Exzesse der Trunkenheit sich zurückführen lassen, zu denen solche Naturen wiederum den gefährlichsten Hang haben. In beiden Hinsichten, einigermaßen wohl auch durch urwüchsige Volkskraft, zeichnen bekanntlich teils die polnischen Elemente in Preußen, teils die Gebirgsbewohner und Bewohner der Weingegenden im südlichen Deutschland sich aus; von denen jene (die Polen) fortwährend in hervorragender Weise, sowohl durch Mehrgeburten, als durch Mehrzuwanderungen im Reiche, und speziell in Preußen, sich vermehren. Daß durch diesen Umstand die moralisch bedenkliche Seite der Sache bezeichnet und verstärkt wird, liegt auf der Hand; vielleicht auch außerdem durch zunehmenden Alkoholismus, indessen dürfte sich dies schwerlich beweisen lassen. Gegen Vermehrung der eigentlichen kriminellen Roheit möchte ich auch hier anführen (wie ich es bei Gelegenheit der sogenannten Zuchthaus-Vorlage gethan: 18

Stat. des Deutschen Reichs, Neue Folge Bd. 30, II. 10: „Die Zunahme dieser Delikte in den letzten Jahren wird (in den diese Nachweise begleitenden amtlichen Berichten) mit darauf zurückgeführt, daß die strafverfolgenden Behörden immer mehr auch auf die geringeren Fälle ihr Augenmerk richten und sie zur Aburteilung bringen; ferner wird darauf hingewiesen, daß der Begriff des „gefährlichen Werkzeugs“ bei den Gerichten eine allmählich erweiterte Ausdehnung erfahren habe“. – „Diese Erwägung – so resümiert der Reichsstatistiker – könne dazu dienen, den beunruhigenden Eindruck, welchen die Häufigkeit und die Zunahme der „gefährlichen“ Körperverletzung an und für sich machen müssen, abzuschwächen“. – Die gefährlichen Körperverletzungen der studierenden Jugend kommen nur zu einem verschwindenden Teile vor den Strafrichter.

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Soz. Praxis 5. Nov. 1899), daß die Verurteilungen wegen schwerer Körperverletzung und wegen Beteiligung an Schlägerei, die Tod oder schwere Körperverletzung zur Folge hatte, nicht gestiegen, relativ sogar stark zurückgegangen sind. Dies gilt insbesondere auch in Preußen von der Beteiligung Jugendlicher: die Ziffern für beide zusammen in den drei hier betrachteten Biennial-Mitteln sind 30, 26,5, 27; die Relativzahlen 0,09 - 0,07 - 0,07. Anderes bleibt hier der Untersuchung offen. – Ganz anders verhält es sich mit dem Diebstahl. Dieser ist in Wahrheit das charakteristische Delikt jugendlicher Delinquenten überhaupt, und insonders der verwahrlosten Jugend, wenngleich es auch hier in der großen Mehrheit der Fälle um höchst unbedeutende Vergehungen sich handelt. Daß aber auf die Frequenz dieser Vergehungen herabmindernd wirken muß, wenn man eine große Anzahl von Individuen, von denen mit hoher Wahrscheinlichkeit, unter gleichbleibenden Umständen, solche erwartet werden, in Umstände bringt, wodurch entweder die Versuchung stark herabgesetzt wird – günstigere häusliche Umstände – oder sogar, wie in Anstaltverwahrung, die Freiheit des Handelns eingeschränkt wird, dies liegt auf der Hand, und insofern muß immer die Zwangserziehung dämpfend auf die jugendliche, daher besonders auf die Diebstahls-Kriminalität wirken. Die thatsächliche Verminderung dieser mag in der That auf jene, wenn auch schwerlich auf sie allein, zurückführbar sein; und hier könnte mit Recht die von mir ermittelte Differenz der Bewegung in den Verurteilungen Jugendlicher zwischen Preußen einerseits, Baden und Hessen andererseits, wenn diese Differenz auch nur gering ist, zu Gunsten der erweiterten Zwangserziehung ins Feld geführt werden. Die Einengung der DiebstahlsFrequenz jugendlicher Personen ist gleichsam eine mechanische Wirkung der Zwangserziehung überhaupt, daher auch ihrer Erweiterung; daß auch diese dem Gesamt-Phänomen gegenüber nicht viel zu bedeuten hat, zeigt der Erfolg in Baden und Hessen offenbar. Die moralische Wirkung aber müßte in ganz anderer Sphäre gesucht werden: wenn irgendwo, so müßte sie in der Diebstahls-Kriminalität Erwachsener sichtbar sein, zumal da diese erfahrungsmäßig in den ersten Lebensjahren der vollen „Strafmündigkeit“ am intensivsten ist; mit anderen Worten, wie die Zwangszöglinge sich verhalten, nachdem sie dem Zwang entronnen sind und ihre Freiheit wiedergewonnen haben, das ist die wahre Probe auf das Exempel. Ich habe mir daher die Mühe gegeben, auch die relative Häufigkeit, wegen Diebstahls Verurteilter, die über 18 Jahre alt waren, in Preußen einerseits,

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5. Nov. 1899: Die Kriminalstatistik und die Vorlage zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses, Ferdinand Tönnies, in: Soziale Praxis, E. Francke (Hg.), 1899, 9. Jg., Nr. 5, Leipzig 1899, S. 105-112.

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Baden und Hessen andererseits, für die drei Biennien zu ermitteln und zu vergleichen. Das Ergebnis ist folgendes:

Auf 10000 über 18jährige Zivil­ einwohner kommen Verurteilte wegen Diebstahls

1885/86 1890/91 1895/96

Preußen 23,6 27,0 24,7

Baden und Hessen 14,4 17,6 16,7

Die Steigerung betrug, in der ersten Spanne, in Preußen 3,4 = 14 Prozent (der Anfangsziffer); in Baden und Hessen 3,2 = 22 Prozent (ebenso); die Abnahme in der zweiten Spanne dort 2,3 = 8,5 Prozent; hier nur 0,9 = 0,5 Prozent. Ich kann nicht finden, daß diese wesentlich ungünstigere Entwicklung in Baden und Hessen zu Gunsten der erweiterten Zwangserziehung spricht. Die „Begründung“ giebt noch etliche Ziffern, aus denen erhellen soll, „wie wenig die strafrechtlichen Maßnahmen geeignet sind, dieser wachsenden Kriminalität *der Jugendlichen* entgegen zu treten“. Insofern als die Kriminalität überhaupt, die der Jugendlichen insbesondere, ökonomische und sittlich-soziale Ursachen hat, ist die Erwartung von vornherein falsch, sie mit strafrechtlichen Maßnahmen hemmen zu können. Auch die Zwangserziehung, die nur eine modifizierte, meinetwegen eine verbesserte strafrechtliche Maßregel ist, wird sich in dieser Hinsicht als ohnmächtig erweisen, man darf sagen, hat sich als ohnmächtig erwiesen. Die Arten und Ursachen der Kriminalität sind bisher nach wissenschaftlich genügenden Methoden nicht untersucht worden. Die Verhandlungen darüber, in Staatsschriften, wie in Parlamenten, sind dilettantisch. – Die Begründung meint noch besonders, der Mißerfolg des Strafrechtes spreche sich ziffernmäßig darin aus, daß der Rückfall unter den Jugendlichen von Jahr zu Jahr steige. So allgemein auch diese Art des Denkens ist, so behaupte ich doch, daß ihr ein Urteilsfehler zu Grunde liegt. Bei gleicher Häufigkeit der Verurteilungen von gleicher moralischer Bedeutung (die hier, wie sonst in der Begründung, keiner Rücksicht gewürdigt wird) ist der wachsende Anteil Vorbestrafter ein günstiges Zeichen der Entwicklung – dies ist der Satz, den ich aufstelle. Umgekehrterweise würde die relative Vermehrung der „frischen Fälle“ ein ungünstiges Zeichen sein. Bei gewissen epidemischen Krankheiten sind bekanntlich Rückfälle ebenso die Regel, wie bei gewissen Arten der Kriminalität. Der Hygieniker muß und wird es für wichtiger halten, neue Infektionen zu verhüten, als die neuen Symptome einer alten zu bekämpfen. Dem Gesetzgeber kommt der Standpunkt des Hygienikers, nicht der des praktischen Arztes zu; der Standpunkt des Politikers und Ethikers, nicht der des Seelsorgers. Die

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Auffassung des heutigen sozialen Lebens, die in der uns vorliegenden „Begründung“ geltend gemacht wird,19 ist in der That die des Sittenpredigers und entrüsteten Staatsbürgers, nicht die des Soziologen und Politikers. Ich für meine Person bin weit davon entfernt, einem sogen. Optimismus inbezug auf die Erscheinungen und Entwicklungstendenzen des heutigen sozialen Lebens zu huldigen. Aber je mehr ich diese mit Ernst und tiefen Bedenken anschaue, desto mehr muß ich davor warnen und dagegen Einspruch erheben, daß man sie mit Deklamationen anklagt und mit illusorischen und zugleich gefährlichen Mitteln verkleistert oder unter die Oberfläche zurücktreibt. Das Gelegenheitsgesetzemachen, wovon wir eben mit Schaudern die Beispiele erlebt haben, ist selber eines der übelsten Zeichen des Verfalls geistig-sittlicher Kräfte, ein Ausfluß ohnmächtiger Verzweiflung. Ich weiß wohl, daß die Ausdehnung der Zwangserziehung nicht in diese Kategorie gehört. Aber in den Motiven der Denkungsart, die ihr zu Grunde liegt, ist sie von gleicher Art. Man will die kapitalistisch zersetzte Gesellschaft gern von gewissen auffallenden Flecken befreien. Aber, wie die in den Zeitungen annoncierenden Heilgehilfen: brieflich, ohne jede Aenderung der Lebensweise. Im folgenden geben wir den Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes über die Zwangserziehung Minderjähriger:

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„Die wirtschaftliche und soziale Gestaltung unseres Volkslebens hat dahin geführt, daß jetzt ein weit größerer Teil der heranwachsenden Jugend den festgefügten Ordnungen des Hauses, des Lehr- und Dienstverhältnisses, welche sie früher schützend umgaben, entzogen wird. Kaum der Schule entwachsen, gehen sie selbständig ihren Weg in Erwerb und Genuß; viele stürmen zügellos in das Leben hinein, die jugendliche Kraft des Leibes und der Seele vergeudend. Durch schlechte Gesellschaft verdorben, folgen sie willenlos den eigenen Trieben oder fremder Verführung. Um ein oft ganz sinnloses Begehren zu erfüllen, zu dem die Mittel fehlen, wird ohne Ueberlegung gestohlen, betrogen, unterschlagen und vor einem Raubanfall nicht zurückgeschreckt; um die ungezähmten geschlechtlichen Triebe zu befriedigen, werden skrupellos die schwersten Sittlichkeitsverbrechen began­ gen. Wo es sich um eine Auflehnung gegen die staatliche Gewalt, um Auflauf oder Aufruhr handelt, stellen meist die halbwüchsigen Burschen dazu das größte Kontingent, die gewaltthätigsten Angreifer.“ Sollen also diese halbwüchsigen Burschen sämtlich unter Zwangserziehung gestellt werden? – Die letzten Sätze machen übrigens erst deutlich, daß auch mit den ersten ausschließlich die Jugend der Arbeiterklasse, nicht etwa Studenten und junge Offiziere gemeint sind.

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Entwurf eines Gesetzes über Zwangserziehung Minderjähriger. Auf Grund der Allerhöchsten Ordre vom 8. Januar 1900 an dem selben Tag dem Herrenhaus durch den Minister des Innern vorgelegt. Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen etc. verordnen, mit Zustimmung beider Häuser des Landtags für den Umfang der Monarchie, was folgt: § 1. Zwangserziehung im Sinne dieses Gesetzes ist die Erziehung verwahrloster oder der Verwahrlosung ausgesetzter Minderjähriger unter öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt. § 2. Der Zwangserziehung kann überwiesen werden ein Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wenn 1. die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorliegen und die Zwangserziehung erforderlich ist, um die sittliche Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten; 2. wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat, wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters strafrechtlich nicht verfolgt werden kann und die Zwangserziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Persönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung des Minderjährigen erforderlich ist; 3. wenn die Zwangserziehung außer diesen Fällen wegen Unzulänglichkeit der erzieherischen Einwirkung der Eltern oder sonstigen Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist. § 3. Die Unterbringung zur Zwangserziehung erfolgt, nachdem das Vormundschaftsgericht durch Beschluß das Vorhandensein der Voraussetzungen des § 2 unter Bezeichnung der für erwiesen erachteten Thatsachen festgestellt und die Unterbringung angeordnet hat. § 4. Das Vormundschaftsgericht beschließt von Amtswegen oder auf Antrag. Zur Stellung des Antrages ist der Landrat (in den Hohenzollernschen Landen der Oberamtmann), in Stadtkreisen der Magistrat und der Vorstand der Königlichen Polizeiverwaltung berechtigt und verpflichtet. Vor der Beschlußfassung soll das Vormundschaftsgericht, soweit dies ohne erhebliche Schwierigkeit geschehen kann, die Eltern, den gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen und in allen Fällen den Gemeindevorstand, den zuständigen Geistlichen und den Leiter oder Lehrer der Schule, welche der Minderjährige besucht oder zuletzt besucht hat, hören. Auch

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hat, wenn die Beschlußfassung nicht auf Antrag erfolgt, das Vormundschaftsgericht zuvor dem Landrate (Oberamtmann, Magistrate, Polizeibehörde) unter Mitteilung der Akten Gelegenheit zu einer Aeußerung zu geben. Der Beschluß ist dem gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen, diesem selbst wenn er das vierzehnte Lebensjahr vollendet hat, dem Landrate (Oberamtmann, Magistrate, Polizeibehörde) und dem verpflichteten Kommunalverbande (§ 14) zuzustellen. Gegen den Beschluß findet die sofortige Beschwerde statt. Die Beschwerde hat aufschiebende Wirkung. § 5. Bei Gefahr im Verzuge kann das Vormundschaftsgericht eine vorläufige Unterbringung des Minderjährigen anordnen. – Die Polizeibehörde des Aufenthaltsortes hat in diesem Falle für die Unterbringung des Minderjährigen in einer Anstalt oder in einer geeigneten Familie zu sorgen. – Die daraus erwachsenden Kosten fallen, sofern die Ueberweisung zur Zwangserziehung demnächst endgültig angeordnet wird, dem verpflichteten Kommunalverbande (§ 14), anderenfalls demjenigen zur Last, welcher die Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung zu tragen hat. Die Polizeibehörde hat in allen Fällen die durch die vorläufige Unterbringung entstehenden Kosten vorzuschießen. § 6. Hat die in § 4 angeordnete Anhörung der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters stattfinden können, so sind dieselben berechtigt, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu verlangen. § 7. Soweit nicht in diesem Gesetze ein anderes bestimmt, finden auf das gerichtliche Verfahren die allgemeinen Vorschriften über die durch Landesgesetz den ordentlichen Gerichten übertragenen Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Anwendung. § 8. Die gerichtlichen Verhandlungen sind gebühren- und stempelfrei; die baren Auslagen fallen der Staatskasse zur Last. Verträge über die Unterbringung von Zwangszöglingen sind ebenfalls stempelfrei. § 9. Die Ausführung der Zwangserziehung liegt dem verpflichteten Kom­­ munalverbande ob (§ 14); er entscheidet darüber, in welcher Weise der Zögling untergebracht werden soll. Die Einlieferung der Zöglinge hat durch die Polizeibehörde des Aufenthaltsortes zu erfolgen. § 10. Die Unterbringung der Zöglinge darf nicht in einem Arbeitshause oder Landarmenhause erfolgen, in Anstalten, welche für Kranke, Gebrechliche, Idiote, Taubstumme und Blinde bestimmt sind, nur insoweit und so lange, als der körperliche oder geistige Zustand des Zöglings dies erfordert.

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In Ausführung einer eingeleiteten Zwangserziehung kann die Erziehung in der eigenen Familie des Zöglings unter Aufsicht des Kommunalverbandes widerruflich angeordnet werden. § 11. Für jeden in einer Familie untergebrachten Zögling ist von dem Kommunalverbande eine geeignete Fürsorge zur Ueberwachung der Erziehung und Pflege des Zöglings anzuordnen. Die Fürsorge kann auch Frauen übertragen werden. § 12. Auf Antrag des verpflichteten Kommunalverbandes kann, unbeschadet der Vorschriften des Art. 78 § 1 des Ausführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche, der Vorstand einer unter staatlicher Aufsicht stehenden Erziehungsanstalt von den nach § 1776 des Bürgerlichen Gesetzbuchs als Vormünder berufenen Personen zum Vormunde der auf Grund der §§ 3 ff. in der Anstalt untergebrachten Zöglinge bestellt werden. Das Gleiche gilt für Zöglinge, die unter der Aufsicht des Vorstandes der Anstalt in einer von ihm ausgewählten Familie erzogen werden; liegt die Beaufsichtigung der Zöglinge einem von dem verpflichteten Kommunalverbande bestellten Beamten ob, so kann dieser auf Antrag des Kommunalverbandes statt des Vorstandes der Anstalt zum Vormunde bestellt werden. Neben dem nach den Vorschriften der Abs. 1, 2 bestellten Vormunde ist ein Gegenvormund nicht zu bestellen. Dem Vormunde stehen die nach § 1852 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zulässigen Befreiungen zu. § 13. Die Aufhebung der Zwangserziehung erfolgt durch Beschluß des Kommunalverbandes von Amtswegen oder auf Antrag der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters des Minderjährigen, wenn der Zweck der Zwangs­ erziehung erreicht oder die Erreichung des Zweckes anderweit sichergestellt ist. Die Aufhebung kann unter Vorbehalt des Widerrufs beschlossen werden. Gegen den ablehnenden Beschluß des Kommunalverbandes kann der Antragsteller binnen einer Frist von zwei Wochen vom Tage der Zustellung ab die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts anrufen. Gegen den Beschluß des Vormundschaftsgerichts findet die Beschwerde statt. Die Beschwerde des Kommunalverbandes hat aufschiebende Wirkung. Ein abgewiesener Antrag darf vor Ablauf von sechs Monaten nicht erneuert werden. § 14. Die Provinzialverbände, in der Provinz Hessen-Nassau die Bezirksverbände der Regierungsbezirke Wiesbaden und Kassel, der Lauenburgische Landeskommunalverband, der Landeskommunalverband der Hohenzollernschen Lande, sowie der Stadtkreis Berlin sind verpflichtet, die Unterbringung der durch Beschluß des Vormundschaftsgerichts zur

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Zwangserziehung überwiesenen Minderjährigen in einer den Vorschriften dieses Gesetzes entsprechenden Weise zu bewirken. Sie haben für die Errichtung von Erziehungs- und Besserungsanstalten zu sorgen, soweit es an Gelegenheit fehlt, die Zöglinge in geeigneten Familien, sowie in öffentlichen, kirchlichen oder privaten Anstalten unterzubringen; auch soweit nötig für ein angemessenes Unterkommen nach Beendigung der Zwangserziehung zu sorgen. Zur Unterbringung verpflichtet ist derjenige Kommunalverband, in dessen Gebiete der Ort liegt, als dessen Vormundschaftsgericht das Gericht Beschluß gefaßt hat. § 15. Die Kosten, welche durch Einlieferung in die Familie oder Anstalt und die dabei nötige reglementsmäßige erste Ausstattung des Zöglings und durch die Rückreise des Entlassenen erwachsen, fallen dem Ortsarmenverbande, in welchem der Zögling seinen Unterstützungswohnsitz hat, alle übrigen Kosten des Unterhalts und der Erziehung sowie der Fürsorge bei der Beendigung der Zwangserziehung den Kommunalverbänden zur Last. Letztere erhalten dazu aus der Staatskasse einen Zuschuß in der Höhe der Hälfte dieser Ausgaben, dessen Betrag entweder im Einverständnisse mit den einzelnen Kommunalverbänden periodisch als Bauschsumme oder, soweit ein Einverständnis nicht erreicht ist, jährlich auf Liquidation der im Vorjahre aufgewendeten Kosten vom Minister des Innern festgestellt wird. § 16. Die Kommunalverbände sind berechtigt, die Erstattung der Kosten des Unterhalts eines Zöglings während der Zwangserziehung von diesem selbst und, soweit dies nicht möglich ist, von den zu seinem Unterhalt Verpflichteten zu fordern. Für die Erstattungsforderung sind Tarife zu Grunde zu legen, welche von dem Minister des Innern nach Anhörung der Kommunalverbände festgesetzt werden. Die Kosten der allgemeinen Verwaltung der Zwangserziehung, des Baues und der Unterhaltung der von den Kommunalverbänden errichteten Anstalten bleiben hierbei außer Ansatz. Wird gegen die Erstattungsforderung Widerspruch erhoben, so beschließt darüber auf Antrag des Kommunalverbandes der Kreisausschuß (Amtsausschuß), in Stadtkreisen der Stadtausschuß. Der Beschluß ist vorbehaltlich des ordentlichen Rechtsweges endgültig. Die Hälfte der von den Erstattungspflichtigen eingezogenen Beträge ist auf den Beitrag des Staats anzurechnen. § 17. Die Kommunalverbände haben für die Ausführung der Zwangserziehung und für die Verwaltung der von ihnen errichteten Erziehungsund Besserungsanstalten Reglements zu erlassen.

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Dieselben bedürfen der Genehmigung der Minister des Innern und der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten inbetreff derjenigen Bestimmungen, welche sich auf die Aufnahme, die Behandlung, den Unterricht und die Entlassung der Zöglinge beziehen. Inbetreff der Privatanstalten behält es bei den bestehenden Vorschriften sein Bewenden. § 18. Die gesetzlichen Bestimmungen über die religiöse Erziehung der Kinder finden auch auf die in diesem Gesetze geordnete Zwangserziehung Anwendung. § 19. Wenn schulpflichtige Zwangszöglinge der öffentlichen Volksschule ohne erhebliche sittliche Gefährdung der übrigen die Schule besuchenden Kinder nicht zugewiesen werden können, so hat der Kommunalverband dafür zu sorgen, daß diesen Zwangszöglingen während des schulpflichtigen Alters der erforderliche Schulunterricht anderweitig zu Teil wird. Im Streitfalle entscheidet über die vorliegende Frage der Oberpräsident. § 20. Die zuständigen staatlichen Aufsichtsbehörden der Kommunalverbände und in höherer Instanz der Minister des Innern haben die Oberaufsicht über die zur Unterbringung von Zöglingen getroffenen Veranstaltungen zu führen; sie sind befugt, zu diesem Behufe Revisionen vorzunehmen. § 21. Wer, abgesehen von den Fällen der §§ 120, 235 des Strafgesetzbuchs, es unternimmt, einen Minderjährigen, gegen den die Zwangserziehung eingeleitet ist, dieser zu entziehen, oder ihn zu verleiten, sich der Zwangserziehung zu entziehen, oder wer ihm hierzu vorsätzlich behülflich ist, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und mit Geldstrafe bis Eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen bestraft. § 22. Der Minister des Innern ist mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt. § 23. Dieses Gesetz tritt mit dem ........... in Kraft. Mit dem gleichen Zeitpunkte wird das Gesetz vom 13. März 1878, betreffend die Unterbringung verwahrloster Kinder, aufgehoben. Beglaubigt. Der Minister des Innern. Freiherr von Rheinbaben.

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Wenn Nietzsche von den Erörterungen der „tausend Notstände“ mit einem Ekel, den er – nicht ohne Grund – für vornehm ausgab, sich abwandte, so traf er mit seinen gehaßten Antipoden, den Moralisten, im Effekte nahe zusammen. Auch diese beschäftigen sich nicht gerne mit sittlicher Not; ein eigenes Kapitel pflegt in den Büchern der Ethik ihr nicht gewidmet zu werden. In mehr oder minder ausgeprägter Weise setzen die Ethiker diejenigen Lebensverhältnisse, an denen sie selber teilhaben, deren sie in der Regel (als Angehörige der gelehrten Berufe) sich erfreuen, als die allgemein-menschlichen voraus und erliegen so der Gefahr, die Kultur der edleren Gefühle und den dadurch mitbedingten sittlichen Lebenswandel, wenigstens nach manchen Richtungen hin, als leichter darzustellen, als sie in Wahrheit für die weit überwiegende Mehrheit der Menschen sind. Ich möchte nun hier – nicht eben etwas Neues aufstellen, sondern nur darauf aufmerksam machen und behaupten: 1) daß jede vorhandene menschliche Not eine Hemmung der „ethischen Kultur“, wie immer wir diesen neuen Begriff verstehen mögen, bedeutet; 2) daß dies von der Wohnungsnot in besonderer Weise gilt, daß Wohnungsnot sittliche Not ist; 3) daß die Hebung dieser Not mit allen Aufgaben sittlicher Volks-Erziehung auf das Innigste zusammenhängt. 1. Jede menschliche Not eine Hemmung ethischer Kultur. – Was ist denn eigentlich Not? Wir alle glauben es zu wissen, wenigstens zu empfinden – ich kann mich nur bemühen, es deutlicher zu denken und deutlicher vorzustellen. Not ist ein Zustand drückenden, drängenden, schmerzlichen Bedürfnisses, ein Zustand, der dem Menschen alles, was ihn als Menschen auszeichnet, worauf er als Mensch, vollends als zivilisierter Mensch, Wert zu legen gelernt hat oder doch Wert legen möchte, vor-

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Die Wohnungsnot – eine sittliche Not: Ferdinand Tönnies, Die Wohnungsnot – eine sittliche Not. In: Ethische Kultur, Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, 7. und 14.7.1900, 8. Jg., Berlin 1900, S. 212-213 und S. 218-221. „tausend Notstände“: „Aus der Verzärtelung des neuen Menschen sind die ungeheuren sozialen Notstände der Gegenwart geboren, nicht aus dem wahren und tiefen Erbarmen mit jenem Elende ...“ (Karl Schlechta (Hg.), Friedrich Nietzsche, Werke in sechs Bänden, Der griechische Staat, Vorrede, V. Bd., München / Wien 1980, S. 276f.).

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enthält, der ihn auf eine tierisch-rohe oder im günstigeren Falle auf eine pflanzlich-passivische Lebensweise zurückbringt, der ihn aller Freude beraubt und sein Denken erniedrigt, seine Freiheit tötet – ja, die Freiheit, die sittliche Freiheit! Sie ist es, die wir meinen, etwas Unerfüllbares, Unendliches, eine „bloße Idee“, die Idee des reineren, klareren, menschlich-übermenschlichen Lebens, der Genuß und die Freude eines geistigen Daseins – sie ist das wahre Gegenteil der Not: je mehr Not, desto weniger Freiheit, je mehr Freiheit, desto weniger Not. Sittliche Freiheit ist Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung – ein wirkliches Selbst, d.h. ein ausgebildetes menschliches Denken, eine praktische Vernunft muß dazu vorhanden sein, um sich beherrschen zu lassen und muß stark genug sein, um sich zu beherrschen. Not ist die Herrschaft fremder, feindlicher, niederträchtiger Elemente, ein herabziehender, versklavender Zwang. Wir alle kennen die Not auch an und in uns selber; jeder kennt, „was uns alle bändigt, das Gemeine“, und der kennt es am besten, der am energischsten damit ringt; er weiß, wie das Edle in ihm, sein gutes Gewissen, seine heilige Ueberzeugung, seine Liebe zum Schönen und Guten, fortwährend beengt und beklommen sich fühlen, wie sie sich hinaussehnen und hinausträumen in jene bessere Welt, die in religiöser Verkleidung das Reich Gottes oder die Gemeinschaft der Heiligen heißt. Was der Fromme in Verzückung schaut, ist ein tägliches Erlebnis des Denkenden, des Freiheitdurstigen, den durch die schmalen Gitter seines Kerkerfensters die Strahlen der Morgensonne grüßen, so oft er auf Augenblicke in die Erkenntnis des Wahren oder in die Anschauung des Schönen sich versenken darf. – Und was jedem einzelnen seine Not, seine Bedrängnis, das ist für ein Volk, ist für die Menschheit soziale Not, die Not als Massenerscheinung; diese Not aber ist wesentlich materielle Not; ihre furchtbarste akuteste Gestalt ist der Mangel der notwendigen Lebensmittel; ihr chronischer, lähmender Ausdruck in den See-

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desto weniger Not.: „Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung, dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann.“ Immanuel Kant, Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie, Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 7. Bd., Frankfurt a. M. 1977, S. 91-101. das Gemeine“: Johann Wolfgang von Goethe, o.J. [1805]: Epilog zu Schillers Glocke. S. 282-285 in: Johann Wolfgang Goethe Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden. Erster Band. Gedichte. Mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard von der Hellen. Erster Teil. Stuttgart / Berlin. „Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine, lag, was uns alle bändigt, das Gemeine“. Diese Verse bilden den Schluss der 4. Strophe des Goetheschen Gedichts „Epilog auf Schillers Glocke“, das bei der Gedenkfeier für Schiller am 10.8. 1805 in Bad Lauchstädt bei Weimar vorgetragen wurde.

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len ist die Sorge um das tägliche Brot, um den Mietzins, um die Deckung der Blöße ... Mangel, Sorge, Not: vor meinen Augen steht die ergreifende Mitternacht-Szene im zweiten Teile des Faust, wo die grauen Weiber auftreten und mitten unter ihnen, zwischen Mangel und Sorge – die Schuld – da sieht der Dichter, wie wir ihn sehen, den großen Zusammenhang des Elends mit dem sittlichen Verfall, mit dem Verbrechen, mit dem geistigen Tode. Entwicklung aus der Not zur Freiheit! Dieses Ziel sollten wir der ethischen Bildung, im sozialen wie im individualen Sinne, stecken; dann müssen wir aber aufhören, Dinge, Rechte, Einrichtungen gelten zu lassen, ja zu preisen, die durch Volks-Nöte bedingt sind, ja davon sich nähren! – Aufhören, Symptome zu bekämpfen und die Herde der Infektionen unberührt zu lassen! – 2. Worin besteht nun aber die Wohnungsnot? Ich spreche nur kurz von dem baren Mangel der Wohnung, jener Form der Wohnungsnot, die als Obdachlosigkeit ihre besondere Benennung und Bedeutung hat, und nach geltendem Rechte eine strafbare Handlung enthält: § 361, 8. (Mit Haft wird bestraft) „Wer nach Verlust seines bisherigen Unterkommens binnen der ihm von der zuständigen Behörde bestimmten Frist sich kein anderweitiges Unterkommen verschafft hat, und auch nicht nachweisen kann, daß er solches der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet nicht vermocht habe.“ Welcher arme Teufel kann dies nachweisen? – Deine Schuld! heißt es da: „Ganz nah an der Seite verbind’ ich mich dir“ spricht bei Goethe die Schuld zum Mangel. In Berlin wurden 1896 wegen dieser Uebertretung allein (außer den Verurteilungen wegen Bettelei, Unfug u.s.w. die sehr oft mit jener „Schuld“ verbunden sind) 1945 Männer und 88 Frauen verurteilt, durchschnittlich in jedem Monat 162 Männer und 7-8 Frauen, aber im Januar 239, im Februar 279 Männer, ebenso im Januar 12, im Februar 11 Frauen – man erkennt daraus, daß im tiefen Winter die Neigung so viel größer ist, die strafbare Handlung der Obdachlosig 7

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mit dem geistigen Tode.: Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweyter Theil in fünf Acten (Vollendet im Sommer 1831), Fünfter Akt, Mitternacht, Stuttgart 1832, S. 312 ff. nicht vermocht habe.“: Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund. Vom 31. Mai 1870. § 361, Nr. 8, Berlin 1870, S. 92. Schuld zum Mangel.: Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweyter Theil in fünf Acten (Vollendet im Sommer 1831), Fünfter Akt, Mitternacht, Stuttgart 1832, S. 313. In Berlin wurden 1896: Die folgenden Zahlen stammen aus: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 1896. Dreiundzwanzigster (23.) Jahrgang. Statistik des Jahres 1896 nebst den weiteren Ergebnissen der beiden Volkszählungen vom Jahre 1895. Im Auftrag des Magistrats herausgegeben von R. Böckh, Director des Statistischen Amts der Stadt Berlin. Berlin 1898.

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keit zu begehen.1 Viel größer war die Zahl (im gleichen Jahre) der wegen Obdachlosigkeit in Polizeigewahrsam Gebrachten, nämlich mit Frauen und Kindern 6441 Personen. Fast ebenso groß war der Zugang an Personen vom 1.4.96 bis 1.4.97 im Asyl für obdachlose Familien. Außer dieser städtischen Anstalt giebt es aber noch ein besonderes städtisches Obdach für nächtlich Obdachlose in Berlin. Dieses beherbergte im genannten Jahre nicht weniger als 292714 Personen, im Monatsdurchschnitt also über 24000, aber im Januar fast 51000, im Februar über 46000. (Zum Troste darf man dabei sich erinnern, daß dieselben Individuen öfters als einmal wiederkehren). Jede große Stadt weist entsprechende Ziffern des äußersten Wohnungselends auf – auch Hamburg besitzt seit einigen Jahren ein solches Asyl. – „Heimat für Heimatlose“ heißt eine vormals einsame, (jetzt vom Badeluxus umgebene) Begräbnisstätte auf der Insel Sylt, wo die Leichen der Schiffbrüchigen bestattet werden, die der Ozean ausspeit – Schiffbrüchige dort wie hier; Stürme und Fluten des Lebens haben sie vernichtet und an den Strand geworfen. Die Obdachlosigkeit im hier gemeinten Sinne ist ein Uebel, das in weit überwiegendem Maße einzelne Personen betrifft, die eine Wohnung gar nicht verlangen, wie auch jeder Reisende in der fremden Stadt nur eine Herberge oder einen Gasthof sucht. Was die „armen Reisenden“ suchen, ist wohl vorhanden, wenn auch zumeist in scheußlicher Gestalt, aber sie haben das Schlafgeld nicht, das der Herbergsvater oder Pennewirt verlangt. Oft aber wird auch Obdachlosigkeit genannt, was echte Wohnungsnot in ihrer akutesten Erscheinungsform ist, die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit für ganze Familien, die eine Wohnung suchen und auch bezahlen wollen, Wohnung für einen Preis, der ihnen möglich ist, zu finden, so daß sie im günstigsten Falle mit einem bloßen Obdach sich notdürftig begnügen müssen. Fast überall, wo rascher Zuwachs der Menschenmenge stattfindet, ist das Angebot kleiner wohlfeiler Wohnungen verhältnismä1

Wie scharf diese Uebertretung durch Arbeitslosigkeit bedingt ist, zeigt auch eine Vergleichung der Jahres-Ziffern: 1894 wurden noch 2771 Männer der Obdachlosigkeit schuldig befunden, 1898 und 1899 um resp. 1897 und 928.

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an den Strand geworfen.: Der Friedhof der Heimatlosen in Westerland auf Sylt, auch als „Heimatstätte für Heimatlose“ bezeichnet, wurde 1854 vom Strandvogt Wulf Hansen Decker angelegt. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden an den Strand gespülte unbekannte Leichen einfach sich selbst überlassen. Meist handelte es sich um über Bord gegangene und ertrunkene Seeleute. Ein Chronist zählte für den Zeitraum von 1600 bis 1870 418 Tote an Sylts Stränden. „armen Reisenden“: Friedrich Helbig, Der „arme Reisende“. Beiträge zur Geschichte des Vagabondenthums und der Mittel zu seiner Abwehr. In: Die Gartenlaube, Heft 28, 29, Leipzig 1883, S. 459-463, 471-472.

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ßig gering, zumal für den Arbeiter, der auf die Nähe seiner Arbeitsstätte Wert legen muß, wozu auch die langen Arbeits- oder Dienstzeiten nötigen. „Auswahl hat man ja keine nicht“ ist der gewöhnliche Seufzer des Arbeiters, der gern eine bessere Wohnung haben möchte. Aber wie, wenn nun einmal der Wohnungsmarkt gänzlich versagt? Wenn das Spiel von Angebot und Nachfrage in dieser ganz unnatürlichen Ware „Mietwohnung“ sich als unzulänglich erweist? Von Zeit zu Zeit, am ehesten wohl in rasch wachsenden Mittelstädten, ergeben sich aus dem Zustrom von Arbeitskräften, die von der industriellen Konjunktur herangezogen werden, Zustände schreiender Barbarei. So erinnere ich mich, wie in der ersten Hälfte der 70er Jahre diese Art der Wohnungsnot fast überall sich geltend machte und zu den Dingen gehörte, die meinen Blick zuerst auf die Anarchie unserer gesellschaftlichen Produktionsweise hingelenkt haben. Vor einigen Jahren schilderte in der Versammlung des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit2 der Bürgermeister von Bochum, nachdem er in lauten Tönen die Fürsorge der Arbeitgeber für „wunderbar schöne Wohnungen“, durch die sie ihre „Stammarbeiter“ sich zu erhalten wüßten, gepriesen hatte, eine Wohnungsnot, wie sie in dieser berühmten Industriestadt derartig groß geworden sei, „daß für die Behörden, namentlich also für die Armenverwaltung, die allerbittersten Verlegenheiten entstanden.“ „Es lag das daran, daß durch die Zeiten des Niedergangs der Industrie die betreffenden Personen zurückhielten mit dem Bau von Arbeiterwohnungen; sie ließen Gott und den lieben Mann sorgen und glaubten, wir haben ja doch nicht viel davon, warum sollen wir uns bemühen, für die Arbeiter zu sorgen – wer weiß, ob wir die Miete kriegen u.s.w. Ein Asyl für Obdachlose besaß die Stadt nicht, und es blieb nichts weiter übrig, als die Leute allabendlich in das sogenannte Polizeigewahrsam aufzunehmen; des Morgens bekamen sie einen Teller Suppe und wurden entlassen, und abends kamen sie wieder; es war das so eine Art fideles Gefängnis (!) Die Zahl wurde aber immer größer, und es ging beim besten Willen nicht so weiter. Da blieb nichts übrig, als in anderer Weise Fürsorge zu schaffen. Wir hatten da außerhalb der Stadt ein sogenanntes Reservelazarett 2

S. Schriften dieses Vereins. Siebzehntes Heft. Stenograph. Bericht über die Verhandlungen pp. Leipzig, Duncker u. Humblot 1893.

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gesellschaftlichen Produktionsweise: Die Anarchie der Produktion ist ein Begriff des Marxismus-Leninismus, der damit die Unorganisiertheit und Planlosigkeit der kapitalistischen Produktionsweise beschreiben will. „Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion“ aus: Karl Marx / Friedrich Engels – Werke. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR 1999, S. 215.

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mit zwei großen Sälen und einzelnen kleinen Kammern; da wurden die Familien untergebracht, und – es ist eigentlich kein besonderer Ruhm, daß ich es gestehen muß – es wurden Kreidestriche gezogen in diesen Sälen, und da wurde jeder Familie der Raum zugewiesen, den sie innerhalb der gezogenen Kreidestriche einnehmen durfte. Die Männer konnten bis zum Abend bei ihren Familien bleiben und mußten dann wieder in das Polizeigewahrsam gehen, um am andern Morgen in aller Frühe wieder bei ihren Familien einzutreffen und vielleicht einen Imbiß mit denselben einzunehmen.“ Später habe man Baracken gebaut: „jede Familie erhielt nur einen einzigen Raum“ .. „als ich einen schriftlichen Bericht erstattete, hatten wir in den Baracken, die nun bereits durch drei weitere ergänzt sind, 72 Familien mit 373 Köpfen“. Ein ähnlicher Zustand hat seit mehr als Jahresfrist in der glänzenden Marinestadt Kiel bestanden. Was davon durch die Zeitungen bekannt wird, sind nur äußere Umrisse. Als Ausnahme müssen wir betrachten, wenn einmal die traurigen Einzelheiten bei Gelegenheit eines Kongresses durch die Aufrichtigkeit eines, wie es scheint, wohlmeinenden Mannes, wie Bürgermeister Lange, an die öffentliche Meinung gebracht werden.

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(Schluß folgt.)

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(Schluß.) Die ständig beobachtete chronische Wohnungsnot ist ein viel massenhafteres Uebel, als diese mit der Obdachlosigkeit sich berührende akute Erscheinungsform. Worin besteht jenes massenhafte Uebel? Es besteht – wie oft ist es dargestellt worden – in der schlechten Beschaffenheit der Wohnungsverhältnisse. Und es ist vielleicht nicht überflüssig, diese einmal wieder in Kürze zu charakterisieren und gleichsam auf Fäden zu ziehen. Es ergiebt sich nämlich die Wohnungsnot: A. aus der Unzulänglichkeit der Wohnräume, teils der Dürftigkeit an und für sich – wie viele Familien bewohnen gleich jenen Baracken-Insassen nur einen einzigen engen Raum, selbst ohne daß Küche außerdem vorhanden ist, Tag und Nacht – teils aber aus Ueberfüllung des vorhandenen Raumes, sei es durch große Kinderzahl, sei es durch die Aufnahme von Aftermietern und Schlafgängern, so daß nur ein ungenügender Luftraum für das einzelne Individuum übrig bleibt. B. der ungesunde Zustand der Wohnung – dies ist ein ganzes Kapitel für sich. – Ueberfüllte Wohnungen, zumal nächtlich überfüllte, sind als solche schon ungesund. Außerdem aber ergeben sich die schwersten Schäden „teils durch Lage, teils durch bauliche Verhältnisse – (Mangel an

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frischer Luft, an Licht, an trockenen Wänden, niedrige Zimmer, schlechte Fenster, Thüren, Oefen, Fußböden, Aborte) – teils durch das erzwungene Zusammensein mit Kranken, vorhandene Infektion u.s.w.“3 Dazu kommt denn als häufig verschlimmernde Ursache die Unsauberkeit, sei es, daß sie der Wohnung von früheren Insassen her anhaftet, sei es daß die gegenwärtigen Insassen dieses Lasters sich schuldig machen. C. Zum Dritten nenne ich den unerfreulichen Charakter der Wohnungen, der aus solchen Zuständen sich ergiebt, aber auch noch durch besondere Ursachen oft gegeben ist: das Unfreundliche der Behausung, der ganzen Umgebung, die grauen Mauern der Hinterhäuser, die lärmende oder chikanöse oder lasterhafte Nachbarschaft – diese und viele andere Zufälligkeiten machen oft, und am ehesten immer die kleine Wohnung in dicht bevölkerten Mietskasernen, anstatt daß die Wohnung ein Heim, eine Stätte der Erholung und des Behagens sein soll, zu einem unleidlichen, mit Widerwillen ertragenen Aufenthaltsorte: wobei ganz abzusehen ist von inneren Ursachen, als Kummer und Sorge, häuslichem Unfriede u.s.w., die Mann oder Weib oder Kinder „aus dem Hause treiben.“ Ich weise aber schon hier darauf hin, wie diese innere Zerrüttung des Familienlebens oft eine unausbleibliche Folge solcher äußeren Umstände, der „Ungemütlichkeit“ des täglichen Lebens ist. D. Zum vierten endlich erwähne ich als schweren Uebelstand die unökonomische Belastung des Einkommens selbst durch ein notdürftiges Wohnen. Es ist eine beschämende Thatsache für alle, die es besser haben, die Thatsache, daß je größer das Einkommen, desto geringer die Quote, die das Wohnen kostet. Während der Reiche und Wohlhabende für seine schöne und üppige Villa, die er vielleicht nur während eines Teils des Jahres benutzt, zuweilen weniger als 1 Prozent, höchstens etwa 10 Prozent seines jährlichen Gewinnes, seiner Zinsen oder eines fürstlichen Gehaltes ausgiebt, so ist der Arbeiter gezwungen, 20 – 35 Prozent seines sauer verdienten Lohnes für eine oft miserable, immer bescheidene und mangelhafte, Wohnung zu opfern. Und jeder, der mit unbemittelten Familien verkehrt, weiß, was das Wort „Miete“ bedeutet, wie die Pfennige zusammengespart werden müssen, um den lieben Hauswirt zu befriedigen, der ja seinerseits die Hypothekengläubiger befriedigen muß und oft selber nicht ohne Grund über seine bedrängte Lage klagt.

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Nach Reincke, Handbüchlein für Wohnungspfleger in Hamburg.

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Wohnungspfleger in Hamburg: Johann Julius Reincke, Leitfaden für Wohnungspfleger, Hamburg 1898.

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Das Dasein einer allgemeinen Wohnungsnot in dem hier verstandenen Sinne ist amtlich bisher nicht anerkannt worden. Wissenschaftlich aber darf es als festgestellt bezeichnet werden; Stimmen, die es zu leugnen versuchen, sind kaum vorhanden, oder richten sich durch die Dürftigkeit ihrer Argumente selber. Alle Redner sind davon ausgegangen, daß eine Wohnungsnot wirklich existiert; diese Wohnungsnot ist gewiß zum großen Teile die Folge des niedrigen Lohnes, welchen die unteren Klassen beziehen, aber man war einstimmig darüber, daß diese Ursache nicht die einzige sei, sondern daß innerhalb der gegenwärtigen Lohnsätze auf diesem Gebiet vieles geschehen kann und geschehen müsse. In der Anerkennung der Wohnungsnot ist dann implicite auch die Anerkennung enthalten, daß das Privat-Interesse in diesem Falle nicht ausreichend ist, um die Wohnungsnot zu steuern. „Die Spekulation“, wie der Herr Referent sich ausdrückte, „wird allein Abhülfe nicht herbeiführen.“ So resümierte in der Versammlung des Vereins für Sozialpolitik 1886 in Frankfurt a. M. der Vorsitzende, Geh.-R. Nasse (seitdem verstorben) das Ergebnis der stattgehabten Verhandlung. Und von dieser Verhandlung ist auch – zugleich ein Beweis, wie langsam zwar, aber doch einigermaßen sicher solche Wellen sich fortpflanzen – die Anregung ausgegangen, die zu der ersten gesellschaftlichen und (der Absicht nach) sozialpolitischen That auf diesem Gebiete geführt hat, zur 1898 erfolgten Begründung des Vereins „Reichswohnungsgesetz.“4 Der Referent, auf den Nasse hinweist, hatte sich folgendermaßen ausgesprochen: „Nach meiner persönlichen Ansicht bedürfen wir dringend eines Reichsgesetzes über das ungesunde Wohnen. .. Auf keinem Gebiete ist es gefährlicher für die Gesetzgebung, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen, als auf dem Gebiete der Wohnungsfrage. Nirgends ist es schwieriger, eingewurzelte schlechte Gewohnheiten zu überwinden, nirgendwo kostspieliger, beste4

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Die Mitgliedschaft wird erworben durch Einsendung eines Jahresbeitrages (mindestens 1 M., für Vereine u. dgl. 5 M.), an Herrn Generaldirektor Hermann Dietze, Frankfurt a./M., (Musikantenweg 46). Im elften Zehntausend wird eine – bisher in Gesamtauflage von 110000 Exemplaren gedruckte – Agitationsbroschüre: „Die Wohnungsnot und ihre Abhülfe durch ein Reichs-Wohnungsgesetz. Von Professor Dr. Kamp“ durch den Kommissions-Verlag von Johannes Alt in Frankfurt a./M. verbreitet (Bezugsweise je 25 = M. 3, je M. 100 = 10, je 500 = M. 40). Sie ist schlicht, klar und reichhaltig – durchaus empfehlenswert. stattgehabten Verhandlung.: Erwin Nasse, Referat über die Wohnverhältnisse der ärmeren Klassen in deutschen Großstädten, in: Verhandlungen der am 24. und 25. September 1886 in Frankfurt am Main abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik, hrsg. vom Verein für Socialpolitik in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, 33. Bd., Leipzig 1887, S. 5 ff.

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henden Uebelständen zu begegnen, als im Bauwesen und in der Benutzung der Wohnungen. Von vornherein wird zu erwägen sein, ob nicht auch hier die Ausbeutung der Not zur Erpressung übermäßig hoher Mieten oder sonst übermäßig schwerer Bedingungen in ähnlicher Weise wie beim Darlehnsvertrag strafbar gemacht werden könnte. Das Gesetz müßte den zulässigen Inhalt des Mietsvertrages positiv und negativ näher charakterisieren und ... durch Gebot und Verbot den Mieter gegen allzu schwere Benachteiligung zu schützen suchen. ... Je eher die Heilung in Angriff genommen wird, um so leichter ist sie. Man kann nicht genug betonen, daß es auf diesem Gebiete vor allem gilt, dem (man verstehe: dem weiteren) Einreißen von Uebelständen vorzubeugen. ... Wer die traurigen Folgen der Wohnungsnot aus der Nähe beobachtet und unter den gegenwärtigen Verhältnissen fast ratlos ihnen gegenüber gestanden hat, der wird mit mir geneigt sein, selbst schwere Opfer und große Schwierigkeiten nicht zu scheuen, um nach und nach bessere Zustände herbeizuführen.“ Der diese und andere eindrucksichere sehr entschlossene Worte sprach, war der damalige Oberbürgermeister von Frankfurt, Herr Joh. Miquel (jetzt Herr von Miquel Excellenz). Daß der Vizepräsident des preußischen Ministeriums große Eile gezeigt habe, seine Worte in Thaten zu übersetzen, davon ist bisher nichts bekannt geworden. Allerdings ist ein kleines preußisches Gesetz über Beamtenwohnungen erlassen worden, das offenbar auf Miquels Initiative zurückgeht; aber daß er damit etwas Erhebliches gethan habe, dem weiteren Einreißen des Uebels vorzubeugen, kann dieser kluge Mann selbst nicht glauben. Es besteht eine reiche Literatur über Wohnungszustände und Wohnungsnot. Regelmäßig wird in den theoretischen Erörterungen auch auf die sittliche Not hingewiesen, die aus der Wohnungsnot folge oder darin enthalten sei. Aber zutreffend ist es, wenn in einer jüngst erschienenen Schrift5 Hans Kurella konstatiert, es fehle ganz an Vorarbeiten darüber, „wie das Wohnungselend in den Daten der Kriminal- und der Moralstatistik erkennbar werde.“ Der Ausdruck ist nicht ganz klar, aber was gemeint ist, kann ich nur bestätigen. Wir haben nur mehr oder minder wahrscheinliche, ja evidente, daher mehr oder minder einleuchtende und überzeugende Deduktionen. Es fehlt an Untersuchungen der Thatsachen des sittlichen Volkslebens nach den Normen induktiver Methodik. Was dieser Mangel bedeutet, wie er eben in

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Wohnungsnot und Wohnungsjammer, ihr Einfluß auf die Sittlichkeit, ihr Ursprung aus dem Bodenwucher und ihre Bekämpfung durch demokratische Städteverwaltung. Frankfurt a. M. Verlag von Reinhold Hülßen. 1900. Preis M. 1.20. Die kleine Schrift (68 S.) beruht auf eingehender und liebevoller Erforschung des Gegenstandes und enthält viele interessante Daten auch des Auslandes. Ein angehängtes Verzeichnis der benutzten Litteratur regt zu weiterem Studium des interessanten Gegenstandes an.

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dem Mangel an Vorarbeiten sich reflektiert, wird nur der völlig zu würdigen wissen, der mit ihm gerungen, der ihn zu überwinden ernstlich versucht hat. Kurella meint, auf die vor mehr als 30 Jahren verfaßte Schrift von Laspeyres (Ueber den Einfluß der Wohnung auf die Sittlichkeit.) als die einzige Ausfüllung der Lücke hinweisen zu sollen. Indessen ist auch hier ein Einfluß nicht bewiesen worden, sondern nichts als ein Zusammenhang mangelhaften Wohnens mit mißfälligem Betragen, der aber ausschließlich darauf beruhen kann, daß einerseits jüngere Leute mit geringeren Wohnungen vorlieb nehmen und in größerer Zahl zu Ausschweifungen neigen; daß andererseits die Armut und Unregelmäßigkeit des ganzen Lebenszustandes sowohl in schlechtem Wohnen als in schlechtem Betragen sich spiegelt. Um den genannten Einfluß methodisch zu beweisen, müßte man ermitteln, daß bei sonst so sehr als möglich gleichen Verhältnissen der einzige differente Faktor, das bessere oder schlechtere Wohnen, ein besseres oder schlechteres Verhalten bedingt, also etwa, daß die Veränderung dieses einzigen Umstandes bei denselben Individuen, unabhängig von variierendem Lebensalter, von Lohnhöhe, Familienverhältnissen, Veränderungen im Betragen nach sich zieht. Solche Beweise sind bisher nicht geführt worden; auch ich bin sie zu führen nicht in der Lage. Beobachtung einzelner Fälle scheint allerdings sehr dafür zu sprechen, kann aber doch nicht genügen. Wir finden uns also auf allgemeine Erwägungen zurückgewiesen. Nun ist offenbar das Verhältnis nicht einfach so, daß man sagen könnte: je besseres Wohnen, desto mehr Sittlichkeit, als ob die Sittlichkeit mit der Menge und Pracht der Wohnräume gleichsam wüchse: eine Vorstellung, die zu lächerlichen Konsequenzen führt. Wenn wir dagegen sittliche Not und sittliche Freiheit gegenüberstellen, so ist gemeint: das Gedeihen und die Entfaltung gewisser Tugenden ist durch die Wohnungsnot so erschwert, daß es ungerecht ist, von denen, die unter dieser Not leiden, einen vernünftigen Gebrauch der Ihnen dadurch eingeengten Freiheit zu erwarten und zu verlangen. Und daß jene Erschwerung in hohem Grade besteht, liegt allerdings auf der Hand. Alle häuslichen Tugenden beruhen auf der Liebe zum häuslichen Leben; diese Liebe ist in Wohnungen, die viel zu schlecht sind zum Hundestall (ich habe in Hamburg solche Wohnungen gesehen), psychologisch unmöglich. Solchen Notleidenden also häusliche Tugenden predigen, muß wie ein Hohn auf ihre

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ernstlich versucht hat: Hierbei handelt es sich um eine Selbstcharakterisierung von Tönnies. auf die Sittlichkeit.: Étienne Laspeyres, Der Einfluß der Wohnung auf die Sittlichkeit. Eine moralstatistische Studie über die arbeitenden Klassen der Stadt Paris, Berlin 1869. häuslichen Tugenden: Hier verweist Tönnies auf das GUG-Theorem.

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Zustände wirken; es ist eine Sisyphus- Unternehmung, durch Erziehung und Bildung die Sittlichkeit hier unmittelbar befördern zu wollen. Wenn es daher wahr ist, was J. J. Rousseau sagt: que la vie domestique est le meilleur contrepoids des mauvaises moeurs (daß das häusliche Leben das beste Gegengewicht gegen die schlechten Sitten bietet), so ist es sittlich unerlaubt, solche Forderungen zu stellen an Mitmenschen, die zum häuslichen Leben wohl den guten Willen haben, aber nach den Umständen sichtlich dazu unvermögend sind, weil sie die Bezahlung dafür nicht aufbringen können; weil also die Gesellschaft ihnen die Bedingungen zum häuslichen Leben verweigert. Man kann also nicht einfach sagen: verbessern wir die Wohnungen, so verbessern wir die Sitten. Ein so einfacher Kausalzusammenhang hat nicht einmal Wahrscheinlichkeit. Wohl aber dürfen wir sagen: wir müssen uns schämen, mit sittlichen Forderungen, Wünschen, Vorwürfen heranzutreten an Menschen, denen die Freiheit fehlt, sich sittlich zu bewegen, also sich zu entwickeln. Und diese Freiheit wird durch Wohnungsnot in dem besonderen Sinne eingeschnürt, daß der vielgepriesene segensreiche Einfluß des Familienlebens auf Männer, Frauen, Kinder, keine Gelegenheit hat, sich geltend zu machen, daß ihm die Quellen verschüttet sind. 3. Um also auf einen Schluß zu kommen, so meine ich, freilich ohne es hier genügend vertreten zu können, daß die ethische Volkserziehung durch eine Erneuerung des Familienlebens hindurchgehen muß. Die lehrbare und bewußte Moral muß in ihren Hauptstücken auf der freien Erkenntnis des Wertes eines geordneten und dauernden Zusammenlebens von Mann und Weib, von Erwachsenen und Kindern sich aufbauen. Denn auf irgend welches Zusammenleben weisen gebieterisch die natürlichen Triebe hin; und eine andere Sittlichkeit ist nicht möglich, als die das Natürliche pflegt, es erhebt und veredelt. Diese Veredelung ist eine Aufgabe, die als solche erst klar wird und das Denken beschäftigen kann, wenn Befreiung von sittlicher Not gewonnen ist, wenn ein Gefühl der Freiheit die Seele erfüllt. Darum: in erster Linie Hinwegräumung der Notstände, Beseitigung der Hemmungen – eine Forderung, durch die sich wissenschaftliche Ethik hoch über alle überlieferten Gestalten ethischer Methoden erheben sollte. Unter obwaltenden Zuständen ist sie den Volksmassen gegenüber ebenso ohnmächtig, wie die religiöse Ethik es uneingeständlich ist, und kann sie diese nur

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des mauvaises moeurs: „L’attrait de la vie domestique est le meilleur contre-poison des mauvaises mœurs.“ Aus: Jean-Jacques Rousseau, Émile, ou De l’éducation, Édition 1782, Livre I, Paris 1782, S. 20. Seele erfüllt: Für Tönnies ist die Sittlichkeit die Naturbasis.

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übertreffen durch Selbsterkenntnis ihrer Ohnmacht und der Ungerechtigkeit, die darin liegt, sittliche Freiheit vorauszusetzen, wo sittliche Nöte bestehen.6 Es ist daher auch ein Fortschritt wissenschaftlich-ethischer Einsicht, der sich in der Agitation für ein Reichs-Wohnungsgesetz niederschlägt. Sie enthält auch die wirksamste Kritik der krankhaften Sucht, durch Strafgesetze die Sitten verbessern zu wollen, in sich. Sie stellt die Frage am schärfsten: ob hinter der „sozialen Reform“ ein ebenso entschiedener und ernster Wille steht, wie hinter dem unablässigen Streben nach Vermehrung der äußeren Macht? ob es ins Unabsehbare so fortgehen soll, daß die „Herrschaften“ von den unteren Klassen Tugenden heischen, die sie selber nicht einmal auf zureichende Art üben, und obgleich sie wissen, daß jenen sogar die äußeren Bedingungen fehlen, die für den Begriff solcher Tugenden unerläßlich sind! – Nachschrift. Daß die Reichs-Gesetzgebung und besondere Behörden, die sie zu schaffen hat, in dieses Gebiet hineingreifen, muß für notwendig gehalten werden: dafür zeugen laut genug die Erfahrungen in den großen Stadtgemeinden – um der Wohnungsnot auf dem Lande nicht zu gedenken –, wo die Interessen der Hausbesitzer jeder entschiedenen Besserung sich entgegenstemmen oder sie zu lähmen wissen. Gesetzgebung der Einzelstaaten könnte der Aufgabe eher gerecht werden, aber von dem größten Staate, der vorbildlich zu wirken berufen wäre, darf ja in allen diesen Dingen am wenigsten erwartet werden. Kleine Staaten haben wenigstens bescheidene Anfänge mit allgemeiner Wohnungs-Reform gemacht. Aber in einem Staate, der selber nur eine große Stadtgemeinde, sind die Schwierigkeiten dieselben wie in diesen. So in Hamburg. Die Regierung dieses Staates – der Senat – hat seit dem Cholerajahr (1892) mehrere entschiedene Versuche gemacht, den „ganz unleidlichen Verhältnissen“, wie sein Vertreter damals im Reichstage sie ehrlich bezeichnete, irgendwie beizukommen. Nach 5jährigen Hin- und 6

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Die Gerechtigkeit verlangt aber, anzuerkennen, daß auch einzelne ausgesprochen christliche Richtungen die hier vertretene Einsicht mit Nachdruck geltend machen. So heißt es in einem Berichte über die Generalversammlung des deutschen Vereins „Arbeiterheim“ (Bielefeld 15. Juni: Der Vorsitzende beklagte die „Verrohung der Jugend“; viel trage hier die Schuld, daß Heimatgefühl, Familiensinn und schließlich Vaterlandsliebe und Sittlichkeit den heranwachsenden Geschlechtern in Folge der Wohnungsnot völlig abhanden kommen. (Soz. Praxis 28. Juni 1900.) Wie weit jene Klage begründet, bleibe dahingestellt; jedenfalls sind es andere Töne, die wir hier vernehmen, als wenn die „Schuld“ den Verhetzungen und Agitationen oder dem Mangel an Zuchthausgesetzen gegeben wird. – irgendwie beizukommen.: Die Senatsprotokolle sind im Staatsarchiv Hamburg Kattunbleiche 19 vorhanden unter der Rubrik 111-1 (Senat) und dort unter Cl.VIII (Stadtbücher und Protokolle (insbesondere des Senats ab 1742)).

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Her-Verhandlungen gelang es ihm im Jahre 1898 ein „Gesetz betreffend die Wohnungspflege“ von der sogen. „Bürgerschaft“ – einer Kammer, die nach Wahlmodus und Leistungen tief unter dem preußischen Abgeordnetenhause steht – zu erlangen. Dieses Gesetz hat nunmehr seit zwei Jahren sich zu bewähren Gelegenheit gehabt. Am 16. Mai d.J. sagte der Senator Dr. Burchard zur Begründung eines neuen Senatsantrages (der auf „Sanierung“ eines Stadtteiles durch Enteignung abzielt): „Das zahme und zahnlose Wohnungspflegegesetz wird so milde zur Ausführung gebracht, daß dessen Wirkung selbst mit einem Vergrößerungsglase nicht zu erkennen ist; es ist ein Messer ohne Stiel, Klinge und Schneide. Die wirksamsten Paragraphen des Gesetzes kommen gar nicht zur Anwendung.“ Eine so scharfe Kritik des eigenen Gesetzes ist zugleich ein Bekenntnis der Ohnmacht, mit der eine in diesem Falle einsichtige Regierung ebenso ihrer Volks- (richtiger Interessen-) Vertretung wie ihren eigenen Organen gegenübersteht.

Sittliche Entrüstung? Von Kritias Die Frage der sittlichen Entrüstung, die auf so erleuchtete Weise in Nr. 43 der „E. K.“ von Herrn Dr. Förster behandelt wird, läßt sich neuerdings – wozu freilich die Gelegenheit nicht selten ist – an einem klassischen Falle studieren. Wir hören von einem Vorgange, der sich vor 5/4 Jahren unbemerkt ereignet hat und jetzt durch einen Zufall ans Licht gebracht wird. Die handelnden Personen sind auf der einen Seite die Vertreter einer leitenden Behörde des Reiches, auf der anderen die eines Interessen-Verbandes der großen Industrie. Es galt, die öffentliche Meinung zu Gunsten eines Gesetzentwurfes zu „bearbeiten“, den dieser Interessen-Verband veranlaßt hatte, um durch angemessene Strafmittel rechtmäßige Bestrebungen und Bewegungen seiner Gegen-Interessenten – der industriellen Arbeiter – zu ersticken. Das Reichsamt des Inneren sieht sich außer Stande, den Aufwand, den die Verbreitung der im Sinne jenes Verbandes hergestellten Denk-Schrift (angebliche Missethaten organisierter Arbeiter in krassen Farben schildernd) verursacht, aus den ihm gesetzlich zustehenden Mitteln zu decken. Ein Vertreter des Amtes hält für billig, daß der unmittelbar interessierte Verein einen Teil der Kosten decke. Es handelt sich um einen geringen Betrag, einen Betrag, der etwa im Verhältnisse eines – Trinkgeldes zu einem recht üppigen Gastmahl, sagen wir zu einem Champagnerfrühstück, steht, eine „Lumperei“, wie man im Volke ganz treffend solche Geldangelegenheiten zu nennen pflegt. Genug, das Reichsamt des Innern läßt sich von „der Industrie“ 12000 Mark für Druckkosten bezahlen. Der Geheime Finanzrat – ein sehr pas 1  2

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Sittliche Entrüstung?: Ferdinand Tönnies, Sittliche Entrüstung? In: Ethische Kultur, Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, 10.11.1900, 8. Jg., Berlin 1900, S. 353-355. Kritias: Ferdinand Tönnies, der zeitweilig pseudonyme Publikationen veröffentlichte, hat das Pseudonym „Kritias“ nur für diesen Text verwendet. Der athenische Politiker, Schriftsteller und Dichter, der ein Verwandter des legendären Gesetzgebers Solon war, wird philosophisch den Sophisten zugeordnet. Periktione, die Mutter des Philosophen Platon, war seine Cousine. Siehe dazu: Michael Erler, Platon, Basel 2007, S. 41f. (Stammtafel). von Herrn Dr. Förster: Friedrich Wilhelm Foerster (wie er richtig geschrieben wird), Moralische Entrüstung. In: Ethische Kultur, Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, 27.10.1900, 8. Jg., Berlin 1900, S. 341-342.

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sender Titel in diesem Falle – Jencke giebt, im Namen der Kruppschen Werke, 5000 Mark; die Namen der „Kleinen“, die den Rest zusammengeschossen haben, wird man vielleicht später erfahren. Was ist das für eine Sache? Eine strafbare Handlung? Verbrechen oder Vergehen im Amte? Bestechung? Wir werden ja sehen, wie unsere strenge Justiz die Sache auffassen wird. Was wir aber jetzt schon gewahren, ist dies: daß jeder leidlich ehrenhafte Mensch, jeder mit sittlicher Empfindung Begabte, jeder patriotisch Gesinnte, durch jene Affaire in lebhafte Unruhe versetzt wird. Ein Gefühl wird wach – ist es Scham oder Ekel? oder eine Mischung von beiden? –, in Zorn geht es über; respektwidrige Aeußerungen werden laut, die Empörung ist da, – die sittliche Entrüstung. Leidenschaftliche Anklage wird erhoben. Und wenn es sich herausstellen sollte, daß (wieder einmal) Machenschaften dieser Art dem Strafgesetzbuche weit überlegen sind – um so heftiger wird das moralische Verbrechen gescholten werden, um so ungestümer wird auf die Zeichen der Fäulnis hingewiesen werden, um so dringender wird das Verlangen nach Reinlichkeit und Redlichkeit in Angelegenheiten, die das Wohl des ganzen Volkes betreffen, sich erheben. Alles dies fließt aus der sittlichen Entrüstung. – Nun aber tritt der Philosoph herein und sagt: „Eure Entrüstung beruht auf einer Illusion, nämlich auf der Illusion der Willensfreiheit. Wenn ihr erkennen werdet, daß jene Handlung, jenes Zusammenwirken das notwendige Produkt von gewissen soziologischen u.s.w. Faktoren ist, so wird dieses Erkennen die heilsame Folge haben, eure Aufregung zu dämpfen, ihr werdet ruhig und milde urteilen und die Klarheit des Bewußtseins gewinnen, die zum richtigen Handeln erfordert wird.“  1

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Jencke: Gemeint ist Hanns Jencke. Er war ein deutscher Manager und industrieller Interessenvertreter. Im Jahr 1873 wurde er zum Finanzrat ernannt und war Chef der Verkehrsabteilung. Jencke war Mitglied des preußischen Staatsrates. In dessen Verhandlungen vertrat er klar den Anspruch auf die Autorität des Unternehmers gegenüber den Arbeitern etwa in der Debatte zur Arbeitsschutzgesetzgebung im Jahr 1890. Arbeiterausschüsse lehnte er ab. Er übte als Direktoriumsmitglied (seit 1890) und später als Vorsitzender (1901–1904) großen Einfluß auf den Kurs des „Centralverbandes Deutscher Industrieller“ aus. Auch in diesen Ämtern vertrat er eine ausgeprägt autoritäre sozialpolitische Haltung. richtigen Handeln erfordert wird.“: Schon vor dem neueren probabilistischen Verständnis der Lebensvorgänge sah bereits Arthur Schopenhauer in der Verletzung des Kausalitätsprinzips, einer Grundfeste des menschlichen Denkens, ein Argument gegen die Willensfreiheit. Der freie Wille sei eine Illusion, in Wahrheit sei der Wille durch chaotische (also äußerst komplexe) Einflüsse außerhalb und innerhalb des Subjekts gesteuert. In Nr. 43 der „E.K.“ von Herrn Dr. Foerster wird auf S. 342 ebenfalls zitiert: „eine bestimmte Handlung oder ein bestimmtes Zusammenwirken von Menschen das notwendige Produkt [...]“ „Die moralische Entrüstung aber beruht auf einer Illusion, nämlich auf der Illusion der Willensfreiheit.“

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Ist also die sittliche Entrüstung verwerflich? Giebt es keinen gerechten, keinen heiligen Zorn? Müssen alle Affekte „ausgeschaltet“ werden, um ein zweckmäßiges Handeln frei zu machen? Sollen wir unter allen Umständen gelassen bleiben und mit erhabener Kälte die Sünden wie die Thorheiten der Menschen betrachten, ihre Ursachen und Zusammenhänge erforschen, und uns lediglich immer von neuem bemühen, die „gesellschaftlichen Kräfte auf demselben Wege zu beherrschen und zu ordnen, auf dem wir die Kräfte der äußeren Natur in unsere Gewalt bekommen haben“ – ? Sicherlich – so wird sich der erste Eindruck reflektieren – das ist ein hohes, ein stolzes Ideal! Ein Gedanke von wunderbarer Schönheit, wenn anders das Erhabene auch schön ist. Keine feindlichen Affekte mehr! Unerschütterlichkeit, Stille, Sanftmut, Mitleid mit den Schwachen, den Irrenden, den Bösen, den Häßlichen – Klarheit, Weisheit, sachte, ordnende, heilende Thätigkeit. Ist das aber auch möglich? Können wir unter allen Umständen unsere „Aufwallungen“ unterdrücken, unsern Unwillen bezwingen, unserer Empörung Schweigen gebieten? Und – nun erhebt sich der Zweifel – ist dies unter allen Umständen geboten oder auch nur edel und trefflich? Sollen wir, auch wenn ein Schurke unsere häusliche oder persönliche Ehre besudelt, die Hände über diesem Schurken ausbreiten und ihn mit unserem Segen entlassen: gehe hin und thue es nicht wieder; ich zürne dir nicht; ich weiß, du konntest nicht anders; wir sind allzumal Sünder; wir müssen die Zustände zu verbessern suchen, aus denen solche Wirrungen, Konflikte, Verfehlungen hervorgehen; für bessere Erziehung müssen wir sorgen; hoffen müssen wir, daß die Menschheit sich ferner entwickeln werde, inzwischen aber geduldig sein und nachsichtig und einander verzeihen, wie ich dir verzeihe, mein lieber Feind und Zerstörer meines häuslichen Glückes, Untergraber meiner öffentlichen Stellung, der du mich angeschwärzt und wie es die Leute nennen, verleumdet hast. Du armer Bösewicht, wie thust du mir leid, daß du von so schlechten Gedanken geplagt warst; wie gern möchte ich dir bessere einpflanzen, – darf ich dir vielleicht ein ProbeAbonnement auf die „Ethische Kultur“ anbieten, oder ... ein „Neues Testament“ auf den Weihnachtstisch legen, jenes schöne Buch, das schon so manchen zur Einkehr und Besserung gebracht hat – ? Nehmen wir einmal an, es gebe wirklich einen Menschen, der so leidenschaftslos, so überlegen und wohlwollend die ihm widerfahrene schwere Unbill beurteile, so ganz eigentlich Böses mit Gutem vergelte, oder, wie  9 35

Gewalt bekommen haben“: Nr. 43 der „E.K.“ von Herrn Dr. Foerster, S. 342. Einkehr und Besserung: Tönnies setzt häufig die fiktive Rede als Stilmittel ein.

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jener Buddhist, „Feindschaft mit Nichtfeindschaft“ bekämpfe – wie würde wohl ein solcher Mensch sich uns im übrigen darstellen? Würde der des Hasses Unfähige wohl noch lieben können? – O ja, werden uns die Vertreter dieser Lehre sagen, um so größer wird seine Liebe sein; alle Kraft, die am Hasse gespart wurde, wird sich in die Liebe ergießen, und seine ganze Liebe wird er gleichmäßig auf alle Menschen – oder gar auf alle lebenden Wesen? – verteilen. Eben dies – wird nun der Zweifler einfallen – die Klippe: euer Idealmensch wird an keinen Menschen, an keine Gruppe mehr die ganze Fülle seines Herzens verschenken; er wird auch hier der Leidenschaft bar sein, ja er wird alle engen, so leicht ausschließlichen Bande verleugnen; er wird, nach dem übertriebenen Worte eures Evangeliums, Vater und Mutter „hassen“, d.h. jede natürliche, organische Anhänglichkeit verneinen, die ihn ungeschickt machen würde, als Erkennender und Mitfühlender sich der ganzen Menschheit gegenüberzustellen; er wird auch mit Weib und Kind sich nicht beschweren dürfen, denn sie werden ihn binden und fesseln, und so lange er sie mehr liebt, als andere Menschen, so wird er in beständiger Gefahr sein, um ihretwillen anderen weh zu thun, die Beleidigungen, die gegen sie gerichtet werden, mit Gewalt abzuwehren, ja um ihnen zu nützen, andere zu beeinträchtigen, sogar solche, die ihm und ihnen kein Leides gethan haben. ... Ohne Zweifel: der Mensch, der alle feindlichen Affekte in sich ausgerottet hat, wird auch die leidenschaftliche, also die starke und innige Liebe nicht mehr kennen – er muß auch von dieser „frei“ sein, um ganz „ex rationis dictamine“1 zu leben und zu wirken. Diese Konsequenz scheint unvermeidlich: es ist die Konsequenz des Mönches und also des vollkommenen geistlichen Menschen. Durch irgendwelches Dogma, irgendwelche Religion ist dieser Typus keineswegs bedingt: im Gegenteil, diese können eher als Hemmungen seiner reinen Entfaltung erscheinen. Die Idee selber ist strenger durchgedacht, weil eben in Verbindung mit der vollkommenen kausalen Erkenntnis der menschlichen Zustände und Leidenschaften gesetzt, bei Spinoza, als bei einem der christlichen Denker, deren theologische Fundamente zu zerstören jener so gewaltig mitgewirkt hat. Ich bin weit entfernt davon, dies Ideal herabsetzen zu wollen, wenn ich sage, daß ihm die psychische Verfassung des Greises am leichtesten 1

Nach dem Geheiß der Vernunft – dies der regelmäßige Ausdruck in Spinozas Ethik.

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„Feindschaft mit Nichtfeindschaft“: In Buddhas Spruchsammlung Dhammapada (deutsch von Leopold von Schroeder, Worte der Wahrheit Dhammapadam. Eine zum buddhistischen Kanon gehörige Spruchsammlung. Leipzig 1892; und von Karl Eugen Neumann, Der Wahrheitspfad, ein buddhistisches Denkmal. Leipzig 1893).

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entspricht. Der Greis im weiblichen (lang herabwallenden) Gewande – das ist die charakteristische äußere Erscheinung des Priesters. Der Greis schaut mit überlegener Ruhe und Milde auf das Getriebe der Menschen hinab: er ist der Erfahrene; ihm ist nichts neu, nichts unerhört, „es ist alles schon dagewesen“ sagt der typische Greis, ein ganz besonderer Grund, sich nicht darüber aufzuregen, sich nicht zu entrüsten, sondern ruhig zu erwarten, daß der Sturm sich legt, die Wogen sich glätten. Und er ist der Weise: er weiß und sieht klar, daß alles seine Ursachen hat, alles notwendig, alles natürlich ist, wie häßlich und abscheulich es uns erscheinen möge, wie sehr es uns kränken, verletzen, erbittern möge. „Alles begreifen heißt alles verzeihen“. Du ereiferst dich über jenen Minister2, weil er so dreist ein Doppelspiel getrieben habe, vor dem Reichstage sich gerierend, als ob er das Interesse der Arbeiter wahrnehme oder wenigstens unparteiisch sich dazu verhalte, heimlich aber so handelnd, wie es an sich unwürdig war, und über die entgegengesetzte Parteilichkeit gar keinen Zweifel übrig ließ? Ich will dich nicht darauf verweisen, daß er etwas that, was anerkannterweise sozusagen zum Gewerbe der Staatsmänner und Diplomaten gehört, und daß du fortwährend viele Handlungsweisen, die dir mißfallen, dadurch entschuldigt hältst, daß sie zum Gewerbe der Leute gehören. Aber, wenn du dich in die Persönlichkeit und in die Lage des Mannes hineinversetzest, so wirst du ohnehin aufhören, dich zu wundern über ein solches Betragen, du wirst eher zum Mitleid für ihn gestimmt sein. Der Mann ist nicht in hervorragender Weise begabt; seine sittlichen Anlagen sind von mittlerer Güte; seine Erziehung und seine Laufbahn waren die gewöhnlichen eines durch Geburt und Glücksumstände begünstigten jungen Mannes; Fleiß, Eifer, Strebsamkeit haben ihn immer ausgezeichnet. „Er befindet sich in einer Stellung, der seine Fähigkeiten nicht gewachsen sind: er hätte das erkennen müssen, hätte sich diesem Amte verweigern müssen.“ Eine herbe Forderung! Wie wenn nun 2

Der Leser wird bemerken, daß hier eine rein akademische und abstrakte Erörterung des Falles geschieht. D. Verf.

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der typische Greis: Zitat von Ben Akiba: Ben A. ist der Name eines Oberrabbiners in Gutzkows „Uriel Acosta“, der den Spruch im Munde führt: „Alles schon dagewesen.“ Gutzkow, Karl: Uriel Acosta. Trauerspiel in fünf Aufzügen, 4. Akt, 2. Szene, 2. Auftritt, Leipzig 1847. alles verzeihen: Otto von Leixner, Aus meinem Zettelkasten. Sprüche aus dem Leben für das Leben, Berlin 1896. „Die schwächlichen Menschen führen gerne das Wort im Munde: „Alles begreifen, heißt alles verzeihen.“ Sie meinen nämlich an sich selber alles zu begreifen – und verzeihen darum sich selber alles, auch das, was sie an anderen unverzeihlich finden.“

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eben seine Beschränktheit in der Unfähigkeit solcher Selbsterkenntnis sich zeigte? Wenn er meinte, durch Fleiß und Sorgfalt allen Ansprüchen genügen zu können? Daß er fleißig und sorgfältig gewesen, bezeugen alle, die ihn kennen. Und nun versetze dich in seine Lage: unendliche Mühsal hatte er auf die Vorbereitung dieser Gesetzvorlage angewandt; seine Ehre, seine Zukunft, das Glück seiner Familie – so mochte er glauben – stand auf dem Spiele. Vielleicht hatte sogar der Wahn sich in ihm festgesetzt, das Heil des Vaterlandes hänge an diesem Gesetze; gedrängt war er in diesem Sinne worden von vielen Seiten; die heftigsten Worte über den Terrorismus der Arbeiter-Koalitionen schwirrten in seinen Ohren; die erbarmungswürdige Lage der Arbeitswilligen war ihm in grellen Farben geschildert worden; mit überreizten Nerven arbeitend, glaubte er schließlich, das Gesetz sei in der That zum Besten der Arbeiterklasse bestimmt, und niemand nehme das Wohl dieser Klasse in so uneigennütziger, selbstloser Weise wahr, wie der Zentralverband der Industrie, der diesen Gesetzentwurf inspiriert hatte. Er glaubte das alles – vor allen Dingen aber glaubte er an die Notwendigkeit, daß er Erfolg haben, daß er das Gesetz „durchdrücken“ müsse; der brennende Wunsch ließ ihm keine Ruhe; er sah das Mittel, das wirksame Mittel, um das Ziel zu erreichen – aber o weh! es fehlte, wie so oft, wenn man seinem Ziele nah ist, an der kleinen Münze – woher sie nehmen? Aus eigener Tasche? Unmöglich! Ein Jahresgehalt wäre daraufgegangen. Nichts schien näher zu liegen – man versetze sich in den Geisteszustand des Gefolterten – als jenen Zentralverband darum anzugehen, der ja (lächerlich es abzuleugnen, wenn die Auguren sich ins Auge sahen, wußten sie ja immer, wie sie mit einander daran waren) unmittelbar und dringend, nämlich mit einem materiellen Interesse, das sich nach Millionen beziffern ließ, am Zustandekommen des Gesetzes interessiert war. Daß jener Wahn, dieser Zentralverband handle uneigennützig, und diese Einsicht, daß er im höchsten Grade eigennützig handle, in einem Hirne dicht nebeneinander wohnen können – wer zweifelt daran? Wer zumal, der weiß, wie es in der Seele eines überarbeiteten, müden, von Natur geistig kurzsichtigen Menschen aussieht? – – Nun also, spricht der Greis – was bleibt von allen deinen Vorwürfen, von deiner sittlichen Entrüstung, deinem scheltenden Unwillen? – Wenn du in der Lage des Mannes und ihm sonst hinlänglich ähnlich gewesen wärest, so hättest du ebenso gehandelt! Wenn du nicht selber, so hat doch sicherlich mancher deiner Freunde, wenn auch in anderen Lebens- und Schaffensgebieten, ebenso – sagen wir leichtsinnig und unbedacht gehandelt; nenne es auch anders, auf den Namen kommt es nicht an. „Wer sich

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frei von Sünde fühlt, der werfe den Stein zuerst auf ihn“. – Alles begreifen ist alles verzeihen. In solcher oder ähnlicher Weise lassen wir den Greis reden, den priesterlichen oder christlichen, oder den Philosophen und wissenschaftlichen Moralisten – denn von verschiedenen Voraussetzungen und Gesichtspunkten aus können Verschiedene so reden: sie werden aber dies mit einander gemein haben, daß sie die Sache affektlos kühl betrachten, aber mit Wohlwollen und Nachsicht für den Menschen als solchen: darum nannten wir den (idealen) Priester einen Greis im weiblichen Gewande; denn der Greis, der die Kraft und Leidenschaft des Mannesalters bewahrt hat, wird weniger leicht zu so „objektiver“ Ansicht geneigt sein; er muß seiner natürlichen Anlage nach, oder durch die Reife des Alters, etwas Sanftes und Weibliches in seiner Denkungsart haben, eine Weichheit und Zartheit, die gleichwohl mit Festigkeit und Energie gepaart sein kann und so die echte Würde ausmacht, jene Würde, die schon für die Germanen der Urzeit den darum von ihnen verehrten Frauen zu eigen war. Ist nun eine solche Denkungsart schlechthin die höchste, die edelste, die vollkommene? Ist sie gar eine solche, die von jedem Menschen gefordert werden dürfte? – Ich meine, es hätte keinen Sinn, etwas schlechthin zu fordern, was für den durchschnittlichen Menschen so überaus schwer, ja durchaus unmöglich und unerreichbar sich darstellen muß, was so sehr dem natürlichen Wesen des Menschen, und gerade am meisten dem des rüstigen, thätigen, in der Vollkraft seiner Jahre und seiner Gesinnung stehenden Mannes entgegen ist. Ich leugne aber auch, daß ein entsprechendes, sicherlich echt „christliches“ Verhalten – der Stifter des Christentums heißt dich, wenn du einen Backenstreich empfangen hast, die andere Wange auch dem Schlage darzubieten – einen absolut höheren Wert als jedes andere besitzt. Ich meine, eben die Weisheit dieser Weisen (wenn anders sie danach zu handeln wenigstens sich bemühen) sollte sie lehren, daß ein allgemeiner Zustand, nach dieser Regel eingerichtet, un 1

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werfe den Stein zuerst auf ihn: Die Bibel, Neues Testament, Johannesevangelium, Kapitel 8, Vers 7: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.“ In: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Berlin 1912. dem Schlage darzubieten: Die Bibel, Neues Testament, Matthäusevangelium, Kapitel 5, Vers 39: „ ... so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.“ In: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Berlin 1912. Die gleiche Radikalität wie bei Tönnies findet sich auch bei Max Weber. So heißt es in „Politik als Beruf“ „halte den anderen Backen hin! ... so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich“. Max Weber, Politik als Beruf, München und Leipzig 1919, S. 55.

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möglich ist, daß er sich selbst verneinen würde; denn dem Feinde immer verzeihen, heißt ihn ermutigen, heißt sich selber preisgeben; das Unrecht grundsätzlich dulden und entschuldigen, heißt es wuchern lassen und ihm Nahrung geben; Leben ist nur möglich durch Abwehr, Unterdrückung, Ausrottung des Uebels. Die Weisen sollten ferner bedenken, daß es unbillig ist, ihre Art zu denken und zu thun, als die höchste und edelste darzustellen, wenn solche für sie vielleicht (verhältnismäßig) natürlich war (zuletzt ist ja alles gleich natürlich; mag sie ihnen Ueberwindung gekostet haben, so waren sie eben mit den Kräften zu solcher Ueberwindung begabt), während sie für andere Menschen, die sich redlich bemühen mögen, einem Ideale nachzuleben, schlechthin unmöglich ist. Und so wird es überhaupt dem Ethiker angemessener sein, anstatt irgend eine Art des Urteilens und Handelns als die allein gültige, die allein beseligende, die allein gute oder allerbeste hinzustellen, sich auf das Wort Kants zu besinnen, daß nichts in der Welt verdiene, schlechthin und in jeder Hinsicht gut genannt zu werden, als allein ein guter Wille, und jeden Willen gut zu heißen, der nach dem von seinem Subjekte erkannten und anerkannten (sittlichen) Gesetze sich richtet, welche Kenntnis und Anerkennung notwendigerweise bei verschiedenen Menschen höchst verschieden ist. Wenn es aber auf Schätzung der Affekte ankommt, so kann schon darum nicht die vollkommene Freiheit von feindlichen Affekten jeder Art von diesen unbedingt vorzuziehen sein, weil eben die Fähigkeiten dafür zu verschieden, und weil man von Niemandem billigerweise mehr verlangen kann, als daß er sich bemühe, seiner jedesmaligen Affekte – der freundlichen wie der feindlichen – Herr zu bleiben oder zu werden und daß er die guten von den bösen unterscheide; denn auch unter den freundlichen Affekten giebt es böse, auch unter den feindlichen giebt es gute. Und weil eben jene Maxime (der unbedingten Nicht-Feindseligkeit) durchaus ungeeignet ist, Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zu werden. Und dies führt uns zurück auf die „sittliche Entrüstung“, den „gerechten Zorn“. Es giebt eine sittliche Entrüstung, einen gerechten Zorn, einen edlen Unwillen – das sind die relativ uninteressierten oder durch die höchsten, reinsten, die berechtigtsten und die idealsten Interessen motivierten Arten des Unwillens, des Zornes, der Entrüstung. Aus solchen Quellen kann in der That die echteste, entschiedenste, thatkräftigste Begeisterung fließen, ja sie wird am leichtesten daraus fließen, sie wird immer nur aus einem lebhaften Affekt und kann niemals aus der Betrach29

Gesetzgebung zu werden.: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ – Immanuel Kant: AA V, 30 [Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff, AA V, 30 / KpV, A 54 (§ 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft].

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tung allein hervorgehen. Begeisterung schließt aber in keiner Weise das besonnenste, sorgfältigste, heilsamste Handeln aus. Dies erfordert immer Ruhe und Ueberlegung, wird daher durch jeden vorherrschenden Affekt gar leicht gehemmt und gestört. Auch der begeisterte Dichter bedarf, um das Schöne zu schaffen, solcher Ruhe und Ueberlegung; und der geniale Künstler, der sinnreich schaffende auf jedem Gebiete, ist eben darum so selten, weil die zumeist entgegengesetzten Elemente, die dazu gehören, sich naturgemäß schwer mit einander verbinden. – Und nunmehr urteile der Leser selbst, ob in dem angezeigten klassischen Falle, wo es ganz eigentlich um die Ehre der Nation sich handelt, die sittliche Entrüstung, der gerechte Unwille, der heilige Zorn besser am Platze seien und heilsamer wirken werden, oder jenes Erklären und Entschuldigen, der gelassene schonsame Gleichmut, die leidenschaftslose Betrachtung? Aus welcher von beiden Stimmungen wird eher ein thatkräftiges, planmäßiges, erfolgreiches Handeln sich entwickeln? –

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Biblia pauperum Motto: Tiere: Wir kochen breite Bettelsuppen. Mephistopheles: Da habt ihr ein groß Publikum.

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Kindern, die noch nicht lesen können, giebt man ein Bilderbuch. So gaben auch dem Volke, das noch nicht lesen konnte, die Mönche und Weltgeistlichen Bilderbücher in die Hände: Darstellungen der heiligen Geschichte, einfältig, aber würdig, Arbeit rechtschaffener Handwerker; in der Entwickelung der Holzschneidekunst spielt sie keine geringe Rolle. Wann und warum man diese Bilderbücher „Bibel der Armen“ genannt hat, soll unter den Gelehrten nicht ausgemacht sein, aber verständlich ist diese Bezeichnung, wenn man sie so auffaßt wie es gemeiniglich geschehen ist: daß das Bild die Stelle des geschriebenen Wortes vertreten sollte, weil jenes nicht allein für die Armen brauchbarer, sondern auch viel wohlfeiler herzustellen gewesen sei – was auch noch lange, nachdem man Bücher zu drucken begonnen, gegolten hat. Eine neue Art von Armenbibel ist in einem neuen Zeitalter aufgekommen: man sagt, es ist im zwanzigsten Jahrhundert gewesen; offiziös hat man schon das einundzwanzigste geschrieben; die Weiseren aber hatten sich gewöhnt, was offiziös geschrieben wurde, nicht mehr ernst zu nehmen. Die Käufer und Leser dieser neuen Bilderhefte sind nicht arm am Leibe; sie gehen nicht in grobem Bauernkittel, sondern in eleganten Joppen und seidenen Jupes einher, sie bewohnen nicht Lehmhütten, sondern Villen und Paläste. Aber sie sind arm an der Seele, arm bis zur Dürftig 1

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Biblia pauperum: Ferdinand Tönnies, Biblia pauperum, in: Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für Deutsche Kultur, 13. Oktober 1900, Heft 2, I. Jahrgang, Hamburg 1900, S. 33-37. Als Armenbibel (lat. Biblia pauperum = Bibel des Armen) wird die mittelalterliche Sammlung einer bestimmten Anzahl von Blättern bezeichnet, auf denen bildlich meistens jeweils eine Szene aus dem Neuen Testament oder einer ihm zugeordneten Überlieferung umrahmt wird von Szenen und Texten aus dem Alten Testament. Motto: Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Tübingen 1808, S. 152. Siehe auch in: Goethes Werke, Faust, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, 14. Bd., Weimar 1887, S. 117.

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keit – so arm wie der reiche Mann des Evangeliums, als er an dem Orte der Qual nach einem Tropfen Wassers schmachtete; denn also quälen sie sich schmachtend in ihren armen leeren Seelen nach der neuesten Nummer der „Minute“, die ihnen von Minute zu Minute bringt, was sie so nötig haben für ihre Augen und Hirne, wie frische Luft für ihre Lungen, zum Exempel: die frischeste „bildliche Darstellung“ des Wochenbetts der Prinzessin Ludmilla, die Momentphotographie der neuen Zahnbürste des Grafen Hopsala, die Ansichtspostkarte mit der Zelle des Meuchelmörders Düwelslus, die Entwickelung der Kuhpocken des jüngsten Sohnes des Admirals Flottenmüller – alles, alles begehren sie zu sehen, alles bekommen sie zu sehen, alles verschlingen sie in sinnloser Gier, leicht zu befriedigen durch jede Qualität, nie zu befriedigen durch keine Quantität, – nur daß hin und wieder einer aus ihren Reihen verschwindet, der von vorübergehendem Unwohlsein ergriffen um die nächste Straßenecke geht, – um sich Luft zu machen, um seinen Magen zu entlasten. Die Armen, denen die Bilderbibel bestimmt war, schauten das Wunderbare an, als ob es alltäglich wäre; sie versenkten sich auf Augenblicke in die Ewigkeit. Anders die Armen des Geistes, denen die neuen Bilderbibeln der „Minute“ bestimmt sind: sie schauen das Alltägliche an, als ob es wunderbar wäre – vorausgesetzt, daß das Alltägliche mit einem Fetzen Purpurs oder Hermelins bekleidet ist –, sie versenken sich ewig in den Augenblick. Jene konnten nicht lesen: sie hätten wohl gern die heiligen Geschichten gelesen; diese können ganz gut lesen, manche haben „schrecklich viel“, aber sicherlich nur die allerprofansten Geschichten gelesen, und am liebsten lesen sie Geschichten aus der „realen Wirklichkeit“: eine Intrigue am Hofe von Gerolstein, eine Razzia in den Nachtkafés der Hauptstadt, ein Akt der Lynch-Justiz in Süd-Karolina, das sind so die Gegenstände, die ein „aktuelles“ Interesse für sie haben. Auch die „Minute“ ist mit „Lesestoff“ reichlich versehen, aber bei Leibe nicht ausschließlich mit so gewöhnlichem, – das könnte der Reputation doch schaden. Ein Teil des Lesestoffes ist zur Wahrung des vornehmen Scheines auf diejenigen berechnet, die noch nicht so weit fortgeschritten sind,

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in die Ewigkeit.: Gustav Schwab, Schiller’s Leben, zweiter, durchgesehener Druck. Ausgabe zum 100jährigen Gedächtnisstage der Geburt Schiller’s, Stuttgart 1859, S.  293: „Wir werden ihm in entscheidenderen Momenten seines Lebens begegnen, wo er den Anker seiner Hoffnung so gut in die Ewigkeit versenkt, als jeder andre – Christ, in Augenblicken, wo er sich dieser Ueberzeugung vergebens zu erwehren strebt, und selbst in solchen, wo er sie mit den Waffen seines Tiefsinns zu vertheidigen bemüht ist.“ Fetzen Purpurs oder Hermelins: Siehe dazu auch: Uwe Carstens, Der Fetzen Purpur oder Hermelin. Die Aktualität von Ferdinand Tönnies anläßlich der Berichterstattung über Lady Di dargestellt, in Tönnies-Forum, Heft 2, Kiel 1997, S. 30-36.

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daß sie die Stiefelwichse der Minister für vornehm halten. Darum werden „allererste“ Professoren „herangezogen“, um über Staats- und gelehrte Sachen – versteht sich in dem durch die Güte der Gesellschaft bedingten Geist und Ton – lange und langweilige Abhandlungen für die „Minute“ zu verfassen. Die Leser der „Minute“ lesen grundsätzlich diese Abhandlungen nicht; aber es ist doch ein erhebendes Gefühl, daß der Geheime Kommissions- oder gar Regierungsrat X, der Oberfinanzsekretär a. D. Y, der Ritter des grauen Rabenordens I. Klasse Z für „unser Blatt“ schreiben – und es muß ja „unbedingt“ gut und richtig sein, was so hohe Herren schreiben, und man ist doch trefflich gedeckt, wenn man die – Überschriften dieser Artikel gelesen hat. Die „Minute“ ist ein Triumph der modernen Technik und des Kapitals. Über den ganzen Erdball hat sie das Netz ihrer Spionage ausgebreitet; man munkelt von einer demnächst anzulegenden Telephonleitung nach dem Monde, um dem tief empfundenen Bedürfnisse abzuhelfen, auch die Tischreden des Fürsten (der gewöhnliche „Mann“ kommt auch dort für die „Minute“ nicht in Betracht) im Monde zu belauschen; Versuche, durch ein eigens dahin konstruiertes Riesenfernrohr photographische Aufnahmen dieses Fürsten und seines Familienkreises – mit Einschluß des Kellermeisters – auf die Platte zu übertragen, sollen noch etwas schmierigere Abklatsche ergeben haben, als die durchschnittlichen Kunstblätter der „Minute“, was viel sagen will. Die überlegene Kapitalkraft dieses Organes konnte sich aber nicht glänzender bewähren als bei dem neuerdings üblich gewordenen Verfahren, solche Originalaufnahmen hervorragender Familienkreise, ebenso wie die Original-Artikel hervorragender Geisteshelden, an den Meistbietenden zu versteigern. Wie wir hören, erhielt bei diesen Auktionen die „Minute“ regelmäßig den Zuschlag. Man würde aber sehr irren, wenn man etwa meinen sollte, die „Minute“ sei demnach für ihre Unternehmer ein „feines Geschäft“, es werde ein Heidengeld damit verdient, und was sonst so in Kreisen, wo durch gewissenlose Agitatoren die Begehrlichkeit und der Neid künstlich gesteigert werden, für lose und übertreibende Reden gehen. Solche Reden bedeuten eine Verkennung der Thatsache, daß im 20. resp. 21. Jahrhundert das Großkapital sich selbstlos in den Dienst nationaler und patriotischer Zwecke gestellt hat. Eine mäßige Verzinsung des Anlagekapitals ist dadurch selbstredend nicht ausgeschlossen; aber es hat doch einer Intervention der hohen Regierung bedurft, um diesen billigen Anspruch auf einen Gewinn, der durchaus nur den Charakter einer Entschädigung für dargebrachte Opfer trägt, den hochherzigen Leitern der „Minute“ zu sichern. Wir lassen dahingestellt, ob die glücklichste Form dafür gewählt wurde, wenn man durch Reichsgesetz das Abonnement auf die „Minute“ für alle,

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die mehr als 6000 Mk. Einkommen versteuern, obligatorisch machte. In den oben hinlänglich gekennzeichneten Kreisen ist der gehässige Ausdruck „Zwangsversimpelung“ dafür in Umlauf gesetzt worden. Es beruht auf böswilliger Entstellung der Thatsachen, wenn man behauptet hat, dieser Ausdruck sei von der Regierung selber in der „Begründung“ jenes Gesetzes angewandt worden. Daß solche Gerüchte entstehen können, ist eine der Schattenseiten der sonst so günstig und im Sinne einer wahrhaft staatserhaltenden Politik wirkenden Neuerung, die „Begründungen“ der Gesetzentwürfe dadurch, daß ihnen ein streng vertraulicher Charakter verliehen wird, der Öffentlichkeit, und sohin einer pietät- und rücksichtlosen Kritik zu entziehen. Es ist uns vergönnt gewesen, einen Einblick in die genannte „Begründung“ zu nehmen, und wir haben von dem Worte „Zwangsversimpelung“, das kaum dem verfeinerten Geschmacke heutiger Regierungsvertreter entsprechen dürfte, keinen Schimmer wahrzunehmen vermocht. Es heißt in diesem denkwürdigen Aktenstücke vielmehr wörtlich: „Eine planmäßige, durch mehr als ein halbes Jahrzehnt fortgesetzte Beobachtung, mit der die oberen Polizeibehörden betraut wurden, hat, wie aus den anliegenden, in einer Denkschrift zusammengefaßten Berichten ersichtlich, zweifellos ergeben, daß die „Minute“ wesentlich in den besseren Gesellschaftskreisen, in denen eine ihrer hohen Aufgaben bewußte Staatsleitung naturgemäß in erster Linie Unterstützung und Anhängerschaft suchen muß, mit Eifer gehalten und gelesen wird. Die Berichterstatter sind darüber einmütig, daß die Wirkung dieser regelmäßigen Lektüre resp. Anschauung ganz überwiegend eine erfreuliche genannt werden darf. Sie hat, im Vereine mit anderen, gleichgerichteten Faktoren, dazu beigetragen, ein gewisses Niveau der allgemeinen Bildung in diesen vorzugsweise den wohlwollenden Absichten weitschauender Fürsorge zugänglichen Kreisen herzustellen; d.h. diese so mannigfachen Einflüssen schädigender Art ausgesetzte Bildung auf einer durchschnittlichen Höhe zu erhalten bezw. im Wege der Ausgleichung auf eine solche durchschnittliche Höhe zu bringen, wie sie mit einem hingebenden Verständnis für alle aus den höheren und höchsten Regionen entspringenden Kundgebungen der Gnade und Weisheit auf die Dauer allein verträglich sein dürfte. Insbesondere hat die „Minute“ dahin gewirkt, den, wie die Erfahrung aller Zeitalter lehrt, äußerst gefährlichen Neigungen einer dünkelhaften Gelehrsamkeit, über die ihrem Stande durch die gesellschaftlichen Ordnungen gesetzten Schranken sich zu erheben, einen heilsamen Dämpfer aufzusetzen. Das öde und trügerische Schlagwort, das von einer „Geistes­ aristokratie“ wie von einem gleichberechtigten Faktor neben der wirkli-

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chen Aristokratie – der Geburt, des Vermögens und des Ranges – zu reden sich vermißt, hat zeitweilig eine gewisse Verwirrung in diese Schichten getragen. Wenn der Besitz von an sich gewiß schätzenswerten Kenntnissen, ebenso wie der von ebenso schätzenswerten manuellen Fertigkeiten, nach den von Gott gesetzten Ordnungen auf eine bescheidene Lebensstellung hinweist, so kommt die „Minute“ dem berechtigten Verlangen (insonders der weiblichen Angehörigen dieses Standes), an den Genüssen und dem Thun und Treiben der erlesenen Häupter der Nation einen passiven und beschaulichen Anteil zu nehmen, in überaus dankenswerter und zugleich wenig kostspieliger Weise entgegen. Daß die „Minute“ unter Umständen, nämlich wenn eine tadellose Pflichterfüllung, streng loyale Haltung, und die entsprechende Stellung vorliegen, auch an dem einfachen Universitätsprofessor, an dem schlichten Künstler nicht vorübergeht, ohne solche der Aufnahme in unsere glänzende Bildergalerie zu würdigen, lehrt ein Blick in die uns vorliegenden kompletten Jahrgänge der interessanten und gediegenen Zeitschrift. Bei dieser löblichen Tendenz und wahrhaft erziehlichen Thätigkeit ist es denn kein Geheimnis, daß die „Minute“ von Anfang an der Unterstützung hoher und höchster Behörden sich zu erfreuen gehabt hat. Die verbündeten Regierungen glauben daher durch Vorlegung dieses Gesetzes betreffend ein obligatorisches Abonnement auf die „Minute“ lediglich einem schon in der Vollendung begriffenen Werke die Krone aufzusetzen. Je weniger es gelungen ist, die Entsittlichung, die aus den Strombetten der Künste und Wissenschaften verheerend in mühsam angebaute Felder tritt, durch eine direkt gegen Nacktheiten und unzulässige Wahrheiten gerichtete Gesetzgebung einzudämmen, um so mehr darf der Hoffnung Raum gegeben werden, daß die nachhaltige Beschäftigung mit dem Inhalte der „Minute“ dazu dienen werde, etwas von jener heilsamen Selbstbeschränkung und sittlichen Einfalt, die den weitesten Kreisen durch einen seichten Aufkläricht verloren gegangen ist, wiederherzustellen, und in dieser Voraussicht darf man sagen, daß die dahin gehende Nötigung mehr den Charakter einer Wohlthat und Erlösung als den einer auferlegten Last tragen werde“ u.s.w. u.s.w. Offenbar ist es der letzte Satz dieses Passus gewesen, der zu jener übelwollenden Bezeichnung „Zwangsversimpelung“ den Vorwand liefern mußte. Es macht der Volksvertretung, die in diesem erleuchteten Zeitalter tagen durfte, nur Ehre, daß sie durch solche Verdrehungen sich nicht hat beirren lassen, sondern dem segensreichen Gesetzentwurf ihre Zustimmung erteilt hat. Neben die vielfach übertriebene Fürsorge für die im physischen Sinne des Wortes Armen ist hier endlich auch einer geistigen Armenpflege der verheißungsvolle Weg gebahnt worden.

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Der leicht gebückt dahin eilende, geschäftige Jüngling, das neueste ziegelrote Heft unter dem Arme; die anmutige Jungfrau, die auf üppiger Chaiselongue ausgestreckt, aus der Druckerschwärze der „Minute“ den Duft der intimsten Gemächer hoher und höchster Herrschaften saugt: das sind typische Figuren dieses Zeitalters geworden. Meister Pendennis aber, der schalkhafte Makepeace Thackeray, soll sich, als er von diesen Dingen vernahm, in seiner Unsterblichkeit umgedreht haben. Das kränkte ihn doch, ihn, der dem Studium des Snobbismus in allen Gestalten sein Lebenlang emsig nachgegangen war, daß er diese Typen nicht erlebt hatte: diesen veredelten, eleganten, in lauter Gesinnungs-Bouillon gezüchteten Snobbismus der neuen Biblia Pauperum, den Snobbismus der „Minute“. Antisthenes

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Meister Pendennis: William Makepeace Thackeray, The History of Pendennis. His Fortunes and Misfortunes. His Friends and His Greatest Enemy. Leipzig 1850. William Makepeace Thackeray war ein englischer Schriftsteller und gilt neben Charles Dickens und George Eliot als bedeutendster englischsprachiger Romancier des Viktorianischen Zeitalters. Antisthenes: Tönnies hat das Pseudonym Antisthenes nur einmal benutzt. Antisthenes war der Stifter den kynischen Schule und ein Freund von Sokrates.

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Ueber den Zweck des Strafrechts ist neuerdings ein heftiger Streit ausgebrochen. Die herrschende Schule und die Praktiker (man darf wohl sagen in allen Ländern) hängen an der sog. „absoluten Theorie“: Strafe ist Sühne oder Aequivalent für die Schuld, welche der Verbrecher auf sich geladen hat. Sie wird geboten durch Gerechtigkeit. Ihre Voraussetzung ist der freie Wille 1

Dieser Artikel entstand schon 1891 und war auf Veranlassung von Prof. G. v. Gizycki ursprünglich für die International Ethical Review bestimmt. Ich legte ihn damals aber, als zu weit aussehend, zurück, und schrieb für die genannte Zeitschrift einen kurzen Artikel (deutsch auch im Juliheft der Pernerstorferschen „Deutschen Worte“ 1891). Die Erwägung, daß ein Teil des Inhalts mitten hineinschlägt in die jetzt gepflogene Debatte über den Wert der Ordensgemeinschaften, und daß diese Ausführungen, welche ich heute vielleicht nicht in jedem Worte, aber dem Geiste nach noch durchaus vertrete, als zur Vorgeschichte der Gesellschaft für ethische Kultur gehörig, vielleicht einiges Interesse bei deren Mitgliedern finden könnten, veranlaßt mich zu der nachträglichen Veröffentlichung. Auch ist es für mich persönlich nicht ganz unwichtig, darin eine Urkunde für die Beweggründe meiner Beteiligung an der ersten Konstituierung vorzulegen. F. T.

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Die Verhütung des Verbrechens: Ferdinand Tönnies, Die Verhütung des Verbrechens. In: Ethische Kultur, Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, 18.05.1901, Heft 20, 9. Jg., Berlin 1901, S. 153-155 und 25.05.1901, Heft 21, S. 162-164. auf sich geladen hat.: Man pflegt die bisher aufgestellten Strafrechtstheorien in folgende Gruppen einzuteilen: 1) Relative Theorien (Nützlichkeitstheorien), welche die Strafe als ein Mittel betrachten, durch das der Staat berechtigt ist, die ihm obliegenden Wohlfahrtszwecke zu fördern. 2) Absolute Theorien (Gerechtigkeits-, Vergeltungs-, auch Vergütungstheorien, im Unterschied von Verhütungstheorien), welche die Strafe, unabhängig von gewissen Zweckbestimmungen, als schlechthin pflichtmäßige Betätigung der im Staate waltenden sittlichen Idee auffassen. 3) Gemischte Theorien (auch Vereinigungstheorien), die sowohl die absolute Notwendigkeit der Strafe als auch ihre Zweckmäßigkeit hervorheben. Zu den absoluten Theorien zählen vorzugsweise: die Wiedervergeltungstheorie Kants, gestützt auf den kategorischen Imperativ der Gleichheit zwischen Strafübel und Verbrechensübel (nachmals weiter entwickelt von Henke, Zachariä, Berner), und die Gerechtigkeitstheorie Hegels, wonach das Verbrechen Negation des Rechtes und die Strafe Negation der Negation, also Affirmation des Rechtes, sein soll. In: Meyers Großes Konversationslexikon. International Ethical Review: Gemeint ist die Zeitschrift „International Journal of Ethics“.

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des Thäters und dieser ist bedingt durch die Einsicht in die Strafbarkeit seiner Handlungen oder – allgemeiner gesprochen – durch Erkenntnis von Recht und Unrecht. Die „relative Theorie“, welche sich in neuer Gestalt erhoben hat, ist alten Ursprunges. Ihre Formel „puniendum est non quia peccatum est, sed ne peccetur“ ist dem Seneca entlehnt. Sie findet sich bei Grotius; und der Gedanke hat die schärfste logische Ausprägung gefunden durch Thomas Hobbes. Bei ihm ist er auch schon in engster Verbindung mit der Lehre von der Notwendigkeit menschlicher Handlungen wie alles Geschehens. Es ist sehr auffallend, daß diese nach allen Seiten hin fest begründete Lehre immer wieder als etwas Neues und Unerhörtes positive und negative Wirkungen ausübt. Aber man muß zugeben, daß sie durch konkrete wissenschaftliche Erkenntnis einen besonderen Inhalt gewonnen hat. Diese Bereicherung verdankt sie der Medizin, und zwar hauptsächlich der Psychiatrie. Das Werk Lombroso’s ist nur der am meisten in die Augen stechende Ring aus einer langen Kette. Unter den Lebenden ist wohl

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relative Theorie: Die wichtigsten relativen Theorien waren: die Abschreckungs- oder Deterritionstheorie, wonach durch den Strafvollzug andere von dem Begehen von Verbrechen abgehalten werden sollen; die Androhungstheorie (Theorie des psychologischen Zwanges), namentlich von Feuerbach vertreten, wonach die Menschen durch die Strafandrohung von verbrecherischen Handlungen abgeschreckt werden sollen, von Bauer Warnungstheorie genannt. Hierher gehören ferner die sogen. Präventionstheorie, die den einzelnen Verbrecher durch die Strafe von der Begehung weiterer Verbrechen abhalten will, also eine „Spezialprävention“ im Gegensatz zu der „Generalprävention“ der Androhungstheorie beabsichtigt, namentlich von Grolman aufgestellt; dann die Besserungstheorie Röders, wonach die Sicherung der Gesellschaft durch Umstimmung des verbrecherischen Willens vermöge der strafweisen Nacherziehung erreicht werden soll; endlich die Theorie des durch Strafe zu leistenden moralischen Schadenersatzes von Welcker und die Theorie der in der Strafe bewirkten gesellschaftlichen Notwehr gegen das Verbrechen, die schon von Beccaria und von Blackstone im 18. Jahrhundert aufgestellt und in Deutschland von Martin verteidigt ward. In: Meyers Großes Konversationslexikon. sed ne peccetur: Richtig heißt es „Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur“. Es geht um die Zweckstrafe in der Philosophie der Aufklärung. Hugo Grotius beruft sich in „De Jure Belli ac Pacis“ auf Seneca, der sich auf Platon beruft. So heißt es also: „... nam ut Plato ait: Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur; reuocari enim praerteria non possunt, futura prohibentur.“ Das heißt: „... wie Platon sagt, kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist (quia peccatum est), sondern damit nicht gefehlt werde (ne peccetur); ungeschehen machen nämlich kann man Vergangenes nicht; Zukünftiges wird verhindert.“ Werk Lombroso’s: Cesare Lombroso war ein italienischer Arzt, Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie. Er gilt als Begründer der kriminalanthropologisch ausgerichteten sogenannten Positiven Schule der Kriminologie. Lombrosos Typisierung von Verbrechern anhand äußerer Körpermerkmale diente den Nationalsozialisten als Vorlage für ihre rassenbiologischen Theorien.

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Keiner, der mit so viel gründlichem Geiste, wie Henry Mandsley, über die Verwandtschaft von Verbrechen und Wahnsinn gehandelt hat, dessen herrliche Werke Pathology of Mind und Responsibility in mental disease so viele unfruchtbare Tifteleien der sogenannten Philosophen beschämen. Daß diese Forschungen in England keine praktischen Folgen gehabt haben, ist vielleicht dem Umstande zuzuschreiben, daß England das einzige Land in Europa ist, welches in den letzten 50 Jahren einer Abnahme der Verbrechen sich rühmen darf – wenigstens der bestraften Verbrechen, muß man der Vorsicht halber hinzusetzen. In allen anderen Ländern ist eine mehr oder weniger starke Zunahme das erschreckende Phänomen, welches so viele Gedanken in Bewegung gesetzt hat. In Italien hat sich die Kriminal-Anthropologie als theoretische und die anthropologische Kriminalistik als praktische Wissenschaft am schärfsten ausgebildet. In einem deutlichen Zusammenhange mit diesen Richtungen steht die Bildung einer „internationalen kriminalistischen Vereinigung“, wenn sie auch sich dagegen verwahrt, die schon zu Dogmen kristallisierten Meinungen jener Schule für sich anzunehmen. Die Vereinigung fordert Bekämpfung des Verbrechens und erkennt in der Strafe nur eines der wichtigsten Mittel zu diesem Zwecke. Sie fordert aber auch Erforschung des Verbrechens und der Verbrecher, um die soziologischen und anthropologischen Ursachen beider zu erkennen. Auf Grund der Pathologie soll sich eine neue Therapeutik erheben – dies ist das große Programm, mit welchem die relative Theorie des Strafrechts über sich selbst hinausgewachsen ist. Wenn aber einmal diese klinische Betrachtung eingeführt ist, so ergiebt sich notwendigerweise das fernere Problem, das des Hygienikers im Verhältnis zu dem des Arztes: die Verhütung des Verbrechens.

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Es liegt auf der Hand, wie die Aufgabe verschieden ist. Was bekämpft werden soll, war als eine vorhandene Kraft gedacht. Diese Kraft ist entweder in der Offensive – man will sich gegen sie wehren. Oder man greift sie an, um sie zu vernichten, oder doch zu beschränken. Hingegen, was man verhüten will, sieht man nicht als ein Wirkliches, sondern als ein Mögliches, Wahrscheinliches, Befürchtetes an. Die Sturmflut kann niemand verhüten; aber man baut Deiche, um ihr Eindringen ins Land zu verhüten. Eine Feuersbrunst sucht man zu löschen; aber die Entstehung von Feuer zu verhindern, erkennt jeder Hausvater als seine Obliegenheit,  3

mental disease: Henry Maudsley, Pathology of Mind, New York 1880; Henry Maudsley, Responsibility in mental disease, New York 1874.

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die Polizei nötigt zu gewissen Maßregeln der Vorsicht. Vollends wo es sich um unsere Gesundheit handelt: es ist eine gangbare Rede, daß der Arzt der Krankheit zuvorkommen solle, die zu heilen er so oft nicht vermöge. Und auch in dieses Gebiet greift die Obrigkeit mit Verordnungen, ja, der Staat mit Gesetzen hinein. Die Bekämpfung wendet sich gegen die Sache, Verhütung gegen die Ursache. Auf Verhütung des Verbrechens weist schon das ne peccetur hin, als Bekämpfung kann auch das fiat justitia und quia peccatum est sich darstellen, nämlich als Defensive. Wie sich die Zweckmäßigkeit einer Offensive mit der Gerechtigkeit solcher Abwehr vereinigen lasse, wollen wir hier nicht erörtern. Die Bekämpfung der Ursachen braucht nicht dem Widerspruch irgendwelcher Theorie zu begegnen. Und dieser Kampf muß wesentlich offensiv geführt werden. Denn ihre Angriffe abwarten, heißt, sie in die Sache selber sich verwandeln lassen, was man verhüten wollte.

II. Daß eine hauptsächliche Ursache der Eigentums-Verbrechen die Not sei, steht durch Gründe und durch Erfahrung fest. Die Bekämpfung der Not ist wiederum nur dann erfolgreich, wenn sie gegen die Ursachen der Not sich richtet. Wohltätigkeit, welche dem Mitleid entspringt, wo sie nicht nur konventionell ist, befördert oft die Not, anstatt sie zu hemmen. Die Not gründlich aufheben, würde soviel heißen, als die Basis der Eigentumsordnung zerstören. Dies wäre vielleicht ein gutes Werk und wird von den Sozialisten als einzig wirksames Mittel auch gegen das Verbrechen empfohlen. Wie aber die Anwendung geschehen könne, das wissen wir nicht. Das Mittel ist bis jetzt nicht in unseren Händen. Ob seine Anwendung nicht den Körper töten würde, den es retten soll, ist eine andere Frage. Sicherlich ist es sehr schwer, die allgemeine Not zu unterdrücken. Aber nicht die allgemeine, nicht jede Not bringt Verbrecher hervor. Leichter ist es, besondere Arten der Not anzugreifen, die in dieser Hinsicht besonders gefährlich sind. Es giebt solche, wie man weiß, wenn auch ein

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oft nicht vermöge.: „Man muß der Krankheit eigentlich mehr zuvorkommen, als sie heilen.“ In: Johann Nepumuck Ehrhart, Medicinisch-chirurgische Zeitung, zweyter Band, Salzburg 1813, S. 232. als Defensive.: Der lateinische Satz „Fiat iustitia et pereat mundus“ wird zumeist übersetzt „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde“. Luther übersetzt ihn mit: „Es geschieht, was recht ist, und solt die welt drob vergehen“. (Predigt vom 10. Mai 1535), Kant mit: „Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt daran zugrunde gehen“. In: Otfried Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, 3. durchgesehene Auflage, München 2007, S. 54.

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viel eingehenderes Studium des sozialen Lebens notwendig wäre, sie deutlicher zu erkennen, als bisher möglich gewesen ist. Genossenschaften sollten sich bilden zum Betriebe solcher Studien, woran sich, wie von selbst, vereinte Bemühungen zur Heilung der Uebel anschließen würden. Zwei Arten sozialer Not will ich anführen, welche thatsächlich zu vielen Eigentums-Verbrechen führen. Die eine ist die von Wittwen und Waisen des Proletariats; vielleicht noch mehr die von unehelichen Kindern. Knaben insonderheit, die ohne Vater aufwachsen, von der Mutter in dürftiger Weise ernährt werden, sind sehr unglücklich; wenn die Mutter ihre Arbeit außer dem Hause suchen muß, so ist die Straße ihr Heim. Von der Straße führen nur einige Schritte zu gelegentlichen Entwendungen aus Läden u. dergl. Hunger macht Mut. Allmählich werden die höheren Methoden erlernt. Der Schwächere, Feinere entwickelt sich zum Taschendieb, dann zum Hochstapler u.s.w., der Derbere zum Einbrecher. Den schrecklichen Zuständen, welche hier so oft zu Grunde liegen, ein Ende zu machen, sollten alle Denkenden und Menschenfreunde sich zur heiligen Pflicht erheben. Durch die Behörden geschieht überall etwas in dieser Richtung. Das System der „Zwangserziehung“ wird in allen Ländern angewandt: dem Petersburger Kongreß für Gefängniswesen im Jahre 1890 wurde ein umfassender Bericht darüber vorgelegt. Fast überall wird die Maßregel erst angewandt, nachdem das Kind bestraft worden, oder einer Strafe würdig befunden worden ist, aber davon befreit wurde wegen zu jugendlichen Alters, oder wegen mangelnder Einsicht in die Strafbarkeit seiner Handlung. Kinder sollten überhaupt keiner öffentlichen Strafe unterliegen; nicht weil sie nicht das gehörige Bewußtsein haben, Strafwürdiges zu begehen, sondern weil sie nicht Staatsbürger sind. Es ist nicht einzusehen, warum die kriminalrechtliche Mündigkeit früher beginnen solle, als die civilrechtliche. Gerade der in großen Städten so stark zunehmenden Verwilderung von Jungen gegenüber bietet sich eine prinzipiell andere Behandlung wie von selber dar. Ein Unmündiger muß nicht auf der Bank der Angeklagten erscheinen. Wohl aber kann durch ein gerichtliches Verfahren auf Grund erwiesener Thatsachen festgestellt werden, daß ein Kind in einem so unangemessenen und gefährlichen Zustande lebe, daß es daraus entfernt werden müsse. Nicht eine Strafe, sondern ein Heilmittel wird verordnet. Dies kann nun verschiedene Stärkegrade haben. Am einfachsten wäre es, wenn ein freiwilliger Erzieher sich darböte.2 Dazu würden nur moralisch in hohem Grade vertrauenswürdige Männer taugen, und Sache des Gerichtes wäre es, Kriterien hierfür zu finden. Dem freiwilligen Erzieher müßte die volle väterliche Gewalt über das Kind zugespro2

Bekanntlich ist seitdem – etwa 4 Jahre später – in Berlin ein freiwilliger Erziehungsrat für schulentlassene Waisen ins Leben getreten. Anm. des Verfassers 1901.

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chen werden. Einen Vormund – der ja in solchen Fällen vorhanden ist, aber meistens nur als muta persona – könnte er nicht neben sich dulden. Hingegen wird vorausgesetzt, daß das Kind in Cohabitation mit der Mutter bleibe; der Erzieher verpflichtet sich zunächst zu einer fortwährenden Kontrolle. Eine fernere Stufe wäre es, wenn ihm die Befugnis eingeräumt würde, das Kind von der Mutter zu trennen: 1. mit deren Willen, 2. auch ohne deren Willen. Er könnte es dann in eine andere Familie bringen, in seine eigene, oder in eine solche, für die er eine gewisse Verantwortung übernimmt. Seine väterliche Gewalt könnte er abtreten oder nicht abtreten, auch auf Widerruf abtreten. – In schlimmeren Fällen endlich, und wenn sich ein geeigneter Erzieher nicht findet, möge von vornherein auf Entfernung 1. aus der Haushaltung, 2. auch aus dem Wohnorte der Mutter erkannt werden. Auch dann sollte man zuerst nach freiwilligen Erziehern sich umsehen. Dieses Amt müßte alsdann aber noch weniger obligatorische Lasten an sich haben. Der Erzieher sollte sogleich für Unter­­bringung in einer Familie Sorge tragen – am liebsten auf dem Lande, auch noch in einer kleineren Landstadt. Der Pflegevater dürfte – wenn die körperliche Entwickelung und Gesundheit des Kindes es zuläßt – von seiner Arbeitskraft für häusliche und landwirtschaftliche Thätigkeit Gebrauch machen, bliebe aber dem Erzieher dafür verantwortlich. Dieser würde sich bemühen, das Kind in der Nähe seines Wohnortes zu behalten; er würde sich verpflichten, es in gewissen Fristen – mindestens alle Quartale – zu besuchen. Ganz besonders wichtig würde dann noch die Aufgabe des Erziehers beim Uebertritte des Kindes ins Leben, für Knaben – die wir der Natur der Sache nach hauptsächlich im Auge haben – hat er die Wahl des Berufes zu treffen, soweit dann hiervon unter heutigen ökonomischen Verhältnissen noch die Rede sein kann. Dieser Punkt wird noch im ferneren erörtert werden. – Nur in letzter Linie würde ich eine eigentliche Zwangs-, vielmehr Noterziehung, nämlich anstaltliche, verordnen lassen. Was Kinder überhaupt am meisten nötig haben, das haben gefährdete und verwilderte Kinder in noch höherem Maße nötig: die Empfindung einer zugleich sehr überlegenen und ihr Bestes wollenden Persönlichkeit. Nicht anders als der Hund bedarf das Kind seines Herrn, den es fürchtet und liebt. In der Anstalt ist dies persönliche Verhältnis so gut wie ausgeschlossen. Die Behandlung wird notwendigerweise schablonenhaft. Wo viele Kinder zusammen sind, zumal ähnlich geartete, werden sie bald konspirieren. Die Erfahrung bestätigt dies überall. Am ehesten wird die

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muta persona: Eine stumme Person (auf dem Theater) lt. Friedrich Karl Kraft, Deutschlateinisches Lexikon, aus den römischen Classikern zusammengetragen, zweiter Theil, Leipzig und Merseburg 1825, S. 695.

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Gefahr vermieden durch Kleinheit der Anstalt und durch zweckmäßige Mischung der Charaktere; leicht verführbare dürfen nicht mit gefährlichen Verführern zusammen u.s.w. – Die schweren Ziele, welche hier angedeutet werden, erfordern in jeder Weise zwei Bedingungen: 1) Menschen. Wir haben überall Ansätze zu solchen Bildungen, wir haben auch Menschen, die sich mit großartigem Eifer dieser und verwandter Dinge annehmen. Es sind fast lauter Geistliche, oder stehen doch auf theologischer Basis. Die „innere Mission“ leistet nicht wenig, und man soll ihr mit gebührendem Respekte begegnen. Aber sie ist doch den komplizierten und in allen anderen Rücksichten den geistlicher Aufsicht so völlig fernliegenden modernen Lebensverhältnissen bei weitem nicht in ausreichender Weise gewachsen. Wenn die wissenschaftliche Moral, die Religion der Moral sich bewähren will, so muß sie mit der theologischen inneren Mission in Wettbewerb treten und sie schlagen, wie die wissenschaftliche Medizin die Volksmedizin schlägt. Dazu gehören zwei psychologische Bedingungen, die sich bisher selten zusammenfinden: Enthusiasmus und kühler, ruhiger Verstand. Und doch gehören sie zusammen; denn das Feuer des Herzens ohne Nüchternheit verfällt in unfruchtbare Schwärmerei; das bloße Denken führt zu praktischem Skeptizismus. „Nicht zum Betrachten, sondern zum Handeln sind wir da,“ hat Goethe gemahnt. Der ungeheure Ernst der Zeit verlangt nach Männern von tiefem, unerschütterlichem Ernst, die allen leeren Spekulationen, allem verlorenen Forschen entsagen, und in anderer Linie, als einst Baco wollte, nützliches Wissen pflanzen, fördern, verbreiten. Was Baco wollte, die Macht der Naturerkenntnis zur Bereicherung und Erleichterung des äußeren Lebens, hat sich erfüllt. Das innere, moralische Leben ist eher in Verfall geraten, da seine alten Stützen morsch geworden und neue nicht gezimmert worden sind. (Schluß folgt.)

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innere Mission: Die Innere Mission ist eine Initiative zur christlichen Mission innerhalb der evangelischen Kirche. In Deutschland begründete Johann Hinrich Wichern die Innere Mission; sie ging im Diakonischen Werk auf. zum Handeln sind wir da: Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (Zweite Fassung), Maximen und Reflexionen vor 1829, Betrachtungen im Sinne der Wanderer. Kunst. Ethisches. Natur, in: Curt Noch (Hg.), PropyläenAusgabe von Goethes Sämtlichen Werken, Einundvierzigster Band, Berlin 1909, S. 362. „Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist.“ Baco: Gemeint ist: Francis Bacon, 1. Viscount St. Albans, 1. Baron Verulam (Baron Baco von Verulam; lat. Baco oder Baconus de Verulamio). morsch geworden: Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, Frankfurt am Main 1841, S. 111. „... sind auch die alten Stützen der Ethik morsch geworden“.

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(Schluß) Selbst ein Schriftsteller, der den Fortschritt der Civilisation in so günstigem Lichte betrachtet, wie Herbert Spencer thut, schreibt folgende inhaltsschwere Sätze: „Jetzt, da die sittlichen Gebote allmählich immer mehr die Autorität verlieren, die ihnen bisher kraft ihres vermeintlichen heiligen Ursprunges zukam, erscheint die Säkularisierung der Ethik um so mehr geboten. Kaum mag etwas verderblichere Folgen haben, als wenn ein nicht mehr zulängliches Gesetzsystem verfällt und abstirbt, bevor ein anderes, passenderes an dessen Stelle zur Ausbildung gelangt, um es zu ersetzen. Die meisten von denen, welche den herrschenden Glauben verwerfen, scheinen auch anzunehmen, daß die von demselben ausgeübte einschränkende Wirkung ohne Schaden gleichfalls bei Seite geworfen werden dürfe, ohne daß man die entstandene Lücke durch ein anderes entsprechendes Agens auszufüllen brauche. Jene dagegen, welche den herrschenden Glauben verteidigen, behaupten ihrerseits, außer der Leitung, welche dieser gewähre, könne es überhaupt keine Leitung geben: göttliche Befehle erklären sie für die einzig möglichen Leiter ... Da nun der Prozeß, welcher den ersehnten oder gefürchteten Zustand (eines Vacuum) herbeizuführen verspricht oder droht, gewaltige Fortschritte macht, so ergeht an Alle, die da glauben, daß dieses Vacuum ausgefüllt werden kann und müsse, die dringende Mahnung, etwas zur Bekräftigung ihres Glaubens zu thun.“ Wenn die International Ethical Review ein Programm zu ihrer Rechtfertigung bedurfte, so liegt es in diesen so einfachen als wahren Worten des einflußreichsten lebenden Philosophen. Wir werden aber wiederum der Gefahr auszuweichen haben, die Lehre allzusehr in den Vordergrund zu rücken. Vor aller Lehre ist das Leben, vor aller Theorie die Praxis. Mächtiger als Gebote wirken Beispiele. Die einzig mögliche Bewährung eines Glaubens, einer moralischen Ueberzeugung ist, zu zeigen, daß man danach leben könne. Einzelne Menschen haben längst bewiesen, daß sie nach philosophischer Denkungsart nicht bloß ohne Anstoß, sondern zur Bewunderung, auf schöne und gute Weise leben können. Diesen Beweis haben größere Gemeinschaften von Menschen noch zu erbringen. Wir werden uns als Denker darüber einigen  1

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(Schluß): Ferdinand Tönnies, Die Verhütung des Verbrechens. In: Ethische Kultur, Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, 9. Jg., Berlin 1901, 25.05.1901, Heft 21, S. 162-164. Bekräftigung ihres Glaubens zu thun: Herbert Spencer, The Principles of Ethics. Vol. I, New York 1895, S. XIV.

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müssen, daß ein vollkommener ethischer Charakter und alles, was dahin strebt, nur durch ein inniges Zusammenleben, an bestimmten Raum, wie an bestimmte Zeiten gebunden, entwickelt und verwirklicht werden kann. Kein Moral-Philosoph zweifelt daran, daß die häusliche Gemeinschaft, Ehe und Familie, notwendige Form des Lebens für Mann und Weib, für Eltern und Kinder ist. Wenige erkennen, daß auch diese, gleich den übrigen naturwüchsigen sozialen und moralischen Gebilden, mit ihrem Verderben ringt. Denn fast alle kennen nur den Staat außer ihr und außer losen privaten Vereinigungen. Aber gleichwie wir anerkennen müssen, daß die politisch-ökonomische Gemeinde auf einer höheren Stufe der Wiederherstellung harrt, so sollten wir auch Vorbereitungen treffen, die moralisch-religiöse Gemeinde in neuer Gestalt auferstehen zu lassen. Sie wird nicht von selber entstehen. Sie kann nur wachsen um ein Objekt ihrer Thätigkeit. Propagation des „Reiches Gottes“, d.h. der Idee des Guten und Schönen, des Sonnenlichtes, das alle Gedanken und alles Wissen bestrahlt und erwärmt, ist das gegebene, natürliche Objekt ihrer Thätigkeit. Hierzu sollte auch die Genossenschaft für ethische Mission zur Verhütung des Verbrechens einen Keim darstellen. Unter den vorhandenen kirchenartigen Bildungen auf Grund eines christlichen Glaubens kommen, wie mich dünkt, einer echten und natürlichen moralischen Gemeinde am nächsten die der „mährischen Brüder“ oder „Herrenhuter“. Als das gebotene Objekt ihrer Thätigkeit nach außen faßte sie die Verkündigung des Evangeliums unter den „Heiden“ – um der Weisung zu folgen, die der Stifter des Christentums angeblich erlassen hat. Durch diese mechanische Abhängigkeit von äußerer Autorität haben sie – leider – ihre eigene Entwickelung sich verdorben. Für eine philosophisch-moralische Genossenschaft ist keine Autorität verbindlich. Aber sie wird sich die Wahrheit nicht rauben lassen, daß Verhütung von Verbrechen eine reine humane d.h. eine des Menschen im höchsten Grade würdige Idee sei; deren es dann noch viele andere giebt, ehe die „Bekehrung der Heiden“ (in irgendwelchem Sinne) an die Reihe käme. – Zurück von dieser langen Digression. Digressionen sind unvermeidlich, wenn wir durch den dichten Wald der Zukunft unseren Pfad suchen – mit der blassen Laterne des Diogenes. Das andere Erforderte,  7 20

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Verderben ringt: „Naturwüchsig“ wird von Karl Marx in betonter Weise in metaphorischer Form verwendet. Es bedeutet bei ihm „ohne Planung, ohne Absicht“. mährischen Brüder: Böhmische Brüder (auch Mährische Brüder) waren eine religiöse Gemeinschaft, die im 15. und 16. Jahrhundert insbesondere in Böhmen auftrat und sich aus Mitgliedern der Taboriten und Waldenser bildete. Laterne des Diogenes.: Nach dem Bild „Ich suche Menschen!“ (Diogenes mit Laterne) von Bernhard Rode, im Besitz der Kunsthalle Kiel. Zitat: „Ich suche einen Menschen.“ – als er mit einer Laterne in der Hand am hellichten Tage auf dem Marktplatz von Athen war; gemäß Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Otto Apelt (Hg.), Erster Band, Leipzig 1921, S. 276.

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nächst Menschen, ist 2) Geld. Es ist sehr merkwürdig, daß es den religiösen Gesellschaften herkömmlichen Charakters für ihre mannigfachen Bestrebungen niemals an Geld zu fehlen scheint. Wie man die persönlichen Verdienste vieler Geistlichen und anderer wahrhaft guter Christen bewundern muß, so muß man auch die Opferwilligkeit achten, mit welcher passivere Anhänger ihres Glaubens sie wenigstens durch materielle Spenden unterstützen. Sie hat ihres Gleichen nur in der erstaunlichen Freigebigkeit der Arbeiterklasse,3 womit sie – wenigstens in Deutschland – ihre politischen Zwecke zu fördern weiß. Sollte es auf die Dauer, und wenn einmal eine Organisation von Kämpfern für das ethische Volkswohl sich gebildet hat, dieser an solcher Hilfe fehlen? Es darf angenommen werden, daß die große Masse des eigentlichen Reichtums heute im Besitze von Menschen sich befindet, denen es, wenn anders sie moralisch wirksam zu sein gesonnen sind, nur auf rein humane Zwecke ankommt. Sicherlich wird unter diesen nur eine geringe Portion sich finden, die Einsicht und Mut genug haben, um bei entschiedenem Bruch mit den überlieferten kirchlichen Gemeinschaften – den Idealismus philosophisch-moralischer Bestrebungen mit jenem heiligen Eifer zu befördern, der sich freudig Verzicht auf gemeine weltliche Freuden auferlegt. Daß aber eine solche kleine Portion in allen Bekenntnissen vorhanden ist, daß sie sich stärken und vermehren kann, wird Niemand leugnen, der ins wirkliche Leben, und namentlich in das oft so sehr nach Verständnis und Sympathie lechzende Gemütsleben vieler gebildeter Frauen, hineingeschaut hat. So lange, als die modernen Gesellschaften eines ungeheuren und sogar in sinnloser Weise zum Besten Weniger wachsenden Reichtums sich – darf man sagen? – erfreuen, so wäre es absurd, daran zu verzweifeln, daß nicht noch mehr als alle anderen Heils-Armeen, die bescheidene Kohorte von wissenschaftlichen und praktischen Streitern für die Verbesserung der moralischen Zustände, mit Geld für ihre Zwecke sollte überschüttet werden, nachdem sie einmal die Blicke freundlich Gesinnter wird auf sich gezogen haben. Hierzu nur noch eine Randbemerkung. Es ist nicht zu erwarten, noch zu wünschen, daß die Priester und Jünger unserer moralischen Mission aus ihrer Thätigkeit ein Einkommen gewinnen sollten, das ihnen, wie protestantischen Geistlichen, gestatten würde, eine große Familie darauf zu begründen, geschweige denn, daß diese Seelenärzte, wie leider überall manche der gesuchteren Aerzte des leiblichen Lebens, ihre Kunst zu einer Quelle der Vermögensbildung sollten erniedrigen können. Viel eher werden sie sich die Entsagung zum Muster nehmen, welche das Geheimnis der Macht bildet, wodurch noch immer der Klerus und einige Orden der römischen Kirche ausgezeichnet sind. Und wenn freilich kein Glaube an die besondere Heiligkeit fortwährender Virginität für 3

Freilich nur eines kleinen Teiles. Anm. des Verf. 1901.

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sie bestimmend sein kann, so werden sie doch die Zweckmäßigkeit des Cölibats für eine intensive soziale Thätigkeit, wissenschaftliche und praktische, völlig anerkennen; und mögen diesem Prinzip durch Verpflichtungen gerecht werden, die sich auf bestimmte Zeitfristen beziehen, daher ebensowohl erneuerbar, als aufhebbar sind, da für Lebens-Dauer kein zureichender Grund vorhanden ist. Wenn z.B. ein 30jähriger Mann geloben würde, für die nächsten 5 Jahre auf eigene Familie zu verzichten, um mit seiner ganzen Persönlichkeit der Genossenschaft anzugehören, welchen Impuls, welche Sicherheit und Freudigkeit würde ihm und den Anderen dieses geben. Wenn gute Frauen sich in gleicher Weise verbinden, so wird das Los solcher Männer dadurch erleichtert und erhöhet werden. Wie überhaupt ohne die Kraft des weiblichen Gemütes, ohne die tiefen und seherhaften Instinkte ihrer Seele eine Regeneration des modernen sozialen und moralischen Lebens (beides heißt ja dasselbe) sollte geschehen können, werde ich nicht begreifen.

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Die andere Form der materiellen Not, welche in besonderer Weise zu häufigen Eigentums-Verbrechen führt, ist die Arbeitslosigkeit. Ich meine nicht die massenhafte der Handwerker und Fabrikarbeiter, die in Zeiten der Absatzkrisen das Heer der Vagabunden anschwellt. Aus diesem Heere rekrutiert sich ein verhältnismäßig geringer Teil von Verbrechern. Ich meine vielmehr die in einigen Gewerben, besonders der großen Städte, periodisch sich wiederholende Arbeitslosigkeit, welche für moralisch schwächere Naturen schon als solche eine ungeheure Gefahr darstellt. Der Gefahr erliegen zu Haufen junge, unverheiratete Männer, die nicht gelernt haben, mit ihrem Einkommen wirtschaftlich zu verfahren, oder selbst wenn sie es gelernt haben, ihre freie Zeit nicht anders, als durch leichtsinnige Streiche zu erfüllen wissen. Aber in letzterem Falle scheint keine ökonomische Not vorzuliegen. Es ist doch der Fall. Wenn die Ersparnisse zum Teil oder ganz aufgezehrt sind, wenn die Erfahrung zeigt, daß das gezwungene Nichtsthun von selbst zu einer kostspieligen Lebenshaltung zu führen scheint, daß die Kunst des Haushaltens eben durch dieses Nichtsthun sich wieder verlernt, so greifen Gleichgültigkeit und Verzweiflung Platz. In der Verzweiflung kann eine einzige Nacht den Menschen zum Lumpen machen. Gerade dieser Verzweiflung gilt es zu begegnen. Was solchen jungen Männern fehlt, ob sie noch Geld haben oder nicht, ist ein weiser Freund. Ein solcher könnte Wunder thun. Er müßte sie lehren, sich zu beschäftigen und durch Verbindungen, denen es an bindenden feierlichen Gelübden nicht fehlen

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dürfte, sich gegenseitig im Guten zu stärken. Eine Klasse von Menschen, die leicht in eine solche Lage geraten, sind z.B. die Kellner – ohnehin durch ihren Beruf zum Leichtsinn, zu Betrügereien mannigfach verführt. Sie stellen ein sehr bedeutendes Kontingent zu jeder großstädtischen Kriminalität. Organisation der Arbeitsnachweisung und Verbilligung der Eisenbahnfahrten, um Nachfrage und Angebot leichter sich begegnen zu lassen, – soziale Reformen, die auch sonst dringend notwendig sind – würden viel dazu thun, das Uebel zu lindern. Aber von allem, was ein richtig geleitetes Interesse zu leisten vermöchte, wollen wir hier absehen. Helfer, welche die Zustände kennen und die am meisten gefährdeten Individuen sich auszusuchen wissen, könnten auch unter den schwierigsten Umständen manche Menschen-Seele erretten. Es finden sich unter diesen jungen Männern viele von guter Intelligenz und leidlich unterrichtete. Einige würden den Wert der Arbeit als solcher – ohne Ansehung des Entgelts – erkennen, so gut, wie fast jeder in Einzelhaft gehaltene Gefangene die Arbeit als seinen einzigen Trost würdigt und ergreift. Für alle wissenschaftlichen und technischen Forschungen giebt es viele Arbeiten, die der Unternehmer, gerade weil es ihm nur um die Sache zu thun ist, weder allein zu bewältigen, noch nach dem Marktpreise zu bezahlen vermag; mechanische Arbeit, Rechnung, Schreiberei u. dgl. Mancher Stellenlose würde sich leicht überreden lassen, dergleichen, zugleich zu seiner eigenen Belehrung, zu versuchen – umsonst oder gegen geringe Bezahlung; vielleicht im Austausch, wenn z.B. ein Gelehrter ihm Sprach-Unterricht dafür erteile, dessen gerade Kellner, junge Kaufleute, und auch manche Handwerker, die ins Ausland zu gehen wünschen, so sehr bedürftig sind; meistens darauf angewiesen, sich durch Selbst-Unterricht zu helfen. Alles dieses sieht utopisch aus. Es ist um so weniger utopisch, je mehr man die wirklichen Menschen, ihre Not, ihr oft so kindliches, vertrauensvolles und nach Vertrauen lechzendes Wesen, ihre Wißbegier, ihr Vergnügen, mit höher Gebildeten sich zu unterhalten, durch ihren Umgang, Sorge, Freundschaft, sich geehrt und gehoben zu fühlen, kennen lernt. Die üblen Keime entwickeln sich rasch, wenn sich selber überlassen. Aber auch die guten sind des Wachstums fähig, wenn sie gepflegt werden. Unkraut bedarf keines Gärtners. Blumen bedürfen seiner. Alle diese Gedanken gehen ja darauf hinaus, daß wir „ins Volk gehen“ sollen, nicht um es aufzurühren und zu erhitzen, sondern um ihm etwas von dem zu zeigen, was wir geschaut haben, um ihm offenbarer werden zu lassen, was nicht Wenige ahnen, die da klassische Dichter lesen, die gern ins Schauspiel gehen, auch einmal ein Museum besuchen – : daß es eine ideale Welt giebt, auch für den, der die Vorgänge der Natur und des Lebens im Zusammenhange von Ursache und Wirkung zu betrachten gewohnt ist, und daß es in Wahrheit

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einen Gott giebt, nämlich das Ewige, was in Allem ist; zwar nicht durch Bitten und Opfer zu bewegen, wie ein Vater und Herr, wohl aber durch getreue Anschauung, Hingebung, Liebe – welche auch die hergebrachte, kindlich-poetische Form des Gebetes nicht zu scheuen braucht – immer klarer und tiefer den frommen Sinnen sich offenbarend .. Folgt nichts aus solcher Erkenntnis sub specie aeterni für das Leben? Aber nicht jeder ist solcher Erkenntnis, nicht jeder solches Lebens fähig. Ohne Zweifel wird Vieles tauben Ohren gepredigt werden. Ohne Zweifel. Aber auch der Nazarener wußte, daß manches Samenkorn auf steinigen Boden fällt, daß Unkraut zwischen den Weizen gesät wird. Darf diese Voraussicht abhalten, den Acker zu pflügen? – Hat sie ihn abgehalten und seine Jünger? Und sie haben am Ende doch einen merkwürdigen, ja unendlichen Erfolg zu verzeichnen gehabt. Wodurch? Durch ihre Treue, durch ihren Glauben.

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sub specie aeterni: Auch „sub specie aeternitatis“, lat. „Im Lichte der Ewigkeit“. Wird meist in der religiösen Literatur in dem Sinne gebraucht, dass man sein Denken und Handeln nicht auf das vergängliche Diesseits richten solle, sondern auf die ewigen Werte, die mit Gott und dem Jenseits bzw. allem zeitlich Enthobenen gleichgesetzt werden. Der Ausdruck wurde von Spinoza geprägt in seinem philosophischen Hauptwerk „Ethica more geometrico demonstrata“, Teil 5, Lehrsatz 29 ff. (1677 postum erschienen). durch ihren Glauben: Hier drückt sich Tönnies Religiosität aus, indem er eine Ideale Welt beschreibt.

Zur Kontroverse über Politik und Moral Dem Zufalle, daß eben, von Frankfurt aus, eine kleine Schrift über dieses Thema, die ich verfaßt habe, in die Welt gegangen ist,1 verdanke ich es, daß in der interessanten Controverse, die sich in der Frankfurter Zeitung entsponnen hat, ich von zwei Seiten als Zeuge aufgerufen wurde. (Frankfurter Zeitung, 1. Morgenblatt v. 30. Jan. 1901). Ich nehme daraus die Berechtigung, im Anschlusse an die Gedankengänge, die dort sich kreuzen, eine kleine Ergänzung zu meiner genannten Schrift vorzutragen, welche Schrift übrigens ihren Zweck erfüllt, wenn sie dazu beiträgt, das von mehreren Seiten her angefachte Feuer dieser Erörterung eine Weile im Gange zu erhalten.2 Ich mache auch keinen Anspruch darauf, ein „Ethiker“ anders denn als Liebhaber und etwa als Förderer der ethischen Bewegung zu heißen, denn meine eigentlich wissenschaftlichen Interessen und Arbeiten liegen in anderer Richtung. Wenn aber Berufenere schweigen, so möchte ich hier ein bescheidenes neues Lichtlein über die Sache aufstecken. Und zu diesem Zwecke will ich an eine alltägliche Erfahrung anknüpfen. Denn als etwas Alltägliches darf wohl noch angesehen werden, daß etwa ein alter Geschäftsmann seinem Sohne (oder sonst seinem Nachfolger) die weise Lehre gibt: „Sei ehrlich, ehrlich unter allen Umständen, wenn auch der Vorteil unehrlichen Handelns noch so groß, die Gefahr noch so gering scheint – Ehrlich währt am längsten, Ehrlichkeit ist die beste Politik!“ Nun könnte aus dieser Ermahnung etwa folgender Dialog sich entspinnen. Filius. Aber Vater, du kannst doch nicht leugnen, daß manche es in der Welt gar weit gebracht haben, die eben nicht allzu peinlich in der Wahl 1

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Politik und Moral. Eine Betrachtung von Ferdinand Tönnies. Frankfurt a. M. Neuer Frankfurter Verlag G. m. b. H. 1901. Die „Hilfe“, ein im übrigen tüchtiges und lesenswertes politisches Wochenblatt, ist, nachdem sie etliches Pech in dieses Feuer geworfen, bange davor geworden und wünscht das Gegenteil dessen, was wir wünschen: daß es nämlich von dieser Streitfrage fein stille bleiben möge. Vgl. z.B. ihre No. 11 (11. März d.J.) Seite 15 (Briefkasten). Zur Kontroverse über Politik und Moral: Ferdinand Tönnies, Zur Kontroverse über Politik und Moral. In: Das Freie Wort, Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 20.04.1901, Nr. 2, 1. Jg., Frankfurt a. M. 1901, S. 42-46.

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ihrer Mittel waren. „Die Welt will betrogen sein“, das ist jawohl auch ein alter Spruch. Ich ließe mir gefallen, wenn Du sagtest: Ehrlich scheinen gehört zur guten Politik – denn außerdem ist doch wohl die gute Politik noch etwas ganz anderes, nämlich entschlossene und rücksichtslose Geltendmachung des eigenen Interesses, kluge und unsentimentale Verfolgung der einzelnen Ziele. Vater. Ja, wie die Welt nun einmal ist, und unter euch jungen Leuten ja wohl erst recht geworden ist, mag das wohl seine Richtigkeit haben. Aber sie ist auch danach. Euch selber wird ja immer mehr unbehaglich darin. „Der Krieg Aller gegen Alle“, so sagtest du neulich, sei heute die Losung. Im richtigen Kriege freilich kann es höchstens eine Scheinmoral geben – aber zwischen Krieg und Krieg ist denn doch ein Unterschied. Es kommt eben darauf an, ob man den Wunsch und Willen hat, in der bürgerlichen Gesellschaft friedlich miteinander zu leben oder nicht. Hast du diesen Wunsch und Willen, so mußt du deine Handlungsweise danach einrichten, und dann wird es ja wohl geboten sein, die Ehrlichkeit als unverbrüchliche Regel in dein Bewußtsein aufzunehmen, denn durch jeden freiwilligen Verstoß dagegen würdest du einen feindseligen Wunsch und Willen kundthun, also jenem anderen Wunsch und Willen untreu werden und folglich in Widerspruch mit dir selber geraten, oder du wüßtest eben nicht, was du wolltest. – Filius. Allerdings habe ich jenen Wunsch und Willen, nämlich den, so friedlich mit anderen zu leben, als sich mit meinen Interessen vertragen mag. Ich will mich aber vor allen Dingen nicht unterkriegen lassen: dieser Wunsch und Wille steht mir noch um ein Bedeutendes höher. Ich werde meinen Platz an der Sonne behaupten. „Que messieurs les meurtriers

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ein alter Spruch.: Mundus vult decĭpi, ergo decipiātur (lat.), „Die Welt will betrogen sein, also werde sie betrogen“, viel angeführte Übersetzung eines Ausspruchs in Sebastian Brant, Narrenschiff, hrsg. von Friedrich Zarncke, Leipzig 1854, S. 65: „Die wellt die will betrogen syn“. „Der Krieg Aller gegen Alle“: Bellum omnium contra omnes, „Krieg aller gegen alle“ ist ein oft benutzter Ausspruch des englischen Philosophen Hobbes, der in seiner Schrift „De Cive“ (Thomas Hobbes, De Cive („On the citizen“), London 1651.) in Kapitel 1 und im „Leviathan“ (Thomas Hobbes, Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Common Wealth Ecclesiasticall and Civil, London 1651.) in Kapitel 18 damit den natürlichen Zustand der Menschen vor Bildung der Gesellschaft bezeichnet. Platz an der Sonne behaupten.: Die Wortprägung „Platz an der Sonne“ entstand durch eine Äußerung von Bernhard von Bülow in einer Reichstagsdebatte am 6. Dezember 1897, wo er im Zusammenhang mit der deutschen Kolonialpolitik formulierte: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“

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commencent“ (nämlich des Totschlagens sich zu enthalten), sagte der alte Richter, als von Abschaffung der Todesstrafe die Rede war. Mögen die Herren Bundesbrüder der bürgerlichen Gesellschaft den Anfang machen, nach Prinzipien der Moral in Handel und Wandel zu verfahren. Ich werde es dann nicht an mir fehlen lassen. Ich richte mich nach dem allgemeinen Wollen, wie es sich im wirklichen Thun und Treiben dokumentiert. Ich mache keinen Anspruch darauf, ein Vorbild zu sein. Ich sehe aber nur den allgemeinen Willen, ohne Blutvergießen auszukommen – insoweit ist die bürgerliche Gesellschaft friedfertig gesinnt. Im übrigen – Hammer oder Amboß! Der Einzelne hat die Wahl – gegen das Prinzip kann er nichts machen. Die bürgerliche Gesellschaft beruht einmal darauf, wie viele Redensarten auch in anderem Sinne gemacht werden. Gemütlich geht es eben nicht in ihr her – das ist wahr. Hasten und Jagen, Wetten und Wagen, Rennen und Überrennen – aber es ist doch auch ganz lustig. „Im Kriege, da ist der Mann noch was wert“ . . . Vater. Du weißt schöne Sprüchlein. Mir fällt eben auch einer ein, den ich von einem trefflichen Lehrer in der Prima gelernt habe. Ich weiß nicht mehr, von wem er herrührte, aber es war eine Mahnung: „nec propter vitam vitae perdere causas“. Das aber ist das Ende vom Liede. Wenn das der Preis ist, um den ihr euer Leben erkauft, daß ihr alle die zarten Gewebe der sittlichen Beziehungen zwischen den Menschen zerstört, weil sie die Fesseln eures Egoismus sind – eures Egoismus, der die besten Güter der Menschheit nicht zu schätzen weiß, eures blinden Egoismus – dann mag euer Leben, so lange ihr im Turnier euch bewegt, „ganz lus 1

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„Que messieurs les meurtriers commencent“: Das Original-Zitat „Que messieurs les assassins commencent“ heißt „Die Herren Mörder sollen anfangen“. Der Spruch stammt von Jean-Baptiste Alphonse Karr, der diesen in seinem satirischen Magazin „Les Guêpes. Histoire satirique de notre temps“, am 31. Januar 1849 (Jg. 10, S. 92) verwendete. In: Michael Feldkamp (Hg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Band 14, Hauptausschuß, Teilband I, München 2009, S. 1625. Hammer oder Amboß!: „Du mußt steigen oder sinken, // Du mußt herrschen und gewinnen, // Oder dienen und verlieren, // Leiden oder triumphieren, // Amboß oder Hammer sein.“ – Johann Wolfgang von Goethe, Gesellige Lieder, Ein Anderes. In: Goethes Werke, herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 1. Band, Weimar 1887, S. 131. der Mann noch was wert: Friedrich Schiller, Reiterlied. Aus dem Wallenstein.: „Im Felde, da ist der Mann noch was wert“. In: Friedrich Schiller, Musen-Almanach für das Jahr 1798, hrsg. von Friedrich Schiller, Tübingen 1798, S. 137. perdere causas: „Et propter vitam vivendi perdere causas“ – „Und wegen des Lebens die Gründe zum Leben verlieren.“ In: Juvenal, Satiren 8/84. Die Redensart „das Ende vom Lied“ bezieht sich auf den oft traurigen Ausgang alter Volkslieder. Schon in Wolframs „Parzival“ (475, 18) heißt es ähnlich: „sus endet sich dîns maeres dôn“ (vgl. auch Tit. 17, 4).

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tig“ sein – die Ermattung kann nicht ausbleiben, eine furchtbare Abspannung, Erschöpfung und Enttäuschung wird eintreten, wie man schon in Tausenden von Fällen beobachten kann; was schon jetzt an einer stetig sich vermehrenden Zahl von Individuen sich zeigt, was schon eine soziale Massen-Erscheinung ist, das wird dann eine soziale Gesamterscheinung – der Lebensekel wird eure ganze Spieler- und Rennsport-Gesellschaft d.h. die bürgerliche Gesellschaft selber in ihren „Spitzen“ ergreifen; es wird sich dann fragen, was noch an ihren Wurzeln ist, ich meine an der großen Masse des arbeitenden Volkes – daß diese emporkommt, und daß ihr herunterkommt, ist schon jetzt unverkennbar – aber was dann? Den Prozeß, der sich dann vollziehen muß, vermag ich nicht mit Hoffnungen anzuschauen, ich bin wohl zu alt dazu. Filius. Aber, Vater, das ist ja alles nicht so schlimm, du siehst zu schwarz, wie ältere Leute so leicht es thun. Sieh uns doch an, wie wir wirklich sind – sind wir denn nicht auch moralisch? Üben wir nicht Wohlthätigkeit im reichsten Maße? Welche Lasten hat die Industrie willig auf sich genommen – ohne Murren will ich nicht sagen – aber mehren sich nicht die freiwilligen Wohlfahrts-Einrichtungen, sind nicht Großindustrielle in der Gesellschaft für soziale Reform, im Verein „Reichswohnunggesetz“? Wird nicht unendlich viel gethan, um das Los der minderbemittelten Klasse zu erleichtern? freilich, wenn diese von gewissenlosen Hetzern – Vater. „Gewissenlosen Hetzern“ – Nachtigall, ich hör dir laufen, wie Onkel Bräsig sagt. Was für ein Gewissen verlangt ihr denn von den Hetzern, wenn ihr das Gewissen in Handel und Wandel für überflüssig, ja für schädlich erklärt, wenn ihr proklamiert: Make money; if you can, honestly, if not – make money! – And afterwards – möchte ich in meinem eigenen Englisch hinzusetzen – make yourselves benefactors of Mankind.

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Gesellschaft für soziale Reform: Gesellschaft für soziale Reform nennt sich eine am 6. Januar 1901 zu Berlin gegründete Vereinigung von Sozialpolitikern, die das Eintreten des Staates für die Lohnarbeiter, insbesondere durch Erweiterung des gesetzlichen Arbeiterschutzes, Unterstützung der Selbsthilfe der Arbeiter, Ausbildung des Koalitionsrechts, Errichtung eines Reichsarbeitsamts, überhaupt den Ausbau der sozialen Gesetzgebung im Interesse der Arbeiter erstrebt. wie Onkel Bräsig sagt.: Die Redewendung „Nachtigall, ick hör‘ dir trapsen“ stammt aus „Des Knaben Wunderhorn“. (Parodie der Anfangszeilen der ersten und zweiten Strophe: „Nachtigall, ich hör dich singen“ und „Nachtigall, ich seh dich laufen“. Bezeichnet wird damit eine Vorahnung.) Quelle: Wahrig, Deutsches Wörterbuch; Wahrig, Herkunftswörterbuch; Duden, Redewendungen. „Zacharias Bräsig“ ist eine Hauptfigur in Fritz Reuters Roman „Ut mine Stromtid“ (1862–1864) und in einigen anderen Werken Reuters. make money!: „Make money – honestly, if you can; but, at all events, make money!“ In: George William MacArthur Reynolds, The Mysteries of London. Band 1, London 1846, S. 334.

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Jener vielfache Sittenverbrecher, dem das making of money so trefflich gelungen war, war jawohl auch eben im Begriff, ein vielfacher „Wohlthäter der Menschheit“ zu werden, und wurde in diesem edlen Streben durch das rohe Eingreifen des Staatsanwalts unterbrochen. Ich glaube, daß es ihm voller Ernst damit war. Er hatte gewiß zärtliche Empfindungen für die leidende Menschheit. Die Moral der Weichlichkeit und des Mitleides trifft nicht selten zusammen mit der Verleugnung aller Rechtschaffenheit, ja mit der gänzlichen Unkenntnis ihres Wesens und Wertes; verträgt sich auch fein mit wüster Genußsucht und mit allen Lastern. Die Rührseligkeit ist ja ein Genuß unter anderen; einigen unbequem, ist die Aufregung über fremdes Leiden manchen unentbehrlich; dient ihnen als Spiegel ihres eigenen Behagens; ganz abgesehen von den übrigen kleinen Freuden, die das Wohlthun mit sich bringt: der öffentlichen Annonce, Titeln und Orden et cetera . . . Ich weiß wohl, daß die gemeine Wohlthätigkeit und vernünftige Bestrebungen für die Wohlfahrt der arbeitenden Klasse zweierlei ist. Reichswohnunggesetz – soziale Reform – alle Achtung. Ich bin ja selber dabei und thue mit, freilich, wie ich dir gestehen will, unter nagenden Zweifeln. Wenn die Fundamente morsch werden, so kann alles Flicken des Daches den Verfall nicht aufhalten. Die Ideen und Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens zu berichtigen, das Ideal einer wahren Genossenschaft und Gemeinde auszubreiten, scheint mir fast wichtiger als alles andere. Filius. Cher papa, du siehst mich in einiger Verwirrung. Ich kann dir nicht ganz Unrecht geben, und ich bekenne, daß ich eigentlich gewünscht habe, du mögest mich widerlegen. Aber wir können freilich in einem kurzen Gespräche diese Dinge nicht erledigen. Ich will dir aber noch verraten, wie ich eigentlich zu meinen Ansichten, wenn du sie so nennen willst, gekommen bin. Ich habe im Laufe des vergangenen Jahres viel über Ethik und Politik gelesen – in Zeitungen und Wochenblättern, in Reden von Staatsmännern, z.B. dem jetzigen deutschen Reichskanzler u.s.w. Der ständige Refrain in den meisten Auseinandersetzungen war der: auswärtige Politik sei ein Gebiet, das mit Ethik garnichts zu thun habe, der Politiker könne und dürfe sich dadurch nicht hemmen lassen. Ich habe mich darauf einfach gefragt: bin ich nicht auch ein Politiker in meiner Sphäre? Muß nicht jeder, der sein Glück machen will, mit der Eifersucht und Bosheit seiner Nachbarn rechnen? losschlagen, wenn er Aussicht hat, zu siegen, und nehmen, so viel als er kriegen kann? – Ich weiß wohl, daß der Fall nicht in jeder Hinsicht gleich ist, wenn es sich um Individuen und wenn es sich um Staaten handelt. Aber andererseits muß ich doch festhalten: wenn ein friedfertiges Wollen und ein sogenanntes sittliches Bewußtsein einen unbedingten Wert in der bürgerlichen Gesell-

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schaft beanspruchen können, so wird man ihnen den auch in der StaatenGesellschaft nicht absprechen dürfen; dann müßte auch hier die weiseste Politik die sein, eine große Beute willig fahren zu lassen, wenn dadurch ein Beweis von Edelmut und von ehrlichem Streben, idealen Gütern den Vorrang zu lassen, gegeben würde. Vater. Und dann wollen wir uns nicht dadurch irre machen lassen, daß es in der wirklichen Welt anders zugeht und wohl auf langehin zugehen wird. Denn das gehört ja wohl zum Wesen des Guten und Schönen, daß es sich nie und nirgends verwirklicht findet. –

Die Zerrüttung der liberalen Partei in England Traurige Rolle eines ehemaligen Premier-Ministers: auf das Grab seiner Hoffnungen und der Hoffnungen seiner Gefolgsleute setzt sich Lord Rosebery als krächzender Rabe, und seine heisere Stimme ruft: „ich könnte vielleicht helfen, ich mag es aber nicht“ – „einer schwachen Regierung steht eine noch schwächere Opposition gegenüber“ – „die Situation ist kritisch, es ist ein Unding, daß die liberale Partei eine Partei sein will und über Fragen von alleroberster Wichtigkeit nicht einig ist, Neutralität proklamiert mit einem Vertrauensvotum für ihren Führer“. „Ich bin nur ein Individuum, aber eines, das die Sache lange und aufmerksam erwogen hat.“ – Neutralität in hochwichtigen Fragen? Woran erinnert uns das? „In wirtschaftlichen Fragen überlassen wir jedem, seiner Überzeugung zu folgen; wer sich sonst zu unserem Programm bekennt, mag Schutzzöllner oder Freihändler sein, für oder gegen Arbeiterschutz u.s.w.“, so verkündete ja unsere nationalliberale Partei berühmter Vergangenheit, unter der „bewährten Führung“ Herrn Rudolf von Bennigsens – verkündete es und verfiel. 1877 noch 1469 1/2 unter weniger als 9 Millionen, 1898 nur noch 971 1/3 Tausend gültige Stimmen unter 11,4 Millionen Wahlberechtigten, damals 128, 1901 nur noch 51 Mitglieder im Deutschen Reichstag. Wenn das keine schiefe Ebene ist. –

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Die Zerrüttung der liberalen Partei in England: Ferdinand Tönnies, Die Zerrüttung der liberalen Partei in England. In: Das Freie Wort, Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 20.08.1901, Nr. 10, 1. Jg., Frankfurt a. M. 1901, S. 289-292. aufmerksam erwogen hat: Zitate aus einem Brief von Lord Rosebery an den „City Liberal Club“ und aus einem Artikel der New York Times vom 17.07.1901, der sich mit dem Brief befasst. Der Brief wurde abgedruckt in: G. P. Gooch, Life of Lord Courtney, London 1920, S. 425-426. im Deutschen Reichstag.: Kaiserliches Statistisches Amt (Bearb.) 1879: Statistik der allgemeinen Wahlen für die dritte Legislaturperiode des Reichstags; in: dass. (Hg.), JuniHeft der Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches für das Jahr 1879 (Band XXXVII, Heft 6 der Statistik des Deutschen Reichs). S. 1-86. Kaiserliches Statistisches Amt (Bearb.) 1903: Vergleichende Übersicht der Reichstagswahlen von 1898 und 1903 auf Grund der Berichte der Wahlkommissare aufgestellt im Kaiserlichen Statistischen Amt; in: Dass. (Hg.): Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Zwölfter Jahrgang, Drittes Heft. Berlin, S. 42-107.

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In der That, wenn man davon absieht, daß im Deutschen Reiche keine Partei jemals direkt regiert hat, so entsprechen die englische liberale und unsere nationalliberale Partei einander einigermaßen; die bei uns weiter links stehenden liberalen Gruppen müssen bei der Vergleichung freilich sich gefallen lassen, nur als Anhängsel jener geachtet zu werden; die eine von ihnen bestand ja einst aus „Sezessionisten“, und beide sind an äußerer Bedeutung nicht viel weniger, an innerer vielleicht noch mehr als die Nationalliberalen zurückgegangen. In allen Ländern sind die liberalen Parteien (oder wollen doch sein) politische Organisationen der Volksteile, die sich im Anfange der französischen Revolution noch als einheitliche Menge der Unadligen (wenn die Geistlichkeit dem Adel zugerechnet wird) fühlen durften, als der „dritte Stand“, und eben darum, nach Aufhebung der politischen Vorrechte, als „die Nation“. Im Deutschen Reiche freilich hat die katholische Kirche von vornherein einen groben Strich durch diese Rechnung gemacht. In Großbritannien hat „die Nation“ nie so abstrakt sich etabliert wie es in Frankreich und der Idee nach doch auch in Deutschland geschah; aber der Sieg des Liberalismus in der Reform-Bill, später in Aufhebung der Getreidezölle, sodann in Schaffung und Erweiterung des HaushaltungsStimmrechtes, stellte doch auch dort den Staat auf eine neue Basis, auf die Basis der modern-städtischen, der industriellen Interessen . . . Und heute? Diese in ihren Ideen überwiegend siegreiche Partei – zersplittert, verspottet, von den eigenen Führern verlassen. Mit der alten Tory-Partei, die dieser ganzen Entwickelung feindlich war, beinahe verschmolzen die alten Whigs, dazu eine Schar Neu-Liberaler, denen die irische Frage Vorwand war, sich zu Disraelis auswärtiger Politik zu bekehren – Typus Chamberlain –; beide Gruppen mit Disraelis Nachfolger in der Regierung – und wieder droht ein Flügel der „Radikalen“, wie die jetzige Opposition von der Regierungspartei meistens genannt wird, abzuspringen und ihre zerschossene Fahne zu retten im Zelte des – Imperialismus. Wenn dies sich erfüllt, so giebt es „praktisch verstanden“, wie die Engländer sagen, nur noch eine große Partei im vereinigten Königreich. Die Oppositionsgruppen sinken zu dissentierenden Sekten hinab. Es giebt keine regierungsfähige Gegenpartei mehr. Das aber wird eine Wendung von unermeßlicher politischer Bedeutung. Es ist die Krise des englischen Regierungs-Systems, das seit 200 Jahren auf der Balance der zwei Parteien beruht hat. Lord Rosebery, der vielleicht mehr ein politischer Denker als ein Politiker ist, dürfte zu den wenigen gehören, die diese Situation klar und deutlich erkennen und – für Erkennende sie aussprechen. Sein Brief vom 16. Juli an den City Liberal Club, der die Zerrüttung seiner Partei be-

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siegelt, ist merkwürdiger durch die Andeutungen jener unausweichlichen Konsequenzen. „Nicht irgend ein Führer hat die Schuld“ (an der Schwäche der liberalen Partei und an dem unversöhnlichen Zwiespalt der Meinungen, der ihr zu Grunde liegt), und es ist in keinem Sinne eine persönliche Angelegenheit. Es ist die Entwicklung unseres Reiches und der imperialistischen Stimmung während der letzten 20 Jahre, was dieses Auseinandergehen der Meinungen hervorgerufen hat . . . es kann nicht geheilt, es kann nicht einmal verschleiert werden durch einen Parteitag . . . Immerhin konnte dies als eine bloße Partei-Angelegenheit betrachtet werden. Selbst dann wäre sie, angesichts unseres Partei-Systems, ernst genug. Für mich aber ist es eine Angelegenheit von nationaler und nicht von Partei-Bedeutung, sonst würde ich mich nicht damit befassen . . . Ich glaube, die öffentliche Meinung fängt an zu spüren, daß es sich um eine Krisis in unserer Geschichte handelt, die eine grenzenlose Wirkung auf unsere Zukunft haben kann.“1 Es ist sicherlich nicht zufällig, daß der Totengräber seiner Partei vor kurzem als Autor eines Buches über – Napoleon Bonaparte aufgetreten ist. Der natürliche Erbe der liberalen Partei ist der Cäsarismus. Wesen und Wirken des Cäsarismus kann der politische Beobachter heute nicht genug studieren. Was Imperialismus als Prinzip der auswärtigen Politik, das ist Cäsarismus als Regierungsform und als Methode der inneren Politik. Die beiden sind wahrlich nicht blos ihrem Namen nach verwandt. Sie sind Krone und Schrift einer und derselben Münze. Für das Wesen des Cäsarismus ist es gleichgültig, ob er sich der Form nach auf die Traditionen eines angestammten Königshauses, ob etwa gar auf die göttliche Gnade, oder ob er, wenigstens nebenher, auf die „Volonté du Peuple“ sich beruft. Unwesentlich, ob er im Namen eines „konstitutionellen“ (eine artige Maske) Monarchen, oder ob er direkt „aus den Befugnissen der Volkstribunen“ – wie im alten Rom die Formel lautete – ausgeübt wird. Es ist sogar gleichgültig, ob die öffentliche Meinung, indem sie ihn trägt, ihn zugleich schmäht als ein Gebresten, als widerwärtigen Auswuchs

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Die „Times“ in ihrem Leitartikel vom 17. Juli gibt ihre Bewunderung für Lord Roseberys „lichtvolle Darstellung“ kund, kann aber sein praktisches Verhalten „nicht verstehen“: „Das Land“ überhaupt werde es „nicht verstehen“. Warum, wenn er über seine Stellung zum Imperialismus keinen Zweifel lasse, wenn er erkläre (wie er es thut), daß die eine oder die andere „Schule“ Oberwasser bekommen müsse, wenn je die liberale Partei wieder eine Macht werden solle, warum setze er nicht alle seine Fähigkeiten und allen seinen Einfluß ein, um jene Schule, der er selbst angehöre, siegreich zu machen? – Die Times-Schreiber zeigen hier, wie gar oft, nur lahmen politischen Verstand. Sie bezeichnen zu gleicher Zeit sein Verhalten als „geheimnisvoll“, wie man schon längst es genannt hat. Den Schleier dieses Geheimnisses zu lüften wäre ihre Aufgabe gewesen.

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der Civilisation. „Oderint, dum metuant“ ist seine Devise. Er braucht aber mehr als Furcht, er braucht den Glauben an seine Notwendigkeit. Als ein Übel will er schon gelten, wenn er nur als notwendiges anerkannt wird. Vor 100 - 150 Jahren herrschte noch unter allen politisch Denkenden Übereinstimmung, daß die stehenden Heere ein schweres Übel seien. Jetzt ist man so von der Notwendigkeit der stehenden Heere durchdrungen, daß man ihren Charakter als Übel beinahe vergessen hat. Wer sie preist als Wächter des inneren und des äußeren Friedens, ist des Beifalles sicher. Die stehenden Heere haben den Cäsarismus in ihrem Gefolge. Cäsarismus ist Militärherrschaft. Und der richtige Cäsar ist nicht blos ein Eroberer und Mehrer des Reiches, er ist zugleich der „Retter der Gesellschaft“. Man kann den Cäsarismus heute nicht genug studieren. Man kann sein Nahen, sein unvermeidliches, verhängnisvolles Heranwachsen heute beobachten im klassischen Lande der Magna Charta Libertatum.

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„Oderint, dum metuant“: Odĕrint dum metŭant (lat.). „Mögen sie (mich) hassen, wenn sie (mich) nur fürchten“, Zitat aus der Tragödie „Artreus“ des römischen Dichters Accius (2. Jahrh. v. Chr.), von Cicero und Seneca erwähnt; nach Sueton Wahlspruch des Kaisers Caligula. Quelle: Meyers Großes Konversationslexikon. nicht genug studieren: Durch Theodor Mommsen wurde der Begriff des „Cäsarismus“ als Schlagwort in der innerdeutschen politischen Debatte eingeführt. Ungeachtet einiger formaler Gemeinsamkeiten zur Diktatur Julius Cäsars handelt es sich beim Cäsarismus um ein politisches Phänomen der Moderne. Karl Marx beschrieb den Cäsarismus aufgrund seines Auftretens in Frankreich unter Napoleon III. als Bonapartismus. Magna Charta Libertatum.: Die Magna Carta (auch Magna Charta), Langform Magna Carta Libertatum (dt. „große Urkunde der Freiheiten“), ist eine von König Johann Ohneland zu Runnymede in England am 15. Juni 1215 besiegelte Vereinbarung mit dem revoltierenden englischen Adel. Sie gilt als die wichtigste Quelle des englischen Verfassungsrechts.

An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal Se hemm’n di slån, du ole Mann, Weern fiw to een – en Rasselbann’ – Keen Helper dê sick rögen. Du kreegst ni mål en Telegramm, Se hemm’n din Volk slacht as en Lamm, De Düwel harr sin Högen. Dat Lamm hett wêrt sick as en Löw, De Boer sä to Tom Atkins: Töw, Ick will di Mores liren; Doch Mores lêrt de Slüngel nich, De Boer de slog em int Gesich, De Kwin dê sick verfiren. De Kwin hett Gold in Oewerflôt, Dat Gold dat sleit de Minschheit1 dot, Denn Gold mutt mêr Gold rowen. Dat kennt keen Rech, dat kennt keen Måt, Dat seit en blodig gruse Såt, De Vriheit sall dran glowen.

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Hier = „Menschlichkeit“.

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Paul Krüger ut Transvaal: Ferdinand Tönnies, An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal, in: Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur, 8.12.1900, Heft 10, 1. Jg., Hamburg 1901, S. 303. Tom Atkins: Töw,: Tommy Atkins, in England besonders durch Rudyard Kiplings Gedichte („Barrack room ballads“) und Erzählungen volkstümlich gewordener Spitzname für den gemeinen (Fuß-) Soldaten. Der Name entstammt den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebrauchten Soldbüchern, in denen als Beispiel für die Unterschrift der Name „Thomas Atkins“ gewählt war. Vgl. Grote in der Zeitschrift „Die neueren Sprachen“, Bd. 10 u. 12 (Marburg 1903 u. 1905). Quelle: Meyers Großes Konversationslexikon.

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Doch holt! De steit nå dusent Johr Noch eens so stolt un mechti dor, Vriheit ward Gold bedwingen! Kort is dat Lewen, lang de Kunst, Un de denn lewt, de warn mit Gunst Von Buren-Vriheit singen.

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Vriheit un Eer, de ståt tosåm De bên, Oom Krüger, di Wilkåm Wilkåm mit Truerfånen! – Wi Sassenvolk, Di neeg int Blôt Wi trecken vråm un sach den Hôt Mit unnerdrückte Thrånen.

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Ferdinand Tönnies

lang de Kunst,: „Vita brevis, ars longa“, deutsch „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang“, ist die lateinische Übersetzung eines Aphorismus, der dem griechischen Arzt Hippokrates (Aph. 1,1) zugeschrieben wird. Sassenvolk: Für „die hinter einem Herren sitzen“ wurde Hintersasse als Sammelbegriff für die vom Grundherrn abhängigen Bauern gebraucht. Neben persönlich freien Hintersassen, die „nur“ wirtschaftlich und sachrechtlich zu Leistungen verpflichtet waren, existierten halb- und unfreie Hintersassen, die Hörigen, in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis.

Eine Anmerkung über Rousseau „Courbet und Millet tragen beide etwas von Rousseau’schem Geiste in sich ... jener durch seine Antipathie gegen Bildung und Hochkultur“ Momme Nissen im „Lotsen“ v. 15 April 1901 (Heft 28), S. 65. Ist das der wirkliche Rousseau’sche Geist? Für manchen Schriftsteller ist es ein Verhängnis geworden, nach seinen Jugendwerken beurteilt zu werden – die Gefahr ist um so größer, wenn einer schon durch diese Jugendwerke berühmt geworden ist. Und so ist es Rousseau ergangen; wenn auch die Wirkung seiner großen späteren Bücher gewaltig war, die Gesamtvorstellung von ihm blieb doch durch die beiden Preisschriften bestimmt, in denen er (freilich kein Jüngling mehr) die Fragen über den Fortschritt der Wissenschaften und Künste und über Ursprung und Ursachen der Ungleichheit unter den Menschen beantwortete. In ihnen überwiegt die Kritik, der Protest, die Negation. Aber sie enthalten nicht den ganzen, enthalten darum auch nicht den echten Rousseau; so wenig wie Voltaires Witz diesen erreichte, der da meinte, Rousseau wolle uns lehren, in die Wälder zurückzukehren und auf allen Vieren zu kriechen.

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Eine Anmerkung über Rousseau: Ferdinand Tönnies, Eine Anmerkung über Rousseau, in: Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur, 13.6.1901, Heft 41, 1. Jg., Hamburg 1901, S. 502-504. Momme Nissen: Gustave Courbet und Jean Francois Millet waren französische Maler des Realismus. Benedikt Momme Nissen war ein deutscher Maler und Schriftsteller. Beliebt sind Nissens Friesenbilder und Porträts, die u.a. im Ludwig-Nissen-Haus in Husum zu sehen sind. beantwortete.: Bei den beiden Preisschriften handelt es sich um: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts (Abhandlung über die Wissenschaften und Künste), Paris 1750; und um: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen), Amsterdam 1755. auf allen Vieren zu kriechen.: Aus einem Brief Voltaires an Rousseau: „Niemals hat man mehr Witz verschwendet, um Thiere aus uns zu machen. Man bekommt Lust auf allen Vieren zu kriechen, wenn man ihr Werk liest.“ In: Johann Christian von Zabuesnig (Hg.), Historische und kritische Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn von Voltaire und anderer Neuphilosophen unserer Zeiten. Zweite, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Zweiter Bd., Augsburg 1779, S. 387.

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Rousseaus großer Gedanke war, daß die „Bildung und Hochkultur“ selber zur Natur zurückführen solle. Aber nicht zu jener ursprünglichen Natur und Wildheit, sondern zu einer Natur, die ihr Gegenteil, die Kultur in sich aufgenommen habe, die auf ihr beruhe, die ihre Nahrung aus ihr sauge: er wollte eine Synthese von Natur und Kultur. Mithin hatte er es nicht darauf abgesehen, die Hochkultur abzudämmen, sondern sie noch zu erhöhen, um ihre naturwidrigen Elemente zu überwinden. Mit irgend welchem mechanischen Gleichnisse wird freilich der Gedanke nicht gedeckt; vielmehr ist die Idee einer organischen Entwicklung, und daß diese einen Kreislauf darstelle, darin enthalten. Rousseau leitet die Auflösung des Aufklärungsprogramms ein, eine Auflösung, die das geistige Leben des ganzen 19. Jahrhunderts belastet hat. Rousseau selber beharrt aber mit seiner Grundgesinnung auf dem Boden der Aufklärung und des Rationalismus. Diesem war von Anfang an die Verherrlichung der Natur, das Streben nach ihrer Wiederherstellung in den menschlichen Verhältnissen, eigen. Kaum ist es nötig, an die Worte „Naturrecht“, natürliche Theologie und Naturreligion zu erinnern. Eine halbdunkle Vorstellung wirkte überall mit, daß durch menschliche Thorheit und Bosheit die ursprüngliche Schönheit und Reinheit des Natürlichen verdorben sei, daß es also gelte, nun da man zur Vernunft komme, diese wiederherzustellen. Schon im Humanismus, dem philologischen Vorläufer der Aufklärungs-Philosophie, war diese Tendenz ausgeprägt, die sich keiner Inkonsequenz schuldig zu machen meinte, wenn sie nun im Altertum die Natur wiederfinden wollte, und in der Zwischenphase des „finsteren Mittelalters“ und der krausen Gotik deren Verderbnis – wenn sie auch nicht gerade diese als „Kultur“ charakterisierte. Thatsächlich war aber dies die empirische Kultur, worin das ganze Zeitalter seine Wurzeln hatte, auf die es sich überall hingewiesen fand und – an deren Kritik es sein Selbstbewußtsein stärkte. Was ist es denn nun, das Rousseau unterscheidet? Rousseau zerstört die Illusionen seiner Zeitgenossen. Sie wollten nicht nur selber aufgeklärt sein – wie Rousseau mit ihnen –, sie erwarteten auch alles Heil von der Aufklärung, d.h. von der intellektuellen Bildung. Rousseau heißt diese nur gut, sofern sie der Bildung des Herzens dient. Ein ehrliches Gemüt ist ihm lieber in seiner Einfalt, als ein verschlagener und zweideutiger Sinn, auch wenn er mit allem Reichtum des Wissens geschmückt wäre. Und er sieht, daß die intellektuelle Bildung für sich allein die überwiegende Wirkung hat, den Egoismus zu entwickeln, die Menschen frech und nichtswürdig zu machen. Die Aufklärung widmet sich den besitzenden Klassen und in ihnen vorzugsweise den Männern. Rousseau denkt aus der Seele des Volkes, der Kinder und der Frauen. Ih-

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nen gilt sein neues System der Erziehung. Die Kultur, die er ihnen bringen will, soll eine Veredlung der Natur sein. Er richtet die gegebene Kultur als Verleugnung der Natur. Die Zeitgenossen bejahten den gesellschaftlichen Zustand, wie er sich aus dem „finsteren Mittelalter“ entwickelt hatte und durch die Macht des aufgeklärten Absolutismus sich weiter entwickelte, die Fesseln des Feudalismus zu sprengen. Rousseau kündet die große Enttäuschung voraus, die in Gestalt der sozialen Frage daraus hervorgegangen ist. Momme Nissen sagt von seinen beiden Malern, sie seien Zwittergestalten zwischen romantischer und sozialistischer Aera. Rousseau ist keine Zwittergestalt. Er hat die Romantik, wie den Sozialismus vorbereitet und angeregt. Aber sein Herz ist sozialistisch im Sinne der großen sittlichen Empfindung und Entrüstung, die durch alle ökonomische Kritik, Utopie und Entwicklungslehre hindurchzittert. Das Studium Rousseaus ist den streitbar-friedlichen Sozialreformern unserer Tage recht sehr zu empfehlen. Den Zauber seiner Rede, dem ein Kant sich gefangen gab, werden auch sie zur Belebung ihrer Gedanken und Gesinnungen verwerten können. Die ganze noch unklare Richtung auf ethisch gestaltete Kultur, die während des letzten Jahrzehntes in allen Ländern sich bemerkbar gemacht hat, die den Bestrebungen für Volkshochschulen und Volksunterhaltungen, für öffentliche Bücher- und Lesehallen, für Haushaltungsschulen und Bildungsansiedlungen, kurz für die weltliche innere Mission zu Grunde liegt, kann sich auf Rousseau als ihren Propheten berufen. Was man auch über seinen Charakter denken möge, sein Gefühl war echt, tief und stark, und das Gefühl ist der stärkste Motor des Wollens. Geziert und sentimental, Rokoko-Stil, erscheint uns gar oft sein poetisches Beiwerk, aber immer aufs neue packt uns seine leidenschaftliche Liebe zur Wahrheit – Vitam impendere vero steht auf seinem Grabstein eingemeißelt –, sein scharfer Blick für die Schnödheiten der gesellschaftlichen Konvention, für die Geschmacklosigkeiten des Luxus, seine Begeisterung für das Landleben, für die Einsamkeit, für das Hochgebirge – Ansichten und Betrachtungen, in denen Unzählige der Neueren seinen Spuren gefolgt sind, gar Manche ohne von dem großen Vorgänger zu wissen, der in Goethes Jugend sogar Fürstinnen mit der Liebhaberei erfüllte, „zum einfältigen Wahren in allem zurückzukehren.

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Vitam impendere vero: „Sein Leben der Wahrheit weihen.“ – Aus Satire 4, Zeile 91 des Schriftstellers Juvenal. In: Ludwig Schopen (Hg.), D. Junii Juvenalis Satirae cum Commentariis Caroli Frid. Heinrichii (Karl Friedrich Heinrich), Volume I, Bonn 1839, S. 33 Zeile 91.

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Schnürbrust und Absatz verschwinden, den Puder zerstieben, die Haare in natürlichen Locken herabfallen zu lassen“. Das ist der Rousseau, dessen Ideen in der großen Revolution lebendig waren, der Revolution, die, in ihren Motiven so zwiespältig, in ihren Zielen so widerspruchsvoll, doch so Großes geleistet, zerstört und angebahnt hat. Rousseau wird von den Neueren oft in einer Weise beurteilt, die ich nur auf wesentliche Unbekanntschaft mit seinen Schriften zurückführen kann. So nennt ihn L. Stein (Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, S. 471 f.) einen genialen Wirrkopf und dilettierenden Brausekopf – und doch war Rousseau ein Schriftsteller, der recht genau die Dinge kannte und durchdacht hatte, über die er sich aussprach. Für eine gerechte Würdigung seiner Person und seiner Werke verweise ich auf die treffliche Monographie Harald Höffdings (Frommanns Klassiker der Philosophie IV).1

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Nachdem der Text geschrieben, fand ich in dem neuen Buche „Stachyologie“ (Aehrenlese) von P. J. Möbius einen hübschen Aufsatz „über Rousseaus Jugend“ ; an dessen Schlusse man einen Satz über den angeblichen Wahnsinn Rousseaus sich nicht entgehen lasse. Der philosophisch gebildete Autor ist zugleich Seelenarzt von Fach und von begründetem Ruf.

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herabfallen zu lassen“.: „Beides hatte sie erfaßt; das höchste Zeitliche fand sie im Natürlichen, und hier erinnere man sich Rosseau’scher Maximen über bürgerliches Leben und Kinderzucht. Zum einfältigen Wahren wollte man in allem zurückzukehren, Schnürbrust und Absatz verschwanden, der Puder zerstob, die Haare fielen in natürlichen Locken.“. Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich, 1792. In: Goethe’s poetische und prosaische Werke Frankreich, 1792. In: Goethe’s poetische und prosaische Werke in zwei Bänden, 2. Bd., Stuttgart und Tübingen 1837, S. 495. Siehe auch: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Campagne in Frankreich, 1792, 33. Bd., Weimar 1898, S. 231f. Frommanns Klassiker der Philosophie IV: Harald Höffding, Rousseau und seine Philosophie, in: Frommanns Klassiker der Philosophie, IV. Bd., Stuttgart 1897. Paul Julius Möbius, Über J. J. Rousseaus’s Jugend. In: Stachyologie. Weitere vermischte Aufsätze, Leipzig 1901, S. 57-88. Der Satz lautet: „Also in Summa, Rousseau war zwar eine krankhafte Natur, aber nicht alles bei ihm ist krankhaft, zieht man das Krankhafte ab, so bleibt ein guter liebenswerter Mensch zurück ...“, a.a.O. S. 88.

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Otto Kallsen Das Leben eines emeritierten Schulmannes wird nicht leicht die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen; darum bleibt auch der Abschluß eines solchen Lebens zumeist unbeachtet. Und doch sind zuweilen die Wirkungen, die von diesen stillen Persönlichkeiten ausgegangen sind, wenn nicht an Umfang, so doch an Tiefe bedeutender, als diejenigen mancher der am lautesten Gepriesenen. Am 21. Februar 1901 starb in Altona Professor Dr. Otto Kallsen, nachdem er kurz zuvor das achtzigste Lebensjahr angetreten hatte. In Altona, wo er die letzten dreizehn Jahre seines Lebens zugebracht hat, war er auch geboren (am 31. Januar 1822); doch hat er sich immer als Hamburger Kind gefühlt; denn in der alten Vorstadt St. Pauli, nahe dem Hafen lagen die Stätten seiner Jugendspiele. Der Vater, ein Altonaer Schiffskapitän, aus Angeln gebürtig, war seit der Sturmflut des Jahres 1825 verschollen; die Witwe (geb. Lehmkuhl, von der Altonaer Schiffswerft stammend,) siedelte dann mit ihren sechs Kindern nach Hamburg über; Otto, der zweitjüngste ihrer fünf Söhne, war zuerst für ein edleres Handwerk bestimmt: der zu jener Zeit durch Meisterarbeiten weithin bekannte Goldschmied van Holten (Vater des Altonaer Professors der Musik) wollte ihn in die Lehre nehmen. Holten aber, der ein Freund des Hauses war, erkannte, daß in dem begabten und bücherliebenden Knaben etwas anderes stecke; und

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Otto Kallsen: Ferdinand Tönnies, Otto Kallsen, in: Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur, 3.8.1901, Heft 44, 1. Jg., Hamburg 1901, S. 591-597. Otto Kallsen war Konrektor und Lehrer Tönnies’ an der Husumer Gelehrtenschule. „Ihm widmete Tönnies 1901 aus Anlass des Todes seines alten Lehrers einen würdevollen Nachruf ...“ (Uwe Carstens, Lieber Freund Ferdinand, Die bemerkenswerte Freundschaft zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tönnies, Norderstedt 2008, S. 29). Jahres 1825 verschollen;: Die Februarflut von 1825, in Deutschland auch Große Halligflut genannt, war eine Flutkatastrophe vom 3. bis 5. Februar 1825 an der gesamten deutschen, dänischen und niederländischen Nordseeküste sowie im unteren Weser- und Elbegebiet, sowie deren Nebenflüssen, bei der etwa 800 Menschen ertranken und sehr schwere Schäden entstanden. Conversations-Lexikon, Band 10, Brockhaus, Leipzig 1836, S. 760-761. Goldschmied van Holten: Gemeint ist der Goldschmied Carl Peter von Holten.

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so wurde der konfirmierte Jüngling noch ein Schüler des Christianeums, wo er, durch die Wolf’sche Privatschule gut vorbereitet, seinen Lauf bis zur Reife für die Universität löblich beendete, um dem Studium der Philosophie und Geschichte obzuliegen. So einfach der Gang seines Lebens gewesen ist, so gewährt er doch ein Bild der Geschicke des engeren und größeren Vaterlandes, die es nahe berührten und vielfach bedingten. Seine Lehrer, waren Nitzsch, Waitz, Droysen, Chalybaeus, Ritschl, Welcker, Dahlmann, Männer von allgemeiner und deutscher Bedeutung; drei von ihnen gehörten der Paulskirche an. Kallsen wurde in Bonn ein eifriger und begeisterter Burschenschafter. In jenen „vormärzlichen“ Tagen hatte überall die Burschenschaft einen neuen Aufschwung genommen. Deutsche Einheit, deutsche Volkskraft, deutsche Freiheit – diese Ideen erfüllten wieder die Herzen der Jugend. Das Jahr 1848 entfachte diese Glut zur leuchtenden Flamme. Die Bewegung in Schleswig-Holstein bildete die Vorhut der entbrennenden Kämpfe. Kallsen, obwohl schon älterer Student in Kiel, zog mit der unbesonnen-heroischen Schar, die bei Bau ihre Hoffnungen zertrümmert fand; er gehörte zu den Wenigen, die dem Schicksal der Gefangenschaft auf „Dronning Marie“ entgangen sind.  1 10

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Schüler des Christianeums: Humanistisches Gymnasium Christianeum in Hamburg. Die „Wolf’sche Privatschule“ konnte nicht ermittelt werden. gehörten der Paulskirche an.: Karl Wilhelm Nitzsch habilitierte sich 1844 und wurde Privatdozent der Geschichte an der Kieler Universität. Im Herbst 1848 wurde er außerordentlicher und 1858 ordentlicher Professor für Geschichte. Georg Waitz war ein deutscher Rechtshistoriker und Mediävist. Er ist einer der bekanntesten Herausgeber historischer Quellen zur deutschen Geschichte. Johann Gustav Bernhard Droysen war ein bedeutender deutscher Historiker und Geschichtstheoretiker. Heinrich Moritz Chalybäus war ein deutscher Philosoph. Als Hochschullehrer vertrat er den Hegelianismus und den Theismus. Friedrich Wilhelm Ritschl war ein deutscher Klassischer Philologe, der als Professor in Halle (1829–1833), Breslau (1833–1839), Bonn (1839–1865) und Leipzig (1865–1876) wirkte. Er gilt als Begründer der Bonner Schule der klassischen Philologie, die sich vornehmlich der Textkritik widmete. Sein wohl bekanntester Student, in Bonn sowie in Leipzig, war Friedrich Nietzsche, dessen akademische Laufbahn er besonders förderte. Friedrich Gottlieb Welcker war ein deutscher klassischer Philologe und Archäologe, der als Professor in Gießen (1809–1816), Göttingen (1816–1819) und Bonn (1819–1868) wirkte. Friedrich Christoph Dahlmann war ein deutscher Historiker und Staatsmann. neuen Aufschwung genommen.: Vormärz ist eine nachträglich aufgekommene Bezeichnung für eine Epoche in der deutschen Geschichte, die die Jahre vor der Märzrevolution von 1848 beschreibt. bei Bau: Bau ist ein Dorf im preußischen Regierungsbezirk Schleswig, Landkreis Flensburg. Hier siegten die Dänen unter v. Hedemann am 9. April 1848 über die SchleswigHolsteiner unter v. Krohn. entgangen sind.: Während des Deutsch-Dänischen Krieges 1848 bis 1851 hielten die Dänen rund 1000 Soldaten und Freischärler an Bord der ausgemusterten Schiffe „Dronning Marie“ und „Waldemar“ im Hafen von Kopenhagen gefangen.

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II. Schriften

„Und leuchtet einst auf Berg und Fluren Der neue gold’ne Tag herein, O Vaterland, laß an dem Tage Uns unter deinen Söhnen sein. Laß uns im Kampf um deine Freiheit Mit in den ersten Reihen stehn, Und laß nach langem, schwerem Mühen Die Siegesfahnen um uns wehn.“ So hatte Kallsen im Juli 1846 ein Lied beschlossen, das er „der deutschen Burschenschaft“ widmete. Er ist ein Typus der Generation, die, nachdem Jugendstürme verrauscht waren, in den Jahren 1866 und 1870 ihre Sehnsucht erfüllt fand und das deutsche Kaisertum als Barbarossas Erwachen mit einem Jubel begrüßte, der sie vergessen ließ, was von den Blütenträumen der Jugend nicht gereift war – und sogar von harten Füßen zu Boden getreten wurde. Indessen blieb Kallsen, obgleich sich immer zur nationalliberalen Partei haltend, doch ein Liberaler im älteren und höheren Sinne, in Bezug auf den Staat, wie auf die Kirche. Das lange schwere Mühen hatten die Schleswig-Holsteiner bitterer als die übrigen Deutschen zu tragen – sechzehn Jahre des Hoffens und Harrens, des Sieges und der Niederlage, des Getäuscht- und Verratenwerdens, des „Lengens“ und Leidens. Kallsen, dessen treues Herz an diesen Ereignissen lebendigsten Anteil nahm – „Trauerlieder über den Waffenstillstand von Malmö“ nennen sich Gedichte, die er damals als Flugblatt drucken ließ – bestand mitten in der aufgeregten Zeit sein Examen für das höchste Schulamt und erwarb (im April 1849) das Doktor-Diplom der Kieler philosophischen Fakultät (es ist ihm im Januar 1900 in ehrenvollster Weise erneuert worden). Noch im Jahre 1849 wurde er beim Rendsburger Gymnasium angestellt, von da 1853 nach Meldorf und 1859 als „Kollaborator“ nach Plön versetzt. In dieses Jahr fällt auch seine Vermählung mit Christine Schenck, einer Tochter des damals angesehenen Advokaten Schenck zu Elmshorn, dessen Bruder der berühmte Pariser Tiermaler August Schenck war (er ist Kallsen um wenige Wochen im Tode vorangegangen). Kallsens Ehe, die kinderlos blieb, ist (wie es zuweilen vorkommt) nur um so mehr ein Bund enger persönlicher Freundschaft geworden. Das Jahr 1864 brachte durch seine Folgen auch in das stille Leben des Ehepaares eine Wandlung. Kallsen erhielt im Herbste einen ehrenvollen Ruf als Konrektor an die neu begründete Gelehrtenschule zu Husum, die älteste des Landes, von dem Vikar Hermann Tast, dem ersten Verbreiter der Reformation in den Herzogtümern, ins Leben gerufen; da sie von der dänischen Restaurations-Regierung 1850 aufgehoben (in eine höhere

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Bürgerschule umgewandelt) wurde – denn an einer rein deutschen Gelehrtenschule im Herzogtum, der Schleswiger Domschule, schien es mehr als genug zu sein –, so war es einer der ersten Entschlüsse der provisorischen Regierung von 1864, sie wiederherstellen und ihr an dem oldenburgischen Hofrat Wilhelm Gidionsen einen trefflichen, geistvollen Leiter zu geben. Mit Gidionsen hat Kallsen bis zu dessen Abgange nach Schleswig (1870) freundschaftlich zusammengewirkt; dann trat an Gidionsens Stelle ein Studienfreund Kallsens, Karl Heinrich Keck, gleichfalls ein Mann von bekanntem Namen im Lande und darüber hinaus (der Biograph Edwin Manteuffels). Die beiden Rektoren nahmen 1887 zusammen ihren Abschied. So ist unser Freund volle zweiundzwanzig Jahre in Husum thätig gewesen, sein ganzes Herz hat der Schule gehört, deren neues Gebäude er 1867 mit kraftvoll-freudigen Versen begrüßte. „Diese Schule war meine Welt, noch ehe ihr geboren waret“, rief er den Schülern zu, die ihm und dem scheidenden Kollegen 1887 mit einem Fackelzuge huldigten. „Mein Können und Wollen habe ich ihr gewidmet, eine lange Reihe von Schülern ist an mir vorübergegangen, jetzt weit verstreut über das ganze Land, viele in Amt und Würden; mit allen verbindet mich die Erinnerung eines pietätvollen Zusammenlebens und das für mich erhebende Gefühl, sie hineingeführt zu haben in eine Welt unvergänglicher Schönheit, wie sie in den Werken alter und unserer eigenen großen Dichter lebt, sie hineingeführt zu haben in die wechselnden Geschicke der antiken Völker und unseres deutschen Vaterlandes.“ In diesen Worten lebt seine ganze Seele. Kallsen war ein echter Idealist, als Mensch und als Lehrer. Die Dichtung steht ihm obenan. Sie war ihm eine treue, holde Begleiterin durch das Leben. Noch in seinen letzten Tagen hat er Homer in der Urschrift und die Nachlese zu Schillers Werken fleißig gelesen. Er selber besaß ein dichterisches Gemüt und die lebhafte Neigung wie schöne Fertigkeit, sich in Versen auszudrücken. Von frühester Jugend an hat er, vorzugsweise in Gelegenheitsgedichten, dieses Talent geübt. Von seinem Liede an die Burschenschaft und von anderen Zeitgedichten ist schon Erwähnung geschehen. Daß das Jahr 1870 seine Muse nicht schlafen ließ, wird man leicht verstehen.

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(der Biograph Edwin Manteuffels).: Karl Heinrich Christian Keck war ein deutscher Schriftsteller und Schulleiter. Edwin Karl Rochus Freiherr von Manteuffel war ein preußischer Generalfeldmarschall. Karl Heinrich Keck, Das Leben des Generalfeldmarschalls Edwin v. Manteuffel. Bielefeld / Leipzig 1890.

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II. Schriften

„Lasset alle Fahnen wehen, Zündet alle Kerzen an, Denn ein Großes ist geschehen Und gelöst ein Zauberbann“ – so begann er eine Reihe von Strophen, die, gleich nach der Übergabe Straßburgs verfaßt, im „Husumer Wochenblatt“ gedruckt, bald nachher auch komponiert und in einem Männergesangverein gesungen wurden. Und nach dem Falle von Paris brachte er bei festlichem Mahle in warmer Begeisterung seinen schöngereimten Trinkspruch „Dem Kaiser“ – „dem Heere“ – „dem Völkerfrieden“. – Außer diesen großen Gelegenheiten hat aber seine Muse gar vielen kleineren liebreich gedient. Schier unerschöpflich war sie in anmutigen, sinnigen Versen, immer voll Taktes und freundlichen Humors, ein Spiegel seines Wesens, mit dem er der zärtlichste Sohn, der liebreichste Ehemann, der treueste Bruder, Schwager, Oheim und Freund gewesen ist. Durch sinnigen Scherz und zierlichen Witz, der sich auch gern in improvisierten Knittelversen betätigte, war er der belebendste Gesellschafter: hingegeben und doch maßvoll, launig und nie launisch, Stimmung machend, nie verstimmend; als einer der „Gemütlichen“ immer herzlich geschätzt, zumal wenn alte Schleswig-Holsteiner zusammenkamen. Auch war er ein Kenner und Bewunderer edler Musik, in jüngeren Jahren hat er das Cellospiel thätig ausgeübt. In den hamburgischen Konzerten, vor und nach Bülows Zeit, war er ein emsiger Zuhörer. Musik und Freundschaft verbanden ihn mit Pius Warburg. Mit seiner dichterischen Gabe und Gesinnung hängt sein Lieblingsstudium zusammen, dem er den echten Gelehrtenfleiß eines langen Lebens gern und fruchtbar geschenkt hat, das Studium der Geschichte. Seine Kenntnisse auf diesem Gebiete waren so gründlich als mannigfach und ihm immer gegenwärtig. Sie gingen bis in kleinstes Detail z.B. der Kriegsgeschichte hinab, der er ein besonderes Interesse zuwandte, ganz entgegen seiner friedfertigen Natur, aber vielleicht im Zusammenhange mit seiner Vorliebe für das Schachspiel, dem er viele Stunden gewidmet hat. Der Ge23

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ein emsiger Zuhörer.: Hans Guido Freiherr von Bülow war ein deutscher Klaviervirtuose, Dirigent und Kapellmeister des 19. Jahrhunderts. Er gastierte u.a. in Hamburg, wo ein eigens für ihn geschaffenes Orchester gefeierte Abonnementskonzertreihen veranstaltete, wo er aber auch als Operndirigent wirkte. Seine Ehefrau Cosima, die uneheliche Tochter Franz Liszts, ließ sich 1870 von Freiherr von Bülow scheiden und heiratete im gleichen Jahr Richard Wagner. Pius Warburg.: Pius Warburg war ein deutscher Bankier, Kunstsammler und Mäzen. In seinem Haus in der Palmaille, das sich zum Zentrum des künstlerisch-gesellschaftlichen Lebens in Altona entwickelte, empfing er prominente Gäste wie Ferdinand Tönnies sowie Johannes Brahms und Cornelius Gurlitt.

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schichte gehörte auch seine schriftstellerische Thätigkeit vorzugsweise an. Die Geschichte der Husumer Schule, die er als Schulprogramm 1869 herausgab, ist leider Bruchstück geblieben. In den siebziger Jahren erschienen in der Buchhandlung des Halle’schen Waisenhauses „Bilder aus der Weltgeschichte, für das deutsche Volk dargestellt von H. Keck, O. Kallsen, A. Sach“. Darin hat Kallsen „Bilder aus dem Mittelalter“ (1875), die Bände „Friedrich Barbarossa“ und „Das Zeitalter der Revolution“ (1877) bearbeitet, Muster einer schlichten, volkstümlichen Erzählung. An sein geschichtliches Lebens- und Liebeswerk machte sich aber Kallsen erst, nachdem er dem „Lärme der Scholien“ (mit Klopstock zu reden) sich entzogen hatte und in den „Ruhestand“ getreten war, der in den ersten Jahren ein Stand heißer Arbeit für den bald siebzigjährigen Mann geworden ist. Denn wenn er bisher seine Bekanntschaft mit der neueren historischen Litteratur nicht so, wie er wünschte, hatte erweitern können, so suchte er nunmehr mit unverdrossener Emsigkeit, durch Benutzung der Hamburger Kommerzbibliothek, nachzuholen, was ihm zur Ausarbeitung seiner „Deutschen Städte im Mittelalter“ notwendig schien. Umfangreichste Kollektaneen und Exzerpte zeugen von seiner treuen Arbeit, deren Frucht als erster Band „Gründung und Entwicklung der deutschen Städte im Mittelalter“ (Halle a. S., 1891) ans Licht getreten ist. Leider hat ein nervöses Herzleiden später seinen Eifer gehemmt und die Vollendung des zweiten Bandes nicht zugelassen; er gedachte mit diesem ausstehenden Bande „einen Blick in das Innere der Städte zu thun und das Leben und Treiben unserer mittelalterlichen Vorfahren zu schildern“. Das Buch aber, das er uns geschenkt hat, ist eines der liebenswürdigsten Bücher von dieser Art. Er wollte es nur als „einen Versuch“ angesehen wissen, dem Leser „auf Grund der vielen vorliegenden Forschungen das Wissenswerteste von unseren mittelalterlichen Städten vorzuführen“. Ich urteile darüber nicht als Fachmann; hin und wieder mag die kritische Strenge daran vermißt werden. Aber als ein Volkslesebuch höherer Art ist es – man darf sagen: köstlich; meines Wissens ist ein Werk, das den Gegenstand in so umfassender Monographie behandelt, sonst nicht vorhanden. Es verfolgt in sechs großen Kapiteln „Unsere ältesten Städte“, „Die Städte aus der Zeit der Merowinger und Karolinger und der Sachsenzeit“, „Zur Zeit der Salier“, „Zur Hohenstaufenzeit“, endlich „Im Ausgange des Mittel 8 16 20

volkstümlichen Erzählung.: Heinrich Keck, Otto Kallsen und August Sach (Hg.), Bilder aus der Weltgeschichte: Für Das Deutsche Volk, Halle 1875. Hamburger Kommerzbibliothek: Die Hamburger Commerzbibliothek gibt es seit mehr als 275 Jahren und ist die älteste private Wirtschaftsbibliothek der Welt. (Halle a. S., 1891): Otto Kallsen, Die deutschen Städte im Mittelalter, I. Gründung und Entwicklung der Städte, Halle 1891.

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alters“. Aus der ganzen Darstellung spricht, was nach Goethe „das Beste ist, was wir von der Geschichte haben“: der Enthusiasmus, den sie erregt. Kallsen sah die Geschichte der Städte nicht im Lichte romantischer Verklärung, aber ein Glanz der Poesie und Ehrfurcht weckender Großheit war ihm doch über diese Vergangenheit ausgebreitet. Die Sympathie mit dem stolzen politischen Bürgertum giebt sich überall kund; „welche Beweggründe auch immer die zähen, trotzigen Männer der Vorzeit geleitet haben mögen, unvergessen soll es ihnen doch bleiben, daß die erste selbständige That des Bürgertums ein Auftreten für Kaiser und Reich gewesen ist“ (S.  310). Darum treten die freien Reichsstädte in den Vordergrund, der im Gemälde der „mittelalterlichen Herrlichkeit“ (S.  669) ihnen gebührt; der Geschichtschreiber geleitet sie bis an die Schwelle der neueren Epoche. „Nur drei haben sich in unsere Zeit hinübergerettet, altehrwürdige Hansestädte, um Gedenken einer großen Vergangenheit rüstig schaffend an den Aufgaben der Gegenwart, erfüllt mit nationalem Geist, das Haupt der Hansa und die beiden Führerinnen des überseeischen Handels, Juwelen im Kranze der deutschen Städte“ (S. 670). Der Gründung und Entwicklung Hamburgs, der „thatkräftigen Stadt“ (S.  137), sind im zweiten Kapitel vierzehn Seiten gewidmet, die von der Liebe zur Vaterstadt kräftiges Zeugnis geben. Die Beschäftigung mit der Weltgeschichte, zumal wenn sie der Kulturentwicklung vorzugsweise sich zuwendet, begünstigt den Zug zur allgemeinen Bildung. Denn welche Richtung des Menschengeistes, welcher Fortschritt des Wissens, welcher Glanz der Kunst und Litteratur hat nicht seine historische Bedeutung? hat nicht, im Rahmen der allgemeinen, seine besondere Geschichte? Kallsen war kein „Philologe strikter Observanz“, mit Ausbesserung alter Schrifttexte, wenn er sie auch nicht geringschätzte, hat er sich wenig befaßt. Aber er war ein Humanist im rechtesten Sinne: Denken und Wissen, Forschen und Lernen stand für ihn im Dienste der menschlichen Veredlung, der Befreiung von dem, „was uns alle bändigt“, der Erhebung zu guter und schöner Gesinnung. Mit diesem Idealismus blickte er auf die Griechen. „Das Zeitalter des Perikles“ schaute er mit beständiger Liebe und Freude an. Die Geschlossenheit, Ganzheit und  2

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der Enthusiasmus, den sie erregt.: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.“ Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen (1993: Nr. 1255). Siehe dazu auch TG Band 22, S. 5. „was uns alle bändigt“: „Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine, lag, was uns alle bändigt, das Gemeine“. Diese Verse bilden den Schluss der 4. Strophe des goetheschen Gedichts „Epilog auf Schillers „Glocke““, das bei der Gedenkfeier für Schiller am 10.8. 1805 in Bad Lauchstädt bei Weimar vorgetragen wurde. Vgl. dazu Goethe 1998: Bd. 1, S. 257 und TG Band 23,2 S. 27, Kapitel VI.

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Harmonie des Lebens, wie sie in der Thukydideischen Leichenrede des großen Polisführers sich stolz verkündet, war auch für ihn einer der Gipfel der Kultur, die man nicht nur als Aussichtspunkte, sondern auch um freie Höhenluft zu atmen, von Zeit zu Zeit im Geiste ersteigen mag. „Sophokles ein Vertreter seines Volkes auch in politischer Hinsicht“, ist das erste Schulprogramm Kallsens (Rendsburg 1850) betitelt. Dieses „auch“ bezeichnet seinen Sinn. Um den ganzen Menschen war es ihm immer zu thun. Auch beschränkte sich seine Sprachbildung und Litteraturkenntnis nicht auf die Antike. Mit gleicher Liebe war er, obgleich in seiner Jugend noch nicht von moderner Philologie die Rede war, dem englischen und französischen Schrifttum zugethan. Obgleich er nie im Auslande gelebt hatte, wußte er in beiden Sprachen mit großer Fertigkeit sich auszudrücken. Nicht nur die Historiker las er in ihrer eigenen Sprache; zu seinen Lieblingen gehörte Molière. Ein Plöner Schulprogramm von 1862, leider Fragment geblieben, behandelt mit einer Eleganz, die dem Gegenstande angemessen ist, „die französische Salonlitteratur im siebzehnten Jahrhundert“; die spanischen Einflüsse werden darin untersucht, die Romane der Scudery, die Briefe Voitures sorgsam betrachtet. In einem (früheren) Meldorfer Programm hatte Kallsen die ersten 3 Akte von Corneilles Cid übersetzt (1856). Daß der Treffliche auch in den deutschen Dichtern unserer klassischen Periode lebte und webte, braucht kaum noch hervorgehoben zu werden. Vielleicht am meisten wußte er durch jene Sympathie, die auf Verwandtschaft der Seele deutet, zu Schiller sich hingezogen. „Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an, wenn man den sichern Schatz im Herzen trägt“ – diesen Vers fand ich in einem Sammelhefte seiner letzten Jahre, mit dem Zusatze: „ist einer meiner Lieblingssprüche aus Schiller“. – Kein Wunder, daß die historischen Dramen Schillers ganz besonders sein Interesse an sich fesselten. Wenn er ohnehin eine große Liebe für die Kunst der Bühne hegte, so waren die großen Stoffe der neueren Geschichte seinem Herzen und seiner Anschauung immer nahe, und der erhabene Sinn, das gedankenvolle Pathos, wodurch Schiller diese Stoffe belebt, entsprachen seinem eigenen Verhältnisse zu den großen Ereignissen und Gestalten der Vergangenheit. Eine Ausgabe klassischer deutscher Dichtungen „mit kurzen Erläuterungen für Schule und Haus“ (die K. H. Keck ins Leben rief) brachte als zweiten Teil Schillers Wilhelm Tell. Von Prof. O. Kallsen (Gotha, 20

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Corneilles Cid übersetzt (1856).: Die französische Salonlitteratur im siebzehnten Jahrhundert, von Dr. O. Kallsen, in: Programm der Ploener Gelehrtenschule, Ploen 1862, S. 3-36. Lieblingssprüche aus Schiller“.: Friedrich Schiller, Wallenstein, ein dramatisches Gedicht, Frankfurt und Leipzig 1800, S. 166.

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Perthes 1884) – „Es auszuwählen,“ sagt er im Vorworte, „lag nahe; giebt es doch kein zweites deutsches Drama, das der liebevollen Verehrung der Nation würdiger wäre; denn von dem Zusammenbruch des römischen Reiches deutscher Nation an bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Reiches hat es bei allen wechselnden Geschicken des Vaterlandes seine mahnende und begeisternde Prophetenstimme erhoben“; „das machtvolle Drama, welches mit seinen unvergänglichen Versen in ewiger Jugend blüht“, so schließt die gelehrte und feinsinnige Einleitung. Was Kallsen als Lehrer, zumal als Lehrer der Geschichte und der deutschen Litteratur gewesen, daran mögen diese Zeilen manchen dankbaren Schüler erinnern. Erst der im Leben Erfahrene erkennt oft, was er an den Bildnern seiner Jugend besessen. Und wer zu vergleichen und zu unterscheiden weiß, wird das Harmonische seines Wesens, die Redlichkeit seines Wollens, die ideale Richtung seines Geistes höher zu schätzen lernen, als manche glänzendere Eigenschaften Anderer. Es gehörte zu der eigentümlichen Tragik, die in unserer Zeit einem reinen Streben nicht leicht ferne bleibt, daß durch die Folgen von Ereignissen, die ihm das Sehnen seiner Jugend verwirklichten, die Freude am Berufe ihm getrübt wurde. Der neue Zug, der durch das preußische Regiment in die alten Gelehrtenschulen unseres Landes gebracht wurde, widerstand seinem Naturell und seinen Überzeugungen; er sah darin eine Tendenz zur Veräußerlichung, zum Scheinbaren, zur Mechanisierung. Wahrscheinlich ist allerdings, daß diese ganze Entwickelung, wie immer sie unmittelbar auf das „Schülermaterial“ wirken möge, mittelbar wenigstens den bestbegabten und lernbegierigsten Knaben dadurch etwas Unersetzliches nimmt, daß die den Typus des frei und hochgesinnten Lehrers, den Kallsen repräsentiert, nicht leicht mehr aufkommen und durchdringen läßt.

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Ein merkwürdiger Zufall, daß das längste Regnum in Großbritannien – das Wort „Regierung“ ist auf die Thätigkeit der Dynastie nicht anwendbar – fast genau mit dem Ende des Jahrhunderts seinen Ausgang nahm. Mit dem Namen der Königin Victoria, mit dem Begriffe der Victorian Era waren und sind für den heutigen Engländer das Bewußtsein seines unendlich vermehrten Reichtums, die Idee seiner unermeßlich vergrößerten Weltmacht innig, man darf sogar sagen, herzlich verbunden. Ein merkwürdiger Zufall, daß diese beiden Epochen-Einschnitte zusammenfallen mit einem dritten: mit einer Krisis des englischen Staates von solcher Tiefe, und der allgemeinen Empfindung davon, wie trotz Napoleon, trotz Chartismus und Feniertum die letzten drei Menschenalter eine gleiche nicht gekannt haben. Zwar die Handelskrise, die um Mitte des Jahres 1900 einsetzte, ist ihrem Wesen nach nicht britisch, sondern europäisch; auch ist sie noch in ihren Anfängen; sie scheint sogar in Großbritannien bisher schwächer entwickelt zu sein als im Deutschen Reiche; wie weit sie sich steigern, wie akut sie verlaufen wird, kann man nicht voraussehen; von der englischen Herrschaft über den „Rand“ kann Europa, kann England vor allem sel­ ber eine starke Belebung seines Handels mit Grund erwarten, wenn sich auch bald erweisen dürfte, daß die Vermehrung der Umlaufmittel immer nur den Wert einer Inflation der produktiven Thätigkeiten haben kann, Wirkungen, die sich bald verzehren und mit schädlichen Störungen des Gleichgewichts in Volks- und Staatshaushalt verbunden sind ....  1

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Die Krisis des englischen Staatswesens: Ferdinand Tönnies, Die Krisis des englischen Staatswesens, in: Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur, 26. Oktober 1901, Heft 4, II. Jg., Hamburg 1901, S. 97-102, (2. Teil) 132-138 und (3. Teil) 185-189. nicht gekannt haben.: Die Chartisten sind die erste politische Arbeiterbewegung in Großbritannien, die nach der für die lohnabhängigen Arbeiter enttäuschend ausgefallenen Wahlrechtsreform von 1832 entstand und nach der 1838 von W. Lovett (London Working Men’s Association) formulierten „People’s Charter“ benannt wurde. Fenĭer (Fenians), Name eines über Großbritannien und Nordamerika verbreiteten Bundes, der sich die Losreißung Irlands von England und seine Umwandlung in eine unabhängige Republik zum Ziele setzte.

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Bedenklicher als die allgemeine Handelskrise scheint der aufmerksamen kritischen Wahrnehmung die durch den wirtschaftlichen Aufschwung des letzten Jahrfünftes kaum verhüllte, spezielle Krisis der ältesten und größten Stapelindustrie Englands, der Baumwolle. – „Cotton is King“, der Satz hat beinahe den Rang eines alten Sprichwortes bekommen, aber dieser Königsthron der britischen Ware ist, wie mancher andere, wackelig geworden. „Der eine Punkt von Bedeutung, der einen recht bedenklichen Charakter hat, ist die fortgesetzte Verminderung in der Abnahme unserer Garne durch den Kontinent ... es ist eine Thatsache, daß das Ausland vorzuziehen scheint, Garn für seine eigenen Bedürfnisse zu erzeugen, anstatt seine Vorräte von uns zu kaufen, wie ehemals“, schreibt der „Economist“ in seinem Jahresbericht über das Geschäft des Jahres 1900 (16. Februar 1901). In der That hat der Wert des Exports baumwollener Garne und Twiste der für 1885 auf 11865294 £ berechnet wurde, in dem sonst glänzenden Jahre 1899 nur noch 8058866 £ betragen. Die Gesamtzahl der in der Baumwoll-Industrie beschäftigten männlichen Personen war 1890 noch 208187, 1897 nur noch 199576, die der Frauen hat freilich von 320608 auf 327647 sich gehoben, aber die Gesamtzahl zeigt eine Verminderung um 1572 Personen, trotz der Hochkonjunktur dieser letzten Jahre. Der Zusammenhang der politischen Krisis mit der allgemeinen wirtschaftlichen Entwickelung ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, wie handgreiflich auch der Krieg in Südafrika und die Eroberung der Goldfelder neben einander liegen. Unvermittelt scheint dieser das sittliche Gefühl verletzende Einfluß wirtschaftlicher Interessen auf die auswärtige Politik, aus den Umständen entsprungen zu sein, die so plötzlich Millionen gieriger Augen auf die Millionen glitzernden Metalles lenkten, das in einem sonst armen und dünn bevölkerten Lande die Eingeweide der Erde bergen. Und doch war dies nur einer jener Zwischenfälle, die als Gelegenheits-Ursachen schlummernde oder doch langsam fortschreitende Tendenzen entbinden und in wirkungsvollste Richtungen führen. Es ist unter den Engländern eine beliebte und übliche Rede geworden, das Wachstum des Imperialismus unter ihnen als eine rein sentimentale und sozusagen ideale Angelegenheit darzustellen. In der vorigen Generation habe man auf die Kolonieen wenig Wert gelegt, ihre volle Unabhängigkeit als ziemlich gleichgültig, wenn nicht gar als erwünscht betrachtet; jetzt aber – und dann folgen Text und Weise Rudyard Kiplings Ausfluß einer Begeisterung, die man praktischen Geschäftsleuten immer noch ab-

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(16. Februar 1901).: „VII - Textiles.“ In: Economist (London, England), 16 Feb. 1901, Page 28 ff.

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zustreiten oder doch anzuzweifeln pflegt, obgleich nachgerade in allen Ländern von dem Patriotismus der großen Industriellen, großen Kaufherren und Bankiers ihre feuer- und diebessicheren Gewölbe widerhallen – der Zweifel benagt eben heutzutage alles .... Dies Zugeständnis wird jedenfalls der Zweifel sich erzwingen können, daß zu allen, ganz besonders aber in neueren Zeiten viele Begeisterungen nicht wenig affektirt gewesen sind und daß ihre Erhabenheit oft auf eine häßliche Vermischung mit der unter dem Namen des Schwindels berüchtigten Form des Massenbetruges nicht ungern und nicht ohne blendende Erfolge sich eingelassen hat – ja der kritische Beobachter wird gegen alle Arten einer lauten und auflodernden Begeisterung reserviert und mißtrauisch, wenn nicht mit eisiger Kälte sich verhalten, wissend, daß die Begeisterung für das Schöne und Gute, die er allein als echt anerkennen wird, ein sachtes und heimliches Feuer ist, wie die Flamme des häuslichen Herdes. Doch „wehe, wenn sie losgelassen“ ... Wehe dann dem Unechten, wehe dem Niederträchtigen! (cfr. Boeren, cfr. alle früheren Kämpfe pro aris et focis!) Genug, England ist begeistert für den Imperialismus. „Imperialismus ohne Klammern“ verkündete seinen Getreuen neulich der Staatsmann aus Birmingham, „nicht als etwas, das, ohne den Sinn zu verändern, auch ausgelassen werden könnte, nein, als der wahre Sinn und Inhalt unserer ganzen Politik“ ... Die Begriffe Tory – Protektionismus – Eroberungspolitik auf der einen Seite – Liberalismus – Freihandel – Beschränkung auf innere Angelegenheiten und Reformen auf der anderen – sie decken sich hüben und drüben nicht, auch steht die eine Gruppe nicht zur anderen in unversöhnlichem Gegensatze. Aber die Beziehungen sind doch auf beiden Seiten die einer innigen Wahlverwandtschaft, und die starke Betonung der einen Gruppe wirkt wie ein emporschnellendes Gewicht auf das andere Ende des Wagebalkens ... Herr Chamberlain ist aus einem Radikalen ein „Unionist“, dem Effekte nach – denn so stark ist die Tradition noch – ein Tory geworden.

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pro aris et focis!): „wehe, wenn sie losgelassen“ ... Das Lied von der Glocke, in: Friedrich Schiller, Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Karl Goedeke (Hg.), 11. Theil. Gedichte. Stuttgart 1871, S. 310. Pro aris et focis, d.h. für Altar und Herd, sagt man nach dem Beispiele der alten Römer, dass die Verteidiger des Vaterlandes gegen fremde Unterdrücker desselben kämpfen. „cfr.“ steht für „vergleiche“. Boere oder Bure bedeutet Bauer.

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Herr Chamberlain nahm, wie andere, die unausgereiften Home-RulePläne Gladstones zum Vorwande des Abfalles von allen liberalen Prinzipien. Herr Chamberlain ist ein Industrieller und Kaufmann. Sein Interessen- und Ideenkreis ist der Interessen- und Ideenkreis eines typischen englischen Bourgeois. Die seit der Krise der siebziger Jahre angewachsene Unzufriedenheit der Fabrikanten mit der ausländischen, zumal der deutschen Konkurrenz, hat in diesem nicht viel über-mittelmäßigen, aber derben und energischen Kopfe sich verdichtet zu der Idee eines britischen Reichs-Zoll-Vereins. Diese Idee ist die beherrschende Idee seines Lebens, seiner Politik geworden. Nachdem er sie vorzeitig ausgesprochen und bemerkt hat, daß seine Landsleute trotz aller Phrasen vom größeren Britannien noch zu schlecht vorbereitet waren für das Licht dieser frohen Botschaft – hat er sie zurückgestellt und mit Schweigen bedeckt. Aber sie wirkt darum nicht weniger in seinem Gehirne, ja sie wirkt mit jener ausschließlichen Gewalt, die dem bornierten Fanatiker zeitweilig so überwältigenden Einfluß verleihen kann. Freihandel oder Schutzzoll-System – darüber ist vor nicht langer Zeit noch in streng theoretischer Weise gestritten worden. Es scheint aber, als ob diese, wie manche andere wirtschaftliche und politische Kontroverse, zu den Akten gelegt worden ist. Man begnügt sich heute, die Frage als eine solche der praktischen Politik zu diskutieren, dabei wird das Prinzip des Schutzzolles kaum mehr angefochten und nur über die Höhe wird gestritten; wenn – zumal gilt dies für Deutschland, den klassischen Boden theoretischer Streitfragen, – um ein Prinzip gefochten wird, so ist es das Prinzip langfristiger Handelsverträge, wo doch die Länge wieder nur eine weiter hinausgeschobene Begrenzung meint. In England freilich – wo man allgemeinen Prinzipien so abhold, wo man so empirisch und praktisch ist – wird das Prinzip des free trade noch heilig gehalten; nur schüchtern hat sich der unbestimmte Begriff des fair trade dagegen emporgewagt. Und freilich – gerade für die britischen Verhältnisse, für das Kolonialweltreich zeigt sich in schlagender Weise, daß die Idee eines gemeinsamen Schutzsystems zugleich den Sieg eines (inneren) Freihandels bedeuten kann. Denn der Kolonial-Zollverein – das deutsche Wort selber ist den Engländern mit dieser Vorstellung geläufig geworden – würde die Schlag 3

Industrieller und Kaufmann.: Als Gladstone 1886 mit dem ersten Home Rule-Gesetz zahlreiche Forderungen der irischen Nationalbewegung erfüllen wollte, führte dies zur Spaltung der Liberalen Partei und zum Sturz seiner Regierung, auf die eine Phase der konservativen Dominanz folgte. Der Begriff Home Rule (englisch etwa für „Selbst-Regierung“, irisch Rialtas Dúchais) wird in der Regel im Zusammenhang mit der Geschichte Irlands innerhalb des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert verwendet.

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bäume zwischen Mutterland und Kolonieen, wie zwischen den einzelnen selbst verwaltenden Kolonieen durchbrechen, er würde die Etablierung eines neuen einheitlichen Wirtschaftsgebietes bedeuten, wie als solche die Gebiete der heutigen Staaten erst seit dem (durch Zollfragen veranlaßten) Abfall der Vereinigten Staaten und seit der französischen Revolution sich aufgethan haben. Wenn das britische Reich als ein Staat aufgefaßt würde – was er thatsächlich offenbarer Weise nicht ist – so müßte man zugleich konstatieren, daß in diesem Staate noch Binnenzölle erhoben werden – und umgekehrt: die Aufhebung dieser Zölle würde allerdings den Anfang zu einer einheitlichen Staatsverfassung für diese auf alle Erdteile verstreuten Gebiete bedeuten. Daß dies eine mögliche Evolution ist, daß sie eine ungeheure Zusammenfassung gewaltiger und innerlich verwandter Kulturkräfte darstellen würde, daß sie vielleicht dazu bestimmt ist, die „angelsächsische Rasse“ als sicherste Trägerin arischer Bildung und Freiheit zu perpetuieren – wer wagt es zu leugnen, wer möchte es gering schätzen? Der Wert einer solchen Entwicklung darf auch durch die unerfreuliche Erscheinung, in der die Idee des größeren Britannien eben jetzt sich kundgegeben hat, nicht verdunkelt werden; ihr Wert für das Gesamtschicksal der Menschheit ist auch unabhängig davon, ob sie unseren Interessen, denen des Deutschen Reiches, förderlich oder feindlich ist. Nach offizieller und populärer englischer Auffassung handelt es sich bei dem, was wir als einen Raubzug zum Behufe der alleinigen Kontrolle über die Goldminen des Rand zu betrachten pflegen, um die „britische Suprematie in Südafrika“. Und in der That, es handelt sich darum, so sehr man auch berechtigt ist, die Darstellung, als ob dafür eine Defensive gegen die schwarzen Pläne des „Krügerismus“ maßgebend gewesen sei, als Entstellung der Thatsachen zurückzuweisen. Es handelt sich um die Suprematie, aber diese ist das Ziel einer ihrem ganzen Wesen nach aggressiven Politik gewesen, und diese aggressive Politik ging von Anbeginn auf die Kontrolle der Ausbeutung jener Bodenschätze. Dennoch ist der Krieg nicht ausschließlich durch direkte kapitalistische Interessen diktiert worden – diese hätten sich gedulden können und doch wohl auch gedulden müssen –, es ist der politische Gedanke des britischen Zollvereins, der dem Leiter jener aggressiven Politik – eben dem gegenwärtigen Kolonialsekretär – diesen Krieg als unbedingt notwendig, als aller Anstrengungen, aller Opfer, – aller Unehre, die daran haftet, wert erscheinen ließ; und dieser Gedanke ist zwar auch eine Umsetzung volkswirtschaftlicher Interessen, aber nicht des nackten Verlangens nach dem gelben Metall, sondern der vermeintlich durch diesen Besitz schlechthin bedingten Selbsterhaltung der britischen Industrie, mithin der britischen

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Gesellschaft und ihres Staates – insofern liegt allerdings eine Defensive zu Grunde, nur nicht eine Defensive gegen den wackeren Krüger, sondern Defensive gegen die Weltwirtschaft, gegen die deutsche und die mehr und mehr dem Bewußtsein sich aufdrängende nordamerikanische Konkurrenz. Die beste Defensive ist die Offensive – dies weiß auch Joe Chamberlain oder weiß wenigstens danach zu handeln; und dieser Grundsatz kann sich freilich nicht gedulden. Durch die Herrschaft in Südafrika würde das britische Weltreich über zwei Dritteile der gesamten Goldproduktion verfügen; aber diese Verfügung würde ihren Wert und ihre Wirkung unermeßlich steigern, wenn das Weltreich, das heute noch überwiegend einen idealpolitischen Charakter hat, die reelle Basis eines einheitlichen Zoll- und Wirtschaftsgebietes erhielte. Die dadurch erreichte Macht und Sicherheit könnte allerdings den Kolonial-Staaten als ein würdiger Preis erscheinen, um den sie ihre handelspolitische Selbständigkeit aufzugeben sich entschließen möchten. Ob sie ohne sanften oder unsanften Druck der Zentral-Regierung bald dazu bereit sein werden, ist allerdings sehr die Frage. Es wäre eine Umgestaltung ihres gesamten politischen Zustandes bis in dessen Wurzeln – teils unmittelbar, teils durch die unausweichlichen Konsequenzen. Bei dem Entgegenkommen, das sie bisher dem Gedanken gezeigt haben – in der Konferenz der Minister von 1897 und bei dem vorjährigen Kongreß von Präsidenten der Handelskammern – hat eine Erweiterung ihrer handelspolitischen Selbständigkeit das Ziel gebildet; das Dominium Kanada hatte die Initiative in Händen, deren Wirkungen auch das Deutsche Reich durch die Kündigung des alten Zollvereins-Vertrages und das daran sich schließende langwierige Provisorium erfahren hat; und es ist nicht wahrscheinlich, daß die zielbewußte Tarifpolitik jener Kolonie aus zärtlichen Gefühlen für das „Mutterland“ (ein Drittel der Einwohner Kanadas sind bekanntlich französischer Rasse) dessen Waren zu begünstigen gewünscht hat; vielmehr dürfte dieser zukunftreiche Ackerbaustaat darauf spekulieren, die unentbehrliche Kornkammer für Großbritannien in nicht ferner Zeit zu werden. Die Zentral-Regierung: da liegt das Problem. Daß sie heute als Druck empfunden wird, läßt sich schwerlich behaupten, denn von ihren nominellen Befugnissen macht sie sehr geringen Gebrauch. Sobald aber mit dem Reichsgedanken wirtschaftlicher Ernst gemacht würde, sobald es Reichs-Finanzen gäbe, so würde die Forderung einer Vertretung im gesetzgebenden Körper unabweisbar dringend sich erheben, die Regierung des Weltreiches durch das britische House of Commons würde als eine unerträgliche Tyrannei den Unwillen der – in mancher Hinsicht so viel fortgeschritteneren, jedenfalls weit schärfer demokratisch entwickelten – Kolonial-Briten erregen. Der Gedanke der Imperial Federation, der bis

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jetzt wesentlich aus anderen Motiven im Mutterlande theoretisch entsprungen ist, einer Bundesverfassung für das Reich, würde alsbald mit Ungestüm von der Peripherie reflektiert werden; er würde nicht als ein Geschenk entgegengenommen, sondern als ein Recht gefordert werden. Aus anderen Motiven entsprungen – denn in England selber wird der gegenwärtige Zustand, ganz unabhängig von Chamberlains Zollplänen, als auf die Dauer unmöglich angesehen. Die Reichsangelegenheiten belasten schon jetzt das Parlament in einer Weise, die dieses mehr und mehr in eine bloße Abstimmungs-Maschine verwandelt und für die inneren Angelegenheiten von Großbritannien und Irland lahm legt. Es fehlt an der baren nackten Zeit für irgend welche gründliche Beratung, ganz abgesehen davon, daß z.B. von den indischen Angelegenheiten kaum drei bis vier Members außer dem jeweiligen Staatssekretär – wenn anders dieser – irgend etwas verstehen; wenn nicht zufälligerweise von diesen einer in der Opposition sitzt, so ist an eine wirksame Kritik dieses ganzen Departements gar nicht zu denken, obwohl gerade die Verwaltung der Kronkolonieen notwendigerweise die stärksten Rückwirkungen auf das Mutterland haben muß, so namentlich die indischen Finanz- und Währungsfragen. Und auch durch die selbständigen Kolonieen werden die Fragen der auswärtigen Politik ins Ungemessene vermehrt, auf alle Weltteile ausgedehnt. Dazu innerhalb des Mutterlandes das ungelöste Problem des Verhältnisses zu Irland – die Bürde der irischen Vertreter im Hause der Gemeinen, die „nur in Westminster sitzen, weil man ihnen nicht erlaubt, in Dublin zu sitzen“, und deren halbironische Mitarbeit, die fortwährend drohende Obstruktion, eine um so schwerere Hemmung des Staatswagens bedeuten, da dieser ohnehin zu schwer beladen ist und immer schwerer beladen werden muß. Fast unabweislich ist es, daß der Gedanke einer Reichs-Verfassung Fühlung sucht mit der zurückgelegten „Justice to Ireland“, der Glad­ stoneschen Home-Rule-Idee; obgleich ja die Imperialisten und „GroßEngländer“ sonst durchaus dem entgegengesetzten Lager angehören und diese Idee nicht genug als Auflösung der Einheit, als Zerstückelung des Reiches zu schmähen wußten. Ihren eigentlichen Sinn hatte doch diese Anklage nur durch die Beziehung auf das Mutterland, also gerade auf Little-England, d.h. Großbritannien und Irland – diese engere Einheit zu wahren, traten ja Konservative und Unionisten zusammen. Von viel geringerer Bedeutung müßte in einem Gesamtstaat, in einem wirklichen GroßEngland, die Frage erscheinen, ob etwa Irland, so gut wie eben Kanada, für seine eigenen Angelegenheiten eine gesonderte Vertretung und daneben eine föderalistische Mitwirkung am Reichs-Parlament haben solle.

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Andererseits gehört aber die föderalistische Idee durchaus dem liberalen Gedankenkreise an, wie denn die ganze Konstituierung der self-governing colonies Erfolge der liberalen Politik darstellt. Eine föderalistische Gestaltung der Zentral-Regierung würde den Interessen und dem Stolze gerade der imperialistisch gesinnten Engländer in hohem Maße zuwider sein und in der That einen schwerlich aktionsfähigen Reichskörper herstellen. Nun gar – Südafrika als gleichberechtigtes Glied in diesem Bund aufzunehmen: es scheint noch eine ungeheuerliche Schwärmerei, an die im Ernste Niemand glauben mag. Einstweilen weiß der Imperialismus weder aus noch ein. Ende des ersten Stücks Eutin

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2 David Hume, der berühmte Philosoph und Historiker, untersuchte vor fünf Menschenaltern in einem seiner Essays (VII) die Frage: „ob die Regierung Großbritanniens mehr zur absoluten Monarchie oder zu einer Republik sich hinneige“. Und siehe, er kommt zu dem Ergebnis, daß die Macht der Krone, vermöge ihrer großen Einkünfte, im Wachsen sei; wenn er auch zugebe, daß der Fortschritt sehr langsam und fast unmerklich sei. „Die Tide – sagte er –, die lange und mit ziemlicher Geschwindigkeit in Richtung auf volksmäßige Regierung gelaufen ist, fängt eben an, in Richtung auf die Monarchie sich zu wenden.“ Hume bewährt seinen Scharfsinn durch die Einsicht, daß mit der gepriesenen Mischung der Staatsformen und Balance der Gewalten keineswegs ein definitiver Zustand erreicht war, daß vielmehr ein entschiedenes Übergewicht nach einer der beiden Seiten hin sich allmählich herausstellen mußte. Aber seine Entscheidung ist um so auffallender, da er weiß, daß schon zu seiner Zeit „das Quantum politischer Macht, das unsere Verfassung dem Hause der Gemeinen verleiht, so groß“ war, daß es „alle anderen Teile der Regierung absolut beherrschte“ (Essay VI). Wenn Hume lange genug gelebt hätte – er starb im Jahre der amerikanischen Unabhängigkeits-Erklärung –, so hätte er vielleicht den Gang der Dinge unter dem dritten der George zu seinen Gunsten deuten dürfen. Was aber die Entwickelung des englischen Staatslebens im Laufe des folgenden Jahrhunderts angeht, so wissen wir, daß deren Inhalt dahin ausgedrückt zu werden pflegt, die Macht der Krone sei zu einem Schatten geworden; die Souveränität des Hauses der Gemeinen wird offen proklamiert. Und damit zugleich die Souveränität des Volkes; denn viel bedeutsamer noch als die Erhebung des Unterhauses

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zur obersten Macht im Staate ist die Erhebung der unteren Schichten des Volkes zur ausschlaggebenden Macht für die Zusammensetzung des Unterhauses. Seit den Reformgesetzen von 1867 und 1886 ist das allgemeine Wahlrecht im Prinzip anerkannt; und wenn noch hinter dem Household Suffrage das Manhood, hinter diesem das Female Suffrage lauert, so handelt es sich dabei sozusagen nur noch um Familienangelegenheiten, d.h. um die fernere Individualisierung der Familie, einen Prozeß, der allerdings, auch politisch, eher alles andere als gleichgültig ist. Anerkannt ist, daß die große Masse, der „robuste Junge“, wie einst Hobbes das Volk nannte, diese dunkle, mystische Person, mündig geworden ist und berufen, seine Geschicke selber zu bestimmen. Aber, wenn diese zwei Evolutionen: die Alleinherrschaft des „Hauses“ und die Verbreiterung der Basis, je für sich gar oft erörtert werden, so wird doch ihr Verhältnis zu einander, und eben, daß sie zweierlei sind, selten verstanden; ja, man vermischt sie ganz regelmäßig unter dem Titel „Fortschritt der Demokratie“. Vielleicht hat dies seinen Grund darin, daß die zweite und jüngere dieser Bewegungen ihren Einfluß überhaupt, und besonders ihren Einfluß auf die erste, noch wenig geäußert hat; jene mystische Person scheint bisher zu sagen: „einstweilen möge alles beim alten bleiben; ich weiß zwar, welche Macht ich habe, aber ich finde keinen ausreichenden Grund, von ihr den Gebrauch zu machen, den einige erhofft, andere gefürchtet, alle erwartet haben mögen“. Die gesellschaftlich herrschende, mit anderem Worte, die reiche Klasse, deren politisches Organ das Parlament seit zweihundert Jahren gewesen ist – das Oberhaus der Nobility, das Unterhaus der Gentry, beide zuerst fast nur den ländlichen Grundbesitz, aber mehr und mehr auch das Handels- und Bankkapital, beide schließlich vorzugsweise das industrielle Kapital repräsentierend –, kann den politischen Willen und die politische Macht der großen Menge sich wohl gefallen lassen, wenn sie aus deren Händen eine Bestätigung ihrer Rechtmäßigkeit, eine Verbürgung ihrer Dauer empfängt. Das Volk ist zufrieden – es weiß oder meint, daß seine Lage sich ungemein verbessert hat während der Victorian Era, daß sie ferner sich hebt ... verwegenen Experimenten, auch wenn sie politisch keinen revolutionären Charakter mehr tragen würden, ist man nicht geneigt. Was sollte auch danach kommen? ... Reiche und Arme hat es immer gegeben ... es muß wohl Gottes Wille sein. Und übrigens: man kann ja auch Glück haben ... man setzt z.B. auf die Stute Bessarabia, oder – Thatsächlich ist diese Denkungsart unter den Führern der Trade’sUnionisten nicht selten, wenn sie auch keineswegs allein dem politischen Indifferentismus der Arbeiter zu Grunde liegt. Genug, „die britische Demokratie hat sich glänzend bewährt ... durch dreimaligen Wahlsieg der vereinigten Konservativen und Unionisten“, so verkündete neulich der

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alte Demokrat Joseph Chamberlain in den Parks des amerikanisch neuvergoldeten Herzogs von Marlborough. Auch die Tories haben ihre Ansichten, die einst so steifleinen waren, wie ihre gestärkten Faltenhemden, nicht wenig verändert im Laufe dieser glänzenden Ära des Industrialismus. Ihre alten Bollwerke sind zertrümmert, sie verschanzen sich hinter einem neuen, sie nennen es: Erhaltung unserer alten Verfassung. Sie wissen, daß die Demokratie alles vermag, wenn sie will, sie wissen aber auch, daß die gesellschaftlich herrschende Klasse über unendliche Machtmittel verfügt, um die Masse abzuhalten, von ihren politischen Rechten denjenigen Gebrauch zu machen, der einstweilen auch ihr selber noch unbequem ist; m.a.W.: einen Willen zu haben. Und zu diesen Machtmitteln gehört auch der Fortbestand der „ehrwürdigen“ politischen Institutionen: der Krone und des Oberhauses, so wenig man sich darüber täuscht, daß sie einem starken Winde nicht Stand halten würden. Es gilt eben, den Sturm in den Schlauch des Aolus zu bannen. Zur Verfassung gehört aber für das konservative Bewußtsein das überlieferte Parteisystem: auch dieses betrachten die Anhänger und Nachfolger Disraelis als den angemessenen Ausdruck des englischen Nationalcharakters, als die zweckmäßigste, weil die hergebrachte Form des politischen Lebens in ihrem Lande. Schon geraume Zeit vor dem Kriege äußerte sich in seiner humoristisch-gemütlichen Weise der alte Salisbury dahin, es scheine eine Art von Fatum zu sein, daß nach einer gewissen Zeit die Regierung auf die „andere Seite“ übergehe, das Land werde sich auch ferner nicht schlecht dabei stehen, daß die Opposition von gestern das Kabinett von heute bilde und umgekehrt. Und in präziser Weise vor kurzem sein Schwiegersohn, der treffliche und gelehrte Arthur Balfour: die Ruhe und Stetigkeit unserer Entwickelung wird eben dadurch garantiert, daß das Volk die Sicherheit besitzt, sobald seine Regierung ihm mißfällt, daß eine Gruppe von Männern von annähernd gleicher politischer Kenntnis und Erfahrung, von gleicher Integrität, patriotischer Gesinnung und Vertrauenswürdigkeit, fähig und bereit ist, die Regierung zu übernehmen und weiterzuführen. Aber man bemerke wohl: niemals hat Herr Chamberlain so gesprochen, und es ist nicht zu vermuten, daß er je so sprechen wird. Er aber sitzt nicht nur unter den Cecils in der Regierung, er ist die treibende Kraft dieser Regierung, er ist der eigentliche Mann des Tages. Er triumphiert über die Partei Gladstones, nicht als über eine zeitweilig und in sanftem Schaukelspiel überwundene, sondern als über eine zu Boden geschlagene und vernichtete Opposition.

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Aolus zu bannen.: Äŏlos (Aiolos (griechisch Αἴολος, lateinisch Aeolus, deutsch Äolus oder Äol) war der griechische Gott der Winde.

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Denn am Boden liegt der englische Liberalismus. Die irische Frage und der Imperialismus sind die zersetzenden Gifte gewesen, die er nicht verdauen kann. Nachdem die gegenwärtige Partei, trotz der Sezession, es noch zu einer kurzen Regierungsphase gebracht hatte, ist das Haupt dieser Regierung nicht nur von der Leitung der Partei zurückgetreten, sondern hat zugleich die politische Bühne verlassen, um sie nur jüngst in einer grausamen Gastrolle wieder zu betreten und den ehemaligen Parteigenossen zu sagen, daß sie in ihrem gegenwärtigen Bestande unmöglich sind, daß sie nicht anders werden weiterleben und das „Vertrauen des Landes“ wiedergewinnen können, als wenn sie die anti-imperialistischen Elemente hinauswerfen, mit anderen Worten: die Kriegs- und Eroberungspolitik der Gegenpartei zu ihrer eigenen machen, die das Volk so offensichtlich wolle ... Konsequenz der Demokratie. Lord Rosebery hat damit sicherlich ein offenes Bekenntnis abgelegt: ein Bekenntnis zugleich, daß er nicht nur nicht willens, sondern vor allem nicht fähig war und ist, seine Partei zu leiten. Denn die Kunst des Parteiführers besteht eben darin, trotz tiefgehender Divergenzen, die in einer großen Partei niemals fehlen können, seine Leute zusammenzuhalten, ihnen eine verbindende und leitende Idee zu geben. Freilich, auch von seinen Rivalen vermag es keiner: das ist eine Thatsache, die allen offenbar ist. Sir G. Campbell-Bannermann ist mehr darum Führer, weil er als ein guter Mensch, als weil er als ein guter Politiker angesehen wird; Sir W. Harcourt ist etwas zu grobdrähtig, John Morley vielleicht etwas zu fein, andere sind zu wenig Redner oder erfreuen sich keiner allgemeinen Sympathie – das alles aber sind zufällige Umstände; die wahre Ursache liegt darin, daß der liberale Glaube nach dem Hinscheiden seines letzten Propheten, des „großen alten Herrn“ morsch und welk geworden ist; er findet keine genügende Nahrung mehr in den Zuständen und Interessen, die unmittelbar im öffentlichen Bewußtsein lebendig sind. Die Geister, die er selber gerufen hat, schicken sich an, ihn zu erdrosseln: eben die Geister der Demokratie. Denn mit dem Prinzip der Volkssouveränität, oder sagen wir: mit der Herrschaft der Majorität, ist nicht die geringste Gewähr dafür gegeben, daß diese Herrschaft im Sinne derer ausgeübt werde, die dies Prinzip zur Geltung gebracht haben – und das sind in England die neueren Liberalen – nicht einmal die Gewähr, daß sie das Parteisystem mit seinem Wechsel konservativer und liberaler Regierung dauern lassen werde. Ja, wie die berufene Stimme des ideellen Volkes, die öffentliche Meinung, oft nur Meinung einer kleinen Minder-

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großen alten Herrn: Gemeint ist: William Ewart Gladstone, der viermaliger britischer Premierminister war und einer der bedeutendsten britischen Politiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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heit, jede Regierung und so auch jede Staatsform begünstigen, unterstützen und fördern kann, so kann möglicherweise sogar die Mehrheit des realen und gezählten Volkes die dauernde Regierung Einiger oder eines Einzigen ausdrücklich wollen: auch innerhalb der Volkssouveränität ist, wie (jeder auf seine Art) Hobbes und Rousseau, die einflußreichsten Theoretiker des naturrechtlichen Staates, lehrten, jede praktische Staats- oder Regierungs-Form möglich, mithin auch monarchische oder oligarchische (nach Hobbes erlischt freilich die Volkssouveränität mit Konstituierung einer Staatsform, die nicht direkt demokratisch ist, nach Rousseau aber ist sie ewig und bleibt jede Staatsform von ihr abhängig). Die Wahrheit dieser Spekulationen bewährt sich deutlich in der Geschichte jeder Revolution – möge man diese nun als eine Serie von rechtlichen Akten, wie Rousseau, oder von widerrechtlichen, wie Hobbes, auffassen –, am deutlichsten in dem System, das jede Revolution wenigstens vorübergehender Weise regelmäßig erzeugt: im System der Militärherrschaft, der durch den Willen eines „Volkes in Waffen“ getragenen Diktatur – des Cäsarismus. Von allen modernen Reichen scheint England diesem Systeme, seiner ganzen Vergangenheit nach, und gerade durch seine Heeresverfassung, am fernsten zu stehen. Aber, aber ... es führt mehr als ein Weg auch nach dem cäsarischen Rom. Das römische Weltreich hat seinesgleichen, wenn irgendwo, im britischen Weltreich (denn das russische ist eher einem altorientalischen Reiche vergleichbar). Das römische Weltreich tötete die römische Republik. Wird das britische Weltreich ...? – Sonderbare Gedanken macht sich Lord Rosebery, der Bewunderer Bismarcks, der Biograph Napoleon Bonapartes. Ich habe seinen Brief an den City Liberal Club, der vielen rätselhaft erschien, dahin gedeutet, daß er, die kritische innere Lage konstatierend, die Diagnose stellen will: Ende des Parteisystems, Erneuerung des monarchischen Regimentes in irgend welcher Gestalt, aber im Namen des Volkes ... Inzwischen erkenne ich, daß noch eine andere Lösung möglich ist, die mit der genannten kombinierbar ist, und daß vielleicht in der Diagonale der beiden die Tastung des schottischen Lords sich bewegt. Lord Roseberys Lieblingsidee ist seit lange die Reform des Oberhauses. Er hat schwer darunter gelitten, als Premierminister an die unthätige, ohnmächtige, noble Körperschaft persönlich, durch seine Peerschaft, gebunden zu sein. Er wünscht aber nicht, wie manche Radikale, ihr den Garaus zu machen. Vielmehr will er sie umbilden in die Vertretung einer wirklichen Aristokratie, die er, wie es scheint, aus einer Verbindung der Aristokratie des Besitzes und der Aristokratie des Geistes hervorgehen lassen und zugleich durch Vertreter der Kolonieen ergänzen will. Er darf 16

Cäsarismus: Siehe Fußnote zu Zeile 13 auf Seite 359.

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persönlich als Repräsentant beider Aristokratieen gelten, er würde also auch dem reformierten House of Peers angehören müssen. „Geheimnisvoll“ wurde seine Äußerung genannt, er werde niemals „freiwillig“ zur Parteipolitik zurückkehren. Vielleicht gehört als Ergänzung dazu: die unfreiwillige Rückkehr wäre gegeben, sobald das obere Haus ein Faktor der Parteipolitik würde, mit anderen Worten: wenn über der Zertrümmerung des Parteisystems des Hauses der Gemeinen eine Parteiung des verjüngten Herrenhauses sich erhöbe, die (unter der politischen Form gegenwärtiger Demokratie) – in der Hand eines starken Mannes und seiner Nachfolger die dauernde Leitung der auswärtigen und inneren Politik im Geiste eines Systems der Reichs-Wohlfahrt gewährleisten würde: Rosebery ist so leidenschaftlicher Imperialist, wie leidenschaftlicher Sozialreformer, ein britischer Naumann, wenn auch skeptischer als dieser. Es scheint wohl Träumerei, was hier entwickelt wurde. Aber welcher inaktive Politiker giebt sich heute nicht Träumereien hin? Und warum sollte nicht der liberale Peer davon träumen, den Zustand zu erneuern, der nach Buckle bis zur Regierung Georgs III. bestand, den Zustand, daß „das Oberhaus dem Unterhaus entschieden überlegen war an vorurteilsfreier und höherer Bildung seiner Mitglieder“, da denn mit einem solchen Hause zu regieren wohl einen Cincinnatus reizen könnte, seinen Pflug zu verlassen – ?1 Hume, Montesquieu, de Lolme, und alle, die im achtzehnten Jahrhundert richtige oder unrichtige Kenntnisse der englischen „Musterverfassung“ ausbreiteten, machten beständig die Voraussetzung, daß die exekutive Gewalt der Krone gehöre und daß diese nur durch das Recht der Geldbewilligung als Eigenschaft des Parlamentes von diesem abhängig sei. Ja, Montesquieu unterstellt: „Wäre kein Monarch da, und würde die vollziehende Gewalt einer gewissen Anzahl aus dem gesetzgebenden Körper genommener Personen anvertraut, so würde keine Freiheit mehr vorhanden sein“ (weil die Balance der Gewalten aufgehoben wäre). Nun 1

Am Schlusse seiner Rede vom 19. Juli sagte Rosebery, er müsse einstweilen seine Furche allein pflügen, „aber ehe ich die Furche zu Ende komme, werde ich mich vielleicht nicht mehr allein finden“.

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Pflug zu verlassen – ?: Henry Thomas Buckle, Geschichte der Civilisation in England. Deutsch von Arnold Ruge. Siebente rechtmäßige Ausgabe. Leipzig 1901, S. 388. Cincinnātus („der Gelockte“), Lucius Quinctius war römischer Adliger und Politiker. Seine Dienste als Konsul 460 v. Chr. und Diktator in den Jahren 458 v. Chr. und 439 v. Chr. machten ihn zum Musterbeispiel für die Bürgertugend. keine Freiheit mehr vorhanden sein“: Montesquieu, Geist der Gesetze. Deutsch und mit Anmerkungen von Dr. Adolf Ellissen. Zweite Auflage, Vierter Theil. Leipzig 1848. Zehntes Buch. Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zur Offensivmacht. 6. Kapitel. Von der englischen Verfassung. S. 48.

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gilt auch heute noch als Satz des positiven Staatsrechts, daß Krone und Exekutive identische Bedeutung haben, in Wahrheit aber und in dem Rechtszustande, der Ausdruck der thatsächlichen Verhältnisse ist, hat das Ministerium die ganze vollziehende und administrative Gewalt, soweit sie zentralisiert ist, in Händen, und das Ministerium ist ein Ausschuß der überlegenen Partei des Hauses der Gemeinen. Es scheint also nunmehr die Selbständigkeit der Exekutive förmlich aufgehoben, die Souveränität des Hauses in dieser Richtung fest etabliert zu sein. Dennoch macht sich der Zwang der Thatsachen und der Bedürfnisse, zumal in dem Maße, als die auswärtige Politik bestimmend wirkt, in entgegengesetzter Richtung geltend, und dies ist einer der merkwürdigsten Charakterzüge der gegenwärtigen gespannten Situation. Wahrung der Verfassung ist, wie eben bedeutet wurde, Programm der konservativen Politik im Innern. Untergrabung der Verfassung ist die Praxis, zu der die konservative Politik sich genötigt findet in Konsequenz des Imperialismus, der die Maschinerie des Staates immer schwerfälliger, die parlamentarische Kontrolle der Finanzen immer unbequemer macht. Es ist das Schicksal des redlichen Arthur Balfour, daß er, der überzeugte Vertreter jenes theoretischen Programms, sich gezwungen sieht, als Führer des Unterhauses Maßregeln zu vertreten und durchzusetzen, die im Hause offen, und ohne daß er nennenswertem Widerspruch begegnet, als „revolutionäre“ bezeichnet werden. Nachdem schon seit Jahren durch den Antrag auf Schluß der Debatte – der vom Führer des Hauses ausgehen muß – die Regierung in der Lage ist, der Opposition so viel Redefreiheit zu gewähren, wie sie – die Regierung, solange sie ihrer Mehrheit sicher ist – für ersprießlich hält; nachdem die Budget-Beratung grundsätzlich auf dreiundzwanzig Tage beschränkt worden ist ... hielten die gegenwärtigen Inhaber der exekutiven Gewalt sich für berechtigt und hielten für geboten, einen Schritt weiter zu gehen. Durch die Abstimmungen über die einzelnen Positionen des Budgets wurden die Geschäfte in die Länge gezogen; die irischen Mitglieder hatten gerade in dieser Session, unter der Führung Redmonds neu organisiert, durch mehrfache – wenn auch selten sehr weitgehende – Obstruktion ihrem Verhältnisse zur Reichspolitik lästigen Ausdruck gegeben. „Achtundneunzig Titel stehen noch aus; wenn über jeden dieser Titel Abstimmung beantragt wird, so werden wir ungefähr zwanzig Stunden nacheinander abstimmen müssen“ – mit Hinweisung auf diese schreckliche Aussicht begründete Balfour am 7. August seinen Antrag auf Abstimmung en bloc: anstatt der einzelnen Titel sollen die ganzen Positionen, z.B. sämtliche Titel für die Armee, sämtliche für die Flotte auf einmal bewilligt werden – in der That ein vereinfachtes Verfahren; und doch kann ein einziger Titel sechseinhalb Millionen Pfund umfassen, wie

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es neulich der Fall war mit dem Pauschquantum zur Deckung des voraussichtlichen Defizits der beiden „neuen Kolonieen“. Man muß ferner sich erinnern, daß namentliche Abstimmungen im britischen Parlament überhaupt unbekannt sind; es handelt sich nur um die Form der Abstimmung, die im Jargon unseres Reichstags „Hammelsprung“ genannt wird. Einhundertvierundvierzig Mal den Hammelsprung vollführen – das wäre für das gegenwärtige Budget im schlimmsten Falle nötig gewesen – „das ist“, erklärte Balfour, „keine angemessene Behandlung des Budgets, keine Methode, unserer parlamentarischen Praxis Kredit zu verleihen“. Und darum dieser gewaltsame Bruch mit der parlamentarischen Tradition von seiten einer konservativen Regierung? Und das ohne spezielle Beratung in einer Kommission, wie noch 1896 derselbe Führer des Hauses für den Fall, daß er auf diesen Vorschlag zurückkommen würde, in Aussicht gestellt hatte – vielmehr einfach als Resolution vorgelegt, einmal beraten, durchgepeitscht, Punktum, von morgen ab gültig – welchen Glauben muß Herr Arthur Balfour, Verfasser des theologisch-philosophischen Werkes über „die Fundierungen des Glaubens“, in seinem Herzen den Institutionen seines Landes entgegenbringen, deren Hüter zu sein er für seine heilige Aufgabe hält – ?! Die Kritik, die von liberaler Seite gegen die Resolution gerichtet wurde, hat an Schärfe und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig gelassen. „Es ist eine sehr ernste Sache ... und wenn das Haus der Gemeinen auf diesen Vorschlag sich einläßt, so wird es, meiner Meinung nach, mehr gethan haben, sein Ansehen im Lande zu zerstören, als es durch irgend welchen Beschluß sonst hätte geschehen können“. So Sir William Harcourt. Was das Ansehen des Hauses betrifft, so scheint es mit der Achtung, die von der gegenwärtigen Regierung ihrer eigenen Mehrheit gezollt wird, nicht weit her zu sein, wenn anders eine Äußerung der fortwährend offiziösen „Times“ dafür als charakteristisch gelten darf. „Die Herren im Hause der Gemeinen scheinen sich einzubilden, daß das Publikum sie ernst nimmt. Das Publikum denkt vielmehr, daß das Haus der Gemeinen im Begriffe steht, die Achtung des Landes zu verlieren.“ („Times“, 15. Juli 1901, Leitartikel.) Was aber die wichtigere Seite, die des Verfassungs-Rechtes, betrifft (und die Wirkung der neuen Budget-Geschäftsordnung darauf), so ist niemand kompetenter, darüber zu urteilen, als der Handelsminister des Rosebery-Kabinetts, der Verfasser des großen Werkes über das amerikanische Staatswesen und der vor dem Kriege verfaßten South African 17 25

„die Fundierungen des Glaubens“: Arthur James Balfour, The foundations of belief, being notes introductory to the study of theology, New York und London 1895. hätte geschehen können: Siehe dazu den Leitartikel der „Times“ vom 15. Juli 1901, S. 2.

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Impressions (die auch in deutscher Ausgabe erschienen sind), Herr James Bryce, ein Vertreter der besten Traditionen des englischen Geistes. Seine Rede ist so kurz, daß sie fast in ihrem ganzen Umfange mitgeteilt werden muß, wenn wir ihren Inhalt würdigen wollen. Er giebt zu, daß die Abstimmungen in Lächerlichkeit ausarten können. „Aber das Heilmittel, das von der Regierung empfohlen wird, trifft die Wurzel der parlamentarischen Kontrolle über die Finanzen des Landes, und diese ist ganz eigentlich die Grundlage der Macht des Hauses über die Exekutive. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre ist der Charakter des Hauses und der Charakter der britischen Verfassung, in deren Mittelpunkt das Haus steht, in sehr großem Umfange verändert worden, und durch diese Veränderungen hat die Kontrolle der Exekutive in sehr großem Umfange sich verringert. (Der gegenwärtige Führer des Hauses hat wenig schuld daran; jeder, der in seiner Stellung ist, wird das Opfer der Umstände.) Aber der Prozeß, dessen Zeugen wir gewesen sind während der letzten zwanzig Jahre, ist höchst beklagenswert, und man kann darauf rechnen, daß er die Funktionen der Regierung schwieriger und weniger stabil machen muß, als sie in früherer Zeit gewesen sind.“

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3 Im Spätsommer dieses Jahres hatte ich Gelegenheit, mit einem OxfordLondoner Gelehrten, der als Jurist einen bedeutenden und auch als Philosoph einen angesehenen Namen hat, über die Krisis und den Krieg mich zu unterhalten. Er meinte, im Urteile der Geschichte werde die Frage nur dahin gestellt werden, ob der Kulturtypus, den die Boeren repräsentieren, ein Recht gehabt habe, neben dem durch Großbritannien dargestellten Kulturtypus fortzudauern. Ich erlaubte mir einzuwenden, daß die Herren Rhodes und Chamberlain nicht eben vorteilhaft den britischen Kulturtypus vertreten, wenn man auch dessen unausweichliche Überlegenheit gelten lassen müsse. Er teilte dann einiges aus seiner persönlichen Kenntnis Chamberlains mit und schloß mit den Worten: „Bei alledem – er ist ein Mann, wir können ihn nicht entbehren“. – Um dieselbe Zeit machte ein Artikel der „Fortnightly Review“ viel von sich reden, betitelt „The Cry  2

englischen Geistes.: James Bryce, The American Commonwealth, 3 Bände, London und New York 1888. James Bryce, Impressions of South Africa, 3. Auflage, London 1899.

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for Men“, ein Artikel, der alle Schwierigkeiten und Nöte der äußeren und inneren Politik aufzählte, um am Ende auszurufen: „Die schlimmste Signatur unserer Lage ist die, daß Mr. Chamberlain unser bester Mann ist“. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß ein rascher Erfolg des südafrikanischen Feldzuges dem Kolonialsekretär ein Prestige verliehen hätte, wie es keiner der Parteiführer im 19. Jahrhundert jemals besessen hat, und daß er nicht leicht wieder aus dem Sattel zu heben gewesen wäre. Selbst jetzt noch, wenn die Unterwerfung der Republiken etwa bis zum Jahresschluß gelänge, würde er klug und dreist genug sein, einen Siegestaumel im Volke zu entfachen, der die Errungenschaft als nicht zu teuer bezahlt erscheinen ließe, und würde es verstehen, die Spannung der Weltreich-Interessen ins Unabsehbare weiter zu erstrecken, um seiner Gefolgschaft sicher zu bleiben. Zunächst würden dann alle inneren Fragen für lange Zeit schweigen müssen vor derjenigen, deren ganze Tragweite nach außen geht: der Armee-Reform; denn dies Argument würde allen einleuchten: mit einem so unzulänglichen Werkzeug, wie unsere Armee gewesen ist, können wir unsere Weltherrschaft nicht aufrecht erhalten; wir müssen unsere Weltherrschaft aufrecht erhalten – also ... Die schon im Ernst aufgeworfene Frage der Konskription würde bald eine brennende Frage werden, sie würde sich in einen Gesetzentwurf verdichten. Ich zweifle auch nicht daran, daß unter den vorausgesetzten Umständen unserem Chamberlain, der die Wahlmache durch freie Nachbildung des amerikanischen Caucus zu so hoher Vollkommenheit ausgebildet hat, gelingen würde, dieses Gesetz durchzubringen. Und am Ende wäre das nur eine Konsequenz derjenigen Entwickelung, durch die England als moderner Staat den kontinentalen Staaten in mäßigem Abstande gefolgt, man könnte beinahe sagen: nachgehinkt ist; freilich eine so tiefgreifende Konsequenz und eine Neuerung, in ein so weit fortgeschrittenes Stadium der gesellschaftlichen Entwickelung hineingesetzt, daß man geneigt sein muß, es für unwahrscheinlich zu erklären, daß diese noch, oder wenigstens noch lange, damit, will sagen: mit ihrer militaristischen Gestaltung, sich vertragen werde; offenbar ist die allgemeine Wehrpflicht mit stehendem Heer eine Einrichtung, die eine gewaltige Festung bestehender Klassenherrschaft und politischer Verfassung darstellt, wo sie eingelebt ist; aber ebenso wird sie als ein Sprengpulver wirken können, wenn sie keine Zeit mehr hat, sich einzuleben, wenn sie mit andern Worten einen latenten Bürgerkrieg langsam oder rascher entbindet. Dies wäre in England sicherlich keine nahe Gefahr, aber nur  3

unser bester Mann“: Die Fortnightly Review war eine der prominentesten und einflussreichsten Zeitschriften im neunzehnten Jahrhundert Englands. Das Zitat „Die schlimmste Signatur unserer Lage ist die, daß Mr. Chamberlain unser bester Mann ist“ stammt aus dem Artikel „The Cry for Men“ im The Fortnightly Review, August 1901.

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eine oberflächliche Betrachtung kann wähnen, daß dort der soziale Friede dauernd gesichert sei, daß also der unablässig glimmende Klassenkampf selbst im Laufe, sagen wir der kommenden zwei Menschenalter, die Grenzen der wirtschaftlichen Sphäre nicht überschreiten werde. Vielmehr würde eine de facto cäsaristische Staatsordnung schwerlich ohne verwegene soziale Experimente sich behaupten, und sobald diese nicht genügen oder mißlingen würden, vor revolutionären Unterbrechungen oder sogar Ablösungen sich um so weniger zu sichern vermögen, je weniger sie auf ein an Kadaver-Gehorsam gewöhntes Heer sich zu verlassen in der Lage wäre. Wie nun aber, wenn die Unterwerfung der Boeren nicht erzwungen wird? Ich gestehe, daß ich in der bisherigen Erörterung mit dieser Möglichkeit nicht gerechnet habe und daß ich auch jetzt noch mich kaum entschließen kann, sie als Möglichkeit anzuerkennen. Aber man muß einräumen, daß die Sache nach zweijähriger Dauer eines sehr kostspieligen Krieges schlecht genug aussieht für die britische Nation, viel schlechter als nach dem ersten Jahre, und daß bis zu diesem Spätherbst 1901 diejenigen Recht behalten haben, die den Widerstand eines, nach modernen Begriffen allerdings unkultivierten, Hirtenvolkes für unbesiegbar erklärten. Die Kriegsführung, die Bulletins und die Proklamationen der Generale sind in weiten Kreisen der englischen Steuerzahler, man wird bald sagen dürfen: in der öffentlichen Meinung, teils zum Gespött, teils zum Ärgernis geworden. Man darf wohl sagen, daß die Fortdauer dieses Geld und Menschen verzehrenden Zustandes kaum ein halbes Jahr lang mehr ertragen wird, daß eines Tages doch die Massen sich erheben werden, zumal wenn die allgemeine ökonomische Lage sich weiter verschlechtern sollte, und mit Ungestüm verlangen werden: Friedensschluß, auch ohne Siegespreis! Nach allem, was vorausgegangen, würde dies allerdings eine furchtbare Niederlage bedeuten, eine Niederlage, die schon in der liberalen Presse mit dem Rückzuge des dritten Napoleon aus Mexiko (das seine Feldherren ebenso durch – Proklamationen zu unterjochen meinten) verglichen wird, die man aber beinahe versucht wäre, mit dem des ersten und seiner „großen Armee“ zu vergleichen. Der Rückschlag auf die inneren Zustände wird – halten wir die Vorstellung einen Augenblick fest – ungeheuer sein. Um den Imperialismus ist es geschehen. Chamberlain und seine Freunde treten ruhmlos und geächtet ab von der Bühne. Die Arbeiterklasse wird aus ihrer politischen Lethargie erwachen. Die Traditionen Gladstone’s werden wieder aufleben, man wird nach einer inneren Wiedergeburt rufen, man wird die irische Frage, die Bildungs- und damit die dort von ihr untrennbare religiöse Frage, man wird vor allem die soziale Frage in ihre Rechte wieder einsetzen; man wird von Krieg und Eroberung nichts mehr hören wollen. Was die Iren betrifft, so verkündete Chamberlain in

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seiner Blenheimer Rede, er werde ihnen demnächst ihre parlamentarische Vertretung beschneiden – eine Verletzung der Bedingungen, unter denen die Union geschlossen wurde, die sicherlich den Rest der Vertretung nicht zahmer in Westminster machen würde und im Lande die anarchistische Taktik wieder aufleben zu lassen geeignet sein dürfte – ein Staatsstreich, der diesem schneidigen und unweisen Staatsmanne sozusagen aus dem Gesicht geschnitten wäre. – In allen inneren Fragen wird die Sterilität der gegenwärtigen Regierung – mit der ungeheuren Majorität, über die sie im Hause verfügt, – längst als beschämend, auch von vielen ihrer Parteifreunde, empfunden. Die getreuesten Anhänger wagen es nicht, sie in dieser Hinsicht zu verteidigen, sondern nur unter Hinweisung auf die auswärtigen Verwickelungen zu entschuldigen. Ein neues Unterrichtsgesetz gilt auf allen Seiten als dringende Notwendigkeit, besonders auch als geboten durch die Konkurrenz des Deutschen Reiches, das in dieser Hinsicht, vielleicht über Gebühr, als ewiges Vorbild hingestellt wird. Drei Entwürfe der Regierung sind gescheitert, zurückgezogen, nachdem sich gezeigt hatte, daß die Ansprüche der Kirche nicht erfüllt werden konnten, ohne allgemeinen Unwillen zu erregen, nicht umgangen werden, ohne eine mächtige Stütze des Kabinetts zu gefährden. Aber die Geschichte dieser Bills zu erzählen, würde eine besondere Abhandlung erfordern. Der Stillstand der sozialen Reform wird, ebenso wie bei uns zum Skandal für alle, die erkannt haben, was hier, zumal wenn eine lange Depression der Industrie eintreten sollte, auf dem Spiele steht. Im Vordergrunde des Interesses bleibt dort wie hier seit geraumer Zeit die Wohnungsfrage – the Housing of the Poor. Da hat es ein paar kleine Gesetze gegeben, die Herr Asquith, der gemäßigte und imperialistische Liberale, homöopathische Maßregeln und tote Buchstaben zu nennen sich getraute; und er gilt für einen Kenner des Gegenstandes. Dann die Altersversorgung – old age pension – : eine Lieblings-Deklamation Chamberlains, die er aus seiner radikalen Vergangenheit gerettet hat; aber niemand glaubt, daß die gegenwärtige Administration auch nur in ihrem eigenen Schoße zur Einigkeit darüber gelangen wird – bis etwa Chamberlain Premierminister geworden ist. Da ist ferner die Frage der Mäßigkeit, an der im Jahre 1895 die liberale Majorität ge­ scheitert ist, d.h. an den Interessen der Gastwirte, der Bierbrauer usw. Alle vernünftigen Leute, die nicht einer dieser Berufsklassen angehören, wenn sie auch deren „Vote“ sich gern gefallen lassen, anerkennen, daß es auch hier um dringende Reformen sich handelt: die Regierung hat bis jetzt nicht einmal eine kleine Bill, die sich auf den Wirtshausbesuch von Kindern bezieht, durchgebracht: sie liegt in einer Kommission begraben. Es fehlt wahrlich nur noch der völlige Zusammenbruch der Eroberungspolitik, um die Schmach dieses grand ministère zu vollenden.

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Ich halte, wie gesagt, diesen Ausgang immer noch für sehr unwahrscheinlich, aber ich würde ihn im Interesse Englands – sofern England mehr bedeutet als eine Nation, sofern es eine Kultur bedeutet, – mit Freuden begrüßen. Denn für das endliche Schicksal dieser Kultur halte ich den anderen Ausgang – das Gelingen des „Weltunrechts“ – für verhängnisvoller. Die Nation würde triumphieren, aber in ihrer Kultur würde die Verrohung überhand nehmen, eine Herzkrankheit, an der jede Kultur zu Grunde geht. Und im anderen Falle? Um die nationale Existenz Großbritanniens wäre es nicht geschehen, wenn auch die Weltmachtstellung unwiederbringlichen Schaden erlitte. Indien wäre so gut wie preisgegeben, der ganze Bestand der eigentlichen Kolonieen wäre schwerlich dauernd zu erhalten, jedenfalls würde das Reich in eine Defensivstellung gedrängt, und die „Teilung der Erde“ bliebe anderen Mächten, vor allem Rußland und den Vereinigten Staaten, überlassen, diesen beiden Extremen staatlicher Gestaltung, die aber sonst manches miteinander gemein haben, namentlich einen Kulturcharakter, den man relativ jugendlich nennen kann, bedingt durch dünne Bevölkerung, Ausbreitung der Einwohner über ungeheure Territorien und damit zusammenhängende außerordentliche Anpassungsfähigkeit an verschiedene Klimate, Rassen und Sitten. – Nach den heute vorherrschenden Ansichten wäre das Sinken der englischen Macht einem langsamen Tode dieses berühmten Staatswesens gleich zu achten. Man verweist mit bedeutender Miene auf das Schicksal Spaniens; man könnte auch auf Portugal, auf Venedig, ja auf – Lübeck verweisen, die alle einmal bedeutende Gemeinwesen und Seemächte gewesen sind, und alle ihr Einst in ihrem Jetzt nicht mehr erkennen lassen. Aber auch Dänemark, Schweden, und, weit hervorragend, Holland waren vor sieben Menschenaltern Mächte ersten Ranges – ist ihr Loos, das sie nun vom alten Ruhme zehren läßt, so beklagenswert? Sind sie als Nationen elend und unglücklich, ist ihre Bildung träge und morsch geworden? Im Gegenteil. Diese Länder erfreuen sich einer großen wirtschaftlichen Blüte, politischen Fortschritts und regen geistigen Lebens. Dänemark und Holland haben sogar einen respektabeln Kolonialbesitz sich zu erhalten gewußt, der allerdings zu ihrem Geldreichtum, aber sonst schwerlich zu ihrer Glückseligkeit beiträgt. Noch ist die Verachtung des Völkerrechts und ist die politische „Moral“ nicht so weit gediehen, daß eine der Großmächte wagen würde, über eine dieser Kleinmächte als Raubmörder her13

„Teilung der Erde“: Die Teilung der Erde ist eine Ballade von Friedrich Schiller, die dieser 1795 in Weimar schrieb. Sie entstand in der Phase der engen Zusammenarbeit mit Goethe und ist ein Beispiel für die gegen die Ideale der Aufklärung gerichtete Romantik. Siehe Georg Kurscheidt (Hg.), Friedrich Schiller, Werke und Briefe, 1. Bd. Berlin 1992, S. 24-25.

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zufallen – wenn auch Beispiele ermutigen könnten und vermutlich die übrigen Großmächte schweigend zusehen würden. Wenn man von den kleinen Kriegen absieht, die Dänemark seinen eigenen Annexionsgelüsten zu verdanken hatte, so haben diese kleinen Staaten seit dem Sturze Napoleons eines ungetrübten Friedenszustandes sich erfreut, eines Zustandes, der den von Anwälten des Krieges regelmäßig vorausgesagten Verfall männlicher Tugenden in ihnen nicht auf eine Weise hat hervortreten lassen, die sie von den gedrillten und bluterfahrenen Männern der großen Nachbarländer zu ihrem Nachteil unterschiede. Man erinnere sich etwa der großen Reisenden, wie Nansen und Sven Heddin, dieser leuchtenden Muster der Tapferkeit und Kraft. – Der Lösung der großen englischen Krisis mögen wir mit Furcht oder mit Hoffnung, jedenfalls müssen wir ihr mit Spannung entgegensehen. Eine gewaltige Lehre wird sich daraus ergeben, eine Lehre, die auch für das Deutsche Reich, dessen Machtträger nicht zufälligerweise den Kapitalistenkrieg Großbritanniens begünstigt haben, sehr große Bedeutung gewinnen wird. Eutin

Professor Ferdinand Tönnies

Zwei Briefe Klaus Groths Erster Brief Kiel, 1. März 1897 Lieber Ferdinand Tönnies! Sie haben uns da wieder ein wertvolles Buch geschrieben – ich spreche von dem Nietzsche-Kultus1 – und mir noch eine besondere Freude gemacht, indem Sie dabei mein gedacht und mir gleich ein Exemplar davon zugeschickt haben. Einen so eifrigen, ja in diesem Fall begierigen Leser finden Sie nicht. Ich habe eine Abneigung gegen diese stilistischen Blender mit ihren glänzenden Halbwahrheiten, sodaß ich auch nicht einmal dazu komme, von ihnen zu genießen, was wohl zwischendurch schmackhaft und nahrhaft zu finden ist. Gegen Nietzsche hatte ich eine Abneigung, die an Haß grenzt, so wenig ich auch von ihm kannte. Mir ist der Hochmut dieser Weltverbesserer, die ihre halbreifen Gedanken (deren wir im langen denkenden Leben auch viele gehabt) als Offenbarungen verkünden, später auch verlangen, daß man deren Gegenteil ebenso demütig gläubig hinnehmen soll, durchaus unerträglich. Sie haben mir jetzt so viel mildernde Züge in das Bild Ihres „Helden“ hineingezeichnet, daß ich mit Wehmut auf eine Erscheinung blicken kann, die wie ein Meteor glänzend am Himmel der Wissenschaft und Kunst emporstieg und nach kurzem Glanz in schmerzlichster Düsterniß verschwunden ist. Der blendende Glanz dauert aber noch fort, täuscht und verlockt das Wenige von unserer Jugend, das überhaupt noch einem Ideal nachstrebt, auf Irrwege, Denkende wie Producierende, Wissenschaft und Kunst. Ihr Buch kommt wie ein Wort zu rechter Zeit. Ich wünsche Ihnen recht viele eifrige Leser. Sie haben dafür, glaube ich, die rechte Zeit gewählt, jedenfalls den rechten Ton getroffen. Sie haben selbst so viel Güte und Liebe für den mutigen Kämpfer und den stürzenden Helden über, kennen ihn 1

Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Von Ferdinand Tönnies. Leipzig, Reisland, 1897.

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Zwei Briefe Klaus Groths: Ferdinand Tönnies, Zwei Briefe Klaus Groths. In: Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur, 16. März 1901, Heft 24, 1. Jg., Hamburg 1901, S. 800-804.

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so von Grund aus, daß auch ein Bewunderer Ihnen das Recht zusprechen muß, ihn für Irrungen zu tadeln und für Übermut und Anmaßung in seine Schranken zu verweisen. Ihren Aufsatz über Kunst im Volk2 habe ich gleich einem Maler Hans Olde gegeben. Wie viel ich diesen Winter an Sie gedacht habe, ahnen Sie nicht. Ich habe oft manche ganze Tage nach einander Ihr Buch über Hobbes,3 dazu auch Hobbes selbst gelesen. Ihr kleines Buch ist ein großes Meisterwerk. Sie haben mir erst jetzt über Hauptwendungen in der philosophischen Weltanschauung Aufklärung gegeben, der ich doch meinte, nach eigenem ausgedehntem Studium gar vieler der Hauptwerke eine gewisse Einsicht gewonnen zu haben. – Doch darüber kann man nicht in Briefen sprechen. Ich hoffe, wir sehen uns bald. Mir ist übrigens die Einsamkeit des Winters nicht so drückend gewesen wie sonst. Doch auch davon erzähle ich besser mündlich. – Der Aufenthalt im Süden hat mir gut gethan, auch insofern, als er mir für alle Zukunft alle Sehnsucht dahin genommen und mir den Winter im Norden erträglicher gemacht. Wenn man jemals ans Umwerthen der Werthe kommt, so sollte man zuerst den Enthusiasmus für Italien aus allen Büchern, Reisebeschreibungen und unklaren Philologenköpfen ausmerzen. Das ist ja für einen Menschen mit gesunden Augen, wie ich sie habe, so unglaublich wie unerträglich. Mir ging es da, wie Dr. Härtel von seinem Freunde, unserem Philosophen Fechner, erzählt: der ging auf dem Forum in Rom umher wie auf der Täubchengasse in Leipzig. Ja, mir ging es, wie Vollmacht Witt aus Wesselburen, der mit einigen Freunden eine Zeitlang in Rom gewesen war: Ne Kinners, nu lat 2 3

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Siehe unten. Hobbes’ Leben und Lehre. Von Ferdinand Tönnies. Stuttgart, Frommann, 1896.

Hans Olde gegeben.: Ferdinand Tönnies, Das Volk und die Kunst, in: Die Wahrheit. Halbmonatsschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens, Christoph Schrempf (Hg.), 7. Bd., No. 10, Stuttgart 1897, S. 297-308, DSN 116. Der in Süderau in Holstein geborene Maler Hans Olde gilt als Protagonist der Freilichtmalerei. Neben seiner berühmten Radierung des kranken Friedrich Nietzsche, die 1899 zuerst in der Zeitschrift „Pan“ veröffentlicht wurde, hat Olde Klaus Groth mehrfach gemalt. Berühmt wurde das großformatige Ganzfigurenbild von Groth und das Bild „Groth auf dem Sterbelager“, beide 1899. Siehe dazu: Uwe Carstens, Adolf Brütt und Hans Olde, in: Tönnies-Forum, Heft 2, Kiel 2016, S. 43-58. in Leipzig.: Breitkopf und Härtel war ein Musikalienverlag in Leipzig. Lieder aus Groths Quickborn wurden 1858 hier veröffentlicht. Gustav Theodor Fechner war ein Mediziner und Physiker und gehörte zum Freundeskreis von Hermann Härtel.

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uns man afreisen, hier is ja allens twei. Dasselbe sagte ich Frau Lange und Tochter, die mich gütig von Capri abgeholt hatten. Gott, wie schön fand ich Ausgang Mai die grünende, blühende, singende Heimat, als ich wieder kam. – Carl geht es gut, auch geschäftlich, er war vor 8 Tagen zwei Tage (mit Ferdinand Lange) bei mir. Seine Frau schreibt mir eben (entzückend über ihr Kind), daß sie mit Carl heute zum Karneval in Rom4 sind. Und Anfang April kommen alle drei auf Wochen zu mir. Von Albert gute Nachrichten. Auch darüber mündlich. – Und nun grüßen Sie Ihre liebe Frau und seien Sie selbst herzlich gegrüßt von Ihrem treuen Klaus Groth.

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Zweiter Brief Kiel, 19. März 1897 Lieber Ferdinand Tönnies!

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Ich kann nicht unterlassen, Ihnen ein Wort über Ihre Arbeit im Archiv für sociale Gesetzgebung pp zu sagen, die ich mit wachsendem Interesse und noch schneller wachsender Entrüstung gegen die Besitzenden aller Rassen und Klassen in ihrem Betragen im Strike der Hafenarbeiter (und früher) 4

Soll offenbar heißen: „Köln“. F. T.

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allens twei.: Bei der Geschichte des Romreisenden „Vollmacht Witt“ handelt es sich um eine Anekdote, die eine gewisse „Kulturferne“ der Dithmarscher persiflieren soll. Die Geschichte wird mit wechselnden Namen erzählt. wieder kam. –: Maria Lange gehörte zum Freundeskreis von Groth. Die mit dem Mühlenbesitzer Konrad Ferdinand Lange verheiratete Frau holte den erschöpften und wenig begeisterten Groth 1896 von Capri ab und zeigte ihm Rom. Siehe dazu: Klaus Groth. Eine Bildbiographie, hrsg. von Inge Bichel, Ulf Bichel, Joachim Hartig, Heide 1994, S. 137. Von Albert gute Nachrichten.: Der Weinhändler Carl Friedrich Emil Groth war der 3. Sohn des Dichters. Der Kaufmann Albert Ludwig Adolph Groth war der 2. und Detmar Heinrich Albert der 1. Sohn. Mit dem Studenten Wilhelm August Groth ist noch der 4. Sohn zu nennen, der an einer Blinddarmentzündung, die damals noch nicht operiert werden konnte, mit 23 Jahren starb.

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gelesen habe. Der Mammon verhärtet die Herzen. Das muß man immer wieder aufs Neue bei großen Ereignissen, die Tausende von Besitzlosen berühren, schmerzlich erfahren und lernen. Ihre Arbeit, lieber Ferdinand, ist ein Werk wahrer Menschenliebe, wofür wir Schlag Leute sowohl wie die Armen Ihnen Dank schuldig sind, den ich hier für meine Person in Anerkennung Ihrer Ausdauer, Geduld und Ihrer Ruhe warm und freudig ausspreche. Meine Geduld hätte nicht ausgereicht, weder das zerstreute Detail zu sammeln, zu sichten und zu prüfen, noch weniger um meinen Zorn zurückzuhalten, der noch jetzt bei der Lektüre Ihrer Schrift mich oft in meiner stillen Kajüte zu lauten unparlamentarischen Ausdrücken hinriß. Ich hoffe, daß Ihre selbstlose treue Arbeit Früchte tragen wird, wenn auch nicht gleich sichtbare. Das wäre der wohlverdiente Lohn für Sie.5 Daß ich Ihren Aufsatz in der „Wahrheit“ über die Kunst im Volk, der ja mein eignes Gebiet und gar in freundlichster Weise meine Person berührte, mit Genuß gelesen habe, versteht sich von selbst.6 Ich hatte ihn nach erster neugieriger Lektüre dem tüchtigen verständigen Maler Hans Olde gegeben, der mir gerade in den Wurf kam. Er brachte ihn mir mit Zustimmung und Befriedigung zurück. Zu eingehender Besprechung kamen wir nicht, da er Eile hatte (er wohnt in Seekamp bei Friedrichsort, dem Gute seines Vaters). Daß Sie einmal der Kunst von einem höheren Standpunkte aus ihre richtige und würdige Stelle angewiesen haben, wird auch jedem denkenden bildenden Künstler klar sein. Mich hat Ihr Aufsatz wieder einmal erfrischt, oder sagen wir lieber erhoben, da wir wahre Künstler im Gewirre des materiellen widrigen Treibens der mittelmäßigen 5

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Der erste Absatz dieses Briefes ist nicht etwa die Antwort auf eine Zusendung des Adressaten. Es waren wohl einige Exemplare meiner Abhandlung „die Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg vor dem Strike 1896/97“ (Brauns Archiv Februar 1897) nach Kiel gelangt; wer sie aber Klaus Groth gebracht hat, weiß ich bis heute nicht. Ich brauche nicht zu bemerken, daß ich meinerseits in jener Abhandlung von Mammon und von Herzenshärtigkeit nicht geredet hatte, F. T. „Die Wahrheit“ (Stuttgart, Frommann) 7. Band No. 10. 1897. Es heißt darin (S. 305): „Noch leben in rüstigem Alter, die ... durch tiefstes Studium ihre angeborenen Fähigkeiten bereicherten, unter den Malern Adolf Menzel, unter den Dichtern Klaus Groth, zwei echte und wahrhaft volkstümliche Künstler der Deutschen“. gelesen habe.: Der Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97 gilt als einer der größten Arbeitskämpfe im Deutschen Kaiserreich. Er begann am 21. November 1896, dauerte elf Wochen, umfasste auf dem Höhepunkt fast 17.000 Arbeiter und endete am 6. Februar 1897 mit der vollständigen Niederlage der Streikenden. verhärtet die Herzen.: „er setzt sich auf seine Geldkiste und hütet seinen Mammon ängstiglich und verhärtet sein Herz gegen Gott und Menschen“ in: Johann Friedrich Wucherer (Hg.), Ein Brief vom Lotto. Freimunds kirchlich-politisches Wochen-Blatt für Stadt und Land, 5. Jahrgang, Nördlingen 1859, S. 250.

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Handwerksarbeit für den Broterwerb und der widrigeren Kritik fast verzagen können. Grüßen Sie Ihre liebe Frau! Hoffentlich besprechen wir bald diese Dinge ausführlich mündlich. Ihr Klaus Groth Diese Briefe werden (mit Erlaubnis der Erben des Dichters) mitgeteilt, um das Andenken Klaus Groths zu ehren. In Heft 21 des Lotsen (S. 699) spricht H. Heiberg sich dahin aus, ein Schriftsteller „solle in erster Linie ein mitfühlender, teilnehmender, an Personen und Dingen Interesse und Freude zeigender und bethätigender Mensch sein,“ und kehrt dieses Soll gegen Klaus Groth, für den „sein Ich die eigentliche Welt gewesen sei,“ „um ihn mußte sich alles drehen“. – Ich habe, wie die Briefe dessen Urkunde sind, den bedeutenden Mann von anderer Seite kennen gelernt, und mit mir wissen alle, die ihm nahe gestanden haben, daß er ein liebevolles Herz hatte für seine Freunde, ein menschenfreundliches Gemüt für die große dunkle Menge, und daß sein lebhafter Geist bis in seine letzten Tage an Personen und Dingen Interesse und Freude – oft auch, wie es sich gehört, Sorge und Unwillen darüber – „gezeigt und bethätigt“ hat. Ich weiß wohl, daß der alte Herr gegen manche Leute unfreundlich gewesen ist, auch mir nahestehende, von denen ich weiß, daß er sie hoch achtete, haben darunter gelitten. Er pflegte über die Gründe solches Verhaltens nicht zu sprechen; man weiß, wie oft Mißverständnisse und Zwischenträgereien Ursachen von Verstimmungen sind; aber, wie Klaus Groth war, wird man sich nicht wundern, wenn der einfache Grund, daß er jemanden nicht „mochte“, für ihn wie für andere kraftvolle Naturen gar oft entscheidend war. Es ist niemals angenehm, zu bemerken, daß man abgelehnt wird, aber es gereicht auch Niemandem zur Unehre, wenngleich es oft so empfunden wird: weder die Ungnade der Großen, noch die des Publikums bestimmt unsern Wert. Andererseits: seine Abneigungen ganz zu verbergen, ist nicht immer leicht, wenn man auch noch so gut auf die Töne der Höflichkeit, d.h. gar oft auf ein gleißnerisch glattes Benehmen abgestimmt ist; getäuscht werden dadurch doch nur, die – sich täuschen lassen, und am leichtesten, wie immer, die sich nur wohl fühlen, wenn sie getäuscht werden. Wir neueren Menschen sind nicht so stark

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alles drehen: Hermann Heiberg, Wilhelm Jensen, Theodor Storm und Klaus Groth, in: Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur, Heft 21, 1. Jg., Hamburg 1901, S. 691-699.

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wie die älteren in Liebe oder Haß. Klaus Groth war für den Salon nicht erzogen, wenn er auch oft ein Liebling der Salons gewesen ist. Er war ein Marse – in seiner Grobheit und in seiner Feinheit –, also, wenn ihr wollt ein Bauer; denn der kennt den Typus schlecht, der gegen den „groben Bauer“ das Fläschchen der Nachbarin anruft. Freilich „de Dithmarsen sälen Buren sin? Et mügen wol wesen Herren“; denn nur der freie Mensch ist ein echter, und sollte das für den Bauern weniger gelten? – Heiberg schreibt, Klaus Groth sei einer der eitelsten Menschen gewesen, die je in Schleswig-Holstein als schaffende Künstler gewirkt haben. Ich halte dies Urteil für so unbillig wie es kühn ist. Über die Eitelkeit der Künstler zu räsonnieren, ist die beliebteste unter den Formen, in denen das Publikum gegen das Bedeutende sich zu wehren pflegt; es wundert mich, einen bekannten Schriftsteller bei diesem Publikum zu finden. Einige Philosophen haben alles, was als Tugend gilt, aus der gemeinen menschlichen Eitelkeit abzuleiten unternommen; und wenn Eitelkeit so verstanden wird, daß sie die Lust am Gefallen, die Freude über Lob und Beifall, den Stolz auf das eigene Werk, sofern man weiß, daß es stark und echt ist, einschließt, so folgt in der That sehr viel aus ihr, sie ist beinahe der Mensch selber, und wir alle sind in dieser Hinsicht einander sehr ähnlich, am meisten aber sind es die, die wirklich etwas geleistet haben. Ich würde aber solche im Allgemeinen nicht eitel nennen, denn Eitelkeit deutet auf Leere, auf Kleinlichkeit, ja Nichtigkeit; auch hervorragende, wenn auch schwerlich große und durchaus tüchtige Menschen, haben an solcher Eitelkeit in gewissen Beziehungen gelitten; am zuversichtlichsten nennen wir den eitel, der es in Bezug auf seine Kleidung ist, eine Eigenschaft, die den Mann in bedenklicher Weise dem schwachen Geschlechte nähert, und damit nahe verwandt ist die Putzsucht in Bezug auf Orden, Titel und andere „Ehrungen“, wie unsere damit so freigebigen Zeitgenossen diesen Flitter benannt haben. Wo diese Eitelkeit zu Tage tritt, da ist sie lächerlich. Ich habe an Klaus Groth nie etwas Lächerliches gefunden. Er war ein Mann von ausgeprägtem Ernste, von vollkommener Schlichtheit und Geradheit des Wesens, nicht selten schroff und herbe, aber, wenn man es nur zu finden wußte, ein Mann von zartem, weichem Gemüte, der sich ein gutes Stück seiner Kinderseele bis ins Greisenalter bewahrt hatte.

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der Nachbarin anruft.: „Nachbarin! Euer Fläschchen!“ Gerade noch diese Bitte um das Riechfläschchen der Banknachbarin in der Kirche kann Gretchen am Ende der Szene „Dom“ im 1. Teil von Goethes Faust stammeln, dann fällt sie in Ohnmacht. wol wesen Herren: „Ditmarsen, dat schölen Buren sin? Et mögen wohl wesen Heren.“ In: Karl Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, 24. Auflage, Kiel 1985.

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Sicherlich: es war etwas Problematisches an dem Menschen Klaus Groth, wie er aus dem Dunkel seines Mädchenschullehrerlebens ins helle Licht des Ruhmes emporgetaucht war, wie er dastand als dauernder Privatdozent in der philosophischen Fakultät der Universität, aber zugleich als Prophet des plattdeutschen Schrifttums, das er geschaffen hatte. Es ist nicht richtig, daß er über Reuter „sehr abfällig redete“, wenn er es auch gegen Heiberg einmal gethan haben mag. Die Zeugnisse des Gegenteils sind längst öffentlich geworden. Er wahrte freilich eifersüchtig sein Recht auf die Thatsache, daß das Erscheinen des Quickborn (1852) den Geburtstag der plattdeutschen Muse bedeutet – eine große Thatsache in der That; möge man der Mitwirkung zufälliger Umstände einiges davon zuschreiben, die Thatsache bleibt unerschütterlich und fast einzig in ihrer Art. Was man schon in den 60er Jahren von Klaus Groth zu sagen pflegte, er habe „sich überlebt“, ist in einer Weise richtig. Jeder überlebt sich, der ein Werk geschaffen, das er selber nicht übertreffen kann. Daraus und aus anderen Gründen entsprang „das Problem“ Klaus Groth. Hermann Heiberg hat dies Problem nicht gelöst. Er hat es nicht einmal berührt. Der schalkhafte Humor, womit Klaus Groth zuweilen seiner Unsterblichkeit gedachte, ist ihm völlig entgangen. Ich muß mir hier versagen, näher auf die Eigenheiten der merkwürdigen Persönlichkeit Groths einzugehen. Es würde mir auch schwer werden; denn mein Verhältnis zu Klaus Groth ist ein Verhältnis der Pietät gewesen. Sofern die mitgeteilten Briefe mich selber und mich beinahe ausschließlich betreffen, würde ich gezögert haben, sie bekannt zu machen, da sie für mich beschämend sind. Ein vorsichtiger Mann empfängt indessen das Lob seiner Freunde nicht, ohne einen hohen Diskont davon abzuziehen und wird sich immer hüten, diese Wechsel mit der baren Münze des Beifalls der Fremden oder gar – der geehrten Feinde zu verwechseln. Altona

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Ferdinand Tönnies

Feinde zu verwechseln.: Tönnies, den eine Freundschaft ohne besondere Nähe mit Klaus Groth verband, versucht in den Anmerkungen zu den Briefen den Landsmann gegen verschiedentliche Angriffe zu verteidigen. Er verkennt die Schwächen – insbesondere die Eitelkeit Groths – durchaus nicht, aber er erkennt die Verletzlichkeit des Dichters, die sich hinter manchen groben Äußerungen verbirgt.

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Das zu Ende gegangene Jahrhundert war in seinen tieferen Ingenien erfüllt von der Idee einer Synthese, als der Vereinigung von Gedankenelementen und Richtungen, die bis dahin einander feindlich waren, zu einem harmonischen Systeme. Solche Vereinigung kann als bloß äußerliche geschehen: nach dem Gutdünken des individuellen Autors, und darum wohl auch nach den Bedürfnissen seines Publicums, werden die Gegensätze abgeschliffen, oder es werden Bestandtheile einfach entfernt, die zu der gewünschten Harmonie nicht zu passen scheinen, es wird nicht gefragt nach den Consequenzen, die in der Sache liegen, sondern es werden die behagenden Consequenzen gezogen, die nicht behagenden nicht gezogen: der Denkende verfährt nach Willkür, eklektisch und synkretistisch. Auch von dieser Art der Synthese bietet das Jahrhundert manche Exempel: sie haben zwar Erfolge, aber keine Entwickelung, daher keine dauernde – sociale und also historische – Bedeutung. Was ich hier meine, ist die schöpferische Synthese. W. Wundt hat mit diesem Namen das Wesen aller psychischen Gebilde bezeichnen wollen. „Ueberall“, sagt er,1 „wo ein Ganzes aus der Verbindung von Elementen hervorgeht, können die Gesetze solcher Verbindung nur durch die Vergleichung der isoliert betrachteten Elemente mit dem aus ihrer Verbindung resultierenden Producte gewonnen werden. Wendet man diesen Gesichtspunkt an, so ergibt 1

Logik, II2 S. 268.

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Die schöpferische Synthese: Ferdinand Tönnies, Die schöpferische Synthese. Ein philosophisches Résumé. In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, Heinrich Kanner, Isidor Singer, Hermann Bahr (1899 von Max Burckhard ersetzt) (Hg.), Wien 23. März 1901, Nr. 338, Band 26, S. 183-184 und (Schlussartikel) Wien 27. April 1901, Nr. 343, Band 27, S. 54-56. Zur schöpferischen Synthese siehe auch die Schrift von Henri Bergson, L‘Évolution créatrice, Paris 1907, die als kritischer Beitrag zur Evolutionstheorie gedacht war, die Bergson für zu deterministisch hielt. gewonnen werden.: Wilhelm Maximilian Wundt war Physiologe, Psychologe und Philosoph. Wundt gilt als Begründer der Psychologie als eigenständige Wissenschaft und als Mitbegründer der Völkerpsychologie (Kulturpsychologie). Ferdinand Tönnies, der in Leipzig bei Wundt im WS 1879/80 studiert hatte, stand zu Wundt in einem verwandtschaftlichen Verhältnis. Seine Cousine Sophie Mau war Wundts Ehefrau.

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sich, dass die psychischen Gebilde zu den Elementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, in bestimmten concreten Beziehungen stehen, dass sie aber stets zugleich neue Eigenschaften besitzen, die in den einzelnen Elementen nicht enthalten sind. In diesem Sinne sind daher alle psychischen Gebilde Erzeugnisse einer schöpferischen Synthese.“ Die Richtigkeit und allgemeine Giltigkeit dieser Theorie zu prüfen mache ich mir nicht zur Aufgabe. Ich adoptiere aber jenen prägnanten Kunstausdruck, um eine Tendenz und Kraft damit zu benennen, die im socialen Leben und dem es reflectierenden, begleitenden, führenden Denken – sofern dieses als Function eines socialen Geistes betrachtet wird – eine beständige und mächtige Bedeutung haben. Ich denke dabei, wie schon angedeutet, an die Allgemeinheit des Widerspruches und Kampfes, und verstehe die schöpferische Synthese als denjenigen Ausgleich, diejenige Versöhnung, die in der Richtung der Lebenserhaltung und Lebensförderung liegt; daher im letzten Grunde die Wiederherstellung eines ursprünglichen positiven Gehaltes, der fortwährend sich zu vertheidigen und zu retten genöthigt ist. Das wissenschaftliche Denken aber entspringt zwar und dient socialen Bedürfnissen, es wandelt sich mit ihnen, aber es hat doch seine eigenen Gesetze, bestimmt durch die Norm der Wahrheit und Richtigkeit, das heißt durch Uebereinstimmung mit sich selber und durch wachsende Erfahrung. Daher wird in seiner Entwickelung wenigstens insofern immer ein „Fortschritt“ stattfinden, als jeder Zustand durch die früheren bedingt ist, sofern diese ins Bewußtsein fallen. Bei einer historischen oder sociologischen Betrachtung des Denkens steht aber die Wahrheit und Richtigkeit seines Inhaltes in zweiter Linie: wenn wir die vorwaltenden Tendenzen des neunzehnten Jahrhunderts untersuchen, so interessiert uns in erster Linie sein Verhältnis zu dem Bestande des Denkens, den es vorfand, und wenn ich sage, dass jene auf eine schöpferische Synthese gerichtet sind, so heißt dies: es bricht überall, und aus reinen wissenschaftlichen Motiven, das Verlangen hervor, neue Ansichten der Wirklichkeit zu gewinnen, die – beabsichtigt oder nicht – bis dahin streitende Elemente verschmelzen;  5

schöpferischen Synthese: Originalzitat: „Nun können überall, wo ein Ganzes aus der Verbindung von Elementen hervorgeht, die Gesetze solcher Verbindung nur durch die Vergleichung der isolirt betrachteten Elemente mit den aus ihrer Verbindung resultirenden Producten gewonnen werden. Wendet man diesen Gesichtspunkt auf den vorliegenden Fall an, so ergibt sich, dass die psychischen Gebilde zu den Elementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, in bestimmten causalen Beziehungen stehen, dass sie aber stets zugleich neue Eigenschaften besitzen, die in den einzelnen Elementen nicht enthalten sind. In diesem Sinne sind daher alle psychischen Gebilde Erzeugnisse einer schöpferischen Synthese.“ In: Wilhelm Wundt, Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, 2 Bände. 2. Bd. Methodenlehre. Zweite Abteilung. Zweite umgearbeitete Auflage. Stuttgart 1895, S. 268.

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und dies bedeutet, da das vorausgehende Zeitalter überwiegend kritisch und negativ verfahren hatte, eine erneuerte Behauptung zurückgedrängter, älterer Massen von Ideen. Die schöpferische Synthese darf also ebenso wenig mit Restauration und Reaction, wie mit Eklekticismus verwechselt werden. Sie gehört zur Lebensgeschichte des freiesten Denkens, wird also von jenen Richtungen immer als selbst revolutionär und negativ verabscheut und verworfen werden; vielleicht aber nicht minder von denen, die sich bisher die Freiesten dünkten. Außerhalb der Gegensätze will sie über ihnen stehen; in ihrer Erscheinung mag sie mehr nach der einen oder der anderen Seite neigen – ihrem Wesen nach trägt sie das Gepräge der Ursprünglichkeit und ist nur insofern für uns bedeutend.

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Im naturwissenschaftlichen Denken, das fortwährend dem allgemeinen Ideengange die lebhaftesten Impulse gibt, gibt sich das uns beschäftigende Streben durch die Versuche kund, den mechanistischen Charakter, den die „reformierte“ Philosophie seit dem sechzehnten Jahrhundert gesucht, im siebzehnten angenommen hatte, zu überwinden; Versuche, die zunächst mit einer energischeren Behauptung und Verallgemeinerung eben jenes mechanistischen Charakters Hand in Hand gehen und sich nur hin und wieder ihrer Consequenz bewusst werden. Es ist der Begriff der Energie, als einer constanten Größe – die Beharrung der Energie – worin der Kern der Naturphilosophie des Jahrhunderts enthalten ist. Die frühere Mechanik der Atome und leeren Räume beruhte auf dem Begriffe der Materie als der eigentlich realen Substanz; sie wurde ihrem Wesen nach als ruhend gedacht, Bewegung kam als ein fremdes in sie hinein und musste auf einen ersten Anstoß, daher auf einen Beweger zurückgeführt werden. Damit wurde die ältere Vorstellung, als ob in der Materie selbst ein bewegendes Princip, die substanzielle Form – etwas Seelenhaftes – stecke, verbannt; und diese Ausmerzung bedingte der Fortschritt der Erkenntnis. Es gehörte dazu die Polemik gegen den „unklaren“ Begriff der Kraft, gegen jede Art von Potenzialität; und die Auflösung aller Naturkräfte – wenn dieser Name festgehalten wurde – in wirkliche räumliche Bewegung oder in besondere Arten des Stoffes musste das Ziel sein; denn man wollte die Vorgänge klar und deutlich begreifen. Der modernen Physik, nachdem sie consequent auf diesem Wege fortgegangen ist, liegt vor allem daran, die Verwandlung verschiedener „Formen der Energie“ in einander zu beobachten und alle „potentiellen“ Formen an der kinetischen Energie, das heißt an der einem materiellen Systeme mitgetheilten Beschleunigung zu messen. Ihr liegt nicht daran, ja sie verzichtet darauf, das „Wesen“

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der Energie zu begreifen, die für sie nur einen Namen bedeutet, unter dem die allen jenen Formen gemeinsame „Fähigkeit“, Arbeit zu leisten, zusammengefasst wird. Aber dieses reine Gedankending wird eben dadurch das einheitliche Substrat der Erscheinungen, anstatt des Dualismus der sinnlich wahrgenommenen Dinge: Materie und Bewegung. Dies ist eine Neuerung von unermesslichen, bei weitem nicht erschöpften Folgen in Bezug auf alle Probleme, die herkömmlicherweise als philosophische gelten: die objective Realität der Materie hatte die objective Realität des Raumes zur Voraussetzung, wie jene der Bewegung die der Zeit, u.s.w. Die neue Physik kommt der kritischen Philosophie, und damit zugleich einer pantheistischen, wie pampsychistischen (um diesen Terminus zu prägen) Ansicht der Welt entgegen. In diese Richtung hat aber während eben dieses Zeitalters die tiefere Beschäftigung mit den Organismen, also mit der Thatsache des Lebens geführt, deren Erklärung aus mechanischen Principien ebenso oft aufgegeben als unternommen wird. Die Theorie der Descendenz setzt sich der Constanz der Arten entgegen. Jene ist eine natürliche Erklärung gegenüber der übernatürlichen durch Acte der Schöpfung – sie liegt insoweit ganz in der großen Hauptlinie des Denkens, die von der Lehre des Kopernikus eröffnet war; denn schon diese hatte das naive Weltbild zerstört, das der jüdischen und ins Christenthum übergegangenen Kosmogonie zugrunde lag. Aber die biologische Entwicklungslehre weist auch über den Deismus, die rationale und der mechanischen Welterklärung angepasste Form der Theologie, hinaus, indem sie dem physiko-teleologischen Beweis sein bestes Argument, die zweckmäßige Gestaltung des Organismus, praktisch abschneidet, dessen Giltigkeit schon die Philosophen Hume und Kant theoretisch aufgeklärt hatten. Das Complement der mechanischen Dogmatik – wie in classischer Gestalt bei Descartes ausgeprägt – ist die einfache substanzielle Seele, die ihren „Sitz“ in einem Punkte des menschlichen Hirnes hat und auf dessen Erschütterungen zurückwirkt, wie sie davon zu leiden hat. Sie ist ganz zufälligerweise mit dem Körper „verbunden“ – der Thatsache des Lebens steht sie um kein Haarbreit näher, als irgend welcher anderen Bewegung materieller Partikeln. Aber sie verhält sich als freier Wille an ihrem Leibe, wie die von außen stoßende Gottheit zu ihrer Welt: sie dient zur Erklärung vernünftiger Gedanken und Handlungen, wie Gott zur Erklärung des zweckmäßigen Baues der Lebewesen. Die Psychologie unseres Jahrhunderts ist wesentlich „Psychologie ohne Seele“ – sie will zunächst nichts sein als empirische Beschreibung von Thatsachen. Sie fällt nicht zurück in die animistisch-teleologische Methode, aus Empfindung oder Wollen als Ursachen physiologische oder

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gar physikalische Bewegungen abzuleiten: ja sie schreitet in dieser Verneinung consequent dahin fort, auch die Erklärung menschlicher Handlungen, insofern als sie Vorgänge der objectiven Natur sind, aus menschlichem Willen abzulehnen. Sie wird dadurch gedrängt auf die Erkenntnis der Identität von Leib und Seele, das heißt materieller und psychischer, objectiver und subjectiver Ereignisse. Diese Erkenntnis findet ihren nächsten Ausdruck in der Lehre vom „Parallelismus“ der beiden Welten, einen bildlichen Ausdruck, der der Anfechtung mehr Blöße bietet, als die klare abstracte, eben darum schwerer zu begreifende „Identität“. (Es ist ein Verdienst Höffdings, diese ohne Umschweife und auch in diesem Ausdrucke zu lehren; der Sache nach wird sie ebenso durch Paulsen, Wundt, Avenarius vertreten.) Die einfache Seele ist wesentlich vernünftig – denkende Substanz – der menschliche „Geist“. Im Gegensatze zu dieser „intellectualistischen“ Auffassung ist die neue Psychologie „voluntaristisch“2, das heißt, sie geht zurück auf die „dunklen“ – „unbewussten“ – oder doch „unterbewussten“ Triebe der Selbsterhaltung, der Ernährung und der Fortpflanzung, aus denen durch Differenzierung der Functionen, durch Uebung der Organe die Fähigkeit der Empfindung und Vorstellung entwickelt werden; dazu kommt als Princip der Erklärung die natürliche Auslese. Die parallelistische oder Identitäts-Theorie greift hinein. Die Psychologie ist von der Biologie nicht mehr zu trennen. Das elementare organische Gebilde, dessen Leben Assimilierung und Ausscheidung mit der Tendenz des Wachsthums ist, ist zugleich das elementare psychische Gebilde, dessen Leben eine gefühlte Arbeit – Ueberwindung von Widerstand – ein allgemeines Gefühl der Thätigkeit, dessen Hemmungen und Erschwerungen die Schmerzgefühle, dessen Förderungen und Erleichterungen die Lustgefühle bezeichnen. Auch die Sociologie hat in ähnlichem Sinne das Denken dieses Jahrhunderts umzugestalten begonnen. Bis dahin war den Theoretikern des Naturrechtes wesentlich daran gelegen, die übernatürlichen – theologischen – Erklärungen menschlicher Herrschaft, Verhältnisse und menschliche Geschichte zu zerstören und sie aus der menschlichen Vernunft als 2

Diese Termini sind zuerst vom Verfasser dieses Mémoire gebraucht worden in seiner Abhandlung „Zur Entwickelungsgeschichte Spinozas“, Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1883. Von Paulsen, der sie bald adoptierte, hat Wundt sie angenommen und durch seine Autorität in Umlauf gebracht. Der Begriff der „voluntaristischen“ Psychologie ist mehr und mehr zu allgemeiner Geltung gelangt.

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Verdienst Höffdings: Siehe dazu seine Schrift: Harald Höffding, Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung. Leipzig 1887, S. 80 ff.

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ihrer ratio essendi abzuleiten. Das Interesse hatte noch nicht von der praktischen Bestrebung, die priesterliche und priesterlich-fürstliche Autorität durch freigewählte Obrigkeit zu ersetzen, sich abgelöst. Dagegen muss das reine theoretische Denken auf die Ursprünge und Anfänge des Zusammenlebens sich richten und die Entwickelung seiner höchsten Gestaltungen aus primitiven Formen sich zum Probleme machen. Es wird die psychologischen Gründe jener wie dieser darstellen müssen, aber deren Elemente auch in den socialen Lebenserscheinungen der Thiere entdecken. Innerhalb der menschlichen Cultur aber ergibt sich aus diesen Betrachtungen die Frage nach dem Verhältnisse eines wesentlich durch Gefühle – das heißt aber zuletzt durch die gesammte Persönlichkeit und ihr schöpferisch gestaltendes Wesen – bedingten gemeinschaftlichen Lebens, das unmittelbarer Gegenstand des Wollens und der Bejahung ist, zu einer Gesellschaft und einem Staate, die ganz und gar verstandesmäßig gedacht, lediglich Mittel für die isolierten, ihre eigenen Zwecke verfolgenden, Individuen darstellen – mit anderen Worten: der organischen zu den mechanischen Formen des Zusammenlebens und der socialen Verbindung.3 In allen diesen Gebieten ist es der Begriff der Evolution, mit seinem nothwendigen Contraste, der Involution (oder Dissolution), der siegreich, entscheidend, hervortritt. Und dieser selbige Begriff hatte in einer noch kindlichen Gestalt schon einmal einem siegreichen Weltsysteme zugrunde gelegen, der reifsten Gedankenfrucht hellenischen Wachsthums, deren Keime durch die neuen Religionen hindurch – den Islam und das Christenthum – fortwucherten, sich mit ihnen verbindend, über sie hinauswachsend als die Philosophie, die Weltweisheit. Aristoteles’ Lehre ist eine verfrühte Evolutionstheorie, indem ihr Kern in der Beobachtung des organischen Werdens und Wachsens liegt, des Entstehens dessen, was schon vorher war, der Vorausnahme des Endes, der als Zweck (τέλος) die bewegende Kraft des Processes ist. Die Verallgemeinerung gestaltet daraus ein vollkommenes, ruhendes, weil in ewiger Kreislinie sich bewegendes Weltsystem, dessen Entwickelung, außerzeitlich, den Aufstieg von der absoluten Materie zur absoluten Form, dem reinen Geiste darstellt. Die Naturwissenschaft und mechanistische Philosophie des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts enthalten eine totale Negation – nicht minder der aristotelischen Physik und Metaphysik als der damit verschmolzenen theologisch-übernatürlichen Erklärungen natürlicher Vorgänge. Was sie an die Stelle setzen, ist die Mechanik der Atome und die völlige Scheidung der Seele von der Materie. Hingegen die geschilderten Tendenzen 3

Den Gegensatz dieses Begriffes habe ich entwickelt in der Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft“. (Leipzig, Reisland 1887).

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des neunzehnten Jahrhunderts und die neue Entwickelungstheorie beharren zwar in der Negation aller teleologischen Causalität und des darin beruhenden harmonischen Weltbildes, zugleich aber stellen sie doch die Priorität der organistischen und damit zugleich der psychologisch-metaphysischen Ansicht der Idee nach wieder her – wenn gleich hierüber noch keine Klarheit oder gar Einmüthigkeit gewonnen ist. Denn die Entwickelung dieser Synthese können wir nur in ihren Anfängen beobachten: das zwanzigste und die folgenden Jahrhunderte werden daran fortzuarbeiten haben.

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(Ein Schlußartikel folgt.)

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Die Philosophie macht den Chorus zum Drama der wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse – ich meine hier Philosophie als System, als abgekürztes „Denken der Welt“, das durch Anschauung und Construction zu ersetzen versuchen muss, was durch Analyse noch nicht hat festgestellt werden können. Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts wird eingeleitet durch die Kritik des Denkens selber, d.h. ihrem wesentlichen Gehalte nach, durch die Auflösung jenes Denkens aus „klaren und deutlichen“ Begriffen, mit dem Descartes die reformierte – antischolastische – Philosophie begründet hatte. Das System der „Welt“ ließ Kant in der Fassung, die es durch Newton erhalten hatte, bestehen, wenngleich er selber dessen Ewigkeit in einen zeitlichen Process zu verwandeln unternommen hatte – durch die von Laplace weitergeführte „Theorie des Himmels“. Aber indem Kant die Giltigkeit dieser reinen Naturwissenschaft auf Erscheinungen, d.h. auf alle mögliche Erfahrung einschränkte, verwehrte er zugleich die Anwendung auf die Gebiete der nur denkbaren Dinge, auf Gott, die Seele und den Kosmos. So wurden ihm auch die Grundbegriffe der Mechanik zu einem regulativen Princip der Naturforschung, anstatt eines constitutiven Princips der Natur in ihrer Wirklichkeit. In der „Kritik der Urtheilskraft“ geht er darüber hinaus: lehrend, wie sich die Anerkennung der Zweckmäßigkeit organischer Structuren vereinen lasse mit jener leitenden Maxime; nicht ohne Hindeutung auf das „gewagte Abenteuer der Vernunft“, alle organischen Gestalten als Abänderungen einer Urform zu verstehen und ihre natürliche Verwandtschaft zu behaupten. Kant, der die Voraussetzungen schaffen wollte für „jede künftige Metaphysik, die als Wissenschaft werde auftreten können“, eröffnete für 22 31

„Theorie des Himmels“.: Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Königsberg / Leipzig 1755. Abenteuer der Vernunft“: Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: Kant’s Gesammelte Schriften „Akademieausgabe“, hrsg. von der Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Band V, Erste Abtheilung: Werke, 5. Bd. Berlin 1908, S. 419 (in Fußnote).

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Deutschland eine Aera der Metaphysik, die, rein aus dem Selbstbewusstsein entworfen, neben und über aller Wissenschaft sich erheben zu wollen schien. Die Gipfel dieser „classischen deutschen Philosophie“ werden durch die Namen Fichte, Schelling, Hegel bezeichnet. Alle drei wird man als NeoSpinozisten richtig charakterisieren. – Die Lehre Spinozas war im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nur als Unterströmung lebendig. Sie war als Atheismus verrufen, selbst ihre Anhänger wagten nicht, sich offen zu ihr zu bekennen. Von der Einheit alles Seienden aus erscheint die organische Zweckmäßigkeit nur als ein besonderer Fall des intimen Zusammenhanges der Theile in einem Ganzen: sie ist weder ein unlösbares Problem für die mechanische Erklärung, noch erfordert sie den Welt-Uhrmacher oder kann als Beweis für dessen Dasein dienen; dem ganzen Systeme ist die Bewegung inhärent, es bedarf keines „ersten Bewegers“, keines Gottes, der von außen den Anstoß gegeben. Wie Welt und Gott, so verhalten sich Leib und Seele: sie sind nur verschiedene Begriffe derselben Wirklichkeit. Wenn so schon durch Kants Polemik gegen die Dialectik der reinen Vernunft Spinoza nicht getroffen wurde, wenn Kants Teleologie dem Spinozismus nahe kam – so treten bei seinen Nachfolgern der „speculativen Philosophie“ die pantheistischen Tendenzen stärker und deutlicher hervor.4 Fichtes absolutes Ich und das Nicht-Ich, worin es sich reflectiert, sind Spinozas absolute Substanz in ihren beiden Attributen, des Denkens und der Ausdehnung. Schellings Naturphilosophie ist in ausgesprochener Weise spinozistisch: sie zieht schon, wenn auch noch in unklarer Vermummung, den Gedanken der Evolution in das System hinein; sie lehrt ausdrücklich die Identität von Leib und Seele. Endlich Hegel! Diese Identität, wie Schelling sie auch als die Identität von Denken und Sein verkündet hatte, setzt Hegel als das Fundament seines Systemes. Gleichgiltig gegen zeitliches Geschehen, gegen zeitliche Entwickelung (es sei denn die der menschlichen Cultur), verwandelt er doch alles Sein in Geschehen und Entwickelung – des Begriffes oder des Denkens selber, also doch auch des Seins, dessen Wesen er expliciert, als Selbstbejahung, Selbstverneinung und endliche Selbstbejahung durch Verneinung der Verneinung. Auch hier ist das organische Leben und die ganze psychische Wirklichkeit – der Geist, der alles sociale Leben und alle Cultur in sich begreift – nur ein besonderer und vollkommener Fall der Einheit im Mannigfachen, das immer dasselbe und immer ein anderes ist: Causa sui 4

Begünstigt wurde es durch den Umstand, dass schon in der Renaissance der deutschen schönen Literatur seit 1750 Spinozas Geist als die poetisch anmuthendere Gestalt der Philosophie wirksam gewesen war; die Vermittlung geschah durch Leibniz, dessen esoterisches Denken sich bisher verborgen hatte und unverstanden geblieben war; vielleicht auch (für Lessing) durch Diderot, dessen Anschauungen in dieselbe Richtung wiesen. Wenn Schiller als (nicht strenger) Kantianer fast allein stand, so sind hingegen Herder, Lessing, Goethe mehr oder minder ausgesprochener Weise Spinozisten.

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und Causa alles einzelnen ist das Ganze, das in immer neuen Einheiten sich reproduciert, und in immer neuen Metamorphosen sich zersetzt. Wenn Spinoza nach geometrischer Methode die Philosophie demonstrieren wollte, so ist hier die Methode eine Art von Algebra der Begriffe, die alle unbekannten Größen als die Wurzeln immer neuer Gleichungen darzustellen unternimmt. Die gewaltige Wirkung der Hegel’schen Philosophie liegt in der Consequenz ihres spinozistischen Charakters, der für oberflächliche Auffassung alles begriffen, für tiefere alles principiell begreiflich macht, das heißt alle Erkenntnis ableitet aus der Selbsterkenntnis des denkenden Menschen. Neben und nach diesen Choregen, deren Einfluss die erste Hälfte des Jahrhunderts erfüllt, macht sich in der zweiten – um von geringeren Erscheinungen abzusehen – besonders Schopenhauer geltend: so sehr er die speculative Philosophie verachtet und die kritische wiederherzustellen meint, so ist doch seine Metaphysik nur eine den empirischen Wissenschaften (wenigstens den Naturwissenschaften) näher stehende Modification desselben monistischen Grundgedankens. Vorgestellt oder gedacht werden ═ materiell sein ═ Object sein ist seiner eigentlichen Wirklichkeit nach – als „Ding an sich“ – Wollen (die Ursache des Vorstellens) ═ psychisch sein ═ Subject sein; ohne dass an reale Evolution gedacht wäre, werden die verschiedenen „Stufen“ der „Objectität“ des Willens betrachtet, aufsteigend von einem Minimum der Intelligenz oder Vorstellung bis zu einem Maximum im Menschen, wo der Intellect frei wird und zum „Quietiv“ des Wollens werden kann; wo denn die praktische Seite dieser Philosophie einsetzt, auf die ich hier nicht eingehe. Die ontologische Verwandtschaft genetisch zu verstehen lehnte auch Schopenhauer ab: er verwarf Lamarck und erlebte noch Darwin, um ihn zu belächeln. Aber Schopenhauers Lehre von dem Primate des „Willens“, das heißt von der in allem Denken und Erkennen fortwirkenden Kraft der vegetativen Triebe, kommt der Descendenztheorie entgegen: der „Kampf ums Dasein“ und der „Wille zum Leben“ ergänzen und postulieren einander; ebenso ist die Lehre, dass die organischen Formen in ihrer zweckmäßigen Congruenz die „Sichtbarkeit“ eines außerzeitlichen Wollens, nur ein anderer, und zwar ontologisch beschränkter Ausdruck der großen Einsicht Lamarcks, die aus den Functionen die Organe werden sieht. Anderseits ist aber der rasche Eingang, den der Darwinismus bei deutschen Gelehrten und Denkern gefunden hat, der günstigen Vorbereitung durch Schelling-Hegel’schen Monismus nicht am wenigsten zuzuschreiben. Aus der Hegel’schen Schule, wenn schon zugleich in entschiedenem Gegensatze zu ihr, erhob sich auch die durch Marx und Engels zu so großem Ansehen gelangte „materialistische“ Ansicht der Geschichte, die nichts anderes ist als eine Folgerung aus jener Psychologie, die Schopenhauer und Darwin verbindet, eine Folgerung, die aus dem Gesichtspunkte des Monismus, vollends eines evolutionistischen Monismus, unabweisbar ist; so sehr sie auch, durch über-

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eilte Anwendungen, sich groben Missverständnissen ausgesetzt haben mag. Sie liegt ganz und gar in der Linie des historischen Denkens, das sich den rationalistischen Constructionen der Aufklärung entgegenwälzte; so aber, dass aus jenem alle conservativen Tendenzen, denen sein erstes Auftreten vorzugsweise diente, eliminiert worden sind, indem die socialistische Bekämpfung des Liberalismus an die Stelle tritt; wie der Historismus der Restauration zum Naturrecht, so will sich zum utopistischen Socialismus der wissenschaftliche verhalten – auch er will eine schöpferische Synthese in sich darstellen. Im Vaterlande Descartes’ und Gassendis hatte die Aufklärung ihren beredtesten, kosmopolitisch wirksamsten Herold gefunden: Voltaire. Neben ihm stehen auf der einen Seite die philosophisch radicaleren Encyklopädisten, die eine monistische Weltansicht im Gewande eines rein naturwissenschaftlichen Materialismus vorbereiteten, steht auf der anderen Rousseau, der, ebensoviel Poet als Philosoph, durch seine Kritik der Civilisation die Aufklärung in ihren Voraussetzungen angriff, und gegen deren aristokratischen Charakter das Herz des Volkes sprechen ließ, die natürliche Einfalt als natürliche Güte zur Geltung bringend und den Kern des Menschen in seinen elementaren Bedürfnissen und seinem moralischen Charakter ausweisend. Seine unermesslichen Wirkungen gehen alle in die Richtung, deren Linien wir hier verfolgen. Das Programm seiner praktischen Philosophie ist direct die Synthese: Wiederherstellung natürlicher Zustände auf Grund der Cultur – Verbindung von Natur und Cultur; eine Idee, die auf Kant, wie auf Fichte und Pestalozzi, auf Herder, wie auf Schiller befruchtende Wirkung geübt hat. In Frankreich pflanzte sich der Kern dieses Programmes fort in den kühnen Gedanken St. Simons. St. Simon construiert die Geschichte in freiem, wissenschaftlichem Geiste, aber erhaben über die Täuschungen der Aufklärung; er erkennt in ihr, obgleich er selber ganz auf ihrem Boden steht, den Ausdruck einer wesentlich negativen, revolutionären oder, wie er sagt, kritischen Epoche. Zugleich wies er auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Elemente der historischen Bewegung, das heißt auf die psychologisch tiefer liegenden, mit großen Ahnungen hin. Aber für die allgemeine Philosophie wurde er hauptsächlich dadurch wichtig, dass unter seinem Einflusse die Gedanken Auguste Comtes sich bildeten. Denn Comte ist typischer Ver30

kritischen Epoche: 1899 äußert sich Tönnies zum negativen Charakter der Moderne. Er bezieht sich dabei auf die seit der Aufklärungsphilosophie besonders seit St. Simon bekannte Periodisierung in kritische, d.h. zu Analyse und Auflösung traditioneller Bindungen neigende Epochen – in diesem Sinne also negative – und positive, d.h. von Pietät gegenüber vorgegebenen und gewachsenen historistischen Bedingungen erfüllte Kulturformen. Siehe dazu auch den Brief an Harald Höffding vom 14. Oktober 1888. Quelle: Cornelius Bickel und Rolf Fechner (Hg.), Ferdinand Tönnies Harald Höffding Briefwechsel, Berlin 1989, S. 34 ff.

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treter einer modernen Richtung des Philosophierens, die sich zum Ziele setzt, auf rein wissenschaftlicher Grundlage eine Weltanschauung und Lebensansicht aufzubauen, bestimmt, mit den theologischen Lehren, die in Phantasie, Glauben und Irrthümern begründet waren, an socialer Kraft, zu wetteifern, ja diese zu übertreffen. Die Idee der Synthese in diesem Gebiete kann nicht lebhafter, nicht leidenschaftlicher um Anerkennung ringen. Die „loi des trois états“ bedeutet in den übrigen Gebieten nur eine geradlinig fortschreitende Elimination fremder und störender Elemente: die positive Wissenschaft ist die reine Wissenschaft. Aber in der Sociologie handelt es sich um den positiven Charakter einer zugleich theoretischen und praktischen Philosophie an erster Stelle, um den negativen und revolutionären Charakter einer wissenschaftlich höher entwickelten Philosophie an zweiter, und an dritter und letzter um einen erneuten und endlichen positiven Charakter, der Glauben fordert und Autorität für sich in Anspruch nimmt. Das ist ganz nach dem Hegel’schen Schema gedacht: die ursprüngliche These kehrt zu sich selber zurück, nachdem sie ihre negativen Momente aus sich herausgesetzt und in sich aufgehoben hat. Kein Wunder, daß Comte wähnte, mit den Jesuiten sich verbünden zu sollen, und dass oberflächliche Zeitgenossen ihn neuerdings für einen „Conservateur méconnu“ haben ausgeben wollen. In der Tat bleibt Comte – wie Hegel und wie so viele andere führende Ingenien des Jahrhunderts – eine Gestalt voll von inneren Widersprüchen; eben darum charakteristisch für ein Jahrhundert unklarer Dämmerungen. Er wollte – wie schon St. Simon vor ihm – eine neue Religion stiften; er appellierte an das Herz, an die Liebe; er rief die Frauen und die Proletarier zu seiner Genossenschaft; in alledem war die nothwendige Folgerung enthalten, dass die Philosophie noch etwas anderes sein solle als ein Ensemble „positiver“ Wissenschaften – nämlich eine tiefe und warme Zuversicht des Glaubens, der die Seele über Raum und Zeit ins Unendliche und Ewige hinaushebt. In Großbritannien ist die Entwickelung der Philosophie von derjenigen auf dem Continent ziemlich verschieden gewesen. Die „Aufklärung“ und Kritik war im achtzehnten Jahrhundert nicht so weit vorgedrungen, der Rückschlag im öffentlichen Bewusstsein war auch minder stark, der in Frankreich und Deutschland sichtlich durch die Revolution und ihre Folgen verursacht war. Die Naturwissenschaften hatten unabhängiger von der Philosophie ihre Wege gesucht und gefunden. In den Geistes-

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reine Wissenschaft.: Das Dreistadiengesetz (oder auch Gesetz der Geistesentwicklung) des Philosophen Auguste Comte besagt, dass die Menschheit drei Stadien des Denkens / Wissens durchläuft, bis sie den Optimalzustand erreicht. Diese seien das theologische, das metaphysische und das positive Stadium.

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wissenschaften aber bleibt der philosophische Charakter des achtzehnten Jahrhunderts unter den bedeutendsten Gestalten der ersten Hälfte des neunzehnten mächtig: in Bentham, James Mill, John Stuart Mill, und gelangt, besonders durch den letzten, zu einer breiten populären Wirkung. Aber dieser, den Empirismus im Sinne Humes weiterführend, bezeichnet zugleich die an sich irre werdende Aufklärung: zu dem Begründer des Positivismus sieht er bewundernd hinüber und reicht ihm die Hand; dem Socialismus gehört seine Sympathie; er zweifelt zugleich an dem entscheidenden Werte der intellectuellen Bildung und der formalen Freiheit. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aber stellt sich neben Darwin, dem die Umwälzung der Biologie verdankt wird, Herbert Spencer, der zum erstenmale dem Begriffe der Entwickelung eine universale Geltung verleiht, und aus dem Grundgesetze der Erhaltung der Energie alle Gesetze der Entwickelung abzuleiten versucht. Wie groß auch die Fehler und Mängel des Spencer’schen Werkes sein mögen, so bleibt es doch ein höchst bedeutendes Denkmal unserer Zeit – bedeutend durch die Größe und Kühnheit der Unternehmung, durch den Ernst und die Reinheit der philosophischen Gesinnung, bedeutend auch äußerlich durch die immer wachsende Weite des Bereiches, in dem die englische Literatur gelesen wird, und durch die Theilnahme, deren es darüber hinaus, in allen Hauptsprachen übertragen, sich längst versichert hat. Es darf mit einiger Zuversicht vorausgesagt werden, dass die philosophischen Systeme des gegenwärtigen Jahrhunderts auf diesem Boden weiter bauen werden, dass sie die Idee einer Entwickelungsgeschichte des Lebens, des Geistes, der Cultur, nicht wieder aus den Augen verlieren können. Sie werden aber auch an dem Probleme Comtes nicht vorbeigehen: aus der positiven Wissenschaft und Philosophie eine geistliche Führerschaft des socialen Lebens zu gestalten. Und sie werden endlich zu dem Gedanken Hegels zurückgeführt werden, der in Kant beruht: zu einer neuen Bearbeitung aller Begriffe der Wirklichkeit, als nothwendiger Kategorien, die ein dialectisches Denken aus sich selber erzeugt. – Das Werk der schöpferischen philosophischen Synthese ist nur begonnen. Es gehört zur schweren Erbschaft, die das zwanzigste Jahrhundert auf sich nimmt. Alle Nationen, alle Sprachgemeinschaften der modernen Cultur haben zu diesem Vermächtnisse beigetragen. Den drei führenden wird es obliegen, einander gegenseitig tiefer zu erkennen, inniger zu durchdringen, um ihrer bleibenden gemeinsamen Aufgabe sich würdig zu erweisen.

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Wissenschaftliche Disputationen werden oft durch die Bemerkung unterbrochen: „das kommt auf einen blossen Wortstreit hinaus“. Es wird dabei als Einverständniss vorausgesetzt, dass man über Worte nicht streiten wolle, wenn man über die Sache der gleichen Meinung sei. Es gilt nicht nur als thöricht, über Worte zu streiten, sondern auch zumeist als vergeblich; denn man weiss oder fühlt doch: wenn einer einmal einen bestimmten „Begriff“ mit einem Worte verbindet, so ist diese Verbindung nicht leicht lösbar; er ist keineswegs bereit oder geneigt, einen anderen Begriff an die Stelle treten zu lassen, oder für seinen Begriff ein anderes Wort als bezeichnend gelten zu lassen. Man darf auf allgemeine Zustimmung rechnen, wenn man sagt: ein klarer Streit über Wirkliches kann sich erst ergeben, nachdem alle Wortstreitigkeiten ausgeschieden sind – am besten, wenn diese ganz unmöglich wären, wenn jede Gefahr eines Missverständnisses ausgeschlossen wäre. Dann würde jeder durch Worte ausdrücken, was er gedacht hat, der Hörende würde diese Gedanken richtig reproduciren und mit seinen eigenen „Ansichten“ derselben Sache vergleichen können, wenn er solche hat. Man würde sich verstehen – was im deutschen Sprachgebrauche oft schon so viel heisst als „übereinstimmen“, während es hier nur als die Voraussetzung dafür betrachtet wird, dass man Nicht-Uebereinstimmung constatire. Die eine Uebereinstimmung ist dafür nothwendig: Uebereinstimmung über die Bedeutung der Wörter. Und eben darum gilt der Streit „um Wörter“ für thöricht, weil man denkt, dass es unvernünftig sei „an den Wörtern zu kleben“, sie zu „klauben“; denn es müsse dem Vernünftigen gleichgiltig sein, ob er etwas so oder so benenne, ob ein Wort in dieser oder jener Bedeutung gebraucht werde. Es scheint leicht und einfach, sich über die Zeichen einig zu werden, wenn man nur wisse, was man

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Terminologische Anstösse: Ferdinand Tönnies, Terminologische Anstösse. In: Zeitschrift für Hypnotismus, Psychotherapie sowie andere psychophysiologische und psychopathologische Forschungen, 10. Bd., Heft 3, Leipzig 1901, S. 121-130. blossen Wortstreit hinaus: „Die meisten Uneinigkeiten in der gelehrten Republik, pflegte unser verewigte M. Mendelssohn zu sagen, laufen zuletzt auf einen bloßen Wortstreit hinaus.“ In: M. J. Landau, Rabbinisch-aramäisch-deutsches Wörterbuch, zur Kenntnis des Talmuds, der Targumim und Midraschim, Zweyter Theil, Prag 1819, S. 7.

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bezeichnen will – in diesem Gebiete, wie in jedem anderen, wo einer zu seinem eigenen (individuellen) Gebrauche sich ein Zeichen „macht“ oder Mehrere zu gemeinsamem Gebrauche darüber eine Verabredung treffen, d.h. eine Art von Vertrag schliessen, wodurch sich jeder verpflichtet, das Zeichen anzuerkennen, d.h. es in einem bestimmten Sinne anzuwenden und in einem bestimmten Sinne zu empfangen oder zu „verstehen“. Gegenüber diesem Bedürfnisse nach künstlichen Zeichen mit genau bestimmter Bedeutung besitzen wir nun aber in den Sprachen – und am meisten jeder in seiner „Muttersprache“ – Systeme von natürlichen Zeichen mit vielfach unbestimmten, mehr gefühlten als klar und deutlich unterschiedenen Bedeutungen. Freilich wir verstehen im Allgemeinen genugsam für Zwecke des täglichen Lebens – daher besonders soweit es Gefühl und Wollen zu erregen gilt (aber auch nur im Allgemeinen: denn wie viel Feindschaft entsteht durch eigentliche und wörtliche Missverständnisse!). Wenn es aber um wissenschaftliches Denken sich handelt, so ist von jeher für nothwendig oder wenigstens für erwünscht gehalten worden, „die Begriffe zu definiren“, d.h. zu erklären, in welcher Bedeutung man besondere Wörter anwenden wolle – ob dies Versprechen auch gehalten wird, bleibt dabei immer noch zweifelhaft. Nach der Absicht des Lehrers oder Schriftstellers liegt darin ein bedingtes Geheiss an den Schüler oder Leser: „wenn du mich richtig verstehen willst, so musst du diese Wörter in diesem bestimmten Sinne verstehen, d.h. bei jedesmaligem Vorkommen die Gleichung, die ihren Werth ausdrückt (d.i. meine Definition), dir ins Gedächtniss zurückrufen.“ Wer danach, um dieses ausschliesslichen Zweckes willen (den Autor zu verstehen), sich richtet, erklärt damit nicht zugleich, auch seinerseits die Wörter in jenem Sinne gebrauchen zu wollen. Will und thut er dies, so geht er gleichsam eine terminologische Convention mit dem Urheber jener Definitionen ein. Auf diese Weise können sich viele kleine Sprach-Inseln bilden – in der Philosophie als Sekten oder Schulen bekannt – deren Bewohner jenseits ihrer Grenzen von Niemandem verstanden werden, während sie unter sich die Werthzeichen ihrer Begriffe als vollgiltig geben und empfangen. In diesem Sinne ist vor 50 und 60 Jahren der „Hegel-jargon“ berufen gewesen. Hieraus kann sich zunächst ein Zustand ergeben, dem ähnlich, der zwischen verschiedenen wirklichen Sprachen besteht. Man kann aus einer Sprache in die andere übersetzen – aber man weiss auch, dass dies immer mangelhaft bleibt, zuweilen so gut wie unmöglich ist: manche Ausdrücke und Wendungen sind „unübersetzbar“, warum? weil das eine Volk kein Wort für die entsprechende ‚Sache‘ besitzt, und es besitzt kein solches Wort, weil es die ‚Sache‘ nicht kennt, d.h. aber (da es hierbei zumeist nicht um materielle Dinge sich handelt), weil es kein Bedürfniss fühlte, einen

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gewissen Complex von Vorstellungen und Gefühlen durch einen Namen zu ‚begreifen‘. Dies zeigt sich besonders in dem Mehr oder Minder von Unterscheidung: was man nicht unterscheidet, das sieht man nicht, und auch jede Combination oder Synthese muss als etwas Unterschiedenes und Besonderes vorgestellt werden, um für ein Subject überhaupt „da zu sein“. So in der Philosophie. Man verlachte im 17. Jahrhundert die quidditas der Scotisten als sinnlos; für diese – in ihrem Systeme – hatte das Wort aber eine ganz bestimmte Bedeutung. Im 17. Jahrhundert hatte man das Bedürfniss nicht mehr (oder so viel weniger), diesen Sinn zu unterscheiden, d.h. zu denken, man hatte sein Interesse in eine andere Richtung gewandt. Voraussetzung für das Bedürfniss einer gemeinsamen Ausdrucksweise ist ein gemeinsames Interesse und ein darin wurzelndes gemeinsames Denken. Nur insoweit als dieses vorhanden, ist es verhältnissmässig einfach und leicht, sich über die Ausdrücke „zu verständigen“. Dies „gemeinsame Denken“ bedeutet nicht so viel als „gleiches Meinen“ oder „übereinstimmendes Urtheilen“ – im Gegentheil, es soll ja auch die Basis dafür bieten, dass man über die wirklichen Differenzen des Meinens und Urtheilens zur Klarheit also zur Verständigung gelange. Es bedeutet aber, dass man dieselben Gegenstände des Denkens erkennen und anerkennen, oder – in complicirteren Fällen – dass man die Probleme, die Streitfragen selber, in gleichem Sinne verstehe. Davon sind wir nun auf keinem Gebiete so weit entfernt, wie auf dem der Psychologie und dem mit ihr – wie ich behaupte – ganz und gar verwachsenen der Sociologie; eben darum aber auch in der „eigentlichen“ Philosophie, denn diese ist – möge man sie als Logik, als Metaphysik oder als Erkenntnisstheorie verstehen – nichts ohne psychologische Fundamente. Besser müsste es damit stehen, wenn das Bedürfniss der Verständigung und also eines gemeinsamen, gleichartigen Denkens allgemein empfunden wäre. Das ist eben nicht einmal zwischen den Theilhabern an derselben Sprache der Fall; geschweige denn zwischen verschiedenen Sprachgebieten, von denen jedes seine eigene gelehrte Sprache ausgebildet hat, seitdem die alte Gelehrtensprache – das Neulateinische – in Verfall gerathen ist. Und in keinem ist diese gelehrte Sprache scharf geschieden von der Sprache des täglichen Lebens. Ja, es wird nicht nur für ein Verdienst gehalten, sondern sogar ziemlich ungestüm gefordert, dass wissenschaftliche Werke gerade auf diesen Gebieten „gemeinverständlich“ sein sollen: die populären (exoterischen) und die strengen (esoterischen) Darstellungen derselben Gegenstände werden nicht auseinandergehalten. Und doch ist eine Wissenschaft nicht möglich ohne Begriffe, d.h. ohne scharf begrenzte

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Denkobjecte; dagegen hat die Sprache des täglichen Lebens solches Bedürfniss garnicht: sie ist zwar sehr reich in der Bezeichnung psychischer Wirklichkeiten; aber es sind immer nur die Gefühle, Empfindungen u.s.w. dieser bestimmten redenden Menschen, die sie ausdrücken und wohl auch beschreiben will, aber nicht Gefühle und Empfindungen an und für sich, die als bei allen Menschen oder sogar Thieren vorhanden gedacht werden müssen. Da sie immer hauptsächlich auf die Phantasie wirken will, so hilft sich die Sprache des Lebens mit metaphorischen Ausdrücken; und diese gehen in die wissenschaftliche Sprache über, ohne in ihrer Ungenauigkeit erkannt zu werden. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Sprache werden zwar immer neue Versuche gemacht, die Wortbedeutungen zu fixieren. Damit verbindet sich aber allzuoft der Irrthum, als wäre dies ebensoviel als das Wesen der Sache „erklären“. Es wird verkannt, dass Begriffe unter allen Umständen psychische Gebilde sind, die von den Sachen verschieden, diese nur repräsentiren, auch wenn die Sachen selber psychische Thatsachen und Gebilde sind; ferner, dass es zwei Gattungen von Begriffen giebt, die in der Logik wohl als analytische und synthetische unterschieden werden, die aber auch empirische und rationale heissen können: jene erwachsen unmittelbar aus den Vorstellungen, d.h. aus Erinnerungen, sie sind nur Allgemein-Vorstellungen, daher je weiter, desto ärmer an Merkmalen, also an Inhalt. Diese, die wohl auch unter dem Namen der ‚Idee‘ oder des ‚Typus‘ auftreten, sind reinere Gebilde des Denkens; ihnen wird der Reichtum eines individuellen Objects gegeben, das die Allgemein-Vorstellung oder den empirischen Begriff repräsentirt, wie dieser die Menge der einzelnen Vorstellungen, aus denen er „abgezogen“ ist. Die Gattung (B) verhält sich zur Gattung (A) wie in einem speciellen (alltäglichen) Gebiete ein Maassstab zur blossen Allgemein-Vorstellung eines Längenmaasses. Der Armuth an Merkmalen entspricht hier der Mangel eines materiellen Substrats; ohne dieses ist nur eine Schätzung möglich, z.B. nach der durchschnittlichen Länge eines männlichen Fusses (welche Vorstellung auf einer unbestimmten Menge von erfahrungsmässig bekannten Füssen beruht). Eine eigentliche Messung geschieht schon, wenn ich meinen individuellen Fuss als Maassstab gebrauche; was aber durch die Messung in der Regel erreicht werden soll, wird erst möglich, wenn eine bestimmte Länge, an einem bleibenden individuellen Gegenstande verificirbar und korrigirbar, sociale Giltigkeit als Maass-Länge erworben hat, z.B. der rheinische Fuss, von dem ein Modell aufbewahrt wird. Und eine neue Aufgabe ist sodann, ein allgemein giltiges Längenmaass mit den Maassen anderer Grössen in ein System zu bringen. In der Psychologie werden, soviel ich sehe, die beiden Gattungen von Begriffen noch nicht gehörig unterschieden; und soweit als eigentliche

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Begriffe zur Anwendung gelangen, kommen sie über das Stadium der individuellen Füsse nicht hinaus oder kommen höchstens dem in einer Landschaft, einem kleinen Verkehrsgebiete giltigen Maassstabe gleich. Oder, wie Eucken in seiner trefflichen, grundlegenden „Geschichte der philosophischen Terminologie“ vor 25 Jahren mit einem anderen Gleichnisse sich ausdrückte, die Kunstausdrücke (der philosophischen Schulen) sind wie Scheidemünze: sie haben keinen Kurs ausserhalb ihres engen Bezirkes. Eucken hat, wenn ich nicht irre, kein besonderes Gewicht darauf gelegt, die Begriffe von ihren Ausdrücken zu unterscheiden; wohl aber hebt er selbst hervor, dass es immer verschiedene Denkweisen sind, die in den verschiedenen Terminologien sich reflectiren. Und ich meine, dass jeder wissenschaftlich Denkende hierüber zur Klarheit kommen sollte, dass es zweierlei ist: Begriffe bilden und sie benennen.1 Und darüber, dass es vor allen Dingen wichtig ist, in Betreff des Wesens und Inhaltes der nothwendigen und zweckmässigen Begriffe sich zu einigen. Da kommen zu den Begriffen der Wirklichkeit die rein logischen Hülfsbegriffe hinzu, die auf psychologische gleichermaassen wie auf materielle Gegenstände Anwendung finden. Die Bearbeitung und Feststellung dieser Begriffe – wie nothwendig und zufällig, möglich und wahrscheinlich, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel – war es eigentlich, die unter den alten Namen der Metaphysik oder „ersten Philosophie“ oder Ontologie gesucht wurde, und jetzt in der „Erkenntnisstheorie“ ein neues Obdach gefunden hat, nachdem jene Namen – hauptsächlich durch ihre Verbindung mit theologischen Vorstellungen – in Verruf gerathen sind. Hier liegen nun die Kunstausdrücke selber in jeder Sprache fest, und wegen ihrer Uebersetzung aus einer Sprache in die andere kann kaum ein Zweifel entstehen. Um so mehr wird eine übereinstimmende und genaue Fixirung ihres Inhalts vermisst; um so weniger wird erkannt, dass es nicht darauf ankommt, zu entdecken, was sie etwa in irgendwelchem Sprachgebrauch thatsächlich bedeuten, sondern zu statuiren, was sie, um für einen bestimmten wissenschaftlichen Gebrauch tauglich zu sein, bedeuten sollen. Und dass die Begriffe für mannigfachen Gebrauch modificirt werden müs-

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Vor sprachlichen Ungeheuern schreckt die Chemie nicht zurück – und thut ihrer Popularität dadurch keinen Eintrag – , wenn sie den Ursprung neuer Synthesen in Kunstwörtern anzudeuten sucht, die die Länge einer ganzen Zeile gewinnen. Sie ist aber durch ihr vorzügliches Buchstaben- und Ziffern-System immer in der Lage, die complicirtesten Namen im gewöhnlichen Gebrauch entbehrlich zu machen.

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ihres engen Bezirkes.: Rudolf Christoph Eucken, Geschichte der philosophischen Terminologie, Leipzig 1879.

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sen, welche Modificationen denn auch durch differenzirte Ausdrücke unterschieden werden müssen. Nächst Eucken, der nur in einem (mir nicht zu Gesicht gekommenen) Artikel des „Monist“ das Thema wieder aufgenommen hat, ist es eine englische Frau, Victoria Lady Welby, der das Verdienst zukommt, mit grosser Energie, ja mit einer edlen Leidenschaft, das Missliche der bestehenden Zustände dargestellt und auf einen vernünftigen „sinnreichen“ Gebrauch der Sprache zu Zwecken der Erkenntniss gedrungen zu haben. Sie möchte eine eigene Disciplin begründen und das Verständniss dafür schon durch den Schul-Unterricht anbahnen, die sie „Sensifics“, das Studium des Sinnes, nennt, nämlich des Sinnes, den Wörtern überhaupt haben können und den sie haben sollten; daraus müsse methodisch erlernt werden, wie ein Gedanke am treffendsten, am zweckmässigsten und am schönsten ausgedrückt werde. „Denn in der Regel finden diejenigen, die am meisten zu sagen haben, es nicht am leichtesten, es zu sagen. Im Gegentheil, die grössten Geister sind es oft, die am meisten sich beklagen über die Unzulänglichkeit von Worten, ihr ganzes Denken auf angemessene Art auszudrücken, und über das Versagen des gewöhnlichen Lesers ihnen zu folgen, selbst wo Worte ihnen in zureichender Weise gedient haben.“2 Lady Welby hat, ausserdem, dass sie diese allgemeinen Anregungen gegeben, noch in mehreren kleinen Broschüren „Zeugnisse“ wissenschaftlicher Autoren (hauptsächlich englischer) gesammelt, die den Zustand der Terminologie, sogar in der Naturwissenschaft, wo man das Uebel viel weniger vermuthet, zwar nicht systematisch, aber durch die Vielstimmigkeit um so beredter, darlegen. Die einleitenden Worte, die sie zu diesen „Witnesses of Ambiguity“ in Philosophie und Psychologie3 geschrieben hat, sind durchaus werth, hier (in Uebersetzung) wiederholt und allen, die für die Bedeutung der Sache Verständniss haben, ans Herz gelegt zu werden. Sie lauten nämlich: „Die folgenden Eingeständnisse einer irreführenden oder lähmenden Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit des Ausdruckes (wo sie oft am wenigsten vermuthet werden und am meisten Schaden thun) 2

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V. Welby, Grains of Sense. London 1897. XI u. 146 S. Ein so geistreiches und unterhaltendes, als ernsthaftes und unterrichtendes Büchlein. Neuerdings zieht die Autorin den Ausdruck Significs vor, und will das Studium der Zeichen schlechthin, und ihrer Werthe, zu einer pädagogischen und ethischen Bedeutung erheben. Besser dürfte ein dem Griechischen entlehnter Name, etwa Semantik, dieser Idee sich anpassen. Grantham 1891, W. Clarke. Preis 3 d., postfrei 3½ d. gedrungen zu haben.: „The Monist“ wurde von 1890 bis 1936 als Fachzeitschrift für Philosophie von Mary Hegeler Carus herausgegeben. Victoria, Lady Welby-Gregory, geborene Victoria Alexandrina Maria Louisa Stuart-Wortley-Mackenzie, war eine englische Philosophin.

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sind nur Beispiele, ausgelesen aus einer viel grösseren Anzahl, und diese wiederum sind nur ein Zehntel von dem, was mit Leichtigkeit gesammelt werden könnte in anerkannten und weitverbreiteten Werken der modernen Literatur; man wird sehen, dass die Fälle aus den verschiedensten Quellen geschöpft sind. Der Zweck dieser Sammlung ist, dazu zu helfen, dass ein Missstand bekannt werde, der beständig ignorirt und zuweilen sogar geleugnet wird; der aber eine Haupt-Ursache der vielfachen Unfruchtbarkeit umlaufender Erörterungen, der Verwirrung in Sachen von dringender Wichtigkeit, der Hoffnungslosigkeit in Bezug auf die Möglichkeit ist, zu einer wirklichen Lösung von „Räthseln“ zu gelangen, denen vielleicht nur ein Ueberlebsel oder ein Wechsel von Wortbedeutungen zu Grunde liegt, die als solche nicht erkannt worden sind. – Sicherlich, so lange wir uns nicht bewusst werden, wie viel Unklarheit und sogar erbitterter Streit wenigstens theilweise auf diese Ursache zurückgeführt werden kann, so lange dürfen wir nicht hoffen, dass es besser damit werde. Und ob es besser werden kann oder nicht, es muss ein Gewinn sein, zu wissen, wie es damit steht. Zur Hälfte liegt das Uebel gerade daran, dass man allgemein annimmt, „selbstverständlich“ bedeute das Wort x die Sache y, und dass weiter nichts darüber zu sagen sei.“ – Systematisch hat sodann Lady W. ihre Gedanken über „Sinn, Bedeutung und Auslegung“ in 2 Artikeln des „Mind“ 1896 entwickelt, und hieran anknüpfend erhob der französische Philosoph André Lalande in der Revue de Métaphysique et de Morale 1897 seine Stimme4, um zur Herbeiführung eines „Reiches der Ordnung“ in den philosophischen Studien mitzuwirken. Er plädirt für eine „philosophische Gesellschaft“, die sich dieses Ziel ausdrücklich setzen solle; durch sie meint er auf die „philosophische Propädeutik“ in den Gymnasien – Lalande ist selbst Professor am bekannten Lycée Michelet – wirken zu können: „sie allein kann die genügende Autorität besitzen, so lange wir nicht einen Minister haben, der selber Philosoph und Schulmeister wäre, um Ordnung in ein Gebiet zu bringen, das hauptsächlich ein Chaos darstellt“. Mir waren diese Vorarbeiten – ausser dem Buche Eucken’s – unbekannt geblieben, als ich im gleichen Jahre (1897) auf die – wie ich erst 4

„Le langage philosophique et l’unité de philosophie.“  

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„Mind“: Mind ist eine bedeutende britische philosophische Fachzeitschrift, die bei Oxford University Press unter Federführung der Mind Association erscheint und sich weitgehend Debatten der analytischen Tradition widmet. de philosophie: Der Artikel „Le langage philosophique et l’unité de la philosophie“ von André Lalande erschien in der „Revue de métaphysique et de morale“, t. VI, 1898, pp. 566-88 (566).

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später erfuhr, von Lady Welby gestellte – Preisaufgabe stiess, die eine Erörterung der Ursachen bestehender „Unklarheiten und Verworrenheiten in der philosophischen und psychologischen Terminologie“ und Angabe der Richtungen, in denen Abhülfe gesucht werden dürfe, verlangte. Ein internationaler Gerichtshof, in dem Deutschland durch Prof. Külpe, England durch Sully und Stout vertreten wurde, war dafür eingesetzt. Die Erläuterung legte hauptsächlich Werth darauf, dass eine Classification der verschiedenen Arten, in denen ein Wort oder anderes Zeichen Bedeutung haben kann, vorgetragen werde. Demnach habe ich im ersten Theile meiner Arbeit5 (die durch einstimmiges Votum den Preis erhielt) über Zeichen im allgemeinen und Worte insonderheit ausführlich gehandelt; im zweiten die sachlichen und historischen Ursachen des bestehenden Zustandes, und im dritten die Richtungen erörtert, in denen eine Verbesserung erwartet werden darf. Am Schlusse habe ich darauf hingewiesen, dass der zunehmende internationale Charakter aller Wissenschaft das Bedürfniss einer allgemein giltigen Terminologie immer lebhafter ins Bewusstsein rufen werde und dass nur aus dem Bedürfniss heraus Suchen und Finden der richtigen Mittel entspringen könne. Schon werde durch diejenigen Zeitschriften, die in mehreren Ländern gelesen werden, und durch internationale Congresse mancher Keim zu einer universalen Verständigung gelegt. Diese werde aber nur gedeihen können vermöge einer gemeinsamen Sprache, einer Weltsprache; der Terminologie freilich könne daneben auch durch graphische Darstellungen geholfen werden. Als Weltsprache empfehle sich immer noch am meisten, die nie ganz als solche ausgestorben, im wissenschaftlichen Gebrauche noch vor 200 Jahren in Uebung war, das Neu-Lateinische; da es auch immer noch, durch seine unbegrenzte Fähigkeit, griechische Wortformen sich anzupassen, die technische und wissenschaftliche Terminologie beherrsche. Um aber mit solchen Mitteln Erfolge zu haben, dazu sei nicht allein Wille und Fähigkeit, sondern Autorität nothwendig. „In jeder Hinsicht weist die wissenschaftliche Arbeit unserer Zeit, weisen besonders die ungeheueren Aufgaben des Sammelns, Registrirens, Verallgemeinerns, auf Berathung, Zusammenwirken, Organisation. Die gegebene Form der gelehrten Körperschaft ist die Academie. Was die nationalen Academien einst für die Naturwissenschaften leisten sollten, und in nicht geringem Maasse geleistet haben, das sollte einer internationalen Academie für die Geisteswissenschaften zu leisten aufge5

Sie ist in englischer Uebersetzung, die von Mrs. Bosanquet mit grosser Sorgfalt angefertigt wurde, im „Mind“ (July und Oktober 1899, Januar 1900) gedruckt worden.

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gedruckt worden: Vgl. Tönnies (1899) „Philosophical Terminology“ (3 Parts), übersetzt von H. Bosanquet.

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geben werden. Jene gründeten sich auf die materiellen und practischen Interessen von Staatsmännern und Bürgern, für Entwickelung von Handel und Industrie; Handel, Industrie und Wissenschaft haben die grossen politischen Körper zusammengeknüpft, in denen die Nationen einander jetzt, zum guten Theil in Eifersucht und Feindschaft, gegenüberstehen. Die internationale Academie muss, durch die Fülle und den Reichthum ihres Lebens, von jenen, die von ihrem Ursprunge her etwas Todtes und Mechanisches an sich haben, ebenso sich abheben, wie eine moderne Weltstadt von den starren und regulären Fürstenstädten des achtzehnten Jahrhunderts sich abhebt. Jene (die nationalen Academien) waren Erzeugnisse des monarchischen Absolutismus und des militärischen Geistes, diese (die internationale Academie) soll als Schöpfung eines demokratischen Relativismus (den man auch als Communismus bestimmen mag) und des Geistes friedlicher Arbeit betrachtet werden. Ihre Idee gründet sich auf die idealen practischen Interessen der Erziehung des Menschengeschlechts und des Weltbürgerthums: Interessen, die darauf ausgehen müssen, Psychologie und Sociologie zum Range der leitenden Organe in einem moralischen Körper zu erheben, dem sich die civilisirten Nationen freiwillig als Mitglieder unterordnen werden. Nun liegt diese Idee – wie kaum ein denkender Sociologe leugnen dürfte – sozusagen in der Luft unseres Zeitalters. Sie ist die Oberstimme zu allen Instrumenten, die im ökonomischen, im politischen und geistigen Leben unseres Jahrhunderts gespielt werden. An der Schwelle eines neuen Jahrhunderts darf sie vielleicht den Ton abgeben in diesem Concerte.“ – Wie fern und wie bald aber es einer solchen Academie gelingen würde, Autorität zu gewinnen, und gesetzgeberisch für philosophische Terminologie sich geltend zu machen, das wäre gewiss durch ihre Leistungen, also durch die Zweckmässigkeit ihrer Vorschläge am meisten bedingt. Helfen wird aber dazu auch die Verbreitung der Einsicht in die Natur des Problems, in die Nothwendigkeit einer inneren Einigung (des einzelnen Denkers mit sich selber und mit anderen Denkern) über die nothwendigen und nützlichen Begriffe, einer äusseren Einigung über die schicklichsten und zur allgemeinen Geltung tauglichsten Namen, die solchen Begriffen beizulegen wären. Solche Einsicht zu befördern ist auch diese kleine Erörterung bestimmt gewesen; dabei wäre zunächst am meisten erwünscht, wenn sie Erörterungen von anderer Seite hervorrufen würde.

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in diesem Concerte.“: Ferdinand Tönnies, Philosophische Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht, Leipzig 1906, S. 83f.

Zur Theorie der Geschichte (Exkurs) Im ersten Teile meines Jahresberichtes über Erscheinungen der Soziologie aus den Jahren 1897 und 1898 (VI. Band, 4. Heft S.  520), bei Besprechung von Barth’s „Philosophie der Geschichte als Soziologie“ habe ich die Kritik, die darin u.a. gegen Rickert ausgesprochen ist, mir ohne Vorbehalt zu eigen gemacht; dies geschah, ohne dass ich mit dem angegriffenen Buche dieses Autors anders als durch dies Referat und durch andere Referate bekannt geworden war. Inzwischen habe ich mich erinnert, und bin auch darauf aufmerksam gemacht worden, dass Herr Rickert gegen diese angebliche Widerlegung lebhaften Protest erhoben hat, als gegen eine Darstellung, die seine Ansichten „in ihr Gegenteil verkehre“ (Zeitschrift für Psychologie, Bd. XVII, S. 397). Ich habe daher, im Sinne der Gerechtigkeit, für notwendig gehalten, jene Schrift selber zu prüfen, und nachträglich mit Barths Kritik zu vergleichen. Ich habe nun allerdings gefunden, dass Barths Mitteilungen nicht nur nicht vollständig sind – dies war nicht zu verlangen – sondern auch den charakteristischen Kern der methodologischen Ausführungen Rickerts nicht in genügender Weise herausheben. „Alles, auch die ‚seelischen‘

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Zur Theorie der Geschichte (Exkurs): Ferdinand Tönnies, Zur Theorie der Geschichte (Exkurs). In: Archiv für Philosophie. II. Abtheilung. Archiv für systematische Philosophie, Paul Natorp u.A. (Hg.), Neue Folge der Philosophischen Monatshefte. 8. Bd., Heft 1, ausgegeben am 24. Februar, Berlin 1902, S. 1-38. 4. Heft S.  520): Ferdinand Tönnies, Jahresbericht über Erscheinungen aus den Jahren 1897 und 1898 (Erster Artikel.). In: Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der Philosophischen Monatshefte, 6. Bd., Berlin 1900, S. 520. Geschichte als Soziologie“: Paul Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig 1897. Bd. XVII, S.  397).: Heinrich Rickert, Berichtigung (anlässlich des Barthschen Litteraturberichts über Rickerts „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung u.s.w.“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 16. Bd., Leipzig 1898, S. 231-233), in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 17. Bd., Leipzig 1898, S. 397. zu vergleichen.: Paul Barth, „H. Rickert. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Erste Hälfte. Freiburg i.B. und Leipzig. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr. 1896. 304 S.“, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 16. Bd., Leipzig 1898, S. 231-233.

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Phänomene, lasse sich naturwissenschaftlich, und alles, auch die Dinge und Vorgänge der Natur, historisch betrachten“ ..... „Andererseits sei in der Naturwissenschaft eine geschichtliche Betrachtung wohl möglich, wofür merkwürdigerweise Häckels ‚Natürliche Schöpfungsgeschichte‘ und Weismanns ‚Kontinuität des Keimplasmas‘ als Beispiele angeführt werden“ (S.  282). So Barth S.  5 seines Buches. Und auf der folgenden Seite, wo diese Thesen bestritten werden: „Was er (R.) als historische Behandlung der Naturwissenschaft anführt, Häckels Schöpfungsgeschichte und Weismanns Erklärung der Vererbung, das ist von Rücksicht auf das Individuelle himmelweit entfernt“ ... „Wenn Rickert diese beiden Werke historisch nennt, so schiebt sich ihm als Wesen des ,Historischen‘ das Werden unter, das er vorher, als Kriterium der Geschichte, weil auch der Natur eigentümlich, mit Recht abgelehnt hat.“

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In der Erörterung, die hier gemeint ist, will Rickert (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung S.  281 ff.) „auf die Thatsache hinweisen, dass es zu einer wesentlichen Aufgabe der Biologie geworden ist, den ,Stammbaum‘ der Organismen, ,die Abstammung des Menschen‘ oder derartiges darzustellen“. Er fährt dann fort: „Welche Rolle diese Darstellungen seit einigen Jahrzehnten in der Biologie spielen, ist so bekannt, dass wir nicht näher darauf einzugehen brauchen. Wir sehen jedenfalls, naturwissenschaftlich in unserem Sinne sind sie nicht. Ein Buch, wie Häckels ,Natürliche Schöpfungsgeschichte‘ – um an das bekannteste Beispiel zu erinnern – muss man nach unseren bisherigen Begriffsbestimmungen vielmehr zum Teil den Geschichtswissenschaften, in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes, zurechnen, wenn auch sein Gegenstand im wesentlichen nur etwas relativ Historisches ist.“ Im folgenden Absatze wird ausgeführt, die Biologie zeige uns andererseits eine „auch in unserem Sinne“ naturwissenschaftliche Seite. ... „Die Biologie sucht die Natur innerhalb des Historischen, um als Biologie zu einer Naturwissenschaft, in dem Sinne wie jene Wissenschaften (Physik und Chemie) es sind, zu werden“. Und mit neuem Absatze: „In einigen Schriften Weismanns kommt  5  6

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Kontinuität des Keimplasmas: August Weismann, Die Continuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung, 2. veränderte Auflage, Jena 1892. (S.  282).: Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Erste Hälfte. Freiburg i.B. und Leipzig 1896, S. 282f. seines Buches.: Paul Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig 1897, S. 5. Schöpfungsgeschichte: Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin 1868.

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dies logische Prinzip zum deutlichen Ausdruck. Seine Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas ist nicht nur als eine Theorie anzusehen, in der etwas relativ Historisches naturwissenschaftlich behandelt wird, sondern in der die Möglichkeit einer doppelten Betrachtungsweise geradezu ausgesprochen ist. Wir können daher an dieser Theorie zeigen, dass es sich in unseren Ausführungen nicht etwa nur um eine logische Konstruktion handelt“. – An diese Sätze denkt offenbar Rickert, wenn er behauptet, dass Barths Darstellung seine Ansichten in ihr Gegenteil verkehre, und jedenfalls muss ihm zugegeben werden, dass Barth keineswegs berechtigt war, den Vorwurf zu erheben, Rickert führe Weismanns Erklärung der Vererbung als historische Behandlung der Naturwissenschaft an, und bezeichne Weismanns Schrift über die Kontinuität als ein historisches Werk. Der Vorwurf konnte nur aus ungenügender Auffassung des allerdings nicht eben einfachen Zusammenhanges entspringen. Der ganze Abschnitt handelt über „die historischen Bestandteile in den Naturwissenschaften“ (S. 264 ff.) und wendet sich, nachdem von solchen in der Physik und der Chemie gesprochen worden, der Biologie zu, „in der das logische Prinzip das uns beschäftigt, am deutlichsten zum Ausdruck kommt“ (S. 277), und worin jene Bestandteile „eine noch grössere Rolle spielen“ (S. 278). Sodann wird der logische Sinn, das Organische als entstanden aus physikalisch-chemischen Vorgängen zu denken, verteidigt, es wird die Frage nach der Entstehung der Arten als ,historischer‘ Gesichtspunkt eingeführt (280) und darauf hingewiesen, dass es der Biologie ganz geläufig geworden sei, die Welt der Lebewesen als einen einmaligen ,historischen‘ Vorgang anzusehen. Die Erwähnung von Häckels Schöpfungsgeschichte wird dann durch den Satz vorbereitet: „Das Interesse an Darstellungen dieser Art muss um so grösser sein, als es sich dabei um den Entwicklungsprozess zu handeln scheint, der von den primitivsten Stadien des organischen Lebens allmählich zum Menschen hinführt“ (281). Dann die mitgeteilten Sätze über Häckel, denen aber eine vollständige Abschwenkung folgt in dem Absatze S. 282, beginnend: „Andererseits aber zeigt uns die Biologie ebenfalls eine auch in unserem Sinne naturwissenschaftliche Seite.“ Auf diese Abschwenkung hat Barth garnicht acht gegeben, und wenn es dann heisst, Weismanns Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas sei nicht nur als Theorie anzusehen, in der etwas *relativ Historisches naturwissenschaftlich behandelt* werde, so hat Barth gemeint, diese Lehre selber werde hier als historische charakterisiert, ein Irrtum, der bei genauem Lesen sich sogleich zerstreuen muss, durch den ganzen Zusammenhang aber, worin hier die Begriffe des Historischen und des Naturwissenschaftlichen in einander verweben werden, beinahe entschuldigt wird. Der Verfasser verlangt fortwährend, dass man sich des „in seinem Sinne“ naturwissen-

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schaftlichen „Gesichtspunktes der Betrachtung“ erinnere (270) und will darlegen, man könnte sagen, konzedieren, dass die wirklichen Naturwissenschaften erstens ihrem Gegenstande oder Material nach, zweitens in ihrer Methode teilweise einen „relativ historischen“ Charakter tragen (worin das Mass der Relativität bestehe, erfahren wir niemals) „und der prinzipielle Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte *scheint* also für die empirischen Wissenschaften überall dort zu *verschwinden*, wo nicht nur die Begriffe der Naturwissenschaft historische Elemente enthalten, sondern wo auch auf den historischen Charakter dieser Elemente ausdrücklich reflektiert wird“ (271). Die ganze folgende Erörterung „durch Beispiele“ soll auch klarlegen .. „inwiefern der Gegensatz von Begriffswissenschaft“ – hier ═ dem was Verf. als Naturwissenschaft in seinem logischen Sinne versteht – „und Wirklichkeitswissenschaft – ebenso ═ dem, was er Historie nennt – eingeschränkt und abgeschwächt werden muss“ (285). In hohem Grade verwirrend ist es, wenn Rickert seinen Begriff von Begriffswissenschaft auch „Naturwissenschaft“ benennt und uns zumutet, von einer Seite zur anderen bald an die Naturwissenschaft im natürlichen und hergebrachten Sinne, bald an dieselbe in seinem Sinne zu denken; um so verwirrender ist diese Terminologie, da er ausdrücklich feststellt, das geistige Leben sei „nirgends* prinzipiell der naturwissenschaftlichen Behandlung entzogen“ (288), ja aus der Bestreitung des Gegensatzes von Natur und Geist (und entsprechender Einteilung der Wissenschaften) ein Hauptstück seiner Argumentation macht; und dass dieser Gegensatz hinfällig wird, ist allerdings Selbstfolge, wenn Verf. den Begriff der Natur selbst zu einem rein methodologisch-subjektiven gestaltet, wie es durch eine Ausführung geschieht, die in dem Satze gipfelt: „*alle* empirische Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere“ (255) – und die jenem „unserem“ Sinne von Naturwissenschaft immer zu Grunde liegt. Dass das geistige Leben einer naturwissenschaftlichen Behandlung in diesem Sinne sich nicht entziehen könne, ist in der That alles, was Vertreter einer naturwissenschaftlichen Denkweise in Psychologie und Soziologie für sich in Anspruch nehmen können, und sie haben also nur versäumt, sich dahin zu explizieren (vielleicht, weil sie es als von selbst verständlich ansehen), dass ihnen an einer Verwischung der Unterschiede, die durch das Objekt gegeben sind, keineswegs gelegen sei; und anstatt wie Rickert den Begriff der Natur zu subjektivieren, haben sie sich begnügt, ein methodisches Verfahren zu befürworten, das von dem thatsächlich in den Naturwissenschaften geübten prinzipiell nicht verschieden sei – und dieser Empfehlung schliesst sich

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Rickert nicht nur an, sondern will sie sogar prinzipiell begründen. Wenn er aber a.a.O. (288) fortfährt: „und niemand kann *also der Naturwissenschaft* eine Untersuchung der Objekte wehren, mit denen es *die Geschichte im üblichen Sinne des Wortes* zu thun hat“, so gewinnt auch dieser Satz seine Geltung im Zusammenhange des Ganzen nur, wenn verstanden wird: „der Naturwissenschaft in unserem Sinne“ und dann ist er keine Folgerung, sondern eine Tautologie: alle Wissenschaft die eine Wirklichkeit „mit Rücksicht auf das Allgemeine“ betrachtet, soll ja Naturwissenschaft heissen. Ja, müsste nicht der Titel der Schrift selber lauten: „Die Grenzen der (in unserem Sinne) naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“? Denn dass die naturwissenschaftliche Begriffsbildung im üblichen Sinne (den doch der Leser des Titels supponieren muss) ihre Grenzen da finde, wo die Objekte der Naturwissenschaften aufhören, konnte (und sollte ja auch) nicht eben als eine neue Belehrung dargeboten werden; und doch scheint sich der Gesamtsinn der Abhandlung dahin zu richten, die rohe Uebertragung üblicher naturwissenschaftlicher Betrachtung auf ,historische‘ Objekte abzuwehren. Nun mag Rickert sagen: diese Uebertragung werde in ihrer vollen Sinnlosigkeit erst offenbar, wenn der richtige logische Begriff der Naturwissenschaft aufgestellt werde, was ja er sich habe angelegen sein lassen; denn da Naturwissenschaft in diesem Sinne zwar ebensowohl die Objekte untersuchen dürfe, mit denen es die Geschichte ,im üblichen Sinne des Wortes‘ zu thun habe, wie ihre sonstigen Objekte, „*trotzdem* aber diese Darstellungen nie an die Stelle der Geschichte treten können“ (289), so folge a potiori, dass jene übliche naturwissenschaftliche Betrachtungsweise für Geschichte auszugeben, schlechthin unzulässig sei. Aber wer in aller Welt hat denn behauptet, dass die „Spezialwissenschaften, welche die Natur irgendwelcher besonderer Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens, z.B. der Politik, des wirtschaftlichen Lebens, der Kunst, der Wissenschaft u.s.w. darzustellen streben“ (um die Anerkennung, dass es solche „geben könne“, handelt es sich in dem bezeichneten Passus) dass diese Spezialwissenschaften an die Stelle der Geschichte treten können oder gar sollen?! Meines Wissens haben die Versuche, „aus der Geschichte eine Wissenschaft zu machen“, einen ganz anderen Inhalt. Sie beruhen auf der Voraussetzung, dass das sociale Leben der Menschheit in den Zusammenhang der gesamten Wirklichkeit eingebettet sei, und dass eben darum hier, wie überall, gewisse Coexistenzen und Sequenzen teils sich als notwendige erschliessen lassen, teils als thatsächliche beobachtet werden können; dass also ähnliche Zustände und Ereignisse, nach dem Masse ihrer Aehnlichkeit, ähnliche Ursachen und ähnliche Wirkungen haben. Der Gedanke ist, wie alle wissenschaftliche Forschung, wesentlich der theologischen und supranaturalistischen

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Ansicht entgegengerichtet: auch diese will die einzelnen, scheinbar zufälligen, historischen Thatsachen begreifen, indem sie die Gunst und Ungunst der Götter als ihre Urheber oder andere jenseits der Erfahrung liegende Kräfte als ihre Ursache darstellt. Beide Ansichten können sich gel­­tend machen, Beziehung nehmend auf die Wiederholungen, deren „die Geschichte“ so viele in Raum und Zeit aufweist, ohne auf die Frage einzugehen, ob die Universalgeschichte zugleich einen einheitlichen Gesamtprozess darstelle, in dessen Verlauf eine Gesetzmässigkeit erkennbar sei; dies ist bekanntlich längst theologisch ausgeprägte Meinung gewesen, ehe das Unternehmen, ihr eine wissenschaftliche Fassung zu geben, auch nur gedacht war. An eine solche Unternehmung wurde aber der Name ,Soziologie‘ durch den Urheber dieses Namens geknüpft; und der Umstand, dass dieser Name später auch an eine (in Rickerts Sinne naturwissenschaftliche) Theorie des socialen Lebens geheftet wurde, scheint dazu mitgewirkt zu haben, dass Rickert glaubt, eine in seinem Sinne naturwissenschaftliche Lehre wolle die Geschichte verdrängen; denn jene Erörterung über die „Spezialwissenschaften“ bezeichnet diese als „innerhalb der Soziologie“ stehend und geht davon aus, dass gegen die Idee der Soziologie („ein System von Begriffen zu bilden, das die Natur des gesellschaftlichen Lebens, d.h. das seinen verschiedenen Formen Gemeinsame und wenn möglich seine Gesetze zum Ausdruck bringe“) unter logischen Gesichtspunkten nichts einzuwenden sei (288). Die Soziologie in ihrem ursprünglichen Sinne ist bekanntlich nichts als eine neue „Philosophie“ der Geschichte, eben darum schliesst sie eine – notwendigerweise stark zusammengezogene – Universalgeschichte, die den Kenner irgend einer Spezialgeschichte nicht leicht befriedigen wird, ein; welches Verhältnis sich vielfach wiederholt: auch wenn nur die Geschichte eines kleinen Landes geschrieben wird, wird der Lokal-Historiker aus seinem Gesichtspunkte manches anders ansehen, und vieles vermissen, was ihm wichtig scheint. Was aber die allgemeine Tendenz eines logischen Verständnisses von Zuständen und Ereignissen betrifft, so kann diese ihrer Natur nach in jede Geschichtsbeschreibung Eingang finden und bezeichnet thatsächlich mehr oder minder jede bewusste Geschichtschreibung, also jede, die über die Thätigkeit der blossen Annalisten hinausgeht; nur dass hier die allgemeine ,Tendenz‘ auch jene supranaturalistischen Deutungen mitbegreifen muss, die von einem später erreichten Standorte aus gerade als unwissenschaftlich erscheinen; denn das Wissenschaftliche entwickelt sich aus dem Unwissenschaftlichen – die Vermittlung geschieht durch das gemeine, ,empirische‘ Wissen, das zwischen beiden steht, mit beiden sich verträgt und sozusagen die bleibende Substanz in dieser Entwicklung ist. Von dieser Art ist das von Rickert gelegentlich hervorgehobene psychologische Wissen der

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Historiker, das diese als „Psychologen“ erscheinen lasse, schon in Zeiten, da es „noch gar keine wissenschaftliche Psychologie gab“ – so drückt in seiner ergänzenden Schrift „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ R. sich aus (Freiburg i.B. 1899 S. 41). Seltsamerweise spielt er diese Thatsache gegen die Absicht, „Psychologie zur Grundlage der Geisteswissenschaften“ und damit auch der Geschichtschreibung zu machen, aus, und meint, die Psychologie, welche Historiker „brauchen“, habe „doch gewiss“ mit der begrifflichen Wissenschaft von Seelenleben nichts als den Namen gemein, jene sei eine Psychologie des Einmaligen und Individuellen, in dem Sinne, wie man z.B. von einer Psychologie Friedrich Wilhelms IV. spreche; die Fähigkeit zum intuitiven Erfassen des Seelenlebens sei von Kenntnissen in der wissenschaftlichen Psychologie völlig unabhängig. Gewiss – auch die Fähigkeit, ein wahrscheinliches Umschlagen der Witterung intuitiv zu erfassen, ist von Kenntnissen in der wissenschaftlichen Meteorologie völlig unabhängig1; aber dies intuitive Erfassen hat den verhängnisvollen Mangel, dass seine Methode nicht mitteilbar ist: sobald man dies versucht, wird es der Form nach – wissenschaftlich, wenn es auch weit von einem wissenschaftlichen Systeme entfernt bleibt. Rickert gibt zu, dass die „historische Psychologie“, die er auch als „das Verständnis einzelner Menschen oder bestimmter Massen zu bestimmten Zeiten“ umschreibt, in ihrer Technik „vielleicht“ durch die wissenschaftliche Psychologie sich vervollkommnen lasse, aber niemals lasse sie sich durch irgend eine Wissenschaft vom Seelenleben überhaupt ersetzen. Nein, ersetzen nicht, aber die Frage ist doch eben, ob diese Wissenschaft anwendbar ist und ob sie etwa mit noch höheren Erfolgen als das bloss empirische 1

Lange nachdem dies geschrieben war, stiess ich auf folgende, mir bis dahin nicht bekannte Stelle in Wundts Logik II,²2 S. 299: in Gebieten, wie Geschichte, Volkswirtschaftslehre u. dgl. sei niemals auch nur der Versuch gemacht worden, die psychologische Beobachtung und Reflexion „anders als im Sinne jener praktischen Erfahrungen anzuwenden, die sich jeder auf Grund eigener zufälliger Beobachtung und mit Hilfe der in den allgemeinen Sprachgebrauch eingedrungenen psychologischen Begriffsunterscheidungen wirklich oder vermeintlich zu erwerben Gelegenheit hat – eine „praktische Psychologie“, die sich natürlich zu einer wissenschaftlichen Behandlung psychologischer Fragen nicht viel anders verhält, als die Wetterprophezeiungen des Landmanns zur wissenschaftlichen Meteorologie“. Rickert bezeichnet es (Kulturwissensch. S. 42) als eine in seinem Sinne recht nachdenkliche Thatsache, dass Wundt (l.c. S. 2) von Thukydides sage, dass er in der psychologischen Auffassung des historischen Geschehens noch späteren Zeiten als Vorbild dienen konnte“. Ich meine allerdings, dass Wundt mit jenem ,niemals‘ gerade dem Thukydides nicht gerecht wird. Dessen Terminologie ist nicht die des allgemeinen Sprachgebrauchs, sondern die der ,Sophisten‘, von denen er gelernt hatte. Uebrigens waren auch Geschichtschreiber wie Polybios, Tacitus und unter den Neueren Hume, Gibbon, I. von Müller, Thierry, Gervinus auf dem Standpunkte ihrer Zeit doch wohl geschulte Psychologen.

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Wissen, dazu dienen könne, das gegebene Einzelne zu verstehen, also auch zu erklären. Dies Erklären gegebener Fälle ist auf keinem Gebiete gleich der systematischen Wissenschaft, die dabei angewandt wird; auf keinem ist man aber bisher auf den Gedanken verfallen, aus dieser Unterscheidung zu folgern, dass die systematische Wissenschaft für das Verständnis des einzelnen Falles keinen oder nur fragwürdigen Wert habe. Allerdings, im praktischen Leben wie in der Kunst schadet jene nicht selten mehr als sie nützt; ein sicherer Takt, d.h. starke und geübte Empfindung, ist oft der beste Wegweiser, und die Wissenschaft ist an sich ein totes Werkzeug, das erst durch Geist und Hand des Weisen die menschliche Kraft in sich aufnimmt und eben dadurch vermehrt; kein Stück von ihr ist darum entbehrlich oder verächtlich, weil der Meister, ohne es zu kennen, Schönes und Gutes leistet, der Schüler, je dreister er es handhabt, um so armseliger als Stümper sich kundthut. Dies gilt in vollem Masse auch von der Geschichtschreibung, wenn diese, wie billig, in erster Linie als eine hohe Kunst betrachtet wird. Das hindert aber nicht, dass die ganze Geschichte der Geschichtschreibung von dem Streben erfüllt ist, immer mehr Wissenschaft in sich aufzunehmen, immer vollkommenere Wissenschaft des Menschen und der Natur als Mittel anzuwenden, um die scheinbare Zufälligkeit des einzelnen Seins und Geschehens in den Ring erkannter Zusammenhänge, d.h. so sehr als möglich, der a priori bewussten Notwendigkeit des gesamten Seins und Geschehens hineinzufügen. Und dass dieses vollkommene Begreifen der sozialen, politischen und moralischen Wirklichkeit und Ereignisse ein Ziel ist, dem wir uns nur bis zu unbestimmbarer Grenze nähern können, unterscheidet die Anwendung abstrakter Wissenschaften auf diese Dinge nicht prinzipiell von der Anwendung derselben und anderer abstrakter Wissenschaften auf andere Dinge. Der grosse Unterschied liegt nur darin, dass – aus leicht analysierbaren Ursachen – die abstrakten Wissenschaften des psychischen und des sozialen Lebens viel weniger in derjenigen Richtung ausgebildet worden sind, die ihre Anwendung auf historische Thatsachen erleichtern könnte. Freilich auch die allgemeine Physiologie – des normalen und des pathologischen Organismus – bleibt sehr weit davon entfernt, jeden Zufall des pflanzlichen oder animalischen Lebens hinlänglich zu erklären; und selbst Physik und Chemie sind immer nur Hilfsmittel, keineswegs Zaubermittel,  2

auch zu erklären: Bezug auf den Methodenstreit in den Sozialwissenschaften. In der Darstellung des Methodenstreites wurden die Positionen oft verkürzt über die Begriffe Erklären kontra Verstehen charakterisiert, während tatsächlich die Dichotomie zwischen Naturwissenschaft (Erklären) und Geisteswissenschaft (Verstehen) in der Sozialwissenschaft als Doppelsinn wieder auftaucht, als objektiv rekonstruierter und subjektiv gemeinter Sinn, der nach Max Weber mit der Methode des deutenden Verstehens zu erfassen ist.

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um die wirklichen Geschehnisse, kosmische oder tellurische, verständlich zu machen, von denen eben darum nur wenige mit vollkommener Sicherheit vorhergesagt werden können. Alle reinen Wissenschaften handeln unmittelbar nur von Typen und typischen Fällen. Wenn nun einige Historiker bisher mit „ihrer“ Psychologie historische Persönlichkeiten und Ereignisse auf bewunderungswürdige Art geschildert haben, ist es notwendig, dass – sagen wir einmal, der durchschnittliche Historiker dies minder gut verstehen werde, wenn sein psychologisches Wissen systematischer und exakter geworden ist, wenn er sich herbeilässt, von den Fortschritten der wissenschaftlichen Psychologie Nutzen zu ziehen? Ist nicht das Gegenteil recht sehr wahrscheinlich? Ohne die Einflüsse von Begriffen, die ihrem Wesen nach wissenschaftlich sind, hat auch bisher ihr Wissen nicht entstehen können; dass diese Begriffe von Philosophen gebildet wurden, unterschied sie bis vor zwei bis drei Jahrhunderten von physikalischen Begriffen nicht, und wenn von der heutigen Psychologie und ihren Methoden gar vieles für den Historiker nicht brauchbar ist, so folgt daraus nicht, dass wissenschaftliche Psychologie überhaupt für ihn unbrauchbar ist – vielleicht hat allerdings die heutige Psychologie in der Auffassung des organischen Ganzen von Vorstellungsleben und Charakter nicht so grosse Fortschritte gemacht, als man wünschen möchte, (wie denn die Psycho-Pathologie gerade jetzt das Bild einer heillosen Verworrenheit darbietet); vielleicht ist sie auch noch zu sehr Individual-Psychologie geblieben, zu wenig Social-Psychologie geworden. Und doch wüsste ich nicht, was die ,Kunst‘ der historischen Psychologie „des Einmaligen und Individuellen“ mit einer Individualität wie Friedrich Wilhelm IV. anzufangen vermöchte, wenn sie es grundsätzlich verschmäht, von den Erfahrungen und Theorien der Psychiater zu lernen und gewisse Begriffe, die diesen geläufig sind, auf den König, wie auf andere Sterbliche anzuwenden. Rickert scheint nicht bemerkt zu haben, dass das ,intuitive‘ Erfassen einer Wirklichkeit oft nur das Erfassen mittels alter und vielleicht veralteter Theoreme ist, wenn sie etwa auch dem, der sie anwendet, niemals in abstracto bewusst geworden sind. „Erklären und verstehen“ – will uns Rickert belehren (Kulturwissenschaft S. 42) – „müssen wir auseinander halten. Erklären wollen wir die Natur des psychischen Seins, indem wir nach seinen allgemeinen Gesetzen suchen, das Seelenleben in der Geschichte aber wollen wir verstehen, indem wir es in seinem individuellen Verlauf nacherleben“. Also nicht erklären – auch der Historiker, der es

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Verlauf nacherleben: Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag, Freiburg i.B. / Leipzig und Tübingen 1899, S. 42f.

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„versteht“, hat nicht die Aufgabe, seinen Lesern es zu erklären, d.h. sie es verstehen zu lehren? Freilich, der blosse Erzähler braucht diese Aufgabe nicht zu kennen, er thut seine Pflicht, wenn er nur die Wirklichkeit, so wie sie war oder ist – denn er kann ja auch von Land und Leuten, von Sitten und Gebräuchen erzählen – anschaulich, lebendig darstellt; wie auch von dem Reisenden, oder dem, der sonst seine Erlebnisse schildert, insgemein nichts anderes verlangt wird.

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Aber Erzählen, ist denn das – Wissenschaft? In Rickerts Verstande allerdings; er statuiert, wie wir sahen, die Geschichte als „Wirklichkeitswissenschaft“ (255), sie habe die Aufgabe, das Wirkliche im Besonderen und Einzelnen zu suchen (ibid.), also kann sie garnichts besseres thun, als nachdem sie es gefunden, es darstellen, es erzählen. Und doch gibt Rickert zu (jene Bestimmungen sollen den Begriff der Geschichte noch als offenes Problem lassen): wenn man das „Allgemeine“ ausscheide, so werde Wissenschaft unmöglich; er beruft sich aber dann darauf, das Allgemeine sei ein vieldeutiger Ausdruck, und unternimmt, zu zeigen, dass es in jeder historischen Darstellung nicht weniger als vier verschiedene Arten des Allgemeinen gebe und „trotzdem“ müsse die Geschichte, im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, als die Wissenschaft „der individuellen und besonderen Dinge“ angesehen werden. Dieser Lehre ist eine besondere Abhandlung gewidmet, die, in französischer Sprache erschienen, den Inhalt des zweiten Bandes der Schrift „Die Grenzen etc.“ skizzieren soll.2 Hier ist von dem Grundsatze, der den ersten Band beherrscht, dass Geschichte eine prinzipiell andere Betrachtung aller Wirklichkeit sei, nur im Vorübergehen noch die Rede. Nur am Schlusse (p. 19) wird ausgesprochen, die „historische Idee der Entwicklung“ sei im 19. Jahrhundert auf die Körperwelt selbst angewandt worden (früher nicht? also gab es keine Embryologie vorher, kein Studium der Evolution und Involution von Tier und Pflanze?) und folglich die historische Methode in das *Gebiet* der Naturwissenschaften eingedrungen. Diese Tendenz begegne aber neuerdings einer entschiedenen Reaktion und werde vielleicht bald selber „der Geschichte angehören“ (auch die Lehren Kopperniks, Galileis, Harveys, Newtons u.a. begegneten zu Zeiten einer entschiedenen Reaktion; sie gehören allerdings der Geschichte an – aber wie?). Behauptungen und Voraussa2

Les quatre modes de l’Universel en histoire, par Heinrich Rickert: Revue de synthèse historique. T. II 2 No. 5 (Avril 1901) Paris 1901. p. 4 c. not.

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Koppernik: Gemeint ist Nikolaus Kopernikus. Die ursprüngliche Schreibweise des Namens war „Niklas Koppernigk“.

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gungen, von denen (wie die Parenthesen andeuten sollen) die einen mich so seltsam anmuten wie die anderen. „Die historische Idee der Entwicklung“ also aus der Geschichte auf die Naturwissenschaft übertragen? Ich finde im Gegenteil, dass von altersher den Historikern die gemeine Erfahrung, dass alles Lebende keimt, blüht und abstirbt, auch im Leben der Völker, der Städte und Reiche sich bewährend erschienen ist, dass sie in bewusstester Weise diese Ideen von dem bekannteren in das minder bekannte Gebiet übertragen haben. Dass der Gesichtspunkt des „Gewordenseins in der Zeit“ auf die Arten angewandt wird, ist am allerwenigsten im Bereiche der „Naturgeschichte“, also dort, wohin es gehört, etwas prinzipiell und logisch Neues, da man nicht nur von Individuen, sondern auch von Varietäten das zeitliche Werden von je beobachten, ja mit Willen bewirken konnte, und von Arten wusste man wenigstens längst, dass es auch ausgestorbene gibt; der Verallgemeinerung, dass Arten überhaupt entstehen und vergehen, stand nur auf der einen Seite das theologische Dogma, auf der anderen die Enge der bisherigen wissenschaftlichen Erfahrung und das scheinbare Gegenzeugnis der Paläontologie entgegen. Doch ist es niemandem in den Sinn gekommen, den Studien Harveys, Spallanzanis und Caspar Fr. Wolffs über die Entwicklung des Eis, der Spermatozoen und des menschlichen Foetus den naturwissenschaftlichen Charakter abzusprechen, weil diese Entwicklungen historisches Geschehen seien. Freilich: für sie war die Beobachtung und Schilderung des einzelnen Falles nur Mittel für ihre grosse Absicht, zu allgemeinen Schlussfolgerungen über die allgemeine Thatsache der organischen Entwicklung von Individuen zu gelangen – aber deswegen sollte der Begriff der Entwicklung den Naturwissenschaften eigentlich fremd sein und demnächst auf seine endgültige Ausweisung aus ihrem „Gebiet“ sich gefasst machen müssen? Rickert verzerrt und verdunkelt hier seinen eigenen Gedanken, der doch nur jenen Inhalt hatte, dass die Geschichtschreibung das Einzelne um seiner selbst willen wertschätze und berichte, und garnicht zu allgemeinen Begriffen kommen wolle, also z.B. auch den allgemeinen Begriff einer Volksentwicklung ablehnen müsse. Freilich: warum der Historiker diese Beschränkung sich auferlege und gar sich auferlegen solle, das vermag R. uns nicht zu offenbaren. Oder vollends: warum es nicht neben dem Historiker, der unter irgendwelchen ,allgemeinen‘ Gesichtspunkten die vereinzelten Thatsachen erzählt, auch einen historischen Denker geben dürfe (werde sein Denken nun Philosophie der Geschichte oder sociologische oder wissenschaftliche Geschichte – in anderem Sinne als die Rickertsche Wissenschaft des „Erzählens individueller und einzelner Thatsachen“ – genannt), der solche Einzelheiten und Zufälligkeiten unter dem Gesichtspunkte betrachtet, dass ein Allgemeines und Notwendiges sich in ihnen darstellt, dass jene nur ein, wenn auch durch seine individuellen Merkmale noch so interessantes Beispiel einer allgemeinen,

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d.h. wenigstens allgemeineren Erscheinung des socialen Lebens darbieten, das fragen wir vergebens. Und doch will thatsächlich jeder historische Autor, der seine Thätigkeit von der des Chronikschreibers sei es als pragmatische oder als genetische Historie unterscheidet, nichts anderes als solche allgemeine Betrachtungen mit der geschichtlichen Erzählung verbinden – warum sollte man sie nicht aus dieser Verbindung lösen können, indem man die sonst zu erzählenden Thatsachen als bekannt voraussetzt, warum nicht die Thatsachen unter dies Prinzip der Auslese bringen, demzufolge etwas um so merkwürdiger ist, je mehr es als gesetzmässig begreiflich dargestellt werden kann, je weniger es als zufällig und individuell dem wissenschaftlichen Verständnisse sich widersetzt – ? „Aber dieses Zufällige und Individuelle hat nun einmal die allergrössten Wirkungen in der Geschichte: wieviel ist von dem Auftreten eines grossen Mannes abhängig, in der politischen Geschichte, wie in der Geschichte der Künste und Wissenschaften; wieviel entscheidet in Politik und Kriegsgeschichte die Laune oder der weise Entschluss eines Fürsten!“ Allerdings, das Auftreten grosser oder erlauchter Persönlichkeiten! Die grossen Persönlichkeiten erscheinen vereinzelt unter vielen kleinen, grössere überhaupt fallen unter kleineren auf, sie erscheinen in verschiedenen Gebieten – in welchem der Einzelne erscheine, ist sichtlich durch seine Abstammung, Erziehung u.s.w. bedingt; so ist es in den meisten Ländern viel wahrscheinlicher, dass ein hervorragender Politiker aus dem Stande der adligen Grundbesitzer hervorgeht, als aus dem der Fabrikanten und Kaufleute, innere und äussere Umstände begünstigen jenen, um einen solchen Menschen hervorzubringen und um ihn emporzubringen. Wir können mit leidlicher Sicherheit voraussagen, dass sich dies im Lebenslauf der nächsten Generation kaum verändern wird, wenn nicht sehr ungewöhnliche, also, soweit wir urteilen dürfen, unwahrscheinliche Ereignisse störend dazwischen treten. Grosse Menschen, wie kleine, sind bedingt und bestimmt durch das, was ist und geschieht, so gut wie sie ihrerseits es bedingen und bestimmen; sie sind die Erzeugnisse und Geschöpfe sowohl als die Träger und Potenzen der jedesmaligen Geschicke eines Volkes. Alle arbeiten an gegebenem, überliefertem Material, an gestellten Aufgaben, an Notwendigkeiten und Gebotenheiten. Alle bedingen einander gegenseitig, hemmend und fördernd, beschränkend und erweiternd, kämpfend, konkurrierend, herrschend, gehorchend, helfend, ehrend, drückend, mindernd – jeder Kreis, jede Gruppe den anderen (die andere), in jedem Kreise, jeder Gruppe die Einzelnen einander – jeder nach seinen Kräften, daher der „grosse“ Mann wichtiger, tiefer, nachhaltiger wirkend, als ein durchschnittlicher – aber der mittelmässige, wenn günstig situiert, z.B. auf einem Throne, nimmt es mit dem grossen auf – ; in einigen Beziehungen mehr als tausende zusammen, jedenfalls aber qualitativ anderes, als die vielen um ihn her, und für manche Betrachtungen ist es gerade das besondere

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Werk, das z.B. ein grosser Künstler geschaffen hat, was die historische Bedeutung für uns enthält, und zwar gerade das Unterscheidende, Individuelle, Einzige daran – wie, wenn der historische Denker bei solchem verweilen muss? Er wird doch wohl auch hier sagen, das edelste Werk sei ein seltenes unter vielen gemeinen, und wenn etwa für die ästhetische Ansicht jenes „unvergleichlich“ ist, so darf doch der wissenschaftlich Denkende des Vergleichens niemals sich entschlagen, und wird sich die Aufgabe setzen, zuerst das Gemeine, das Allgemeinere zu verstehen, d.i. aus seinen Ursachen und Bedingungen zu erklären, um emporsteigend auch das einzigartige Produkt aus dem Hinzukommen höchst besonderer Ursachen und Bedingungen entwickelnd abzuleiten; er wird aber immer finden, dass das Beste auf einem breiten Grunde des Guten ruht, und was sich über die Tradition erhebt, am meisten aus ihr empfangen und gelernt hat. Wenn etwas übrig bleibt als das schlechthin Individuelle, so heisst dies, dass hier die wissenschaftliche Ansicht ihre Grenze findet und dass die bewundernde Anschauung ihr Vorrecht behält. – Be- und Verwunderung wird oft für den Anfang des wissenschaftlichen Denkens ausgegeben, sie ist aber auch dessen Ende, jedenfalls ist sie von ihm verschieden und bezeichnet allerdings seine Grenzen, weil es nicht mehr verallgemeinern, nivellieren, auf Regeln beziehen kann3. Alles das nennt aber Herr Rickert spezifisch-naturwissenschaftliches Denken, und meint, ein anderes wissenschaftliches Denken, das sich auf Wirklichkeit als Summe einmaliger Fakta beziehe, habe es zwar auch mit Allgemeinheiten zu thun, aber mit Allgemeinheiten in ganz anderem Sinne. Diese will er in den vier Modi schildern, denen die französische Abhandlung gewidmet ist. Nur dem letzten dieser Modi nach soll es sich um 3

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Die Geschichte überhaupt, und insbesondere die politischen Entwicklungen aus grosser Männer Absichten und Thaten erklären, diese aber als zufällig auffassen (wie bei Rickert vorherrschende Tendenz), ist ein entschiedener Rückschritt gegen die bei unsern besten Historikern, auch bei Ranke, längst eingewurzelte philosophische Ansicht, der z.B. Kant Ausdruck gegeben hat: „Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, dass, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den andern, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen, und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt wäre, ihnen doch wenig gelegen sein würde“ (Idee zu einer allgem. Gesch. Eingang). Ein Bewusstsein von ihrer – wie es wohl sehr stark ausgedrückt wird – Marionetten-Eigenschaft haben gerade leitende, handelnde Männer, wenigstens wenn sie zurückblickend reflektierten, oft gehabt, z.B. Napoleon, Bismarck! (Vgl. beider Memoiren, Gespräche u.s.w.). gelegen sein würde: Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant’s Gesammelte Schriften „Akademieausgabe“, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin und Leipzig 1923, S. 17.

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allgemeine Begriffe handeln, die „in jeder historischen Untersuchung nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck der Darstellung ihre Stelle finden“ (S. 15). Sodann wird ungefähr im Sinne, wie hier angedeutet, anerkannt, dass man in jeder „historischen Erzählung“ auch allgemeine Begriffe antreffen müsse; aber die Geschichte könne sich niemals prinzipiell darauf beschränken, weil eben die persönliche Thätigkeit des Einzelnen einen unberechenbaren Einfluss auf Jahrhunderte hin ausüben „könne“. Ueberdies seien (S. 17) die Begriffe des Allgemeinen und des Besonderen relativ, folglich erhalte man eben durch Vergleichung eines allgemeinen Begriffs mit einem allgemeineren ein individuelles Objekt: dies sei auf Gruppen wie auf Individuen anwendbar, der Begriff habe im historischen Exposé nicht zum Zweck, die allgemeine Natur einer Art, sondern eben die Individualität der Gruppe oder des Individuums zum Ausdruck zu bringen; der Inhalt eines Begriffes nehme einen ganz anderen Sinn an, je nach der Gesamtheit der Relationen, in die er gesetzt werde, und nach dem Princip, das seiner Bildung zu Grunde liege. Es handle sich in keinem Falle um Bildung eines Systems von Begriffen für die Geschichte, und wenn dessen ungeachtet sie allgemeine Begriffe, die sich auf Gruppen beziehen, in sich einschliesse, so sei der Grund lediglich der, dass in vielen Fällen das was wichtig sei für alle Glieder der Gruppe – und dies sei der eigentliche Gegenstand der Geschichte – sich au même titre in allen Teilen der Gruppe wiederfinde. Diese Koinzidenz sei aber, logisch betrachtet, rein zufällig. Niemals denke der Historiker daran, seine Begriffe unter noch allgemeinere zu subsumieren oder gar unter ein ganzes System allgemeiner Begriffe, er wolle keinesfalls vermittelst ihrer den allgemeinen Charakter einer Art, sondern immer nur eine bestimmte historische Gruppe mit ihren besonderen und individuellen Merkmalen darstellen. – Ueberall ist hier ersichtlich, dass die vorgetragene Wissenschaftslehre aus dem wirklichen Verfahren der Historiker ihre Verallgemeinerungen ableiten will – ohne die Frage aufzuwerfen, ob dieses wirkliche Verfahren ein wissenschaftliches sei oder etwa nur versuche, ein solches zu werden. Die ursprüngliche Unterscheidung, kraft deren Geschichte wesentlich als Methode und im Gegensatze zur Naturwissenschaft als Methode erschien, ist dagegen, wie gesagt, in den Hintergrund verdrängt worden. Ich halte diese Unterscheidung ihrem Kerne nach für richtig, wenn auch nicht für erschöpfend, und wenn ich auch den Gebrauch des Terminus Geschichte hier als unnötig und als irreführend verwerfe. Ich meine nämlich, man müsse allerdings unterscheiden zwischen reiner Wissenschaft, die ihrem Wesen nach, wie es durch die Denker aller Zeitalter beglaubigt wird, ein System von allgemeinen Begriffen und Urteilen ist, und dem wissenschaftlichen Begreifen und Beurteilen gegebener Wirklichkeit. Auch dieses kann

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in ein System auswachsen und dann selbst eine (besondere) Wissenschaft heissen, insofern als es auf einen geschlossenen Kreis von Erscheinungen und auf regelmässig wiederkehrende Vorgänge sich bezieht. Aber auch solche Vorgänge, die nach erkennbarer Regel sich wiederholen, oder doch begriffen werden als ihrer allgemeinen Natur nach durch dauernde oder periodisch wiederkehrende Ursachen hervorgerufen, bieten dem Beschauer, teils durch die Art ihrer Erscheinung, teils durch die Komplikationen, in die sie eintreten, zugleich eine Seite dar, von der gesehen, sie ausserhalb jedes Systemes fallen und gerade in ihrer nach Raum und Zeit individuellen Bestimmtheit zunächst der Wahrnehmung sich darbieten und sodann zur Erklärung ihrer besonderen Eigenschaften auffordern. Nicht bloss „die Wirklichkeit, die wir als Kultur betrachten“, wie Rickert meint (Kulturwissensch. u. Naturwissensch. S. 45), „muss zugleich auch immer auf das Besondere und Individuelle hin angesehen werden“, sondern zahlreiche Vorgänge und Erscheinungen der Natur verlangen dies in jeder konkreten Wissenschaft nicht minder. Jeder Fixstern und jeder Planet, die Sonne, die Erde und ihr Mond, alle können nur als individuelle Erscheinungen auf angemessene Art betrachtet werden, neben welcher Betrachtung die Betrachtung als eines Fixsterns, einer Sonne u.s.w. notwendigerweise zurücktritt oder ganz bedeutungslos wird. Und Vorgänge, wie etwa ein Venus-Durchgang, eine totale Sonnenfinsternis, eine enorme vulkanische Eruption sind nicht in dem Sinne von Kulturvorgängen verschieden, dass sie nur als Exemplar für einen mehr oder minder allgemeinen Begriff in Frage kommen. Andererseits gilt eben dies für eine grosse Menge wirklicher und unzweifelhafter Kulturvorgänge. Z.B. der Pomp, mit dem Könige und Kaiser einander als Gäste beehren, ihre friedlichen Beteuerungen und Umarmungen, die Verleihung von Regimentern u.s.w., so sehr auch die Zeitungen als Chronikschreiber beflissen sind, die „individuellen Gestaltungen“ dieser Vorgänge „idiographisch“ der Mit- und Nachwelt zu überliefern, so sehr auch die Hof- und etwa die Militär- und andere „patriotische“ Historiker die „Kulturwerte“ dieser Dinge würdigen mögen – für den Volks-Historiker wie für den Philosophen, der die moralische und politische Seite historischer Thatsachen ins Auge fasst, sind sie in Wahrheit nur „gleichgültige Gattungsexemplare, für das ebenso gut ein anderes derselben Gattung eintreten könnte“ (Rickert a. a. O. S. 45). An Stelle der (wie es scheint, später erst entdeckten) vier Modi des Allgemeinen ist in der hier angezogenen mittleren Abhandlung der „Kulturwert“ das alleinige „Prinzip der historischen Begriffsbildung“ und damit der Unter-

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konkreten Wissenschaft nicht minder.: Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag, Freiburg i.B. / Leipzig und Tübingen 1899, S. 45.

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scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, der „Auswahl aus der unübersehbaren Fülle der Objekte“. Auf den naheliegenden Einwand – der freilich die Frage, ob eine Wissenschaft einmaliger und individueller Thatsachen möglich sei, gar nicht trifft – dass die Kulturwerte für jede politische und religiöse Partei, für den Theologen oder den Naturforscher, den Aesthetiker und den Ethiker verschieden seien, antwortet der Verfasser am Schlusse dieser Schrift (S. 61 ff.) mit Behauptung der Möglichkeit eines „Kulturwertsystems“ und der „Herausbildung eines objektiven und systematisch gegliederten Begriffes der Kultur“ – dieser unbedingt allgemeingültige Wert der Kultur soll dem unbedingt allgemeingültigen Gesetz der Natur „entsprechen“ (S. 64) und sei „unumgängliche Voraussetzung, wenn man für die Kulturwissenschaften Objektivität im höchsten Sinne in Anspruch nimmt“ (S. 64). Auf Kulturwissenschaften oder, wie es früher öfter heisst, historische Kulturwissenschaften wird nämlich hier alles ausgedehnt, was sonst über die Geschichte gesagt wurde; nur dass die subjektive und methodologische Bedeutung, die dem Begriff der Geschichte gegeben wurde, auch hier ausser acht gelassen ist, wenn sie gleich hie und da in Erinnerung gebracht wird; die Vermittlung soll darin liegen, dass „die für alle Kulturobjekte notwendige Betrachtung eben ihrer Darstellung nach historischer Methode ist, und dass der Begriff dieser Methode zugleich nur aus dem Begriff der Kultur sich verstehen lässt“ (S.  18); Mittelgebiete gebe es zwar, aber „bei Erforschung des Naturlebens“ werde doch „hauptsächlich nach naturwissenschaftlicher, bei Erforschung des Kulturlebens nach historischer Methode verfahren“ (S. 19). „Werde verfahren“ – und so ist auch im folgenden immer, bis zu jenem Schlussabschnitt, von dem wirklichen Verfahren der Historiker die Rede, nicht von einem vorgestellten, möglichen und idealen; die Logik, die hier vorgetragen, und der Meinung des Aristoteles, dass das Besondere in die Wissenschaft nicht gehöre, ausdrücklich entgegengesetzt wird, will „die Wissenschaften nicht meistern, sondern verstehen“ (S.  37). „Es *giebt* Wissenschaften, die nicht auf Bildung allgemeiner Begriffe ... gerichtet sind, und das *sind* die historischen Wissenschaften“ (das.). Dagegen am Schlusse (S.  64): „So giebt es schliesslich keine Geschichtswissenschaft“ – und das ist ja hier nur ein anderer Name für Kulturwissenschaft – „*ohne Geschichtsphilosophie*“. Daraus würde folgen, dass es bisher überhaupt keine Kulturwissenschaften giebt. Zum mindesten müssten die so genannten mit einer geringeren Hochachtung des Philosophen sich bescheiden müssen; denn er macht nun in der That Anspruch darauf, sie zu ‘meistern’. In der That herrscht nicht, wie aus Rickerts Darstellung entnommen werden könnte, Friede und Harmonie, sondern ein starker Gegensatz und Kampf zwischen einer systematischen und einer historischen

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Behandlung der ‘Kulturwerte’: die letztere, ehemals durchaus dienend und untergeordnet, hat jene frühere, die als die philosophische und wissenschaftliche immer gegolten hatte, völlig zu verdrängen und zu überwinden gesucht und ohne Zweifel den äusseren Erfolg für sich behalten. Nur etwa die Aesthetik und mehr noch die Ethik – mit deren Tendenzen alle jene allgemeinen oder philosophischen Lehren innerlich verwandt waren – haben sich einigermassen gegen die historisierende Zersetzung ihres dogmatischen Bestandes zu erhalten gewusst. Diese ganze „Richtung auf die Geschichte“ im antisystematischen Sinne (von deren Vorwalten im 19. Jahrhundert Rickert nichts bemerkt haben will – gegen Paulsen – Die Grenzen S. 1) ist freilich nicht älter als zwei bis drei Menschenalter, und im gegenwärtigen sind die reassertorischen Bemühungen um neue allgemeine oder philosophische Lehren von Recht, Gemeinwesen, Religion schon unverkennbar; wir könnten ihnen Rickerts Forderung der „Einheit und Objektivität unserer Wertungen“ und in der That seine ganze Auffassung der Geschichte, wenn sie als eine rationale und reformatorische verstanden werden dürfte, anreihen; nur können wir leider nicht sagen, dass uns bei ihm eine durchdringende Erkenntnis der vorhandenen Elemente, Strebungen und Gegensätze in den Kulturwissenschaften begegnet ist. Vielmehr lassen uns die bisherigen, freilich fragmentarischen Auslassungen dieses Autors über den wesentlichen Kontrast zwischen Geschichte und Naturwissenschaft im höchsten Grade unbefriedigt. Denn sie kommen immer darauf hinaus, die blosse Beschreibung von Thatsachen (sofern diese einen zeitlichen Verlauf haben), wenn sie auch noch so weit von objektiven Wertungen entfernt bleibt, als Wissenschaft geradezu zu feiern, und die begriffliche Wissenschaft als „tötende Allgemeinheit“ von allen Kulturthatsachen auszuschliessen; wenn es auch an Reserven und scheinbaren Deckungen nicht fehlt: so wird von den „methodischnaturwissenschaftlichen Bestandteilen in der Kulturwissenschaft“ S.  55 gesprochen, ja geradezu von „den nomothetischen Kulturwissenschaften“ S. 58; ein Kulturbegriff bestimme aber auch bei ihnen nicht nur die Objekte, sondern mache „in gewisser Hinsicht“ auch die Begriffsbildung historisch und teleologisch. Hiervon geschieht dann eine höchst sonderbare Anwendung. Der Verf. spricht herablassend von den neueren Bemühungen, Kulturerscheinungen in ihren primitivsten Stadien bei den sogenannten Naturvölkern aufzusuchen – man müsse dabei sich hüten, dass 10 14

gegen Paulsen: Heinrich Rickert bezieht sich auf das Buch: Friedrich Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Berlin 1892. Religion schon unverkennbar;: Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Erste Hälfte. Freiburg i.B. und Leipzig 1896, S. 1.

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man den historischen Begriff eines Kulturobjektes nicht auf Wirklichkeiten ausdehne, „die nicht mehr Kultur genannt werden sollten“; man „dürfe“ dabei doch immer nur Begriffe von einer relativ geringen Allgemeinheit verwenden. „Man wird z.B. ganz sicher sein müssen, ob eine Bethätigung, die man für Kunst hält, auch wirklich mit dem noch irgend etwas gemein hat, was *wir bei uns Kunst nennen*, und das ist nur mit Hülfe eines historischen Kulturbegriffes von Kunst möglich. Sonst kann das Hineinziehen irgend welcher beliebiger Produkte primitiver Völker, *bei denen ästhetische Wirkungen für ihre Erzeuger gar nicht in Betracht kommen*, in der Kunstwissenschaft lediglich Verwirrung stiften ...“ Wie, wenn nun die Absicht auf ästhetische Wirkungen eben zu dem Späten und Hohen gehörte, dessen Entstehung aus unabsichtlichen, zufälligen solchen Wirkungen gerade dann erforscht werden muss, wenn man „das, was wir bei uns Kunst nennen“, historisch verstehen will? Zu schweigen davon, dass kundige Ethnologen diesen Philosophen um sein sicheres Wissen über die ästhetischen Absichten primitiver Völker beneiden werden. So viel auch das Wort Entwickelung hier vorkommt, so mündet diese „Geschichtslogik“ doch in Verkennung und Ablehnung des gesammten Begriffes der Entwicklung. Die Anfänge der Kunst haben, wie die Anfänge anderer Dinge, mit dem, was „wir“ heute so nennen, für eine oberflächliche Ansicht vielleicht „nichts“ gemeinsam; Aufgabe des wissenschaftlichen Forschers ist es eben, das Gemeinsame zu entdecken, und gewahr zu werden, „dass nun das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich oder unähnlich erscheinen kann“ („darin“, fährt Goethe fort, „besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur“ – und ich denke, wir werden daran festhalten, dass das Leben der Menschen dazu gehört).

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Unter keinen Umständen und in keiner Hinsicht kann die blosse Erzählung oder die noch so sehr veredelte Kunst der Erzählung oder der Inhalt einer noch so ausgebreiteten Erzählung eine Wissenschaft heissen; schon darum nicht, weil die Idee eines geschlossenen Ganzen von Wissbarem, Wissenswertem, Gewusstem vollständig ferne liegt: Geschichte als System ist ein Unding, jede Wissenschaft will aber ein System sein. Die „Geschichtswissenschaft“ gehört dem losen, aber für seinen Zweck unanstös26

Leben der Natur“: Johann Wolfgang von Goethe, Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet. In: Goethes Werke, herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, II. Abtheilung, 6. Bd., Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, 6. Bd. Zur Morphologie, 1. Theil. Weimar 1891, S. 12.

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sigen Sprachgebrauche der Universitäten an; daneben lebt in allen philosophisch geschulten Köpfen das Bewusstsein von dem Gegensatz der Begriffe Geschichte und Wissenschaft. Auch Rickert bezieht sich ja fortwährend darauf als auf die „herkömmliche“ Ansicht; er unternimmt es, sie zu zerstören, aber wir dürfen mit Sicherheit voraussetzen, dass es ihm nicht gelingen wird; im Gegenteil: er wird dazu beitragen, dass wir uns des Unterschiedes zwischen blosser Geschichte und wirklicher Wissenschaft schärfer bewusst werden. Geschichte kann wissenschaftlich sein und werden, in dem Masse, als sie die Ereignisse als Naturereignisse, obgleich durch menschliches Wollen vermittelte, aufzufassen gelernt hat. Was aber als Geschichtswissenschaft an den Universitäten verstanden, geübt und gelehrt wird, ist thatsächlich etwas ganz anderes, es ist überhaupt von der Geschichtschreibung durchaus verschieden: die tüchtigsten und wissenschaftlichsten Historiker haben in der Geschichtschreibung wenig oder nichts geleistet; umgekehrt: einige der glänzendsten und erfolgreichsten Geschichtschreiber waren in der historischen Wissenschaft schwach; diese historische Wissenschaft ist wesentlich Studium und Kritik der Quellen und Hülfsmittel zur Erkenntnis historischer Thatsachen, eine Aufgabe, die allerdings logisches Denken und wissenschaftliche Methode in hohem Masse in Anspruch nimmt: vorzugsweise Rechnung mit psychologischen und sonst natürlichen Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Gewissheiten. An einer wissenschaftlichen Behandlung der erzählten Thatsachen selber versuchen sich wenigstens die neueren Historiker regelmässig, wenn sie auch allzu oft die wissenschaftliche Auffassung der Dinge mit groben theologischen oder unklaren metaphysischen Gesichtspunkten verquicken; jedenfalls liegt diese Behandlung und Interpretation ausserhalb der Erzählung, ist toto genere verschieden von dem Haften an der Einmaligkeit, Einzigkeit und Unvergleichlichkeit der dargestellten Persönlichkeiten, Begebenheiten oder Zuständlichkeiten. Vergleichen ist die Grundfunktion des wissenschaftlichen Bewusstseins, wie eine des Denkens überhaupt. Wenn dagegen mit Grund gesagt wird, der „Weltprozess“ sei etwas schlechthin Einziges und die Geschichte als Ganzes, als bisher erkennbare Entwicklung des Menschengeschlechtes, der unserem moralischen Interesse zunächst liegende Ausschnitt daraus, in Bezug auf dieses Stück aber, wie in Bezug auf den gesamten Weltprozess könne die letzte Aufgabe keine andere sein als „Erzählung“ – Vorstellung, Wiedergabe dieser einzigen Wirklichkeit in Worten, die zwar als solche auf allgemeine Begriffe hinweisen, aber doch hier nur die unerlässlichen Hülfsmittel sind, um ein Individuelles zu schildern –, so kann man dies völlig gelten lassen, ohne doch zu der Einräumung genötigt zu sein, dass diese endliche Beschreibung und Erzählung des Weltgeschehens – die wahre

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Weltgeschichte, wenn sie möglich wäre – die wesentlichen Merkmale einer Wissenschaft darbieten würde; vielmehr wäre sie immer nur Voraussetzung und Anfang der wissenschaftlichen Bearbeitung solches Materiales; so gut wie sonst in den „beschreibenden Naturwissenschaften“ wäre Klassifikation die unmittelbar gestellte Aufgabe, denn es wäre nicht einzusehen, warum nicht Vorgänge, wenn sie gleich Teile eines einzigen Ganzen bilden, so gut wie Dinge oder Wesen, die einem „Reich“ und zuletzt dem All-Naturreich angehören, sich sollten klassifizieren lassen; in der That geht jede Menschheitsgeschichte, sobald sie nur „Perioden“ unterscheidet, sobald sie Geschichte der Chinesen von Geschichte der Aegypter oder Geschichte der Reiche von Geschichte der Litteraturen trennt, geht über die Erzählung des einigen und einmaligen Verlaufes hinaus: sie klassifiziert Vorgänge. Der Name „Weltgeschichte“ selber, der auf so seltsame Art, man könnte sagen volksetymologisch missdeutet zu werden pflegt4, bedeutet den Gegensatz gegen die vom ursprünglichen (und bis heute mächtigen) gelehrten Standpunkte aus ungleich wichtigere „Kirchengeschichte“. Ueberdies hat auch die Geschichtschreibung, wie sie ist, es keineswegs ausschliesslich mit einmaligen Vorgängen (ganz abgesehen von deren unendlich vielfachen Aehnlichkeiten, den Wiederholungen durch Gewohnheiten, durch Nachahmungen u.s.w.) zu thun. Sie ist, ohne sich dessen bewusst zu sein, ja wider ihren Willen, wissenschaftlicher, als schon Kant – so lange vor Buckle, der die akademischen Historiker so heftig aufgeregt hat – durch Hinweisung auf die statistischen Regelmässigkeiten sie machen wollte. Sie sind immer genötigt gewesen, mit dem social-psychologisch Zuständlichen und Allgemeinen, mit Gesetzen im eigentlichen sociologischen Sinne des Wortes, mit Sitten und Rechten, Institutionen und Verfassungen sich auf das eingehendste zu beschäftigen, wenn gleich ohne darauf aufmerksam zu werden, dass eine unendliche Menge von Vorgängen, von Handlungen, auch historisch bedeutsamsten, darin ihren Grund haben, und dass das gesamte Leben der Menschheit erfüllt ist von der Gültigkeit der beiden allgemeinen „Gesetze“: 1. dass sociales Wollen das individuale Wollen zu bestimmen tendiert und prätendiert, 2. dass sociales Wollen die Individuen überdauert, die es konstituieren und die ihm gehorchen. – Dagegen haben wir gesehen, dass nach Rickerts Behauptung der objektive Wertmassstab die Geschichte zur Wissenschaft machen soll oder schon macht. Er bedient sich zur Begründung 4

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Sogar von Wundt, wie ich ihn verstehen muss, wenn er (Logik II² S.  318) schreibt: „Der Begriff „Weltgeschichte“ ... weist zugleich darauf hin, dass die Menschheit nicht bloss der für uns wichtigste und interessanteste, sondern dass sie auch derjenige Teil der Welt ist, in dem alle wesentlichen Inhalte des Geschehens, selbst des Naturgeschehens, zusammenfliessen.“

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dessen auch eines Argumentum ad homines, nämlich naturalistas: es gebe (Kulturwissensch. S. 65) ein Stück der Geschichte, für welches auch die Naturwissenschaft die von ihm entwickelten logischen Prinzipien der Bearbeitung wohl als wissenschaftlich werde anerkennen müssen, das sei die Geschichte der Naturwissenschaft selbst; sie könne nicht leugnen, dass ihr eine historische Entwicklung in unserem Sinne vorangegangen sei, die notwendig in ihrem einmaligen und individuellen Verlauf unter dem Gesichtspunkte eines Wertmassstabes von objektiver Geltung betrachtet werden müsse. ... „Die Naturwissenschaft“ möge mir erlauben, in ihrem Namen darauf zu antworten. Ich würde dann sagen: ob der Wertmassstab, den mein Leib- und Hofhistoriker an meine Vergangenheit anlegt, objektiv gültig sei, ist mir ziemlich gleichgültig; denn ich bin überzeugt, dass z.B. eine Geschichte der vor-Darwinschen Botanik von einem reinen Systematiker ebensogut wie von einem Darwinisten geschrieben werden kann, obgleich der Wertmassstab der beiden ein völlig verschiedener sein wird. Es liegt mir weit mehr daran, dass er gleich einem anderen Chronikschreiber das Denkwürdigste aufzeichne und meinetwegen auch beredt und schön darstelle, was aber als das Denkwürdigste zu gelten habe, hängt weniger von „historischer Begriffsbildung“, als davon ab, in welchem Umfange und also für welchen Zweck er seine Chronik verfassen will oder soll; wenn die Strenge der Auswahl nach dem Massstabe des unbestreitbar höchsten Wertes die historische Wissenschaft ausmacht, so wäre ja wohl das kürzeste Kompendium die am meisten wissenschaftliche Geschichte. Ob aber und inwieweit etwa mein (naturwissenschaftlicher) Begriff ‘Entwicklung’ auf den gesamten Verlauf meiner Geschichte anwendbar sei, wage ich nicht zu beurteilen, Ihr wollt aber von historischer Entwicklung nur dort sprechen, „wo die Reihe von den mit Rücksicht auf ein bedeutsames Resultat bedeutsamen Vorstufen gemeint ist“ (Kulturwissensch. S.  50) – ein deutlicher Begriff scheint mir das eben nicht zu sein; und wenn Ihr ferner meint, der Kulturwert sei das geschichtlich Allgemeine, dieser entwickle nur in dem Einmaligen und Individuellen sich allmählich und werde dadurch allein wirklich (das. S. 51) – so scheint mir die Anwendung auf die Geschichte der Naturwissenschaft oder irgend einer Wissenschaft sehr gewagt zu sein; denn, weil der gesamte Verlauf ein einmaliger und individueller, so drückt er darum nicht in lauter einmaligen und individuellen Fakten sich aus, sondern gar sehr in jenen vielmaligen und überindividuellen („socialen“) Erscheinungen, die wir Strömungen, Richtungen, Schulen, herrschende Anschauungen, ja auch Lieb­­habereien und Moden zu nennen pflegen, für deren Verständnis wohl eine allgemeine Theorie der socialen Erscheinungen in derselben Weise erforderlich und dienlich sein dürfte, wie etwa für das Verständnis des Golfstroms

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eine Theorie der Meeresströmungen – und es scheint, dass die Idee der Entwicklung als eines allmählichen und gesetzmässigen Verlaufes gerade durch diese socialen Erscheinungen gedeckt wird, während das hervorragende Einmalige, Individuelle, Epochemachende durch dieselbe Idee notwendigerweise in eine untergeordnete Stellung gerückt würde – das Allgemeine wäre auch hier das Mächtigere –, so dass auch hier das Scheinbare nicht mit dem Wirklichen identisch ist. Für die blosse Erzählung freilich werden die Leistungen der Einzelnen, und am meisten die der Grossen immer im Vordergrunde stehen, so gut wie für die vorkoppernikanische Astronomie die Beobachtung und Beschreibung der scheinbaren Bewegungen der Planeten, der Sonne und des Erdmondes. Wenn Ihr daher auf diese blosse Erzählung eines einmaligen Verlaufes, wenn Ihr insonders auf die Unvergleichlichkeit und für die Theorie Unfassbarkeit der Persönlichkeiten in der Geschichte alles Gewicht legt, so dürft Ihr nicht gleichzeitig die Entwicklung als die eigentliche historische Kategorie proklamieren; denn wenn auch dieser „vieldeutige Begriff“ (Kulturw. S. 50) oft nur als Redensart gebraucht wird, so ist doch die Vorstellung eines gesetzmässigen Zusammenhanges von Veränderungen davon unablösbar, und der Statuierung von Gesetzmässigkeiten stellt Ihr ja ausdrücklich Eure „idiographische Wissenschaft“ – eine contradictio in adjecto – entgegen. – Um nun wieder im eigenen Namen zu reden, so hebe ich aufs neue hervor und führe des näheren aus, dass ich in dem Grundgedanken Rickerts einen (ich muss sagen entstellten) Ausdruck der Wahrheit erkenne, dass unterschieden werden müssen: reine oder abstrakte Wissenschaften, die ihre vollkommene Gestalt als deduktive Systeme erhalten, und angewandte oder konkrete Wissenschaften, die wesentlich induktiv, d.h. auf Sammlungen erfahrener Thatsachen beruhend, durch Anwendung der reinen Wissenschaften zu Theorien sich erheben, die aber im Gegensatz zu den schlechthin allgemeinen und notwendigen – auf die apriorischen Elemente des Denkens zurückführbaren – Theorien der reinen Wissenschaften, einen hypothetischen und Probabilitäts-Charakter tragen; von dieser Art sind alle Theorien, die da nicht beobachtete, vielleicht nicht beobachtbare, aber mit mehr oder minder Wahrscheinlichkeit erschlossene Thatsachen – Dinge und Vorgänge – supponieren und behaupten5. Und 5

Ich habe immer Herbert Spencers „Classification of the Sciences“(3° ed. Lond. 1873) für bedeutend und anregend gehalten, eine Schrift, die in Deutschland, ausser durch Wundts dem gleichen Thema gewidmete Arbeit, die sie vielfach berichtigt, nicht bekannt

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contradictio in adjecto: Eine contradictio in adiecto ist in der Terminologie der traditionellen Logik ein Widerspruch innerhalb eines Begriffs, das heißt ein Widerspruch, der darin besteht, dass der Begriff Merkmale enthält, die ihm selbst widersprechen.

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dazu gehören alle Theorien, die eine stattgehabte Entwickelung empirischer Dinge, so gut wie die eine wahrscheinliche Ursache empirischer Ereignisse, sofern diese Entwickelung oder Ursache nicht als Thatsache verifiziert werden kann, vermuten oder postulieren. In allen empirischen Wissenschaften – von denen Rickert allein handeln will – ist es ein anerkannter Grundsatz von höchster Wichtigkeit, Thatsachen und Theorien streng zu unterscheiden. Die Uebertretung dieses Grundsatzes wird spekulativen Enthusiasten, denen sich gelegentlich ein sonst gewissenhafter Naturforscher zugesellt, mit Grund zum Vorwurf gemacht. Viel schärfer muss der Vorwurf gegen einen Logiker sich wenden, der diesen Fehler zum Prinzip einer Wissenschaftslehre zu erheben sich unterfängt. Ich sage, dass dies geschieht, wenn Rickert die Erzählung historischer Vorgänge konfundiert und für gleichen Wesens erklärt mit der Theorie oder Lehre, dass die Arten der Organismen durch Abstammung mit einander zusammenhängen, dass also die Entstehung einer Art aus einer andern Art als zeitliches Geschehnis stattgefunden hat, und wenn er darin bald die Ansicht „der Welt der Lebewesen als eines einmaligen historischen Vorganges“ (Die Grenzen S. 281), bald ein „Uebergreifen des historischen Verfahrens in das Gebiet der Naturwissenschaften“ (Kulturw. S. 53, „Anwendung des historischen Begriffs der Entwickelung“, „Eindringen der historischen Methode in das Gebiet der Naturwissenschaften“ in der französ. Abhandlung S.  19) findet. Das günstigste Urteil, das ich über diese Vermischung zu fällen wüsste, wäre noch, dass sie den Begriff des historischen Verfahrens völlig verschwommen macht und den eminenten Vorzug, den es durch den Gebrauch der auf menschlichen Kultureinrichtungen beruhenden Urkunden zur Feststellung von Thatsachen des Kulturlebens – freilich noch lange nicht einer Wissenschaft desselben – geniesst, preisgiebt zu Gunsten eines vagen Begriffs, worin von dem spe­­ zifischgeworden zu sein scheint. Was hinter Rickerts und Windelbands Darstellung Richtiges ist, kommt darin richtiger zur Geltung; wenn auch die „Kulturwissenschaften“ dabei zu kurz kommen, die Spencer nur als seine letzte konkrete Wissenschaft „Sociologie“ kennt. Auch ich ziehe den Terminus „Kulturwissenschaften“ den „Geisteswissenschaften“ vor und habe in der That jenen schon in einem (ungedruckten) Manuskripte von 1881 gebraucht. Die von Rickert (Die Grenzen S.  299) als originelle Schrift ausgezeichnete Etude logique von Adrien Naville scheint, wie so viele neuere französische Arbeiten, auf Spencer zu basieren. Rickert nennt (das. S.  225) Comte, Mill, Spencer Verfechter der „naturwissenschaftlichen Universalmethode“ – naturwissenschaftlich hier in „unserem“ oder in welchem Sinne? 33

Manuskripte von 1881: Hier verweist Tönnies auf seine sogenannte „Habilitationsschrift“ und erwähnt ganz nebenbei, dass er vermutlich den Begriff „Kulturwissenschaft“ zum ersten Mal gebraucht oder möglicherweise erfunden hat.

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historischen Verfahren nichts übrig bleibt, ausser dass es auf ‘Wirklichkeit’ – als solcher angehörig sollen aber nur zeitliche Ereignisse begriffen werden – sich bezieht, und zwar zufälligerweise zunächst auf solche Ereignisse, die mit der Menschheit zu thun haben („alle Wirklichkeit geschichtlich in unserem Sinne“, Die Grenzen S. 257; dies wird dann eingeschränkt Kulturwiss. S.  49: „Seine Geschichte hat, *wenn wir alles Seiende als gleichwertig ansehen*, ein jedes Ding in der Welt, ebenso wie jedes seine Natur hat“). Und so werden denn des Langen und Breiten in der Grenzen-Schrift die mehr oder weniger historischen Bestandteile, das relativ Historische, der historische Charakter des Materials und die historische Methode in den Naturwissenschaften, freilich „vor allem in den biologischen Disziplinen“ (S. 271), aber auch in der Chemie, „ja als logische Möglichkeit sogar in der Physik“ (S. 272) durchgenommen: dies alles auf Grund eines rein problematischen Begriffes von historischem Charakter, historischer Methode, von Historischem überhaupt! wie mit beson­­ derem Nachdruck oft hervorgehoben wird: trotz dieser Ausführungen „haben wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (nur) soweit kennen gelernt, als notwendig ist, um zu zeigen, worin das logische Wesen der historischen Wissenschaft nicht bestehen kann“ (S. 303). In der Kultur­­wissenschaft-Schrift wird, wie wir sahen, der problematische Begriff in einen assertorischen verwandelt; die Bestimmung des bis dahin rein methodologischen Begriffes, der aber auch festgehalten wird (S.  38), geschieht hier nach dem Objekte, nämlich den Kulturgegenständen oder Kulturwerten (wobei dann das Merkmal der Objektivität, das sonst dem Begriff der Wissenschaft zugestanden war, rein problematisch wird, wie oben referiert); entsprechenderweise bedeutet Natur hier, obgleich wiederum die rein methodologische Bedeutung festgehalten wird, zugleich den Gegenstand der Naturwissenschaften! (S. 51). Daher heisst von nun an die nach der ersten Schrift völlig legitime, ja notwendige Anwendung der Methode Natur auf Kulturgegenstände, der Methode Geschichte auf die Gegenstände der Naturwissenschaften, ein „Uebergreifen“ oder „Eindringen“, und erörtert werden in dem deutschen Vortrag wie in dem französischen Exposé ausschliesslich die historischen Elemente in der Biologie als „hauptsächlich in Frage kommend“ („und insbesondere der Darwinismus“ Kulturw. S.  53). Die Beschränkung war vielleicht durch Kürze geboten? Vielleicht; aber sehr auffallend ist doch die hier gegebene Be 8 30

Natur hat“).: Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag, Freiburg i.B. / Leipzig und Tübingen 1899, S. 49. Methode Geschichte: Die Aussagen über das Wesentliche des Gegenstandbereiches sind durchaus diskutierbar. Hier zeigt sich die merkwürdige Fremdheit von Tönnies gegenüber den wichtigen zeitgenössischen philosophischen Strömungen.

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gründung, mit der zugleich die dort notwendige und für die ganze (problematische!) Begriffsbildung wesentliche Anwendung der „historischen Methode“ als rein zufällig erscheint und ausdrücklich als ihrer Berechtigung nach „fraglich“ hingestellt wird (S. 54) – Begründung nämlich aus einer Art von Verwandtschaft mit dem Objekt der Geschichte: „Es ist bekannt, dass die meisten seiner (des Darwinismus) grundlegenden Begriffe, wie Zuchtwahl, Auslese, Kampf ums Dasein dem menschlichen *Kulturleben* entnommen sind, und schon aus diesem Grunde können wir *nicht erwarten*, dass er (der Darwinismus) sich der hier versuchten Einteilung *ohne weiteres* einordnen lässt“. (Diese gewundenen, unbestimmten Ausdrücke sind für die Schriften unseres Logikers ebenso bezeichnend, wie die vielfachen halben Widerrufe, halben Einschränkungen und Reserven.) „Wo man dann vollends die ganze Reihe der Organismen „phylogenetisch“, d.h. als eine einmalige Stufenfolge betrachtet, die allmählich zum Menschen hinführt, da muss, besonders wenn diese Reihe zugleich als Fortschritt angesehen wird, *geradezu* von teleologischer Begriffsbildung unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten gesprochen werden, denn nur mit Rücksicht auf den Kulturmenschen hat es einen Sinn, von Fortschritt zu reden“ (ohne weiteres – vollends – besonders – geradezu!). Dass nicht der Begriff „Fortschritt“, sondern die Begriffe Wachstum, Differenzierung, Anpassung, Uebung die Abstammungs-Theorie charakterisieren, weiss Herr Rickert so gut als wir. Und „allmählich zum Menschen“? Das ist der einmalige historische Vorgang? Goethe, der bekanntlich den Schritt von einer ideellen zur eigentlichen, von Rickert historisch genannten Abstammungslehre nicht ganz vollendete, bemerkt doch schon, „dass die aus einer kaum zu sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Tiere nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, sodass die Pflanze sich zuletzt im Baum dauernd und starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrlicht“. – „Aber der Baum ist auch ein Kulturwert, auch er bedeutet einen Fortschritt in der Entwicklung“ ... Darum haben wohl die Menschen so viele Bäume ausgerottet, um Gräser und Halme zu pflanzen? Und ist die Wärme, die Elektrizität etwa nicht Wert für den Kulturmenschen? Oder ist auch die Abkühlung des Erdkörpers „teleologische Begriffsbildung unter kul­­tur­­wissenschaftlichen Gesichtspunkten“? Ohne Zweifel bedeutet sie einen Fortschritt „mit Rücksicht auf den Kulturmenschen“. Für einen Fortschritt des Denkens aber 30

Freiheit sich verherrlicht“.: Johann Wolfgang von Goethe, Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet. In: Goethes Werke, herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, II. Abtheilung, 6. Bd., Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, 6. Bd. Zur Morphologie, 1. Theil. Weimar 1891, S. 13.

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werden wir wie bisher halten, die teleologischen Gesichtspunkte aus der wissenschaftlichen Erkenntnis auszuschalten, oder doch in ihr zurücktreten zu lassen. Die Abstammungslehre ist auch darum wertvoll, weil sie es nicht mehr zulässt, den Menschen, wegen des eminenten Wertes, den er für sich selber hat, aus der Natur herauszunehmen und über die Natur zu erheben. Indessen genug davon. Wenn es einen Sinn hatte, obschon einen unerspriesslichen, die Abstammungslehre Geschichte zu nennen, so lange als Geschichte nur eine methodologische Bedeutung haben sollte, – diese Benennung beizubehalten, wenn gleichzeitig Geschichte die Bedeutung von Kulturwissenschaft erhält, hat überhaupt keinen Sinn. Dass der andere Sinn unerspriesslich ist, dass wir vielmehr allen Grund haben, den guten Sinn des Wortes Geschichte festzuhalten, thun die eigenen Ausführungen Rickerts dar. Wo er sich – in der Kulturwissenschaft-Schrift – zurückbezieht auf die Unterscheidung Windelbands6 zwischen nomothetischem und idiographischem Verfahren, und auf seine eigene Bestimmung, wonach die Wirklichkeit Geschichte werde, „wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere“, wo also nur „die logischen Begriffe“ Natur und Geschichte in Frage stehen, da fährt er dann fort (S.  39): eine geschichtliche Darstellung kann viel eher mit einem Abbild der Wirklichkeit verglichen werden als eine naturwissenschaftliche. ... „Der Historiker will die Vergangenheit uns wieder vergegenwärtigen, und dies kann er nur dadurch thun, dass er es uns ermöglicht, das einmalige Geschehen in seinem individuellen Verlauf gewissermassen nachzuerleben“ ... „er wird den Hörer oder Leser immer auffordern, durch seine Einbildungskraft sich ein Stück Wirklichkeit anschaulich vorzustellen ... und deshalb durch eine besondere Kombination von Wortbedeutungen sich bemühen, die Phantasie in die von ihm gewünschten Bahnen zu lenken“ u.s.w. Nicht eben neu, aber ganz richtig, soweit es sich wirklich auf „historische Vorgänge“ bezieht. Nun aber mache man die Anwendung auf die „einmalige Stufenfolge, die allmählich zum Menschen hinführt“, auf „die Welt der Lebewesen als einen einmaligen historischen Vorgang“, auf den „histori6

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Dass die Grundgedanken Rickerts alle in Windelbands Rektoratsrede „Geschichte und Naturwissenschaft“ (Strassburg 1894) enthalten sind, ist von Barth und anderen bemerkt worden, und wird von Rickert selber nicht geleugnet (Grenzen S. 302f., Kulturwissensch. S. 38). Beide haben einen Vorgänger an J. G. Droysen, dessen Historik (3. Aufl. Leipzig 1892) ganz ebenso wie Rickert Natur und Geschichte als Methoden unterscheidet, um davon Anwendung auf die Objekte zu machen: in prägnanter Antithese nennt er Natur die Auffassung des im Wechsel Gleichen. Geschichte die des im Gleichen Wechselnden (S. 75). Etwas gewaltsam deduziert er daraus die Beschränkung der Geschichte (in ihrer „vollen Anwendung“) auf die sittliche Welt, wie Rickert auf die Kultur.

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schen Charakter der Biologie“! Man wird dann empfinden, wie schädlich ein Missbrauch von Worten, wie unfruchtbar ein weitläufiges Klügeln auf Grund solches Missbrauches ist7.

IV. Die nächste Analogie zu einer Reihe von historischen Ereignissen bieten – nicht irgendwelche Thatsachen der nie verifizierbaren „Geschichte“ des Sonnensystems, der Erdkugel oder der Fauna und Flora auf ihr, sondern – irgendwelche Reihe von „Naturereignissen“, ob diese nun mit jenen zusammenhängen oder rein für sich betrachtet werden können. Von grossem Interesse wäre für irgend eine Zeitspanne – und z.B. für das vergangene Jahrhundert leicht auszuführen – eine Geschichte des Wetters in dieser Zeitspanne, und wenn wir z.B. die Ostsee-Sturmflut vom 13. No­vember 1872 ins Auge fassen, so ist diese ein ebenso individuelles Ereignis, wie etwa eine Schlacht zwischen deutschen und französischen Truppen, die zwei Jahre früher statthatte. Man kann sich darauf beschränken, als Wetter-Historiker den Verlauf jener Sturmflut zu schildern, so „wie er eigent7

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Als einmaliger ‘historischer’ Vorgang wird die Entstehung der Arten auch aufgefasst, wenn gelehrt wird, dass der liebe Gott jede für sich durch Schöpfungs-Akte ins Dasein gerufen habe; ja er wird sogar im richtigen Sinne historisch, wenn diese SchöpfungsAkte in den Anfang „historischer Zeit“ gelegt werden. Die „Geschichte“, auch wie Hr. R. sie als Wissenschaft konstruiert, bietet kein Mittel dar, diese Entstehung der Arten als unwahrscheinlich erscheinen zu lassen; im Gegenteil, sie müsste in diesen ganz individuellen Ereignissen ihr besonderes Vergnügen haben: Geschichte als Wissenschaft in diesem Sinne könnte ebensowohl mit dem ausgeprägtesten Wunderglauben, wie mit der vollkommensten Naturwissenschaft zusammen bestehen. Ich sage mit Kant (Ueber den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie): „Ich danke für den bloss empirischen Historiker (bei Kant heisst es: Reisenden) und seine Erzählung, vornehmlich, wenn es um eine zusammenhängende Erkenntnis zu thun ist, daraus die Vernunft etwas zum Behuf einer Theorie machen soll.“ Wenn die Vernunft aber das nicht will, was ist die Masse der „historischen Wissenschaften“ anders als άμέϑοδος ὔλη, rudis indigestaque moles? Charakter der Biologie“!: Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Erste Hälfte. Freiburg i.B. und Leipzig 1896, S. 281. Theorie machen soll: Immanuel Kant, Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, in: Kant’s Gesammelte Schriften „Akademieausgabe“, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin und Leipzig 1923, S. 161. άμέϑοδος ὔλη, rudis indigestaque moles: Griechisch und Latein: ungeformte Materie. „rudis indigestaque moles“ ist ein Zitat aus: Publius Ovidius Naso (Ovid), Metamorphoses 1,1-150. Schöpfung und Weltalter.

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lich gewesen“, man möge auch darauf aufmerksam machen, dass man wegen der allgemeinen Wichtigkeit und Bedeutung, die einer Sturmflut im Unterschiede von gewöhnlichen Fluten zukommt, ihr eine detaillierte Erzählung widmet, man möge darauf hinweisen – wenn es für irgendwen nötig ist – dass diese Erzählung logisch etwas ganz anderes sei, als die Aufstellung von allgemeinen Sätzen über Ebbe und Flut, über Strömungen und Winde, über tellurische und kosmische Bewegungen; man möge entwickeln, dass es sich hier um Allgemeinheiten, die zur Auswahl des individuellen Ereignisses und zur Umbildung der Wirklichkeit veranlassen, in ganz anderem Sinn handle: nämlich man könne allerdings nur erzählen, indem man sich der Worte Wasser, Hebung, Wogen, Ueberschwemmung, Zerstörung u.s.w. bediene, die ja eine allgemeine Bedeutung haben, aber man sei doch weit entfernt davon, hier eine Darstellung der allgemeinen Natur des Wassers und seiner Wirkungen sich zum Ziele zu setzen; das Allgemeine habe hier vielmehr den Sinn der allgemeinen Wichtigkeit, die diesem einzelnen Ereignisse zukomme, und – dies möge man mit dem höchsten Nachdruck sagen – : „was eine allgemeine Wichtigkeit habe, habe nicht notwendigerweise einen allgemeinen Inhalt“ (vgl. den im Drucke hervorgehobenen Satz S. 8 der französ. Abhdlg. Rickerts); sondern der Orkan, der am 12. November 1872 sich erhob, habe gerade durch die Merkmale, die ihn von anderen Winden unterschieden, seine ungeheure Bedeutung gewonnen; ob diese Wichtigkeit eine objektive Thatsache sei? ja, da könne man sich auf die empirische Schätzung berufen, die sich z.B. darin ausdrücke, dass keine Zeitung der Welt diese Sturmflut unerwähnt gelassen habe (vgl. a. a. O. S. 10). Man möge ferner – wenn man Zeit hat – seinen Bericht in eine Darstellung des ganzen Zustandes der Ostsee, ihrer Buchten und Sunde, ihrer Tiefen und Ströme, ihres allgemeinen Wesens hineinflechten, und – wiederum wenn es nötig scheint – betonen, dass dieses allgemeine Wesen nicht ein allgemeiner Begriff sei, ein allgemeiner Begriff der Ostsee lasse sich nicht bilden, sie sei ein individuelles, besonderes, einmaliges Meer, das einige Merkmale des Binnensees mit einigen des Ozeans verbinde (dies wäre ein Beispiel des nach Rickert dritten Modus des Allgemeinen in der Geschichte l.c. S. 11 ff.) Wenn man aber ausserdem auch den allgemeinen Charakter des Ost-Windes in die Schilderung glaube hineinziehen zu sollen, so sei das ja freilich ein allgemeiner Begriff (der vierte Modus des Allgemeinen), aber einmal sei er ja doch wiederum etwas Besonderes im Vergleiche mit dem

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der französ. Abhdlg. Rickerts);: „Ce qui a une importance universelle n’a pas nécessairement un contenu universel.“ Heinrich Rickert, Les quatre modes de “l’universel“ dans l’histoire, in: Revue de synthèse historique T. II-2 (no 5), Paris Avril 1901, S. 128.

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allgemeinen Begriffe des Windes überhaupt; und sodann könne es dem Wetter-Historiker doch nie darauf ankommen, eine Theorie der Winde aufzustellen, er habe keineswegs nötig, die Unterschiede in Wesen und Wirkung anderer Winde von denen des Ostwindes zu entwickeln, er bediene sich des allgemeinen Begriffs Ostwind nur, um diesen speziellen aus dem Osten kommenden Orkan zu schildern. – Der Naturforscher wird bei dieser „logischen“ Rechtfertigung der Wettergeschichte als einer Wissenschaft in hohem Grade ungeduldig werden. Er wird endlich ausrufen: wer zum Teufel hat denn mit dem Verlangen, du sollest eine wissenschaftliche Geschichte der Sturmflut schreiben, gemeint, du solltest ein Lehrbuch der Physik verfassen oder ein System der Meteorologie aufstellen? – Auch interessiert es mich kaum, aus welchem Grunde (denn er ist nur allzu evident) du es für wichtiger hältst, diesen Sturm zu erzählen, als etwa die sanfte Brise, die sechs Wochen vorher die Segel der Danziger Schoner blähte. Und dass du die Wirkungen der Flut nur verständlich machen kannst, wenn du das individuelle Milieu mitschilderst, das du meinetwegen das Ganze oder das Allgemeine der Ostsee nennen magst, das scheint sich einigermassen von selbst zu verstehen. Aber die eigentliche Aufgabe einer wissenschaftlichen Geschichte wird durch alle diese Umständlichkeiten doch nur gestreift. Es handelt sich, o Freund, um die wissenschaftliche, d.h. vollständige und logische bewiesene Erklärung jenes ausserordentlichen Phänomens, dessen Erzählung wir dir vielleicht erlassen können – sie mag auch geleistet werden durch Leute, die von den natürlichen Zusammenhängen keine Ahnung haben, der Naturforscher wird nicht notwendigerweise besser als der abergläubische Chronikschreiber „die Phantasie in die von ihm gewünschten Bahnen zu lenken“ vermögen, weil er auch die Accente innerhalb der Erzählung mehr nach den Interessen des Verstandes als der Phantasie verteilen muss. Wie weit aber eine vollständige Erklärung eines solchen einzigen Vorganges, wie jener Sturmflut (die uns hier nicht allein als Sturmflut, sondern auch als diese ganz individuell charakterisierte Sturmflut angeht) möglich sei, das lassen wir dahingestellt: thatsächlich stehen wir den einzelnen Naturereignissen nicht viel anders gegenüber als den Ereignissen der socialen Welt, den „Kultur-Ereignissen“ der Geschichte – wenn wir sie vollständig erklären könnten, so könnten wir sie auch mit Bestimmtheit und Gewissheit voraussagen. Dies ist aber dort wie hier nur in den allgemeinsten Umrissen möglich, näher mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit – und den Grad der objektiven Wahrscheinlichkeit festzusetzen, ist eine wissenschaftliche Aufgabe, die sich auch, ehe wir durch Kenntnis seiner vollendeten Gesetzmässigkeit das Ereignis berechenbar zu machen vermögen, auf Grund der empirischen Wiederholung und etwaiger Perio-

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dizität solcher Ereignisse lösen lässt. Wenn wir aber ein gegebenes Einzelnes erklären wollen, so genügt uns keine solche Wahrscheinlichkeit, wir wollen es als notwendig begreifen, und lassen die Idee seiner Notwendigkeit wenigstens als regulatives Prinzip unserer Untersuchung gelten; wenn wir dabei aber nicht umhin können, das Eingreifen einzelner Faktoren und deren zeitliches Zusammentreffen mit anderen als „zufällig“ gelten zu lassen, so bleiben wir und des vielleicht unaufhebbaren Mangels solcher Erklärungen völlig bewusst, wir meinen aber einer vollständigen Erklärung uns wenigstens zu nähern, wenn wir den gegebenen Zufall als unter den gegebenen Umständen in hohem Grade wahrscheinlich nachweisen können, auch wenn die Wahrscheinlichkeit eine rein empirische ist. So könnte es sein, dass ein plötzliches Umspringen des Windes nach NO., bei hohem Wasserstande, als die zufällige Ursache der Sturmflut in der Ostsee erschiene; wenn nun dieses Umspringen nach mehrtägigem stürmischem NW. zu einer bestimmten Jahreszeit, bei steigendem Barometer, nach einer Minimum-Epoche, so häufig beobachtet wäre, dass man es als in hohem Grade wahrscheinlich, etwa wie 9 : 10 setzen könnte, so wäre der Zufall zu einem guten Teile seiner Unberechenbarkeit entkleidet, der Gedanke wäre in einigem Masse über ihn Herr geworden. Nicht anders bei ‘historischen’ Ereignissen. Ein energischer, rücksichtsloser, kluger Mann tritt auf, zerhaut die Knoten schwieriger Streitfragen, reisst die Herzen der Menge im Sturme mit sich fort, oder besiegt ihren Widerstand durch Erfolg und durch Korruption, führt verwegene Kriege siegreich nach aussen, errichtet ein hartes, aber ordnendes, auf Wohlfahrt gerichtetes Regiment nach innen; seine Wirksamkeit wird von unendlicher Bedeutung für die Massen, gerade weil er aus anderem Holze geschnitzt ist wie die Massen – ist dies Ereignis oder dieser Knäuel von Ereignissen allem kausalen Verständnis entzogen? – Wenn nun aber die Beobachtung lehrt, dass nach tiefgehenden Volksbewegungen, vollends nach politischen Revolutionen, wenn Anarchie oder Reaktion, oder ratlose Verwirrung eingerissen ist, mit einiger Regelmässigkeit ein solcher Diktator emporkommt, der „die Gesellschaft rettet“, als Testamentsvollstrecker zugleich und Totengräber der Revolution – so sehen wir schon die Thatsache mit anderen Augen an; wir erinnern uns des Axioms der vollkommenen Bedingtheit alles Geschehens, und glauben, in den gesetzmässigen Zusammenhang der menschlichen Geschicke wenigstens ahnend hineinzusehen, gegen dessen teleologische Deutung wir nicht allzu spröde zu sein brau-

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chen, wenn sie mit der Weisheit eines Kant8 dahin vorgetragen wird, man könne „die Geschichte der Menschengattung im grossen als die Vollziehung eines verborgenen Planes der Natur ansehen ...“, denn „die Befugnis, ja Bedürfnis, von einem teleologischen Prinzip auszugehen, wo uns die Theorie verlässt“, werden wir, da sie „die Beschränkung seines Gebrauchs, dass der theoretisch-spekulativen Nachforschung das Recht des Vortritts gesichert wird, um zuerst ihr ganzes Vermögen daran zu ver­ suchen“9, in sich einschliesst, dem Philosophen willig zugestehen. – Die theoretisch-spekulative Nachforschung hat auf verschiedenen Wegen, aber durchaus im Einklange mit der veränderten (anti-theologischen) Ansicht des Menschen überhaupt, zu einer Auffassung der Geschichte geführt, die als „historischer Materialismus“ ihre schärfste Ausprägung fand. Es kann uns nicht wundernehmen, dass Herr Rickert dieser Auffassung nicht gewogen ist. Zunächst stellt er sie völlig unrichtig dar als die Behauptung, dass alle Geschichte im Grunde genommen Wirtschaftsgeschichte sei, und als Versuch, Geschichte nur (!!) als Wirtschaftsgeschichte und dann als Naturwissenschaft zu treiben – solchen Versuchen „liege ein Prinzip zur Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen“ zu Grunde, das „vollkommen willkürlich gewählt“ sei, „ja ursprünglich einer total unwissen­­schaftlichen, politischen Parteinahme seine Bevorzugung“ verdanke. Die materialistische Geschichtsauffassung hänge nämlich „zum grossen Teil von spezifisch so­ cialdemokratischen Wünschen ab“. „Weil das leitende Kulturideal demokratisch ist, so besteht natürlich die Neigung, auch in der Vergangenheit die grossen Persönlichkeiten als ‘unwesentlich’ anzusehen und nur das als etwas gelten zu lassen, „was von der Menge kommt.“ ... „Vom Standpunkte des Proletariats kommen ferner hauptsächlich die mehr animalischen Werte in Frage, folglich ist das allein ‘wesentlich’, was zu ihnen in direkter Beziehung steht, nämlich das wirtschaftliche Leben“ ... „Es entsteht also dadurch hier geradezu ein platonischer Idealismus. Nur, dass an Stelle der Ideale des Kopfes und des Herzens die Ideale des Magens getreten sind, und dadurch ein Standpunkt gewonnen ist, von dem dann notwendig die ganze geschichtliche Entwickelung der Menschheit als ein ‘Kampf um den Futterplatz’ angesehen werden muss“ (Kulturwissensch. S. 60). Noch einmal muss ich um Erlaubnis bitten, den Schatten Kants zu 8 9

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Idee zu einer allgem. Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, im Anfang. Kant über den Gebrauch l.c. im Anfang.: Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern (Akademieausgabe, bisher 29 Bände), 8. Bd., Berlin 1923, S. 17-31.

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beschwören. In der zuvor genannten Schrift, die auch ein Beitrag zur „Geschichtslogik“ ist, lesen wir: „Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr (der Menschen) Thun und Lassen auf der grossen Weltbühne aufgestellt sieht; und, bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen, doch endlich alles im grossen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiss, was man sich von unserer, auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll.“10 Nach der Logik unseres Geschichtslogikers hätten wir hier die Ideale Immanuel Kants beim Schopfe – von seinem Standpunkte kämen hauptsächlich die „mehr“ kindischen Werte in Frage. Ich sehe nicht, aus welcher Quelle oder vielmehr aus welchem Sumpfe Rickert die ihm eigentümliche Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung geschöpft hat. Dessen bin ich aber sicher: eine Widerlegung würde dieser Kritik zu grosse Aufmerksamkeit widmen. Im übrigen habe ich so ausführlich auf diesen Versuch, eine neue Klassifikation der Wissenschaften und eine neue Theorie der Geschichte zu entwerfen, eingehen müssen, weil mir die Aufgabe gestellt war, Gerechtigkeit zu üben; weil das Thema, sofern es das Verhältnis zwischen Geschichte und Wissenschaft betrifft, wichtig genug ist; und weil ich in den Rickert’schen Schriften die Reflexe einer gewissen Richtung der akademischen Philosophie in Deutschland erblicken muss, die mir die Vertiefung und Vermehrung der Erkenntnis mehr zu hemmen als zu fördern scheint. – Um aber noch mit einem Worte auf das Barth’sche Referat über Rickerts erste Schrift zurückzukommen, so geht aus der gegenwärtigen Abhandlung hervor, dass ich, nach wie vor, mit Barth’s Verwerfung der Rickert’schen Aufstellung einverstanden bin. Indessen bemerke ich noch ausdrücklich, dass ich, ausser dem im Eingang gerügten Fehler, auch den Versuch einer Reductio ad absurdum, den Barth S. 7 seines Buches macht, nicht als gelungen und nicht als gerechtfertigt ansehe. 10

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als gerechtfertigt ansehe.: Die Reductio ad absurdum (von lat. für Zurückführung auf das widrig Klingende, Ungereimte, Unpassende, Sinnlose) ist eine Schlussfigur und Beweistechnik in der Logik. Bei der Reductio ad absurdum wird eine Aussage widerlegt, indem gezeigt wird, dass aus ihr ein logischer Widerspruch oder ein Widerspruch zu einer bereits anerkannten These folgt. Paul Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig 1897, S. 7.

Wilhelm Förster (Zum siebzigsten Geburtstage) „Aus der Tiefe seines Idealismus heraus gestaltete sich seine astronomische Forschung“ – so sagte von dem großen Schwaben und Deutschen Johann Kepler in einem Vortrage, „gehalten im wissenschaftlichen Verein zu Berlin am 8. Februar 1862“, der damalige Privatdozent an der Universität und erste Assistent der Sternwarte zu Berlin, Wilhelm Förster, der heute, am 16. Dezember, noch kraftvoll wirkend, auf ein siebzigjähriges Leben, auf eine fünfundvierzigjährige Thätigkeit an der Hochschule, eine siebenundvierzigjährige an der Sternwarte zurückblickt. Wir dürfen die Worte auch auf ihn selbst anwenden. Wie aber alles Lebendige durch Wechselwirkung bezeichnet wird, so dürfen wir auch von Förster wie von Kepler umkehrend sagen: „Aus der Tiefe ihrer astronomischen Forschung nährte sich ihr Idealismus“. Die Astronomie ist eine Wissenschaft, die auf empfängliche, erregbare Gemüther in ganz besonderer, erhebender und fesselnder Weise wirken muß und oft gewirkt hat. Der Anblick des Himmels und seiner strahlenden Körper scheint einen Einblick in die ewige Werkstätte der schöpferischen Natur zu gewähren; er regt zu unermüdlichem Sinnen über die Geheimnisse der Ordnung, der Regelmäßigkeit, des Gesetzes unmittelbarer als ein anderes Studium der uns umgebenden Dinge an, weil er am weitesten ablenkt von unseren menschlichen Sorgen und Plagen, von unseren Wünschen und Absichten, weil er unser Gefühl, und durch das Gefühl unser Denken, mit dem Un 1

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Wilhelm Förster (Zum siebzigsten Geburtstage): Ferdinand Tönnies, Wilhelm Förster. (Zum siebzigsten Geburtstage.) In: Nationalzeitung vom 16.12.1902, 55. Jg., Nr. 730, Morgen-Ausgabe, Berlin 1902, S. 1-2. Wilhelm Julius Foerster war ein deutscher Astronom. Er war Mitglied der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur (in der Albert Einstein ebenfalls Mitglied war) und der Deutschen Friedensgesellschaft, weil er die zu Ende des 19. Jahrhunderts weitverbreiteten Ideen des Nationalismus ablehnte. 1914 unterzeichnete er zuerst den nationalistischen Aufruf an die Kulturwelt, kurz darauf jedoch den gegenteiligen Aufruf an die Europäer. Die Berliner National-Zeitung war eine liberale deutsche Tageszeitung, die 1848 bis 1938 in Berlin erschien. 8. Februar 1862“: Wilhelm Julius Foerster, Johann Keppler und die Harmonie der Sphären, Vortrag gehalten im Wissenschaftlichen Verein zu Berlin am 8. Februar 1862, Berlin 1862, S. 3.

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endlichen und Ewigen in Berührung bringt; wenn wir auch wissen, daß dieses nicht durch Größe und Dauer gemessen wird, und daß das erhabene und beseligende Bild uns wohl mit Ahnungen erquicken, aber nicht mit Erkenntnissen sättigen kann. Astronomie und Mathematik sind von einander nicht zu trennen. Zu Keplers Zeit war „Mathematiker“ noch der übliche Name des Astronomen, zu dessen Hauptgeschäft auch die Stellung des Horoskopes und der Nativität gehörte, die der geometrischen Figuren und Rechnungen nicht entrathen konnte. Aber schon die Beobachtung der Wandelsterne gab mathematische Probleme auf, deren Komplizirtheit lange Zeit nur unter der Voraussetzung, daß die Erde ruhe und die Sonne mit den übrigen Planeten sich um sie bewege, auflösbar schien. Als Kepler – es waren im vorigen Jahre drei Jahrhunderte seitdem verflossen – der Nachfolger Tycho de Brahes in Prag wurde, da hielt er, wie Förster es ausdrückt, sich für berufen, „über die listigen Irrgänge der Planeten den Sieg zu erringen und sie der Mathematik zu unterwerfen“. Mathematik und Rechnung scheint aller Phantasie und poetischen Anschauung, aller künstlerischen Empfindung und Thätigkeit fern zu stehen, ja entgegengesetzt zu sein. In der That ist hier ein wirklicher Gegensatz, der an diesen Punkten des Lebens bedeutend in die Erscheinung tritt, vorhanden. Und doch zeigt uns gerade Kepler in einem typischen Beispiele, wie das echte Genie entgegengesetzte Elemente in sich vereinigt, aber auch, wie gerade die Astronomie, das nothwendige Objekt mathematischer Betrachtung, jene wundervolle Art der Phantasie mächtig befruchtet, die sich im spekulativen Denken, in den Versuchen, die „große und kleine Welt“ aus einem Prinzip zu begreifen, zu erkennen, was sie „im Innersten zusammenhält“, immer von Neuem bethätigt hat und bethätigen wird. Solches Philosophiren ist selbst der Kunst wesentlich verwandt. Es hat aber seine wissenschaftliche Stütze in der Thatsache, daß in der Natur, wie im Kunstwerk, Verhältniß, Maß und Zahl, jene nothwendige Zusammengehörigkeit der Theile in einem Ganzen, die wir als Zweckmäßigkeit äußerlich auffassen, immer gefunden und bewundert wird. Ihren reinsten, man möchte sagen, unbefangensten Ausdruck hat diese Thatsache in einer Kunst, die ihren Grundelementen nach von der Natur kaum verschieden ist: in der Musik. Aus der Harmonie wollten schon die 16

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der Mathematik zu unterwerfen“: Wilhelm Julius Foerster, Johann Keppler und die Harmonie der Sphären, Vortrag gehalten im Wissenschaftlichen Verein zu Berlin am 8. Februar 1862, Berlin 1862, S. 27. bethätigen wird.: Johann Wolfgang von Goethe, Faust: Eine Tragödie. In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe]. Abteilung I, Bd. 14, Weimar 1887.

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Pythagoräer, wollte zuletzt auch Plato das Ganze der Welt begreifen. Und die „Weltharmonik“ war „die integrirende Grundlage von Keplers wissenschaftlichen Entdeckungen“; sie „goß das Licht edler Heiterkeit über Keplers ganzes Leben aus, obgleich es mit Trübsal erfüllt war“. Keplers Briefe aus der Zeit, nachdem er sein Werk über die Weltharmonik vollendet hatte, kann man nicht lesen, „ohne die große sittliche Wirkung der Harmonie im Seelenleben zu empfinden“. In der heutigen Naturwissenschaft hat die Weltharmonik keine Rolle mehr. Aber die Philosophie, auch wenn sie darauf verzichtet, aus freier Hand den Schöpfungsplan nachzubilden, kommt doch immer wieder auf die geheimnisvollen Einheiten, die in allem Widerstreit und Widerspruch theils sich erhalten, theils sich entwickeln, auf die Einheit von Denken und Sein, Leib und Seele, Natur und Kunst, immer wieder auf die organische, d.i. harmonische Beschaffenheit des Lebendigen und zuletzt des Daseins überhaupt. Die philosophische Anlage und Neigung Försters tritt deutlich in der Sympathie hervor, womit er, in der genannten Schrift und sonst, von den Harmonien der Sphären, von dem unendlich tiefen Sinn der pythagoräischen Weltbetrachtung, von dem in Keplers drittem Gesetz eingewickelten Gedanken redet, daß, was der menschliche Geist höchstens als gesetzmäßig zu verstehen vermag, einem höheren Geiste vielleicht, entsprechend unserem Bilde der Harmonie und Schönheit, d.i. im erhabensten Sinne, als zweckmäßig erscheine. Das Schöne – und eben darum auch das Wirkliche und Wahre in seinem gesetzmäßigen Zusammenhange – haben manche Denker, von Plato her, für wesentlich identisch mit dem Guten gehalten. Was der Erkennende der Natur ablauscht und nachbildet, was der Künstler schaffend darstellt, das will und verwirklicht im Leben der sittliche, darum vorzüglich der politische Mensch. Wir empfinden nun, warum dem Astronomen diese platonische Dreieinigkeit besonders nahe liegt. Försters Bethätigung als Ethiker ist die Frucht seines philosophischen Triebes und Idealismus, der in seiner Wissenschaft wurzelt. Am 18. Oktober 1892, ein Menschenalter nach jenem Kepler-Vortrage, hielt Förster, der kurz vorher Rektor der Berliner Universität gewesen war, die Eröffnungsrede zur Begründung einer „Gesellschaft für ethische

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„Weltharmonik“: Harmonices mundi libri V („Fünf Bücher über die Harmonik der Welt“), kurz Harmonice mundi, ist ein 1619 erschienenes astronomisches Werk von Johannes Kepler. Seelenleben zu empfinden“.: Wilhelm Julius Foerster, Johann Keppler und die Harmonie der Sphären, Vortrag gehalten im Wissenschaftlichen Verein zu Berlin am 8. Februar 1862, Berlin 1862, S. 34 ff.

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Kultur“. Er ist dann durch eine Reihe von Jahren als Vorsitzender dieser Gesellschaft unermüdlich thätig gewesen, ihre Gedanken auszubreiten, Mißverständnisse zu klären, Fortschritte einzuleiten, Gegensätze auszugleichen, und die Botschaft eines „neuen sozialen Geistes“ zu verkünden, dessen vorhandene „Anfänge“ die ethische Bewegung sammeln und fördern solle. Schon vor diesen Bethätigungen war Förster beflissen gewesen, die Gedankenstrenge und Genauigkeit, die ihm auf seinen Fachstudien vertraut und gewohnt geworden ist, auf das Urtheilen über Angelegenheiten des öffentlichen Lebens zu übertragen (man vergleiche dazu den Aufsatz über Genauigkeit in der zweiten Sammlung seiner „Vorträge und Abhandlungen“). In der Einübung solcher Zucht des Denkens, in der Selbstbeherrschung und Askese gegen Uebertreibungen, in der maßvollen Art des Urtheilens sieht er ein wesentliches Element sittlicher Bildung. Nachdrücklich hat er oft auf die zahllosen „Fehlerquellen“ hingewiesen, die in landläufigen und plausiblen Meinungen versteckt enthalten sind, und eine Schärfung der intellektuellen Gewissenhaftigkeit als Bedingung und Bestandtheil eines besseren moralischen Gewissens gefordert. „Die Augen offen halten für alle, selbst die unerwünschten Erscheinungen, allem Wirklichen muthig ins Gesicht blicken, aber sich nicht die Ruhe und Stärke der Seele, deren wir zu energischem, liebevollem Wirken gegen die Uebel der Welt so sehr benöthigt sind, durch die Gespensterseherei verzerrender Einbildungskraft und durch die Unterordnung unter elementare Denkfehler, deren Einwirkung übrigens sofort an der Leidenschaftlichkeit des Ausdruckes erkannt wird, verkümmern lassen, das ist Menschenpflicht.“ In diesen Worten der „Populären Mittheilungen zum astronomischen und chronologischen Theile des Königlich preußischen Normalkalenders für 1893“1 haben wir Försters ethisches Programm. In der That gehört die Warnung vor hastigem Verallgemeinern, vor der unkritischen Neigung, die Verfehlungen Einzelner ganzen Gruppen zur Last zu legen, zu dem Besten, was der wissenschaftliche Mensch im öffentlichen Leben moderierend leisten kann. Eine Natur und Gesinnung wie die Försters ist auf Vermittelung und Versöhnung gestimmt. In diesem Geiste hat er den Verein, der sich die 1

Herausgegeben von W. Förster und E. Blenck, Berlin, Verlag des kaiserl. Statist. Bureaus, 1892.

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ethische Kultur“.: Wilhelm Foerster, Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen, Berlin 1911, S. 225-228. „Vorträge und Abhandlungen“).: Wilhelm Foerster, Ueber Genauigkeit, in: Sammlung von Vorträgen und Abhandlungen, Folge 2. Berlin 1887, S. 337-350.

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Pflege einer philosophisch begründeten, also von religiösen und gar konfessionellen Lehren unabhängigen Sittenlehre angelegen sein läßt, nach innen und nach außen gelenkt. Groben und gehässigen Verketzerungen sind die Leiter und Freunde der „Gesellschaft für ethische Kultur“ auch dadurch nicht entgangen. Försters freundlicher und milder Sinn hat es freilich auch an kräftigen und scharfen Aeußerungen niemals fehlen lassen, wo es galt, zu bekennen und Gegnern zu wehren. Oft hat er in energischer Weise eine gründliche Erneuerung unserer gesellschaftlichen Zustände verlangt und die große Aufgabe der Organisation und gemeinsamen Verwaltung auch der wirthschaftlichen Interessen der Menschheit in deutlichen Umrissen gezeichnet. Der soziale Geist werde dieser Aufgabe gewachsen sein, wenn er sich mit der ethischen Kultur verbinde, die alles Zusammenwirken der Menschen unaussprechlich vereinfachen und erleichtern werde. „Eine Gesellschaft für ethische Kultur, welche aus Angst es ablehnt, in diesen großen Fragen ethisch und wirthschaftlich denken und ordnen zu helfen, wäre ein Nichts, ein „Theeklub“.“ Und was das ebenso stark angefochtene Verhältniß zur Religion betrifft, so hat Förster immer auf gerechte und unbefangene Würdigung „der ältesten und der jüngsten, der gebundensten und der freiesten religiösen Anschauungen und Einrichtungen“ gedrungen, aber auch lebhaft betont, daß eine ethische Bewegung unabhängigen wissenschaftlichen Charakters noch tiefere, ernstere und vor Allem universellere gemeinschaftsbildende Pflichten und Aufgaben als jene zu erfüllen habe. Wir können in dieser Skizze, die dem siebzigsten Geburtstage des verehrten Mannes gewidmet ist, weder seine wissenschaftlichen, noch seine humanen Verdienste hinlänglich würdigen. Was jene betrifft, so genüge es, an die internationale Maß- und Gewichtskommission, an die Präzisionsmechanik und die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, an die astronomischen Uhren und das „Kalendermachen“ zu erinnern. Seine humane und ethische Richtung hatte bewirkt, daß er – trotz seiner strengen Kritik, die er gegen übertriebene und irrige Meinungen nach allen Seiten hin gerichtet hat – einer der wenigen Männer in hoher Stellung ist, die, mitten in unserem wilden Parteiwesen, Achtung und Vertrauen überall, auch in weiten Kreisen der Arbeiterklasse, gefunden und behalten haben. Försters Persönlichkeit, die nicht nur Maß und Gewicht, sondern auch etwas von „Präzisionsmechanik“ an sich hat, kann eben dadurch, das will aber heißen: durch ihren tiefen und verfeinerten Gerechtigkeitssinn, vorbildlich wirken. Es sind Eigenschaften, um so köstlicher, je seltener sie ihrer Natur nach sind, und leider, trotz all unseres Wissenschaftsstolzes, immer seltener werden. Wir wünschen dem Trefflichen, daß es ihm vergönnt sein möge, des Daseins Kreise in einem dritten Menschenalter

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schön zu vollenden, und wenn er dann nochmals seine Stimme öffentlich erheben wird, sagen zu können, daß die Sphären der sittlichen und politischen Welt inzwischen auf einen besseren Ton gestimmt seien, als es an seinem siebzigsten Geburtstage der Fall gewesen sei. Uns aber möge sein Beispiel mahnen, den Goetheschen Spruch zu beherzigen: „Sei Du im Leben wie im Wissen Durchaus der reinen Fahrt beflissen ... Vollendest so nach Deiner Art Mit stillen Freuden Deine Fahrt.“ Ferdinand Tönnies.

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Mit stillen Freuden Deine Fahrt.“: Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien. VI. In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abteilung, 3. Bd., Gedichte. 3. Theil. Weimar 1890, S. 365.

Ammons Gesellschaftstheorie (Nach einem Vortrage) „Es ist dies die Lehre des Malthus, in den meisten Fällen mit zehnfacher Kraft angenommen“, so sagt Darwin in einem Vortrage, dessen Entwurf schon 1839, 20 Jahre vor dem Erscheinen der Entstehung der Arten skizziert wurde, indem er den Satz de Candolle´s anführt, daß die Natur einen Zustand des Krieges darstelle, da ein Organismus mit dem anderen oder mit der umgebenden Natur im Kampfe liege. Es ist auch sonst bezeugt, daß dies Element, das er zu der Lehre vom Ringen um die Existenz ausgestaltete, in seiner Theorie den Grundstock gebildet hat, woran sich dann die Lehrsätze der natürlichen Zuchtwahl, von Vererbung erworbener Fähigkeiten, direkter Wirkung der Lebensbedingungen, korrelativer Abänderung, und endlich von der geschlechtlichen Auslese angesetzt haben. Wenn daher von der Übertragung des Darwinismus in die Sozialwissenschaft die  1

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Ammons Gesellschaftstheorie: Ferdinand Tönnies, Ammons Gesellschaftstheorie. Nach einem Vortrage. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 19. Bd., Heft 1, Tübingen 1904, S. 88-111. Otto Ammon war ein deutscher völkischer Soziologe, Anthropologe und Eugeniker. Er wird als Begründer der Sozialanthropologie in Deutschland angesehen. Er gilt als Anhänger der rassentheoretischen Schule der Soziologie. In seinem Hauptwerk „Die natürliche Auswahl beim Menschen“ bemühte er sich um den Nachweis, dass in den höheren Gesellschaftsklassen ein signifikant höherer Anteil von Angehörigen des „ger­­manischen“ Typus zu finden sei, da beispielsweise die ererbte germanische Tapfer­­keit sich auch in wissenschaftlicher Tätigkeit niederschlagen würde. Das von ihm formulierte Ammonsche Gesetz besagt, dass besonders Angehörige des nordischen Typs in die Städte abwandern, wodurch in der Stadtbevölkerung eine Auslese zugunsten der Hellpigmentierten stattfinde. Natur im Kampfe liege.: Siehe dazu: Peter Vorzimmer, Darwin, Malthus, and the Theory of Natural Selection, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 30, Nr. 4, Baltimore 1969, pp. 527-542. Thomas Robert Malthus war ein britischer Ökonom, der zu den Vertretern der klassischen Nationalökonomie gezählt wird. Augustin-Pyrame de Candolle war ein Schweizer Botaniker und Wissenschaftssoziologe. Charles Darwin zitiert in einem Vortrag am 1. Juli 1858 vor der Linnean Society de Candolle: „De Candolle hat einmal in beredter Weise erklärt, die ganze Natur sei im Kriege begriffen, ein Organismus kämpfe mit dem andern oder mit der umgebenden Natur“. Siehe dazu: Journal of the Proceedings of the Linnean Society. Zoology. Vol. III, London 1859, p. 45.

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Rede ist, so handelt es sich, soweit jenes Hauptstück (der „Kampf ums Dasein“) in Frage kommt, um eine Rückübertragung, oder, wenn der Ausdruck gestattet wird, um die Heimkehr einer Idee, die aus Beobachtung speziell menschlicher Verhältnisse gewonnen – es mag hier nur im Vorübergehen auch an das sprichwörtlich gewordene bellum omnium in omnes erinnert werden – von einem Ausfluge, den sie in das gesamte Tier- und Pflanzenreich gewagt hat, zu ihrem ursprünglichen Gebiete. In Wirklichkeit kommt nun aber nicht jenes Hauptstück bei den besagten Anwendungen des Darwinismus in erster Linie in Frage, sondern vielmehr diejenige Ansicht, die mit Recht als für Darwin charakteristisch gilt, und die auch seinem so einflußreichen Werke den Titel gab: Entstehung der Arten auf natürliche Zuchtwahl – by natural selection; ein Prinzip, das Darwin später, nach dem Vorgange Herbert Spencers, auch das Überleben des Passendsten, der am meisten geeigneten Varietäten genannt hat. Soweit es sich nun dabei um etwas handelt, was innerhalb der Menschenwelt der Entstehung der Arten entspricht, insbesondere also um Entstehung der Rassen, so bleiben wir einem rein naturwissenschaftlichen Problem gegenüber, das freilich auch für die Geschichte, also für die soziale Entwicklung der Menschen, eine hohe Bedeutung hat; und diesem Problem hat Darwin selber ein umfangreiches Werk gewidmet, worin er nun die übrigen Faktoren als unzulänglich darstellt, um die menschlichen Varietäten zu erklären, und die hauptsächliche Wirkung der geschlechtlichen Zuchtwahl zuschreibt. In demselben Werke beschäftigt sich Darwin auch, und besonders in den ersten Kapiteln, mit der menschlichen Kultur, also einem soziologischen Problem, und zwar unterscheidet er hier streng die Bedeutung, die den, durch natürliche Zuchtwahl, wie er meint, gesteigerten intellektuellen und moralischen, insbesondere den sozialen Eigenschaften der Menschen für den siegreichen Fortschritt der Kulturvölker zuzuschreiben sei, auf der einen Seite; und dagegen auf der anderen, die teils günstige teils ungünstige Rückwirkung der Zivilisation auf den natürlichen Prozeß der Zuchtwahl, die aber auch für die geschlechtliche Zuchtwahl von sehr großer Bedeutung sei.  2

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Kampf ums Dasein: Tönnies hatte sich bereits 1900 mit der wissenschaftlichen und polemischen Auseinandersetzung des Sozialdarwinismus befasst. Anlass war das von der Firma Krupp veranstaltete Preisausschreiben zur Frage „Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in Bezug auf die innenpolitische Entwicklung und Gesetzgebung des Staates?“ Siehe dazu ausführlich: Cornelius Bickel, Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus, Opladen 1991, S. 175 ff. bellum omnium in omnes: Richtig heißt es: bellum omnium contra omnes – „Krieg aller gegen alle“ oder „Kampf aller gegen alle“ – so beschrieb der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem Werk „De Cive“ (1642) den von ihm vermuteten Naturzustand der Menschheit.

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Nach Darwin haben hervorragende Autoren ganz andere und weiter ausgedehnte Anwendungen der Entwicklungslehre auf die Entwicklungsgeschichte des Menschentums gewagt. Sie haben das Gesetz der natürlichen Auslese auch in den sozialen Gebilden, den Staaten und Reichen, bewährt zu finden gemeint. Vermittelt wurde dies durch die Theorie, daß solche soziale Gebilde, die Gesellschaften oder sozialen Körper, wie man zu sagen pflegte, selber lebendigen Wesen gleichzuschätzen seien, daß sie als Organismen oder doch als den Organismen ähnliche Superorganismen betrachtet werden sollten. „Die stärksten, die lebensfähigsten Gesellschaften erhalten sich“ – wie einleuchtend, wie ganz in Übereinstimmung mit dem Darwinismus stellt dieser Satz sich dar! Schade daß die Analogie so bald versagt. Zwar wie die ganze Gleichnisrede in bezug auf soziale „Körper“ hergebracht ist, so erstreckt sie sich auch auf Fortpflanzung: Mutterland, Tochterstädte usw. Daß aber so, durch natürliche Vermehrung, im Konkurrenzkampfe mit den weniger vermehrungsfähigen, die tüchtigsten, geeignetsten Typen sozialer Gebilde sich erhalten hätten, diese Betrachtung hat noch niemand durchzuführen unternommen. Sie müßte auch an vielen inneren Widerständen scheitern, vor allem, um es kurz zu sagen, an der Tatsache, daß die sozialen Gebilde mindestens ebenso sehr, und bei steigender Kultur immer mehr, Kunstprodukten wie Naturprodukten gleichartig sind, und daß man bei Kunstprodukten zwar auch von einem Kampf ums Dasein, aber nur sehr uneigentlich von Fortpflanzung und natürlicher Vermehrung reden kann: die Unähnlichkeiten überwuchern rasch die Ähnlichkeiten. So ist denn auch der ganze „Organicismus“ in der Soziologie so gut wie fallen gelassen, wenn es auch an eifrigen Verteidigern ihm noch heute nicht fehlt. Zu diesen Verteidigern ist Herr Otto Ammon nicht zu rechnen. Aber der Haupt- und Grundgedanke seines in dritter Auflage erschienenen Buches „Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen“1, ist doch wiederum jener, daß die natürliche Auslese auch die sozialen Gebilde beherrsche, oder wie er es ausdrückt (S.  27), daß vermöge ihrer 1

Jena. Fischer 1900 VI 303 S.

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stellt dieser Satz sich dar!: „Die letzte Wirkung der natürlichen Auslese ist die Herausbildung der civilisirten Gesellschaft als der stärksten lebensfähigen Collectivkraft.“ Dr. Schäffle, Der collective Daseinskampf. III. Artikel, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. 35. Bd., Tübingen 1879, S. 268. (S.27): Die von Tönnies gesetzten Seitenangaben in diesem Text beziehen sich (wenn nichts anderes gesagt) auf: Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. Entwurf einer Sozial-Anthropologie zum Gebrauch für alle Gebildeten, die sich mit sozialen Fragen befassen. Dritte umgearbeitete Auflage. Mit 6 Figuren im Text. Jena 1900.

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die kleinen schwachen und schlechtregierten Staatengebilde durch größere stärkere und besser geleitete „aufgesogen werden“ (in der Natur ist bekanntlich dies Aufgesogenwerden keineswegs allgemeine Erscheinung, sondern der erste Aspekt den sie bietet, ist die weitgehende Divergenz der Charaktere, und gerade nach Darwin ist das Aussterben von Arten durchaus nicht die regelmäßige Folge des Umstandes, daß die Individuen regelmäßig von den Individuen anderer Arten gefressen werden). In der näheren Ausführung läßt aber Herr Ammon es nicht bei der obigen Hervorhebung begünstigender Merkmale (Größe, Stärke, gute Regierung) bewenden, sondern bestimmt diese näher dahin, daß „eine staatlich organisierte Gemeinschaft von Menschen um so besser den Kampf ums Dasein bestehen werde, je mehr sie der Bedingung entspricht, daß an jedem Platze die richtige Persönlichkeit steht, die durch ihre Begabung geeignet ist, den Platz am besten auszufüllen“ (S. 29). Dies sei „die nutzbringendste Gestaltung der Gesellschaft“. Soll das heißen, daß ihr gegenüber die anderen Momente (Größe, Stärke, gute Regierung) bedeutungslos werden? Dies scheint allerdings die Meinung zu sein (vgl. S. 34). Indessen verweilt die neue Gesellschaftslehre bei dieser wichtigen Frage kaum; sie will vielmehr schildern, welche Einrichtungen „wir“ besitzen, um den richtigen Mann auf den richtigen Platz zu bringen – sie will unsere Gesellschaftsordnung beschreiben, als ein System von Einrichtungen, das jenem Ideal möglichst nahe komme, deren Ergebnis im ganzen ein befriedigendes sei (S. 16). Die „Weisheit“ der bestehenden Gesellschaftsordnung – dies ist der zweite Hauptsatz – bestehe wesentlich darin, daß sie gewisse Apparate, oder, wie gesagt wird, Mechanismen der Auslese in sich enthalte, darauf abzielend, durch organische Verbindung von Antrieb und Hemmung jedes Individuum an die passendste Stelle zu bringen, und jeden Platz mit dem passendsten Individuum zu besetzen. Antrieb und Hemmung: denn teils seien diese gesellschaftlichen Einrichtungen darauf angelegt, das Emporkommen Berufener zu fördern, teils das Durchdringen Untauglicher oder Unwürdiger zu verhindern. Nach beiden Richtungen hält Hr. Ammon vorzugsweise die Schulen für bedeutungsvoll, sodann die Prüfungen aller Art, ferner die geschäftliche Konkurrenz, gleichsam als Prüfung durch das Publikum, die öffentlichen Preisausschreiben; die Konkurrenz der Arbei 7

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gefressen werden).: Charles Darwin, Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, Viertes Kapitel, Divergenz des Charakters, aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Heinrich Georg Bronn, Stuttgart 1860, S. 116 ff. Mechanismen der Auslese: Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1900, S. 35-40. „Kapitel 13. Gesellschaftsmechanismen zur natürlichen Auslese der Individuen.“ Die folgenden „Zitate“ stammen aus dem Kapitel.

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ter untereinander, als Probe, ob sie für den Unternehmer brauchbar sind oder nicht; nach der negativen Seite allein, also zur Ausscheidung von untauglichen oder gar gemeinschädlichen Individuen seien die Einrichtungen der Polizei und Strafrechtspflege, sowie gegen Beamte das Disziplinarverfahren, ebensolche wohltätigen Auslese-Mechanismen. Vermöge aller dieser Einrichtungen kommt – nach Herrn Ammons Behauptung – in „den meisten Fällen“ der richtige Mann an den passenden Platz und an den richtigen Platz der passende Mann. Höher begabte Individuen seien überhaupt selten – ganz besonders selten in den unteren Schichten, denn – dies ist der dritte Hauptsatz dieser Lehre – die gesellschaftliche Schichtung entspricht im großen und ganzen der Begabung, freilich nicht einseitige, sondern harmonische Begabungen kommen empor, diese aber auch mit ziemlicher Sicherheit, dafür sorgen eben jene Einrichtungen, z.B. die Schulen durch Befreiungen vom Schulgeld, durch Stipendien und andere Unterstützungen, die aus altruistischer Gesinnung unbemittelten Talenten zuteil werden. Da also der unteren Klasse die in ihr entstehenden Talente fortwährend entzogen und den höheren Ständen zugeführt werden, so stellt jene – die untere Klasse – nur den Bodensatz dar, aus dem die wertvollsten Stoffe herausdestilliert sind. Um so weniger ist es zu verwundern, daß eben die Begabung hier sehr viel seltener die Mittelmäßigkeit überschreitet als in den oberen Ständen, daß sie vielmehr bei einem sehr großen Teile unter der Mitte steht. Eben die Absonderung – und damit kommen wir zu dem vierten und letzten Hauptsatze – die Absonderung dieser bevorzugten Stände aus der großen Masse der Bevölkerung ist eine „Natureinrichtung“, die bewirkt, daß das Zusammenpassende zweier Individuen häufiger vereinigt wird, als nach den bloßen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit geschehen würde – die „größte Merkwürdigkeit“, nennt dies Herr Ammon, „welche die Entwicklung des Gesellschaftslebens hervorgebracht hat“ (S. 65) – denn sie wirke in 4 verschiedenen Beziehungen vorteilhaft. Diese 4 verschiedenen Beziehungen sind die folgenden: 1. Die Ständebildung beschränkt die Panmixie und bewirkt dadurch die viel häufigere Erzeugung hochbegabter Individuen, stellt also die natürliche Züchtung beim Menschen dar; 11

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Begabung: Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1900, S. 31-44. „Kapitel 14. Kritik der Leistungen der Auslese-Mechanismen.“ Die folgenden „Zitate“ stammen aus dem Kapitel. beim Menschen dar;: Die Panmixie (engl. random mating) ist ein Begriff aus der Populationsgenetik. Wenn sich jedes Individuum einer Population mit jedem des anderen Geschlechtes mit gleicher Wahrscheinlichkeit paart, dann nennt man diesen Idealfall Panmixie.

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2. die Absonderung der Kinder der bevorzugten Stände von der großen Masse ermöglicht eine sorgfältigere Erziehung; 3. die bessere Ernährung und die sorglosere Lebensweise der den bevorzugten Ständen angehörenden Individuen wirken steigernd auf die Tätigkeit der Seelenanlagen; 4. die günstigeren Lebensbedingungen der höheren Stände spornen die Angehörigen der unteren Stände an, ihre besten Kräfte im Wettbewerb einzusetzen, um dieser günstigeren Bedingungen teilhaftig zu werden. Die zurückschauende Betrachtung dieser Einrichtungen, worin er zugleich sich selber als den Entdecker bewundert, entlockt unserm Autor den Ausruf: „Welch ein Meisterstück ist diese so schwer angeklagte Gesellschaftsordnung“ (S. 134). Anderswo spricht er von dem Wunderbaren dieser Einrichtungen, und meint, die Gesellschaftsordnung wäre wahrscheinlich viel weniger gut ausgefallen, wenn wir schwache am äußeren Glanz hängende Menschen mit unserer unvollkommenen Einsicht sie zu schaffen gehabt hätten und wir müßten eigentlich das Kunstwerk anstaunen, „welches so eingerichtet ist, daß es nicht den bloßen Schein, sondern nur die volle, alle Anlagengruppen umfassende, in jeder Lage sich bewährende Tüchtigkeit durchdringen läßt“ (S. 55). Dann heißt es freilich auch wieder, die „Menschheit habe diese Mechanismen im Laufe langer Zeiten geschaffen (S. 40) und die Köpfe vieler Tausende von der fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart haben daran gearbeitet und ihre Erfahrungen verwertet“ (S. 35). Der Mensch habe sie „instinktiv“ als Lebensbedingungen für sich und seinesgleichen geschaffen (S. 11). Zunächst fragen wir: was hat diese ganze Doktrin, was hat besonders jener erste Hauptsatz mit den Darwinschen Prinzipien zu schaffen, auf die sie mit vieler Emphase sich beruft? Ja, das ist im höchsten Grade unklar, und man fühlt sich versucht, die ganze Anknüpfung an diese Prinzipien für einen Zierrat zu halten, oder für ein farbiges Gewand, womit der Verfasser uns imponieren will, indem er fortwährend versichert, nur als Naturforscher und zwar als Biologe könne man die Gesellschaftsordnung verstehen. Er stellt allerdings das, was er Auslese nennt, direkt in Parallele zur Auslese in Darwins Sinne, und läßt es nur zweifelhaft, ob einzelne Arten seiner sozialen Auslese natürliche oder „methodische“ also bewußt-gewollte, künstliche, oder die von Darwin den Tierzüchtern früherer Zeiten zugeschriebene „unbewußte“ Zuchtwahl seien – aber den Ausdruck Zuchtwahl vermeidet er nur deshalb, weil er, auf die Menschen angewandt, viele Leser unangenehm berühre; er hält sich an den Ausdruck „Auslese“ und trotz jener Unsicherheit will er alle seine Auslesen

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als „natürliche“ begriffen haben.2 Nun ist dies eine offensichtliche Konfusion. Gesetzt, es verhielte sich so, wie Herr Ammon uns vormacht, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft im Deutschen Reich – denn diese hat er allein im Auge – seine Auslesemechanismen fortwährend mit dem Erfolge funktionierten, den richtigen Menschen an den richtigen Platz zu bringen, also die besser begabten empor zu heben, die Minderwertigen zu erniedrigen – hätte diese Wirkung etwas Erkleckliches mit den Wirkungen der natürlichen Auslese gemein, die er selber uns ganz richtig dahin bestimmt (S. 4), daß „die kräftigsten und ihren Lebensbedingungen am besten angepaßten Individuen mehr Aussicht haben, erhalten zu werden und ihre Eigentümlichkeiten fortzupflanzen, als die schwächeren und minder gut angepaßten, die somit unter gegebenen Bedingungen aussterben“ – ? Hin und wieder ist es der Fall: vom Erfolge der Tüchtigkeit im Geschäftsleben mag man so sprechen, und anerkennen, daß der Erfolgreiche möglicherweise für das Familienleben begünstigt ist. Aber auch wer etwa als Theologe ein gutes Examen macht, wird eher eine üppige Pfarre bekommen und sich früher verheiraten, also insoweit etwas vermehrte Chancen haben, eine große Familie aufzubringen; wer dagegen in der Blüte der Jahre zu zehnjähriger Zuchthausstrafe verurteilt wird, ist wenigstens für diese Zeit von der Fortpflanzung ausgeschlossen. Was die Arbeiterklasse betrifft, so findet Herr Ammon seinen segensreich wirkenden Mechanismus der Auslese darin, daß der Unternehmer „die geschickten und fleißigen Arbeiter behalte, die unbrauchbaren fortschicke“; daß bei massenhaften Entlassungen in Zeiten der Krise teils die jüngsten Zuwächse, teils alte und kränkliche Personen, die entweder schon hinlänglich sich fortgepflanzt haben oder, auch wenn sie in Arbeit stehen, sich schwach fortpflanzen, abgestoßen werden, und daß die Unternehmerpolitik gebietet, vielmehr auf einen „festen Stamm“ von Arbeitern zu halten, als die Tüchtigkeit jedes einzelnen, der etwa zur Verfügung steht, zu prüfen, davon weiß unser Sozialanthropologe nichts; aber gesetzt, er hätte recht, so wären allerdings die Unbrauchbaren, wenn auf die Landstraße geworfen und einem Vagabondenleben preisgegeben, den Freuden des Familienlebens gründlich entzogen und oft auf immer dafür verdorben. In diesen Fällen handelt es sich ja wohl nicht darum, jedem seinen bestimmten Platz innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung zuzuweisen, sondern einige, um an das Malthussche Gleichnis anzuknüpfen, von der gedeckten Tafel 2

Wer daran zweifelt, werde besonders auf S.  12 ff. verwiesen, wo der Verf. einräumt, die „Darwinsche Theorie“ könne uns bei näherer Betrachtung bedenklich vorkommen, weil nicht immer der geistig Überlegene und sittlich Tüchtige es sei, der im Wettbewerb des Lebens den Sieg davontrage, sondern oft der Durchtriebenste, der Rücksichts- und Gewissenloseste.

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zurückzuweisen. – Im übrigen aber haben die Wirkungen der Konkurrenz mit den Aussichten auf individuelle und generische Erhaltung nur wenig zu tun. Die untere Klasse ist allerdings einer sehr viel größeren Sterblichkeit ausgesetzt; sie hat aber auch am wenigsten Grund, ihren Fortpflanzungstrieb in Schranken zu halten; sie ist gerade aller jener Rücksichten überhoben, die die Ehe zu einer Standessache und von einer gesicherten Brotstelle abhängig machen; ganz abzusehen von der außerehelichen Propagation. Herr Ammon selber beschäftigt sich eingehend mit der wie er meint „etwas zu starken Vermehrung“ des Proletariats. Und es ist ja auch nicht (nicht immer, muß man vorsichtigerweise sagen) seine Meinung, daß jene Auslesemechanismen die von ihm sogenannten Stände immer neu produzieren, sondern wir müssen ihn so verstehen, daß sie hauptsächlich innerhalb jedes Standes ihre Wirkungen üben. Wer aber innerhalb der oberen Klassen nach hoher Stellung strebt und etwa auch dafür begabt ist, wird gerade genötigt sein, die Eheschließung aufzuschieben, es sei denn, daß er sie als ein Mittel seines Strebens gebraucht, was freilich nicht selten vorkommen mag, aber auch leicht Ehen begründet, die aus dem selektorischen Gesichtspunkte alles eher als günstig sind. Vollends wird aber, wer aus den unteren Schichten durch eigene Anstrengung emporklimmt, in der Regel später zum Heiraten sich entschließen, als wenn er in seinem Stande geblieben wäre; nicht selten wird gerade ein solcher ehelos bleiben. Herr Ammon wirft freilich diese Frage gar nicht auf. In Wahrheit ist trotz aller Redensarten von naturwissenschaftlicher Begründung seiner Theorie in ganz anderem und lediglich übertragenem Sinne als „darwinistische“ zu verstehen, in einem Sinne, der der „natürlichen Zuchtwahl“ meilenferne steht: nämlich in einem sozialwissenschaftlichen Sinne, den uns jene Worte von der instinktiven Schöpfung und von der schaffenden Arbeit unzähliger Generationen schon erraten lassen. Nur ist seltsamerweise der Unterschied dieses Sinnes von dem anderen dem Autor selber nicht im mindesten klar geworden, ja die Verwischung dieses Unterschiedes gehört zu den Künsten seines Gefechtes. Dieser zweite Sinn ist aber gar nichts anderes als das Theorem der wohlbekannten historischen Schule, ein Theorem, das hauptsächlich in bezug auf das Recht und die politischen Institutionen zu Anfang des vorigen Jahrhunderts sich geltend machte, später – freilich mit veränderter Wendung – auch auf die Lehre von der Volkswirtschaft übertragen wurde. Ein gewisser Zusammenhang mit der allgemeinen Ansicht des organischen Lebens und mit Lehren, die zu den Vorläufern des Darwinismus gerechnet werden, ist zwar von Anfang an vorhanden gewesen; es genügt daran zu erinnern,

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daß Savigny unter dem Einflusse der Schellingschen Naturphilosophie stand. Von natürlicher Zuchtwahl ist da freilich keine Rede, wohl aber von einer Entwicklung stillwirkender Kräfte, deren Ergebnis allen Gebilden menschlicher Vernunft und Willkür überlegen sei – und so setzt sich diese konservative Lehre dem durch seinen Zusammenhang mit den Greueln der Revolution in Verruf gekommenen Naturrecht und dem rationalistischen Liberalismus entgegen – bei Savigny zunächst durch seine siegreiche Attacke auf die verwegene Neuerung derer, die ein Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für Deutschland einführen wollten. Ganz ähnlich verhält sich Herr Ammon mit seiner konservativen Apologetik zu den Neuerern, die an dem historisch gewordenen Verhältnis der Gesellschaftsklassen zueinander rütteln wollen, und die da wähnen, daß sich in einem Lande wie Preußen und Baden etwa für die leitenden Stellen in Justiz und Verwaltung ein erheblich tüchtigeres Personal gewinnen ließe, wenn die Auswahl weniger beschränkt wäre, wenn erheblich mehr begabte Leute aus den Schichten, die zum akademischen Studium die Mittel nicht aufbringen können, hervorgezogen würden, wenn überhaupt andere „Auslesemechanismen“ neben und gegen die vorhandenen in Aktion träten. Geklagt wird von diesen Neuerern, daß allzu oft die minderwertigen Söhne der Reichen durch Nachhilfestunden, Lehrerpensionate, Freundschaft zwischen Eltern und Lehrern und – kraft des Wartenkönnens „sich durchsitzen“ und durch Korpsbrüderschaften, Adelskliquen, Nepotismus befördert werden. Dagegen will Herr Ammon uns belehren: diese Ordnungen, diese Auslesemechanismen haben sich entwickelt, sie haben einen Kampf um ihr Dasein und damit einen Scheide- und Läuterungsprozeß durchgemacht, in dem das Zweckmäßige sich erhalten hat, ähnlich wie sich zweckmäßige Organe des Tierkörpers und angepaßte Arten der Organismen erhalten haben. Es handelt sich also lediglich um eine Analogie zu den biologischen Tatsachen: eine Anwendung des Darwinismus verdient diese Erneuerung einer mit der Romantik nahe zusammenhängenden Lehrmeinung nicht genannt zu werden, sie ist vielmehr das, als was wir sie im Vorwege charakterisiert haben: Übertragung eines Erklärungs-Prinzipes aus einem Gebiete, wo es induktiv gefunden wurde, in ein anderes Gebiet, wo es deduktiv verwertet wird. Nehmen wir nun aber dies Erklärungsprinzip wie es ist: es kommt darauf hinaus, daß auch  1

der Schellingschen Naturphilosophie: Schelling war der Hauptbegründer der spekulativen Naturphilosophie, die von etwa 1800 bis 1830 in Deutschland fast alle Gebiete der damaligen Naturwissenschaften prägte. Seine Philosophie des Unbewussten hatte Einfluss auf die Ausbildung der Psychoanalyse. Schellings Philosophie bildet sowohl das entscheidende Verbindungsglied zwischen der kantischen und der hegelschen Philosophie als auch zwischen der idealistischen und nachidealistischen Philosophie.

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in menschlichen Einrichtungen das mehr oder minder unbewußt Gewordene dem durch menschliches Klügeln Erfundenen, dem Künstlichen und Gemachten überlegen sei: revolutionäre Neuerungen sind ein für allemal eine kindische Dummheit, die auf mangelnder Einsicht in die Naturgesetze der Gesellschaftsordnung beruht.3 Schade, daß die Darwinsche Lehre selber, die diese Ansicht stützen soll, schade, daß die Lehre des Kopernikus, die Lehren der Vesalius, Harvey, Lavoisier ebensolche revolutionäre Neuerungen waren und sind. Warum nicht auch ihnen entgegenhalten: die ehrwürdigen überlieferten Anschauungen, ausgebildet und bewährt im Verlaufe von Jahrtausenden, geläutert im Feuer ketzerischer, heidnischer und schwärmerischer Kritiken, sind teils die natürlichen, teils sind sie als übernatürlicher Glaube Stücke eines bewunderungswürdigen Auslesemechanismus; es ist die schärfste Prüfung, der ein Mensch unterworfen werden kann, ob er willens und fähig ist, seine Vernunft gefangen zu geben unter den Gehorsam gegen die Kirche und gegen seine Vorgesetzten überhaupt. „Die Umsturzgeister setzen ihre subjektiven Meinungen unter dem Namen der Wissenschaft dem objektiven und gültigen Inhalt der vom Staate mehr oder weniger unterstützten und für den Bestand der Gesellschaft unentbehrlichen Kirchenlehre frech und töricht entgegen“, so wird in Herrn Ammons Sinne dreist ein Bewunderer der kirchlichen Gesellschaftsordnung sprechen. Schade, daß Herr Ammon nicht auch sein heiliges Prinzip angewendet hat auf die revolutionäre Technik, die alle historisch gewordenen Werzeuge und Geräte, alle durch Überlieferung und Erfahrung bewährten Verkehrsmittel, die herkömmliche Beschaffung von Licht, Feuer, Wasser, die Methode des Ackerbaues und des Handwerks, die unser ganzes tägliches Leben so von Grund aus umgewälzt und erneuert haben. Und allerdings, es läßt sich sehr vieles mit gutem Grunde gegen alle diese Neuerungen sagen, solange sie nicht tief und innig assimiliert worden sind, solange der Mensch seinen eigenen Produkten, unfähig sie zu lenken und zu beherrschen, gegenübersteht, sich ihnen sozial nicht hinlänglich angepaßt hat. Man braucht daher an dem großen besinnungslosen Kulturrausch nicht teilzunehmen, man braucht in die Jubelhymnen auf die Triumphe der Wissenschaft nicht ohne Vorbehalt einzustimmen – aber sehen, hören und fühlen muß man, daß, wie Goethe sagte, als er das Nahen dieses neuen Zeitalters erkannte, „die Dampfmaschinen nicht zu dämpfen sind“ und daß dies ebensowenig 3

Dieser wirkliche Sinn der Ammonschen Theorie, im Texte der 3. Auflage verdunkelt, tritt um so heller in der 2. S. 3-4, und vermutlich auch in der ersten Auflage (die ich nicht kenne) hervor. Archiv für Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) I.

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im Sittlichen möglich ist; diese gewaltigen Neuerungen, deren Umfang und Tragweite der größte Vertreter deutscher Bildung nicht einmal ahnen konnte, sind nun einmal die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig nicht mehr bloß „ein junger Mann gesetzt ist“, und die „jeden jungen Mann ermahnen sollten“ – wir zitieren immer noch Goethe – „daß ihm das Steuerruder darum in die Hand gegeben ist, damit er nicht dem Spiele der Wellen gehorche, sondern den Willen seiner Einsicht walten lasse“. Der Wille unserer Einsicht wird uns immer vor besinnungslosem Radikalismus bewahren; er wird sich aber auch nach der Einsicht richten müssen, daß ein so auf allen Gebieten umwälzendes Zeitalter mit einer konservativen und stabilen Gesellschaftsordnung, wie wünschenswert diese an sich auch sein möge, sich nicht verträgt, daß sie tatsächlich fortwährend revolutionierend darauf gewirkt hat und wirken muß; daß ein solcher Strom sich wohl regulieren, aber nicht zurückstauen läßt. Was hat es denn aber mit den gepriesenen Auslesemechanismen auf sich? Wie verhalten sie sich zur ebenso gepriesenen „Absonderung von bevorzugten ‚Ständen’ aus der großen Masse der Bevölkerung“ (S. 65)? Herr Ammon setzt voraus, daß „abgeschlossene Stände“ noch vorhanden, daß sie unausrottbar seien, obgleich sie „den meisten unserer Gebildeten, und auch den meisten Sozialpolitikern, als ein trauriges Überbleibsel halbbarbarischer Zeiten gelten“. Soweit sie vorhanden waren, und ohne Zweifel sozialen Nutzen gehabt haben, sind sie doch wahrlich nicht durch Schulen und Examina entstanden? die erblich geschlossenen, auf die es unserem Theoretiker doch gerade ankommt, am allerwenigsten! Wohl könnte man sagen, daß wesentlich durch diese „Auslesemechanismen“ der katholische Klerus ergänzt werde, der aber eben nicht ein erblicher Stand und nicht „im Sinne Darwins gezüchtet“ ist; der, wie es scheint, recht wohl gediehen ist, und noch gedeiht, ohne daß die für ihn nötigen intellektuellen und moralischen Anlagen in einer gehobenen, besitzenden und durch reichliche, auch qualitativ bessere Nahrung (S. 89, 90), durch  1

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im Sittlichen möglich ist;: „So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, und das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.“ In: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 42. Bd. Zweite Abtheilung, Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik. Aus Wilhelm Meisters Wanderjahren. Betrachtungen im Sinne der Wanderer, Weimar 1907, S. 172. Einsicht walten lasse“: Ebd., S. 171. „ ... daß dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern den Willen seiner Einsicht Folge leiste.“ Zeiten gelten“: Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1900, S. 65 ff.

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Unterhaltungen und Zerstreuungen (das.) aus der Menge herausgehobenen Schicht von der „Natur“ weislich vorbereitet, die Chancen für eine glückliche Kombination (Kap. 16-18) durch Inzucht günstiger gestaltet wären. Die ungeheuerliche These Ammons ist ja, daß die besitzenden Klassen, und zwar, wie man verstehen muß, immer und schlechthin, eine Varietät allseitig besser begabter, insbesondere aber durch Verstand und Charakter ausgezeichneter Menschen darstellen, eben infolge der Verbindung von Auslesemechanismen und Inzucht! Welcher Mechanismus bildet denn unter heutigen sozialen Bedingungen, auf die dort Herr Ammon vorzugsweise, und fast ausschließlich exemplifiziert, diese Varietät der Herrenklasse? „Im gewerblichen Leben“, so lesen wir, „bestand vormals auch eine Art von Prüfung, das Meisterstück“. „Seit der Einführung der Gewerbefreiheit herrscht ein Wettbewerb, bei dem lediglich die Käufer entscheiden. Wer sein Geschäft am tüchtigsten betreibt, kommt vorwärts, wer nachlässig und träge ist, kommt zurück“ (S. 38). Das ist alles, was Herr Ammon über den Unterschied des kapitalistischen vom Handwerkszeitalter mitzuteilen weiß. Die Konkurrenz bringe die geborenen Organisatoren ans Tageslicht! Jede Konkurrenz? „Selbstverständlich“ nur die „mit redlichen Mitteln“! „Unlautere Kniffe sind womöglich auf dem Wege der Gesetzgebung zu unterdrücken“. Die Gewerbefreiheit darf keine „schrankenlose“, der Wettbewerb kein „unlauterer“ sein, „sonst werden nicht die tüchtigsten, sondern die frechsten und rücksichtslosesten Individuen emporgehoben“. „Sind womöglich“, „darf“ „sonst“ – wie steht es aber in Wirklichkeit? Da hilft unserem Sozialanthropologen ein für allemal die Rede „im großen und ganzen“ und die Berufung auf seine persönliche Erfahrung und Kenntnis, seine Ansicht, seine Eindrücke, und auf die Unhaltbarkeit und Unwahrscheinlichkeit sozialdemokratischer „Ansichten“, die er dann zur Kontrastwirkung in möglichst krassen Ausdrücken wiedergibt. „Auch unter den Großindustriellen habe ich *viele*4 kennen gelernt, die durch bedeutende Eigenschaften, namentlich durch organisatorisches Talent und durch Willenskraft ihren Platz verdienten“ (S.  43). Wer möchte da widersprechen? Weniger günstig ist sein Urteil über „emporgekommene Spekulanten und Börsenjobber“ (S. 92). „Denn diese ‚Protzen‘ verdanken ihren Reichtum *häufig* nur ihrer Skrupellosigkeit und dem Mangel altruistischer Gesinnung. Sie gehören *eigentlich nicht* zur gebildeten Klasse, werden aber durch ihr vordringliches Gebahren von den Arbeitern irrtümlich mit dieser identifiziert, und ziehen ihr die ganze Fülle von Haß und Neid zu, die von Rechts wegen jenen allein gebührt“ (S. 92). An anderer Stelle heißt es sogar allgemein: „Es ist 4

Die in Sternchen stehenden Worte sind im Original nicht hervorgehoben, die aber der Autor hier hervorheben möchte.

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... nicht immer der geistig Überlegene und sittlich Tüchtige, der im Wettbewerb des Lebens den Sieg davonträgt, sondern *oft* der Durchtriebenste, der Rücksichts- und Gewissenloseste“ (S.  12). An dieser Stelle gibt es überhaupt immer eine rückschrittliche und eine fortschrittliche, ungünstige und günstige Auslese nebeneinander, es komme nur darauf an, welche Art von Auslese den überwiegenden Erfolg hat (S. 14). Warum ist denn weiterhin nicht von den Mechanismen der ungünstigen Auslese und von den Ursachen des Überwiegens der günstigen Auslese die Rede? Das wäre ein methodisch fortschreitendes Verfahren gewesen! – Herr Ammon „neigt“ aber „zu der Ansicht, daß die meisten wirklich begabten Söhne der unteren Klassen vermöge unserer gesellschaftlichen Einrichtungen die Gelegenheit haben und benutzen, um sich den gebührenden Platz zu verschaffen“ (S.  44). Dafür will er einen „objektiven Beweis“ beibringen: „indem ich dartue, daß infolge unbestrittener Naturgesetze die Zahl der höher begabten Individuen im Verhältnis zu der Masse der Bevölkerung überhaupt nur eine kleine sein kann, wonach also das Zurückbleiben einer größeren Menge von selbst ausgeschlossen ist“. Der „Beweis“ wird mit Hilfe der Kombinationslehre geführt. Zu diesem Behuf unterscheidet Herr Ammon 3 Gruppen von Seelenanlagen: intellektuelle, moralische (diese mit Ausschluß der altruistischen, weil deren Wirkung auf das Emporkommen der Individuen ‚widerspruchsvoll‘ sei), wirtschaftliche; dazu fügt er eine Gruppe „körperlicher“ Anlagen; er vergleicht dann diese Anlagegruppen mit Würfeln, die Stärkegrade in jeder Gruppe mit Würfelaugen, und berechnet, daß die höchste und die niedrigste Augensumme am seltensten, die mittlere am häufigsten vorkommen muß. Daraus schließt er („auf unseren Gegenstand angewandt“ S.  52), daß auch die Zahl der Genies und der Talente im Vergleich zur Gesamtzahl der Menschen naturgemäß nur klein sei, ebenso die Zahl der Schwachbegabten und der ganz Stumpfsinnigen, während das Mittelgut an Zahl bei weitem vorherrsche. Genies und Talente sind aber bei Herrn Ammon nicht etwa die Menschen von hoher geistiger Begabung, sondern nur solche, bei denen die Nummern in allen 4 Anlagegruppen hoch sind. Geistig und sittlich hochstehende Menschen, die aber Mangel an wirtschaftlichen Anlagen (Geschäftssinn, organisatorisches Talent, technisches Geschick, kluge Berechnung, Voraussicht, Sparsamkeit) und schwache körperliche Anlagen haben, nennt er „Leute, die unter Umständen den Eindruck von äußerst befähigten Menschen machen, die sich bloß nicht emporzubringen wissen und als „verbummelte“ Talente bzw. „verkannte“ Genies oder „geknechtete“ Biedermänner enden“. „Dafür macht man in der Regel ungenügende Bildung, widrige äußere Verhältnisse, mit Vorliebe die „herrschende Gesellschaftsordnung“ verantwortlich, wäh-

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rend der Mißerfolg in der Veranlagung der Individuen selbst begründet ist!“ Jeder Zusatz würde den Eindruck dieses geistvollen Paradoxons trüben. Man bemerke wohl, daß hier jede Anlagengruppe auf gleiche Linie gestellt wird: die Nummer Eins auf dem vierten die Körperkräfte darstellenden Würfel nennt er ausdrücklich einen „Herkules“ – das wirklich emporkommende und dessen würdige Genie muß also auch herkulische Körperkräfte haben!! Sehen wir weiter. „Das Würfelspiel ist höchst wahr­scheinlich eine im *wesentlichen* treue Wiedergabe der Vorgänge, die sich vor und bei der Befruchtung wirklich abspielen“ (S. 55). In Wirklichkeit besteht aber jede Gruppe von Anlagen selbst wieder aus Kombinationen von Anlagen, und die Zahl der Stärkegrade läßt sich beliebig vermehren; auch wird innerhalb jedes Anlageelementes der höchste und niedrigste Grad selten vorkommen, auch hier der mittlere Grad die Regel sein. Alle diese Umstände vermehren das Mittelgut; die Chancen für das Herkulesgenie sind in Wirklichkeit noch viel geringer. Hier wird dann das Gaussische Fehlergesetz herangezogen, dessen sich Galton bedient hat, um die Wahrscheinlichkeit eminenter Begabung abzuschätzen. Galtons Argument ist, daß außerordentliche intellektuelle Begabung, wenn mit Eifer und mit Arbeitskraft verbunden, in England trotz sozialer Hemmungen mit ziemlicher Sicherheit sich durchsetzt und zu Ruhm gelangt; und umgekehrt, daß sehr hoher Ruhm nicht ohne sehr hohe Fähigkeiten erreicht wird. Er braucht dies Argument um aus Ruhm und Begabung zu schließen, und den Beweis der Vererbung geistiger Qualitäten auf die Tatsache zu gründen, daß hervorragende Leute in verschiedenen Gebieten, besonders aber in Literatur und Kunst, meistens auch hervorragende Verwandte haben. Galtons Methode unterliegt sehr schweren Bedenken, ja ich bin überzeugt, daß sie große Fehler enthält; aber darauf ist hier nicht einzugehen. Nach der Regel der normalen Abweichungen von einem Durchschnitt berechnet Galton, daß auf eine Million gleichaltriger Menschen ein ganz

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Begabung abzuschätzen.: Das Gauss’sche Fehlergesetz (nach Johann Carl Friedrich Gauß): Ein Fehlergesetz, d.h. eine Funktion, welche die Häufigkeit eines Fehlers durch seine Größe ausdrückt, kann analytisch nicht deduziert werden, ohne dass durch ein Prinzip festgelegt wird, welchen Wert der Unbekannten man als den der Wahrheit nächst kommenden betrachtet; bei der Gauss‘schen Ableitung ist dies das Prinzip des arithmetischen Mittels. Galton gilt als einer der Väter der Eugenik. ... Durch die Herausgabe des Werkes „Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favored Races in the Struggle of Life“ seines Cousins Charles Darwin 1859 erhielt das Leben Francis Galtons eine neue Richtung. Angeregt durch dieses Werk beschäftigte er sich mit den Grundlagen der Vererbungslehre. Er wandte als Erster empirische Methoden auf die Vererbung geistiger Eigenschaften, insbesondere der Hochbegabungen, an. Sein berühmtestes Werk, Hereditary Genius (1869), kann als Vorläufer der Verhaltensgenetik angesehen werden.

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hervorragender komme. Herr Ammon meint, auf sein Würfelgleichnis gestützt, es erscheine uns als *wahrscheinlich* (da es gewiß weit mehr einzelne Anlagen als 8 seien, die bei einem genialen Manne zusammentreffen müssen, und die Zahl der Stärkegrade mit 6 gewiß nicht zu hoch angenommen werde) „daß wir nur einen Menschen auf viele Millionen haben sollten, bei dem sich alle erforderlichen Eigenschaften zu einem Genie vereinigen, während wir *nach Galton* schon 1 auf 1 Million, also bedeutend mehr haben“. Es folgt dann (bei Ammon) der Absatz: „Aus der Abweichung *der Wirklichkeit* von der theoretischen Wahrscheinlichkeit, läßt sich folgern, daß irgendwelche noch nicht in Rechnung gestellte Ursachen vorhanden sein müssen, die das Entstehen von Talent und Genie begünstigen“ (S. 64). Und hiermit wird dann die „Natureinrichtung“, die Absonderung von „Ständen“ eingeführt, die das unerwartet häufige Vorkommen von Genie und dessen „unaufhörlich erfolgendes Neuentstehen“ erklären soll. Man bemerke wohl: was der Herr hier „Wirklichkeit“ nennt, und was „nach Galton“ sich tatsächlich findet, ist nichts als die theoretische Wahrscheinlichkeit in Galtons Darstellung; Galton hat nicht einmal einen Versuch gemacht zu beweisen, daß die Erfahrung damit übereinstimme; einen solchen Versuch macht er nur mit seinen 250 pro Million „Hervorragender“, zu denen er auf folgendem ziemlich holperigem Wege gelangt: er fand in einem Nachschlagebuch von 1865 2500 Namen lebender Männer von Ruf, die Hälfte Engländer; darunter sind sehr viele erst mit über 50 Jahren berühmt geworden; er vergleicht daher diese, die er in der Gesamtzahl von 850 findet, mit der über 50 jährigen männlichen Einwohnerschaft der britischen Inseln, das gibt 425 pro Million; aber nur 500 von jenen 850 sind Leute, die in der literarischen und wissenschaftlichen Gesellschaft verkehren, „in entschiedener Weise (decidedly) bekannt“: (so kommen 250 pro Million heraus! Die nachher dann einfach auf alle Lebensalter bezogen werden. Wobei nachher der Ruhm keineswegs mit dem Wohlbekanntsein in literarischwissenschaftlichen Zirkeln gleichgesetzt wird. Indessen wir dürfen uns nicht bei den Fehlern Galtons, der jedenfalls – zu seiner Ehre sei es gesagt – reine wissenschaftliche Absichten hat, aufhalten. Ebensowenig kann ich an dieser Stelle in eine positive Darstellung des Problems eingehen. Genü-

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hervorragender komme.: Francis Galton, Hereditary Genius, Second Edition, London and New York 1892, S. 34. Nachschlagebuch von 1865: Gemeint ist: Men of the Times: A Biographical Dictionary of Eminent living Characters of both sexes. London 1865. (decidedly) bekannt“: Francis Galton, Hereditary Genius, Second Edition, London and New York 1892, S. 9. „are decidedly well known“.

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ge es zu sagen, daß der Satz Galtons (S. 41): „Soziale Vorteile haben eine enorme Macht, jemanden in die Stellung eines Staatsmannes zu bringen, die immerhin so bedeutend ist, daß man ihm das Beiwort „hervorragend“ nicht versagen kann, obwohl es mehr als wahrscheinlich ist daß in der Wiege ausgetauscht, und im Dunkel aufgewachsen, er gelebt hätte und gestorben wäre, ohne aus dieser niedrigen Lebensphäre emporzutauchen“ – daß dieser Satz eine viel weitere Geltung hat, als Galton meint, der übrigens ausdrücklich erklärt, daß er nur Berühmtheit und nicht „hohe soziale oder offizielle Stellung“ im Auge habe. Für Herrn Ammon ist beides so gut wie identisch. Die „Gesellschaftsordnung“ belohnt eben jedes Verdienst durch „Stellung“ und läßt die Verdienstlosen durchfallen. Den vorsichtigen Hilfssatz Galtons hat Herr Ammon kritiklos an sich gerafft und durch viel Wind zu einem scheinbaren und selbstgefälligen Einbildungen imponierenden Theorem aufgeblasen. Daß soziale Auslese stattfindet, ist ganz richtig. Herr Ammon hat nicht zuerst die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, aber daß er sie darauf gelenkt hat, werde mit Dank anerkannt. Wahl und Ausscheidung bedecken ein unermeßliches Feld des sozialen Lebens; es erstreckt sich sehr viel weiter, als Herr Ammon zu ahnen, oder bedacht zu haben scheint. Abneigung, Behaltung, Assimilation der brauchbaren – Abstoßung der unbrauchbaren Materie, ist das Grundgesetz alles Lebens; Unterscheidung des Nützlichen und Schädlichen, Freundlichen und Feindlichen, Grundgesetz alles bewußten Lebens, daher auch des bewußten Zusammenlebens jeder menschlichen, ja schon jeder tierischen Horde und Verbindung. Und für jede Gemeinschaft oder Gesellschaft der Menschen ist es eine hohe Lebensfrage, ihre führenden und für sie denkenden Kräfte, oder wie man sagen mag, Organe richtig auszulesen. Nicht immer wird dies freilich als eine Aufgabe empfunden; vielmehr überwiegen, auch historisch, die Fälle, wo es als naturnotwendig, als selbstverständlich erscheint, daß die einen herrschen, die anderen gehorchen, oder um es höflicher auszudrücken, daß die einen vorangehen, die anderen folgen. Die beiden großen Familienregeln: das Gebieten der Alten über die Jungen und das Gebieten der Männer über die Frauen führen sich auf die allgemeine Regel zurück: das Sorgen der Stärkeren für die Schwächeren, und daraus sich ergebende, dadurch mehr oder minder bedingte Herrschaft jener Starken und Mächtigen, die in den Anfängen eher durch riesige Körperkräfte und wilde Tapferkeit als durch Tugenden des Verstandes und Gemütes sich hervortun. Ihrem Wesen nach nahe mit jenen Ursprüngen verwandt ist alle Herrschaft kraft Erbrechtes, die sich an das Alter, und wie man dann leicht glaubt, an die erbliche Volltrefflichkeit und Kraft, vorzugsweise aber an die wie immer gewonnene ökonomische Macht gewisser

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Familien anhängt, denen ein gläubiges Volk die besondere Gunst und Gnade der Götter, als der Allväter und machtvollsten Wesen zuzuschreiben geneigt ist. Aber von jeher konkurriert mit solchem Glauben und solcher Untertänigkeit das Verlangen der Menge, besonders wenn sie aus wehrhaften Männern besteht, ihre Hauptleute selber zu wählen; dies gilt als ein natürlicher und gerechter Anspruch freier und mündiger Personen, zumal wenn sie als Bürger sich selber als Urheber und Träger ihres Gemeinwesens fühlen. Mit jeder Wahlpraxis kann freilich eine tatsächliche Vererbung von Befugnissen zusammen bestehen, ja sich neu daraus entwickeln; und aus der Tatsache der Erblichkeit dann wieder ein Erbrecht entstehen. Im allgemeinen aber macht das Prinzip der Wahl auf Kosten des Erbrechtprinzips sich geltend und muß um so mehr an dessen Stelle treten, je mehr der Glaube an eine übernatürliche Sanktion erblicher Herrscherbefugnisse schwindet, und andererseits, je mehr die Vererbung leiblicher und seelischer Vorzüge ihre Kehrseite fühlbar macht: als Vererbung der Kraftlosigkeit, des Lasters, der Degeneration. Die zweckmäßige Funktion des Wahlprinzips ist aber selber an viele und schwierige Bedingungen geknüpft. Vor allen Dingen ist sie immer in gewisser Weise abhängig von den Qualitäten der Wähler. Vorzugsweise und offenbar sind diese wichtig, wenn einzelne Personen die Wählenden und Prüfenden sind, und hier sind große Schwankungen um so wahrscheinlicher; wenn z.B. einem Monarchen die Wahl der Staatsminister zusteht, so ist es wesentlich von der Begabung, Klugheit, Wohlberatenheit des Monarchen abhängig, ob diese wichtige Wahl gut oder schlecht ausfällt; und ähnlich überall bei individuellen Wahlen und Ernennungen von oben her. Anders wenn Wahlen durch Kollegien vollzogen werden; je größer das Kollegium, desto eher wird die ausschlaggebende Mehrheit einen Durchschnitt der Wählerqualitäten darstellen; es werden daher vermutlich sehr weise und sehr törichte Wahlen gleich unwahrscheinlich werden. Nun ist ein Wahlkollegium von selber gegeben, wenn irgend eine Verbindung – ein Verein, eine Genossenschaft oder welcher andere Name ihr zukommen möge – ihren Vorstand, ihre Beamten und Verwalter wählt; das natürliche Erfordernis für den Wähler ist hier, daß er ein Mitglied der Verbindung sei, in einer Stadt z.B. daß er das Bürgerrecht besitze. Und die Wählerschaft kann den Erwählten als ihresgleichen, als ihren Führer oder als ihren Diener betrachten und behandeln, je nach ihren Zwecken, je nach seinen Funktionen, aber auch je nach beiderseitigen Qualitäten. Viele Versuche sind in Theorie und Praxis gemacht worden, die Qualifikation des Wählers in politischen Körperschaften zu begrenzen, und dadurch „bessere“ Wahlen zu sichern; und der dabei zugrunde liegende Gedanke war zumeist der, daß nach der Größe der Beiträge zur öffentlichen

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Kasse, also nach den Steuern, die politischen Rechte abgemessen werden müßten. Kein Wunder, wenn nun die Besitzlosen dies ungerecht schelten, da sie nämlich auch nach ihren Kräften beisteuern, und da wahrscheinlich ihr Scherflein, zumal wenn die Steuern auf Gegenstände des notwendigen Lebensunterhaltes gelegt sind, ein viel größeres Opfer bedeutet, als die Beiträge des Reichen; und zumal wenn die Staatsverfassung ihn (den Armen) nötigt, mit seinem Leibe und seiner Wehrkraft für das gemeinsame Vaterland einzustehen, oder gar für die besonderen Interessen der Besitzenden sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber – wird dann eingewandt – dem „gemeinen Manne“ fehlt die Intelligenz, das Verständnis für politische Angelegenheiten. Nun, eben darum soll er ja einen Vertreter wählen, von dem er ein besseres Verständnis erwartet; „er wird aber auch dies nicht beurteilen können, er wird sich durch die Beredsamkeit des Wahlkandidaten, durch Schlagwörter, die seinen Leidenschaften oder seiner Eitelkeit schmeicheln, betören lassen“. Diese Gefahr ist ohne Zweifel vorhanden; aber die Gefahr ist schon viel geringer, daß in einer großen Menge diese Betörten gerade die Mehrheit bilden sollten, und wenn die Mehrheit eine törichte Wahl trifft, so darf man erwarten, daß sie den Schaden davon spüren und durch Erfahrung gewitzigt werde; handelt es sich um Wahlen für eine große Körperschaft, so ist schon außerordentlich unwahrscheinlich, daß auch nur eine erhebliche Minderheit schlechthin törichter Wahlen stattfindet, vielmehr werden hier wieder die besonders weisen und die besonders verkehrten Wahlen Extreme auf beiden Enden bilden, während sich die große Menge um ein mittleres Maß von wählerischer Einsicht gruppiert. Im großen und ganzen wird auch hier der Wettbewerb dafür sorgen, daß ganz einfältige und des öffentlichen Vertrauens unwürdige Personen gar nicht wagen werden, als Wahlkandidaten aufzutreten, zumal da die Wahlen doch nicht völlig wild zu geschehen pflegen, sondern Komitees und engere Versammlungen zunächst die Kandidaten „aufstellen“. Daß es dabei oft nur allzu menschlich hergeht, daß das Gespenst der Korruption sich nicht selten an die grünen Tische setzt, ist eine Sache für sich, die dem moralischen Werte der Wahlen mehr als dem intellektuellen Eintrag tut. Übrigens scheint mir eine Korrektur demokratischer Verfassungen weit mehr in bezug auf die Qualifikation der Wählbaren als auf die der Wähler not zu tun. Ich bin aber nur darum hier auf politische Wahlen zu reden gekommen, weil doch auch sie ihrer Idee und Absicht nach dazu bestimmt sind, den rechten Mann auf den rechten Platz zu bringen, und weil Herr Ammon, so sehr er die Gesellschaftsordnung herausstreicht, der er es auch zuschreibt, wenn begabte und brave Leute als Beamte Karriere machen, ebenso sehr die im Deutschen Reiche gültige Verfassung und Staatsordnung mit Schimpf bedeckt, weil das all-

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gemeine Stimmrecht – so sagt er wörtlich S. 147 – darauf abziele, alle hervorragenden Persönlichkeiten möglichst auszumerzen; Deutschland sei dadurch in eine Lage versetzt, bei der die unteren Klassen vermöge ihrer großen Kopfzahl fast alle Macht besitzen (man höre!); die gewöhnlichsten Schreier und Schwätzer seien die Bevorzugten des allgemeinen Stimmrechts; im Reichstage werden die meisten Reden (Herr Ammon wird als Mann der exakten Wissenschaft genau gezählt haben) nicht zur Sache, sondern mit Rücksicht auf die künftige Wahlagitation zum Fenster hinaus gehalten; das allgemeine Wahlrecht sei eine antisoziale Einrichtung, insofern als es die natürliche Gesellschaftsordnung auf den Kopf stelle. – Die instinktive Weisheit der Jahrtausende ist also mit dieser Einrichtung auf einen bedenklichen Holzweg geraten, warum aber die Staatsordnung so ungünstig von der Gesellschaftsordnung sich unterscheidet, das sagt uns Herr Ammon nicht, ja er merkt gar nicht einmal, daß er die eine verherrlicht, die andere heruntermacht; er muß sich vorkommen, wie der Schmeichler im Ballsaale, der einem Bekannten ins Ohr flüstert: mit Bewunderung betrachte ich die Schönheit Ihrer Frau Gemahlin; wie herrlich sticht sie ab gegen das Affengesicht der jungen Dame, die neben ihr steht – wenn der angeschmeichelte Gatte ihm antwortet: „Die junge Dame ist meine Tochter.“ Denn just so ist das Verhältnis: Die Staatsordnung ist die Tochter der Gesellschaftsordnung. Bei dem dritten Hauptsatze Ammons will ich mich nicht lange aufhalten. Herr Ammon glaubt beweisen zu können, daß die Verteilung der Begabungen in der heutigen Gesellschaft in der Verteilung der Einkommen wie sie im Königreich Sachsen angetroffen werde, sich spiegele. Dieser „Beweis“ ist 25

sich spiegele: Tönnies spielt auf den Vergleich der Gesellschaftspyramide (graph. Darstellung der Begabungen) auf S. 61 mit der graph. Darstellung

der Einkommen im Königreich Sachsen auf S. 100 an.

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allerdings eine höchst merkwürdige Leistung und verdient eine sehr scharfe Beleuchtung. Es genügt auch nicht, über den barocken Einfall sich lustig zu machen; denn das Absurdeste findet Beifall und Glauben, wenn es gewissen mächtigen Interessen dient. An dieser Stelle dürfen wir aber uns genügen lassen, diesen wissenschaftlichen Unfug – ungern, aber mit voller Bewußtheit müssen wir einen so starken Ausdruck einsetzen – kurz zu charakterisieren. Wir haben selber Bezug genommen auf die bekannte Wahrscheinlichkeitsregel der Abweichung vom Mittel; der mehrfach erwähnte Francis Galton beruft sich darauf, daß eine große Zahl von Messungen z.B. der Körperlängen in einer leidlich homogenen Bevölkerung die große Menge der Individuen, nämlich über die Hälfte um den Durchschnitt nahe gruppiert zeige, während die Abweichungen nach oben und unten ziemlich symmetrische Bildung zeigen, so daß z.B. auf 1 Million annähernd gleich viele sehr Große und sehr Kleine kommen; auf dem oberen Ende einige Riesen, auf dem unteren einige Zwerge und so in gleichen Abständen auf beiden Seiten annähernd gleiche relative Mengen. Galton hält es für wahrscheinlich, daß, wenn man die Begabungen messen könnte, sich ein ähnliches Resultat, eine ähnliche Symmetrie ergeben würde. Herr Ammon behauptet, daß die wirklichen Messungen des Einkommens im Königreich Sachsen, wie sie in der Besteuerung sich darstelle, ebenfalls einen ähnlichen Aufbau, wenigstens teilweise – denn er ist hier sehr genügsam – oder wie er sagt und zeichnet – eine ähnliche Kurve aufweisen. Er behandelt, um dies darzutun, die Ergebnisse der Steuereinschätzung nach einer miserablen Methode – aber das ist Nebensache, wir wollen ihm dennoch zugeben, daß auch die versteuerten Einkommen sich in ähnlicher Weise um einen Durchschnitt gruppieren. Wenn Galton ein Mann des Humbugs wäre, so könnte er etwa gesagt haben: Seht einmal diese wunderbare Ordnung: die größten Riesen sind die größten Genies, die große Menge ist von mittelmäßiger Größe und mittelmäßiger Begabung, die Menschen von kleinem Wuchs sind auch minderbegabt. Die Zwerge sind wahre Dummköpfe. Genau so verfährt nämlich Herr Ammon: die nach ihm wirkliche Kurve der Einkommensteuer läuft parallel mit Galtons schematischer Kurve der Begabung – ergo entsprechen die beiden so einigermaßen einander, im großen und ganzen bekommt jeder das Einkommen auf das er nach seiner Begabung Anspruch hat. – Die Dreistigkeit und die Absurdität verlaufen auch in parallelen Kurven. Wir kommen nun zum vierten Hauptsatze Ammons: zu der wunderbaren Einrichtung der Stände. Das Wesentliche daran ist die angeblich garantierte Vererbung höherer intellektueller und moralischer Begabungen. Die oberen Schichten sind die gescheidtesten und sittlich besten; weise Einrichtung der Natur – oder der Gesellschaft, das bedeutet für Herrn Ammon eins und dasselbe – daß sie fast nur unter sich heiraten: ergibt

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eine Reinkultur von Talenten und Genies und edlen Charakteren. Wir teilen die Meinung des kritisierten Autors, daß es ebenso natürlich, wie zweckmäßig ist, wenn eine Ehe so sehr als möglich in gemeinsamen oder doch ähnlichen sozialen Verhältnissen wurzelt: die Ehe ist, besonders für die bürgerliche und höhere Klasse so sehr eine Familienangelegenheit, daß das Verständnis zwischen Ehegatten weit mehr durch verschiedenartiges Herkommen, verschiedene Lebensgewohnheiten und Anschauungen, als etwa durch verschiedene Sprachen erschwert wird. Die Harmonie der Eltern ist ein sehr bedeutendes Moment für die Erziehung der Kinder; diese wird daher, auch nach unserer Ansicht, durch erhebliche Verschiedenheit des „Standes“ gefährdet; es spielen da feine psychologische Momente hinein. Daß aber die angeborene Begabung der Kinder durch standesgemäße Heiraten bedingt werde, ist eine aus freier Luft gegriffene, bodenlose Behauptung oder vage Vermutung des Herrn Ammon. Sie hat für intellektuelle Begabungen einige Wahrscheinlichkeit, wenn man die Vererbung erworbener Eigenschaften annimmt, daß also eine während des Lebens geübte Anlage eher und stärker sich vererbt; dann hätte z.B. von zwei gleich musikalischen Mädchen, von denen die eine ein braves Dienstmädchen, die andere eine ausgebildete Konservatoristin wäre, diese weit mehr Chancen, Mutter eines musikalischen Talentes oder gar Genies zu werden, als jene. Herr Ammon will aber ausdrücklich von etwaiger Vererbung erworbener Eigenschaften absehen, weil diese strittige Frage für seine Gesellschaftstheorie „belanglos“ sei (S. 8); mit Auslese will er alles machen. Wenn wir aber die Erfahrung allein befragen, so sprechen zum mindesten sehr bedeutende Instanzen gegen jene Annahme, daß standesgemäße Heiraten besonders günstig für die Qualitäten der Nachkommen seien. Aus Ammons Voraussetzung, daß die unteren Klassen nichts als einen Bodensatz und also so etwas wie eine schlechte Varietät darstellen, folgt ja allerdings, daß eine Kreuzung mit ihnen für die höheren Klassen schlechte Folgen haben muß. Nun hat Herr Ammon aber noch andere Theorien, auf die er ein großes Gewicht legt, wenn er auch kaum einen Versuch macht, sie systematisch mit seinen Hauptsätzen zu verknüpfen. Erpicht auf den Begriff der Auslese hat er auch die Lehre des im Jahre 1901 verstorbenen Münchener Gelehrten Georg Hansen vom

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„Bevölkerungsstrom“ gierig aufgegriffen und bei sich eingeheimst. Nach dieser Lehre findet eine fortwährende Erneuerung der höheren Klasse in den Städten statt, durch Nachschübe, die zwar von unten aufsteigen, aber doch nicht aus der unteren Klasse kommen, sondern von Leuten, die „in einfachen, gesunden Lebensverhältnissen leben, die eine überflüssige Kinderzahl erzeugen und ihre geistigen Fähigkeiten latent auf diese vererben, also – Bauern“ sagt Herr Ammon (S.  140). „Sie würden ihrer Bildung nach zwar zum unteren Stande gehören, wir dürfen sie jedoch mit den Städtern bezw. Industriearbeitern nicht vermischen, da sie einen besonderen Stand für sich ausmachen“ (S. 112). „Der Bauernstand hat für den Ersatz aller übrigen Stände aufzukommen, die sich nicht selbst erhalten können. Der Bauer erfreut sich völlig zuträglicher Lebensbedingungen, die ihm gestatten, nicht nur selbst kräftig zu bleiben, sondern auch eine gesunde, ausdauernde und bildungsfähige Nachkommenschaft zu erzielen“ (S. 129). Darauf folgt dann ein ganzes Kapitel über das Aussterben der höheren Stände, und es heißt darin, wie sonst an vielen Stellen, daß sie den Schädlichkeiten erliegen, die mit der einseitigen geistigen Ausbildung (S.  123) und der sitzenden Lebensweise verbunden sind. Innerhalb von 3 bis 4 Generationen ist durchschnittlich schon „die Gesundheit der in höhere Stellungen beförderten Familien aufgebraucht“, nachdem schon in der dritten Generation ein „Rückgang der Begabung stattgefunden hat, so daß, also auf das Schwinden des Talentes bald das physische Erlöschen zu folgen pflegt.“ Ein glänzendes Zeugnis, das Herr Ammon da den Wirkungen der Klasseninzucht ausstellt; während er sonst die Ständebildung als eine Einrichtung gepriesen hat, welche die Verbindung von Individuen höherer Begabungsklassen begünstigt, also auf die Erziehung einer begabteren Varietät hinwirkt (S. 68): „sie (die Ständebildung) – heißt es ferner (S. 69) – setzt das Werk der natürlichen Auslese beim Menschen fort, und begründet eine natürliche Züchtung im Sinne Darwins“! Von den Widersprüchen will ich ganz absehen und sie Herrn Ammon cum caeteris zugute halten; aber es scheint doch nach dieser Lehre jedenfalls die Gefahr sehr groß zu sein, in den absteigenden Ast der höheren Stän 1

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„Bevölkerungsstrom“: Das „Modell des Bevölkerungsstromes“ des Statistikers Georg Hansen versuchte statistisch zu belegen, dass eine ständige Erneuerung des städtischen Mittelstandes (niedrige Geburtenrate) durch ländliche (hohe Geburtenrate) Zuwanderung stattfand. Siehe dazu: Georg Hansen, Die drei Bevölkerungsstufen. Ein Versuch, die Ursachen für das Blühen und Altern der Völker nachzuweisen, München 1889. bei sich eingeheimst.: Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1900, S. 115 ff. Kapitel 28. Der Bevölkerungsstrom vom Lande und die Erneuerung der Stadtbevölkerung. (S. 129).: Die Seitenangabe ist falsch! Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1900, S. 122f.

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de hinein zu heiraten, und die Verbindung mit dem Bauernstande, der ja ohnehin die Urmaterialien und die latenten Begabungen enthält, wäre ohne Zweifel das, was Herr Ammon aus dem Gesichtspunkte der natürlichen Züchtung empfehlen müßte. – Nun kommt aber noch ein dritter Gesichtspunkt hinzu, bei dem Herr Ammon recht eigentlich in seinem Elemente ist, nämlich eine anthropologische Rassentheorie. In Anlehnung an Gobineau und Lapouge behauptet er im mittleren Teile seines Buches (und kommt dann des öfteren darauf zurück), daß die durch seine vielgepriesene Gesellschaftsordnung und Ständebildung garantierte günstige Zuchtwahl gar nicht oder doch nicht überwiegend stattfinde, sondern „die Arier sind die Kulturträger aller Zeiten“ (S. 129) und das arische Element sei in „Zentraleuropa seit dem Beginn des Mittelalters im Schwinden begriffen“ – er nennt das ausdrücklich eine „rückschrittliche Auslese“ (S. 132). In Deutschland bilden die hochgewachsenen blauäugigen blonden Langköpfe nur noch einen winzigen Bruchteil der Gesamtbevölkerung, in Baden etwa 1,45%; sie reichen nicht mal mehr aus um die höheren Stände zu füllen. „Die germanischen Elemente sind bei uns seit dem Beginn des Mittelalters (in der Chronologie ist Herr Ammon ganz konsequent) in der schonungslosesten Weise aufgebraucht worden, während die auf der Scholle sitzenden fremden Volksbestandteile sich ungestört vermehren konnten; darum ragen jene nur noch in einsamen Klippen aus der brandenden Flut hervor. Die Tatsachen dieser rückschrittlichen Auslese muß man sich gegenwärtig halten, um den psychologischen Untergrund zu begreifen, dem die Philosophie Friedrich Nietzsches entsprochen ist.“ Also zuerst und wesentlich aus sich selber (Ständebildung als natürliche Züchtung), nur zur Ergänzung aus den unteren Klassen, insbesondere aus der Arbeiterklasse, die infolgedessen den „Bodensatz“ der Unbegabten darstellt; alsdann aus den Bauern, als den allein sich gesund erhaltenden, erneuern sich die herrlichen oberen Stände, die mit den Talenten und Genies identisch sind; und endlich – gar nicht; sondern sie bilden eine mehr und mehr dahin schwindende höhere Rasse von besonderen Schädeln, besonderer Haar- und Augenfarbe: – Bauern und alle unteren Schichten sind dagegen ein rundköpfiges Pack, körperlich und seelisch anders geartet. – O quae confusio rerum! muß man hier

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Nietzsches entsprochen ist.“: Im Original von Ammon steht „Nietzsches entsprossen ist.“ Siehe dazu: Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1900, S. 132.

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ausrufen, und des Ausspruches Bacos von Verulam sich erinnern, daß die Wahrheit „leichter aus dem Irrtum als aus der Verwirrung emportaucht“. Denn in der Tat liegt hier noch mehr Verworrenheit als grobe Unrichtigkeit vor. In jeder seiner Lehren sind Elemente von Wahrheit enthalten. Und die schreckliche Verworrenheit des Systems wird durch ein hübsches schriftstellerisches Talent, über das der Autor verfügt, nicht ohne Anmut verhüllt. Auch besitzt er offenbare wissenschaftliche Fähigkeiten, die nur leider jeder Disziplin entbehren. Wir halten ihm gerne zugute, daß er als Naturforscher von der sozialen Entwicklung nur schwache Erkenntnis gewonnen hat; daß er insbesondere nicht weiß, wie gerade in den fortschreitenden Kulturländern seit vier Jahrhunderten die „Gesellschaftsordnung“ ein sehr flüssiges, und nicht, wie er die heute obwaltende auffaßt, ein festes Gebilde ist. Am meisten wird ihm der echte theoretische Sinn beeinträchtigt durch die fortlaufende apologetische und polemische Absicht, die pamphletartige Kritik der „Sozialdemokratie“, die in einzelnen Punkten ganz treffend sein mag, im ganzen durchaus deplaciert ist. Es ist mehr der in der Sozialdemokratie steckende Liberalismus, worauf er ohne es selber zu wissen und zu merken, loshaut, als der Sozialismus, der die Negation dieses Liberalismus ist; jener braucht sich nicht getroffen zu fühlen; wird vielmehr seinerseits auf natürliche, sowohl als auf soziale Auslese das aller entschiedenste Gewicht legen müssen. Die ganze aristokratische Theorie, für die sich Herr Ammon begeistert, läßt sich – das ist beinahe von selbst verständlich – weit eher zugunsten der alten Aristokratie, überhaupt der weit hinter uns liegenden ständischen Gesellschaftsordnung verwerten, als, wie er doch vorzugsweise will, für die neue Pseudoaristokratie, die Plutokratie und ihre Anhänger. ––––-

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(Der Verfasser beabsichtigt in einem der nächsten Hefte, im Anschluß an die obige Abhandlung, einige weitere Ausführungen zu geben, die sich mit den von Galton vertretenen Ansichten beschäftigen werden.) –––– 2

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aus der Verwirrung emportaucht“.: Ausruf von Tönnies: O welche Verwirrung! Francis Bacon, Neues Organon, Teilband 2, Lateinisch-Deutsch, hrsg. von Wolfgang Krohn, Aphorismus 20, Hamburg 1990, S. 361: „leichter aus dem Irrtum als aus der Verwirrung emportaucht“. beschäftigen werden.): Siehe dazu: Ferdinand Tönnies, Discussion on „Restrictions in Marriage“ and on „Studies in National Eugenics“, in: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 7, 1905–1906, hrsg. von Arno Bammé und Rolf Fechner, Berlin / New York 2009, S. 472-474.

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Wird das Wort und die Idee uns und unseren Nachkommen einmal so geläufig werden, wie den Menschen des 19. Jahrhunderts mehr und mehr die „Einheit Deutschlands“, „Italia irredenta“, das „Nationalitätsprinzip“ überhaupt geworden ist? – Bedeutende Zeichen sprechen dafür. Nicht gerade das stärkste, aber das am meisten in die Augen fallende ist die seltsame Einigung der Mächte im letzten Jahre des verflossenen Säkulums. Seltsam sage ich – denn welchen Inhalt und welche Wahrheit der deutsche Oberbefehl über die verbündeten Truppen hatte und hat, würden unsere Staatsmänner, auch wenn sie wollten, kaum in der Lage sein uns zu verkünden. Aber immer sind die Anfänge schwer, unklar, und nicht selten ein wenig lächerlich; wer sie darum verachtet, ist unverständig. Ad hoc – nämlich um China zu züchtigen, schien alles Nicht-China sich zu verbünden. Ob in dieser Hülle das europäische Bewußtsein schlummert? Kein Wunder dann, wenn es erwachend und der Nahrung bedürftig uns gar kindisch erscheint und mit rohem Gekreisch an unsere Ohren schlägt. . . . „Europa muß einig werden“ – ein Satz wie dieser pflegt angefochten und verteidigt zu werden, ehe man ihn richtig gedeutet hat. An der Vermischung und Verwechselung der Begriffe von physischer und von moralischer Notwendigkeit leidet auf fast allen Gebieten das politische Denken,

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Der europäische Bund: Ferdinand Tönnies, Der europäische Bund. In: Das Freie Wort, Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 20.06.1901, Nr. 6, 1. Jg., Frankfurt a. M. 1901, S. 164-170. überhaupt geworden ist?: Als Folge der Koalitionskriege gegen die Französische Revolution ging das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1806 unter. Nach der in die Befreiungskriege mündenden Vorherrschaft Napoleons I. über den europäischen Kontinent ergab sich im Zuge restaurativer Bemühungen eine politische Neuordnung in Form des Deutschen Bundes unter gemeinsamer österreichischer und preußischer Führung. Irredénta (Italia irredenta, „das unerlöste Italien“), Bezeichnung für eine Parteibewegung in Italien, welche die Vereinigung aller Italienisch redenden Gebietsteile außerhalb des Königreichs Italien mit diesem erstrebt. Das Nationalitätenprinzip sowie das Nationalitätenrecht basieren auf der Auffassung, dass jede Nation beziehungsweise Nationalität oder auch jede ethnische Minderheit das prinzipielle Recht zur Errichtung eines selbständigen Staatswesens habe. des verflossenen Säkulums.: Gemeint ist die 1. Haager Friedenskonferenz (im Text auch als Friedens-Kongreß bezeichnet) 1899.

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wie an einer Wachstum hemmenden Krankheit. Ein richtig ausgewachsenes Denken dürfte überhaupt selten sein. Halten wir die Fragen strenge auseinander: 1. Wird voraussichtlich Europa einig? 2. Ist es wünschenswert, daß Europa einig werde? Unser Wünschen ist selbst ein Element, daß wir in die Wirklichkeit einführen, das zu ihrer Bestimmung mitwirkt. Wenn wir daher die erste Frage untersuchen, so ist es unerläßlich, nach dem Stande der Wünsche und Bedürfnisse uns umzusehen, zu erforschen, ob eine etwaige Agitation für den europäischen Bund im Entstehen sei, ob sie gute oder schlechte Chancen habe, wer an ihrer Spitze stehe, mit welchen Gründen und Reden gekämpft werde. Eine solche Agitation ist im Entstehen, sie entspricht weitverbreiteten Wünschen und Bedürfnissen. Wir kennen sie alle – es ist die Friedensbewegung. Aus der Friedensbewegung entspringt notwendigermaßen die Idee des europäischen Bundes. Wer den letzten Friedens-Kongreß, der die Gelegenheit der SäkularWeltausstellung wahrnahm, beachtet hat, kenne den Namen Novicow. Gelehrte kennen den Namen länger. Novicow, Professor zu Odessa, Verfasser größerer Werke über „die Kämpfe zwischen menschlichen Gesellschaften“, über die „Verschwendungen der modernen Gesellschaften“, über „soziales Bewußtsein und soziales Wollen“, und einer Reihe von Büchern und Broschüren gegen Krieg und Protektionismus in russischer, französischer und deutscher Sprache, eines der eifrigsten Mitglieder des internationalen Institutes für Soziologie, ist eine ausgeprägte, mutige, fröhliche und erfolgreiche litterarische Persönlichkeit. Radikal – aber mit sorgfältiger Schonung der bestehenden Institutionen; schlagend, aber mit sammetbehandschuhten Händen; höhnend, aber mit liebenswürdigster

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Friedensbewegung.: In der Moderne entstand eine massenhafte Opposition gegen Krieg und Kriegsrüstung erstmals seit dem Krimkrieg in den 1850er Jahren. Von einer internationalen Friedensbewegung spricht man öffentlich seit etwa 1900. soziales Wollen“: Jacques Novicow war Soziologe und Mitbegründer des „Institut International de Sociologie“ in Paris. Sein Buch „Kämpfe zwischen menschlichen Gesellschaften und ihre aufeinanderfolgenden Phasen“ (Original: Jacques Novicow, Les luttes entre sociétés humaines et leurs phases successives, 2e édition, revue, Paris 1896), brachte ihm eine gewisse Bekanntheit. Er war erbitterter Gegner des Sozialdarwinismus und vom Krieg. Novicow war einer der Förderer und Verteidiger der europäischen Föderation. Er nahm ab 1896 regelmäßig an den internationalen Friedenskongressen teil und war von 1896 bis 1912 auch Mitglied des Internationalen Friedensbüros. Weitere Bücher die Tönnies aufführt: „Verschwendungen der modernen Gesellschaften“, im Original: Jacques Novicow, Les gaspillages des sociétés modernes: contribution à l’étude de la question sociale, Paris 1894; „Soziales Bewußtsein und soziales Wollen“, im Original: Jacques Novicow, Conscience et volonté sociales, Paris 1897.

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Bonhommie; idealistisch vorwärts dringend, aber „immer gemütlich“ . . ., so ist er wohl in der Lage, eine große Heeresfolge an seine Fersen zu heften, Hohe und Geringe, Starke und Schwache an seine Gedanken und Worte zu fesseln. Ob das Friedens-Programm des Zaren auf den Einfluß seiner Schriften zurückzuführen ist? Der Wahrscheinlichkeit dieses Zusammenhanges kann man sich nicht entziehen. . . . „Meine Ideen sind diametral entgegengesetzt denjenigen Bakunins. Ich behaupte, daß der Bund nur zustandekommen wird an dem Tage, da die Regierungen ihn wollen werden. Und dieser Tag wird kommen. . . . Der Sinn, den wir dem Worte Bund geben, ist mithin der allerkonservativste, weil wir die Achtung vor den nationalen Institutionen und die Zustimmung der Regierungen als den Eckstein des föderalen Baues betrachten.“ Diese Worte in der Vorrede des neuesten Buches Novicows1 dürften am Hofe von Gatschina eine freundliche Stätte finden. Als Anhang der Schrift finden wir das Circular des Grafen Murawiew, das den berufenen Haager Kongreß veranlaßte, abgedruckt. „Verzicht auf Eroberung“ – ob das ebenso lieblich klingt in höheren und höchsten Ohren? Das nämlich ist Novicows Parole, die er in beredter Weise, ja unerschöpflich in immer neuen Wendungen, verkündet, eine große Moralpredigt für die Herrscher aller Länder, die aber nur noch für die Häupter einiger großer Reiche praktische Bedeutung hat. Von den kleinen Nationen sagt Novicow, sie seien schon „tugendhaft“ geworden. . . . „Die Geschichte der Menschheit wird einmal sich einteilen in zwei Perioden: die erste, worin Diebstahl, Räuberei und Eroberung als etwas Gutes betrachtet wurden (die Periode der Anarchie), die andere, wo man sie als Übel betrachtet wird (die Periode des Rechtes oder des Bundes).“ 1

La Fédération de l’Europe. Par J. Novicow, Paris, Felix Alcan 1901. Das Buch ist, nachdem dieser Artikel geschrieben, auch in deutscher Ausgabe (Berlin, Akad. Verlag Dr. John Edelheim) erschienen.

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föderalen Baues betrachten.“: Diese Übersetzung stammt von F.T. Siehe dazu Jacques Novikow, La Fédération de l‘Europe, Paris 1901, S. 8. Siehe auch die deutsche Ausgabe: Jacques Novicow, Die Föderation Europas, übersetzt von Alfred Fried, Berlin 1901, S. 14f. Circular des Grafen Murawiew: Circulaire du Comte Mouraview, in: Jacques Novikow, La Fédération de l’Europe, Paris 1901, S. 791 ff. Das Rundschreiben des Grafen Murawiew, in: J. Novicow, Die Föderation Europas, übersetzt von Alfred Fried, Berlin 1901, S. 736 ff. oder des Bundes).“: Dieses und die folgenden Zitate sind eigene Übersetzung von F.T. Siehe dazu Jacques Novikow, La Fédération de l‘Europe, Paris 1901. Siehe auch die deutsche Ausgabe: Jacques Novicow, Die Föderation Europas, übersetzt von Alfred Fried, Berlin 1901.

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Der europäische Bund ist die zunächst erreichbare Stufe in dieser Entwicklung. Er ist die Vorstufe des Menschheit-Bundes, der „ein den ganzen Erdball umfassendes Gebiet begründen wird“. Mit diesem Ausblick schießt das erste Kapitel des hoffnungsreich-erfreuenden Buches. Der ganze erste Abschnitt schildert „die Vorteile der Föderation“ – ökonomische, politische und allgemeine; der zweite „die Hindernisse“, der dritte „die begünstigenden Faktoren“, der vierte und letzte „die Verwirklichung“, wie sie in der Vorstellung des Autors geschehen wird. Die von mir geforderte Unterscheidung der Gesichtspunkte ist Novicow nicht fremd. Indessen ist er doch zu sehr Advokat, um sie genau durchzuführen. Er ist von der Überzeugung, daß auf die Verbreitung der richtigen Einsicht und des guten Willens alles ankomme, und daß diese durch Rede und Schrift mitteilbar seien, zu sehr erfüllt, um für die wirklichen Motive des Völker- und Staatenlebens ein ganz unbefangenes Verständnis zu gewinnen. Er ist ein Lichtfreund, der mit dem Schwerte die Nebel durchschneidet und im Vorwärtsdrängen nicht gewahr wird, wie sich hinter ihm wieder die Wolken senken. Er fühlt sich vollkommen sicher, daß von der Dummheit, den Vorurteilen, der Routine und der Denkfaulheit, von diesen Elementen allein die Hemmungen herrühren, die der Verwirklichung seiner Ideen, zunächst aber des europäischen Bundes, entgegenstehen. Es kann ein wenig als inkonsequent erscheinen, wenn Novicow zugleich diese Irrtümer als ebensoviele Krankheiten oder doch krankhafte Neigungen darstellt. „Alle Nationen huldigen dem Götzendienst der Quadratkilometer“; sie sind besessen von der „Kilometritis“, – einer verrückten Leidenschaft? Ja, aber eben darum einer fixen Idee, die „alle sozialen Lebensbedingungen zu Gunsten einer einzigen vernachlässigen heißt“. Leider macht seine eigene Idee den Verfasser blind gegen manche Thatsachen. „Man mißt – infolge der Kilometritis – die Größe eines Landes einzig und allein nach der Ausdehnung seines Territoriums; man vernachlässigt alles übrige, man widmet dem ökonomischen Zustande der Bevölkerung keine Aufmerksamkeit!“ Wo in aller Welt . . . ? Aber wir entschuldigen diese kleinen Ausgleitungen gern, wenn wir so viele Ursache haben, dem Plaidoyer des Verfassers Beifall zu spenden. Das Mittelstück des Buches enthält schlagende und stechende Ausführungen über das Prestige des Krieges, die Irrtümer der Militaristen, die Interessen, die durch den Militarismus geschaffen werden; über den Chauvinismus; über das Mißtrauen gegen den Gedanken einer internationalen Gerechtigkeit; über den Rassenhaß; über den Egoismus und die Kurzsichtigkeit der Nationen; über die nationalen Illusionen; über Traditionen und Routinen, endlich über die Armut der Phantasie, die einen allgemeinen friedlichen Zustand „sich nicht denken kann“. – Dagegen fallen dann, wie in einem

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vierten Akt seines Buch-Dramas, der den hoffnungsvollen Abschluß vorbereitet, die „günstigen Faktoren“. Man weiß sie fast auswendig, ohne Herrn Novicows Relation zu hören, die er selber einmal mit den Worten unterbricht, es sei kaum notwendig, bei Umständen von dieser Art sich länger aufzuhalten. Dennoch wird man die Geschicklichkeit bewundern dürfen, mit der hier wieder einmal die Thatsachen des modernen ökonomisch-technischen Fortschrittes arrangiert werden. Es ist fürwahr eine Kunst, diesen Triumphzug des Kapitalismus und der Naturwissenschaft so darzustellen, daß er nicht durchaus langweilig wirkt. Novicow ist ein unterhaltender, ja blendender Schriftsteller. An das Kapitel über die „ökonomische Organisation“ reiht er eines über die Ausdehnung des geistigen Horizontes und ein anderes über die ethischen Faktoren; mit besonderem Interesse wird man dann das 19. empfangen, worin er, „so widersprechend es scheinen möge“, auch die Vervollkommnungen der militärischen Rüstung und Organisation unter die Faktoren rechnet, die der Verbündung Europas günstig seien. In den Spuren v. Blochs, seines Kom­­patrioten, sucht hier der russische Kosmopolit nachzuweisen, daß das rauchlose Pulver und die kleinkalibrigen Gewehre jede strategische Entscheidung unmöglich machen; daß sie der Verteidigung ein enormes Übergewicht über den Angriff geben; daß der Krieg den Krieg auffressen würde. Er führt dafür noch das Massenaufgebot und die immer schwierigere Manövrierfähigkeit, die in gleichem Maße wachsende Schwierigkeit der Verproviantierung, endlich die finanzielle Erschöpfung ins Gefecht, die aus diesen und anderen Ursachen ein moderner Krieg im Gefolge haben müsse – wie denn schon im bewaffneten Frieden die enorme Belastung zugleich mit der „Blutsteuer“ eine fortwährende Predigt gegen den „Ernstfall“ in sich schließe. Im Anschlusse daran folgt eine Erörterung der politischen Faktoren im Inneren und Äußeren, denen die gleichsinnige Wirkung zugeschrieben wird. Im Inneren: die Demokratisierung der Gesellschaft, das Emporkommen der Arbeiterklasse, der Sozialismus. Novicow bekennt sich als Gegner des Sozialismus, dessen ökonomisches Programm den Naturgesetzen zuwider sei. Er ist Freihändler sans phrase. Aber „die Sozialisten allein marschieren mit offenen Augen, mit der Rich16

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Spuren v. Blochs: Johann von Bloch war ein führender Bankier und Industrieller, Eisenbahnpionier in Polen und Russland, auch bekannt als der „Eisenbahnkönig“. Bloch war Autor der umfangreichen Studie „Die Zukunft des Krieges in technischer, wirtschaftlicher und politischer Relation“ [Die Zukunft des Krieges, 6 Bände, Berlin 1899.], welche die verheerende Auswirkung moderner Militäroperationen thematisch vorwegnahm. 1899 war Bloch Organisator der Haager Friedenskonferenz. „Blutsteuer“: Jan Bloch, Der Krieg, Vol. 1, London 1899, S. 216. Jan Bloch meint damit, dass Steuern zur „Unterhaltung stehender Heere“ verwendet werden.

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tung auf ein Ziel, dessen Umrisse zwar noch vag sind, aber doch ein bestimmtes Ziel“; „sie sind die einzige Partei, die in der internationalen Politik großmütige, wohlthätige, rationelle Ideen vertritt“. Der günstigste Faktor nach außen hin: die immer geringer werdende Zahl der Staaten, die als Mächte in Betracht kommen. Die Einheit Deutschlands, in zweiter Linie diejenige Italiens, haben in dieser Hinsicht höchst glückliche Bedeutung. („Wenn es ein Volk giebt, das ein Recht hat, stolz sein Haupt zu erheben, so ist es das deutsche Volk.“) Ferner hat die isolierte Lage Englands bisher die internationale Anarchie begünstigt: seine angebliche Unangreifbarkeit ist aber als Wahn erkannt worden, England sieht sich mehr und mehr genötigt, Rücksichten auf Europa zu nehmen. Die Kräfte der Großstaaten egalisieren sich immer mehr, der Friede gewinnt auch dadurch dem Kriege immer mehr Terrain ab. Und wie sich die nationalen Patriotismen nur allmählich und gegen starke Hemmnisse ausgebildet haben, so entwickelt sich heute in den ersten Anfängen ein europäischer Patriotismus, zu dem sich der Autor des Buches freudig bekennt. Er vergleicht sich mit Macchiavel und Leibnitz, die zu ihrer Zeit vielleicht die einzigen Patrioten, jener im italienischen, dieser im deutschen Sinne gewesen seien. Und, wie der deutsche Patriotismus von heute den badischen und bayrischen Patriotismus nicht aus- sondern einschließt, so wird der europäische Patriotismus über, nicht wider die nationalen Patriotismen sich legen. Und siehe: es handelt sich nur um die Wiederherstellung einer alten Idee, einst repräsentiert durch das heilige römische Reich, niemals ganz ausgestorben, in der gegenwärtigen Epoche unter günstigere Chancen gestellt als jemals. – Die Association kennt keine Grenzen, die soziologische so wenig wie die biologische. Die Tendenz zur Sicherheit und zum Rechte laufen parallel in der Lebensgeschichte der Menschheit. Sie sind nur die Ausdrücke des allgemeinen Ringens um Leben und Luft. „Der lange Weg, an dessen Ausgangspunkt das bellum omnium contra omnes lag, wird sich abschließen in einer geordneten und regelmäßigen Regierung über den ganzen „Erdball“. In der That ist die ganze Denkweise Novicows eine Erneuerung und Ausdehnung jener in ihrer wahren Bedeutung so selten verstandenen politischen Theorie des Thomas Hobbes. Charakteristisch für jenen, daß er nur eine Hemmung als reale anerkennt: die physiologische Verschiedenheit der Rassen, und daß er sich damit tröstet, diese stehe ebensowohl der nationalen wie der internationalen Einigung entgegen; sie seien hier so wenig als dort unüberwindlich. Alle

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den ganzen „Erdball“.: Das Zitat ist nicht im Buch „Die Föderation Europas“ zu finden. Es handelt sich wahrscheinlich um eine sinngemäße Zusammenfassung der letzten Seiten durch Tönnies (S. 732 ff.).

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übrigen Hemmungen seien nur in dem kindlich unentwickelten Zustande des menschlichen Geistes begründet. – Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit dem Wie und Wann der Verwirklichung. Das Wie ist vorgezeichnet: die Propaganda der Idee. Das Wann ist unbestimmbar, denn „wir haben kein Kriterium, um die Geschwindigkeit, in der sich in Zukunft Ideen ausbreiten werden, zu bestimmen“. Vielleicht ein plötzlicher Sturm. Vielleicht eine lange, lange Windstille. Aber Anfänge sind vorhanden. Wir haben internationale Organisationen: vier allein, die der Telegraphenverwaltung, des Weltpostvereins, der Unionen für gewerbliches und anderes geistiges Eigentum, für internationales Transportwesen, haben ihren Sitz in Bern, zwei andere in Brüssel, dazu das internationale Bureau für Maß und Gewicht zu Paris, das Centralbureau für Geodäsie in Potsdam. Dazu kommt (füge ich hinzu) demnächst das internationale Arbeitsamt, das wiederum seinen Sitz in der Schweiz haben wird. Den Kern der deutschen Einheit bildete der Zollverein und das Zollparlament. Eine ähnliche Bedeutung, wenn auch viel embryonischer, haben die Welt-Postkongresse. Wissenschaftliche Weltkongresse stellen sich ihnen zur Seite. Und – die Extreme berühren sich – es gibt noch eine internationale Institution, die „älteste und achtbarste von allen“: – das Papsttum! Es gibt ferner Anfänge völkerrechtlicher Organisation, Anfänge von Schiedsgerichts-Verträgen, Anfänge von Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes. Endlich: das Friedensmanifest des Zaren, das Zirkular Murawiews, die Haager Konferenz. Ungenügende, unerfreuliche Ergebnisse – zugegeben. Aber: „zum erstenmale, seit die Welt steht, haben die Vertreter der großen Mächte sich vereinigt, nicht um sich die Erde zu teilen, sondern um des Versuches willen, Eintracht und Gerechtigkeit aufzurichten, die Anarchie zu unterdrücken.“ „Dadurch allein wird die Haager Konferenz einen Wendepunkt der Geschichte markieren; dadurch allein wird sie der Embryo des zukünftigen europäischen Bundes sein.“ Eine gewagte Skizze der zukünftigen Institutionen, die in der exekutiven und legislativen Gewalt eines europäischen Direktoriums ihren Gipfel finden sollen, bildet den Abschluß des interessanten Buches. Hier tritt,

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zu bestimmen“.: Das Zitat ist nicht im Buch „Die Föderation Europas“ zu finden. Sinngemäß findet sich dazu etwas auf S. 705 ff. Welt-Postkongresse.: Der Weltpostkongress ist die oberste Autorität des Weltpostvereins. An dem Kongress nehmen Bevollmächtigte der dem Weltpostverein angehörenden Länder teil, welche in gewissen Zeitabständen „zur Prüfung oder Vervollständigung der Weltpostvereinsverträge“ zusammentreffen. Der erste Weltpostkongress fand 1874 in Bern statt. europäischen Bundes sein: Beide vorstehenden Zitate finden sich hier: Jacques Novicow, Die Föderation Europas, übersetzt von Alfred Fried, Berlin 1901, S. 699f.

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III. Rezension

der Autor direkter als Anwalt seiner Sache auf und setzt sich mit den Einwänden der „Konservativen“, wie de lege ferenda, auseinander. Daß er diese nicht eben schwer nimmt und für die Bekämpfung sich bequem zurecht legt, wird man leicht glauben. Mir ist, als säße ich mit Novicow an einer Festtafel. Er bringt einen Trinkspruch aus, der einem zwischen uns sitzenden Freunde gilt. Von ganzem Herzen stimme ich in das schließliche Hurra! ein. Hoch der ewige Friede! Hoch der europäische Bund! Aber ich möchte doch nicht, daß daraus gefolgert würde, ich sei mit dem Inhalte seiner Festrede durchaus einverstanden. Ich sehe die Gesamtheit dieser großen Probleme in einem anderen Lichte. Nicht nur mein Temperament, sondern mein Denkverhältnis zu den Dingen ist anders geartet. Ich halte den objektiven Anblick des Wirklichen, Möglichen, Wahrscheinlichen, nicht nur strenger geschieden von meinen Wünschen und Hoffnungen. Das Interesse an jenem hat bei mir auch den Vorrang. Und – um es in Kürze zu sagen – ich leugne, daß der bisherige Entwicklungsgang der Menschheit, daß ihre gegenwärtige Beschaffenheit zu einer so „optimistischen“ Erwartung von den zukünftigen Methoden, deren sich die Weltgeschichte bedienen werde, ein Recht giebt, wie Novicow sie geltend macht. Ich leugne insbesondere, daß die Stimmungen des Zaren, daß die Aspirationen etlicher weltgebildeter Russen uns veranlassen dürfen, die wirkliche russische Welt-Politik anders als mit angespannter Wachsamkeit und mit tiefstem Mißtrauen zu beobachten. Aber das Vergnügen an einer Darstellung, wie Novicow (dessen Ehrlichkeit und guter Glaube mir über jeden Zweifel erhaben sind) sie darbietet, brauchen wir uns darum nicht verleiden zu lassen. Seine Argumente verdienen eine ebenso eingehende, wie schonungslose Kritik. Für heute möge es bei dem schließlichen Hurra! sein Bewenden haben.

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de lege ferenda: Lat.: Nach zukünftigem Recht, nach einem noch zu erlassenden Gesetz.

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Editorischer Bericht Erster Teil: Allgemeines Der 5. Band der Tönnies-Gesamtausgabe (TG) enthält die veröffentlichten, authentischen und autorisierten Monographien und Schriften von Ferdinand Tönnies der Jahre 1900 bis 1904. Der überwiegende Teil der Rezensionen wird dem Band 6 TG vorbehalten bleiben, der denselben Zeitraum umfasst. Neben den Monographien „Politik und Moral“, „Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit“, „Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck“ und „L’évolution sociale en Allemagne (1890–1900)“ enthält dieser Band überwiegend Aufsätze für Periodika, Zeitschriften und Zeitungen. Innerhalb dieser Einteilung sind die einzelnen Texte chronologisch geordnet. Die Originaltexte sind grundsätzlich ohne herausgeberische Eingriffe wiedergegeben. Orthographie und Satzzeichen folgen also den historischen Vorlagen. Zum Beispiel hat Tönnies im Text „Zur Theorie der Geschichte (Exkurs)“ die Angaben der zitierten Seiten sowohl mit als auch ohne Klammern gesetzt. Jedoch wurden offensichtliche Druckfehler korrigiert und annotiert. Hervorgehobenes unterschiedlichen Typs (Sperrung, Fettdruck, Kapitälchen usf.) wurde sämtlich kursiviert. Findet sich im Text eine hoch gestellte Zahl, so liegt eine Original-Fußnote von Tönnies vor; eine solche Note wird mit hoch gestellter Ordnungszahl auf der gleichen Seite am Fuß des Originaltextes wiedergegeben. Die Editorischen Anmerkungen (Fußnoten) zur Texterläuterung finden sich ebenfalls auf der gleichen Seite, jedoch unter einem Halbstrich abgesondert. Sie werden durch die Zeilenzahl, sowie durch ein kursives Lemma (ein sinnvolles Textbruchstück oder ein Wort) bezeichnet. Die Zeilenzahlen befinden sich, im Fünfertakt, stets am Innenrand der Seiten und berücksichtigen Überschriften und Tönniessche Fußnoten, nicht aber Leerzeilen. Ungewohnte Begriffe – etwa juristische oder ehedem tagespolitisch aktuelle – und Fremdsprachliches werden erklärt. Welche Begriffe bei der Leserschaft vorausgesetzt werden können, unterliegt allerdings starken Schwankungen. Um Nachblättern zu ersparen, wird gelegentlich sehr eingehend zitiert. Die Authentizität steht bei keinem der hier veröffentlichten Texte in Zweifel. Alle transkribierten Texte wurden mit den Originalen verglichen. Das Werkverzeichnis von Rolf Fechner und die Verzeichnisse von Else Brenke bildeten die Grundlage für die Vollständigkeit der Texte.

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Die Datensatznummern (DSN) des Werkverzeichnisses wurden ebenfalls übernommen. Nicht-authentische Schriften und unautorisierte Beiträge, Aufrufe, Verlautbarungen, Einladungen, Preisausschreibungen u.ä. blieben grundsätzlich unberücksichtigt. In diesem Band war eine solche Ausnahme unnötig. Es konnten für den angegebenen Zeitraum keine weiteren Texte, die nicht im Werkverzeichnis aufgeführt sind, ermittelt werden.



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Zweiter Teil: Zu einzelnen Texten Politik und Moral

(Tönnies 1901, hier S. 3-47) „Politik und Moral“ (DSN 142) ist die Bearbeitung eines einige Jahre vorher gehaltenen populären Vortrags, den Tönnies „aus dem Pultgrabe hervorzuholen“, wie er im Vorwort sagt, Veranlassung fand. Tönnies hat diesen Text dem Berliner Astronom und Rektor der Berliner Universität Wilhelm Foerster gewidmet, der gemeinsam mit Georg von Gizycki, Ferdinand Tönnies u.a. 1892 die „Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur“ ins Leben gerufen hatte. Die Betrachtung „Politik und Moral“ (Flugschriften des Neuen Frankfurter Verlages) erschien 1901 im Neuen Frankfurter Verlag. Ferdinand Tönnies benannte in dieser Schrift einige Voraussetzungen einer spezifisch modernen Ethik. Sie müsse Egoismus und Vernunft, aber auch private und öffentliche Moral miteinander verbinden. Der „moralische Gerichtshof“ – wie Tönnies es nannte – sollte für den Einzelnen sein aufgeklärtes, selbständiges Gewissen sein. Dieses werde geprägt durch das „öffentliche Gewissen“, das seinerseits wiederum auf der wissenschaftlichen Logik beruhen solle. Somit basierten bei Tönnies Individualund Sozialethik auf einem aufgeklärten Rationalismus, der damit zum Garant für die Lösung der sozialen Frage gemacht wurde. Friedrich Paulsen schrieb u.a., über die „Politik und Moral“: „Ich hab sie mit lebhaftem Anteil bis zu Ende gelesen. Vortrefflich finde ich vor allem den zweiten Teil, die innere Politik. Du hast ein ruhiges Pathos, ohne Erhebung der Stimme, aber mit nachdrücklichen Worten und bedächtigem Satzbau, das außerordentlich wirksam ist. Es erinnert mich an Plato, dessen Denk- und Redeweise dasselbe unrhetorische, ethisch-sachliche Pathos zeigt.“ (Olaf Klose, Eduard Georg Jacoby und Irma Fischer (Hg.), Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel 1876–1908, Kiel 1961, 26.6.1890, S. 352f.).

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Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit (Tönnies 1902, hier S. 49-100)

Ferdinand Tönnies war im März 1901 von Hamburg nach Eutin in ein Haus umgezogen, das er zunächst mietete und nach einem Jahr kaufte. Hier nun entfaltete er eine rege publizistische Tätigkeit. Tönnies verfasste Artikel für Das Freie Wort, Der Lotse, die Ethische Kultur, die Soziale Praxis, Schmollers Jahrbuch, Heinrich Brauns Archiv und andere mehr. Das sich abzeichnende große Thema lag allerdings auf dem Gebiet der sozialen Beziehungen, so wie sie sich unter den Bedingungen der industriellen Arbeit entwickelt hatte. Das zentrale Problem dieser Art war das Koalitionsrecht bzw. die Verneinung der Koalitionsfreiheit. Hier musste die Sozialkritik ansetzen. Der Beitrag, den Tönnies der Gesellschaft für Soziale Reform lieferte, war ein Referat mit dem Titel „Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit“ (DSN 159). Tönnies, der Mitglied des Vereins für Sozialpolitik war, schrieb über die unterschiedlichen Ausprägungen von „Verein“ und „Gesellschaft“, dass „Konkurrenz“ durchaus einen positiven Effekt haben kann: „Auch 1897 wurde der `kriegerische Ton´ von Großindustriellen angeschlagen. Der Verein war zu einem Debattierklub zwischen Interessenten des im Deutschen Reich an Reichtum und Macht so unermesslich gewachsenen Unternehmertums einerseits, den nach unparteiischem Urteil strebenden Gelehrten andererseits geworden. Zu gleicher Zeit war aber unter diesen Gelehrten, wie in der sozialwissenschaftlichen Literatur, die Geltung des theoretischen Marxismus fast plötzlich gestiegen; Hauptvertreter dieser jüngeren Richtung war W. Sombart. Seiner Initiative und der Mitwirkung des Freiherrn von Berlepsch – 1890–1896 preußischer Handelsminister – ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für soziale Reform (1890) zu verdanken, die den ursprünglichen Zweck des Vereins für Sozialpolitik wieder aufleben läßt.“ (Ferdinand Tönnies, Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkriege, 4. Auflage, Berlin und Leipzig 1926, S. 116). Die Gesellschaft für soziale Reform war in Berlin am 6. Januar 1901 von Sozialpolitikern gegründet worden, die das Eintreten des Staates für die Lohnarbeiter, insbesondere durch Erweiterung des gesetzlichen Arbeiterschutzes, Unterstützung der Selbsthilfe der Arbeiter, Ausbildung des Koalitionsrechts, Errichtung eines Reichsarbeitsamts, überhaupt den Ausbau der sozialen Gesetzgebung im Interesse der Arbeiter erstrebte. Die Gesellschaft gab in zwangloser Folge die „Schriften der Gesellschaft für soziale



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Reform“ und über ihre sonstige Tätigkeit fortlaufend die Wochenschrift „Soziale Praxis“ heraus (Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7, Leipzig 1907, S. 721). Tönnies Beitrag geht von der Tatsache aus, dass der historische „Durchbruch der Koalitionsfreiheit in Deutschland“ durch die Handhabung des Vereins- und Versammlungsrechts namentlich in Preußen und in Sachsen insofern um seine Wirkung gebracht wurde, als das Gewerkschaftswesen weiter gegen Polizei und Gerichte der Länder um das kämpfen musste, was verbrieftes Reichsrecht war. Die zahlreichen und oft raffinierten Beeinträchtigungen des Koalitionsrechts illustrierte Tönnies mit einer Fülle behördlicher Maßnahmen und gerichtlicher Entscheidungen. Sie machen wahrscheinlich, dass es sich tatsächlich um eine Fortsetzung des Kampfes gegen „gemeingefährliche Bestrebungen“ handelte, mittels schonungslosen Gebrauchs besonders des Vereinsgesetzes „bis an die Grenze des Zulässigen“, wie eine preußische Ministerialverfügung vom 18. Juli 1890 es ausdrückt; und sehr entgegen der feierlichen Erklärung des Fürsten Hohenlohe im Preußischen Landtag (17. Mai 1897) über das Vereinsund Versammlungsrecht, als eine der wertvollsten Errungenschaften und als unentbehrliches Mittel zur Förderung der politischen Entwicklung und Erziehung eines Volkes – Tönnies setzte sie seinem Referat als Motto voran. Die dokumentierte Sammlung ist eine sozialgeschichtliche Quelle von unverändert großer Bedeutung.

L’Évolution sociale en Allemagne (1890–1900) (Tönnies 1903, hier S. 101-148)

Ferdinand Tönnies hat die Schrift „Die soziale Entwicklung in Deutschland“ mehrfach veröffentlicht. Die erste Version erschien 1895 auf französisch in der „Revue Internationale De Sociologie“, die von dem Soziologen und Philosophen René Worms herausgegen wurde. Der Text, der unter dem Titel „Mouvement Social. Allemagne.“ auf den Seiten 953-968 abgedruckt ist, wird im Inhaltsverzeichnis auf der Titelseite nicht aufgeführt. Wie alle Varianten hat Tönnies den Text in deutscher Sprache verfasst und Casimir de Krauz hat die ersten beiden in die französische Sprache übersetzt. Im Tönnies Werkverzeichnis von Rolf Fechner wird der Text von 1895 nicht aufgeführt. Die zweite Version mit dem Titel „L’évolution sociale en Allemagne“ erschien 1896 als Einzelband bei dem Pariser Verlag „V. Giard & E. Brière“, hat 51 Seiten und wurde ebenfalls von Casimir de Krauz übersetzt. Die hier abgedruckte deutsche Version erschien 1903 wiederum in der „Revue Internationale De Sociologie“ von Worms auf den Seiten 657 bis 697 und wurde, wie die zweite Version um einen 2. Teil erweitert. Die Versionen sind im jeweils 1. Teil identisch. Tön-

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nies nannte den Text wie bei der ersten Version „Mouvement Social. Allemagne.“ und nicht wie im Werkverzeichnis angegeben ist „L’évolution sociale en Allemagne“. Übersetzt wurde der Text von Henri Schnerb (Traduit de l’allemand). Der Text schließt mit den Worten: Ferdinand Toennies, Professeur à I’Université de Kiel, Membre de l’Institut International de Sociologie. Ins Deutsche „rückübersetzt“ wurden die Texte von Wolf-Rüdiger Kittel, Berlin. Während der erste Teil ausschließlich auf die Entwicklung der Wirtschaft und deren flankierende Begleitung durch die Sozialpolitik fokussiert ist, hat Tönnies einen zweiten Teil mit einer tour d’horizon über Politik und die darin handelnden Parteien, über Pädagogik und schließlich über den Kulturbetrieb im Kaiserreich geschrieben. Da Tönnies die Bezeichnungen der hier genannten Parteien häufig ungenau wiedergibt, waren die Recherchearbeiten für diesen Text ausgesprochen aufwendig und die Rückübersetzung nicht eben einfach. Einige wenige Namen oder Bezeichnungen konnten nicht identifiziert werden. Da der auf deutsch geschriebene Ursprungstext verschollen ist, muss dieser als verloren gelten. René Worms hatte 1892 die „Revue Internationale De Sociologie“, im folgenden Jahr das „Institut international de Sociologie“ gegründet, das vor allem durch seine alljährlichen internationalen Kongresse bekannt wurde. Um Worms und die „Revue Internationale De Sociologie“ sammelten sich in Frankreich alle, die sich gegen den überragenden Einfluss Durkheims und seiner „Schule“ zur Wehr zu setzen suchten. Die Mitarbeiter der Zeitschrift verfassten ethnologisch und kriminologisch angehauchte Texte. Die Diskussionen drehten sich um je eigene philosophische Ansichten und verhinderten einen konsensualen Prozess, die Möglichkeit zu einem gemeinsamen, soziologischen Paradigma vorzudringen. Im Laufe der Zeit sammelten sich zwar mehr und mehr Menschen, die mit ihm im Namen einer aufkommenden Soziologie zusammenarbeiten wollten, dennoch erreichte die Zusammenführung internationaler Intellektueller nicht das Ziel, eine eigene Disziplin zu institutionalisieren und somit eine Basis für Weiterentwicklung und Karrierechancen zu liefern. Nicht nur von Durkheim wurde Worms seinerzeit herablassend als „Witzbold“ bezeichnet. Mit Durkheim verband Tönnies die Tatsache, dass der Gegenstand der Soziologie nicht auf individuelle Sachverhalte reduziert werden kann. Während Durkheim von sozialen Tatsachen sprach, verwendete Tönnies den Begriff „soziale Wesenheiten“ und meinte damit die „Dinge“, die aus dem sozialen Leben hervorgehen können. Tönnies siedelte die sozialen Wesenheiten aber stärker als Durkheim im Bereich des Geistigen an,



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verstand sie als Erzeugnisse menschlichen Denkens, während Durkheim die sozialen Tatsachen in dem archetypengleichen Wirken eines Kollektivbewusstseins begründet sah. Die Art der sozialen Verbindung zwischen den Menschen sah Tönnies unter dem Einfluss der Willensphilosophie der Zeit, anders als Durkheim, durch das bewusste Wollen des Menschen bestimmt. Diese voluntaristische Tendenz verwies durchaus auf die Hervorhebung des sozialen Handelns bei Max Weber. In dem Text über die soziale Entwicklung in Deutschland wollte Tönnies mit seinen Konzeptionen einen begrifflichen Rahmen schaffen, um die Veränderungen und die sozialen Kämpfe, die die letzten Jahrhunderte aus seiner Sicht gekennzeichnet hatten, und ihr Fortwirken in der Gegenwart zu erklären. Die Entwicklungsperspektive wird bei Tönnies allerdings von einer Polarisierung zwischen „realem Leben“ und „gedanklicher Konstruktion“ durchkreuzt, denn Haus, Dorf und Stadt sind für ihn die bleibenden Typen des realen Lebens, Gesellschaft, Staat und Wissenschaft hingegen sind künstliche, durch Denken erzeugte Gebilde, die in der modernen Zeit dominant geworden sind. Gemeinschaft und Gesellschaft bestehen aber doch immer nebeneinander und der moderne Mensch ist daher ein Grenzgänger zwischen zwei Welten. Sicher kann man Tönnies keine traditionalistische Haltung unterstellen, wohl aber die Absicht einer Kritik der Moderne, die aus spezifisch deutscher Sicht erfolgte. In der Darstellung der „Bürgerlichen Gesellschaft“ stützt sich Tönnies auf Karl Marx’ Analyse des Kapitalismus, er übernahm auch die Arbeitswerttheorie und die Auffassung von der Transformation von Arbeitskraft in eine Ware, die auf einem Markt gehandelt und in der kapitalistischen Produktion zur Mehrwerterzielung eingesetzt wird. Tönnies folgt auch der Marxschen Darstellung in Bezug auf die Entstehung eines kapitalistischen Proletariats. Die Übereinstimmung mit Marx hört jedoch jenseits der Kapitalismusanalyse auf, denn Tönnies ging dann, im Gegensatz zu Marx dazu über, den individuellen Willen als Grundlage allen sozialen Lebens zu bestimmen. Tönnies war in Bezug auf Marx ein Vertreter der Annahme der Willensfreiheit des Menschen, wodurch der Determinismus der Marxschen Auffassung bei Tönnies in eine voluntaristische Interpretation der ökonomisch-sozialen Zusammenhänge umgeformt wurde. Auf dieser Basis könne, so Tönnies, erst verstanden werden, dass die Arbeitskraft eine „rein fiktive durch menschlichen Willen gesetzte, unnatürliche Ware“ ist (Ferdinand Tönnies, GuG, Leipzig 1887, S. 69). Tönnies’ Bestreben ist von je her auf Ethik ausgerichtet gewesen. Stets ist es die „soziale Frage“ die ihn bewegt. Dabei lautet seine Maxime: so viel Gemeinschaft wie möglich, dort aber, wo Gemeinschaft keine Rea-

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lisierungschancen mehr hat, gilt der Interessenkampf – aber möglichst nach eindeutigen Regeln. Gemeinschaftsillusionen sind ihm ein Gräuel. So bewegt Tönnies sich zwischen Sozialismus, ethischem Sozialismus und liberaler Sozialethik. Die editorischen Anmerkungen sind bereits im französischen Text eingefügt worden und werden hier nicht wiederholt. Der Text lautet deutsch:

Die soziale Entwicklung in Deutschland (1890–1900)

I Die soziale Chronik des Deutschen Kaiserreiches ist bis zum Jahr 1894 fortgeschrieben worden, aber die statistischen Angaben dieses und des vorausgehenden Jahres waren noch unvollständig. Deshalb werden wir dieses Exposé für die Gesamtzeit der zehn letzten Jahre des 19. Jahrhunderts (1891–1900) verfassen. Diese zehn letzten Jahre sind für Deutschland ein Zeitabschnitt sehr großen wirtschaftlichen Fortschritts gewesen. Die Wirtschaftskrise, die in der Mitte des ersten Jahres (1891) begann und die sich in den drei folgenden Jahren fortsetzte, ging von 1895 an zurück infolge eines zunächst langsamen, dann aber schnellen und kräftigen Aufschwungs der Industrie, der bis zur Mitte des Jahres 1900 eine unglaubliche Höhe erreichte. Und da dieser Aufschwung, wie er erfahrungsgemäß einsetzt, von europäischem Ausmaß war – auf der anderen Seite des Atlantiks waren die Kurven ein wenig anders – muss jedoch für Deutschland gesagt werden, dass er besonders stark ausgefallen ist. Diese Tatsache wird am deutlichsten durch die Zahlen des Außenhandels ausgedrückt. Die Importe im „allgemeinen Handel“ stiegen von 1891 bis 1900 von 32,7 auf 49,5 Millionen Tonnen. Die Exporte stiegen von 23,3 auf 36,3 Millionen Tonnen. Der Wert der Importe im „Spezialhandel“ (ohne Transit) stieg in derselben Zeit von 4,403 Millionen auf 6,043 Millionen Mark und der Wert der Exporte stieg im gleichen Zeitraum von 3,339 Millionen auf 3,752 Millionen Mark. Die Preise stiegen in vergleichbarer Weise im Inland für typische Produkte der Schwerindustrie, zum Beispiel für westfälisches Roheisen (für 1.000 Kilo) von 49,5 auf 78 Mark. Zwischenzeitlich gab es bis 1894 jedoch eine Baisse auf 45,2 Mark. Ebenso erging es der westfälischen Steinkohle (1.000 Kilo) zwei Sorten stiegen von 11,50 Mark und 8,00 auf 13,60 und 9,90 Mark mit einer momentanen Baisse auf 9,90 und 6,90 Mark. Wir haben kürz-



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lich (Soziale Entwicklung, Seite 2, Revue III, S. 954) die Entwicklung der Elektroenergie gezeigt und zwar als ein höchst charakteristisches Phänomen für das letzte Drittel des Jahrhunderts. Nun bewahrheitet sich diese Behauptung in besonderer Weise mit der Expansion der Elektroindustrie in Deutschland gerade in diesen zehn letzten Jahren. „Die immer weiter reichende Anwendung der Elektrizität charakterisierte bereits das neunte Jahrzehnt, aber sie beschränkte sich damals auf eine Stadt oder auf ein Stadtviertel. Nun kommen im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts Großunternehmen hinzu, die beabsichtigen einen größeren Distrikt mit Arbeitskraft und Licht zu versorgen, sowie den elektrischen Eisenbahnbau voranzutreiben.“1 Diese Ausführungen, die Ihr Autor im Hinblick auf ganz Europa und Amerika formuliert, treffen ganz besonders für Deutschland zu. Aber der große Aufschwung, der sich dank eines neuen Geschäftsmodells durchsetzte, in dem die Banken direkte Teilhaber der Elektroindustrie wurden, endete im Jahr 1900 mit einer großen Krise die in diesem Bereich infolge einer Begrenzung der Konkurrenz, die bisher unbegrenzt war, einsetzte. Der außergewöhnliche Geldbedarf der Industrie zeigte sich auch im Anstieg des Zinssatzes, der sich auf ganz signifikante Weise in den Schwankungen des Skontosatzes der Kaiserlichen Bank zeigte. Dieser stieg von 3,776% im Jahr 1891 auf 5,333 im Jahr 1900, jeweils mittlerer Satz für die beiden Jahre. Infolge dieser Hausse fiel der Kurs der Reichsund Staatsanleihen. Die deutsche Landwirtschaft nahm nur wenig an der Entwicklung der Industrie und des Handels teil, die ihr Kapital und ihr Geld vorzugsweise in die größten Städte bringen. Dennoch ist auch hier ein Fortschritt festzustellen und insbesondere im Getreideanbau. Besonders im Weizenanbau ist ein, wenn auch nur schwacher, Fortschritt zu verzeichnen. Die Weizenanbaufläche und auch die des Roggens (der in Deutschland stets die wichtigste Getreideart darstellt) ist seit 1878 nahezu konstant geblieben, aber seit 1893 ist ein langsamer Rückgang zu verzeichnen, dennoch scheint die mittlere Weizenproduktion pro Hektar langsam zu steigen. Der Roggenexport (75.000 Tonnen im Jahr 1900) und vor allem der Weizenexport (295.000 Tonnen) ist seit 1897 gestiegen und zwar dank einer zollgesetzlichen Erleichterung (Streichung der Herkunftsbezeichnung). Der Import beider Getreidesorten (und die Bedeutung dieser Importe ist mit dem Ausbau der Großindustrie unaufhörlich gestiegen) unterlag gewissen Schwankungen, je nach Ausfall der Ernten. Aber im Laufe der letzten zehn Jahre haben sie kaum variiert. Im Jahr 1900 stieg der Import 1

Siehe Meyers Konversations-Lexikon, Ergänzungen und Nachträge 1899, 1900, S. 291.

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(im Spezialhandel) auf 293.864 Tonnen Weizen im Werte von 171,1 Millionen Mark. Für den Roggen waren es 893.333 Tonnen im Werte von 96 Millionen Mark. Der Gerstenimport war im Jahr 1900 auch sehr hoch, mit einem Wert von 92,5 Millionen Mark. Dies ist seiner Verwendung in der Bierherstellung geschuldet. Der Maisimport ist beträchtlich gestiegen. Dieses Produkt wird zunehmend in der Tiermast eingesetzt. Darunter leidet aber die Qualität des Fleisches. Der Weizenpreis hatte 1891 eine Hausse infolge einer schlechten Ernte. Er war bis 1875 gesunken und stieg dann erneut mit dem industriellen Aufschwung. Im Jahr 1895 gab es in der Wirtschaft eine neue Bestandsaufnahme, die wenige Veränderungen seit 1882 zeigte. Ausgenommen war die beträchtliche Zunahme von Motoren, vor allem aber der Einsatz von Dampf als Energiequelle. Man hat auch mit dem Einsatz der Elektrizität in der Landwirtschaft begonnen. In den großen industriellen Landwirtschaftsunternehmen hat die Alkoholdestillation ganz moderat zum industriellen Aufschwung beigetragen. Der Branntweinexport, der von 1881 bis 1894 beträchtlich im Volumen und im Erlös zurückgegangen war, konnte sich einer Erholung erfreuen, die aber mit dem Jahr 1900 abgenommen hat. Diese Schwankung ist auf die Zollgesetzgebung zurückzuführen. Die Rübenzuckerproduktion, die bis 1885 einen sehr starken Aufschwung zu verzeichnen hatte, ist seitdem kaum spürbar angestiegen. Auch in diesem Fall war, so wie in den anderen Ländern, die Steuer- und Zollfrage ausschlaggebend, vor allem die Absenkung der Exportprämie. Aber das Rübenanbauverfahren wurde ständig verbessert und Deutschland ist noch heute, was die Zuckerproduktion angeht, weltweit das erste Land, das auf dem Markt den größten Absatz hat, wenn auch der Erlös der Zuckerexporte, im Vergleich mit dem deutschen Export insgesamt, von 6,8 auf 4,6% in den Jahren 1891 bis 1900 gesunken ist. Die Fluktuation des Wirtschaftslebens spiegelt sich in der Bevölkerungsbewegung wider und am zuverlässigsten in der Statistik der Eheschließungen. – Für das Deutsche Reich ergibt sich im Zeitraum, den wir untersuchen, folgender Überblick. Pro 1.000 Einwohner (E: Eheschließungen, G: Geburten, T: Todesfälle, St: Sterblichkeit, Gü: Geburtenüberschuss) Tabelle siehe S. 105. Obwohl der Geburtenüberschuss stets äußerst bemerkenswert war und die Sterblichkeit sehr zurückgegangen war, ist der Rückgang der Geburten im Allgemeinen jedoch sehr auffallend und charakteristisch. Die Beziehung der Anzahl der Geburten zu der Anzahl der Eheschließungen



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betrug im Jahr 1891 noch 4,76 ist aber schließlich auf 4,33 gesunken. Das Anwachsen der Bevölkerung beruht mithin im Wesentlichen auf dem Rückgang der Sterblichkeit. Dieser Rückgang ist in den letzten zehn Jahren in ganz Europa aufgetreten und muss daher allgemeinen Ursachen, vor allem meteorologischer Art, zugeschrieben werden. Die lauen Sommer reduzierten die Sterblichkeit der Kinder und die milden Winter die der Senioren. Diese beiden Varianten der Sterblichkeit sind im höchsten Maße konstitutiv für die allgemeine Sterblichkeit. Die Verbesserungen im Bereich der Hygiene trugen wahrscheinlich auch in hohem Maße zu diesem Rückgang bei. Auch der allgemeine Anstieg der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter und die in den letzten fünf Jahren brillante Situation der Industrie begünstigten diesen Rückgang. Alle diese Faktoren wirken vor allem in den Städten und gerade in den Städten zeigt sich das Phänomen, das wir untersuchen – der Rückgang der Sterblichkeit – viel stärker als auf dem Land (zumindest in Preußen). Aber wir können feststellen, dass der Gegensatz zwischen den Städten und dem Land ständig zurückgeht. Es gibt nur Unterschiede je nach Struktur des Ballungsraums. Zwischenzeitlich setzte sich der Wandel, den wir als „Masseneinzug in die Stadt“ bezeichnen unvermindert fort, vor allem in den letzten fünf Jahren. Genau betrachtet, ist diese Wanderbewegung ein Zug in die Industrie- und Handelszentren und in Landstriche mit meistens sehr dicht besiedelten ländlichen Gemeinden. Im Deutschen Reich ist dieser Zug gleichzeitig eine Wanderbewegung vom Osten in den Westen. Er wird nur von dem großen Ballungsraum der Hauptstadt des Reiches und seiner Vororte unterbrochen. Die Ergebnisse dieser Migration zeigen sich auf signifikante Weise in den Volkszählungen, die z.B. den Industrieprovinzen Westfalens und denen des Rheinlandes einen Bevölkerungsanstieg attestieren, nämlich von 1895–1900 um 18,0% und um 12,8% und für das Königreich Sachsen um 10,9%, während der natürliche Zuwachs der Bevölkerung, der in diesen Ländern bereits als erhöht galt, dennoch 12,1% und 9% nicht überschritten hat. Dasselbe Phänomen zeigt sich im Anwachsen der Arbeiterzahlen. So betrug die Zahl der Bergarbeiter im Zollverein (Deutsches Reich und Luxemburg) zwischen 1891 und 1899: 415.985 bis 526.184. Die Zahl der Arbeiter der Hüttenwerke: 47.752 bis 51.268. Die der Arbeiter an Hochöfen (nur für die Roheisenproduktion): 24.773 bis 36.334. Die der Eisengießereien: 62.743 bis 91.613. Es ist vor allem die Zahl der in den Fabriken arbeitenden jungen Männer und Frauen, die zunimmt. Die Zahl der männlichen Arbeiter unter 16 Jahren ist von 147.000 auf 201.000 gestiegen. Die Zahl der Frauen gleichen Alters stieg von 73.000 auf 100.000 und die der Frauen über 16 Jahren stieg von 576.000 auf 798.000. Diese

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großen Verschiebungen zeigen sich auch in der Berufsbestandsaufnahme vom 14. Juni 1895, wenn man sie mit der von 1882 vergleicht. Die Anzahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen war von 19,25 auf 18,5 Millionen gesunken, während die Anzahl der in der Industrie Tätigen von 16 auf 20,25 Millionen gestiegen war. Die Anzahl der im Handel Tätigen stieg von 4,5 auf fast 6 Millionen. Diese Angaben würden noch bedeutend frappierender sein, wenn die Bestandsaufnahme mit dem Ende des Jahrhunderts zusammengefallen wäre. Die Landwirte beklagten sich auch heftig über den Mangel an Arbeitskräften und die Auswanderung in die Städte. Aber die Industrie ihrerseits konnte nicht mehr mit den heimischen Arbeitern der großen Anzahl von Bestellungen nachkommen, die zum großen Teil nur auf Spekulationen beruhten. So war die Industrie gezwungen auf ausländische Arbeiter, vor allem auf Galizier, zurückzugreifen, die sie übrigens schon zu Beginn der Krise entließen. Eine wesentliche Ursache des industriellen Aufschwungs brachte auch die Vergrößerung der Flotte, die auch selbstverständlich sehr von Industriellen ermutigt wurde, die daraus Nutzen ziehen wollten. Das Budget des Reiches, das sich im Jahr 1891 noch auf 1,25 Milliarden belief, stieg kontinuierlich bis zum Jahr 1900, wo es 2,25 Milliarden erreichte. Die Schulden der öffentlichen Hand stiegen im Reich von 1,8 Milliarden auf 2,4 Milliarden Mark. Ein bezeichnendes Ergebnis des Fortschritts der Industrie ist die Organisation der Industriearbeiter im Hinblick auf den Lohn. Die Gewerkschaften (Gesellschaften) der Arbeiter, die sich selbst im Bereich der „mo­ dernen Tendenzen der Arbeiter“ sehen – d.h. diejenigen, die bis auf wenige Ausnahmen, der Sozialdemokratie verpflichtet sind, haben zahlenmäßig zugenommen. Ihre Anzahl ist im Jahr 1891 auf 277.659 gestiegen, davon waren 0 Frauen; im Jahr 1900 auf 680.427 gestiegen, davon waren 22.844 Frauen. (Es handelt sich nur um die Organisationen, die sich der Generalkommission unterstellen.) Dazu kommen 10.000 Mitglieder von lokalen Organisationen (d.h. diejenigen, die nicht der Generalkommission unterstellt sind). Die christlichen Gewerkschaften zählen im Jahr 1900 nahezu 16.000 Mitglieder. Diese Vereinigungen wurden nach dem System „Hirsch-Dunker“ (nach altem Standard), unter der Ägide der Liberalen Partei, mit 92.000 Mitgliedern geschaffen. Schließlich umfassten die unabhängigen Vereinigungen 54.000 Mitglieder. Obwohl jede Organisation eher eine Bremse als ein Anreiz zum Streikbegehren darstellt, konnte aus den starken Impulsen der Wirtschaft nur eine Erhöhung des Streikwillens resultieren. Dieser hat seinen höchsten Stand wahrscheinlich im Jahr 1899 erreicht. Seit diesem Jahr wurde eine offizielle Statistik der Streiks im Reich geführt,



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die eine Zahl von 1.288 Streiks mit 100.000 freiwillig Streikenden verzeichnet und 10.000, die infolge der Streiks ohne Arbeit waren. Diese von der Polizeibehörde geführte Statistik wird jedoch angezweifelt. In mehreren Städten wurden Arbeiterbüros eingerichtet, deren Aufgabe es ist, vor allem Informationen über die Sozialgesetzgebung zu kommunizieren. Die Genossenschaften verzeichneten auch während dieser letzten zehn Jahre eine bedeutende Entwicklung, vor allem für die Landwirte und die Industriearbeiter. Im Jahr 1900 gab es für die Landwirte 50.000 derartige Kooperativen. Von diesen gehörte mehr als die Hälfte der Generalkommission an. Sie helfen bei Kreditvereinbarungen, bei Ankäufen, beim genossenschaftlichen Verkauf, bei kooperativer Produktion (vor allem von Butter). Die Arbeiter haben sich in besonderer Weise den Konsumgesellschaften zugewandt, insbesondere mit der Idee selbst zu produzieren, sobald das möglich sein wird (das trifft besonders für die große Hamburger Gesellschaft zu). Die anderen Unternehmen der Union sind Kreditgesellschaften, die dazu bestimmt sind, Handwerker und Einzelhändler zu unterstützen. Aber diese Unternehmen sind erst schwach entwickelt. Der Fortschritt der Konsumgenossenschaften wird mittels einiger Daten verständlicher werden. Nach der Statistik der Allgemeinen Union aus dem Jahr 1890 zählte man: 253 Unternehmen mit 215.000 Mitgliedern, einem Umsatz von 52 Millionen und einem Vermögen von 6,5 Millionen. Im Jahr 1900 waren es: 568 Unternehmen mit 522.000 Mitgliedern, einem Umsatz von 108 Millionen und einem Vermögen von 157 Millionen. Die wichtigsten dieser Vereinigungen schlossen sich zu einer „Großeinkaufs-Gesellschaft“ zusammen. Im Jahr ihrer Gründung waren es 47 Vereinigungen mit einem Umsatz von einer halben Million. Aber im Jahr 1900 waren es 104 Vereinigungen mit einem Umsatz von 8 Millionen. Ebenso wie diese Bewegung der Arbeiterklasse zum Teil an politischen Motiven festhält und zum Teil aus politischen Gründen gelähmt ist, so greift auch eine Bewegung der regierenden Klasse und der Mittelschicht, die auch wirtschaftliche Aktivitäten vertritt, auf politische Bereiche über. Das ist die Agrarbewegung. In den ersten Jahren dieses Jahrzehnts gab es ein sehr geschäftiges Treiben für diese Bewegung. Am 18. Februar 1893 trat in Berlin eine Versammlung von ca. 7.000 Personen zusammen, die den „Bund der Landwirte“ gründete. Die Zielsetzung dieses Vereins wurde wie folgt definiert: „Alle Interessenten, ohne Ansehen der politischen Partei, der sie angehören und ohne Berücksichtigung der Größe ihres Landbesitzes werden sich versammeln, um ihren Einfluss auf die Gesetzgebung auszuüben, damit die Landwirtschaft, mit dem ihr gebührenden Einfluss, im Parlament vertreten wird.“

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Tatsächlich war das nicht nur ein wirtschaftlicher Verein, es war eine neue politische Partei. Wir werden diesen Verein hier nur unter dem erstgenannten Aspekt untersuchen. Der Verein sah seine erste Aufgabe in dem Kampf gegen die Handelsverträge. Ein Kampf, der zunächst erfolglos war. Der Verein sah im Sturz der Regierung Caprivi seine zweite Aufgabe. Diese gelang (siehe unten). Der Vorschlag von Kanitz (siehe unten) wurde durch Aktivitäten des Vereins unterstützt. Trotz der leidenschaftlichen Opposition, die den Unwillen des Monarchen erweckte, gelang es den „Führern“ dieses Vereins immer mehr Einfluss bei ihm zu gewinnen. In derselben Zeit gewann der Verein immer mehr Anhänger, sogar unter den Bauern, die anfangs skeptisch zu dieser Bewegung auf Distanz gegangen waren, die ja von den Großgrundbesitzern im Osten des Reiches initiiert wurde. Aber in Bayern bestand ein antiklerikaler und adelsfeindlicher Bauernverein. Im Jahr 1895 schloss sich der Bund der Landwirte mit der Bimetallbewegung zusammen, die unterzugehen drohte und die andererseits von dem „Verein der Wirtschafts- und Steuerreformer“ vertreten wurde, der seinerseits analoge Tendenzen vertrat. Im Jahr 1896 kam es dann zu einem heftigen Konflikt mit dem neuen preußischen Landwirtschaftsminister, Herrn von Hammerstein, der dem König im September einen Schriftsatz präsentierte, der alle Maßnahmen Revue passieren ließ, die in den letzten Jahren in Preußen zugunsten der Landwirtschaft ergriffen worden waren. Am 1. Februar 1897 zählte der Verein 184.000 Mitglieder, davon waren 72% kleine Landbesitzer. In diesem Jahr wurde der Ton des Vereins viel moderater. Vor der Wahl im Jahr 1898 trat der Verein in einen Konflikt mit der Konservativen Partei ein, weil er nicht nur ein einfacher Ableger dieser Partei bleiben wollte. Dieser Konflikt wurde bald beigelegt durch die gemeinsame Opposition gegen das Projekt des Kanalbaus der preußischen Regierung. Zu diesem Erfolg kam eine energische Aktivität zugunsten der Steueranhebung für Getreide, anlässlich des Abschlusses des Handelsabkommens (1903), hinzu. Der Verein verzeichnete im Jahr 1900 eine Mitgliederzahl von 206.000. Der Verein war eigentlich gegen die wiederholte Vergrößerung der Flotte (eine Äußerung des Sekretärs, Dr. Hahn, über die „ekelhafte Flotte“ wurde heftig kommentiert). Die Abgeordneten des Parlaments stimmten jedoch aus politischen Gründen für die Flotte. Im November 1900 bildete sich gegen den Verein der Landwirte ein „Verein für die Handelsverträge“ mit dem Präsidenten Dr. G. von Siemens. In den letzten Jahren gewinnt der „Bund Deutscher Bodenreformer“ in den großen Städten einen gewissen Einfluss auf die Kommunalpolitik. Dieser Verein bekämpft vor allem die Bodenspekulation. Der 1898 gegründete Verein für eine Wohnungsgesetzgebung, mit Sitz in Frankfurt am Main, hat ein ähnliches Ziel.



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II. Aus den Gegensätzen wirtschaftlicher Interessen ergeben sich direkt Strömungen und Kämpfe im Bereich der Innenpolitik. Die signifikantesten Gegensätze dieser Art sind: 1. Der Gegensatz zwischen dem Land und der Stadt, der sich in vielerlei Gestalt zeigt, aber der vor allem den Gegensatz zwischen den Interessen der Landwirtschaft einerseits und denen der Industrie und des Handels andererseits betrifft. Dieser Gegensatz ist nicht so tief und ist auch von einer lokalen Verschiebung betroffen, da die Großindustrie und der Großhandel sich zunehmend um die Großstädte konzentrieren und sich daher die Interessen der Kleinindustrie und des Einzelhandels mit denen der Landwirtschaft treffen. Daher kommt, was man seit kurzem in Deutschland als die Bewegung der Mittelschicht bezeichnet, die an politischem Einfluss gewonnen hat. 2. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit tritt insbesondere im Bereich der Großindustrie und der Großstädte zutage. Der erste dieser beiden Gegensätze kommt, wie wir es bereits festgestellt haben, in dieser Dekade, die wir untersuchen, zu einer neuen und starken Aktivität in dem Kampf um Handelsverträge und Zollabgaben für existenznotwendige Waren. Die Anstrengungen der Industrie und vor allem der Exportindustrie machten eine Lockerung der im Jahr 1879 eingeführten protektionistischen Politik notwendig, die hauptsächlich die nationale Eisenindustrie im Visier hatte, aber die sich zunehmend auf die Landwirtschaft bezog. Sie hat bisher gestattet, dass sich die Interessen der Landwirtschaft und der Industrie gegenseitig stützten. Aber die Tendenzen zum Freihandel verstärkten sich während der scharfen Krise, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1891 ausbrach. Diese Veränderung fällt äußerlich mit dem Regierungswechsel in Preußen und im Reich zusammen. Der junge Kaiser und sein neuer Reichskanzler, General Caprivi (der nach der Entlassung Bismarcks folgte), setzten sich persönlich für die Handelsabkommen ein. Der Widerstand gegen diese Politik, ebenso wie gegen die Gesamtheit des „Neuen Kurses“ wurde von dem Fürsten Bismarck unterstützt, der so wie Achilles in seinem Zelt, die Kämpfe mit Groll verfolgte. Anfangs war der Widerstand gegen die Handelsabkommen schwach. Am 7. Dezember 1891 wurden die Abkommen mit Österreich-Ungarn, Italien und Belgien dem Reichstag vorgestellt und im Januar 1892 das mit der Schweiz. Diese Abkommen wurden schnell angenommen. Sie erhielten als Fürsprecher sogar eine Minderheit der deutschen Konservativen Partei und das trotz der Absenkung der Zollabgaben für Weizen und

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Roggen von 5 Mark auf 3,50 Mark. Der Widerstand wurde zunächst schwächer wegen des Umstands, dass die Getreidepreise des Jahres 1891 einen außergewöhnlichen Höchststand erreichten und zwar infolge eines bedeutenden Ausfalls der Ernte. Er wuchs wieder an, als der Ernteausfall zu Ende ging. Daher führten die „kleinen Handelsabkommen“ (mit Spanien, Rumänien und Serbien) im November und Dezember zu heftigen Debatten im Reichstag, der inzwischen neu gewählt worden war. Es gab eine sehr starke Auseinandersetzung über das neue große Handelsabkommen, das mit Russland zu schließen war. Der Preis dafür wurde am 6. Februar veröffentlicht und kam am 19. vor den Reichstag. In der Zwischenzeit (am 17.) fand eine Versammlung des Bundes der Landwirte statt, auf der der Kampf gegen die Regierung und das persönliche Regime entfacht wurde. Trotzdem wurde das Abkommen im März ratifiziert, das einem sehr hinderlichen Zollkrieg mit Russland, der auf den russischen Abgaben von 1889 fußte, ein Ende setzte, mit 200 Stimmen dafür und 146 Stimmen dagegen. Die Sozialdemokratische Partei erwies sich, bei dieser Gelegenheit, als eine der Stützen der Regierung. Im folgenden Jahr zeigte sich das politische Vorgehen der Agrarbewegung, als Graf Kanitz einen Vorschlag machte, mit dem er auf legale Weise einen mittleren Preis für Getreide festlegen wollte. Er wollte also den Getreidehandel zu einem Staatsinteresse machen. Der Vorschlag, dem man in der öffentlichen Meinung einen sozialistischen Charakter geben wollte, kam dreimal vor den Reichstag und wurde beim dritten Mal im Januar 1896 mit 219 Stimmen abgeschmettert, bei 97 Stimmen dafür. Gegen Ende des Jahrzehnts wurde die Agrar-Propaganda, angesichts des nahen Auslaufens der Handelsabkommen, die für 12 Jahre abgeschlossen waren, viel drängender und erhob Forderungen, die sich nicht mehr mit der Wiedereinsetzung der vorausgegangenen Zollgebühren zufrieden gaben, sondern die noch viel weiter gehen wollten2. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeitswelt ist gleichzeitig eine ständige Aufgabe der Gesetzgebung. Die Initiative der Sozialpolitik, an dessen Spitze sich der neue Kaiser gestellt hatte, mit seinen persönlichen Erlassen (die beiden Dekrete von 1890, die eng mit dem Sturz des Fürsten Bismarck zusammenhängen) führte zu einer Serie von Sozialgesetzen, von denen das gravierendste, nämlich das vom 1. Juni 1891, bereits in unser vorausgehenden Chronik erwähnt wurde (Revue internationale de Sociologie, IV, S. 43). Bereits im vorangehenden Jahr hatte die fakultative Institution der Industriegerichte, auf paritätischer Grundlage, das Gesetz 2

Walther Lotz hat den Auseinandersetzungen dieses Jahres ein scharfsinniges und sorgfältiges Referat gewidmet „Die Handelspolitik des Deutschen Reiches unter Graf Caprivi und Fürst Hohenlohe“ in: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, XCII.



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vom 29. August 1890 erlassen, mittels eines Reichsgesetzes. Die Industriegerichte können auch aufgefordert werden, die Rolle der Schlichter bei Streitigkeiten zu übernehmen, wenn es um die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geht (Streik und Entlassung). Im Jahr 1892 wurde eine Kommission für Arbeitsstatistik eingerichtet, die eine Reihe von Umfragen gemacht hat, insbesondere über die Arbeitszeiten in Bäckereien und Konditoreien, über die Arbeitszeiten und andere Arbeitsbedingungen im Handel, über die Arbeit und die Löhne von Kellnern und Bedienungen. Es folgten Schutzbestimmungen des Bundesrates. Die Zeit sozialer Reformen, die durch diese Maßnahmen gestützt wurden, war jedoch nur von kurzer Dauer. In den Jahren 1892–1895 nahm der Widerstand der Unternehmer zu. Er zeigte sich vor allem in den gereizten Klagen gegen das Verhalten der Sozialdemokratischen Partei, nachdem diese gezeigt hatte, dass sie mehrheitlich der kaiserlichen Reform ablehnend gegenüberstand und ihre unverändert feindliche Haltung gegenüber der Monarchie und dem Nationalismus kundgetan hatte. Ereignisse im Ausland unterstützten auch die konterrevolutionären Gefühle in den anderen Parteien, so vor allem die Ermordung des Präsidenten der Französischen Republik, Carnot, am 24. Juni 1894. Eine Rede des deutschen Kaisers in Königsberg am 6. September folgte darauf. Sie endete mit der Phrase: „Auf in den Kampf für die Religion, die Tradition und die Ordnung, gegen die Parteien der Revolution!“ Diese Worte gaben das Zeichen für einen neuen Gesetzentwurf, der gegen die Sozialdemokratie gerichtet war. Man nannte dieses Gesetz „Umsturzgesetz“. Es wurde im Januar und im Mai von dem neu ernannten Reichskanzler, dem Fürsten Hohenlohe vorgestellt und von der Mehrheit des Reichstags verworfen. Diese Ablehnung war zum Teil der Verschlechterung geschuldet, die die konservativen und klerikalen Mitglieder der Kommission, hinsichtlich des Strafrechts, dem Vorschlag gegeben hatten. So machte die Sozialgesetzgebung zugunsten der Arbeiter nur wenig anerkennenswerte Fortschritte und eine nur leichte Verbesserung der bestehenden Gesetze wurde durchgesetzt. Die Regierungen der Föderation bemühten sich, die Anliegen der Mittelschicht durch eine Arbeitsorganisation der kleinen Handwerker zu fördern. Dazu sollte die Schaffung von Bundeskomitees und von Handwerkskammern dienen. Das Gesetz (vom 26. Juli 1897) strebt eine Restauration des Zunftwesens mit gewissen Zwangsrechten an. Allerdings wurde der Wunsch der „Zünftler“ nicht erfüllt, die forderten, dass niemand ohne „Gesellenbrief“ eine Arbeit annehmen konnte. Im selben Sinne wurde (am 27. Mai 1896) ein Gesetz verkündet, das illoyale Konkurrenz bekämpfen sollte und dem fügte man einen Paragraph hinzu, mit Bezug auf die Verordnung zur Industrie, die vor allem dazu

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diente, den Handel der Hausierer zu reglementieren und einzugrenzen (Gesetz vom 6. August 1896) und auch ein Gesetz, dessen Absicht es war, die Konsumgesellschaften einzuschränken. Das Börsengesetz (vom 22. Juni 1896) und das Gesetz zu den Bankdepots (vom 5. Juli 1896) hatten auch denselben Ursprung. Mit dem Börsengesetz wurde das Termingeschäft begrenzt und in gewissen Fällen verboten. Ein späteres Nachtragsgesetz (vom 30. Juni 1900) hielt die Balance zwischen der die Mittelschicht begünstigenden Gesetzgebung und jener zu Gunsten der Arbeiterklasse, denn es hat vor allem den Schutz der Ladenverkäufer im Visier. Die Arbeiterbewegung trifft sich in dieser Hinsicht mit der der Mittelschicht und nutzt in Anbetracht ihrer Zielsetzung dieselbe politische Tendenz (den Antisemitismus). Der Schutz der Arbeiter kollidierte mit den Interessen einer wichtigen Gruppe der Mittelschicht, infolge der Verordnung, die der Bundesrat am 4. März 1896 zur Länge der Arbeitszeit in Bäckereien erlassen hatte. Erst gegen Ende dieses Zeitabschnitts zeigt sich eine schwache Renaissance der arbeiterfreundlichen Gesetzgebung, insbesondere mit der Reform der Invaliditätsversicherung, zu der auch die Sozialdemokratische Partei beitrug (Gesetz vom 13. Juni 1899). Bezeichnend war auch die Ausweitung der Pflichtversicherung gegen Krankheiten auf die Heimarbeiterindustrie (1899). Ein heftiger Streit entbrannte auch über das, was man den Schutz der „freiwillig Arbeitenden“ nannte. Das war ein Gesetzentwurf, der auf persönliche Veranlassung des Kaisers erarbeitet wurde und der jeden Übergriff streikender Arbeiter auf ihre Konkurrenten und die Ermutigung zum Streik mit neuen und harten Geldstrafen bedrohte. Dieser Entwurf wurde nicht nur von den Anhängern der Sozialistischen Partei, sondern auch von vielen anderen als Versuch gewertet, das Koalitionsrecht der Arbeiter zu zerstören. In der Alltagssprache wurde er als „Besserungsanstalts-Gesetz“ bezeichnet. Die Beratungen endeten mit einem vollständigen Scheitern der Regierung der Föderation und der Rücknahme der geplanten Maßnahmen. Im neuen Jahrhundert wurde im Übrigen ein Gesetz beraten, um die Arbeit der Seeleute zu regeln. Es sollte das völlig antiquierte Gesetz vom 27. Dezember 1872 ersetzen. Auch in diesem Fall gab es wieder eine Kollision der Interessen des Kapitals und der Arbeiterschaft. Eine andere sehr wichtige Gesetzgebung, die es verdient genannt zu werden, ist vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch, über das am 1. Juli 1896 abgestimmt wurde, mit 222 Stimmen dafür, 48 dagegen und 18 Enthaltungen (Gesetz vom 18. August 1896). Dieses Gesetzgebungswerk wird als eine große nationale Errungenschaft angesehen. Es ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Arbeit von 20 Jahren. Das Gesetzbuch



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erhielt vom 1. Januar 1900 an Gesetzeskraft – in der irrigen Annahme, dass dieses Datum den Beginn des neuen Jahrhunderts markiert. Dieses Gesetzbuch stellt für das Deutsche Reich die Bestätigung des Zustands und der Organisation des kapitalistischen Privateigentums dar. Gleichzeitig ist es der vollständige Sieg des geschriebenen Gesetzes über das Gewohnheitsrecht. Zum gleichen Zeitpunkt trat ein neues Handelsgesetzbuch in Kraft (10. Mai 1897). Im gleichen Zeitraum scheiterte ein Projekt zur Justizreform und zur Reform der Strafverfahren, wobei insbesondere in Strafsachen die Wiedereinführung der Berufung der Strafkammern bei den höheren Gerichten von großer Wichtigkeit war. Ein Gesetz gegen die Zuhälter (Lex Heinze) war ebenso Gegenstand heftiger Diskussionen. Es wurde wegen eines Strafprozesses in Berlin dringend erforderlich und entsprach den vom Kaiser artikulierten Wünschen. Nachdem im Jahr 1892 ein Gesetzesvorschlag mit gleicher Zielsetzung gescheitert war, wurde ein neuer Vorschlag, der eine allgemeingültige Regelung der Prostitution vorsah, einer Kommission unterbreitet, in der die Zentrumspartei mit Unterstützung der Konservativen viel gravierendere Maßnahmen einführte. Um die Schamhaftigkeit und die Moral zu schützen, drohten diese harte Strafen für Schriften, Bilder und andere Darstellungen an. Die Bestimmungen dieses Gesetzes führten im März und im Mai zu einer Verschleppungstaktik im Reichstag durch die Minderheit, die in diesem Fall von der Sozialistischen Partei angeführt wurde. Als Folge dieser Verschleppungstaktik wurde ein Teil des „Lex Heinze“ angenommen (Gesetz vom 25. Juni 1900). Diese Erregung übertrug sich auf ausgedehntere Kreise und führte in Berlin und in anderen großen Städten zur Gründung der „Goethe-Bunde“, die es als ihre Aufgabe ansahen, die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft zu schützen. In den Staatshaushaltsplänen dieses Jahrzehnts kann man vor allem die außergewöhnlichen Ausgaben der Reichs-Marine feststellen. Dies ist auch auf die persönliche Initiative des Kaisers zurückzuführen. Es entstand eine Volksbewegung zugunsten der Flotte. Diese Bewegung gründete vor allem auf der Notwendigkeit, einen stärkeren Schutz für den maritimen Handel des Reiches sicherzustellen. Der erste große Plan zur Vergrößerung der Flotte zielte auf eine gesetzlich festgelegte Wertsteigerung ab. Er wurde erstmals am 6. Dezember 1897 beraten. Nachdem sich die Zentrumspartei im Wesentlichen für ein Zugeständnis ausgesprochen hatte, wurde die Vergrößerung verabschiedet und gewann nach einigen Abänderungen der Budgetkommission Gesetzeskraft (Gesetz vom 10. April 1898). Bereits am 11. Dezember 1899 wurde dem Reichstag mitgeteilt, dass eine Novelle für die Ausweitung und Fertigstellung des Flottengesetzes in Vorbereitung war. Diese Maßnahme resultierte, nach der

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offiziellen Begründung, aus der politischen Gesamtsituation und ganz besonders aus der Überseepolitik Deutschlands. Die Kosten sollten mittels Anleihen gedeckt werden und die Summe der Kosten aus diesem Bereich wurde für 16 Jahre auf 783 Millionen Mark geschätzt. Der neue Gesetzentwurf kam zum ersten Mal am 8. Februar 1900 in den Reichstag und wurde an die Budgetkommission überwiesen. Innerhalb dieser Kommission wurde die Vergrößerung der gesamten Flotte abgelehnt, aber die der Kriegsflotte wurde genehmigt. Unter dieser Prämisse wurde das gesamte Projekt, mit 201 Stimmen dafür und 103 Stimmen dagegen, angenommen (Gesetz vom 14. Juni 1900).

III Aus der Gesetzgebung der Partikularstaaten werden wir dasjenige aufzählen, was für die Sozialchronik von einiger Bedeutung ist. A) In Preußen brachte das Jahr 1891 ein neues Einkommenssteuer-Gesetz mit einer Progression 2/3 – 4% und der Steuererklärungs-Pflicht. Es gab auch im „Kulturkampf“ von der Regierung eine finanzielle und rechtskräftige Aufhebung, durch die beschlossen wurde, dass der Katholischen Kirche das Geld (mehr als 16 Millionen) zurückgegeben würde, dessen Auszahlung durch ein Gesetz von 1875 ausgesetzt worden war. Im folgenden Jahr kam es zu einer großen Protestbewegung, verursacht durch ein Gesetzesvorhaben zu den Volksschulen mit konfessioneller Ausrichtung. Aufgrund eines heftigen Widerstands wurde dieses Vorhaben von der Regierung am 28. März zurückgezogen. Das Jahr 1893 endete mit einem so genannten Nachtragsgesetz, mittels dessen eine Vermögenssteuer auf mobilen und immobilen Besitz festgelegt wurde. Ein liberaler Redner stellte fest, dass durch dieses Gesetz das Prinzip verankert würde, dass Privateigentum letztlich Staatseigentum sei. Im selben Jahr wurde ein Teil des Überschusses aus der Einkommenssteuer für die Verbesserung der Löhne von Grundschullehrern und Grundschullehrerinnen und den Bau von Volksschulen vorgesehen. Im Jahr 1894 wurden Landwirtschaftskammern eingerichtet, die für den Beruf des Landwirts eine zunftmäßige Organisation schaffen sollten. Im selben Jahr wurde ein neues Gesetz verkündet, ein Gesetz für die Errichtung evangelischer Kirchen. Im Jahr 1895 beschäftigte man sich mit der Verbesserung der Arbeiterwohnungen der staatlich betriebenen Industrieunternehmen. Im Jahr 1896 wurde ein Gesetz herausgebracht über das Recht der Erben, die von Verkäufen profitieren können, die nach Aussage des Landwirtschaftsministers den Beginn der Reform des Bodenrechts in Preußen einleiten. Ein Gesetz, das die einheitliche Regelung der Löhne von Lehrern in Volksschulen vorsah, scheiterte wegen des Widerstandes der Ersten Kammer (des Herrenhau-



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ses). Im Jahr 1897 wurde ein Gesetzentwurf diskutiert, der das Vereinigungs- und Versammlungsrecht begrenzen sollte. Er wurde das kleine Sozialistengesetz genannt. Der Gesetzentwurf fiel bei der dritten Lesung mit einer schwachen Mehrheit im Abgeordnetenhaus durch (209 Stimmen dagegen, 205 dafür). Im Jahr 1898 beschäftigte man sich mit einem Gesetzentwurf, der beabsichtigte, eine Regelung für Disziplinarverfahren gegen die „Privatdozenten“ der preußischen Universitäten zu etablieren. Das Gesetz beabsichtigte einem Privatdozenten der Berliner Universität, der der Sozialdemokratischen Partei angehörte, die „Venia legendi“ zu nehmen. Dies tat auch das Staatsministerium, nachdem die Philosophische Fakultät, die in erster Instanz urteilte, den angeklagten Gelehrten freigesprochen hatte. Im Jahr 1899 begann die große Auseinandersetzung der Regierung mit der konservativen Mehrheit des Abgeordnetenhauses um die Kanäle: das Streitobjekt war vor allem die geplante Verbindung von Rhein und Elbe (der „Mittellandkanal“). Die Konservative Partei glaubte, in diesem Kanal eine Aufgabe der Interessen der Landwirte zugunsten der Interessen der Industrie zu sehen. Das Projekt wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Unter den preußischen Gesetzen des Jahres 1900 muss man auf das Gesetz zur staatlichen Hilfe für Kinder, die kriminell oder pflegebedürftig waren, hinweisen. Es handelt sich um eine Erweiterung des bis dato für diesen Bereich bestehenden Rechts (Gesetz vom 2. Juli 1900). B) Werfen wir noch einen Blick auf die Gesetzgebung der anderen Staaten. Hier wird aufgezeigt, was wir dabei antreffen: 1. Im Königreich Sachsen muss man im Jahr 1896 auf eine Abänderung der Verfassung hinweisen, die ein neues Wahlgesetz notwendig machte. Es ersetzte das indirekte Wahlrecht durch das direkte und erhöhte den Wahlzensus beträchtlich. Dies war eine gegen die Sozialdemokratische Partei gerichtete Maßnahme. Sie hatte 54 von 82 Sitzen der zweiten Kammer gewonnen. 2. Das Großherzogtum Hessen schloss im Jahr 1897 ein Abkommen mit Preußen in Bezug auf die Fahrt einer Eisenbahn des Großherzogtums über ein Gebiet im Besitz der preußischen Regierung. 3. In Bayern tritt das Jahr 1897 durch die Abstimmung über ein Steuerermäßigungs-Gesetz hervor, demzufolge, im Hinblick auf die Steuerermäßigung und die Abschaffung der Grundsteuer, ein Stützungsfonds mit einem Kapital von 5 Millionen Mark geschaffen wurde. 4. In Württemberg wurde eine Revision der Verfassung vorgeschlagen und diskutiert, die unter anderen Neuerungen das allgemeine und direkte Wahlrecht einführen wollte. Im Großherzogtum Baden beschäftigte man sich im Jahr 1900 ebenfalls mit der Reform des Wahlrechts ohne ein Er-

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gebnis zu erzielen. In mehreren Staaten führte man auch Steuerreformen durch. Man begann auch, in mehreren Staaten, wie im Herzogtum Hessen und der freien Stadt Hamburg, die Arbeiterwohnungen zu restaurieren. In den Staaten Süddeutschlands musste man sich zu wiederholtem Male mit der politischen Situation der Kirche befassen. Das war vor allem im Herzogtum Baden der Fall, wo die katholische und die liberale Partei ungefähr gleichstark sind und ständig Auseinandersetzungen miteinander haben. Wir werden jetzt kurz die wichtigsten Ereignisse der Innenpolitik des Reiches und der verschiedenen Staaten untersuchen. Die erste Hälfte dieses Zeitabschnitts ist geprägt von der Opposition des Fürsten Bismarck zur Person und der Politik des Kaisers. Der Fürst rächte sich für seinen Sturz in Ungnade mit direkter oder indirekter Kritik der Politik seines Nachfolgers des Grafen Caprivi. Er drückte seine Kritik, teils über Stellungnahmen in Zeitschriften aus, die ihm gewogen waren, so vor allem die „Hamburger Nachrichten“, teils in ziemlich häufigen Reden. Das Bezeichnendste dabei war die offenkundige Missbilligung der regierungsamtlichen Tendenz zur Aussöhnung, vor allem mittels der Sozialpolitik, die in den kaiserlichen Manifesten vom Februar 1890 ihren Ausdruck fand. Gegen diesen Widerstand, der durch die Popularität, derer sich der Fürst in großen Teilen des Volkes erfreute, noch gestärkt wurde, verteidigte sich der Kaiser mit zahlreichen Reden und Proklamationen. Die folgende Passage aus einer Rede: „Regis voluntas suprema lex esto“ erregte im Jahr 1891 großes Aufsehen. Im selben Jahr wurde Fürst Bismarck in den Reichstag gewählt, aber er hat sein Mandat nicht ausgeübt. Er fuhr fort, die Politik des Grafen Caprivi offen und leidenschaftlich anzugreifen. Seine Reise nach Wien, im Jahre 1892, bot ihm eine einmalige Gelegenheit. Die Proklamationen, die der Fürst, bei dieser Gelegenheit, gegen die Politik des Reiches richtete, brachten Caprivi zu dem Entschluss, am 8. Juli zwei Dekrete zu veröffentlichen, von denen das vom 23. Mai 1893 an alle ständigen Auslandsvertretungen und das andere an den Botschafter aus Wien gerichtet waren. Beide waren nichts als Polemik gegen den Fürsten Bismarck. In einem Dekret wurde gesagt, dass selbst bei einer Verständigung zwischen dem Kaiser und seinem ehemaligen Kanzler (einer Verständigung für die in jedem Fall der Altkanzler die Initiative ergreifen müsse) die Verständigung niemals soweit gehen würde, dass es der öffentlichen Meinung gestattet sei, zu behaupten, der Fürst Bismarck habe irgendeinen Einfluss auf die Angelegenheiten des Staates zurück gewonnen. Damit erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt. Die Proklamationen Bismarcks wurden fortgesetzt. Im Herbst 1893 veranlasste eine schwere



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Krankheit des greisen Fürsten, den Kaiser einen ersten Schritt zu machen und andere folgten. Im Januar 1894 schickte er dem Fürsten eine Flasche Wein. Ein Besuch Bismarcks in Berlin folgte darauf und der Kaiser erwiderte ihn im Februar. Die politische Bedeutung dieser Ereignisse bewirkte, dass die Stellung des Grafen Caprivi erschüttert wurde und dass in der Folge die Opposition der Agrarier gegen ihn ausgenutzt wurde. Das Jahr 1893 brachte Neuwahlen zum Reichstag und zum preußischen Landtag. Der Reichstag wurde am 6. Mai aufgelöst. Der Gesetzentwurf zum Militär implizierte, wegen des vorläufig zweijährigen Militärdienstes, eine beträchtliche Erhöhung der Mannschaftsstärke der Armee in Friedenszeiten und fand daher keine Mehrheit. Die Parteien konnten keine Verständigung über die Änderungsanträge erreichen. Die Neuwahlen fanden am 15. Juni statt. Das Ergebnis brachte einen Rückgang der liberalen Parteien. Die Zentrumspartei verzeichnete ebenfalls einen Rückgang der Zahl ihrer Vertreter. Im Gegensatz dazu gewannen die drei Fraktionen der Rechten 20 Sitze. Das war ein Sieg der Agrarpartei und des Fürsten Bismarck. Die Legislaturperiode des preußischen Abgeordnetenhauses ging ganz normal zu Ende. Die Wahlen fanden am 31. Oktober statt und hatten ein ähnliches Ergebnis wie das bei den Reichstagswahlen, mit einem noch deutlicheren Vorteil zugunsten der Konservativen. Der Sturz der Regierung Caprivi war durch diese beiden Wahlen vorbereitet worden. Am 20. Oktober 1894 empfing der Kaiser eine Delegation des Bundes der Landwirte Ostpreußens. Im gleichen Zeitraum begann der Kaiser mit neuen Repressionen gegen die Sozialdemokratie zu wüten. Am 16. Oktober nahmen Graf Caprivi und sein Widersacher Graf Eulenburg (der Chef der preußischen Regierung) gleichzeitig ihren Rücktritt. Der Statthalter von Elsass-Lothringen, Fürst Hohenlohe, ehemaliger Präsident des Bayerischen Ministerrates wurde zum Reichskanzler ernannt und der reaktionäre Herr von Köller wurde Innenminister in Preußen. Wenig später trat ein neuer preußischer Minister, Herr von Hammerstein sein Amt als Landwirtschaftsminister an. Im gleichen Zeitraum entfachte sich, geschürt von den Agraraktivisten, die Auseinandersetzung gegen die Revolution. Im preußischen Kabinett gewann Finanzminister Miquel, der sich zu den Tendenzen der Landwirte bereits positiv geäußert hatte, mehr und mehr die Oberhand. Diese Tendenzen nahmen in der ersten Hälfte des Jahres 1895 einen neuen Aufschwung. Der (bereits erwähnte) „Vorschlag von Kanitz“ erregte großes Aufsehen, ebenso wie die feindseligen Äußerungen des Monarchen. Im Zusammenhang mit diesen Befindlichkeiten stehen auch die großen, von Bismarck anlässlich seines 80. Geburtstags (1.4.1895) gehaltenen Reden, an die wir hier erinnern. Im Juni fand auch die Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals statt, der den Namen „Kaiser-Wilhelm-Kanal“ erhielt. In diesem Jahr fanden auch

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die Gedenkfeiern des Feldzuges von 1870 statt, die Anlass zu einer neuen Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie boten. Anlässlich der Gedenkfeiern zum Jahrestag der Verfassung des Deutschen Reiches sprach der Kaiser, am 18. Januar 1896, vom „größer gewordenen Deutschen Reich“ und bezeichnete so die überseeischen Kolonien. Dazu kam die Aufregung über die „Vergrößerung der Flotte“, was Bismarck zum Anlass nahm, seine Kritik zu erneuern. Der im August 1896 erfolgte Wechsel im preußischen Kriegsministerium war ein großes Ereignis, denn dabei entdeckte man den geheimen Einfluss einer „Militärregierung“. Aber die Meldung, dass die Reform der Militärgerichtsbarkeit abgeschlossen war, wurde mit allgemeiner Genugtuung aufgenommen. Im selben Jahr (1896) bekamen zwei Streiks echte politische Bedeutung. Zunächst brach am Anfang des Jahres der Streik der Arbeiter und vor allem der Arbeiterinnen der Bekleidungsindustrie in Berlin, Stettin, Breslau, Erfurt und anderen Städten aus. Der Druck der öffentlichen Meinung, die in diesem Fall ziemlich engagiert Partei für die Streikenden ergriff, führte zu einer ganz günstigen und erträglichen Vereinbarung, deren Wirkung aber nicht von langer Dauer war. Es handelt sich hier doch meistens um „Heimarbeit“, die durch das System der Vorarbeiter auf inakzeptable Weise ausgenutzt wird. Ein glücklicher Ausgang des Streiks zeigte sich in einer Verordnung des Bundesrats aus dem folgenden Jahr, die die übermäßig lange Arbeitszeit in dieser Branche begrenzte. Im November folgte in Hamburg die generalstreikähnliche Auseinandersetzung der Hafenarbeiter und eines Teils der Seeleute. Der Streik dauerte bis Februar des folgenden Jahres. Obwohl es sich in diesem wie auch in dem anderen Fall um eine im Wesentlichen spontane Massenbewegung nicht organisierter Arbeiter handelte, ergriffen die bürgerliche Schicht, die Regierung und sogar der Kaiser persönlich Partei für die Unternehmer, die Großhändler und die mächtigen Reeder. Bei dieser Gelegenheit zeichnete sich das Presseorgan des Fürsten Bismarck, die „Hamburger Nachrichten“, als Verteidiger einer zügellosen Plutokratie aus. Ein Aufruf zugunsten der Arbeiter, verfasst im Januar 1897 von einigen Politikern, Wirtschaftlern und Sozialisten, unter denen auch mehrere Universitätsprofessoren, machte nur mehr Lärm und traf nur auf mehr Widerstand und Antipathie3. Zu dieser Zeit erfuhr man, dass ein vollständiger Wandel in den Verfügungen des Kaisers hinsichtlich der sozialen Bewegungen und der So3

Siehe zu den beiden Streiks den kurzen Artikel von Herrn Oldenberg im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (Conrad) 2. Ausgabe, I, S. 755-759 und über den Streik in Hamburg mehrere Abhandlungen des Autors dieser Chronik in der Revue de legislation sociale von Herrn Heinrich Braun, Bände X, XI, XII. Ein Auszug ist in dem Rundschreiben Nr. 13 des Musée social de Paris enthalten.



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zialreform stattgefunden hatte und daher auch der Leitung der Regierung und der wichtigsten Beamten. Man erkannte bei dieser Veränderung den wachsenden Einfluss des Großindustriellen und Parlamentariers, des Herren von Stumm, eines wohlwollenden Mannes, dennoch brutal und jähzornig, das perfekteste Abbild eines Parvenüs. Der entscheidendste Wechsel ereignete sich im Juni 1896 durch den Rücktritt des preußischen Handelsministers, des Herrn von Berlepsch, der in der Regierung der entschiedenste und bedeutendste Vertreter der Sozialreform war. Das Jahr 1897 brachte neue patriotische Feiern anlässlich des 100. Geburtstags Kaiser Wilhelms I., dem sein Enkel den Namen „Wilhelm der Große“ verlieh. Zur gleichen Zeit zog ein Kriminalprozess alle Aufmerksamkeit auf sich. Der Prozess wurde gegen den Staatssekretär von Marschall angestrengt und führte schnell zu zwei Beamten der politischen Polizei. Dieser Prozess brachte ans Licht, dass der Polizeichef auf eigene Veranlassung (oder auf Anregung eines Unbekannten) schon lange, politisch geschickt, gegen die höchsten Behörden des Reiches Sturm lief und das im Sinne der Opposition, der Reaktion und des Fürsten Bismarck. Herr von Marschall bezeichnete seine Rolle in diesem Prozess als „eine Flucht in die Öffentlichkeit“. Eine Folge dieses Prozesses war der Rücktritt des Herrn von Marschall im Juni 1897. Ihm folgte bald auch der Rücktritt des Staatssekretärs im Innenministerium, des Herrn von Bötticher. Zur selben Zeit ereignete sich auch der Abgang des Präsidenten des kaiserlichen Versicherungsbüros, Bödicker, der den Arbeitern wohl gesonnen war. Diese Veränderungen waren Zeichen für einen systematischen Wandel und für die „Ära Stumm“. Der Nachfolger des Herrn von Bötticher war der Graf Posodewsky, der des Herrn von Marschall war Herr Bernhard de Bülow. In dieser Situation übernahm der preußische Finanzminister Miquel immer mehr die Leitung der Politik, obgleich er gleichzeitig zum Vizepräsidenten des preußischen Kabinetts ernannt wurde. In einer Nachahmung bismarckscher Politik versuchte Miquel, am 15. Juli, einen Appell an die Union der „produzierenden Klassen“ und an die nationale Mehrheit zu richten, d.h. an eine Allianz der Großindustrie mit der Landwirtschaft. Im folgenden Jahr (1898) gab es (am 16. Juni) wieder eine Erneuerung des Reichstags und der 2. preußischen Kammer (am 3. November). Das Ergebnis der Reichstagswahlen fiel sehr zugunsten der Sozialdemokratie aus. Die Anzahl ihrer Stimmen (in den wichtigsten Wahlen) stieg von 1,8 auf 2,1 Millionen und die ihrer Mandate stieg von 44 auf 57. Die beiden konservativen Parteien und die Nationalliberale Partei erlitten ziemlich empfindliche Verluste. Noch einmal waren die Ergebnisse der preußischen Wahlen ähnlich. Die drei Fraktionen sahen die Zahl ihrer Mandate von 298 auf 280 fallen, während die beiden liberalen

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Parteien 16 Mandate gewannen (von 20 auf 36). Die Zentrumspartei gewann auch. Sie stieg von 95 Mandatsträgern auf 100 in Preußen und von 98 auf 106 im Reichstag. In diesem Jahr starb auch (am 30. Juli) der Fürst Bismarck. Das löste unter seinen Anhängern und in Regierungskreisen tiefe Emotionen aus. Im Jahr 1899 gab es in Preußen zwei Ministerwechsel. Anstelle von Herrn von der Recke, der im Dezember 1895 nach Herrn von Köller, in das Ministerium eingetreten ist, wurde Herr von Rheinbaben berufen. Als Kultusminister ersetzte Herr Studt (am 4. September) Herrn Bosse. (Herr Bosse hatte im März 1892 nach dem Scheitern des Gesetzentwurfes, der die konfessionellen Schulen schützen sollte, die Nachfolge von Herrn von Zedlitz angetreten). Auf Anordnung des Kaisers und durch Erlass des Bundesrates wurde das Ende dieses Jahres als das Ende des Jahrhunderts angesehen und der 1. Januar 1900 als der Beginn des 20. Jahrhunderts. Am 15. Oktober wurde der Rücktritt des Fürsten Hohenlohe verzeichnet. Herr von Bülow folgte ihm als Reichskanzler und Ministerpräsident von Preußen nach. Der lange erwartete Wechsel war zumindest teilweise eine Folge äußerer Schwierigkeiten in China. In diesem Zusammenhang erregten die leidenschaftlichen Reden des Reichskanzlers auch großes Aufsehen. Herr von Bülow forderte am 19. November im Reichstag eine Entschädigung für die durch die Chinaexpedition verursachten Ausgaben. Ein Antrag von 153 Millionen wurde gestellt. Schließlich wurde ein großer Vorfall aufgedeckt, nämlich dass der Innenminister (Graf Posodewsky) die Zentralunion der Industriellen (eine Vertretung der Großindustrie) dafür gewonnen hatte, 12.000 Mark für die Demonstrationen zugunsten des „Zuchthausvorlage“ genannten Projektes (siehe oben), bereitzustellen. Der Reichskanzler nannte diese Gesetzesvorlage im Reichstag einen „Schnitzer“. Schließlich kam es in diesem Jahr zu großer Unzufriedenheit durch den Mangel und den sehr hohen Preis der Kohle. Dies wurde der 1893 gegründeten Gewerkschaft der Kohlenbergwerke Rheinland-Westfalens zugeschrieben. Wir können noch folgende Ereignisse erwähnen, die einige Staaten des Reichs unmittelbar interessieren. Nachdem der König 1870 in Preußen eine Schulkonferenz einberufen hatte und dort eine Rede gehalten hatte, wurde im folgenden Jahr eine Reform der Hochschulverfassung vorgenommen. Im Ergebnis dieser Reform wurden jedoch die Absichten des Königs beträchtlich geschmälert. Im Jahr 1900 fand eine neue Schulkonferenz statt, in der eine königliche Verordnung erlassen wurde, die die Fortsetzung der Schulreform anordnete. Die preußische Regierung musste sich unaufhörlich gegen die starke Opposition der Landwirte konservativer und bismarckscher Prägung wehren. Dieser Opposition schlossen



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sich auch hohe Beamte an. Am 20. Dezember 1893 rief man den interessierten Kreisen die Verordnung vom 4. Januar 1882 in Erinnerung. Darin wurden die Beamten in die Pflicht genommen, die Politik der Regierung zu vertreten und zu unterstützen. Der Konflikt war schon mehrmals zu Tage getreten, als am 31. August 1899 eine neue, sehr strenge Verordnung, im gleichen Sinne, erlassen wurde. Darauf folgte eine Reglementierung von nahezu zwanzig Verwaltungsposten deren Amtsinhaber im Abgeordnetenhaus gegen die Kanalvorlage gestimmt hatten. Die preußische Politik in Bezug auf Polen wurde während der gesamten Kanzlerschaft Caprivis abgeschwächt, aber sie wurde erneut in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts viel schärfer. In Bayern kam es 1894 zu einer starken Unruhe, die durch ein Ereignis an der Fuchsmühl, einem Ort in der Pfalz (Rheinland-Pfalz) ausgelöst wurde. Bauern, die im Bewusstsein rechtmäßigen Handelns Holzvorräte einfahren wollten, trafen auf Gendarmen und wurden verhaftet. Einer von ihnen wurde dabei getötet. Diesem Ereignis maß man hohe Bedeutung zu, denn das Volk glaubte, dass es sich dabei um das alte Forstrecht der Dörfer handle. Das Ministerium von Hessen-Darmstadt richtete im Jahr 1892 ein Rundschreiben gegen den Antisemitismus an die Zivilbeamten. Anlässlich der Thronfolge des Herzogs von Edinburg in Sachsen-Coburg-Gotha im Jahr 1893 stellte man von mehreren Seiten die These auf, dass die Thronbesteigung eines Ausländers unvereinbar sei mit der Verfassung des Deutschen Reiches. In einer sehr heftigen Auseinandersetzung mit dem Deutschen Kaiser, die sich von 1895 bis 1897 hinzog, erhoben sich Zweifel hinsichtlich des Rechtes der Regentschaft in dem kleinen Fürstentum Lippe. Im Herzogtum Braunschweig zeigte sich mehrmals eine tiefe Unzufriedenheit gegenüber dem Königreich Preußen und damit auch ein Anwachsen der Partei der „Kleinen Welfen“. In Elsass-Lothringen stellt man fest, dass die Protestaktionen immer mehr zurückgehen, obwohl der Diktatur-Paragraph noch nicht außer Kraft gesetzt wurde. Was die Außenpolitik des Reiches angeht, da werden einige Worte genügen. Der „Dreibund“ ist unverändert geblieben, aber er macht weniger von sich reden. Der Rückversicherungsvertrag mit Russland, den Bismarck 1886 geschlossen hatte, ist nicht verlängert worden. Fürst Bismarck war der Meinung, dass nach seiner Entlassung die Verständigung mit Russland zerschlagen war. Das Manifest des Zaren aus dem Jahr 1898 und die Konferenz von Den Haag im Jahr 1899 wurden von der öffentlichen Meinung nur lustlos zur Kenntnis genommen. Es scheint für die Erhaltung des Friedens in Europa wichtiger zu sein, dass sich die Beziehungen zu Frankreich langsam aber beständig verbessert haben. Die Beziehungen zu England sind sehr wackelig gewesen und zwar als Folge

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des Vorfalls, der am 3. Januar 1896 von der Depesche des Kaisers an den Präsidenten Krüger ausging. Dazu kam noch die Interpellation der englischen Regierung bezüglich des „Jameson-Überfalls“ und der Herrn Cecil Rhodes im März 1899 vom Kaiser gegebene Empfang sowie die Weigerung, den Präsidenten von Transvaal im November 1900 zu treffen. Die China-Affäre haben wir bereits erwähnt. Das Reich beteiligte sich nur wenig an den Kreta-Streitigkeiten. Mit der Regierung des Osmanischen Reiches wurde gutes Einvernehmen gepflegt. Im Jahr 1899 erhielt das Deutsche Reich die Konzession für den Bau der Bagdadbahn. Die Anzahl der Kolonien wurde erhöht. 1. um Kiautschou durch einen Pachtvertrag mit dem Himmlischen Reich. 2. um die Karolinen-, die Palau- und die Marianen-Inseln, die 1899 von Spanien abgetreten wurden. 3. um den größten Teil der Samoa-Inseln, die ebenfalls im Jahr 1899 durch einen Vertrag mit England und den Vereinigten Staaten in den Besitz des Deutschen Reiches übergingen. Im Jahr 1898 kam es infolge des Verhaltens, dessen sich einige Beamte des Reiches gegenüber afrikanischen Eingeborenen schuldig gemacht hatten, zu Degradierungen und der Bestrafung der Beamten. Das Budget der Kolonien wurde um 1900 erhöht auf ca. 33 Millionen. In der gleichen Zeit war der Wert des Handels von Deutschland mit seinen Kolonien geringer.

IV Ich komme jetzt zu der Entstehung neuer Ideen. Zunächst werde ich A: die Skizze der Veränderungen der politischen Parteien geben. Die Veränderung der Sozialistischen Partei erregt am stärksten die Aufmerksamkeit. Seit 1890 standen die meisten Kongresse dieser Partei ganz vorne im öffentlichen Interesse wegen des Charakters ihrer Themen und der Heftigkeit ihrer Diskussionen. Auf dem 1891 veranstalteten Kongress von Erfurt, der das Programm verabschiedete, das noch heute gilt, kam es zu einer Abspaltung der „Jungen“, die eine Gruppe mit anarchistischen Tendenzen bildeten. Sie wurde bald unbedeutend. Die folgenden Kongresse fanden statt: 1. Im Jahr 1892 in Berlin. Dort erklärte man die damals herrschende Krise und darüber hinaus den Antisemitismus. 2. Im Jahr 1893 in Köln. Man wurde auf den Kongress aufmerksam wegen einer Diskussion der Gewerkschaftsbewegung, die sehr leidenschaftlich geführt wurde. Er beschloss, auf die Beteiligung an der Wahl des preußischen Landtags wegen des Zensuswahlrechts zu verzichten. Aus praktischen Erwägungen heraus empfahl man die Erstellung einer Arbeitslosenstatistik und die Zulassung von Frauen bei der Fabrikinspektion. 3. Im Jahr 1894 in Frankfurt am Main. Dort begann man mit der Erörterung der Agrarfrage, für deren Untersuchung eine Kommission eingesetzt



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wurde. Die Tatsache, dass die fünf Mitglieder der Bayerischen Kammer für das Budget gestimmt hatten, wurde angegriffen und verteidigt. Man schloss den Kongress mit der Forderung einer sofortigen Organisation der Frauen. 4. Im Jahr 1895 in Breslau. Man verhandelte über den Entwurf eines Programms für die Landwirtschaft, das abgelehnt wurde, weil es dem Fanatismus der Bauern für das Privateigentum entgegenstand. Man beschloss, eine Sammlung der Schriften der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zur Agrarpolitik zu veröffentlichen. Man sprach sich auch für die Ausweitung des allgemeinen und direkten Wahlrechts für die Landtags- und die Kommunalwahlen aus, sowie für die Zulassung der Frauen im politischen und wirtschaftlichen Leben. 5. Im Jahr 1896 in Siebleben nahe Gotha. Dort beschäftigte man sich vor allem mit der Organisation und der Problematik der Frauen. Man sprach sich auch für den Idealismus in der Kunst aus (im Zusammenhang mit einer Kritik der illustrierten Wochenschrift der Partei „Die neue Welt“). 6. Im Jahr 1897 in Hamburg. Der Kongress war wegen der Aufhebung der Resolution des Kölner Kongresses sehr turbulent. In Köln hatte man die Teilnahme an der Wahl des preußischen Landtags untersagt. Dann stimmte man über eine Resolution hinsichtlich polnischer Kandidaturen für den Reichstag ab und für die eventuelle Abstimmung über Gelder für militärische Projekte, die auch das Volk interessieren würden. 7. Im Jahr 1898 in Stuttgart. Hier entstanden sehr wichtige Resolutionen, die zum ersten Mal den Süddeutschen einen entscheidenden Fortschritt hinsichtlich ihrer praktischeren Tendenzen brachten. Im Gegensatz dazu stand die radikale Tendenz einiger von ihnen, die ihre persönliche Meinung unbedingt durchsetzen wollten und einen schlechten Eindruck machten. 8. Im Jahr 1899 in Hannover. Der in Stuttgart aufgebrochene Gegensatz erschien hier noch deutlicher. In der Zwischenzeit wurde die Aufmerksamkeit aller Teilnehmer auf die Freveltat Eduard Bernsteins gelenkt, der der Partei große Dienste geleistet hatte, der in London lebte und die theoretischen Grundlagen des Marxismus angegriffen hatte. Man stimmte einer gegen Bernstein gerichteten Erklärung Bebels zu, der ausführte: dass die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, bis zum heutigen Tage, der Sozialistischen Partei keinen Grund gäbe, ihre grundlegenden Ideen und ihre Einstellung zu dieser Gesellschaft aufzugeben oder zu modifizieren. Die Partei müsse sich jetzt, wie früher, auf der Ebene des Klassenkampfes platzieren. Die Emanzipation der Arbeiterklasse könne nur das eigene Werk dieser Klasse sein. Deshalb sah es dieses Manifest als eine Aufgabe der Arbeiterklasse an, die politische Macht zu erobern. 9. Im Jahr 1900 in Mainz. Dort wurde eine Resolution verabschiedet gegen die Abenteuer im fernen China und die Weltpolitik sowie zugunsten der Buren. Es wurde

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auch ein Antrag abgestimmt, der die Partei verpflichtet, in allen Staaten, in denen das Dreiklassen-Wahlrecht herrscht, mit Parteimitgliedern in den Wahlkampf zu ziehen, die von der Partei benannt worden waren. Die Einnahmen der Parteikasse wuchsen auf 223.866 Mark im Zeitraum 1890–1891 an. Im Zeitraum 1900–1901 waren es 317.934 Mark. Die Partei verfügt über ein Kapital von 400.000 Mark4. Die Anzahl ihrer Stimmen bei den Reichstagswahlen wuchs wie folgt an: Tabelle siehe S. 127. Im Übrigen ist diese Partei in 17 Gesetzgebende Versammlungen der Partikularstaaten mit 75 Abgeordneten eingezogen. Die Liberale Partei Deutschlands, die 1884 zusammengetreten war, auf Veranlassung des Kronprinzen, der später Kaiser Friedrich III. wurde, trennte sich im Jahr 1893 anlässlich der Militärvorlage. Herr Eugen Richter, der Führer der Linken, die als „Liberale Volkspartei“ zusammengetreten war, erachtete die Trennung als notwendig, da die Partei mit gespaltener Front nicht mit Hoffnung auf Erfolg in den Wahlkampf ziehen konnte. Tatsächlich sank die Zahl der Stimmen von: Tabelle siehe S. 128. Die kleinere Gruppe, die sich mehr der politischen Rechten nähert, wird als „Liberale Vereinigung“ bezeichnet. Sie vertritt vor allem die reichen Kaufleute mit der Tendenz zum Freihandel und zum Humanismus. Sie erlebte von 1893 bis 1898 einen starken Rückgang: ihre Stimmenzahl fiel von 258.500 auf 195.700 bei einer gleichen Anzahl von Abgeordneten (13). Der tiefere Grund dieser Spaltung war, dass diese Gruppe den Armee- und Marinemaßnahmen nur eine geringe Opposition entgegenbrachte. In Schleswig-Holstein beschlossen die Vertreter der Liberalen Partei, im Jahr 1894, ihre eigene Organisation beizubehalten und sich keinem der beiden Flügel anzuschließen, die aus der Spaltung hervorgegangen waren. Im Jahr 1897 schlug die „Vereinigung“, die sich gegenüber der Sozialdemokratie politisch geschickt verhalten hatte, eine gemeinsame Aktion im Hinblick auf die Wahlen von 1898 vor, aber Eugen Richter weigerte sich, daran teilzunehmen. Kurz vor den Wahlen wurde dann ein Kompromiss geschlossen, aber er verhinderte nicht den Ausbruch eines neuen Konfliktes. Bei den Wahlen zum preußischen Landtag zeigte sich 4

Zur Entwicklung der Partei während dieser Dekade siehe: von Berlepsch, „Die soziale Entwicklung nach der Aufhebung des Antisozialisten-Gesetzes“ in: Rechenschaftsbericht des Evangelisch-Sozialen Kongresses 1901.



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zum ersten Mal eine Verständigung der Sozialdemokratischen Partei mit den beiden Gruppen. Herr Barth, einer der Chefs der „Vereinigung“ begrüßte diese Verständigung als einen politischen Akt. Die „Volkspartei“ (von Herrn Richter) hielt im Oktober 1900 einen Kongress in Görlitz ab. Dort kritisierte man die gegenüber China eingeschlagene Politik. Man sprach sich auch für die Garantie des Koalitions-, des Assoziations- und des Versammlungsrechts aus. Die „Deutsche Volkspartei“ die in Süddeutschland (besonders in Würt­ temberg und in Frankfurt am Main) vertreten war, stand zwischen der „Liberalen Volkspartei“ und der Sozialdemokratischen Partei. Die Deutsche Volkspartei konnte bei den Reichstagswahlen die Anzahl ihrer Stimmen von 147.600 mit 10 Mandaten im Jahr 1890 auf 166.800 mit 11 Mandaten im Jahr 1893 erhöhen. Im Jahr 1898 fiel sie dann auf 108.500 Stimmen mit 7 Mandaten zurück. Diese Partei ist in ihrer Ausrichtung sozialistischer und weniger monarchistisch, als die beiden liberalen Parteien. Die Nationalliberale Partei zeigt auch eine absteigende Tendenz. Die Anzahl ihrer Stimmen sank von: 1.177.800 Stimmen mit 42 Mandaten im Jahr 1890 auf 997.000 Stimmen mit 53 Mandaten im Jahr 1893 und 971.300 Stimmen mit 51 Mandaten im Jahr 1898. Der Aufstand von Bismarck rief einen Zwist inmitten der Partei hervor. Es gab nun einerseits bedingungslose Anhänger von Bismarck und andererseits die Mehrheit, die der Regierung gegenüber positiv eingestellt war. Die Partei leidet vor allem unter ihrem deutlichen Desinteresse an Fragen der Wirtschaft und des Handels und unter ihrer Unentschlossenheit und ihrem Schwanken in Fragen der Sozialpolitik, denn die Partei wird großenteils, vor allem in Norddeutschland, von den Vertretern der Großindustrie und des Kapitalismus unterstützt. Aber der Beistand der Intellektuellen, die die Partei unter den Beamten rekrutiert, ist für die Partei auch unerlässlich. Im Oktober hielt die Partei eine Versammlung ihrer Delegierten in Berlin ab, die mit viel Energie gewisse liberale Prinzipien stützte, vor allem den „Widerstand gegen die rückständigen Bestrebungen im Bereich der Kirche und des Schulwesens“. Dieser Widerstand kann jedoch kaum in Erwägung gezogen werden, es sei denn von Einzelstaaten. Während die Partei eine reelle und umfassende Bedeutung nur als Partei im Reich und als Partei der Einheit hat. In Anbetracht des Umstands, dass eine große Zahl der Mitglieder der Agrar-Union sich politisch der Nationalliberalen Partei anschließt, wurde im Jahr 1897 versucht, eine Klärung und eine Übereinkunft mit dieser Union, hinsichtlich der Wahlen in der Provinz

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Hannover, herbeizuführen. Dieser Versuch scheiterte jedoch. In Köln trat im Januar 1899 eine „Gesellschaft der nationalliberalen Jugend“ zusammen. Die konservativ-liberale Partei oder Reichspartei wird spöttisch die Botschafter-Partei genannt. Sie könnte sich auch Partei der Magnaten nennen. Innerhalb dieser Partei tritt in der Tat eine Union der alten und der neuen Aristokratie zusammen, nämlich die Großgrundbesitzer, die großen Bergbauunternehmer und die Großindustriellen, denen ihr Reichtum Adel und Einfluss verschafft hat. Gleichzeitig ist das auch die Partei Bismarcks und uneingeschränkt die Partei der Regierung. Aber diese nehmen teilweise auch an der Agrar-Opposition teil und einige Verfechter des Bimetallismus sitzen auch auf ihren Bänken. So hat der Aufstand von Bismarck zu einer starken Gefühlsspaltung unter den Mitgliedern geführt. Im Jahr 1892 schlug sich das offizielle Parteiorgan, „Die Post“ auf die Regierungsseite (d.h. für Caprivi) im Gegensatz zum „Deutschen Wochenblatt“, das dieselbe Partei vertrat, aber gleichzeitig immer noch auf der Seite Bismarcks stand. Der Versuch im Jahr 1893 eine neue Partei zu gründen, die ausschließlich eine „Bismarckpartei“ sein sollte, war auch symptomatisch. In der Auseinandersetzung gegen die Sozialdemokratie, ebenso wie gegen die Unabhängigkeit der Wissenschaft, gegen die Versammlungs- und Assoziationsfreiheit hielt sich diese Partei stets in vorderster Linie. Die Anzahl ihrer Stimmen sank von 482.300 Stimmen mit 20 Mandaten im Jahr 1890 auf 438.000 Stimmen mit 28 Mandaten im Jahr 1893 und auf 343.600 Stimmen mit 21 Mandaten im Jahr 1898. Die Deutschkonservative Partei ist die Partei des alten preußischen Adels, dem es in der politischen Auseinandersetzung schwer fällt, sich in der ersten Reihe zu behaupten. Dieser Partei traten die Großgrundbesitzer aus den anderen Staaten des Reiches bei. Bei diesen Mächtigen suchen auch die Vertreter der alten Berufsverbände Schutz. Daher kam es, dass im Reichstag ein Schneidermeister neben den Edelleuten sitzt. Aber der Charakter dieser Partei ist im Allgemeinen unpopulär und kleine Splittergruppen mit mehr demokratischer Einstellung trennen sich von ihr. Vor allem die „Christlich Sozialen“ und die „Antisemiten“ deren Einstellungen von Herrn Stöcker zusammengefasst wurden, nachdem er 1890 vom König vom Hofpredigeramt suspendiert worden war, versuchten eine neue Sozialmonarchistische Partei zu gründen. Die Deutschkonservative Partei entschloss sich 1891, unter dem indirekten Einfluss von Stöcker und dem direkten Einfluss seines Freundes, des Herrn von Hammerstein, der Chefredakteur der Zeitschrift „Das Kreuz“ war, mittels eines neuen Programms, sich an gewisse sozialistische Tendenzen anzupassen, die zu diesem Zeitpunkt noch von der kaiserlichen Regierung geteilt wurden.



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Nach dem Scheitern des Volksschul-Gesetzes im Jahr 1892 machte sich bereits eine Gruppe bemerkbar, die versuchte, im preußischen Landtag die Partei aus ihrer starken Bindung an die (katholische) Zentrumspartei zu lösen. Im Dezember desselben Jahres wurde ein neues Programm auf einem sehr turbulenten Kongress in Berlin angenommen. In diesem Programm schienen sich die Ansichten von Stöcker durchzusetzen. Die Partei war auch zur selben Zeit und auch später geteilter Meinung zur Frage des Antisemitismus, vor allem wegen der Person des Agitators Ahlwardt. Aber bald zeigte die Auseinandersetzung auf bezeichnende Weise, dass das Interesse der Großgrundbesitzer die eigentliche Seele der Partei repräsentierte. Im Dezember 1893 wurde Reichskanzler Caprivi der Krieg erklärt. Versteckte Angriffe gegen die Person des Kaisers fehlten auch nicht. Dieses und noch andere Ereignisse brachten das protestantische Kirchenblatt der „Reichsbote“ dazu, sich gegen die Zeitschrift „Das Kreuz“ auszusprechen und zugunsten eines gemäßigteren Verhaltens zu plädieren. Eine schwere Niederlage für die Partei der Zeitschrift „Das Kreuz“ kam im Juli 1895, durch die Demaskierung des Herrn von Hammerstein als eines Betrügers. Es folgte die Veröffentlichung eines im Jahr 1890 von Stöcker an Hammerstein gesandten Briefes, der für beide sehr kompromittierend war. Aus dem Brief ging hervor, dass sich beide dafür eingesetzt hatten, beim Kaiser die Entlassung von Bismarck zu fordern. Aus diesen Ereignissen folgte im Januar 1896 der Ausschluss von Stöcker aus der Konservativen Partei. Des Weiteren gab es seitens dieser Partei die Weigerung den christlich-sozialen Tendenzen zuzustimmen, auf deren Darstellung sich Herr Stöcker jetzt in einer Zeitschrift „Das Volk“ beschränkte. Im Februar gründete er eine unabhängige, christlich-soziale Partei. Diese Partei wurde im April heftig von Herrn von Stumm angegriffen, der sich in diesem Fall auf den Kaiser stützte. Bald darauf wurde eine vom Kaiser an Herrn Hinzpeter gerichtete Depesche veröffentlicht, in der der Kaiser sagte: „Politische Priester sind ein Widerspruch, christlicher Sozialismus ist ein Nonsens.“ Im Herbst 1896 vereinigten sich die jungen, „nicht konservativen“ christlichen Sozialisten unter der Führung des Pastors Naumann mit einer neuen Gruppe der Partei, die sich „Nationalsozialer Verein“ nannte. Im Januar 1897 bekräftigten die Konservativen ihre vollständige und dauerhafte Übereinkunft mit der Vereinigung der Landwirte. Im September wurden sehr bittere Erklärungen Bismarcks über die Konservative Partei veröffentlicht, nachdem sein Sohn, obwohl er „wilder“ Abgeordneter war (der keiner parlamentarischen Fraktion angehörte) als erster Redner eines Parteikongresses in Dresden anerkannt wurde. Der „Reichsbote“ schloss bald daraus, dass die Konservative Partei sehr schwer erschüttert war. Im Februar und im März 1898 fanden mehrere

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Kongresse statt, in denen der Bund der Landwirte seine Vormachtstellung durch Annahmen und Ablehnungen demonstrierte. Die Stimmenzahl der Partei wuchs: von 895.100 mit 73 Mandaten im Jahr 1890 auf 1.038.300 mit 72 Mandaten im Jahr 1893 und fiel dann auf 859.200 mit 52 Mandaten im Jahr 1898. Über die Christlich-soziale Partei gibt es nichts zu berichten, denn sie hat keine andere Bedeutung, als allein die der Person von Stöcker, der zum selben Zeitpunkt die Ungnade des Kaisers und die der Konservativen Partei zu erdulden hat. Die „Nationalsozialisten“ erregen mehr Interesse, obwohl sie noch nicht die Bezeichnung Partei einfordern. Sie werden durch die Bezeichnung der „Offiziere ohne Soldaten“ charakterisiert. Sie wollten eine „Nationale Arbeiterpartei“ darstellen und aus dem Sozialismus eine regierungsfähige Partei machen. In dieser Hinsicht haben sie jedoch noch keinen Fortschritt gemacht. Nachdem sie die konservative Uniform abgelegt haben, sind sie mehr und mehr eine Hilfstruppe der Liberalen Partei geworden, in der sie für bürgerliche Freiheiten und die Reform der Handelsgesetzgebung kämpfen – zum Beispiel gegen den Anstieg der Getreidezollabgaben, aber besonders und in erster Linie zugunsten der Arbeiterklasse. Im Winter 1896/97 gründeten sie eine Zeitschrift, „Die Zeit“, die damals Aufsehen erregte, indem sie sich energisch zugunsten der sich im Streik befindlichen Hafenarbeiter einsetzte. Später schloss sich ihr zweiter Direktor, Herr Paul Göhre, ein ehemaliger protestantischer Prediger, der Sozialdemokratischen Partei an. Die von der Gruppe veröffentlichten Arbeiten sind wichtig. Das Werk von Herrn Naumann, „Demokratie und Kaisertum“ erklärt am besten ihr Programm. Bei den Wahlen von 1898 erhielt die Gruppe 27.200 Stimmen ohne gewählten Vertreter. Im Jahr 1894 gab es zwei antisemitische Parteien unterschiedlicher Denomination. Der gesamte Antisemitismus wurde in den Jahren 1892 und 1893 stark durch das öffentliche Verhalten von Herrn Ahlwardt kompromittiert. Einige nannten ihn den Spiritus Rector aller Deutschen, andere zu Recht den Leichengräber des Antisemitismus. Im Jahr 1895 vereinigten sich die verschiedenen antisemitischen Richtungen um eine „Deutsche Sozialreform Partei“ [die „Deutschsoziale Reformpartei“, Anm. des Editors] zu gründen. Diese Partei spaltete sich im Jahr 1900 erneut in zwei nahezu gleiche Gruppen. Die minoritäre Splittergruppe hatte den Wunsch, sich dem Bund der Landwirte, den christlichen Sozialisten und den Konservativen anzunähern. Die Zahl der antisemitischen Stimmen nahm zu, von: 47.500 mit 5 Mandaten im Jahr 1890 auf 263.900 mit 16 Mandaten im Jahr 1893 und 284.300 mit 10 Mandaten im Jahr 1898.



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Der „Bund der Landwirte“ stellt sich im Jahr 1898 als Partei mit 110.400 Stimmen und 5 Mandaten vor; der „Bayrische Bauernbund“ mit 140.300 Stimmen und 3 Mandaten. Die kleinen Protestgruppen der „Polen“, der „Elsässer“ und der „Dänen“ stellen im Laufe der letzten 10 Jahre keine aufsteigende Bewegung dar, im Gegenteil, die relative Anzahl der Stimmen lässt eine leichte Abnahmetendenz erkennen. Zusammengezählt verzeichnete man: 474.300 Stimmen mit 38 Mandaten im Jahr 1890. 460.400 Stimmen mit 35 Mandaten im Jahr 1893 und 472.100 Stimmen mit 32 Mandaten im Jahr 1898. Kommen wir schließlich zur Zentrumspartei. Von der in den Jahren 1871 bis 1880 verurteilten Partei ist sie die führende Partei der Jahre 1891 bis 1900 geworden. Ihre Anpassung an die Regierung zeigte sich auf höchst signifikante Weise im Herbst 1891 mit einer flammenden Polemik gegen die Äußerungen der Zeitschriften des Vatikans, die der deutschen Politik feindlich gesonnen waren. Bald nahmen die Schwierigkeiten zu, die entstehen, wenn in ein und derselben Partei eine eher aristokratische und eine eher demokratische Richtung aufzunehmen sind. Der neue Chef, Herr Lieber, konnte nicht mit seinem Vorgänger Windthorst mithalten. Die Partei konnte ihr Existenzrecht nur dadurch unter Beweis stellen, dass sie sich ständig mit der Religionsfreiheit, der schwierigen Situation der Kirche, der Souveränität des Papstes und der ungelösten Jesuitenfrage beschäftigte. Die Jahreskongresse der Katholiken sind in der Folgezeit gleichzeitig Kongresse der Zentrumspartei. Im Jahr 1893 veröffentlichte die Zentrumspartei ein christlich-sozialistisches Programm, das ziemlich im Gegensatz zu den Interessen der Arbeiterklasse stand. Im Jahr 1894 war die Rede vom Niedergang der Zentrumspartei in ihren besten Wahlkreisen Oberschlesiens. Herr Lieber hatte harte Angriffe zu ertragen. Er nannte das Scheitern der „Umsturzvorlage“ von 1895 einen Triumph des Liberalismus und des Sozialismus. Die Agrarbewegung erlebte auch einige Abspaltungen, vor allem in den Rheinprovinzen. Trotzdem wurde die Partei gestärkt durch die moralische Schwäche der protestantischen Konservativen, die sich, nach Aussage eines ihrer Blätter („Die Post“ vom 20. Juli 1896) gegenüber der Zentrumspartei in einem unnatürlichen Abhängigkeitsverhältnis befanden. Im selben Jahr schloss sich auf dem Dortmunder Katholikentag „Die Einheit des katholischen Deutschlands“ zusammen. Im Jahr 1897 versuchte die Partei sich für den Kaiser unentbehrlich zu machen, im Hinblick auf die Marinevorlage, während er zur gleichen Zeit die Regierung Hohenlohe-Miquel untergrub. Aber im gleichen Jahr kam es zu einem Bruch zwischen der Zentrumspartei und dem „Bayrischen Bauernbund“. Im Jahr 1898 erklärte Herr Lieber: „Wir

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sind nicht die Partei der Regierung, aber wir sind die regierende Partei geworden.“ Es war ebenso ganz offensichtlich immer schwerer die innere Einheit der Partei aufrecht zu erhalten, denn die bayerischen Abgeordneten hatten sich nur gegen ihren Willen für die Marinevorlage gewinnen lassen. Im September 1892 bezeichnete Herr Lieber die Sozialdemokratie als eine Todfeindin der Zentrumspartei und wies gleichzeitig darauf hin, dass der preußische Minister Miquel nichts so sehr, noch so offensichtlich wünschte, als die Zentrumspartei aus ihrer führenden Position zu vertreiben. Nachdem Herr Lieber im Herbst 1900 von einer schweren Krankheit genesen war, erschien erneut die Einheit der Partei vorübergehend. Im selben Jahr erregte ein Gesetzentwurf zur religiösen Toleranz Aufsehen, der von der Zentrumspartei ausging und der im Gegensatz zu dem Prinzip der katholischen Alleinvertretung zu stehen schien. Die Stimmenzahl der Partei bei der Reichstagswahl stieg von 1.342.100 Stimmen mit 106 Mandaten im Jahr 1890 auf 1.468.500 Stimmen mit 96 Mandaten im Jahr 1893. Sie sank aber auf 1.455.100 Stimmen mit 102 Mandaten im Jahr 1898. Um mit den Parteien zum Schluss zu kommen, müssen wir noch die Gründung eines großen politischen Vereins im Jahr 1898 erwähnen, nämlich des Flottenvereins, der zu einer heftigen Aufregung führte und der beachtliche Folge hatte, mit der kräftigen Unterstützung des Kaisers und der Regierungen. Das Zentrum, als politische Partei gesehen, veranlasst uns sogleich zu sprechen B) über die Interessenlage der Kirche. Die Existenz der Zentrumspartei ist eine wesentliche Voraussetzung der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland geworden. Innerhalb der Kirche wird ein stiller Kampf ausgetragen zwischen der strengen römischen Richtung, vertreten durch den Jesuitenorden und der weniger unerbittlichen Richtung der deutschen Bischöfe und der theologischen Fakultäten. Der Antrag der Beendigung des Exils der Jesuiten wird vom Zentrum nicht gestellt, wegen einer Gefühlsregung, obgleich die Presse dieser Partei ihn unaufhörlich und dringend fordert. Im Jahr 1891 fand im Dom zu Trier die Ausstellung des Heiligen Rockes statt, für die der Papst den Pilgern einen Ablass von 6 Monaten gewährte. Wie im Jahr 1844 trat diesem Reliquienkult innerhalb des Klerus Widerstand entgegen, obwohl diesmal in einer abgeschwächteren Form als damals. Zwei Millionen Pilger trafen in Trier im Zeitraum von acht Wochen ein. Am Ende dieses Jahres erregte auch die Ratifizierung der angekündigten Ernennung von F. von Stablewski zum Bischof von Posen, großes Aufsehen. Das war eine Konzession der Regierung einerseits an die polnische Nation und andererseits an die katholische Kirche. Im selben Jahr ereignete sich auch in Bayern eine Teufelsaustreibung durch einen Kapuzinerpater. Im Jahr 1893 vollzog der westfälische



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Graf Paul Hoensbroech seinen Austritt aus dem Jesuitenorden, den er in einem Bericht erläuterte. Später konvertierte er zum Protestantismus. Im Jahr 1895 veröffentlichten die preußischen Bischöfe einen an den Papst gerichteten Protestbrief anlässlich des Jubiläums der Einnahme Roms durch den König von Italien. Im Jahr 1896 veröffentlichten dieselben Bischöfe einen zwei Jahre zuvor an den Reichskanzler Caprivi gerichteten Antrag (einen Antrag, der unbeantwortet geblieben war) in dem sie sich über religionsfeindliche Aktionen der Gesellschaft beschwerten und dies im Interesse der moralischen Kultur. Gleichzeitig klagten sie die jedes religiösen Charakters bare Wissenschaft an, der Urheber der Verbreitung einer lasziven Literatur zu sein. Im Gegensatz dazu sprach sich im Jahr 1897 ein Weihbischof von Köln gegen die „konfessionelle Provokation“ aus. Im Herbst 1898 wurde das Haus, „Die Ruhestätte der Heiligen Jungfrau“ in Jerusalem, den deutschen katholischen Gesellschaften von Jerusalem vom Kaiser vermacht. Der Kaiser besuchte die heiligen Stätten zur großen Genugtuung der preußischen Bischöfe, wie auch der deutschen Katholiken und des Papstes. Im selben Jahr wirbelte ein von dem Apologetik-Professor Schell aus Würzburg (Bayern), hervorgerufenes Ereignis den Staub des Ultramontanismus auf. Schell hatte in mehreren Schriften die Idee verteidigt, dass die unabhängige wissenschaftliche Forschung mit dem katholischen Glauben vereinbar wäre. Vor allem sein Werk „Der Katholizismus als Prinzip des Fortschritts“ (1897) wurde am meisten diskutiert. Am 1. Dezember wurden dieses Werk und drei weitere von der Index-Kongregation verurteilt. Im März 1899 beteuerte der Professor seine Unterwerfung unter das Dekret. Im August 1900 veröffentlichten die versammelten preußischen Bischöfe einen Hirtenbrief, der Stellung nahm zu der sozialen Bewegung unserer Zeit und zu den katholischen Arbeitervereinen, die sich nach dem Hirtenbrief, wie in der Vergangenheit, unter die Schutzherrschaft des Klerus stellen sollten. Hinzu kam noch eine Publikation des Erzbischofs von Freiburg, der sich mit aller Kraft gegen die „Gewerkschaften christlicher Arbeiter“ aussprach. Diese Publikation hatte am 8. November ein Protestschreiben der Hauptversammlung dieser christlichen Berufsverbände zur Folge, in dem sie erklärte, dass ihr Ziel ein Zusammenschluss aller Arbeiter in einer einzigen Organisation sei. Wir können sagen, dass sogar die zukünftige Stellung der katholischen Kirche in Deutschland, in hohem Maße vom sozialen Wandel in der Arbeiterschaft abhängen wird. Die protestantischen Kirchen zeigen, aufgrund ihrer eigenen Veranlagung, viel mehr öffentliche und innere Konflikte als die katholische Kirche. Dennoch ist deren allgemeine Bedeutung sehr oft geringfügiger. Im Jahr 1891 erregte der „Heilige Rock“ protestantische Protestaktio-

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nen seitens des Evangelischen Bundes und der liberalen protestantischen Vereinigung. Der Evangelische Bund, eine Vereinigung, die ausdrücklich gegen die katholische Kirche im Jahr 1886 gegründet wurde, veranstaltete im Oktober 1892 eine Generalversammlung, aus der eine an die Protestanten gerichtete Proklamation hervorging, die die Verteidigung gegen den Katholizismus rechtfertigen sollte. Im selben Jahr brach ein Kampf über das „Apostolikum“ unter den Parteien des Protestantismus aus. Er hatte als wesentliche Ursache die Ereignisse, die sich in der württembergischen Kirche zugetragen hatten, wo ein Pastor, Herr Schrempf, sich geweigert hatte, von nun an, dieses Glaubensbekenntnis einzusetzen und der daraufhin abgesetzt wurde. Der Theologieprofessor Harnack aus Berlin verbreitete eine Meinung, die als Ablehnung dieses Bekenntnisses angesehen wurde und die einen Sturm der Entrüstung bei den Strenggläubigen auslöste. Aus diesem Anlass hielt der Kaiser eine Rede, in der er erklärte, dass er in Glaubensdingen keine Ausübung von Zwang gestatte. Neue Unruhe kam in den ersten Monaten des Jahres 1894 auf. Dabei ging es um den Entwurf eines Rituales der gemischten Kirche (Verordnung für den Gottesdienst) in Preußen, denn dieser Entwurf war in Form eines Glaubensgesetzes erschienen. Das neue Kirchengesetz dieses Jahres ging in Richtung der Orthodoxie. Es forderte gegenüber dem Staat eine große Unabhängigkeit und eine Ausweitung der Macht der Generalsynode. Im Jahr 1894 gelang es, in dieser Synode den Entwurf des Rituales in etwas gemilderter Form anzuerkennen. Zur selben Zeit wurden, infolge der Rede des Kaisers über die Revolution, heftige Angriffe gegen die liberalen Theologieprofessoren gerichtet, die man als Vorkämpfer der Sozialdemokratie ansah. In Württemberg zeitigte der „Fall Schrempf“ noch Nachwirkungen. Die Vorwürfe gegen die Theologiefakultäten Preußens setzten sich bis ins Jahr 1895 fort. Ein gegenteiliger Angriff kam im Jahr 1896 aus Eisenach von der Konferenz der „Freunde der christlichen Welt“ (eine Wochenzeitschrift liberaler Theologie), auf der die Professoren Harnack und Kaftan von der Berliner Universität den Ton angaben. Ihre Gegner nannten diese Konferenz ein Pronunziamento der „revolutionären Theologie“. Im Oktober dieses Jahres kam es auf der Provinzialsynode von Brandenburg zu einem scharfen Konflikt zwischen den gegensätzlichen Ansichten. In Württemberg kam es zu einer neuen Entlassung eines Pastors, wegen „Aufstands gegen die Kirchengesetze“. Der Präsident der evangelischen Union erklärte 1897 auf der Jahresversammlung dieser Union, dass die Gefahr des Ultramontanismus größer wäre, als die der Sozialdemokratie. Ein anderer Redner erklärte, dass in diesem letzten Viertel des Jahrhunderts, der „Trumpf“ in jeglicher Hinsicht auf der katholischen Seite wäre, in den deutschen Fürstenhäusern und im Reichstag,



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im täglichen Leben und in der Gerichtsbarkeit. Ein Dritter prangerte den Papismus als den unversöhnlichen Gegner des Staates, der Gesellschaft und der Nation an. Er klagte an, dass Rom mit der sozialen Revolution spekuliere. Hier, wie auf der preußischen Generalsynode im November, war es die Canisius-Enzyklika des Papstes, die mit ihren Beleidigungen gegenüber Luther und seinem Werk, die Geister erregte. Im selben und in den folgenden Jahren rüttelte die protestantische Bewegung in Österreich mit ihrem Appell „Befreien wir uns von Rom“ auch die Sympathien der deutschen Protestanten auf. Aber hier und da gab es auch Skrupel wegen seines sehr ausgeprägten politischen Charakters. Im Jahr 1899 war der „Fall Weingart“ Grund für eine neue Auseinandersetzung. Ein Pastor wurde vom Konsistorium der Provinz Hannover (die nicht zur Vereinigten Kirche Preußens gehört) wegen seiner Irrlehre des Amtes enthoben. Eine Petition des Gestraften und eine Bittschrift von 11.000 Personen, die dem König mit der Bitte übersandt wurden, die verhängte Strafe auf dem Wege eines Gnadengesuchs aufzuheben oder abzumildern, wurden im Januar 1900 abgewiesen. Das war umso seltsamer, als die Vereinigte Kirche Preußens der erklärte Feind des lutherischen Konfessionalismus ist, der in der Provinz Hannover vorherrscht. Aber es sind nicht konfessionelle Fragen, die den protestantischen Geist umtreiben. Es ist vielmehr die soziale Frage, die die jungen Pastoren aufgrund ihres Ehrgeizes, ihres Pflichtbewusstseins und der an der Universität erhaltenen Impulse antreibt. Die Erlasse des Kaisers vom Februar 1900 haben dem christlichen Sozialismus auch einen starken Impuls gegeben. Die versiertesten kirchlichen Autoritäten ermutigten die Geistlichen zur Teilnahme an dieser Bewegung. Aber nachdem in den höchsten Kreisen ein eisiger Wind geblasen hatte, zog man es vor, diese Position aufzugeben, und blies zum Rückzug. Im Dezember 1895 wurde eine Verordnung des Großen Kirchenrates gegen die sozialistisch-christliche Agitation veröffentlicht. Der Einfluss von Herrn von Stumm schien hier auf seinem Höhepunkt zu sein. Der „Evangelisch-Soziale Kongress“ versuchte ein Zentrum des Widerstands zu bilden. Das ist eine Versammlung, die jährlich zusammentritt. Seit 1890 sind dazu Protestanten hinzugetreten, die jedoch hinsichtlich Kirche und Religion weit voneinander entfernt sind. Zunächst setzte sich in der Versammlung der orthodoxe Flügel durch und dann später der liberale Flügel, so dass im Jahr 1898 Herr Stöcker mit seinen Freunden einen neuen kirchlichen Kongress mit sozialer Ausrichtung gründete. Dieser hat aber nur eine unbedeutende Rolle gespielt. Unter allen Versammlungen des Evangelisch-sozialen Kongresses erregte der von Erfurt im Jahre 1895 Aufsehen infolge einer Rede von Frau Gnauck, zur sozialen Frage der Frauen. Die Versammlung

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von Stuttgart im Jahre 1896 wendete sich mit scharfen Reden gegen die oben genannte Verordnung des Großen preußischen Kirchenrats. Im Jahr 1897 stellte man fest, dass der Kongress, der in keiner Weise mehr die Gunst der Autoritäten besaß, viel von seinem Ansehen und seiner Bedeutung verloren hatte. Die Versammlung von Leipzig machte jedoch viel von sich reden, wegen zweier Reden, die von einem Widerspruchsgeist getragen waren. Doktor Oldenbourg sprach über „Deutschland ein Industriestaat“ und Professor Schmoller über die „Mittelschicht“. Jener untersuchte die wirtschaftliche Entwicklung unter einem ungünstigen Licht, dieser unter einem günstigen. Ziel und Bedeutung der Gesellschaft für Sozialpolitik, die von Professor Schmoller geleitet wird, gehen hauptsächlich aus seinen Umfragen und Publikationen hervor. Die bedeutendsten in den letzten zehn Jahren sind die über die Landarbeiter von 1891–1892 und die über die kleinen Handwerker von 1896–1897. Die Versammlung der Gesellschaft in Köln, im Jahre 1897, zog die Aufmerksamkeit auf sich durch einen Toast des ehemaligen preußischen Handelsministers, Herrn von Berlepsch – einen Toast auf den „Vierten Stand“. Die wichtigsten Mitglieder dieser Gesellschaft nahmen an der internationalen Konferenz zum Arbeitsschutz teil, die im Juli 1900 in Paris stattfand. Sie gründeten in Berlin eine Sektion der Internationalen Liga, von der ein Appell ausging zur Bildung „einer Gesellschaft für Sozialreform“, dessen gewählter Präsident Herr von Berlepsch wurde. Im Oktober 1893 fand in Frankfurt am Main ein Kongress statt, der zum Thema die Diskussion der Problematik der Arbeitslosigkeit und der Regulierung des Arbeitsmarktes hatte. Die Berufsgewerkschaften nahmen daran teil. Die Chefs der politischen Partei der Sozialisten missbilligten dies aufs schärfste, denn sie sahen in dieser Teilnahme einen Kompromiss mit der Bourgeoisie. An die Sozialpolitik gliedert sich eng die Ethische Bewegung an, die sich im Jahr 1892 zu der „Gesellschaft für ethische Kultur“ herauskristallisierte. Diese Gesellschaft fand keine große Ausdehnung und vereinigte sich, im Jahr 1895, mit ähnlichen Gesellschaften anderer Länder, um den „Ethischen Bund“ zu schaffen, dessen Angelegenheiten von einem Sekretariat mit Sitz in Zürich geführt werden. Diese Gesellschaft hat in Deutschland den ersten öffentlichen Lesesaal (im Jahr 1894 in Berlin) eingerichtet. Im Jahr 1896 organisierte sie in Zürich einen Studiengang für Sozial- und Moralwissenschaften. Dieser machte Reklame für die Idee der Ausweitung der Universität oder der Volkshochschule. Die beiden Formen der Umsetzung dieser Idee wurden seitdem verwirklicht und haben, in den zehn letzten Jahren, eine gewisse Bedeutung erlangt. Man sollte die religiösen Bemühungen des Herrn von Egidy aufzeigen, der im-



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mer mehr ein Ziel verfolgte, das dem der Ethischen Bewegung glich. Im Jahr 1898 endeten diese Bemühungen vorzeitig mit dem Tod dieses ernsthaften und mutigen Mannes. Alle diese Bestrebungen aus den Bereichen der Ethik und der Sozialpolitik trugen dazu bei, die feministische Problematik zu akzentuieren, wofür die Vorkämpfer beiderlei Geschlechts einen großen Eifer entwickelten und nicht weniger auch die der Proletarischen Frauenbewegung (deren Organ „Die Gleichheit“ aus Stuttgart ist) als auch die der „Bourgeoisen“ Bewegung (deren Organ „Die Frauenbewegung“, eine Wochenzeitschrift aus Berlin, ist). Gegen Ende des Jahrhunderts erreichte man, dass in fast allen Universitäten des Reiches Frauen, unter Bedingungen, zugelassen wurden. Mehrere Staaten ergriffen die Initiative und ernannten Frauen für die Inspektion der Werkstätten und der Fabriken. Was die moralische Situation anbelangt, so kann man in Laufe einer Zehnjahresperiode keine wichtigen Veränderungen erwarten. Die Zahlen der Kriminalstatistik sind kürzlich bis zum Jahr 1893 angegeben worden (Revue, IV, S. 60). Ich gebe die Daten seit 1891 mit kleinen Korrekturen wieder und füge auch die des späteren Zeitraums bis zum Jahr 1900 hinzu. Von 10.000 der Gerichtsbarkeit unterworfenen Personen wurden verurteilt: Tabelle siehe S. 142. Dank dieser Zahlen sehen wir, dass die Delikte gegen Personen einen fast konstanten Zuwachs ausweisen und die gegen Sachen einen leichten Rückgang haben. Man sollte sich jedoch hüten, aus diesen Betrachtungen zu schnelle Schlüsse zu ziehen. Diese Zunahme resultiert teils aus der größeren Häufigkeit eines Deliktes, das keinen kriminellen Charakter hat, das Delikt der „Beleidigung“ (das meistens aufgrund von Privatklagen verfolgt wird), teils resultiert sie infolge des Deliktes der „gefährlichen Körperverletzung“, das in den meisten Fällen völlig unbedeutend ist, aber das mit einer immer zunehmenden Härte von der Polizei, gegen die Arbeiterjugend, verfolgt wird. Aber der Rückgang der Verurteilungen wegen Eigentumsdelikten ist zurückzuführen (wie in England) auf die konstante Abnahme der Verurteilungen wegen „einfachen Diebstahls“. Die genannte Abnahme erklärt sich ausreichend mit der Tatsache, dass in den Städten, die unaufhörlich immer größer werden, einerseits die große Anzahl der kleinen Diebstähle weniger Beachtung findet und andererseits die Entdeckung der Schuldigen viel schwieriger geworden ist. Wir stellen im Gegenteil eine konstante Zunahme fest, bis hin zu den raffiniertesten

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Delikten, wie Unterschlagungen, Falschaussagen und vor allem Betrügereien. Das ist eine natürliche Folge der Entwicklung der Geschäfte und ein umso vielsagenderes Phänomen, da genau diese Methode darin besteht, den nächsten Angehörigen zu schaden. Sie endet meistens damit, dass denjenigen, die sich dieser Delikte schuldig gemacht haben, der Ruf ehrbarer Bürger zufällt und dass diese Tatsachen nur in sehr geringem Maße den Richtern zur Kenntnis gebracht wird. Andererseits kann man sehr deutlich, als positives Ergebnis unseres Sozialverhaltens, die konstante Abnahme der Landstreicherei feststellen. Diesbezüglich kann man eine sehr genaue Vorstellung haben, durch die Anzahl der Verfahren, die mit diesem Vergehen zu tun haben, denn dieses Vergehen ergibt sich, in den meisten Fällen, aus den Umständen der Bettelei. Während von 1881–1882 im Durchschnitt jährlich 276.842 Taten dieser Art vor die Gerichte kamen, zählt man im Durchschnitt: Tabelle siehe S. 143. Leider ist seit 1900 eine Zunahme zu verzeichnen gewesen. Was die Zahl der Selbstmorde anbetrifft, so wurde in Preußen eine leichte Abnahme verzeichnet. Seit 1897 wurde die Zahl der Selbstmorde im Reich ermittelt. Der Durchschnitt in den Jahren 1897 bis 1899 lag bei 20 pro 10.000 Einwohner. Aber wenn man jeweils dieselbe Anzahl Einwohner männlichen Geschlechts nimmt und dieselbe weiblichen Geschlechts, so stellt man im ersten Fall 32 Selbstmorde pro 10.000 bei den Männern fest und im zweiten Fall 8 Selbstmorde pro 10.000 bei den Frauen. Aber dieser Durchschnitt wird bei weitem überschritten in den preußischen Provinzen Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein, im Königreich Sachsen und den kleinen Staaten Thüringen, Oldenburg, Braunschweig und den drei Freien Städten. Im Gegensatz dazu bleiben die östlichen Provinzen Preußens und Westfalens, die Länder des Rheinlands, die beiden Lippe und Elsass-Lothringen deutlich unter dem Durchschnitt. Es ist oft behauptet worden, dass man eine Zunahme feststellt, einerseits der durch Alkohol verursachten Krankheiten und andererseits Fälle von Wahnsinn, die auf Alkoholismus zurückzuführen sind. Wenn man, wie es sich gehört, die Statistiken dieser Fälle durchsieht, d.h. wenn man dem rapiden Anwachsen der Bevölkerung Rechnung trägt, die leichten Zugang zu öffentlichen Krankenhäusern hat, so findet man dort nicht den Beweis für diese Behauptung. Jedoch stellt man auch keinen Rückgang dieser Fälle fest. Aber man kann doch eine Zunahme von Geisteskrankheiten und der Anlage dazu feststellen, die ohne Zweifel durch den Konsum von Alkohol beschleunigt werden. Eine starke Bewegung gegen



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diesen Konsum ist gerade im Entstehen. Der „Gut-Templer-Orden“ hat in den letzten Jahren in Norddeutschland die Zahl seiner Mitglieder beträchtlich gesteigert. Eine andere Bewegung, die das Ziel hat, die jungen Männer von sexuellen Lastern fernzuhalten, ist auch entstanden und hat sehr schnell die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen, dank der Autorität einer ganzen Anzahl von Ärzten. Der Internationale Bund für den Kampf gegen die Regelung der Prostitution, deren Monstrositäten von Zeit zu Zeit ans Licht kommen, hat in Deutschland viele Anhänger gefunden, vor allem unter den Frauen. Er hat auch eine Sektion gegründet. Werfen wir jetzt einen Blick auf die Entwicklung der Künste und der Wissenschaften. 1. Die Architektur. – Diese letzten zehn Jahre sind reich an neuen Kulturdenkmälern. Es verdienen genannt zu werden: die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der Palast des Deutschen Reichstags und das Preußische Abgeordnetenhaus sowie das Palais der Kaiserlichen Post – alle in Berlin. Das neue Rathaus von Hamburg trägt, aufgrund seiner Schönheit, den Sieg davon. Es ist das Werk von 9 Architekten an deren Spitze der Hamburger Martin Haller steht. 2. Die Bildhauerkunst. – Sie wird vor allem anerkannt, weil sie dynastischen Interessen dient. Tatsächlich orderte der Kaiser, auf seine Kosten, im Jahre 1898 bei einer bestimmten Anzahl von Bildhauern, an deren Spitze man R. Begas nennen muss, die Marmorstatuen der Markgrafen und der Fürsten des Hauses Brandenburg, sowie die der preußischen Könige. Diese Standbilder waren dazu bestimmt, in der „Siegesallee“ in Berlin aufgestellt zu werden. Zu Füßen jeder Statue befinden sich die Büsten von zwei markanten Zeitgenossen, ein Soldat und ein Zivilist, sodass, zum Beispiel, Kant die Ehre hat dem Gedenken an Friedrich Wilhelm II., der Dicke genannt, zu dienen. Ein „Nationaldenkmal“ wurde, ganz bewusst in Berlin, zum Gedenken an Wilhelm I. nach dem Entwurf von R. Begas errichtet. In einer sehr großen Anzahl anderer Städte sind Denkmäler errichtet worden, zum Andenken an diesen Kaiser und ebenso an Bismarck. 3. Die Malerei ist vom Mäzenatentum der Fürsten unabhängig geblieben. Der Kaiser ist den Tendenzen der jungen Künstler wenig gewogen. Sie haben sich in Berlin ein eigenes Denkmal gegeben und einen Salon, der sich von der akademischen Ausstellung absetzt und der sich „Sezessions-Galerie“ nennt. Unter den Berliner Künstlern zeichnen sich aus: Klinger, Liebermann, Soarbrüe, Hofmann, Alberts. Die Münchner Thoma, Leibl und Uhde gewinnen zunehmend die allgemeine Gunst. Aber alle verblassen vor der Berühmtheit des Baslers Arnold Böcklin, der vor

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20 Jahren nicht geschätzt wurde, der sogar oft verspottet wurde, aber der jetzt in Mode gekommen ist und verehrt wird. Außer seiner genialen Begabung für die Malerei hat er auch eine sehr ausgeprägte Vorliebe für das Bizarre und das Einzigartige. Im Übrigen beginnen viele Künstler sich der lokalen Kunst zu widmen. Eine Künstlerkolonie lässt sich in dem Dorf Worpswede, nahe von Bremen, unter der Leitung von Mackensen nieder. 4. Die schöne Literatur macht vor allem im Drama Fortschritte. An der Spitze halten sich noch Gerhart Hauptmann und Hermann Sudermann. Allerdings wurden auch viele junge Schriftsteller, wie Halbe, Philippi, Dreyer und O. Ernst geschätzt und ihnen applaudiert. Im Bereich der Lyrik haben sich Liliencron, Falke, Dehmel, Busse, Jacobowski, (im Jahr 1900 gestorben) mit Erfolg versucht. In der Epik haben sich Sturm, Hart, Pungst versucht. Der Roman und die Novelle verfügen noch über einige alte Meister, wie Paul Heyse, Wilhem Raabe, Friedrich Spielhagen. Der Humorist H. Seidel und andere wie K. Telmann (gestorben 1899), W. von Polenz, G. von Ompteda, die sich sozialen Studien widmen, erfreuen sich der Gunst der Kenner. Die Österreicher Rosegger und Ganghofer zählen zu den meistgelesenen Schriftstellern. Aber die Erzählkunst ist immer mehr die Domäne der Frauen geworden. Unter ihnen zeichnet sich auch eine Österreicherin aus: Frau von Ebner-Eschenbach. Bekannt geworden sind auch die Damen Andreas-Salomé, Klara Viebig, Ricarda Huch, Ilse Frapan, Charlotte Niese, Luise Schenck, Bernhardine SchulzeSmidt, und viele andere. Mehrere richten auch ihre Aufmerksamkeit auf soziale Probleme. Aber in diesem Bereich sind es meistens die Werke ausländischer Autoren, die allgemein die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Diese Werke werden mal im Original, mal in Übersetzungen gelesen, so z.B. die Werke von Tolstoi, Zola, Maupassant, und die der Norweger Björnson, Kjelland, Lie, usw. Was im Allgemeinen das Geistesleben und die Philosophie anbetrifft, so ist das überragende Ereignis natürlich der beträchtliche Einfluss, den während der letzten zehn Jahre, die Werke Friedrich Nietzsches ausgeübt haben. Das unglückliche Leben Nietzsches fand im August 1900 sein Ende. Vor allem in der Kunst und der Literatur hat sich dieser Einfluss stark bemerkbar gemacht. Wir haben uns in einer gesonderten Studie mit den Ursprüngen und Motiven dieses Einflusses auseinandergesetzt5. Der unerhörte Erfolg, den man „Rembrandt als Erzieher“ (1891), dem anonymen und bizarren Werk zollte, das zweifellos reich an spirituellen Fantasien ist, ist dieser übertriebenen Gunst geschuldet. Am Ende des Jahrhunderts hatte auch das Werk des berühmten Zoologen Ernest 5

Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik von F. Tönnies. Leipzig, O. R. Reisland, 1897.



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Haeckel, „Die Rätsel der Welt“ einen sehr großen Erfolg, der von den Philosophen scharf kritisiert wurde. Außerdem konnten die Philosophen Dühring und von Hartmann, die keiner Universität angehören, und Paulsen, Wundt und Eucken als Universitätsangehörige, den Kreis ihrer Leser erweitern. Die Akademie der Wissenschaften von Berlin hat begonnen eine große Ausgabe der Werke, Briefe und posthumen Schriften von Kant herauszugeben. Im Jahr 1900 feierte diese Akademie ihr zweites Jubiläum. Zu diesem Anlass wurde eine Geschichte der Akademie von Harnack herausgegeben. Unter dem Titel „Die Klassiker der Philosophie“ ist eine Reihe Monographien (Stuttgart, Fromann) über die wichtigsten deutschen und ausländischen Denker erschienen. Was die Pädagogik angeht, so hat die „Sozialpädagogik“ von Natorp zu etwas Aufregung geführt und eine Polemik unter den Volksschullehrern aufgeworfen, die Anhänger der pädagogischen Lehre von Herbart sind. Diese Lehre hat eher einen individualistischen Charakter, während Natorp und seine Anhänger den Vertretern Herbarts das sozialistische System Pestalozzis entgegengesetzt haben. In den Naturwissenschaften müssen wir auf die Untersuchungen zur Elektrizität hinweisen, die stets zu neuen Entdeckungen führen. Die Röntgenstrahlen des Professors Röntgen aus Würzburg machten, wie wir wissen, Epoche. Die Elektrizität trat dank der Theorie und der Entdeckungen von Heinrich Hertz hervor, der durch einen vorzeitigen Tod der Wissenschaft genommen wurde. Unter den Schriften, die er zurückließ, wurde ein mechanisches System (1894) veröffentlicht. Die Energieproblematik wird ausgezeichnet von dem Professor der physiologischen Chemie aus Leipzig, Osthoff [Friedrich Wilhelm Ostwald?], vertreten. Seine Rede „Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus“ auf dem Kongress der deutschen Naturforscher und Ärzte in Lübeck, im Jahr 1898, fand große Beachtung. In der Medizin sind die erreichten Fortschritte im Bereich der Mikrobiologie zu nennen und die Entdeckung des Antidiphtherie-Serums durch Professor Behring. Aber wir müssen auch die Fortschritte der Suggestions-Therapie und der psychologischen Behandlung aufzeigen. Die Theorie der Hypnose wurde viel studiert und vorangetrieben durch Doktor Oskar Vogt aus Berlin. Im Bereich der Biologie hat man sich gründlich mit den Problemen der Vererbung befasst. Dabei wurde vor allem die oft modifizierte Theorie von Weismann überdacht. Seine Hauptstudie zu diesem Thema ist 1892 erschienen. Das Werk „Amphimixis“ erschien im Jahr 1891 und das über den Fortbestand des Keimplasmas im Jahr 1893. Sein Hauptgegner war der Tübinger Professor Eimer (im Jahr 1900 gestorben), dessen zweiter

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Band, seines Werkes über die Entstehung der Arten im Jahr 1897 erschienen ist. Die Polemik zwischen Weismann und Spencer über die Vererbung gehört zur internationalen Literatur. Der Einfluss der Biologie auf die Soziologie mittels Analogieschlüssen hat viel von seiner Bedeutung verloren, obwohl Schäffle von seinem berühmten Buch eine neue gekürzte Ausgabe (1899) herausgegeben hat. Im Gegenteil, die Verwendung des Darwinismus ganz besonders in der Form, die ihm allein Weismann gegeben hat, ist von denjenigen positiv aufgenommen worden, die dachten daraus eine Waffe gegen den Sozialismus machen zu können. Otto Ammon veröffentlichte „Der Darwinismus gegen die Sozialdemokratie“ (1891), „Die natürliche Auslese beim Menschen“ und „Die Gesellschaftsordnung und ihre natürliche Grundlage“. Ludwig Stein veröffentlichte ein populärwissenschaftliches Werk, das reich an kurzen Überblicken ist: „Die soziale Frage im Lichte der Philosophie“ (1897). Von Paul Barth erschien im Jahr 1897 der erste Band von „Die Philosophie der Geschichte als Soziologie“. Von G. Simmel erschien im Jahr 1900 „Die Philosophie des Geldes“. Das „Wörterbuch der Sozialwissenschaften“ wurde im Jahr 1894 beendet und gleich darauf begann die Veröffentlichung einer veränderten Neuausgabe, die im Jahr 1900 fast vollständig war. In dieser allgemeinen Ausgabe wird die Wissenschaft der Gesellschaft und des Staates nur unvollständig behandelt. Jedoch ist es ein sehr wertvolles Verzeichnis wirtschaftlicher und allgemein statistischer Erscheinungen. Von Adolph Wagner erschienen in einer dritten, beträchtlich erweiterten Ausgabe, die „Grundlegung der politischen Ökonomie“. Friedrich Engels veröffentlichte, auf der Grundlage der von Karl Marx hinterlassenen Schriften, im Jahr 1894 den 3. Band des „Kapitals“. Von H. Herkner erschien im Jahr 1897 „Die Arbeiterfrage“. Von M. Sombart erschien zunächst im Jahr 1896 das Werk „Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert“, später in anderen Ausgaben und in Übersetzungen. Ein großes Werk über Statistik wurde in 2 Bänden von G. von Mayr (1895–97) begonnen. A. Buchenberger (Minister in Baden) veröffentlichte auch 2 Bände über die Landwirtschaft und die Agrar-Gesetze (1892–93). L. Brentano aus München brachte (1894) den ersten Band zum gleichen Thema heraus. Im Jahr 1900 erschien der 2. Band der so lang erwarteten „Volkswirtschaftslehre“ von G. Schmoller. Die sozialistische Literatur wird (1899) durch Kautsky mit der „Agrarfrage“ vertreten und durch die Schriften, die von der Polemik hervorgerufen wurden, die sich zwischen Bernstein und Kaut­sky (in den Jahren 1899–1900) erhob. Diese Polemik setzte sich in der „Neuen Zeit“ und in den „Sozialistischen Monatsheften“ fort.



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Der Einfluss des „historischen Materialismus“ hat sich immer mehr ausgeweitet und ist in die akademische Literatur eingedrungen. Das Werk von R. Stammler, „Wirtschaft und Recht“ (1896), widmet sich zum Teil, auf der Grundlage eines kantischen Idealismus, der Kritik. Eine wirtschaftliche Interpretation der Geschichte von Lamprecht, in seiner „Deutschen Geschichte“ wurde scharf von den Anhängern Rankes angegriffen. H. Treitschke deckte in seinem sehr fesselnden Werk „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“, eine Lobrede der preußischen Geschichte in 5 Bänden, die Zeit bis 1848 ab. Er starb im Jahr 1897. Von Alfred Stern erschien (in den Jahren 1894–1900) eine „Geschichte Europas seit 1815“, bisher in 3 Bänden. Im Bereich der Zeitschriften muss man, dank Bismarck, den Erfolg des Wochenblattes „Die Zukunft“ hervorheben, das seit 1892 von M. Harden veröffentlicht wird. Ein gewisses Verdienst ist dem Unternehmen von J. Heinrich Braun zuzuschreiben, der eine Wochenzeitschrift gegründet hat, die sich speziell der Sozialpolitik widmet und der Sammlung sozialer Erscheinungen im Bereich der Arbeiterbewegung, seit 1891, im „Sozialpolitischen Centralblatt“. Später fusioniert diese Zeitschrift mit einer anderen unter dem Namen „Soziale Praxis“. Am Ende des Jahrhunderts hatte ein Blatt, „Die Woche“, das vor allem illustrierte Reproduktionen der Tagesereignisse mittels photographischer Momentaufnahmen machte, noch viel mehr Erfolg als ihn vorher „Die Zukunft“ hatte. Eine ernsthafte Wochenzeitschrift „Der Lotse“ begann jedoch in Hamburg zu erscheinen. „Der Kunstwart“, ein zweimal im Monat erscheinendes Werk, hat ein sehr großes Verdienst errungen, da es viel zur Bildung eines besseren Geschmacks beitrug (Herausgeber: F. Avenarius). M. G. von Gizycki gründete die „Ethische Kultur“, die seit 1893 erscheint und das Organ der Moralbewegung ist. Die monatliche Veröffentlichung der „Deutschen Rundschau“ (Hg. J. Rodenberg) konnte im Jahr 1899 sein 25-jähriges Jubiläum feiern. Aus dem Deutschen übersetzt von Henri Schnerb. Aus dem Französischen übersetzt von Wolf-Rüdiger Kittel (Berlin 2015).

Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck (Tönnies 1903, hier S. 149-256)

Der Text über die „Ostseehäfen“ (DSN 177) erschien 1903 in den „Schriften des Vereins für Sozialpolitik“. Die Gründung des „Vereins für Socialpolitik“ geht auf eine im Jahr 1872 einberufene Versammlung von Persönlichkeiten aus Publizistik, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zurück.

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Sie richtete sich vor allem gegen die von der deutschen Manchesterschule betriebene Politik des Laissez-faire in der Sozialpolitik. Die Gründer des Vereins, für die bald die Bezeichnung „Kathedersozialisten“ üblich wurde, wollten nach den Worten des langjährigen Vorsitzenden Gustav Schmoller „auf der Grundlage der bestehenden Ordnung die unteren Klassen soweit heben, bilden und versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus einfügen“ (Vergleiche dazu: Franz Boese, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872–1932, Berlin 1939, S. 6 ff. Sowie die Masterarbeit von Susanne Oschina, Die Entwicklung des Vereins für Socialpolitik von seiner Gründung bis 1980, Graz 2010, S. 15). Nach der Veröffentlichung von 190 Bänden der „Schriften des Vereins für Socialpolitik“ wurde diese Entwicklung 1936 unterbrochen, als sich der Verein freiwillig auflöste, um dem Versuch der Gleichschaltung und Überführung in die regimetreue „Deutsche Wirtschaftswissenschaftliche Gesellschaft“ zu entgehen. Bereits im Jahre 1948 wurde der Verein für Socialpolitik wiedergegründet. Bei diesem Text handelt es sich um einen Spezialbereich der Soziologie: Die Maritime Soziologie. Sie befasst sich mit sozialen Prozessen rund um die Schifffahrt in Küstenmeeren und auf hoher See sowie mit deren Bezügen zu seegestützten politischen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen, brauchtumsmäßigen und religiösen Institutionen. Ferdinand Tönnies hat sich insbesondere während und nach dem Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97, der elf Wochen dauerte und auf dem Höhepunkt fast 17.000 Arbeiter umfasste, mit der sozialen Lage der Seeleute und Hafenarbeiter befasst. Zu nennen wäre z.B. „Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg vor dem Strike 1896/97“ (DSN 106) sowie zahl­ reiche weitere Artikel zu diesem Thema. Tönnies suchte als einer der wenigen Soziologen seiner Zeit die sozialen Themen mit Hilfe der Statistik und ihrer Vertreter durch eine fundierte Sozialforschung darzustellen. Er sammelte unterschiedliche empirische Daten, exakte statistische Informationen und Ergebnisse quantitativer und qualitativer Erhebungen. Eine enorme Vervielfältigung der Empirie-Perspektiven, Ansätze zur kreuzweisen Validierung und die genaue Belegstruktur stellen bei Tönnies den Höhepunkt der monographisch-soziographischen Linie der Entwicklung der empirischen Sozialforschung vor dem Ersten Weltkrieg dar. In seiner Untersuchung über die soziale Lage der Matrosen an der Küste „Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck“ entwickelt Ferdinand Tönnies quellenkritische Standards. In einer Vorbemerkung differenziert Tönnies die verschiedenen Quellen: „A = Amtliche Mitteilungen, U = Mitteilungen und Urteile der Unternehmer, M = ebensolche der Kapitäne usw., S = ebensolche anderer sachverständiger Personen, S-V = Seemanns-



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verband für Deutschland, FRL = ausgefüllte Fragebogen der Mitgliedschaft Flensburg des S-V, FRC = ebensolche der Zentrale der S-V, CO = Auszüge aus Briefen von Mitgliedern des S-V, S-O = Seemannsordnung, Z.S. = Zeitschrift „Der Seemann“, UVV = Unfallversicherungsvorschriften (Schriften des VfS, Bd. 104, 1, Leipzig 1903, S. 511). Tönnies wählt dieses Verfahren, um die Herkunft seiner Erkenntnisse systematisierend transparent zu machen. Besonderen Wert legt er darauf, die betroffenen Seeleute selbst zu Wort kommen zu lassen, wenn auch nur in Stichproben. Tönnies nimmt deren Meinung, genau wie die der Unternehmer, nicht für die „Wahrheit“, sondern erst für belegt, wenn eine Bestätigung von Seiten Dritter oder wenn eine „indirekte Bestätigung“ von z.B. in der Tendenz unterschiedlicher Zeitungen vorliegt. Ergänzt wird seine Kenntnis von den seemännischen Vorgängen durch Einsicht in die Korrespondenz des Seemannsverbandes und von diesem durchgeführte Fragebogenaktionen sowie durch die Analyse von Gerichtsurteilen. Der Beitrag von Tönnies bezieht sich zwar auf die Lebensverhältnisse der Seeleute in SchleswigHolstein, aber die zunehmend auf die Ökonomie ausgerichtete Schifffahrt, in der auf die in ihr beschäftigten Menschen immer weniger Rücksicht genommen wurde, besitzt eine grundsätzliche Gültigkeit. Typisch für Tönnies ist, dass er sich sowohl in die Problematik als auch in die Terminologie gründlich einarbeitet. Hierfür ein paar Beispiele aus dem Text. Die Arbeitsbelastung der Besatzungen wurden dadurch verschärft, dass viele Reeder versuchten, die Personalkosten möglichst gering zu halten. An der Besatzung, so schreibt Tönnies in seiner Untersuchung, werde gespart: „so daß die Bemannung für glatte Fahrt eben ausreicht, für schwierige Lagen aber nicht ausreicht. Regelmäßige Unterbemannung ist die Charakteristik, die man nach unbefangener Prüfung auch den Flensburger Schiffen, namentlich denen, die über 1000 RT fassen, angedeihen lassen muß. [...] Es herrscht allgemein die Ansicht und liegt wohl auf der Hand, daß dies eine schlimme Überanstrengung bedeutet“ (Schriften des VfS, S.  572f.). Aber auch die finanziellen Verhältnisse werden von Tönnies beleuchtet: „Die Heuer alleine reichte oft nicht aus, eine Familie zu ernähren. Auch in Schleswig-Holstein“, so stellte Tönnies in seiner Untersuchung fest, „seien die meisten Seeleute ledig“ (Schriften des VfS, S. 600). In Schleswig-Holstein, berichtete Tönnies, sei man aber allgemein der Ansicht, „daß die Altersversicherung für Seeleute unpraktisch sei, da diese als solche niemals das Alter von 70 Jahren erreichen“ (Schriften des VfS, S. 555). Abschließend ist zu bemerken, dass es nicht gelungen ist, alle genannten Personen zu identifizieren, die möglicherweise zu ihrer Zeit eine gewisse Bedeutung gehabt haben. Auch fehlen die genannten Fragebogen,

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sowie die diversen Antworten dazu, die nicht im Nachlass zu finden sind (insbesondere die in der 1. Fußnote auf S. 151 erwähnten: (U), (M), (S), FRL, FRC und (CO)).

[Schreiben an die Herren Geistlichen mit der Bitte um Charakterisierung ihrer Konfirmanden] (Tönnies 1900 und 1904, hier S. 259-276)

Im Februar 1900 wandte sich Ferdinand Tönnies in einem zweiseitigen Brief an die Geistlichen in Schleswig-Holstein und Hamburg (DSN 130, Tönnies Nachlass S-H Landesbibliothek Cb 54.39:03). Wenige Monate später, am 2. Dezember 1900 wurde der Brief in der „Beilage zum Schleswig-Holsteinischen Kirchenblatt“ abgedruckt (DSN 141, siehe Text S. 263 ff.). Bei dem Brief handelt es sich um eine moralstatistische Untersuchung („Mitteilungen Moralstatistik betreffend“) zur „Charakterisierung ihrer Konfirmanden“. Dem Brief resp. dem Abdruck war ein Fragebogen (Name / Geburtstag / Geburtsort etc.) beigefügt. Diese Erhebung wurde von Tönnies im Januar 1904 erneut durchgeführt. Dem Fragebogen war ein „Auszug aus dem Begleitschreiben von Februar 1900“, eine Liste mit Anmerkungen und ein Dankschreiben beigefügt (siehe Text S. 369-276). Ferdinand Tönnies hatte bereits 1890 daran gedacht, eine Art von moralischen Observatorien für moralstatistische Beobachtungen einzurichten (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 285). Es verdient festgehalten zu werden, dass sich hier ein Gedanke ausgesprochen findet, den Tönnies vierzig Jahre später mit dem gleichen Ausdruck (moralisches Observatorium) öffentlich vertreten hat: „Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute“ in: Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, hrsg. von L. Brauer u.a., Hamburg 1930. Dabei war die „Moralstatistik eine Eisfläche, auf der Viele zu Falle kommen“, wie Tönnies in einer Rezension schreibt, die in der Theologischen Literaturzeitung abgedruckt wurde (Rezension über die Schrift „Moralstatistik und Konfession“ von Pastor Johannes Forberger, Nr. 9, Leipzig 1913, S. 274f.). Um dem Missbrauch des Begriffs Statistik Abhilfe zu schaffen, arbeitete Tönnies an einer begrifflichen Erneuerung. Der von dem Begründer der niederländischen Soziologie Sebald Rudolph Steinmetz 1913 geprägte Begriff „Soziographie“ wurde von Tönnies aufgegriffen, denn er entsprach Tönnies’ Streben, über das Sammeln reinen Faktenwissens zu Erkenntnissen des sozialen Lebens hinauszugehen. Steinmetz gilt als der Stammvater der Soziologie der Niederlande. Seine starke Betonung der Samm-



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lung konkreter Daten hat die Soziologie seines Landes („Amsterdamer Schule“) noch lange geprägt. Er begründete auch die erste soziologische Fachzeitschrift des Landes, „Mens en Maatschappij“. Ferdinand Tönnies hat dann 1925 die für die Soziologie künftig gültige Ansicht vertreten, die Vielzahl der ethisch relevanten sozialen Phänomene und die strittigen und moralisch unterschiedlichen Wertungen entzögen sich einer Zusammenfassung unter dem Begriff der „Moral“. Eine „Soziographie“ erfordere dazu detaillierte Kriterien und methodisch noch andere als statistische Erhebungen. Eine „Moralstatistik“ bisheriger Art sei daher nicht mehr als eine „wissenschaftliche analysierte Materialsammlung für die wissenschaftliche Arbeit der Soziologie“ (Ferdinand Tönnies, Moralstatistik, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, Jena 1925, S.  641). Seinen Standpunkt zur Soziographie vertrat Tönnies insbesondere beim Soziologentag 1930 (Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziologentages vom 28. September bis 1. Oktober 1930 in Berlin, Untergruppe für Soziographie, Vortrag des Vorsitzenden Geheimrat Prof. Dr. Tönnies, S. 196-232). Die im Februar 1900 datierte Umfrage – also nach mehreren Monaten des Konfirmandenunterrichts – legte Gewicht auf die Urteile der Geistlichen „auf Grund eigener aber durchdachter Beobachtung“. Dies durfte namentlich auch für die Charakterbeurteilung erwartet werden, wenn sie mehrere Wochen lang ihre Aufmerksamkeit auf die Eigenschaften der ihnen anvertrauten Kinder gerichtet hatten. In der Umfrage suchte er den natürlichen Grenzen, die bei dem Grad der „Bekanntschaft mit dem jugendlichen Individuum“ gesetzt waren, durchaus Rechnung zu tragen. Zur Sicherung der Vertraulichkeit betonte Tönnies nicht nur die Anonymität in der statistischen Verarbeitung, sondern versandte die Umfrage „trotz des höheren Portos“ in geschlossenem Umschlag. Setzt man den Aufwand der Befragung dagegen, so ist es um so enttäuschender, dass außer den wenigen Zahlen über die Verwaisten nichts von den Ergebnissen erhalten geblieben zu sein scheint. Dass die Umfrage lohnend war, möchte man daraus schließen, dass Tönnies sie vier Jahre später (1904) wiederholte.

Die Erweiterung der Zwangserziehung (Tönnies 1900, hier S. 277-308)

Ferdinand Tönnies veröffentlichte diese Studie 1900 in der Zeitschrift „Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik. Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder“ 15. Band, die bis 1903 von dem sozialdemokratischen Publizisten und Politiker Heinrich Braun herausgegeben wurde. Das „Archiv Braun“, das neben Kautskys

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„Neue Zeit“ meistgelesene SPD-Theorieorgan, wurde 1904 verkauft. Mit dem 18. Band ging die Zeitschrift an den Verlag J.C.B. Mohr über und wurde nun von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé herausgegeben. Die Zeitschrift wurde in „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ umbenannt. „Die Erweiterung der Zwangserziehung“ (DSN 134), die in der Zeitschrift auf den Seiten 458-489 abgedruckt ist, folgt nach dem enttäuschenden Ausgang der Verhandlungen zum BGB der neuen Argumentation für die Erweiterung der Interventionsrechte. Bis zum Ersten Weltkrieg bauten fast alle Staaten des Reichs ihre Zwangserziehungsgesetze weiter aus. Preußen verabschiedete 1900 ein Fürsorgeerziehungsgesetz (FEG), das den Altersrahmen auf alle bis zu 18jährigen ausdehnte und nicht nur bei Straffälligkeit, sondern auch bei „Verwahrlosung“ greifen sollte (Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900, §1). Während die Praktiker den neuen Möglichkeiten optimistisch entgegensahen, kam Kritik von denen, die sich eher mit den sozialen und pädagogischen Aspekten der „Jugend- und Mädchenverwahrlosung“ auseinander setzten. Ferdinand Tönnies bezeichnete das FAG als „Pfusch an Symptomen“ und forderte in sozialreformerischer Tradition Prävention durch kürzere Arbeitszeiten für Frauen, bessere Löhne und das Verbot von Kinderarbeit. Zudem sorgte er sich um den möglichen Missbrauch der Amtsgewalt und um beschädigte Elternrechte. Andererseits ging Tönnies die Intervention nicht weit genug. Um die „Brutstätte des Verbrechertums“ auszuheben, schlug er vor, „die Kinder von Verbrechern, liederlichen Weibern, Zuhältern und dgl.“ von ihren untauglichen Eltern zu trennen, sobald sie sechs Jahre alt seien, und sie als Staatskinder großzuziehen. Allerdings fand sein „Staatskinder-Modell“ in der Jugendfürsorge keinen Anklang (siehe insbesondere S. 465, 470, 473 und 485). Der einflussreiche Strafrechts- und Sozialreformer Paul Felix Aschrott hatte, nahezu parallel und ebenfalls 1900, die Arbeit „Die Zwangserziehung Minderjähriger und der zur Zeit hierüber vorliegende Preußische Gesetzentwurf“ verfasst, die Tönnies rezensierte (Aschrott, P. F., Die Zwangserziehung Minderjähriger und der zur Zeit hierüber vorliegende Preußische Gesetzentwurf, Berlin 1900, mit Anhang 61 Seiten). Tönnies, der die Rezension wiederum im „Braun Archiv“ veröffentlichte, hatte den Aschrott Text, wie er schreibt, erst nach der Veröffentlichung seiner Schrift kennen gelernt. Da in diesem Band nur eine Rezension aufgenommen wurde, wird dieser Rezensionstext von Tönnies erst im Band 6 der TG erscheinen. Abschließend sei noch bemerkt, dass der Text von Aschrott keinerlei Bezug auf den Tönnies-Text nimmt.



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Die Wohnungsnot – eine sittliche Not (Tönnies 1900, hier S. 309-321)

Ferdinand Tönnies veröffentlichte dieses „Fragment eines populären Vortrages“ in der Wochenschrift „Ethische Kultur“ vom 7. Juli 1900, Berlin, Nr. 27, S. 212-213 und am 14. Juli 1900, Nr. 28, S. 218-221 (inklusive einer Nachschrift auf S. 221). Im Jahre 1892 entstand in Berlin die – intellektuell anspruchsvolle, eher elitäre – „Gesellschaft für ethische Kultur“, die ursprünglich Teil einer internationalen nordamerikanischen Organisation war. Es ging der Gesellschaft in erster Linie darum, Ethik und Zivilreligion sowohl den Kirchen wie dem Staat zu entziehen, zur Sache der freien Gesellschaft allein zu machen und die Ethik auf eine positivistische Reformvernunft, auf den Normen von „Lust und Glück“ zu begründen und insoweit auch die Politik durch eine „Technokratie“ der Vernunft zu ersetzen. Tönnies und der Philosoph Theobald Ziegler waren prominente Mitglieder, daneben auch Ernst Haeckel, Wilhelm Ostwald, Ludwig Büchner und Georg von Gizycki. Letzterer gab die Zeitschrift „Ethische Kultur“ heraus (siehe dazu: Hartwig Naphtali Carlebach, Georg von Gizycki, der Begründer der Gesellschaft für „Ethische Kultur“ in Deutschland. Eine ethisch-pädagogische Studie, Diss., Leipzig 1924). Das „Fragment eines populären Vortrages“ (DSN 137), wie Tönnies die Schrift untertitelte, entstand noch ganz unter dem Eindruck des Hamburger Hafenarbeiterstreiks von 1896/97. Ferdinand Tönnies war 1894 (dem Jahr seiner Hochzeit mit Marie Sieck) mit seiner jungen Frau nach Hamburg-Uhlenhorst in eine kleine Wohnung in der Zimmerstraße 34 eingezogen, um 1898 erneut die Wohnung mit seiner kleinen Familie zu wechseln (im Januar 1898 war der „Stammhalter“ Gerrit Friedrich Otto geboren worden). Man zog im Oktober 1898 nach Altona in die Mathildenstraße 21 (siehe dazu: Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger, Bredstedt 2013, S.  150) und so erlebte Tönnies den Streik hautnah mit. Ferdinand Tönnies, der weiterhin Privatdozent an der Kieler Universität war, pflegte zu dieser Zeit Vorträge mit aktuellen Themen in seinem Bekanntenkreis zu halten. Der hier vorgelegte Text ist ein Beispiel dafür. Der Zusammenhang zwischen Hafenarbeit und Wohnungsnot war offensichtlich: „Die Wohnungsnot der arbeitenden Klasse, charakteristisch für die kapitalistische Produktionsweise schlechthin, erfährt in Hafenstädten leicht eine besondere Verschärfung [...]. Die Folgen in Gestalt von Notpreisen kleiner Wohnungen, Ueberbevölkerung des verfügbaren Raumes, Einschränkungen im sittlich notwendigsten Komfort, machen sich

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in jeder Hafenstadt bemerkbar“ (Ferdinand Tönnies, Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 10. Bd., Berlin 1897, S. 179). Arbeitsverhältnisse und Lebensbedingungen der Lohnarbeiterschaft trugen alle Züge einer Verelendung: erbärmliche Wohnverhältnisse in verwanzten Mietskasernen, oft nur ein Zimmer pro Familie. Das Familienleben war unter solchen Verhältnissen unbekannten Belastungen ausgesetzt und tendierte zur Auflösung mit der Konsequenz persönlicher Vereinzelung, Verrohung der Sitten, Schulmangel und Prostitution. Ferdinand Tönnies ist einer der ganz wenigen Wissenschaftler, der sich konsequent für die Verbesserung der sozialen Bedingungen einsetzte. Während sich seine Kollegen vorrangig der Nationalökonomie (vgl. den Kathedersozialismus) zuwandten, verfasste Tönnies z.B. 1907 sein Werk „Die soziale Frage“ (Ferdinand Tönnies, Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkriege, 4. verbesserte Auflage, Berlin und Leipzig 1926). Die soziale Frage ist für Tönnies ein lebenslanges Thema. Sie ist die „Frage des friedlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens der in ihren Lebensgewohnheiten und Lebensanschauungen weit voneinander entfernten Schichten, Stände, Klassen eines Volkes“ (Tönnies, Soziale Frage, S. 7).

Sittliche Entrüstung?

(Tönnies 1900, hier S. 322-330) Dieser unter dem Pseudonym „KRITIAS“ in der Wochenschrift „Ethische Kultur“ Nr. 45 im November 1900 auf den Seiten 353-355 abgedruckte Tönnies Text (DSN 138) ist eine Reaktion auf den Text „Moralische Entrüstung“ von Friedrich Foerster in der „Ethischen Kultur“ Nr. 43 vom Oktober 1900 auf den Seiten 341-342. Aber auch Foerster hatte in seinem Beitrag auf einen Text in der „Ethischen Kultur“ reagiert. Dieser Text war von dem Philologen und Journalisten Otto Hörth an die „Ethische Kultur“ für die Rubrik „Sprechsaal“ geschickt worden und trug den Titel „Die wahre Toleranz“ (Ethische Kultur Nr. 37 vom September 1900, S. 296). Hörth hatte in seinem Beitrag behauptet, dass es „ohne sittliche Entrüstung auch keine rechte Begeisterung gebe“. Dieser Aussage widersprach Foerster eindeutig. Foerster argumentierte, „dass die sogenannte Entrüstung stets nur aus einer unvollkommenen kausalen Auffassung einer menschlichen Handlung entsteht, und dass daher auch die Begeisterung, die sich auf einer solchen Grundlage aufbaut, niemals wirklich schöpferisch und heilend wirken kann“. Dass man sich durchaus „sittlich entrüsten“ kann und sollte machte nun Tönnies wiederum an einem Beispiel deutlich (siehe dazu auch:



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Uwe Carstens, Tönnies-Forum. Rundbrief der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft, Kiel 2016, Nr. 1, S. 73-83). Der deutsche Manager und industrielle Interessenvertreter Hanns Jencke wurde 1888 Vorsitzender des Direktoriums der Firma Krupp (während seines Wirkens erreichte er z.B. den Erwerb der Germaniawerft in Kiel). In dieser Eigenschaft versuchte Jencke Einfluss auf das Reichsamt des Inneren, also auf das Innenministerium des Deutschen Kaiserreichs, zu gewinnen, um „durch unangemessene Strafmittel rechtmäßige Bestrebung und Bewegung der industriellen Arbeiter“ zu verhindern. Der „Einfluss“, den Tönnies anführt, bestand in der Übernahme von Druckkosten des Reichsamtes in Höhe von 12.000 Mark durch die Industrie. Mit schlagkräftigen Argumenten verteidigt Tönnies die Position, dass „die sittliche Entrüstung, der gerechte Unwille, der heilige Zorn besser am Platze sei und heilsamer wirken werde [...] als der gelassene schonsame Gleichmut“.

Biblia pauperum

(Tönnies 1900, hier S. 331-336) Der unter dem Pseudonym „ANTISTHENES“ veröffentlichte Text (DSN 139) erschien in der Wochenschrift für Deutsche Kultur „Der Lotse“. Das Pseudonym eines griechischen Philosophen der Antike, der zu den „kleinen Sokratikern“ gezählt wird, setzte Tönnies noch ein weiteres Mal in dem Text „Menschenkinder“ (DSN 166) von 1902 ein, der ebenfalls in der Wochenschrift „Der Lotse“ erschien. „Der Lotse“ nannte sich in der Unterschrift eine „Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur“ und war 1900 auf Initiative von Alfred Lichtwark, der als Verleger Alfred Janssen, als Redakteur Carl Mönckeberg für Kunst und Wissenschaft, Siegfried Heckscher für Volkswirtschaft und Politik gewinnen konnte, gegründet worden. Im Oktober 1900 erschien das erste Heft. Nach knapp zwei Jahren wurde die Zeitschrift Ende Juni 1902 trotz zunächst guter Ausgangslage eingestellt. Für Ferdinand Tönnies hatte „Der Lotse“ aber noch eine andere Bedeutung. In seinen „Erinnerungen an Altona“ schreibt er: „Ich habe meinem treuen alten Lehrer Otto Kallsen ein Denkmal gesetzt in der kurzlebigen Hamburgischen Wochenschrift „Der Lotse“, die in jenen Tagen von Carl Mönckeberg und Siegfried Heckscher herausgegeben wurde, war ein ziemlich eifriger Mitarbeiter daran. Diese Bekanntschaften verschafften uns [...] Eingang in das schöne Haus Albert Warburg’s u. seiner jetzt in Hamburg noch lebenden, in Amsterdam gebürtigen, liebenswürdigen und in Förderung künstlerischer Bestrebungen und Talente unermüdlichen Frau Gerta Warburg“ (Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zan-

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der (Hg.), Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23,2, S. 419-422 und Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Eine Biographie, Bredstedt 2013, S. 152). Über die Schrift „Biblia Pauperum“ schrieb Friedrich Paulsen in einem Brief vom 10. November 1900 an Tönnies: „Deine Biblia Pauperum hatte ich im Lotsen mit Vergnügen gelesen, ohne Dich zu erraten. Die kleine Satire ist vortrefflich geraten, die „Zwangsversimpelung“ – wirklich, Wort und Sache mußt Du Dir patentieren lassen: das ist ja das längst Gesuchte“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S.  348f.). Dass das Pseudonym von anderer Seite „enttarnt“ wurde, zeigt ein Brief des Husumer Tönnies’ Vetters Cornils vom 19. Dezember 1900 „Mein lieber Antisthenes“ in dem dieser Tönnies den Text eindeutig zuordnet (SHLB, Signatur Cb 54.56). Im Text „Biblia Pauperum“ kritisiert Tönnies die Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende „Regenbogenpresse“. Er vergleicht diese Art der Druckerzeugnisse mit den Bilddarstellungen für die leseunkundigen Armen, wie sie z.B. Rudolf Schenda in seinem Werk „Volk ohne Buch“ dargestellt hat. Einmal erweist es sich, dass die sozialen Unterschichten nur ganz beschränkt lesefähig und vor allem lesewillig waren; weiter wird deutlich, dass die Bevormundungstendenzen der Idealisten die breiten Schichten gerade daran gehindert haben, über ihre Lage nachzudenken und schließlich ins Klare zu kommen. Gerade die Lesestoffe der „Minute“ die, mit dem „Nihil obstat“ der Zensur ausgerüstet, ins flache Land ausschwärmten, zählten dann zu jener schalen Sorte, die reaktionäre Meinungen festigt und Überliefertes als unantastbar erklärt. In diesen „Boulevardzeitungen“ werden vor allem Themen behandelt, die geeignet sind, Emotionen zu wecken. Nachrichten mit deutlich sachbetontem Gegenstand werden personifiziert und manchmal auch skandalisiert. „Die Lady Di“ von 1900 heißt Prinzessin Ludmilla und statt des Grünen-, Gelben- oder Bunten Blattes gibt es im ziegelroten Heft „Die Minute“ (daneben gab es u.a. noch „Die Stunde“, „Der Abend“ oder „Der Tag“). Geändert hat sich also nichts, wie ein Blick in Tönnies’ kulturkritische Schrift aus dem Jahre 1900 zeigt (Uwe Carstens, Der Fetzen Purpur oder Hermelin. Tönnies-Forum Nr. 2, Kiel 1997, S. 30-36).

Die Verhütung des Verbrechens (Tönnies 1901, hier S. 337-349)

Diese Schrift erschien am 18. und 25. Mai 1901 auf den Seiten 153-155 und S. 162-164 in der Wochenschrift für sozial-ethische Reformen „Ethische Kultur“ (DSN 143).



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Wie „Die Wohnungsnot“ (DSN 137) nannte Tönnies die Schrift ein „Fragment“. Die Herausgeber der „Ethischen Kultur“ und damit auch die „Gesellschaft für Ethische Kultur“ hatten ein vitales Interesse an soziologischem Wissen zur Beseitigung gesellschaftlicher Übel. Diesen programmatischen Hintergrund ergänzt der Umstand, dass das Gründungsmitglied Ferdinand Tönnies regelmäßig Artikel verfasste, die seine Position zur Sozialen Frage spiegeln. Dabei (wie z.B. im Hafenarbeiterstreik) trugen die Artikel zum Verlauf seiner Karriere maßgeblich bei, indem sie ihn in den Ruch der Sozialdemokratie setzten. Der letzte Schriftleiter der „Ethischen Kultur“ Reinhard Strecker schrieb in einem „Nachruf“ auf Tönnies 1936 u.a. „Unter den Schwierigkeiten und Missverständnissen, gegen die sich die Wissenschaft der Soziologie mühsam durchsetzte, hat Ferdinand Tönnies auch persönlich zu leiden gehabt [...]. Im Ausland wurde er fast gerechter gewürdigt als in der Heimat“ (Reinhard Strecker, Ferdinand Tönnies †, in: Ethische Kultur, Monatsblatt für ethisch-soziale Neugestaltung, Nr. 5/6, Berlin 1936, S. 21f.). Tönnies hatte um die Jahrhundertwende ohne Hilfspersonal und behindert von behördlichem Misstrauen und Unverständnis für sozialwissenschaftliche Forschungsanliegen umfangreiche und teils schwierige soziographische Untersuchungen durchgeführt. In diesen Untersuchungen ist der Blick nicht auf die philosophisch orientierten, konstruktiven Überlegungen gerichtet, sondern auf die Anwendung der vorbereiteten soziologischen Begriffe auf die sozialen Zwecke, die historischen Wandlungen und die menschliche Entwicklung generell. Für Tönnies, der seit dem WS 1888/89 über Bevölkerungsstatistik und seit 1900/01 über Kriminalstatistik und ihre statistischen Methoden las, steht einerseits die spezifische Fragestellung der speziellen Soziologie (Was ist Sozialstruktur?) zu differenzierter Klärung an, andererseits eine empirische Gegenwartskunde. Von Tönnies werden besonders die Kriminalistik (Jugendkriminalität, Kriminalanthropologie, Strafrechtsreform) und später der Selbstmord, das politische Parteiwesen und die Lage in der Landwirtschaft untersucht. Interessant ist außerdem, dass Tönnies seine Untersuchungen nicht auf Deutschland begrenzte, sondern wie in einer frühen Schrift „Jugendliche Kriminalität und Verwahrlosung in Großbritannien“ von 1893 (DSN 54) das Ausland in seine Betrachtungen mit einbezog (zuerst in: „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaften, Hg. Franz von Liszt, 13. Bd. Berlin 1893, S. 894-905). Schließlich sei noch vermerkt, dass der für die Materialsammlung der kriminalstatistischen Unternehmungen wesentliche Zugang zu den preußischen Strafanstalten für Ferdinand Tönnies 1904 von der Justizverwaltung gesperrt wurde. Dies war für die Sozial-

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wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts der „absolute Tiefpunkt für die wissenschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Soziologie, sowohl der theoretischen als auch der empirischen Forschung“, wie E. G. Jacoby in seinem Buch „Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies“ schreibt (E. Georg Jacoby, Stuttgart 1971, S. 111).

Zur Kontroverse über Politik und Moral (Tönnies 1901, hier S. 350-355)

Da es in der Frankfurter Zeitung (1. Morgenblatt) vom 30. Januar 1901 positive Reaktionen auf die Schrift „Politik und Moral“ zu verzeichnen gab, fühlte sich Tönnies aufgefordert, den Text in der Frankfurter Halbmonatsschrift „Das freie Wort“ zu ergänzen (DSN 144) – obwohl, wie er in einer Anmerkung erwähnt, die von Friedrich Naumann herausgegebene Wochenschrift „Die Hilfe“ an diesem Thema „nachdem sie etliches Pech in dieses Feuer geworfen“ hatte, nicht weiter rühren wollte. So hatte z.B. Prof. Dr. Staudinger, Darmstadt, in der Rubrik Briefkasten geschrieben: „In seinem sonst sehr freundlich gehaltenen Aufsatze über „Moral und Politik“ in Nr. 10 der „Hilfe“ sagt Herr Lic. Traub 1) es scheine der wunde Punkt auch bei mir zu sein, daß ich Gewalt an sich für unmoralisch halte. 2) daß ich die historischen Grundlagen alles Menschentums vernachlässige. Beides ist irrig ad. 1) Diejenige Gewalt, die hier Traub meint, die elterliche, lehne ich nicht ab; sonst wäre ich Anarchist. Es handelt sich mir überhaupt nicht um Gewalt als Mittel, sondern um den Unterschied zweier sittlicher Grundziele: Ausbeutungs-, Vergewaltigungs-, Beherrschungsethik contra Gemeinschaftsethik. Nur was die Gemeinschaft freier Menschen zum Ziele hat, ist mir „gut“ als Mittel. Ad 2) Wenn Herr Traub in meinem von ihm ja so freundlich besprochenen Schriftchen „Ethik und Politik“ z.B. nur S. 49 nachschlagen will, so wird er sehen, daß ich gerade dem Anarchismus gegenüber die Wertbildung auf Grund der geschichtlich gewordenen Ordnung auf das Nachdrücklichste betone. Die irrige Auffassung, daß ich den Menschen erst isoliere, mag ihm daher entstanden sein, daß ich zufällig erst das allgemeine Willensprinzip analysiere. Analytische und historische Betrachtung sind aber verschiedene Methoden, doch kein sachliches „Erst“ und „Dann“. Darmstadt. F. Staudinger.“ (Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe, Nr. 11, 17. März 1901, S. 15, Rubrik Briefkasten).



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In der „Kontroverse über Politik und Moral“ setzt Tönnies ein „Stilmittel“ ein, dass an die philosophischen Dialoge erinnert, die im Kreis der Schüler des Sokrates entstanden. Neben Platon haben eine Reihe seiner Zeitgenossen Dialoge verfasst, in denen sie Sokrates mit Partnern auftreten ließen. Man bezeichnete solche Werke als „sokratische Gespräche“. Platon erlangte auf diesem Gebiet eine so überragende Bedeutung, dass man ihn später als Erfinder dieser literarischen Gattung betrachtete (was allerdings in der Antike umstritten war). Ausgehend von der Volksweisheit „Ehrlich währt am längsten“ entspinnt sich ein Dialog zwischen Vater (Pater) und Sohn (Filius) in dem Tönnies noch einmal seine Auffassung von der Moral in der Politik spiegelt. Moral und Politik sind Grundgesetze des sozialen Seins und Lebens. Weil es Seins-Gesetze sind, sind sie verbindlich für sittliches Handeln oder für die Moral (Ordnung des Handelns folgt der Ordnung des Seins) und für praktisches soziales Gestalten in der Politik als Sorge für das Gemeinwohl der konkreten Gemeinschaft auf das Wohl aller hin. Von diesen Fundamenten sollte man bei moralischen und politischen Überlegungen ausgehen und zu ihnen immer wieder kritisch zurückkehren. Ohne dieses Fundament hängen Moral und Politik in der Luft, ist ihr Verhalten wahrhaft bodenlos, jeweils Produkt von Macht- und Vorteilsüberlegungen und -kämpfen. Aber, wie der „Pater“ in seinem Schlusssatz bemerkt, geht es in der wirklichen Welt anders zu.

Die Zerrüttung der liberalen Partei in England (Tönnies 1901, hier S. 356-359)

Dieser Tönnies-Text erschien in der Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens „Das Freie Wort“ (DSN 146). Ferdinand Tönnies greift sich in diesem Text als Anknüpfungspunkt die Figur Lord Rosebery heraus, dem kurzzeitigen und erfolglosen Premierminister der Liberalen (1894–95), der besonders in den ersten beiden Jahren des neuen Jahrhunderts für seine Attacken gegen den Liberalismus Gladstonescher Prägung und seine überparteilichen Sammlungsversuche unter der Parole „imperialer“ bzw. „nationaler Effizienz“ breite öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. In einer berühmt gewordenen Rede vor dem „City Liberal Club“ am 19. Juli 1901 hatte Rosebery scharf seine Distanz zur offiziellen liberalen Parteiführung zum Ausdruck gebracht und von den Liberalen einen „reinen Tisch“ („clean slate“) hinsichtlich der Gladstoneschen Prinzipien sowie des „Newcastle Programmes“ gefordert (H.C.G. Matthew, The Liberal Imperialists. The ideas and policies of a Gladstonian élite, Oxford 1973, 331 p.). Tönnies sieht den desolaten Zustand der liberalen Partei u.a. in der grundlegenden liberalen Verfehlung

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des progressiven Instinkts des 20. Jahrhunderts. Der durchschnittliche Wähler, ob Arbeiter, oder Fabrikant, kleiner Krämer oder Kaufmann, habe sein Interesse an individuellen „Rechten“ oder abstrakter „Gleichheit“, politischer oder religiöser Natur, verloren. Ferdinand Tönnies hat sich ausführlich über englische Politik verbreitet, insbesondere die Schriften während des Ersten Weltkrieges zählen hierzu. Als Beispiel mag hier „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung“ (DSN 392) von 1915 genannt werden.

An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal (Tönnies 1901, hier S. 360-361)

Dieses hymnische Gedicht an den südafrikanischen Politiker Paul Kruger (auch Ohm Krüger genannt) in plattdeutscher Sprache (hier angelehnt an das „Afrikaans“ der Buren) veröffentlichte Tönnies in der Hamburgischen Wochenschrift für deutsche Kultur „Der Lotse“ (DSN 148). Ferdinand Tönnies, der sich bereits als Pennäler unter dem Einfluss von Theodor Storm in der Lyrik versucht hatte (Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger, Bredstedt 2013, S. 36f.) stellt hier den verzweifelten Kampf des Präsidenten der Südafrikanischen Republik Paul Kruger (bei Tönnies fälschlicherweise Krüger geschrieben) und seiner Buren (von afrikaans Boere, wörtlich Bauern) gegen die englische Übermacht dar. Insbesondere die „Gold Gier“ der Engländer wird in dem Gedicht angeprangert. In der Tönnies-Schrift „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung“ von 1915 heißt es u.a. über den Burenkrieg: „Die Sympathie der gesamten nichtenglischen Kulturwelt war es in einer Weise, die eine schwere moralische Niederlage der englischen Weltpolitik bedeutete [...] so war er [der Burenkrieg] ausschließlich durch das imperialistische Interesse Englands bestimmt, und hinter diesem stand wie immer das kommerzielle Interesse“ (Ferdinand Tönnies, Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung, Berlin 1915, S. 67-71; TG Band 9, S. 94-99). Der Text lautet hochdeutsch: Sie haben Dich geschlagen, Du alter Mann, Waren fünf zu eins – eine Rasselbande – Kein Helfer rührte sich. Du bekamst nicht mal ein Telegramm, Sie haben Dein Volk geschlachtet wie ein Lamm, Der Teufel hatte seine Freude.



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Das Lamm hat sich gewehrt wie ein Löwe, Der Bure sagt zu Tom Atkins: Warte, Ich will Dich Mores lehren; Doch Mores lehrt der Schlingel nicht, Der Bure schlägt ihm ins Gesicht, Die Königin bekommt einen Schreck. Die Königin hat Gold im Überfluss, Das Gold erschlägt die Menschlichkeit, Denn Gold muss mehr Gold rauben. Das kennt kein Recht, das kennt kein Maß, Das säht eine blutige grausige Saat, Die Freiheit soll dran glauben. Doch halt! Die steht nach tausend Jahren Noch einmal so stolz und mächtig da, Freiheit wird Gold bezwingen! Kurz ist das Leben, lang die Kunst, Und die dann leben, die werden mit Wohlwollen Von Buren-Freiheit singen. Freiheit und Ehre, die stehen zusammen Die beiden, Ohm Krüger, heißen Dich willkommen Willkommen mit Trauerfahnen! – Wir Volk der Sassen, Dir nahe im Blut Wir ziehen fromm und sachte den Hut Mit unterdrückten Tränen.

Eine Anmerkung über Rousseau (Tönnies 1901, hier S. 362-365)

Die „Anmerkungen über Rousseau“ erschienen in der Hamburgischen Wo­ chenschrift für Deutsche Kultur „Der Lotse“ (DSN 149). Tönnies greift eine Bemerkung des Nordfriesischen Malers, Schriftstellers und späteren Dominikaner-Mönches Momme Nissen auf, die dieser im „Lotsen“ vom 15. April 1901 im Heft 28 veröffentlicht hatte (Benedikt Momme Nissen, der sowohl für den „Lotsen“ als auch für den „Kunstwart“ schrieb, konvertierte zum Katholizismus und trat ab 1916 in den Dominikanerorden ein). Dass die französischen Maler des Realismus Jean Désiré Courbet und Jean-François Millet, denen gemeinsam war, dass sie sozialkritische Bildthemen aufgriffen (Steineklopfer, Kornsieberinnen, Mann mit Hacke etc. – Courbet, der Teilnehmer der „Pariser Kommune“ war, wurde auch „so-

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zialistischer Maler“ genannt), etwas vom rousseauischen Geiste in sich trugen, ist so überraschend nicht, zumal schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts Rousseaus Aufruf „Zurück zur Natur!“ Grundstein eines neuen Bewusstseins war. Für Tönnies, den die Betonung der „Jugendwerke“ von Rousseau an sein eigenes Jugendwerk (Gemeinschaft und Gesellschaft von 1887) erinnert haben mag, greift dann auch den Ruf „Zurück zur Natur!“ von Rousseau auf, um die von Nissen angeführten Begriffe von „Bildung und Hochkultur“ weiter auszuführen.

Otto Kallsen

(Tönnies 1901, hier S. 366-374) Der in der Schrift „Der Lotse“ veröffentlichte Text „Otto Kallsen“ (DSN 150) zeigt die große Verehrung, die Tönnies für seinen ehemaligen Lehrer hegte. Neben Wilhelm Gidionsen und dem Rektor der Husumer Gelehrtenschule Karl Heinrich Keck, die er sehr schätzte, verband Tönnies mit Otto Kallsen die Liebe zur klassischen Literatur. Kallsen, der u.a. die Schulbibliothek verwaltete, machte Tönnies zu seinem „Unterbibliothekar“, und so konnte Tönnies an Bücher herankommen, die ihm sonst nicht zugänglich gewesen wären (siehe dazu: Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Eine Biographie, Bredstedt 2013, S. 29 ff.). Nach seinem Umzug 1898 nach Altona konnte Tönnies seine Beziehung zu seinem inzwischen pensionierten und ebenfalls nach Altona umgezogenen Lehrer Otto Kallsen wieder aufnehmen. Über die Frau von Otto Kallsen Christine Kallsen, geb. Schenk lernte Tönnies Gerta Warburg kennen, die mit ihrem Mann, dem Bankier Abraham Albert Warburg, in der Altonaer Palmaille einen Salon für Künstler und Wissenschaftler unterhielt (Carstens, S. 152f.).

Die Krisis des englischen Staatswesens (Tönnies 1901, hier S. 375-395)

Tönnies veröffentlichte die „Krise des englischen Staatswesens“ (DSN 151) in der Hamburgischen Wochenschrift „Der Lotse“ in drei Teilen in den Heften 4-6. Ferdinand Tönnies hat sich bis zu dieser Schrift immer wieder mit dem englischen Staat befasst. Ob es die „Universitätsausdehnung in England“ war (1894), der „Rückgang des englischen Pauperismus“ (1895) oder eben die „Krisis des englischen Staatswesens“ (1901), der Insel gehörte immer schon sein Interesse. Bereits mit 23 Jahren hatte Tönnies 1878



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London zum ersten Mal besucht, um in der Bibliothek des „British Museums“ Quellenstudium zu betreiben. Ferdinand Tönnies, der allgemein als Soziologe oder Philosoph wahrgenommen wird, hat sich bereits sehr früh mit staatswissenschaftlichen Problemen – sei es aus philosophischer, soziologischer, geschichts-, rechtswissenschaftlicher oder nationalökonomischer Sicht auseinandergesetzt. Am 26.11.1877 schreibt er an seinen Mentor Friedrich Paulsen: „Ich gedenke neben gründlichem Studium der wichtigsten Philosophen hauptsächlich den Staatswissenschaften mich zu widmen, so weit dazu erforderlich also auch in der Jurisprudenz mich umzusehen [...]“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 6). Die lange Regierungszeit der englischen Königin Viktoria (1837–1901) war eine Zeit großer Fortschritte auf technologischem und industriellem Gebiet. Großbritannien errichtete in der ganzen Welt ein umfangreiches Imperium, in dem aber viele Menschen arm blieben. So kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem tiefgreifenden Wandel auch des kollektiven Lebensgefühls und ließ Fortschrittsglauben in Kriegserwartung und Schreckensvisionen umschlagen. Es gab immer häufiger Kampagnen z.B. für die Selbstverwaltung Irlands (Home Rule). Dass ein Staat einer ständigen Entwicklung unterliegt, ist von Peter-Ulrich Merz-Benz im Zusammenhang mit Tönnies so formuliert worden: „Was den Staat ausmacht, unterliegt einer Entwicklung – einer Entwicklung, an deren Ende sein Hervortreten im Denken, seine Präsentation als `Gedankending´ steht, als sein eigentliches Sichtbarwerden und Zu-sich-selbst-Kommen; und es ist dies neu gewonnene Verständnis der Entstehung der Staaten, welches von Tönnies nunmehr auf die Wirklichkeitsauffassung im ganzen übertragen wird. Aus ihm, als der Verkörperung der Idee dessen, wie die Wirklichkeit entsteht und zu sich selbst kommt, ersieht er letztlich die Möglichkeit ihrer Erkenntnis“ (Peter-Ulrich Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstitution der Sozialwelt, Frankfurt a. M. 1995, S. 81f.).

Zwei Briefe Klaus Groths

(Tönnies 1901, hier S. 396-402) „Unseren holsteinischen Poeten hast Du sehr schön in Schutz genommen, seine verwundbarste Seite glücklich deckend; denn es ist wohl so, dass seine „Eitelkeit“ die Kehrseite seiner hohen Forderungen an sich war, For­ derungen, die er nach dem „Quickborn“ zu erfüllen nicht das Vermögen hatte“, schrieb Friedrich Paulsen am 16. März 1903 an Ferdinand Tönnies (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 370).

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Zwei Briefe Groths und die Erklärung zu den Briefen veröffentlichte Tönnies in der Hamburgischen Wochenschrift für Deutsche Kultur „Der Lotse“ im März 1901 (DSN 152). Klaus Groth, der Dichter der plattdeutschen Gedichtsammlung „Quickborn“ (1853), war zuerst Volksschullehrer in Heide (Dithmarschen). Seit 1858 war Groth Privatdozent und seit 1866 Honorarprofessor für deutsche Sprache und Literatur in Kiel. Interessant sind u.a. die Bemerkungen über Friedrich Nietzsche. Nietzsche hat die Gedichte von Groth sehr geschätzt, er erwähnt sie in seinem Tagebuch von 1857/58. So hat er sich z.B. von dem Gedicht „Mein Platz vor der Tür“ und noch von zwei anderen Gedichten Groths zu Kompositionen anregen lassen. Die drei Gedichte gehören zur Gruppe der Quickbornlieder in niederdeutscher Mundart. Die Texte hat Nietzsche unverändert übernommen. Klaus Groth hat allerdings von Nietzsches Vertonung nie Kenntnis erhalten (siehe dazu: Erstausgabe von „Mein Platz vor der Thür“ in: Musikalische Werke von Friedrich Nietzsche, hrsg. im Auftrage des Nietzsche Archivs von Georg Goehler, Erster Bd., Die Lieder, Leipzig 1924). Die durchaus ambivalente Beziehung zwischen Tönnies und Groth fand in den späteren Jahren einen harmonischen Ausklang. Tönnies schrieb am 20.12.1893 an Paulsen: „Ich wohne augenblicklich als Gast bei dem alten Klaus Groth, der sonst sehr einsam und doch im Geiste ein lebendiger Greis ist. Seine Erzählungen und Betrachtungen reißen nicht ab; seine Belesenheit ist erstaunlich.“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 309). Dieter Andresen hat in seinem Band „Kraftfeld Heimat“ nicht nur die zwei Briefe an Tönnies aufgenommen, sondern sich auch mit dem „Tönnies-Kommentar“ auseinandergesetzt: „Er [der Kommentar] sagt nicht nur über Groth etwas aus, sondern fast mehr noch über Tönnies selbst: seine Freundschaft ohne Liebedienerei – seine Fähigkeit zur Verehrung ohne Devotion. Er sieht den viel älteren Groth mit dem Blick des Freundes, der für Schwächen nicht blind ist, diese aber vor herabsetzender Deutung in Schutz nimmt [...] Dass kein Mensch – auch der innerlich freieste nicht – den sozialgeschichtlichen Koordinaten seines Daseins entrinnen kann – dem Soziologen war das nur allzu bewusst. Wohl auch darum war es ihm gegeben, das Schicksal Klaus Groths mit so teilnehmender Sympathie zu begleiten“ (Dieter Andresen, Kraftfeld Heimat. Profile des Nordens, Norderstedt 2006, S. 154f.). Klaus Groth ist am 1. Juni 1899 gestorben. Sein Kieler Haus, das ursprünglich ein Groth-Museum werden sollte, wurde 1908 abgebrochen und durch einen Neubau der „Anschar-Schwesternschaft“ ersetzt. Nur der Name „Haus Quickborn“ erinnert noch an den Dichter aus Dithmarschen.



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Die schöpferische Synthese Ein philosophisches Résumé

(Tönnies 1901, hier S. 403-414) Den Text „Die schöpferische Synthese“ veröffentlichte Tönnies 1901 mit dem Zusatz „Ein philosophisches Résumé“ in der Wiener Wochenschrift „Die Zeit“ (DSN 157). „Die Zeit“ wurde 1894 von Heinrich Kanner, Isidor Singer und Hermann Bahr (1899 von Max Burckhard ersetzt) gegründet. Sie bestand vom 6. Oktober 1894 bis zum 29. Oktober 1904 und bediente hauptsächlich kulturelle aber auch politische Themen. Im Jahr 1904 wurde die Zeitschrift als die Österreichische Rundschau weitergeführt. Parallel zur Wochenschrift erschien seit 1902 „Die Zeit“ als Morgen- und Abendblatt, und damit in der Form einer Tageszeitung. Nach dem Neurophysiologen, Psychologen und Philosophen Wilhelm Wundt, der als Begründer des ersten Labors für experimentelle Psychologie sowie der Psychologie als Disziplin gilt, ist die „schöpferische Synthese“ ein eigenständiges Erkenntnisprinzip der Psychologie. Jede Wahrnehmung ist zerlegbar in elementare Empfindungen, aber sie ist niemals bloß die Summe dieser Empfindungen, sondern aus deren Verbindung entsteht ein „Neues“ mit eigentümlichen Merkmalen, die in den Empfindungen nicht enthalten waren. Tönnies, der den Begriff der „schöpferischen Synthese“ von Wilhelm Wundt entlehnt, folgt nicht der Gesamtheit des Wundt’schen Begriffes. Für Tönnies ist die „schöpferische Synthese“ derjenige Ausgleich und diejenige Versöhnung, die in der Richtung der Lebenserhaltung und Lebensförderung liegt. In der Konsequenz also die Wiederherstellung eines ursprünglichen positiven Gehaltes, der fortwährend sich zu verteidigen und zu retten genötigt ist. Tönnies schrieb 1902 an den dänischen Philosophen Harald Höffding: „Ich verehre Wundt sehr; aber seine Stellung zu den historischen Dingen hat etwas von der Naivität mit der regelmäßig die Naturforscher sich dazu verhalten [...]“ (Cornelius Bickel und Rolf Fechner (Hg.), Ferdinand Tönnies / Harald Höffding, Briefwechsel, Berlin 1989, S. 93). Im Zusammenhang mit der „schöpferischen Synthese“ sei noch das Buch von Eduard Georg Jacoby „Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies“ genannt. Es heißt dort auf der Seite 30: „Dann aber spielt eine bedeutende Rolle der schon im Anfang der „Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza“ von 1883 hervorgehobene Satz von Spinoza: „Wille und Intellekt sind eines und dasselbe.“ Er ist von größter Bedeutung für die Entwicklung der soziolo-

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gischen Theorie in „Gemeinschaft und Gesellschaft“, denn er bezeichnet den Ausgangspunkt für die sozialpsychologische Voluntarismus-Lehre von Tönnies.“ Der Begriff vom „voluntaristischem Theorem“ ist von Tönnies zuerst gebraucht und von Wundt durch seine Autorität in Umlauf gebracht worden (siehe dazu auch die Schrift: Ferdinand Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“ im Band 22 TG, S. 327-349).

Terminologische Anstösse

(Tönnies 1901, hier S. 415-423) Der Text erschien zuerst 1901 in der „Zeitschrift für Hypnotismus, Psychotherapie sowie andere Psychophysiologische und Psychopathologische Forschungen“, hrsg. von Auguste Forel und Oskar Vogt, Band 10, S. 121-130 (DSN 158). Als der Hirnforscher und Tönnies Freund Oskar Vogt 1895 Jonas Grossmann als Redakteur ablöste, änderte er auch den Namen der Zeitschrift. Ab dem 4. Band von 1896 trug sie den oben aufgeführten Namen. Ab 1902 wurde der Titel in „Journal für Psychologie und Neurologie“ geändert und erreichte bis zum Zeitpunkt seiner Einstellung im Jahre 1942 insgesamt 50 Bände. Im Oktober 1898 schreibt Tönnies an seinen Freund Friedrich Paulsen: „Sahst Du vor einem Jahr in den philosophischen Journalen die Aus­ schreibung eines englischen Preises – Welby Prize von 50 Pfund für eine Arbeit über philosophische und psychologische Terminologie? Diesen Preis habe ich gewonnen – zu meiner Überraschung [...]“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 334). Paulsen war von der „Terminologie“ so überzeugt, dass er im November 1899 an Tönnies schrieb: „Deine „Philosophische Terminologie“ mußt Du deutsch herausgeben, oder vielleicht erweiternd überarbeiten: es ist eine solche Fülle von historischen und sachlichen Fragen darin berührt, daß Du für ihre Ausführung den doppelten Raum brauchst. Ich finde den Aufsatz in hohem Maße suggestiv, vor allem auch den Gedanken des social will, der sich in der Sprache manifestiert“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 344). Tönnies besuchte 1902 die Initiatorin der Preisfrage, die von der englischen Lady Victoria Welby gestellt worden war und ein sprachphilosophisches Thema zum Gegenstand hatte. Lady Victoria Welby war seit 1897 Witwe des William Earl Welby-Gregory und Ehrendame der Königin Victoria. Ebenfalls 1897 erschien ihr erstes Buch „Grains of Sense“, wo sie noch nicht den Ausdruck „significs“ gebraucht, der in der Schrift von 1903, und im Titel einer Schrift von 1911 „Significs and Language“ erscheint. Tönnies setzte sich für den später gebräuchlich gewordenen Namen „Semantik“ ein. Im übrigen hat Tönnies den Ratschlag von



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Paulsen befolgt und die in englischer Sprache abgefasste Preisschrift 1906 in deutscher Übersetzung unter dem Titel: „Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht“ veröffentlicht (siehe dazu TG Band 7, hrsg. von Arno Bammé und Rolf Fechner, S. 119-250). Tönnies hat durchaus den Wert dieser Schrift formuliert, stellt sie doch eine Fortführung seiner bereits 1887 geschriebenen erkenntnistheoretischen Reflexionen dar und ist somit nach seiner eigenen Auffassung eine Tochter von „Gemeinschaft und Gesellschaft“, mit der er seine sprachphilosophischen Überlegungen mit einer systematischen Geschichte der philosophischen Terminologie seit dem 17. Jahrhundert in eine umfassende geltungslogische Zeichentheorie integrierte. Die Preisschrift wird durch eine neue Vorrede und drei Anhänge (Additamente) ergänzt. Die hier abgedruckte Schrift ist eine Zusammenfassung aus dem Jahre 1900, die unter dem Titel „Terminologische Anstösse“ auf Veranlassung Oskar Vogts als Resümee erschienen ist. Die Additamente sind im TG Band 7 S.  233-250 abgedruckt.

Zur Theorie der Geschichte (Exkurs) (Tönnies 1902, hier S. 424-455)

Den Exkurs „Zur Theorie der Geschichte“ (DSN 161) veröffentlichte Ferdinand Tönnies im Februar 1902 im „Archiv für systematische Philosophie“, das von Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann, Paul Nartorp, Christoph Sigwart, Ludwig Stein und Eduard Zeller herausgegeben wurde. Der Philosoph Julius Bergmann begründete 1868, nachdem er die Mitherausgeberschaft der Zeitschrift „Der Gedanke“ aufgegeben hatte, die „Philosophischen Monatshefte“, aus denen im Jahre 1895 das „Archiv für systematische Philosophie“ hervorging. Tönnies setzt sich in seinem Aufsatz „Zur Theorie der Geschichte“ mit Rickerts Theorie der historischen Erkenntnis auseinander. Ferdinand Tönnies führte im Jahre 1902 eine heftige Kontroverse mit dem Begründer der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus Heinrich Rickert. Thema waren Inhalt und Ton des ersten Teils von Rickerts „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ sowie seiner Schrift „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“. Darin wandte sich Tönnies u.a. sowohl gegen die strenge Scheidung von Erklären und Verstehen wie auch gegen methodologische Missverständnisse der Abstammungslehre und letztlich gegen Rickerts Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung. Dass Rickerts „Quellen über die materialistische Geschichtsauffassung wirklich zum guten Teil in Sümpfen verlaufen“, wie schon dort behauptet, ist emphatisch wiederholt in Tönnies „Jahresbe-

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richt über Erscheinungen der Soziologie aus den Jahren 1897 und 1898“ (DSN 163). An Harald Höffding schrieb Tönnies im März 1916: „In meinem Gebiet treffe ich überall die Spuren von Rickert, dem ich selber nicht viel abgewinnen kann.“ Und im Dezember 1917: „Sociologie ist aber für mich nicht ausschließlich vergleichende Geschichtsforschung, nicht nur eine historische Wissenschaft, sondern auch, und zunächst, eine Wissenschaft von Verhältnissen, also von Begriffen der Verhältnisse – in Rickert’s Sinne „Naturwissenschaft“. Ich habe selber Veranlassung gehabt mich mit Rickert auseinanderzusetzen, der meiner Ansicht nach übermäßig viel von sich reden gemacht hat. Er geht doch an die Erscheinungen, ohne sich einen massgebenden Begriff von „Wissenschaft“ gebildet zu haben. Dass Geschichte solche Wissenschaft sei, steht ihm ohne weiteres fest.“ (Ferdinand Tönnies Harald Höffding, Briefwechsel, S. 120 und 129f.). Cornelius Bickel stellt in einem Fazit die kontroversen Meinungen von Rickert und Tönnies gegenüber: „Die Geschichtswissenschaft hat für Rickert das Ziel, die individuelle Kulturbedeutung individueller historischer Tatsachen zu verstehen. Für dieses Ziel können im Bedarfsfalle die Resultate der systematischen Wissenschaft als Hilfsmittel herangezogen werden. Die generalisierenden Gesellschaftswissenschaften werden durch die logische Begründung der Kulturwissenschaft völlig unbeeinflusst gelassen, sofern sie sich innerhalb ihres Aufgabenbereiches halten. Beide Wissenschaftstypen können nur aufgrund verworrener erkenntnistheoretischer Ansichten oder vielmehr in der durch das Fehlen jeglicher erkenntnistheoretischer Denkfähigkeit hervorgerufenen Finsternis in ein Konkurrenzverhältnis zueinander gebracht werden. Sie haben es in Wahrheit mit ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen zu tun. Mischformen beider Wissenschaftstypen allerdings sind logisch möglich. Nur ergeben sich daraus für die Logik der Geschichtswissenschaft im streng transzendentalen Sinn keine Konsequenzen. Für Tönnies dagegen hat die Geschichtswissenschaft die Aufgabe, die wesentlichen Zusammenhänge, die hinter der bunten Vielfalt der Erscheinungen sich auswirken, zu erfassen. Tönnies kann sich über Rickerts Umständlichkeiten bei der logischen Grenzziehung zwischen dem transzendentalen Natur- und Kulturbegriff nur mokieren. Für ihn gibt es allein die Wirklichkeit aus Fakten und Regelmäßigkeiten, die sukzessive immer vollständiger durch wissenschaftliche Erkenntnis erfaßt wird“ (Cornelius Bickel, Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus, Opladen 1991, S.  137; siehe zum Verhältnis Tönnies / Rickert auch: Cornelius Bickel auf dem 1. Tönnies-Symposium 1980 in Kiel: „Tönnies’ Kontroverse mit Rickert über wissenschaftstheoretische Probleme der Geschichtswissen-



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schaft und der Soziologie, in: Lars Clausen und Franz Urban Pappi (Hg.), Ankunft bei Tönnies, Kiel 1981, S. 95-131).

Wilhelm Förster (Zum siebzigsten Geburtstage) (Tönnies 1902, hier S. 456-461)

Die „National-Zeitung“, in der am 16. Dezember 1902 ihrer „MorgenAusgabe“ der Text „Wilhelm Förster. (Zum siebzigsten Geburtstage.)“ erschien, war am 1. April 1848 von dem Verleger Bernhard Wolff, dem Journalisten Theodor Mügge, dem Pädagogen Friedrich Diesterweg, dem Privatdozenten Carl Nauwerck und dem Schriftsteller David Kalisch gegründet worden (DSN 168). Als Produkt der „Märzrevolution“ galt sie als eines der frühesten Beispiele der parteibezogenen Meinungspresse gemäßigt liberaler Richtung. Als erste Zeitung Berlins erschienen zwei Ausgaben täglich. Im September 1938 wurde die mit dem „8 Uhr-Abendblatt“ verschmolzene „National-Zeitung“ eingestellt. Wilhelm Julius Foerster (Tönnies schrieb den Namen stets mit „ö“) war Professor der Astronomie an der Universität Berlin und Direktor emer. der dortigen Sternwarte. Foerster habilitierte sich 1858 an der Berliner Universität und wurde 1863 zum außerordentlichen Professor berufen. Nach dem Tode des Direktors der Sternwarte von Berlin Johann Franz Encke wurde er 1865 dessen Nachfolger. Foerster war ein geistreicher, ein nach vielen Richtungen reich begabter und kenntnisreicher Mann. So lagen ihm die allgemeinsten Probleme, die er mit philosophischem Geiste zu betrachten liebte, am meisten am Herzen. Nach Foerster galt es „die Menschheit in ihrem sittlichen Streben zu einigen, ohne nach ihrem religiösen Bekenntnis zu fragen“ (Wilhelm Foerster, Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen, Berlin 1911, S. 225). Ziel sollte eine Gesellschaft sein, die öffentliche Diskussionen über moralische Fragen führen und sich der Jugend- und Erwachsenenbildung widmen sollte. Nach amerikanischem und englischem Vorbild fanden sich 1892 deutsche Wissenschaftler zusammen, um die „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“ ins Leben zu rufen (siehe dazu u.a. den sehr informativen Artikel von Hermann Mulert: „Ethische Kultur“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung, Tübingen 1910, Bd. 2, Sp. 674-679). Die Namen der Gründer stehen für den intellektuellen Zuschnitt dieser Vereinigung: u.a. der Soziologe Ferdinand Tönnies, der Astronom und Rektor der Berliner Universität Wilhelm Julius Foerster (er wurde erster Vorsitzender der Gesellschaft), sein Sohn, der später bekanntgewordene Pädagoge und Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster, der Philosoph Theobald Ziegler und der Berliner EthikProfessor Georg von Gizycki.

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Tönnies hatte im Oktober 1892 an Paulsen geschrieben: „Gizycki beruft mich noch in die 2te Hälfte des Monats nach Berlin. Der „ethischen Bewegung“ habe ich geglaubt, sobald ich davon hörte, mich hingeben zu sollen –, weil ich finde, daß sie einer richtigen Idee entspringt; die Unabhängigkeit und Vornehmheit moralischer Willens- und Denkungsart muß einmal sich nach außen hin behaupten und offenbaren, sie hat das Recht zu tun, als ob die Religionen nicht vorhanden wären, denn wieviel immer an ihnen notwendig und ewig sein mag, so ist Moral, wenn man so sagen darf, notwendiger und ewiger; besonders aber ist ihr die Entwicklung, als Anpassung an gegenwärtige Umstände und Nöte, wesentlicher, und sie kann nicht warten, bis die Kirchen sich geeinigt oder auf den philosophischen Standpunkt sich gestellt haben, den Du ihnen vorschreibst. Daher kann es für die, welche die Moral, sei es als eine rein praktische, prosaische Angelegenheit, wie die Hygiene, mit der sie ja als solche unlöslich zusammenhängt, fördern wollen, gegenüber den Kirchen jetzt keine andere Aufgabe geben, als: zu protestieren! Darum begrüße ich, so wenig ich sonst mit Vereinen und Kongressen im Sinn habe, diesen Verein einmal mit Freuden. Daß ich dabei nicht mich überschwenglichen Hoffnungen hingebe, wirst Du erwarten. Gereuen wird es mich doch nicht, an dieser höchst zeitgemäßen Bewegung, die ich als ein Supplement zur Sozialdemokratie betrachte, einigen Anteil zu nehmen“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S.  298f.). Im Juli 1893 dann: „Ich bewundere den Förster, was er zuwege bringt, und freue mich doch der Sache, als einer nicht hoffnungslosen und als eines ganz schicklichen Zentrums für eine Art des Verhaltens zu den öffentlichen Dingen, die ich zu pflegen alle Ursache empfinde“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 302). Nun bedeutete es in Deutschland einen existentiellen Unterschied, in akademischen Kreisen sozusagen privat gegen Übertreibungen der Kirchen zu polemisieren oder seinen Standpunkt öffentlich bekannt zu geben. Diese Grenzen überschritten sowohl Wilhelm Foerster als auch Ferdinand Tönnies. Religion nahmen die Kulturethiker als Sittenkodex. „Wir wollen es einmal versuchen“, schrieb Ferdinand Tönnies, später selbst Leiter der Abteilung Kiel der „Ethischen Gesellschaft“, „aus der Ethik selber eine Religion zu machen, aus ihr ganz allein“ (Ferdinand Tönnies, Ethische Cultur und ihr Geleite. I: Nietzsche-Narren, II: Wölfe in Fuchspelzen, Berlin 1893, S. 17). Die „Ethische Gesellschaft“ wolle, so Tönnies, „die Wahrheiten der Ethik“ feststellen und so lehren, „wie die Wahrheiten der Astronomie und anderer Naturwissenschaften“. Es versteht sich, dass hier Wilhelm Foerster, der Astronom, ein wichtiger Vermittler solchen



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Denkens war (Ferdinand Tönnies, Die ethische Bewegung, in: Die Umschau, Frankfurt a. M. 1899, S. 843). Für Tönnies, der durch diese Mitgliedschaft enorme berufliche Nachteile erlitt und sich mit dem Ministerialdirektor Friedrich Althoff vom preußischen Kultusministeriums überwarf, ergaben sich durch die Gesellschaft verschiedene freundschaftliche Beziehungen, die er höher schätzte, namentlich eben zu dem Astronomen Wilhelm Foerster, dem er später (1901) seine „Politik und Moral“ widmete und auch diesen Text zum 70. Geburtstag verfasste.

Ammons Gesellschaftstheorie (Nach einem Vortrage) (Tönnies 1904, hier S. 462-485)

Der nach einem Vortrage veröffentlichte Text „Ammons Gesellschaftstheorie“ (DSN 181) erschien 1904 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik war eine Zeitschrift für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik und Nachfolgerin des von Heinrich Braun begründeten Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik. 1904 übernahmen Max Weber, Edgar Jaffé und Werner Sombart die Redaktion. 1933 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Otto Ammon war ein einflussreicher Vertreter der Rassenanthropologie und eines reaktionären Sozialdarwinismus. Er gehörte zu einer Gruppe von Sozialanthropologen, die die Kultur- und Geschichtstheorie mit den Ideen des Sozialdarwinismus und anthropologischen Messmethoden zu einer politischen Mythologie in wissenschaftlichem Gewand formten und publizistisch erfolgreich verbreiteten. Ammon hatte von 1886 bis 1894 Schädelvermessungen an badischen Rekruten durchgeführt, die von der badischen Regierung finanziell gefördert worden waren. Seine Ergebnisse flossen in sein Werk „Die natürliche Auslese beim Menschen“, Jena 1893, ein. Tönnies hatte bereits 1894 dieses Buch von Otto Ammon zum Gegenstand einer vernichtenden Kritik gemacht. Dies Werk war eines der ersten, das sich der Rede von „Langköpfen“ und „Rundköpfen“ aus der Rassenpropaganda bediente, um die Höherwertigkeit der Langköpfe „und der hellen Pigmente“ zu beweisen. Konsequent verstieg sich Ammons Hauptwerk zu dem Satz „die Arier sind die Kulturträger aller Zeiten“. Es war für Tönnies ein leichtes, die Haltlosigkeit „der inneren Konstruktion dieser oberflächlichen und verworrenen Theorie“ aufzuzeigen; noch schlimmer aber stand es mit der Qualität des Tatsachenmaterials, worauf sie aufgebaut war – die anthropometrischen Maßstäbe von zweifelhaftem Wert, das Material, woran sie durchgeführt waren, unzulänglich und als

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Stichprobe unzulässig, die einfachsten arithmetischen Operationen der Analyse ungenau. Tönnies kommt zu dem Schluss, dass alles in allem die Grundlagen, auf denen die anspruchsvolle Rassenphilosophie dieses Buches steht, morsch sind. Ferdinand Tönnies entschloss sich 1903 zu einem Vortrag über diesen Gegenstand. Die Ausarbeitung des Vortrages, die hier abgedruckt ist, erschien im ersten Heft der als neue Folge des Braunschen Archiv von Edgar Jaffé finanzierten und von Werner Sombart und Max Weber herausgegebenen neuen Zeitschrift. An der Ammonschen Gesellschaftstheorie ließ sich nämlich die Gefahr des Rassismus am deutlichsten ablesen. So heißt es dann auch bei Tönnies: „Der Verfasser [...] ist darauf gefasst, dass man seine Lehre wegen ihrer Konsequenzen als eine ideallose, wohl gar als umstürzende angreifen werde, [...] scheint auf eigentlich wissenschaftliche Kritik entweder nicht zu rechnen oder gegen solche sich sicherer zu fühlen“. Tönnies’ Kritik zeigt, dass es Ammon darum zu tun war, die empirischen Ergebnisse seiner Untersuchung in ein vorgefundenes herrschendes Gesellschaftsideal einzubauen, und das in einem Augenblick, wo dies Ideal am meisten der Stütze vor seinem nahenden Zusammenbruch zu bedürfen schien. Franz Oppenheimer stellte 1912 fest: „Mit Ammon sich zu beschäftigen, dürfte sich für eine wissenschaftliche Gesellschaft erübrigen, nachdem Ferdinand Tönnies ihn ein für allemal erledigt hat“ (Franz Oppenheimer, Verhandlungen des 2. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1913, S. 109). Eindeutig in seiner Einschätzung ist auch Friedrich Paulsen, der im Juni 1904 an Tönnies schrieb: „In Eile schicke ich Dir den Ammon zurück, ich hatte ihn erhalten und gelesen und den Verfasser zu den Toten gelegt“ (Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen, Briefwechsel, S. 375).

Der europäische Bund

(Tönnies 1901, hier S. 489-496) Ferdinand Tönnies, der im Mai 1901 mit seiner Familie nach Eutin in die Auguststraße Nr. 8 (heute Albert-Mahlstedt-Straße – das Haus steht auch heute noch) umgezogen war (deshalb „von Ferdinand Tönnies (Eutin)“), veröffentlichte diesen Text „Der europäische Bund“ (DSN 145) in der „Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. Das Freie Wort.“, das von Carl Saenger (Begründer) und Max Henning herausgegeben wurde. Als Carl Saenger im November 1901 starb (in der Ausgabe Nr. 17 vom 5. Dezember 1901 ist ein Nachruf), gab Henning das „Freie Wort“ alleine heraus. Die Zeitschrift erschien seit 1901 in Frankfurt am Main, ab 1907 finanziert durch den Buddhisten Arthur Pfungst, einem Mäzen der Szene und Eigentümer des



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„Neuen Frankfurter Verlags“, dem wichtigsten Verlag der dissidentischen Szene. Das „Freie Wort“ widmete sich der internationalen Freidenkerbewegung und der Bildung und Stärkung der nationalen Organisation der Freidenker. Die letzte Ausgabe erschien im Juni 1920 (Mitteilung über die Einstellung in „Das Freie Wort“ Nr. 20, S. 160). „Der europäische Bund“ ist in erster Linie eine Art „Rezension“ des Buches „Die Föderation Europas“ des russischen Soziologen, Publizisten und ehem. Vizepräsidenten des „Institut international de sociologie“ Jacques Novicow (Die Föderation Europas: Einzig autorisierte deutsche Übersetzung von Alfred H. Fried, Berlin und Bern 1901, 728 Seiten). Novicow entwickelt in seinem Buch die Friedensidee als Teil der soziologischen Wissenschaft. Es kommt ihm darauf an, dass diese zuerst nur ethische Idee eine wissenschaftliche Begründung erhält und dass die mannigfachen sozialen Irrlehren, die den Krieg als eine natürliche Bedingung der Menschheit hinstellt, in ihren Grundfesten erschüttert wird. Tönnies äußerte sich bereits 1896 und nochmals 1902 in seinem Text „Jahresbericht über Erscheinungen der Soziologie aus den Jahren 1897 und 1898“ über Jacques Novicow (DSN 99 und 163). Dort heißt es u.a.: „Novicow ist ohne Zweifel einer der gewandtesten und kenntnisreichsten Publicisten des heutigen Europa, und gehört nicht zu den einflusslosesten. Seine Lieblings-Idee ist der europäische Staatenbund, dem er neuerdings noch einen besonderen Band gewidmet hat (La fédération de l’Europe, Alcan 1901; von mir besprochen in der Zeitschrift „Das freie Wort“ 1. Jahrg. No. 6). Im gleichen Sinne kämpft er in allen seinen Schriften mit Kraft und Mut für den Weltfrieden und für universalen Freihandel. Unter den lebenden russischen Schriftstellern von Bedeutung, möchte er der am meisten kosmopolitische sein; ich widme ihm darum eine Sympathie, die trotz dieser Kritik auch in dem vorliegenden Buch manches Ansprechende findet“ (gemeint ist das Werk „Conscience et volonté sociales, Paris ut supra 1897). Der Vergleich mit dem Trinkspruch an einer Festtafel beinhaltet nahezu alle Vorbehalte, die Tönnies gegenüber den Aussagen von Novicows hegt. Zwar unterstellt Tönnies dem „Friedensforscher“ durchaus die besten Absichten, aber die unterschwellige Naivität des „Verzichts auf Eroberung“ bis zur „Kolometritis“ wird spätestens 1914 von der Realität eingeholt. Und wiederum ist es kein Widerspruch, das der Friedensforscher und Publizist Klaus Mertes nach dem Philologen und Mäzen Jan Philipp Reemtsma sowie dem Theologen und Philosophen Richard Schröder die dritte Persönlichkeit ist, der die „Ferdinand-Tönnies-Medaille“ 2013 von der „Christian-Albrechts-Universität“ zu Kiel verliehen wurde.

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Apparat

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594

Apparat

Tönnies, Ferdinand, 1900: Biblia pauperum. In: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für Deutsche Kultur. Vom 13. Oktober 1900. Heft 2. I. Jg. Hamburg. Tönnies, Ferdinand, 1900: Sittliche Entrüstung? In: Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen. Vom 10. November 1900. 8. Jg. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1901: Politik und Moral. Eine Betrachtung. In: Flugschriften des Neuen Frankfurter Verlags. III. Bd. Frankfurt a. M. Tönnies, Ferdinand, 1901: Terminologische Anstösse. In: Zeitschrift für Hypnotismus, Psychotherapie sowie andere psychophysiologische und psychopathologische Forschungen. 10. Bd. Heft 3. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1901: Zwei Briefe Klaus Groths. In: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. Vom 16. März 1901. Heft 24. 1. Jg. Hamburg. Tönnies, Ferdinand, 1901: Die schöpferische Synthese. Ein philosophisches Résumé. In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Vom 23. März 1901. Nr. 338. 26. Bd. Wien. Tönnies, Ferdinand, 1901: Zur Kontroverse über Politik und Moral. In: Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. Nr. 2. vom 20.04.1901. 1. Jg. Frankfurt a. M. Tönnies, Ferdinand, 1901: Die schöpferische Synthese. Ein philosophisches Résumé. In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Schlussartikel. Vom 27. April 1901. Nr. 343. 27. Bd. Wien. Tönnies, Ferdinand, 1901: Die Verhütung des Verbrechens. In: Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen. Vom 18. Mai 1901. Heft 20. 9. Jg. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1901: Die Verhütung des Verbrechens. In: Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen. Vom 25. Mai 1901. Heft 21. 9. Jg. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1901: Eine Anmerkung über Rousseau. In: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. Vom 13.6.1901. Heft 41. 1. Jg. Hamburg. Tönnies, Ferdinand, 1901: Der europäische Bund. In: Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. Vom 20.06.1901. Nr. 6. 1. Jg. Frankfurt a. M. Tönnies, Ferdinand, 1901: Otto Kallsen. In: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. Vom 3.8.1901. Heft 44. 1. Jg. Hamburg.



Bibliographie

595

Tönnies, Ferdinand, 1901: Die Zerrüttung der liberalen Partei in England. In: Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. Vom 20.08.1901. Nr. 10. 1. Jg. Frankfurt a. M. Tönnies, Ferdinand, 1901: Die Krisis des englischen Staatswesens. In: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. Vom 26. Oktober 1901. Heft 4-6. II. Jg. Hamburg. Tönnies, Ferdinand, 1901: An den Präsidenten Paul Krüger ut Transvaal. In: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. Vom 8.12.1900. Heft 10. 1. Jg. Hamburg. Tönnies, Ferdinand, 1902: Zur Theorie der Geschichte (Exkurs). In: Archiv für Philosophie. II. Abtheilung. Archiv für systematische Philosophie. Hrsg. von Paul Natorp u.a. Neue Folge der Philosophischen Monatshefte. 8. Bd. Heft 1. Ausgegeben am 24. Februar. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1902: Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitions-Freiheit. In: Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform. Herausgegeben von dem Vorstande. Heft 5. Jena. Tönnies, Ferdinand, 1902: Jahresbericht über Erscheinungen der Soziologie aus den Jahren 1897 und 1898. In: Archiv für systematische Philosophie. 6. und 8. Bd. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1902: Wilhelm Förster. (Zum siebzigsten Geburtstage.). In: Nationalzeitung vom 16.12.1902. 55. Jg. Nr. 730. MorgenAusgabe. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1903: L’Évolution sociale en Allemagne (1890– 1900). Extrait de la Revue Internationale de Sociologie. Paris. Tönnies, Ferdinand, 1903: Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck. In: Schriften des Vereins für Sozialpolitik. CIV. 1. Die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter. 2. Bd. Erste Abteilung. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1904: Ammons Gesellschaftstheorie. Nach einem Vortrage. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 19. Bd. Heft 1. Tübingen. Tönnies, Ferdinand, 1906: Philosophische Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1913: Rezension über die Schrift „Moralstatistik und Konfession“ von Pastor Johannes Forberger. In: Theologische Literaturzeitung. Ausgabe Nr. 9. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1915: Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1922: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1925: Moralstatistik. In: Handwörterbuch der Staats­­ wissenschaften. 6. Bd. Jena.

596

Apparat

Tönnies, Ferdinand, 1926: Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkriege. 4. verbesserte Auflage. Berlin und Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1930: Vortrag über Soziographie. In: Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziologentages vom 28. September bis 1. Oktober 1930 in Berlin. Untergruppe für Soziographie. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1930: Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute. In: Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele. Hrsg. von L. Brauer u.a. Hamburg. Tönnies, Ferdinand, 1998: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 22. 1932–1936. Mein Verhältnis zur Soziologie. Hrsg. von Lars Clausen. Berlin / New York. Tönnies, Ferdinand, 2000: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 9. 1911–1915. Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung. Hrsg. von Arno Mohr und Rolf Fechner. Berlin / New York. Tönnies, Ferdinand, 2002: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 14. 1922. Kritik der öffentlichen Meinung. Hrsg. von Alexander Deichsel, Rolf Fechner und Rainer Waßner. Berlin / New York. Tönnies, Ferdinand, 2005: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23,2. 1919–1936. Erinnerungen an Altona. Hrsg. von Brigitte ZanderLüllwitz und Jürgen Zander. Berlin / New York. Tönnies, Ferdinand, 2009: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 7. 1905–1906. Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht. Hrsg. von Arno Bammé und Rolf Fechner. Berlin / New York. Tönnies, Ferdinand, 2009: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 7. 1905–1906. Discussion on „Restrictions in Marriage“ and on „Studies in National Eugenics“. Hrsg. von Arno Bammé und Rolf Fechner. Berlin / New York. von Treitschke, Heinrich, 1879–1894: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. 5 Bände. Leipzig. Vorzimmer, Peter, 1969: Darwin, Malthus, and the Theory of Natural Selection. In: Journal of the History of Ideas. Vol. 30. Nr. 4. Baltimore. Wächter, Leonhard [Pseudonym Veit Weber], 1810: Sagen der Vorzeit. Sechster Theil. Berlin. Wagner, Adolph, 1893 und 1894: Grundlegung der Politischen Ökonomie. Grundlagen der Volkswirtschaft. 3. Auflage. Leipzig. Weber , Max, 1919: Politik als Beruf. München und Leipzig. Wehler, Hans-Ulrich, 1973: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. Deutsche Geschichte. Hrsg. von Joachim Leuschner. Band 9. Göttingen.



Bibliographie

597

Weingart, Hermann (Hg.), 1900: Der Prozeß Weingart in seinen Hauptaktenstücken mit Beilagen. 5. verbesserte Auflage. Osnabrück. Weismann, August, 1891: Amphimixis. Oder: Die Vermischung der Individuen. Jena. Weismann, August, 1892: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena. Weismann, August, 1892: Die Continuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung. 2. veränderte Auflage. Jena. Lady Welby, Victoria, 1891: Witnesses of Ambiguity. A Collection. Grantham. Lady Welby, Victoria, 1896: Sense, Meaning and Interpretation. In: MIND. New Series. Vol. 5. No. 17 (January 1896). London and Edinburgh. Lady Welby, Victoria, 1896: Sense, Meaning and Interpretation. In: MIND. New Series. Vol. 5. No. 18 (April 1896). London and Edinburgh. Lady Welby, Victoria, 1897: Grains of Sense. London. Lady Welby, Victoria, 1911: Significs and language. London. Welzig, Werner, 1999: Auf nach Bremen! In: Wissenschaft Bildung Politik. Hrsg. von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Band 3. Wien Köln Weimar. Windelband, Wilhelm, 1894: Geschichte und Naturwissenschaft: Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg. Gehalten am 1. Mai 1894. Strassburg. Wolfsteiner, Alfred, 1993: Die Fuchsmühler Holzschlacht 1894 – Chronologie eines Skandals. Gemeinde Fuchsmühl. Wucherer, Johann Friedrich (Hg.), 1859: Ein Brief vom Lotto. Freimunds kirchlich-politisches Wochen-Blatt für Stadt und Land. 5. Jg. Nördlingen. Wundt, Wilhelm, 1895: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. 2 Bände. 2. Bd. Methodenlehre. Zweite Abteilung. Zweite umgearbeitete Auflage. Stuttgart. Wundt, Wilhelm, 1908: Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Drei Bände. 3. Bd. Logik der Geisteswissenschaften. 3. umgearbeitete Auflage. Stuttgart. von Zabuesnig, Johann Christian (Hg.), 1779: Historische und kritische Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn von Voltaire

598

Apparat

und anderer Neuphilosophen unserer Zeiten. Zweite, vermehrte und verbesserte Ausgabe. 2. Bd. Augsburg. Zander-Lüllwitz, Brigitte und Zander, Jürgen (Hg.), 2005: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23,2. 1919–1936. Nachgelassene Schriften. Berlin / New York.

Register der Publikationsorgane Periodika und Hand(wörter)bücher wurden berücksichtigt. Die Wörter folgen einander alphabetisch, grammatikalische Artikel wurden mit eingeordnet. Annales des l’Institut International de Sociologie.   103 Archiv für Gemeines Deutsches und für Preußisches Strafrecht.   55 Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalstatistik.   25 Archiv für Philosophie.   424 Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik.   277 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.   462 Archiv für systematische Philosophie. Bis 1895 Philosophische Monatshefte.   424 Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch­ lands.   85, 108 Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens.   350, 356, 489 Der Lotse.   148, 331, 360, 362, 366, 375, 396, 400 Der Kunstwart.   148 Der Seemann, Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter. Erscheint am 1. Und 15. jeden Monats. Titel ab 1902: Titel ab 1902: Der Seemann. Zentral-Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter in Deutschland. Erscheint alle 14 Tage Sonnabends. Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Paul Müller, Hamburg.   151, 157, 158, 198, 199, 204, 214, 247, 256 Der Stürmer. Nationalsozialistischen Hetzblatt.   148 Des Knaben Wunderhorn.   353 Deutsche Rundschau.   148 Deutsche Worte. E. Pernerstorfer (Hg.)   337 Deutsches Reichsgesetzblatt.   53, 200, 282 Deutsches Wochenblatt.   130 Dictionnaire des Sciences politiques. Siehe auch „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“.   121 Dictionnaire des Sciences sociales.   147 Die Christliche Welt.   138

600

Apparat

Die Frauenbewegung. Wochenzeitschrift aus Berlin.   141 Die Gartenlaube.   312 Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen (späterer Untertitel Zeitschrift für die Frauen und Mädchen des werktätigen Volkes).   70, 79, 83, 141 Die Hilfe.   350 Die Minute.   332, 333, 334, 335, 336 Die neueren Sprachen.   360 Die Neue Welt. Illustriertes Unterhaltungsblatt für das Volk.   126 Die neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie.   114, 147 Die Post. Zeitung der Freikonservativen Partei.   130, 134 Die Wahrheit. Halbmonatsschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens.   397, 399 Die Woche.   148 Die Zeit.   Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst.   403 Die Zukunft.   148 Drucksachen des Sächsischen Landtags.   75 Economist.   376 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reiches.   214, 244, 245 Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen.   54, 56, 60, 65, 100 Ethische Kultur. Wochenschrift für ethisch-soziale Reformen (später „Monatsblatt für ethisch-soziale Neugestaltung“).   5, 309, 322, 323, 324, 337, 344 Flensburger Nachrichten (1865–1945; später Flensburger Tageblatt)    202 Flugschriften des Neuen Frankfurter Verlags.   3, 350 Frankfurter Zeitung.   350 Freimunds kirchlich-politisches Wochen-Blatt für Stadt und Land.   399 Frommanns Klassiker der Philosophie.   10, 365 German Economic Review. Zeitschrift des Verein für Socialpolitik.   140 Gesetzessammlung für die königlich Preußischen Staaten.   281 Goltdammer’s Archiv für Strafrecht.   55 Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Siehe auch „Dictionnaire des Sciences politiques.“   121



Register der Publikationsorgane

601

„HANSA“ Deutsche Nautische Zeitschrift. Hamburg (wöchentlich erscheinendes Zentralorgan für Schiffart, Schiffbau, Hafen).   158, 216, 233, 234 International Journal of Ethics. [Tönnies nennt sie „International Ethical Review“]   337, 344 Journal of the History of Ideas.   462 Kreuzzeitung.   25, 110, 131 Les Guêpes. Histoire satirique de notre temps.   352 Lübecker Volksbote. Organ für die Interessen der werkthätigen Bevölkerung.   134 Lübische Blätter (gemeint sind die „Lübeckische Blätter“).   248, 255 Medicinisch-chirurgische Zeitung.   340 Men of the Times: A Biographical Dictionary of Eminent living Characters of both sexes.   476 Mind.   421, 422 Mittheilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen.   72, 73, 74, 75, 79 Monatliche Ausweise über den auswärtigen Handel des deutschen Zollgebietes nebst Angaben über Großhandelspreise sowie über die Gewinnung von Zucker   294 Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches.   129, 294, 356 National-Zeitung.   456 Neue Preußische Zeitung.   131 Neue Zeit.   114, 147 New York Times.   356, 358, 389 Perspektiven der Wirtschaftspolitik. Zeitschrift des Vereins für Socialpolitik.   140 Preußischer Staats-Anzeiger.   96 Regierungs-Blatt für das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach.    80 Reichsarbeitsblatt.   294 Reichsbote. Presseorgan der Deutschkonservativen Partei.   131, 132 Reichs-Gesetzblatt.   88 Revue de législation sociale.   121

602

Apparat

Revue de Métaphysique et de Morale.   421 Revue de synthèse historique.   433, 451 Revue Internationale de Sociologie.   101, 103, 113, 142 Schleswig-Holsteinischen Kirchenblatt.   259, 263 Schleswig-Holsteinischen Volks-Zeitung – Organ für das arbeitende Volk.   157, 200, 219 Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform.   49, 63 Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit.    313 Schriften des Vereins für Socialpolitik.   113, 140, 149, 316 Senatsprotokolle der Stadt Hamburg.   320 Soziale Praxis.   63, 148, 301 Sozialistische Monatshefte.   147 Sozialpolitisches Centralblatt.   148 Staatsbürgerzeitung.   131 Statistik des Deutschen Reiches.   294, 356 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich.   142, 294 The Fortnightly Review.   390, 391 The Monist.   420 Tönnies-Forum. Rundbrief der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft.   332, 397 Verhandlungen des XXVIII. ordentlichen Landtags im Großherzogtume Sachsen-Weimar-Eisenach.   80, 81 Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs.   129, 143, 294, 295, 356 Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie.   407 Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft.   464 Zeitschrift für Hypnotismus, Psychotherapie sowie andere psychophysiologische und psychopathologische Forschungen.   415 Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane.   424

Personenregister Die Namen folgen einander alphabetisch, ungeachtet der Adelsprädikate. Diakritische Zeichen sind dabei außer Acht gelassen worden; Ligaturen werden aufgelöst. Das Personenregister erfasst grundsätzlich alle Namen Lebender oder Toter, die in den edierten und erläuterten Texten und Passagen vorkommen. Gegebenenfalls wurde orthographisch korrigiert, z.B. fremdländische Namen eingedeutscht. Adelsprädikate werden den Namen vorangestellt, ohne die alphabetische Anordnung zu beeinflussen. Schreibvarianten der Namen stehen in runden Klammern. Die Lebensdaten erscheinen kursiv. Dem schließen sich kurze Angaben zum beruflichen Wirkungskreis an; gelegentlich erstrecken sich die Hinweise auf den Kontext der vorliegenden Ausgabe. Namen jedoch, die sich in Bd. 1 – 26 von Meyers Enzyklopädischem Lexikon (Meyer 1971–81), finden, sind nach ihren Lebensdaten mit einem Asterisk (*) versehen worden und wurden nicht weiter erläutert, sofern sich kein besonderer editorischer Anlass ergab. Die Namen der Herausgeber von Sammelwerken oder Verlagsnamen sind vernachlässigt worden, soweit sie nicht in den Tönniesschen Texten auftauchen oder von keinem editorischem Nutzen gewesen sind. Accius, Lucius (um 170 v.Chr.- um 90 v.Chr.)*, römischer Tragödiendichter   359 Agahd, Konrad (1867–1926), deutscher Schrift­ steller, Pädagoge und Journalist   289 Ahlwardt, Hermann (1846–1914)*, Reichstagsabgeordneter sowie antisemitischer Agitator   131, 133 Alberts, Jacob (1860–1941), deutscher Maler   144 Alt, Johannes (1842–1894), Buchhändler, Verleger   316 Althoff, Friedrich (1839–1908), deutscher Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium   569 Ammon, Otto (1842–1916), deutscher völkischer Soziologe, Anthropologe und

Eugeniker   147, 462-485, 544, 569, 570 Andreas-Salomé (geborene Louise von Salomé), Lou (1861–1937), Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie   145, 542 Andresen, Dieter (1935–), deutscher Theologe und Autor   562 Antisthenes (um 445 v.Chr.-um 365 v.Chr.)*, griechischer Philosoph der Antike   336, 553, 554 Apelt, Otto (1845–1932), deutscher klassischer Philologe, Übersetzer und Gymnasiallehrer   345 Arendt, Otto (1854–1936)*, deutscher Publizist und freikonservativer Politiker   110, 130

604

Apparat

Aristoteles (384 v.Chr.–322 v.Chr.)*, griechischer Philosoph   29, 408, 439 Aschrott, Paul Felix (1856–1927), deutscher Jurist, Strafrechts- und Sozialreformer   280, 293, 550 Asquith, Herbert Henry (1852–1928)*, britischer Politiker der Liberalen Partei und Premierminister des Vereinigten Königreichs von 1908 bis 1916   393 Augustinus von Hippo (auch: Augustinus von Thagaste) (354–430)*, lateinischer Kirchenlehrer der Spätantike und Philosoph an der Epochenschwelle zwischen Antike und Mittelalter   24 Avenarius, Ferdinand (1856–1923), deutscher Dichter   148, 407, 545 Ayaß, Wolfgang (1954–), deutscher Historiker, Sozialpädagoge und Hochschullehrer   53 Bacon, Francis (1. Viscount St. Albans, 1. Baron Verulam (Baron Baco von Verulam; lat. Baco oder Baconus de Verulamio)) (1561–1626)*, englischer Philosoph, Staatsmann und als Wissenschaftler Wegbereiter des Empirismus   343, 484, 485 Bahr, Hermann (1863–1934)*, österreichischer Schriftsteller, Dramatiker sowie Theater- und Literaturkritiker   403, 563 Bakunin, Michail Alexandrowitsch (1814– 1876)*, russischer Revolutionär und Anarchist   491 Balfour, Arthur James, 1. Earl of Balfour (1848–1930)*, britischer Politiker und Premierminister   384, 388, 389 Bammé, Arno (1944–), deutsch-österreichischer Sozialwissenschaftler, Mit-Hg. TG Band 7   485, 565 Barth, Paul (1858–1922), deutscher Philosoph und Pädagoge   147, 424, 425, 426, 449, 454, 455, 544 Barth, Theodor (1849–1909)*, deutscher Politiker und Publizist   128, 529 Bartmann, Ursula (1959–), deutsche Autorin   135 Bassermann, Ernst (1854–1917)*, Rechtsanwalt und Politiker, Mitglied des Reichstags   63

Baudert, Friedrich Louis August (1860– 1942), deutscher Publizist und Politiker der SPD   82 Bauer, Anton (1772–1843)*, deutscher Rechts­wissenschaftler   338 Bebel, August (1840–1913)*, sozialistischer deutscher Politiker und Publizist, einer der Begründer der deutschen Sozialdemokratie   127, 527 Begas, Reinhold (1831–1911)*, deutscher Bildhauer   144, 541 Beccaria (eigentlich Bonesana), Cesare (1738– 1794)*, italienischer Rechtsphilosoph und Strafrechtsreformer im Zeitalter der Aufklärung   338 von Behring, Emil (1854–1917)*, deutscher Immunologe und Serologe   146, 543 von Bennigsen, Rudolf (1824–1902)*, liberaler deutscher Politiker   356 Bentham, Jeremy (1748–1832)*, englischer Jurist, Philosoph und Sozialreformer   414 Bergmann, Julius (1840–1904)*, deutscher Philosoph   565 Bergson, Henri (1859–1941)*, französischer Philosoph, Nobelpreisträger für Literatur 1927   403 Freiherr von Berlepsch, Hans Hermann (1843–1926)*, deutscher Verwaltungsjurist, Politiker und Sozialreformer im Königreich Preußen   121, 127, 140, 502, 523, 528, 538 Berner, Albert Friedrich (1818–1907)*, einer der bedeutendsten preußischen und deutschen Strafrechtswissenschaftler seiner Zeit   337 Bernstein, Eduard (1850–1932)*, sozialdemokratischer Theoretiker und Politiker in der SPD und zeitweilig der USPD   127, 147, 527, 544 Beseler, Georg (1809–1888)*, deutscher Jurist, Hochschullehrer, preußischer Politiker, königlich preußischer Geheimer Justizrat und Mitglied des Preußischen Herrenhauses. In der Frankfurter Nationalversammlung war er ein führendes Mitglied im Verfassungsausschuss   94 Bichel, Ingeborg (1924–2010), erhielt 2002 den „Quickborn-Preis“   398



Personenregister

Bichel, Ulf (1925–2013), deutscher Sprachund Literaturwissenschaftler, erhielt 2002 den „Quickborn-Preis“ zusammen mit seiner Ehefrau Ingeborg   398 Bickel, Cornelius (1945–), deutscher Soziologe, Mit-Gesamt-Hg. der TG   412, 463, 563, 566 Fürst von Bismarck, Otto (1815–1998)*, deutscher Politiker und Staatsmann    27, 43, 53, 112, 113, 114, 119, 120, 121, 122, 124, 129, 130, 132, 144, 148, 386, 436, 513, 514, 520, 521, 522, 523, 524, 525, 529, 530, 531, 541, 545 Bjørnson, Bjørnstjerne (Björnstjerne Björnson) (1832–1910)*, norwegischer Dichter, Literaturnobelpreisträger und Politiker   145, 542 Blackstone, Sir William (1723–1780)*, englischer Jurist, Richter, Professor und Member of Parliament   338 Blenck, Emil (1832–1911)*, deutscher Statistiker   459 von Bloch, Johann (1836–1902)*, führender Bankier und Industrieller, Eisenbahnpionier in Polen und Russland   493 Bluntschli, Johann Caspar (1808–1881)*, schweizer Staatsrechtler   67 Bockendahl, Adolf Wilhelm (1855–1928), Kieler Gerichtsarzt und Kreisphysicus   238 Böckel, Otto (1859–1923)*, deutscher Bibliothekar, Volksliedforscher und Politiker, antisemitischer Agitator   133 Böckh, Richard (1824–1907)*, deutscher Statistiker, Lehrer von Ferdinand Tönnies   311 Böcklin, Arnold (1827–1901)*, schweizer Maler, Zeichner, Grafiker und Bildhauer des Symbolismus   145, 541 Bödiker, Anton Wilhelm (genannt Tonio Bödiker) (1843–1907)*, preußischer Spitzenbeamter (Geheimer Oberregierungsrat) und erster Präsident des Reichsversicherungsamtes   122, 523 Bonaparte, Napoleon (als Kaiser Napoleon I.) (1769–1821)*, französischer General, revolutionärer Diktator und Kaiser    9, 358, 359, 375, 386, 392, 395, 436, 489

605

Born, Karl Erich (1922–2000), deutscher Wirtschafts- und Sozialhistoriker   114 Bosanquet, Helen (1860–1925), englische Über­setzerin   422 Bosse, Robert (1832–1901)*, deutscher Politiker, zuletzt preußischer Kultusminister   123, 524 von Boetticher, Karl Heinrich (1833–1907)*, preußischer Beamter, deutscher Vizekanzler und Politiker   122, 523 Boysen, L. (bl. um 1900), Handelskammersyndikus, 1890–1917 Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer zu Kiel   232, 233 de Brahe, Tycho (1546–1601)*, dänischer Astronom   457 Brant, Sebastian (1457 oder 1458–1521)*, deutscher Jurist, Professor für Rechtswissenschaft, Herausgeber von antiken Klassikern und Schriften italienischer Humanisten   351 Brater, Karl Ludwig Theodor (1819–1869)*, bayrischer Publizist, Mitredakteur des von Bluntschli begonnenen „Deutschen Staatswörterbuches“   67 Braun, Heinrich (1854–1927), deutscher sozialdemokratischer Publizist und Politiker   121, 148, 277, 399, 502, 522, 545, 549, 550, 569, 570 Brentano, Lujo (1844–1931)*, deutscher Na­­tionalökonom und Sozialreformer   147, 544 Bryce, James (1838–1922)*, britischer Jurist, Historiker und Politiker aus Belfast   390 Buchenberger, Adolf (1848–1904)*, deutscher Nationalökonom und badischer Staatsmann   147, 544 Buckle, Henry Thomas (1821–1862)*, englischer Historiker und einer der besten englischen Schachspieler seiner Zeit   387, 443 Bühler, Johannes (1884–1967), deutscher Autor   119 von Bülow, Bernhard (seit 1899 Graf, seit 1905 Fürst) (1849–1929)*, deutscher Politiker und Staatsmann. Seit 1897 war er Staatssekretär (Minister) des Äußeren und von Oktober 1900 bis Juli 1909

606

Apparat

Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs   122, 123, 351, 523, 524 Freiherr von Bülow, Hans Guido (1830– 1894)*, deutscher Klaviervirtuose, Dirigent und Kapellmeister   370 Burchard, Johann Heinrich (1852–1912), Hamburger Rechtsanwalt und Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg   321 Burckhard, Max (1854–1912)*, österreichischer Theaterdirektor, Theaterkritiker, Schriftsteller und Rechtswissenschaftler   403, 563 Busch, Moritz (1821–1899)*, deutscher Publizist, bekannt für seine Schriften über Bismarck   27 Busse, Carl Hermann (1872–1918)*, deutscher Lyriker   145, 542 Sir Campbell-Bannerman, Henry (1836– 1908)*, britischer liberaler Politiker und Premierminister vom Dezember 1905 bis April 1908   385 De Candolle, Augustin-Pyrame (1778– 1841)*, schweizer Botaniker und Naturwissenschaftler   462 Canisius, Petrus (1521–1597)*, Kirchenlehrer und der Patron der katholischen Schulorganisationen   138 Graf von Caprivi, Georg Leo (1831–1899)*, deutscher Reichskanzler 1890–1894    109, 112, 113, 119, 120, 124, 130, 131, 136, 512, 513, 514, 520, 521, 525, 530, 531, 535 Carnot, Marie François Sadi (1837–1894)*, französischer Politiker, französischer Staatspräsident von 1887 bis 1894   114, 515 Carstens, Uwe (1948–), deutscher Soziologe und Politikwissenschaftler, Mit-Gesamt-Hg. der TG, Hg. Bd. 5 und 22,2, Verfasser der Tönnies-Biografie 2005 und 2013   332, 366, 397, 551, 553, 554, 558, 560 Caserio, Sante Geronimo (1873–1894), italienischer Bäcker und Anarchist, wurde bekannt durch sein Attentat auf den Präsidenten der Dritten Republik Marie François Sadi Carnot   114

Chalybäus, Heinrich Moritz (1796–1862)*, deutscher Philosoph   367 Chamberlain, Joseph (1836–1914)*, britischer Staatsmann   357, 377, 378, 380, 381, 384, 390, 391, 392, 393 Cincinnatus, Lucius Quinctius (um 519 v.Chr.–430 v.Chr.)*, römischer Adliger und Politiker   387 Clausen, Lars (1935–2010), deutscher Soziologe, 1978–2010 Präsident der FTG, federführender Mit-Gesamt-Hg. der TG, Hg. Bd. 22   567 Comte, Auguste (1798–1857)*, französischer Mathematiker, Philosoph und Religionskritiker   412, 413, 414, 446 Conrad, Johannes (1839–1915)*, deutscher Nationalökonom   121, 522 Corneille, Pierre (1606–1684)*, französischer Autor   373 Courbet, Gustave (1819–1877)*, französischer Maler des Realismus, er war der Hauptvertreter der realistischen Malerei in Frankreich   362, 559 Dahlmann, Friedrich Christoph (1785– 1860)*, deutscher Historiker und Staats­ mann, bekannt als einer der „Göttinger Sieben“ und gehörte der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/1849 an, als Mitglied im Verfassungsausschuss war er auch Mitverfasser der Frankfurter Reichsverfassung von 1849   367 Darwin, Charles (1809–1882)*, britischer Naturforscher   411, 414, 462-465, 467, 472, 475, 483 Davidson, Apollon (1929–), russischer Historiker, spezialisiert auf afrikanische Studien   125 Decker, Wulf Hansen (1806–1881), Strandvogt auf Sylt   312 Dehmel, Richard (1863–1920)*, deutscher Dichter und Schriftsteller   145, 542 Deichsel, Alexander (1935–), deutscher Soziologe, Begründer der Ferdinand-TönniesArbeitsstelle der Universität Hamburg, seit 2010 Präsident der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft   XVI Deinhardt, Ernst (1872–1909), deutscher Journalist und Gewerkschafter   85



Personenregister

Descartes, René (1596–1650)*, französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler   406, 409, 412 Diderot, Denis (1713–1784)*, französischer Schriftsteller und Philosoph   410 Diesterweg, Friedrich (1790–1866)*, deutscher Pädagoge   567 Dietze, Ernst Hermann (1837–1917), Generaldirektor des Vereins der chemischen Industrie, Kassierer des Vereins Reichswohnungsgesetz   316 Dilthey, Wilhelm (1833–1911), deutscher Theologe, Gymnasiallehrer und Philosoph   565 Diogenes von Sinope (vermutlich um 410 v.Chr.–vermutlich 323 v.Chr.)*, griechischer antiker Philosoph   345 Disraeli, Benjamin (1804–1881)*, konservativer britischer Staatsmann, 1868 und 1874–1880 Premierminister   357, 384 Döblin, Emil (1853–1918), deutscher Gewerkschafter   140 Dreyer, Max (1862–1946)*, deutscher Schriftsteller und Dramatiker   145, 542 Droysen, Johann Gustav (1808–1884)*, deutscher Historiker und Geschichtstheoretiker; 1848/1849 saß er in der Frankfurter Nationalversammlung und gehörte dem wichtigen Verfassungsausschuss an   367, 449 Dühring, Eugen (1833–1921)*, Philosoph, Nationalökonom und einflussreicher Antisemit im Deutschen Kaiserreich   146, 543 Duns Scotus, Johannes (um 1265/66–1308)*, schottischer Franziskanermönch, Scholastiker   417 Durkheim, David Émile (1858–1917)*, französischer Soziologe und Ethnologe    504, 505 von

Ebner-Eschenbach, Marie (1830– 1916)*, österreichische Schriftstellerin   145, 542 von Egidy, Moritz (1847–1898)*, sächsischer Offizier, Pazifist, Moralphilosoph und christlicher Reformator   141, 538 Eimer, Theodor (1843–1898)*, deutscher Zoologe   146, 543

607

Ellissen, Adolf (1815–1872)*, deutscher Politiker, Philologe und Literaturhistoriker, Abgeordneter im Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes   387 Encke, Johann Franz (1791–1865)*, deutscher Astronom   567 Engels, Friedrich (1820–1895)*, deutscher Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Historiker, Journalist und kommunistischer Revolutionär   147, 313, 411, 544 Erdmann, Benno (1851–1921)*, deutscher Philosoph, unterstützte die Habilitation von Tönnies   565 Erler, Michael (1953–), deutscher Altphilologe   322 Ernst, Otto (eigentlich Otto Ernst Schmidt) (1862–1926)*, deutscher Dichter und Schriftsteller   145, 542 Eucken, Rudolf (1846–1926)*, deutscher Philosoph, erhielt 1908 den Nobelpreis für Literatur    146, 419, 420, 421, 543 Eudemos von Zypern (?–353 v.Chr.), griechischer Philosoph und Offizier, Freund von Aristoteles   29 Graf zu Eulenburg, Botho (1831–1912)*, preußischer Ministerpräsident und Innenminister   120, 521 Falke, Gustav (1853–1916)*, deutscher Schriftsteller   145, 542 Fechner, Gustav Theodor (1801–1887)*, deutscher Psychologe, Physiker und Natur-Philosoph   397 Fechner, Rolf (1948–2011), deutscher Soziologe, bis 2006 Mit-Gesamt-Hg. der TG, Mit-Hg. der TG Bde. 7, 9, 10 und 14   412, 485, 499, 503, 563, 565 Feldkamp, Michael-Frank (1962–), deutscher Historiker   352 Fetscher, Iring (1922–2014), deutscher Politikwissenschaftler, Internationale Anerkennung erwarb er insbesondere durch seine Marxforschungen   10 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814)*, deutscher Philosoph   36, 39, 410, 412 Fischer, Heinz-Dietrich (1937–), deutscher Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler   131

608

Apparat

Fischer, Irma (bl. um 1960), deutsche Bibliothekarin   501 Dr. Fischer, ? (?–?), 1902 stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrath für das Königreich Sachsen, königlich sächsischer Geheimer Rath mit dem Range eines Ministerialdirektors   90 Fleckenstein, Gisela (1962–), deutsche Historikerin und Archivarin   130 Foerster, Friedrich Wilhelm (1869–1966), deutscher Philosoph, Pädagoge und Pazifist   322, 323, 324, 552 Foerster (Förster), Wilhelm Julius (1832– 1921)*, deutscher Astronom   5, 141, 456-461, 501, 567-569 Forberger, Johannes (bl. um 1913), deutscher Pastor in Dresden   548 Forel, Auguste (1848–1931)*, schweizer Psychiater, Hirnforscher, Entomologe, Philosoph und Sozialreformer   564 Frapan, Ilse (1849–1908)*, deutsche Schriftstellerin   145, 542 Frauenstädt, Julius (1813–1879)*, deutscher philosophischer Schriftsteller, von Schopenhauer zum Erben seines literarischen Nachlasses eingesetzt    31 Fried, Alfred Hermann (1864–1921), österreichischer Pazifist und Schriftsteller, bekam 1911 den Friedensnobelpreis   491, 495, 571 von Friedberg, Heinrich (1813–1895)*, deutscher Jurist und Politiker   293 Friedrich III. (1831–1888)*, König von Preußen und Deutscher Kaiser   127, 528 Friedrich Wilhelm III. (Preußen, Adelshaus Hohenzollern) (1770–1840)*, seit 1797 König von Preußen und als Markgraf von Brandenburg zudem Kurfürst und Erzkämmerer des Heiligen Römischen Reiches bis zu dessen Auflösung im Jahre 1806   94 Friedrich Wilhelm IV. (Preußen, Adelshaus Hohenzollern) (1795–1861)*, von 1840 bis 1861 König von Preußen   430, 432 Galilei, Galileo (1564–1642)*, italienischer Universalgelehrter   433 Sir Galton, Francis (1822–1911)*, britischer Naturforscher und Schriftsteller. Gal-

ton gilt als einer der Väter der Eugenik   475, 476, 477, 481, 485 Ganghofer, Ludwig (1855–1920)*, deutscher Schriftsteller   145, 542 Gassendi, Pierre (1592–1655)*, französischer Theologe, Naturwissenschafter und Philosoph   412 Gauß, Carl Friedrich (1777–1855)*, deutscher Mathematiker, Astronom, Geodät und Physiker   475 von Gentz, Friedrich (1764–1832)*, deutschösterreichischer Schriftsteller, Staatsdenker und Politiker sowie Berater von Fürst Metternich   94 Georg III. (englisch George William Frederick) (1738–1820)*, König von Großbritannien und Irland   387 Georgi, Arthur (1843–1900), deutscher Bankier, Unternehmer und Politiker (Nationalliberale Partei)   74 von Gerlach, Ernst Ludwig (1795–1877)*, preußischer Politiker, Publizist und Richter   110 von Gerlach, Leopold (1790–1861)*, preußischer General der Infanterie und konservativer Politiker   110 Gervinus, Georg Gottfried (1805–1871)*, deutscher Historiker und nationalliberaler Politiker   430 Gibbon, Edward (1737–1794)*, britischer Historiker   430 Gidionsen, Wilhelm (1825–1898), deutscher Pädagoge, Rektor an der Husumer Gelehrtenschule   369, 560 Giesberts, Johannes (1865–1938), Arbeitersekretär, Parlamentarier, Reichspostminister   63 von Gizycki, Georg (1851–1895), deutscher Philosoph   141, 148, 337, 501, 545, 551, 567, 568 Gladstone, William Ewart (1809–1898)*, viermaliger britischer Premierminister und einer der bedeutendsten britischen Politiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts   378, 381, 384, 385, 392, 557 Duke of Gloucester (auch Gloster), Richard, siehe Richard III. Gnauck-Kühne, Elisabeth (1850–1917)*, bedeutende Programmatikerin der evange-



Personenregister

lischen und katholischen Frauenbewegung   139, 537 De Gobineau, Arthur (1816–1882)*, französischer Diplomat und Schriftsteller, einer der Begründer des rassistischen Denkens   484 Goedeke, Karl (1814–1887)*, deutscher Literaturhistoriker, Hg. der ersten (fünfzehn-bändigen) historisch-kritischen Ausgabe der Werke Schillers (1867– 1876)   15, 43, 377 Goedel, Gustav (1847–1918), deutscher Ober­­ pfarrer, Konsistorialrat und Autor   192 Göhler, Karl Georg (1874–1954), deutscher Komponist, Dirigent, Musikerzieher und -kritiker   562 Göhre, Paul (1864–1928)*, evangelischer Theologe und Politiker   133, 532 von Goethe, Johann Wolfgang (1749– 1832)*, deutscher Dichter   9, 17, 18, 19, 42, 47, 68, 81, 116, 310, 311, 331, 343, 352, 364, 365, 372, 394, 401, 410, 441, 448, 457, 461, 471, 472, 517 Goltdammer, Theodor (1801–1872), deutscher Jurist und Richter; die von ihm begründete Fachzeitschrift „Goltdammer’s Archiv für Strafrecht“ erscheint bis heute   55 Gooch, George Peabody (1873–1968), britischer Historiker   356 von Grolman, Karl Ludwig Wilhelm (1775– 1829)*, deutscher Rechtsgelehrter und hessischer Minister und Ministerpräsident   338 Gross, Hans Gustav Adolf (1847–1915)*, österreichischer Strafrechtler, Kriminologe und Begründer der Kriminalistik   25 Grossmann, Jonas (1856–um 1930), Herausgeber der Zeitschrift „Zeitschrift für Hypnotismus“   564 Groth, Albert Ludwig Adolph (1863– 1929), Kaufmann, 2. Sohn von Klaus Groth   398 Groth, Carl Friedrich Emil (1865–1920), Weinhändler, 3. Sohn von Klaus Groth   398 Groth, Detmar Heinrich Albert (1860– 1866), 1. Sohn von Klaus Groth   398

609

Groth, Wilhelm August (1866–1889), 4. Sohn von Klaus Groth   398 Groth, Klaus (1819–1899)*, niederdeutschen Lyriker und Schriftsteller, gilt gemeinsam mit Fritz Reuter als einer der Begründer der neueren niederdeutschen Literatur   396-402, 561, 562 Grotius, Hugo (1583–1645)*, politischer Philosoph, reformierter Theologe, Rechtsgelehrter und früher Aufklärer   338 Gutzkow, Karl (1811–1878)*, deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist   326 Haeckel, Ernst (auch Häckel) (1834–1919)*, deutscher Zoologe, Philosoph und Freidenker   145, 425, 543, 551 Hahn, Diederich (1859–1918)*, zunächst nationalliberaler, später konservativer deutscher Politiker und führender Funktionär und anti-großkapitalistischer, antisemitischer Ideologe des Bundes der Landwirte   110, 512 Halbe, Max (1865–1944)*, deutscher Schriftsteller   145, 542 Haller, Martin (1835–1925), deutscher Architekt   144, 541 Freiherr von Hammerstein-Loxten, Ernst (1827–1914)*, 1894–1901 preußischer Minister für Landwirtschaft   110, 120, 512, 521 Baron von Hammerstein, Wilhelm Joachim (1838–1904)*, preußischer Politiker der Deutschkonservativen Partei, Chefredakteur der Kreuzzeitung   25, 131, 530, 531 Hansen, Georg (1852–1901), deutscher Statistiker   482, 483 Sir Harcourt, William Vernon (1827–1904)*, britischer Journalist, Rechtsanwalt und Politiker der Liberal Party   385, 389 Harden, Maximilian (1861–1927)*, deutscher Publizist, Kritiker, Schauspieler und Journalist   148, 545 von Harnack, Adolf (1851–1930)*, deutscher protestantischer Theologe und Kirchenhistoriker   137, 138, 146, 536, 543

610

Apparat

Hart, Heinrich (1855–1906)*, Autor und naturalistischer Literatur- und Theaterkritiker   145, 542 Härtel, Hermann (1803–1875)*, deutscher Verleger und Buchhändler   397 Hartig, Joachim (1928–1999), deutscher Autor, Biograph von Klaus Groth   398 von Hartmann, Eduard (1842–1906)*, deutscher Philosoph   146, 543 Harvey, William (1578–1657)*, englischer Arzt und Anatom   433, 434, 471 Hauptmann, Gerhart (1862–1946)*, deutscher Dramatiker und Schriftsteller   145, 542 Heckscher, Siegfried (1870–1929), deutscher Jurist, Schriftsteller und Mitglied des Deutschen Reichstags   553 von Hedemann, Hans Christopher Georg Fredrik (1792–1859), dänischer General und Oberbefehlshaber der dänischen Armee   367 Hedin, Sven (1865–1952)*, schwedischer Geograph, Topograph, Entdeckungsreisender, Fotograf, Reiseschriftsteller   395 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770– 1831)*, deutscher Philosoph   337, 410, 411, 413, 414, 416 Hegeler Carus, Mary (1861–1936), amerikanische Industrielle, erste weibliche Absolventin der „University of Michigan‘s Department of Chemistry and Engineering“   420 Heiberg, Hermann (1840–1910)*, deutscher Schriftsteller   400, 401, 402 Heinrich, Karl Friedrich (1774–1838), deutscher klassischer Philologe, Mit-Herausgeber der Satiren von Juvenal   364 Helbig, Friedrich (1832–1896), deutscher Jurist und Schriftsteller   312 von der Hellen, Eduard (1863–1927), deutscher Archivar und Herausgeber   310 Henke, Eduard (1783–1869), deutscher Rechtswissenschaftler und Kriminalwissenschaftler   337 Henning, Max (1861–1927), deutscher Arabist und Publizist   570 Herbart, Johann Friedrich (1776–1841)*, deutscher Philosoph, Psychologe und Pädagoge   146, 543

von Herder, Johann Gottfried (1744–1803)*, deutscher Dichter, Übersetzer, Theologe sowie Geschichts- und Kultur-Philosoph der Weimarer Klassik   410, 412 Herkner, Heinrich (1863–1932)*, deutscher Nationalökonom   147, 544 Hertz, Heinrich (1857–1894)*, deutscher Physiker   146, 543 Herz, Johannes (1877–1960), deutscher lutherischer Theologe   139 Heyse, Paul Johann Ludwig von (1830– 1914)*, deutscher Schriftsteller   5, 145, 542 Hinzpeter, Georg Ernst (1827–1907)*, deutscher Pädagoge, 1866 wurde er zum Erzieher des siebenjährigen Prinzen Wilhelm von Preußen, des späteren Kaisers Wilhelm II. berufen   132, 531 Hobbes, Thomas (1588–1679)*, englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph   XIV, 10, 31, 38, 338, 351, 383, 386, 397, 463, 494 Hobrecht, Arthur (1824–1912)*, deutscher Politiker (Nationalliberale Partei), 1878–1879 preußischer Finanzminister, Mitglied des preußischen Landtags und des Reichstages   52 Graf von Hoensbroech, Paul (1852–1923)*, deutscher Jurist, Philosoph und zeitweilig Jesuit   136, 535 Høffding (Höffding), Harald (1843–1931)*, dänischer Philosoph, mit Tönnies befreundet   365, 407, 412, 563, 566 Höffe, Otfried (1943–), deutscher Philosoph, bekannt durch Arbeiten zur Ethik, zu Aristoteles und zu Immanuel Kant   340 von Hofmann, Ludwig (1861–1945)*, deutscher Maler, Grafiker und Gestalter   144, 541 Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Carl Viktor (1819–1901)*, deutscher Staatsmann, zwischen 1866 und 1870 war er bayerischer Ministerpräsident und von 1894 bis 1900 war er Reichskanzler des Deutschen Kaiserreiches und preußischer Ministerpräsident   50, 113, 114, 120, 123, 503, 514, 515, 521, 524



Personenregister

Holdt, Andreas Christian Christiansen (1821– 1890), deutscher Lehrer und Schriftsteller   163 von (van) Holten, Carl Friedrich Christian (1836–1912), Musikprofessor in Hamburg   366 von (van) Holten, Carl Peter (1801–1889), Goldschmied in Hamburg   366 Horn, Heinrich Christian (1837–1899), Schleswiger Reeder   224, 249 Hörth, Otto (1842–1935), deutscher Journalist, Publizist und Schriftsteller   552 Huch, Ricarda (1864–1947)*, deutsche Schriftstellerin, Dichterin, Philosophin und Historikerin   145, 542 Hume, David (1711–1776)*, schottischer Philosoph, Ökonom und Historiker   382, 387, 406, 430 Jacobowski, Ludwig (1868–1900)*, deutscher Lyriker, Schriftsteller und Publizist   145, 542 Jacoby, Eduard Georg (1904–1978), deutschneuseeländischer Soziologe und Bevölkerungswissenschaftler, Schüler und Assistent von Tönnies   XIV, 501, 556, 563 Jaffé, Edgar (1866–1921), deutscher Nationalökonom, Politiker (USPD) und Finanzminister   550, 569, 570 Sir Jameson, Leander Starr (1853–1917)*, britischer Politiker sowie erster Vorsitzender der südafrikanischen Unionist Party, hauptsächlich für den von ihm angeführten Jameson Raid bekannt   125, 526 Janssen, Alfred (1865–1935), deutscher Verleger   553 Jantsch, Johanna (?–), Dozentin an der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen   138 Jebsen, Michael (1835–1899), deutscher Reeder   223 Jencke, Hanns (1843–1910), deutscher Manager und industrieller Interessenvertreter   323, 553 Johow, Reinhold (1823–1904)*, deutscher Jurist, Herausgeber des „Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen“   61, 62, 66, 88

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Juvenal (kurz für Decimus Junius Juvenalis) (um 60–140)*, römischer Satirendichter des 1. und 2. Jahrhunderts   352, 364 Kaftan, Julius (1848–1926)*, deutscher evangelischer Theologe   138, 536 Kalisch, David (1820–1872)*, deutscher Schriftsteller   567 Kallsen, Otto (1822–1901), Konrektor und Lehrer Tönnies’ auf der Husumer Gelehrtenschule   366-374, 553, 560 Kamp, Otto (1850–1922), Autor von „Die Wohnungsnot und ihre Abhülfe durch ein Reichs-Wohnungsgesetz“ (erschien 1899)   316 Graf von Kanitz, Hans (1841–1913)*, Politiker der Deutschkonservativen Partei   109, 112, 120, 512, 514, 521 Kanner, Heinrich (1864–1930), österreichischer Politiker, Journalist und Zeitungsherausgeber   403, 563 Kant, Immanuel (1724–1804)*, deutscher Philosoph der Aufklärung   24, 34, 59, 144, 146, 147, 310, 329, 337, 340, 364, 406, 409, 410, 412, 414, 436, 443, 450, 454, 455, 470, 541, 543, 545 Karr, Alphonse (1808–1890)*, französischer Journalist, Schriftsteller und Satiriker   352 Kautsky, Karl Johann (1854–1938)*, deutsch-tschechischer Philosoph und sozialdemokratischer Politiker, 1883 gründete er die Zeitschrift Die Neue Zeit, deren Herausgeber und leitender Redakteur er bis 1917 blieb   114, 147, 544, 549 Keck, Karl Heinrich (1824–1895), deutscher Schriftsteller und Schulleiter   369, 371, 373, 560 Kepler, Johannes (1571–1630)*, deutscher Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom, Astrologe, Optiker und evangelischer Theologe   456-458 Lange Kielland (Kjelland), Alexander (1849– 1906)*, norwegischer Autor   145, 542 von Kiesenwetter, Otto (bl. 1918),    Direktor im Bund der Landwirte   112 Kipling, Joseph Rudyard (1865–1936)*, britischer Schriftsteller und Dichter   360, 376

612

Apparat

Von Kirchmann, Julius Hermann (1802– 1884)*, deutscher Jurist und Politiker   18 Klauke, Sebastian (1984–), deutscher Soziologe, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Referent der FTG   XVI Klinger, Max (1857–1920)*, deutscher Bildhauer, Maler und Grafiker und auch Medailleur   144, 541 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724–1803)*, deutscher Dichter   371 Klose, Olaf (1903–1987), deutscher Bibliothekar   XIV, 501 Kloß, Karl (1847–1908), deutscher Schreiner, Gewerkschafter, Sozialist und Politiker   140 von Köller, Ernst-Matthias (1841–1928)*, deutscher Politiker, 1894–1895 Innenminister von Preußen   120, 123, 521, 524 Kopernikus, Nikolaus (eigentlich Niklas Koppernigk) (1473–1543)*, Domherr des Fürstbistums Ermland in Preußen, der sich in seiner freien Zeit der Astronomie, Mathematik und Kartographie widmete; er stürzte mit seinen Ideen das seit 1400 Jahren gültige geozentrische Weltbild des Ptolemäus vom Thron und brachte ein heliozentrisches System ins Gespräch   406, 433, 445, 471 Koppernik s. Kopernikus Kraft, Friedrich Karl (1786–1866), deutscher Altphilologe und Lexikograf   342 Kritias (460 v.Chr.–403 v.Chr.)*, athenischer Politiker, Philosoph, Schriftsteller und Dichter, Pseudonym von Tönnies   5, 322, 552 von Krohn, August Friedrich (1781–1856), holsteinischer Generalmajor und Kriegsminister   367 Krohn, Wolfgang (1941–), deutscher Techniksoziologe und Wissenschaftsphilosoph   485 Krüger, Paul (eigentlich Paul Kruger, auch „Onkel Paul“ oder „Ohm Krüger“ genannt) (1825–1904)*, südafrikanischer Politiker, 1882–1902 Präsident der Südafrikanischen Republik   XV, 125, 360, 361, 379, 380, 526, 558, 559

Kühlmorgen, Friedrich Wilhelm (1851– 1932), deutscher Jurist und konservativer Politiker. Von 1891 bis 1907 gehörte er der II. Kammer des Sächsischen Landtags an   74 Külpe, Oswald (1862–1915), deutscher Psychologe und Philosoph, Schüler Wundts   422 Kurella, Hans Georg (1858–1916), deutscher Psychiater und Oberarzt, schrieb u.a. über die Wohnungsnot   317, 318 Kurscheidt, Georg (1948–), Herausgeber der Werke von Goethe und Schiller   394 Kürschner, Joseph (1853–1902)*, deutscher Schriftsteller und Lexikograph   200 Lalande, André (1867–1963)*, frz. Philosoph   421 De Lamarck, Jean-Baptiste (1744–1829)*, französischer Botaniker und Zoologe   411 Lamprecht, Karl (1856–1915)*, deutscher Historiker   147, 545 Landau, Moses Israel (1788–1852), jüdischer Gelehrter, Schriftsteller, Drucker   415 Langbehn, Julius (1851–1907), deutscher Schriftsteller, Kulturkritiker und Philosoph   145, 542 Lange, Karl (1831–1897), 1875–1897 Bürgermeister von Bochum   314 Marquis de Laplace, Pierre-Simon (1749– 1827)*, französischer Mathematiker, Physiker und Astronom   409 De Lapouge, Georges Vacher (1854–1936), französischer Anthropologe, Theoretiker der Eugenik und des Rassismus   484 Laspeyres, Étienne (1834–1913)*, deutscher Nationalökonom und Statistiker   318 de Lavoisier, Antoine Laurent (1743–1794)*, französischer Chemiker, Rechtsanwalt, Hauptzollpächter, Mitbegründer der neueren Chemie   471 Lecky, William Edward Hartpole (1838– 1903)*, irischer Historiker und Publizist   31 Legien, Carl (1861–1920), deutscher Gewerkschaftsfunktionär, Reichstagsabgeordneter   140



Personenregister

Leibl, Wilhelm (1844–1900)*, war als Maler ein bedeutender Vertreter des Realismus in Deutschland   144, 541 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716)*, deutscher Philosoph, Mathematiker, Diplomat, Historiker und politischer Berater der frühen Aufklärung   410, 494 von Leixner, Otto (auch Otto Leixner von Grünberg) (1847–1907)*, österreichisch-deutscher Schriftsteller, Literaturkritiker, Journalist und Historiker   326 Leo XIII. (1810–1903)*, Papst   138 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781)*, bedeutender Dichter der deutschen Aufklärung   79, 410 Leuschner, Joachim (1922–1978), deutscher Historiker   133 Lichtwark Alfred (1852–1914)*, deutscher Kunsthistoriker   553 Lie, Jonas (1833–1908)*, norwegischer Schriftsteller und Dramatiker   145, 542 Lieber, Ernst (1838–1902)*, Zentrumspolitiker und Mitglied des Reichstags   134, 135, 533, 534 Liebermann, Max (1847–1935)*, deutscher Maler und Grafiker   144, 541 von Liliencron, Detlev (eigentlich Friedrich Adolf Axel Freiherr von Liliencron) (1844–1909)*, deutscher Lyriker   145, 542 Lipinski, Robert Richard (1867–1936), deutscher Gewerkschafter, Politiker und Schriftsteller sowie Publizist und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus   95 von Liszt, Franz (1851–1919)*, deutscher Rechtswissenschaftler und Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag   555 Livius, Titus (Beiname Patavinus) (59 v.Chr.–17)*, römischer Geschichtsschreiber zur Zeit des Augustus   30 Loewenfeld, Theodor (1849–1919), deutscher Jurist   90 de Lolme, Jean Louis (auch Delolme geschrieben) (1740–1806)*, schweizer Rechtsgelehrter   387

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Lombroso, Cesare (1835–1909)*, italienischer Arzt und Professor der gerichtlichen Medizin    338 Lotz, Walther (1865–1941)*, deutscher Nationalökonom   113, 514 Lüning, Theodor Friedrich Christian (1849– 1921), Navigationslehrer an der Seefahrtsschule in Flensburg   216 Luther, Martin (1483–1546)*, theologische Urheber der Reformation   138, 328, 340, 537 Sir Lyall, Alfred (1835–1911)*, englischer Regierungsbeamter, Literaturhistoriker und Schriftsteller   8 Macchiavelli, Niccolò (1469–1527)*, florentinischer Philosoph, Politiker, Diplomat, Chronist und Dichter   494 Mackensen, Fritz (1866–1953)*, deutscher Maler, Mitbegründer der Künstlerkolonie Worpswede   145, 542 Malitz, Jürgen (1947–), deutscher Althistoriker   148 Malthus, Thomas Robert (1766–1834)*, britischer Ökonom, der zu den Vertretern der klassischen Nationalökonomie gezählt wird   462, 468 von Mangoldt, Karl (1868–1945), deutscher Wohnungsreformer   111 Freiherr von Manteuffel, Edwin (1809– 1885)*, preußischer Generalfeldmarschall, nahm teil am Deutsch-Dänischen Krieg 1864   369 Freiherr von Manteuffel, Otto Theodor (1805–1882)*, konservativer preußischer Politiker, hatte er an der preußischen Verfassung vom 5. Dez. 1848 wesentlichen Anteil, 1850–1858 preußischer Ministerpräsident    100 Freiherr von Manteuffel, Otto Karl Gottlob (1844–1913)*, deutscher Politiker, Seit 1877 Mitglied des Reichstags, 1883 wurde er Mitglied des Herrenhauses, 1891 dessen erster Vizepräsident und 1896 nach dem Rücktritt Levetzows Landesdirektor der Provinz Brandenburg    287 9. Herzog von Marlborough (Charles Richard John Spencer-Churchill) (1871–

614

Apparat

1934)*, britischer Politiker und Adliger   384 Freiherr Marschall von Bieberstein, Adolf Hermann (1842–1912)*, deutscher Politiker und Staatssekretär des Auswärtigen Amtes des Deutschen Kaiserreiches   122 Martin, Christoph (1772–1857), deutscher Jurist und Hochschullehrer   338 Marx, Karl (1818–1883)*, deutscher Philosoph, Ökonom, Gesellschaftstheoretiker, politischer Journalist   127, 147, 313, 345, 359, 411, 502, 505, 527, 544 Matthew, Henry Colin Grey (1941–1999), britischer Historiker und Akademiker   557 Maudsley, Henry (1835–1918), Pionier der britischen Psychiatrie   339 de Maupassant, Guy (1850–1893)*, französischer Schriftsteller und Journalist   145, 542 von Mayr, Georg (1841–1925)*, deutscher Statistiker und Volkswirt   147, 544 Mendelssohn, Moses (1729–1786)*, deutscher Philosoph der Aufklärung   415 von Menzel, Adolph (1815–1905)*, deutscher Maler, Zeichner und Illustrator    399 Mertes, Klaus (1954–), deutscher Jesuit, Gymnasiallehrer, Autor und Chefredakteur,    2013 Verleihung der FerdinandTönnies-Medaille der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 571 Merz-Benz, Peter-Ulrich (1953–), schweizer Soziologe   561 Graf von Metzsch-Reichenbach, Karl Georg Levin (1836–1927)*, sächsischer Politiker, u.a. auch Ministerpräsident (Vorsitzender des Gesamtministeriums)   74 Michelsen, L. P. (bl. um 1900), Flensburger Reeder, Konsul, Direktor der Flensburger Dampfschiffahrtgesellschaft von 1869   162 Mill, James (1773–1836)*, schottisch-britischer Theologe, Historiker, Philosoph, Erziehungswissenschaftler, Strafrechtsreformer und Volkswirt   414 Mill, John Stuart (1806–1873)*, britischer Philosoph und Ökonom, einer der ein-

flußreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts   414, 446 Millet, Jean-François (1814–1875)*, französischer Maler des Realismus   362, 559 Miquel, Johannes Franz (ab 1897 von Miquel) (1828–1901)*, preußischer Staatsund Finanzminister und Reformer, ab 1880 Oberbürgermeister von Frankfurt a. M., 1890 wurde Miquel als preußischer Finanzminister nach Berlin geholt, 1897 wurde er Vizepräsident des Staatsministeriums   120, 122, 134, 135, 317, 521, 523, 533, 534 Mittelstaedt, Otto Samuel Ludwig (1834– 1899), deutscher Reichsgerichtsrat und Journalist   25 Möbius, Paul Julius (1853–1907)*, deutscher Neurologe, Psychiater und Wissenschaftspublizist   365 Mohr, Arno (1949–), deutscher Politologe und Historiker, Hg. von TG 9   558 Mohr, Jakob Christian Benjamin (1778– 1854), deutscher Buchhändler und Verleger   424, 550 Mommsen, Theodor (1817–1903)*, deutscher Historiker und gilt als einer der bedeutendsten Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts   137, 148, 359 Mönckeberg, Carl (1873–1939), deutscher Jurist und Schriftsteller   553 Baron de Montesquieu, Charles de Secondat (getauft 1689–1755)*, französischer Schriftsteller, Philosoph und Staatstheoretiker der Aufklärung. Er gilt als Vorläufer der Soziologie, bedeutender politischer Philosoph und Mitbegründer der modernen Geschichtswissenschaft    387 Morley, John, 1. Viscount Morley of Blackburn (1838–1923)*, britischer Staatsmann, Biograph, Literaturkritiker und Publizist   385 Mügge, Theodor (1802–1861)*, deutscher Schriftsteller und Verfasser von Abenteuerromanen   567 Mulert, Hermann (1879–1950), evangelischer Theologe   567 Müllenhoff, Karl (1818–1884)*, deutscher Wissenschaftler und germanistischer Mediävist   401



Personenregister

Müller, Dirk H. (?–), deutscher Autor   126 von Müller, Johannes (1752–1809)*, schweizer Geschichtsschreiber, Publizist und Staatsmann   430 Müller, Paul (1875–1925), deutscher Matrose, Journalist und Gewerkschaftsfunktionär   151, 214, 219 Graf von Murawjew (Murawiew), Michael Nikolajewitsch (1845–1900)*, russischer Diplomat, Außenminister   491, 495 Nansen, Fridtjof (1861–1930)*, norwegischer Zoologe, Polarforscher, Diplomat und Friedensnobelpreisträger   395 Napoleon I. siehe Bonaparte, Napoleon Nasse, Erwin (1829–1890)*, deutscher Nationalökonom und Politiker, Mitbegründer und Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik   316 Natorp, Paul (1854–1924)*, deutscher Philosoph und Pädagoge   146, 424, 543 Naumann, Friedrich (1860–1919)*, evangelischer Theologe, liberaler Politiker zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs   132, 133, 387, 531, 532, 556 Nauwerck, Carl (1810–1891)*, deutscher Journalist, Orientalist und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung   567 Naville, Adrien (1845–1930), schweizer Wissenschaftler, verfasste Standardwerke zur Wissenschaftsklassifikation   446 Neumann, Karl Eugen (1865–1915), österreichischer Übersetzer indischer Schriften   325 Sir Newton, Isaac (1642–1726)*, englischer Naturforscher und Verwaltungsbeamter   409, 433 Niese, Charlotte (1854–1935)*, deutsche Schriftstellerin, Heimatdichterin und Lehrerin   145, 542 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844–1900)*, deutscher Philosoph   XIV, 12, 145, 309, 367, 396, 397, 484, 542, 562, 568 Nikolaus II. (1868–1918)*, letzter Kaiser bzw. Zar des Russischen Reiches   124, 491, 495, 496, 525 Nipperdey, Thomas (1927–1992), deutscher Historiker   110

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Nissen, Momme (1870–1943), deutscher Maler und Schriftsteller   362, 364, 559, 560 Nitzsch, Karl Wilhelm (1818–1880)*, deutscher Geschichtswissenschaftler   367 Nocht, Bernhard (1857–1945), deutscher Arzt, Tropenmediziner und -hygieniker, bekannt als Hafenarzt in Hamburg   188 Novicow, Jacques (1849–1912), russischer Soziologe   490-496, 571 Ohneland, Johann (engl. John Lackland, eigentlich franz. Jean Plantagenêt) (1167– 1216)*, von 1199 bis 1216 König von England   359 Olde, Hans (1855–1917)*, deutscher Maler, ist in Dänischenhagen begraben   397, 399 Oldenberg, Karl (1864–1936), deutscher Nationalökonom und Hochschullehrer   121, 140, 522, 538 von Ompteda, Georg (1863–1931)*, deutscher Schriftsteller   145, 542 Opitz, Hugo Gottfried (1846–1916), deutscher Jurist und Politiker   79 Oppenheimer, Franz (1864–1943), deutscher Arzt, Soziologe, Nationalökonom, setzte sich auch für Zionismus ein   570 Ostwald, Wilhelm (1853–1932)*, deutschbaltischer Chemiker und Philosoph   146, 543, 551 Ovid (Publius Ovidius Naso) (43 v.Chr.–17 n.Chr.)*, antiker römischer Dichter   70, 450 Pappi, Franz Urban (1939–), deutscher Politologe und Soziologe   567 Paulsen, Friedrich (1846–1908)*, deutscher Pädagoge und Philosoph   XIV, 146, 407, 440, 501, 543, 548, 554, 561, 562, 564, 565, 568, 570 Perels, Ferdinand (1836–1903)*, deutscher Militärjurist und Seerechtler   166 Perels, Leopold (1875–1954)*, deutscher Jurist, Sohn von Ferdinand Perels   166 Perikles (490 v.Chr.–429 v.Chr.)*, Staatsmann Athens und der griechischen Antike   372

616

Apparat

Pernerstorfer, Engelbert (1850–1918)*, österreichischer Politiker und Journalist   337 Perthes, Justus (1749–1816)*, deutscher Buchhändler und Verleger   200, 374 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746–1827)*, schweizer Pädagoge   146, 412, 543 Pfungst, Arthur (1864–1912), deutscher Fabrikant, Verleger, Dichter, Übersetzer, Buddhist und Freidenker   570 Philippi, Felix (1851–1921)*, deutscher Journalist, Schriftsteller und Regisseur   145, 542 Graf von Platen-Hallermund, August (1796– 1835)*, deutscher Dichter   7 Platon (latinisiert Plato) (428/427 v.Chr.– 348/347 v.Chr.)*, antiker griechischer Philosoph   42, 322, 338, 454, 458, 501, 557 von Polenz, Wilhelm (1861–1903)*, deutscher Heimatschriftsteller, Romancier und Novellist   145, 542 Polis, Albert (um 1853–1915), deutscher Kapitän   153 Polybios (um 200 v.Chr.–120 v.Chr.)*, antiker griechischer Geschichtsschreiber    430 Graf von Posadowsky-Wehner, Arthur Adolf (1845–1932)*, deutscher Politiker   123 Proal, Louis (1843–1900), Gerichtsrat am Appellgerichtshof in Paris   3 Raabe, Wilhelm (1831–1910)*, deutscher Schriftsteller (Erzähler)   145, 542 Rabelais, François (1483–1553)*, französischer Autor, Arzt und Humanist 3 Rade, Paul Martin (1857–1940)*, evangelischer Theologe und linksliberaler Politiker   138 von Ranke, Leopold (1795–1886)*, deutscher Historiker   148, 436, 545 Rebenich, Stefan (1961–), deutscher Althistoriker, Verfasser mehrerer Werke über Theodor Mommsen   137 Freiherr von der Recke, Eberhard (1847– 1911)*, deutscher Verwaltungsjurist und Politiker   123, 524 Redmond, John Edward (1856–1918)*, war von 1900 bis 1918 der Führer der Irish Parliamentary Party   388

Reemtsma, Jan Philipp (1952–), deutscher Germanist und Publizist sowie ein bedeutender und bekannter Mäzen, 2008 erster Träger der Ferdinand-TönniesMedaille der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel   571 Reincke, Johann Julius (1842–1906), deutscher Mediziner und Politiker   315 Reuter, Fritz (1810–1874)*, gilt als einer der bedeutendsten Dichter und Schriftsteller der niederdeutschen Sprache   353, 402 Reynolds, George William MacArthur (1814–1879), britischer Autor und Journalist   353 Freiherr von Rheinbaben, Georg (1855– 1921)*, preußischer Politiker   123, 308, 524 Rhodes, Cecil (1853–1902)*, britischer Unternehmer und Politiker   125, 390, 526 Richard III. (1452–1485)*, ab 1483 englischer König   14 Richter, Eugen (1838–1906)*, deutscher Politiker und Publizist   127, 128, 528, 529 Rickert, Heinrich (1863–1936)*, deutscher Philosoph und Universitätsprofessor, Vertreter des Neukantianismus und der sogenannten Wertphilosophie   424-430, 432-434, 436, 438-440, 442, 443, 445451, 454, 455, 565, 566 Ritschl, Friedrich Wilhelm (1806–1876)*, deutscher klassischer Philologe   367 Rodenberg, Julius (1831–1914)*, deutscher Journalist und Schriftsteller   148, 545 Röder, Karl David August (1806–1879)*, deutscher Rechtsphilosoph   338 von Rönne, Ludwig (1804–1891)*, deutscher Jurist, Publizist und Staatsrechtslehrer   54, 97 Rönnekamp, ? (?), Flensburger Advokat   195 Röntgen, Wilhelm Conrad (1845–1923)*, deutscher Physiker   146, 543 5. Earl of Rosebery, Archibald Primrose (1847–1929)*, britischer Staatsmann, 1892–1894 Außenminister, 1894–1895 Premierminister   356-358, 385-387, 389, 557



Personenregister

Rosegger (eigentlich Roßegger), Peter (1843– 1918)*, österreichischer Schriftsteller und Poet   145, 542 von Rotteck, Karl Wenzeslaus Rodecker (1775–1840)*, deutscher Geschichtsschreiber, Staatswissenschaftler, Historiker und liberaler Politiker   67 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)*, französischsprachiger Genfer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist der Aufklärung   319, 362, 386, 412, 559, 560 Ruge, Arnold (1802–1880)*, deutscher Schriftsteller, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung   387 Sach, August (1837–1929), deutscher Schriftsteller   371 Großherzogin von Sachsen, Sophie (1824– 1897)*, Herausgeberin von Goethes Werken, Allein-Erbin von Goethes schriftlichem Nachlass   17, 18, 19, 47, 331, 352, 365, 441, 448, 457, 461, 472 Saenger, Carl (1860–1901), Begründer und Herausgeber von „Das freie Wort“   570 de Saint-Simon, Henri (1760–1825)*, französischer soziologischer und philosophischer Autor zur Zeit der Restauration   412, 413 3. Marquess of Salisbury, Robert Arthur Talbot Gascoyne-Cecil (1830–1903)*, britischer Staatsmann und Premierminister   384 von Savigny, Friedrich Carl (1779–1861)*, deutscher Rechtsgelehrter und Kronsyndikus, begründete die Historische Rechtsschule   470 Schäffle, Albert (1831–1903)*, deutscher Volkswirtschaftler, Soziologe und Publizist   147, 464, 544 Schell, Herman (Hermann) (1850–1906)*, katholischer Theologe und Philosoph   136, 535 Schelling, Friedrich Wilhelm (ab 1812 Ritter von Schelling) (1775–1854)*, deutscher Philosoph   410, 411, 470 Schenck, ? (?–?), im 19. Jahrhundert Advokat in Elmshorn, Vater von Christine Schenck der Ehefrau von Otto Kallsen   368

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Schenck, August (1828–1901), bekannter Tiermaler, Bruder von ? Schenck   368 Schenck, Christine (?–?), Ehefrau von Otto Kallsen   368 Schenck, Luise (1839–1918), deutsche Schriftstellerin   145, 542 Schenda, Rudolf (1930–2000), deutscher Volkskundler, Literaturwissenschaftler und Erzählforscher   554 Schill, Otto (1838–1918), deutscher Jurist und nationalliberaler Politiker   73 von Schiller, Friedrich (1759–1805)*, deutscher Dichter   15, 43, 310, 332, 352, 369, 372, 373, 377, 394, 410, 412 Schlechta, Karl (1904–1985), österreichischdeutscher Autor, Hochschullehrer und Nietzsche-Forscher   309 Schlesier, Gustav (ca. 1810-nach 1854), deutscher Schriftsteller, Journalist, Publizist und Hölderlin-Forscher   94 von Schmoller, Gustav (1838–1917)*, deutscher Ökonom und Sozialwissenschaftler, gilt als Hauptvertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie   XIII, 140, 147, 502, 538, 544, 546 Schmöle, Josef (1865–1922), deutscher Nationalökonom   56, 72, 88 Schnerb, Henri (1865–1949), Übersetzer für Ferdinand Tönnies   148, 504, 545 von Schönberg, Otto Ludwig Christoph (1824–1916), Kammerherr in der 1. Kammer des sächsischen Landtages (z.B. 1898)   74 von Schönstedt, Karl Heinrich (1833– 1924)*, preußischer Richter, von 1894 bis 1905 preußischer Justizminister   89 Schopen, Ludwig (1799–1867), deutscher Klassischer Philologe und Byzantinist   364 Schopenhauer, Arthur (1788–1860)*, deutscher Philosoph, Autor und Hochschullehrer   14, 31, 59, 60, 323, 343, 411 Schrempf, Christoph (1860–1944)*, evangelischer Theologe und Philosoph   137, 138, 397, 536 von Schroeder, Leopold (1851–1920)*, deutscher Indologe   325 Schröder, Richard (1943–), deutscher Philosoph und evangelischer Theologe, 2010

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Apparat

wurde Schröder von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit der Ferdinand-Tönnies-Medaille geehrt   571 Schroedter, C. (bl. um 1907), Redakteur der Zeitschrift Hansa   233 Schulze-Smidt, Bernhardine (1846–1920), deutsche Schriftstellerin   145, 542 Schwab, Gustav (1792–1850)*, deutscher Pfarrer, Gymnasialprofessor und Schriftsteller   332 de Scudéry, Madeleine (1607–1701)*, französische Schriftstellerin des Barock   373 Seidel, Heinrich (1842–1906)*, deutscher Ingenieur und Schriftsteller   145, 542 Seneca (etwa im Jahre 1–65 n.Chr.)*, römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Politiker und als Stoiker einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit   338, 359 Shakespeare, William (1564–1616)*, englischer Dichter   14, 45 Siebeck, Hermann (1842–1921)*, deutscher Philosoph und Schriftsteller   9 von Siemens, Johann Georg (1839–1901)*, deutscher Bankier und Politiker aus der Familie Siemens   111, 512 von Sigwart, Christoph (1830–1904)*, deutscher Philosoph   565 Silbert, Johann Peter (1777–1844), elsässischer Schriftsteller und Dichter   24 Simmel, Georg (1858–1918)*, deutscher Philosoph und Soziologe   147, 544 Singer, Isidor (1857–1927), österreichischer Journalist und Zeitungsherausgeber    403, 563 Sisyphos (lateinisiert Sisyphus) (lebte um das Jahr 1400 v.Chr.)*, König zu Korinth, Figur der griechischen Mythologie   319 Solon (vermutlich 640 v.Chr.–560 v.Chr.)*, athenischer Staatsmann und Lyriker    47, 322 Sombart, Werner (1863–1941)*, deutscher Soziologe und Volkswirt   XIII, 147, 502, 544, 550, 569, 570 Spallanzani, Lazzaro (1729–1799)*, italienischer Priester, Philosoph und Universalwissenschaftler   434 Spencer, Herbert (1820–1903)*, englischer Philosoph und Soziologe   146, 344, 414, 445, 446, 463, 544

Spenkuch, Hartwin (1960–), deutscher Historiker   112 Spielhagen, Friedrich (1829–1911)*, deutscher Schriftsteller   145, 542 de Spinoza, Baruch (1632–1677)*, niederländischer Philosoph   18, 325, 349, 407, 410, 411, 563 von Stablewski, Florian (1841–1906)*, katholischer Priester, führender polnischer Politiker in Preußen, Erzbischof von Gnesen und Posen sowie Primas Poloniae   135, 534 Stahl, Friedrich Julius (1802–1861)*, deutscher Rechtsphilosoph, Jurist, preußischer Kronsyndikus und Politiker   110 Stammler, Rudolf (1856–1938)*, deutscher Rechtsphilosoph   147, 545 Staudinger, Franz (1849–1921), deutscher Gymnasiallehrer, Philosoph und aktiv in der Konsumgenossenschaftsbewegung   8, 556 Stein, Ludwig (1859–1930)*, ungarischschweizerischer Philosoph, Soziologe, Rabbiner, Publizist und Pazifist   147, 365, 544, 565 Steinmetz, Sebald(us) Rudolp (1862–1940)*, niederländischer Soziologe   548 Stern, Alfred (1846–1936)*, deutsch-jüdischer Historiker   148, 545 Stöcker, Adolf (1835–1909)*, evangelischer deutscher Theologe und Politiker   131, 132, 139, 530, 531, 532, 537 Stolle, Karl Wilhelm (1842–1918), deutscher sozialdemokratischer Politiker   91 Stout, George Frederick (1860–1944), englischer Philosoph   422 Strecker, Reinhard (1876–1951), deutscher Philosoph und Pädagoge, 1936 Herausgeber der „Etischen Kultur“   555 Stremmel, Ralf (1963–), deutscher Historiker und Literaturwissenschaftler   130 von Studt, Conrad (1838–1921)*, deutscher Verwaltungsjurist und Ministerialbeamter im Königreich Preußen, zuletzt war er Preußens Kultusminister   123, 524 Freiherr von Stumm-Halberg, Carl Ferdinand (bis 1888: Carl Ferdinand Stumm) (1836–1901)*, preußischer Montanindustrieller und freikonservativer Politi-



Personenregister

ker   93, 121, 122, 132, 139, 523, 531, 537 Sturm, August (1852–1923)*, deutscher Dichter und Schriftsteller   145, 542 Sudermann, Hermann (1857–1928)*, deutscher Schriftsteller   145, 542 Sully, James (1842–1923), englischer Psychologe   422 Tacitus, Publius Cornelius (58–um 120)*, römischer Historiker und Senator   23, 430 Tast, Hermann (1490–1551), Reformator in Norddeutschland   368 Telmann, Konrad (geboren als Ernst Otto Konrad Zitelmann) (1854–1897)*, deutscher Jurist und Schriftsteller   145, 542 Tennstedt, Florian (1943–), Professor für Sozialpolitik   53, 130 Thackeray, William Makepeace (1811– 1863)*, britischer Schriftsteller   336 Thierry, Augustin (1795–1856)*, französischer Historiker   430 Thoma, Hans (1839–1924)*, deutscher Maler und Graphiker   144, 541 Thukydides (454 v.Chr.–zwischen 399 v.Chr. und 396 v.Chr.)*, Athener Stratege und antiker griechischer Historiker   373, 430 Titius, Arthur (1864–1936), deutscher evangelischer Theologe   263, 274 Graf Tolstoi, Lew Nikolajewitsch (deutsch häufig Leo Tolstoi) (1828–1910)*, russischer Schriftsteller   145, 542 Tönnies, Ferdinand (1855–1936)* passim Tönnies, Gerrit Friedrich Otto (1898–1978), Chemiker, Tönnies’ erster Sohn   551 Tönnies, Jan Gerrit (1947–2016), Rechtsund Patentanwalt, Tönnies’ Enkel   XVI Tönnies, Marie (1865–1937), Ehefrau von Ferdinand Tönnies, geborene Sieck   XIII, 551 Traub, Gottfried (1869–1956), deutscher Theologe und Politiker   556 von Treitschke, Heinrich (1834–1896)*, deutscher Historiker, politischer Publizist und Mitglied des Reichstags 1871– 1884   148, 545 von Uhde, Fritz (1848–1911)*, sächsischer Kavallerieoffizier und Maler   144, 541

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Vesalius, Andreas (1514–1564)*, flämischer Anatom, gilt als Begründer der neuzeitlichen Anatomie und des morphologischen Denkens in der Medizin   471 Victoria (Viktoria) (1819–1901)*, 1837– 1901 Königin Großbritanniens   336, 375, 383, 561 Viebig, Clara (1860–1952)*, deutsche Erzählerin, Dramatikerin und Feuilletonistin   145, 542 Voiture, Vincent (1598–1648)*, französischer Fürstendiener und Literat   373 Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet) (1694–1778)*, französischer Philosoph und Schriftsteller der französischen und europäischen Aufklärung   362, 412 Vogt, Oskar (1870–1959), deutscher Hirnforscher   146, 543, 564, 565 Vorzimmer, Peter (1937–1995), amerikanischer Autor   462 Wächter, Leonhard (Pseudonym Veit Weber) (1762–1837), deutscher Schriftsteller    285 Wagner, Adolph (1835–1917)*, deutscher Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler   147, 544 Wagner, Cosima (1837–1930)*, zweite Ehefrau Richard Wagners, leitete nach dessen Tod bis 1906 die Bayreuther Festspiele   370 Wagner, Richard (1813–1883)*, deutscher Komponist, Dramatiker, Dichter, Schriftsteller, Theaterregisseur und Dirigent   370 Waitz, Georg (1813–1886)*, deutscher Rechtshistoriker und Mediävist   367 Warburg, Albert (Abraham) (1843–1919), letzter Inhaber des Altonaer Bankhauses und Kommunalpolitiker. Albert Warburg war mit Tönnies in dessen Altonaer Zeit befreundet. In dessen Haus wurden Dinners veranstaltet.   553, 560 Warburg, Gertrude (Gerta) Margaretha (1856–1943), Ehefrau von Albert Warburg. Sie förderte künstlerische Bestrebungen und Talente und war mit Tönnies befreundet.   553, 560

620

Apparat

Warburg, Pius (1816–1900), deutscher Bankier, Kunstsammler und Mäzen   370 Waßner, Rainer (1944–), deutscher Soziologe, Mit-Hg. TG 14   9 Weber, Max (1864–1920), deutscher Soziologe und Nationalökonom, einer der Klassiker der Soziologie sowie der gesamten Kultur- und Sozialwissenschaften   328, 431, 505, 550, 569, 570 Weber, Veit siehe Wächter, Leonhard Wehler, Hans-Ulrich (1931–2014), deutscher Historiker   133 Weingart, Hermann (1866–1921), deutscher Pfarrer   139, 537 Weischedel, Wilhelm (1905–1975), deutscher Philosoph   310 Weismann, August (1834–1914)*, deutscher Biologe, Evolutionstheoretiker   146, 147, 425, 426, 543, 544 Weißenborn, Wilhelm (1803–1878), deutscher Theologe, Philologe, Historiker, Politiker und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung   30 Lady Welby, Victoria (1837–1912), englische Philosophin   XIV, 420, 422, 564 Sir Welby-Gregory, William (1829–1898), britischer konservativer Politiker   564 Welcker, Friedrich Gottlieb (1784–1868)*, deutscher klassischer Philologe und Archäologe   367 Welcker, Karl Theodor Georg Philipp (1790– 1869)*, deutscher Jurist, Hochschullehrer und liberaler Politiker   67, 338 Welzig, Werner (1935–), österreichischer Germanist, ehemaliger Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften   122 Wichern, Johann Hinrich (1808–1881)*, deutscher Theologe, Sozialpädagoge, Gründer der Inneren Mission der Evangelischen Kirche, des Rauhen Hauses in Hamburg und Gefängnisreformer   343 Wichert, Ernst (1831–1902)*, deutscher Schriftsteller und Jurist   98 Wilhelm I. (Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen)(1797–1888)*, aus dem Haus Hohenzollern, seit 1858 Regent und seit 1861 König von Preußen, ab 1866 Präsident des Norddeutschen Bundes sowie

ab 1871 erster Deutscher Kaiser   120, 122, 144, 521, 523, 541 Wilhelm II. (Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen)(1859–1941)*, aus dem Haus Hohenzollern, 1888–1918 letzter Deutscher Kaiser und König von Preußen   53, 119, 120, 132, 144, 304, 521, 541 Windelband, Wilhelm (1848–1915)*, deutscher Philosoph, Professor, Vertreter des Neukantianismus   446, 449 Windthorst, Ludwig (1812–1891)*, deutscher, römisch-katholischer Politiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts   134, 533 Winter, Heidi (?–), Mit-Hg. der „Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914“   53 Wolff, Bernhard (1811–1879)*, Gründer der Berliner National-Zeitung (1848) und des Wolffschen Telegrafenbüros in Berlin   567 Wolff, Caspar Friedrich (1734–1794)*, deutscher Physiologe und einer der Begründer der modernen Embryologie   434 Wolfsteiner, Alfred (1954-), deutscher Autor und Historiker   124 Worms, René (1869–1926), französischer Soziologe und Philosoph, 1893 gründete er die Revue Internationale de Sociologie, die er fortan herausgab   103, 113, 142, 503, 504 Wucherer, Johann Friedrich (1803–1881), deutscher evangelisch-lutherischer Theologe   399 Wundt, Wilhelm (1832–1920)*, deutscher Physiologe, Psychologe und Philosoph   146, 403, 404, 407, 430, 443, 445, 543, 563, 564 von Zabuesnig, Johann Christoph (1747– 1827), deutscher Schriftsteller, veröffentlichte auch Übersetzungen aus dem Französischen und Lateinischen   362 Zachariae, Karl Salomo (1769–1843)*, deutscher Rechtswissenschaftler   337 Zander, Jürgen (1939-), deutscher Soziologe und Handschriftenbibliothekar, MitHg. Von TG 23,2   XV, 553



Personenregister

Zander-Lüllwitz, Brigitte (1941-), deutsche Germanistin und Pädagogin, Mit-Hg. Von TG 23,2   553 Zarncke, Friedrich (1825–1891)*, deutscher Germanist   351 Graf von Zedlitz und Trützschler, Karl Eduard Robert (1837–1914)*, deutscher Beamter in Preußen und 1891/92 Kultusminister   123, 524

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Zeller, Eduard (1814–1908)*, deutscher Theologe und Philosoph   565 Ziegler, Theobald (1846–1918)*, deutscher Philosoph   551, 567 Zola, Émile (1840–1902)*, französischer Schriftsteller und Journalist   145, 542

Sachregister Die Wörter folgen einander alphabetisch; diakritische Zeichen werden dabei außer Acht gelassen, Ligaturen werden aufgelöst. In diesem (sog. „denkenden“) Sachregister sind die Hinweise nicht mechanisch generiert worden, sondern nach dem Urteil des Herausgebers. Die sehr ausgearbeitete, oft scheinbar umgangssprachliche Terminologie Tönnies‘ ist sorgfältig berücksichtigt. Manche Schlagworte, die Tönnies zuweilen exakt, zuweilen nachlässig benutzte (z.B. Französische Revolution), sind etlicher Zweifelsfälle halber getrennt vom Oberbegriff (z.B. Revolution) ausgewiesen. Die Einordnung zusammengesetzter Schlagworte richtet sich nach den Substantiven auch bei festen Fügungen („Französische Revolution“ suche also unter „Revolution, frz.“), ausgenommen sind Eigennamen (z.B.: Bürgerliches Gesetzbuch). Alle Worte, die der alphabetischen Reihung nicht dienen, sind kursiv abgesetzt; also auch alle Weiterverweise. Fette Seitenzahlen geben an, dass ein ganzer (Teil-)Beitrag zu diesem Schlagwort dort beginnt. (Innerhalb des Beitrags wurde dasselbe Schlagwort dann nicht noch einmal vergeben.) Abonnement, obligatorisch   223, 324, 333, 335 Absolutismus   364, 423 Adel   124, 357, 359, 530 Agitation   45, 63, 70, 77, 81, 83, 95, 114, 201, 320, 490 Algebra der Begriffe   411 Allgemeine, das    55, 59, 87, 94, 194, 282, 300, 401, 416, 427f., 433 ff., 443 ff., 451f. Allgemeinheit    404, 436, 440f., 451 Altersversicherung   195 Altersversorgung   393 Altertum   363 Amerika   197 Anarchie   313, 453, 491, 494f. Anarchie unserer gesellschaftlichen Produktionsweise   313 Angelegenheit, öffentlich   53f. 58, 61 ff., 66, 71f., 78f., 83, 96, 98

Anhänger   14, 32, 42, 51, 78, 93, 110, 197, 346, 384, 393, 410, 462, 484 Anlagen, sittliche   261 ff., 265 ff., 269 ff., 290, 326 Anschauung   8, 18f., 25, 154f., 287, 310, 334, 349, 373, 409f., 436, 444, 457, 460, 471, 482 Ansicht, wissenschaftliche   409, 411f., 429, 436, 441, 446, 454, 463, 469 ff. Antisemiten   110, 133 Antisemitismus   115, 124, 126, 131-133, 148 Apologetik   136, 470, 485 Apostolikum   137 Arbeit   16 ff., 35, 57, 90, 104, 152 ff., 165 ff., 172 ff., 177, 180 ff., 210 ff., 232 ff., 259, 274, 289, 331, 341, 348, 371, 398 ff., 422f., 445, 468f. Arbeit, freiwillig   115 Arbeit, ungelernte   210f., 290



Sachregister

Arbeiter, soziale Lage   106f. Arbeiterbewegung   26, 77, 84, 95, 107 ff., 111, 155f., 198, 205, 210, 219, 375 Arbeiterfrau   70 Arbeiterin   70f., 83, 106f., 141 Arbeiterklasse   75, 92, 127, 152, 154, 199, 289, 303, 327, 346, 392, 460, 468, 484, 493 Arbeiterkoalition   54, 64, 71, 115, 327 Arbeitskraft, Missbrauch der   172 Arbeiterpresse   157 Arbeiterverbände   61, 83, 86, 93, s.a. Vereine Arbeiterwohnung   205, 313, s. a. Wohnung Arbeitsbedingung/-verhältnis   53, 57 ff., 68, 71, 77, 83, 87, 95, 113, 137, 140f., s.a. Lohnbedingung/-verhältnis Arbeitslosigkeit   108, 140, 165, 167, 220, 312, 347 Arbeitszeit   56, 60f., 115, 121, 169 ff. Aristokratie   335, 386f., 485 Armenbibel   331 Armenpflege   290, 313, 335 Arten, Entstehung der    426, 446, 450, 462 ff. Astronomie   141, 445, 456 ff. Asyl   312f. Atheismus   410 Aufkläricht   335 Aufklärung    201, 338, 363, 394, 397, 412 ff., 463 Auftreten   36, 45, 58, 69, 81, 83, 286, 311, 359, 372, 409, 412, 418, 435 Aufwallung   44, 324 Ausbeutung der Not   317 Ausbildung   154, 208, 210, 229, 248, 255, 292, 344, 353, 470 Ausländer   205 ff., 242, 255 Auslese   407, 435, 448, 462 ff., 466 ff., 474, 477, 482 ff. Auslesemechanismen   468 ff. Außenhandel   103 Autorität   8, 22, 30, 43, 46, 73, 117, 160, 244, 286, 292, 323, 344f., 407f., 413, 421 ff., 495 Balance der Gewalten   382, 387 Barbarossas Erwachen   368 Bauer   361, 377, 401, 483f. Baumwolle   376

623

Bayern   83, 109, 118 ff., 124, 126, 133, 136 Beamte(nschaft)   21, 25 ff., 52f., 73 ff., 153, 180, 193, 285 ff., 306, 317, 466, 478f. Bedeutung   7, 30, 39 ff., 52, 151, 154, 191 ff., 198, 208, 213, 225, 229, 233, 240f., 255, 259, 266, 274, 279f., 290, 295f., 302, 311, 357f., 367, 372, 376, 381, 388, 395, 403f., 415 ff., 436, 439, 447 ff., 463 ff., 491 ff. Begeisterung   30, 33, 329f., 364, 370, 376f. Begabung   25, 260, 264f., 269, 273, 465f., 474f., 478, 480 ff. Begriff/e   15, 22 ff., 38, 51, 55, 59, 61 ff., 65 ff., 73f., 88, 90, 97, 99, 112, 168, 172, 232, 278f., 287, 291, 300, 309, 313, 320, 354, 359, 361, 375, 377f., 389, 392, 405 ff., 414, 415 ff., 424 ff., 430 ff., 437 ff., 440 ff., 451 ff., 466, 482, 489 Begriffsbildung, naturwissenschaftliche    424f., 428, 440, 447, 450 Behörde   51 ff., 56, 62, 68 ff., 80f., 85 ff., 108, 122, 167, 194, 239, 248, 251, 282, 287, 292, 294, 300, 305, 308, 311 ff., 320, 322, 334f., 341 Bemannung   172f., 188f., 212 ff., 215f., 220, 227, 230, 233, 245, 251, 255f. Berechnung   14, 168 ff., 217f., 225, 240, 297, 474 Betrachtung, richtige   34 Betriebsunfall   159 Bevölkerungsstrom   483 Bewegung, ethische   350, 459f. Bewegung, kulturelle   23 Bewegung, national   82, 378, 453 Bewegung, sozial   101 Bewusstsein, europäisches   43, 489 Bewusstsein, sittliches   8, 354 Bewusstsein, soziales   490 Beziehungen, sittliche   12, 21, 352 Biblia pauperum   331 Bildung, allgemeine   15, 26, 43, 94, 286, 319, 334, 363, 372, 472 ff. Bildung, ethische   311, 459 Bildung und Hochkultur   362 ff. Billigkeit   14, 51, 94, 209, 220, 242, 244 Bimetallismus   109f., 130 Blender, stilistischer   396

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Apparat

Blutsteuer   493 Blutvergießen   352 Bonhommie   491 Braunschweig   83, 89, 124, 143, 206 Buddhist   325 Bund   12f., 52, 57, 71f., 80 ff., 87, 92, 95, 109 ff., 124, 132f., 137, 197, 284, 296f., 311, 368, 375, 382, 489 ff. Buren   44, 125, 361 Bürger   8, 10, 14, 20 ff., 28, 30, 32, 47, 51, 53, 57, 64, 71f., 81, 89, 92 ff., 121, 127, 131, 141, 202, 254, 278 ff., 303  ff., 341, 351 ff., 365, 372, 378, 387, 423, 436, 454, 470, 478, 482 Bürgerkrieg   30, 32, 391 Bürgerliches Gesetzbuch   115, 280f., 470 Bürgertum, politisches   372 Burschenschafter   367 Charakter   9, 15, 22f., 26, 30, 35, 42, 47, 52, 58 ff., 89, 100, 112, 117, 123, 126, 130, 136, 138, 142, 146, 157, 192, 198, 201, 208, 213, 235, 239, 246, 259 ff., 265 ff., 269 ff., 285 ff., 295, 300f., 314 ff., 326, 333 ff., 343  ff., 359, 363f., 376, 380, 383f., 388 ff., 394, 405, 410 ff., 422, 424 ff., 431 ff., 437, 447 ff., 460, 463 ff., 470 ff., 481 ff., 494 Charakteristik, moralische   260, 269 Chartismus   375 Cäsarismus   358f., 386 Caucus   391 China   123, 125, 127f., 195, 244, 489 Civilisation   16, 32, 344, 359, 387, 412 Code pénal   85 Cohabitation   342 Cölibat   347 Dänemark   161, 165, 209, 228, 367, 394f. Darwinismus   147, 411, 447f., 462 ff., 469 ff., 490 Dasein   7, 11, 86, 92, 111, 134f., 184f., 205, 310, 316, 410f., 448, 450, 458, 460, 463 ff. Dasein, geistiges   310 Deismus   406 Delikt   55, 90, 182, 283, 292, 297, 299, 301 Delikt, Roheits-   300

Demokratie   41, 107, 110, 114, 120, 122, 128, 130, 133, 135, 138, 383 ff., 387 Denken   11f., 14, 16f., 19 ff., 26 ff., 32 ff., 39, 51, 79, 94, 244, 302, 309f., 319, 323, 329, 341, 343, 349, 359, 364, 372, 381, 396, 399, 403 ff., 410 ff., 420, 423, 426f., 434, 442, 445, 448, 456 ff., 477, 489f. Denken, gemeinsames   417 Denken, wissenschaftliches   38, 40, 289, 419, 436 Denker, politischer   357 Descendenz   406, 411, 463 Deutscher Bund   80, 111, 489 Deutsches Reich   101 Dichtung   369, 373 Diktatur   359, 386 Diktaturparagraph   85, 124 Direktorium, europäisches   495 Disziplinarbestrafung   193 Dogmatik   406 Dreibund   124 Effektenversicherung   240 Egoismus   14 ff., 27, 352, 363, 492 Ehe   12, 60, 105f., 205, 264f., 272, 280f., 290f., 341, 345, 368, 370, 403, 469, 482 Ehrenrecht, menschliches   292 Ehrlichkeit   160, 350f., 496 Ehrungen   401 Eigenschaften, soziale   463 Einfalt, sittliche   335 Einflüsse   8, 37, 216, 261, 270, 291, 323, 334, 373, 412, 432, 470 Einheit Deutschlands   367, 489, 494f. Einkommen   167 ff., 208, 232, 240, 251, 315, 334 ff., 480f. Eitelkeit, menschliche   455 Element, naturwidriges   363 Elsaß-Lothringen   85f., 120, 124, 143, 296f. Eltern   29, 200, 272, 275, 279 ff., 289 ff., 300, 304 ff., 345, 470, 482 Energie   23, 40, 328, 405f., 414, 420 England   97, 125, 142, 197, 242, 278, 339, 357 ff., 361, 376 ff., 381 ff., 391 ff., 422, 475f., 494 Entparteiung   40 Entrüstung, sittliche   4, 322



Sachregister

Entwicklung   16, 35, 47, 50, 52, 62, 97, 103f., 108, 111, 125, 127, 140, 143f., 156, 198, 255, 265, 277f., 290, 295 ff., 299, 302f., 311, 358, 364, 371f., 379, 406, 413, 426, 429, 433, 436, 441 ff., 464 ff.,503 492, 496 Entwicklung, organische   363, 434 Entwicklung, soziale   101, 463, 485 Epoche, kritische   412 Erdball   333, 492, 494 Ereignis   7, 34, 42, 368, 373f., 399, 407, 428 ff., 442, 446f., 450 ff. Erfahrung   15, 20, 31, 35, 74, 82, 154, 191, 196, 201, 260, 269, 286, 291, 296f., 301, 310, 320, 334, 340, 342, 347, 350, 384, 404, 407, 409, 418, 429 ff., 441, 467, 471, 473, 476, 479, 482 Erkenntnis   17 ff., 36, 38, 45, 51, 59, 93, 155, 262, 267, 279, 283f., 288, 297, 310, 319f., 325, 327, 338, 343, 349, 404 ff., 420, 440, 442, 449f., 455, 457, 485 Erkenntnis (Gerichtsurteil)   26, 49, 212, 214, 245, 275 Erkenntnistheorie   417, 419 Erklärungsprinzip   470 Ernst, besonnen   7 Ernstfall   493 Eroberungspolitik   377, 385, 393 Erwerbsthätigkeit   288f. Erzieher   18, 145, 267, 281, 283, 288, 290, 304 Erzieher, freiwilliger   341f. Erziehung   90, 202, 289, 319 Erziehungsbehörde   292 Ethik   5, 8, 18, 22, 26, 141, 274, 309, 319, 325, 343f., 354, 440, 472 Ethiker   94, 302, 309, 329, 350, 439, 458 Europa   43, 103f., 106, 125, 148, 167, 232, 249, 339, 376, 457, 484, 491, 493f. Europa, Einigkeit   490 Europäischer Bund   489 Evolution   16, 101, 379, 383, 403, 408, 410f., 433 Exekutive   387 ff., 495 Faktor   106, 191, 247, 265, 318, 323, 334, 387, 453, 463, 493

625

Faktor, günstiger   290, 492f. Faktor, innerer   290 Familie   11f., 21, 201, 204f., 216, 218, 228, 265, 277f., 289f., 312 ff., 318, 327, 333, 342, 345f., 347, 383, 482f. Familienleben   29, 290, 315, 319f., 468 Familienregeln   292, 304 ff., 477 Fäulnis   323 Februarerlasse   53 Feniertum   375 Fetisch-Gott   7 Flensburg   149 Flucht am helllichten Tag   122 Forschung, astronomische   456 Fortschritt, ökonomisch-technisch   493 Fortschritt, wirtschaftlich   103f., 493 Frankreich   27, 85, 97, 125, 297, 357, 359, 365, 412f. Frau/en   54 ff., 63 ff., 83, 97, 106f., 126, 139 ff., 196, 205, 242, 252, 278, 289, 306, 311f., 319, 328, 346f., 363, 376, 413, 477, s.a. Arbeiterfrau Frauenbewegung   126, 139, 141 ff. Frauensperson(en)   63, 83, 99f. Freiheit   15, 27 ff., 39, 49 ff., 64 ff., 75, 80f., 87, 90, 92 ff., 97f., 114, 130, 133f., 219, 228, 278, 293, 301, 310f., 318f., 323, 329, 359, 367f., 379, 387, 448, 473 Freiheit, bürgerliche   23, 53, 72, 94 Freiheit, der Kunst   116 Freiheit, der Wissenschaft   116, 414 Freiheit, des Gesprächs   388 Freiheit, sittliche   310, 318, 320 Freude   16, 18, 35, 310, 346, 354, 372, 374, 394, 396, 400f., 461, 468 Freund   5, 21, 25, 36, 70, 79, 85, 92, 131, 137f., 139, 146, 200, 222, 327, 336, 341, 347f., 366, 368 ff., 392f., 397f., 400 ff., 452, 460, 470, 492, 496 Friedens-Kongress   124f. 489f., 493 Friedens-Programm des Zaren   124f., 491, 495 Föderation   490 ff. Furcht   11, 46, 62, 73, 153, 156, 194, 286, 339, 342, 344, 359, 383, 395 Gedanken, national   92 Gedankending   406 Gegenstand, politisch   54 ff., 61 ff., 97 ff.

626

Apparat

Gefahr, öffentliche   29f. Gefängniswesen   341 Gefühl   10, 24, 26, 30, 32f., 43f., 53, 64f., 68, 93f., 198f., 263, 286, 309, 319f., 323, 333, 364, 369, 376, 380, 407f., 416 ff., 457 Geist   7, 16, 18f., 23f., 28, 58, 72, 79, 85, 131, 138 ff., 145, 196, 198, 260, 264, 269, 273, 280f., 286, 288f., 303, 305, 327, 331 ff., 338f., 350, 356, 369, 372  ff., 385 ff., 390, 394, 400, 407f., 410 ff., 420, 422f., 427, 430f., 446, 458 ff., 468, 474 ff., 483, 489, 493, 495 Geist, Rousseau’scher   362 Geist, wissenschaftlich   37, 412f. Geistesaristokratie   334 Geisteswissenschaft   37f., 412f., 422, 430f., 446 Geistlicher   60, 241, 260 ff., 270 ff., 284, 286, 304, 343, 346, 357 Gelehrsamkeit   334 Gemeinde, politisch-ökonomische   345 Gemeinde, moralisch-religiös   345 Gemeinschaft   41, 70, 122, 163, 170, 229, 277, 310, 337, 344 ff., 408, 414, 460, 465, 477 Gemeinwesen   42, 61, 394, 440, 478 Genossenschaft   94, 98, 108, 159, 167, 187f., 200, 211, 237, 240, 341, 345, 345, 354, 413, 478 Gerechtigkeit   7, 19, 24f., 35, 47, 51, 68, 90, 94, 156, 320, 337, 340, 424, 455, 460, 492, 495 Gesamtwille   40 Geschichte   7, 19, 31, 53, 70, 110, 114, 119, 130 ff., 146 ff., 243, 312, 331 ff., 337 ff., 358, 367, 386f., 390, 393, 398, 405, 407, 409, 411f., 414, 439 ff., 448 ff., 463f., 491, 494 ff. Geschichtschreibung   431 ff. Geschichtsphilosophie   407, 419, 425 ff. Geschichtswissenschaft   367, 370, 424 ff., 427 ff., 450 ff. Geselligkeit   70, 201 Gesellschaft   3, 13, 85, 107f., 136, 138, 464, s.a. sozialer Körper Gesellschaft, bürgerliche   127, 351 ff. Gesellschaft für ethische Kultur   141, 337, 456 ff.

Gesellschaft, Staaten-   77, 355 Gesellschaftslehre   408 ff., 465 ff. Gesellschaftsordnung   14f., 24, 31, 46 ff., 292 ff., 464, 466f., 471f., 474, 477, 479f., 484 Gesellschaftstheorie   462 ff., 482f., 485 Gesetz, preußisch   53 ff., 61 ff., 65, 96 ff., 278 ff., 280 ff., 298 ff., 317 Gesetz, sächsisch   71, 80 Gesetz, sittliches   34 ff., 283 ff., 329 Gesetz, Sozialgesetze   353 ff. Gesetzgebende Gewalt   23, 31, 41 ff. Gesetzgebung   12, 22, 52 ff., 57 ff., 60f., 64, 67, 70, 74, 92, 94, 97, 99 ff., 104f., 113, 115, 117f., 133, 296, 327 ff., 335 Gesetzgebung, Geist der   443 Gesetzgebung, sozialpolitisch   108, 114, 121, 140, 169, 176, 227, 304 ff. Gesinnung, edel und rein   17, 26 Gesinnung, deutsch-patriotische   70 Gesinnung, politische   69 Gesinnungs-Bouillon   336 Gesinnungslosigkeit   28 Gesundheitspflege   187 Gesundung, sittliche   196 Gewerbeordnung, preußische   53, 57 Gewerbeordnung, Reichs-   52f., 79, 81, 83, 86, 295 Gewerkschaft   46, 54, 56, 62, 64, 69, 72, 75, 77, 81, 84 ff., 91, 94f., 107 ff., 114, 123, 126, 136f., 140f., 158, 197f., 201, 216, 219 Gewerkschaftskartell   221, 247, 256 Gewissen   3, 7, 9, 17f., 33 ff., 71, 90, 152, 159, 233, 333, 353, 468, 474 Gewissen, gutes   204, 310 Gewissen, moralisches   22, 459 Gewissenhaftigkeit, intellektuelle   459 Gewordensein   434 Good-Templar-Orden   289 Gott, allmächtiger   18 Grober Unfug   24 Großbritannien   357, 376 ff., 382 ff., 413 Grundgedanken, monistischer   411 Grundsätze, moralische   44f. Hafenarbeiter   208, 218, 398f. Hafenarbeiterstreik   120f., 133, 216, 398f. Hafentarif   172



Sachregister

Hamburg   25, 56, 108, 118f., 121, 126, 144, 148, 151, 153f., 161, 164, 188, 197, 202, 212, 216, 223f., 228, 233, 238, 240, 245, 248, 255f., 312, 315, 318, 320, 331, 360, 362, 366f., 370f., 396, 399f. Hammelsprung   389 Handeln, erfolgreiches   330 Handeln, richtiges   323 Handelskrise   375f. Handelsverträge   112, 378 Handlung, strafbar   30, 279, 281f., 284, 288 ff., 294, 296, 304, 311, 323, 338, 341 Heer, stehendes   359, 391, 493 Hegel-Jargon   416 Heiden   7, 345 Heil, sittliches   20, 37 Heimarbeit   121 Heimat   223, 228, 264, 272, 312, 320, 398 Herrschaft   20, 41, 52, 93, 241, 310, 336, 359, 375, 380, 383, 385f., 391, 407, 477, 489 Hessen   85, 118, 124, 296 ff., 301 ff. Hetzer, gewissenlose   81, 152, 353 Heuchelei   9 Heuchler   32f. Heuerbaas   166, 173 Heuerwesen   173, 235 Historie   427, 435 Hohn   35, 73, 79, 318, 490 Holland   194, 206 ff., 225, 242, 394 Home-Rule   378, 381 Humanismus   367 Humanist   372 Husum   146, 362, 366, 368f. Ideal   38f., 42, 46, 92, 126, 198, 324f., 328f., 346, 348f., 354f., 372, 394, 396, 423, 439, 454f., 456, 458, 465f., 470, 491 Idealmensch   325 Idealist   369 Idealismus   38, 46, 346, 372, 454, 456, 458 Ideologie   46 Imperialismus   357f., 376f., 382, 385, 388, 392 Individualisierung   277, 383

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Individuum   211, 261, 269, 314, 356, 437, 465f. Industrie   60, 63, 72f., 86, 92, 95, 103 ff., 121 ff., 129f., 140, 165, 233, 278, 313, 323, 327, 353, 357, 376 ff., 383, 393, 423, 473, 483, 493 Inflation   375 Institution, internationale   495 Interesse   7, 12 ff., 15f., 19 ff., 26, 29, 32, 39, 42 ff., 53, 59 ff., 70, 73, 79, 92, 95, 109f., 132 ff., 137, 141, 152 ff., 155  ff., 174, 177f., 183, 186, 198 ff., 221 ff., 241, 244, 264f., 274, 316, 320f., 323, 326, 329, 337, 348, 351 ff., 357, 370, 373, 376, 378 ff., 382, 385, 391, 393 ff., 398, 400, 408, 417, 423, 426, 442, 450, 452, 460, 479, 481, 492f., 496 Interesse, aktuell   332 Interesse, materiell   40, 278, 327 Interesse, sozial   61, 67f., 213 Interesse, vaterländisch   95 Intelligenz   45, 348, 411, 479 Italien   112, 114, 124, 136, 338f., 397, 489, 494 Justiz   22, 24f., 52, 286, 293, 295, 323, 332, 381, 470 Justiz, administrativ   280 Justiz, Klassenjustiz   27, 46 Justiz, ungerechte   25 Kadaver-Gehorsam   392 Kanada   380f. Kapitalistenkrieg   395 Kautelen   22f., 284 Keimplasma   425f. Kellner   348 Kiel   149, 314, 345, 367f., 396 ff., 401 Kilometritis   492 Kind/er, unehelich   341 Kinderseele   401 Kinder-Zuchthaus   287 Kirche   80, 94, 117, 119, 129f., 134 ff., 144, 260, 263, 343, 345f., 357, 367f., 393, 401, 443, 471 Klasse   26, 29, 39, 46, 53, 62, 92, 109, 111, 114f., 121f., 127, 133f., 140 , 155f., 241f., 316, 320, 353, 363f.,

628

Apparat

383f., 462, 466f., 469f., 473f., 479f., 482 ff., s.a. Arbeiterklasse Klasse, produzierende   122 Klassenbewusstsein   26, 156, 197, 201 Klassengeist   201 Klassenjustiz   6, 27 ff., 46 Klassenkampf   32 ff., 84, 391f. Klassenschicht   26, 61, 154f. Klassifikation   266f., 270, 442f., 455 Klugheit   9f., 14f., 42, 44, 478 Koalition   49, s.a. Arbeiterkoalition Koalitions-Freiheit   49 Koalitionsrecht   52, 54, 63f., 71, 74, 77, 85, 87, 91 ff., 128, 353 Kolonien   120f., 125, 209, 376f., 378f., 380f., 382, 386f., 388f., 394 Kombinationslehre   474 Konkurrenz   10 ff., 104, 114, 213, 228, 235, 378 ff., 393, 464 ff., 469, 473 Kontrolle, der Öffentlichkeit   67, 175 Kontrolle, staatliche   220, 379, 388, 390 Konvention, terminologische   416 Körper, sozialer   464, s.a. Gesellschaft Körperschaft, gesetzgeberisch   40 ff., 45f., 127, 296, 380f., 387 Körperverletzung   89 ff., 194, 196, 199, 296, 298 ff. Korrespondent-Reeder   153f., 161f., 230 Korruption   6, 23f., 27f., 38 ff., 453, 479f. Kosmogonie   406 Kost (an Bord)   167f., 174, 176-183, 186, 202f., 210, 225, 229, 232, 235, 251f. Kraft, moralische   42, 303 Kraft, nachhaltige   20, 94 Kraft, soziale   324, 347, 404, 413 Krankenpflege   186 ff., 195, 200, 226, 237f., 253, s.a. Gesundheitspflege Krankenversicherung   115, 195, 199f., 240, 254 Krieg   10 ff., 21, 27, 30 ff., 44, 52, 112, 121, 125, 131, 209, 351f., 367, 376, 379, 384f., 389 ff., 395, 435, 453, 462f., 489f., 492 ff. Kriminal-Anthropologie   25, 338f. Kriminalistik, anthropologische   339 Kriminalität   29, 293, 295f., 299, 301f., 317f., 348 Kriminalität, jugendliche   294, 296f., 302, 341

Krise   103f., 107, 111, 126, 218, 246, 347, 357f., 375, 468 Krise, politische   375 Kriterien   56, 157, 341, 425, 495 Kritik   9, 24f., 90, 97, 145f., 148, 153, 155, 159, 256, 286f., 320f., 334, 362 ff., 377, 386, 396, 409, 412f., 442, 459, 466, 471 Krügerismus   379f. Kultur   136, 198, 309, 362 ff., 373, 379, 394, 398, 408, 410, 412, 414, 424, 460, 463f., 470, 484f. Kulturkampf   117 Kulturrausch   471 Kulturstufen, niedrige   15 Kulturtypus   390 Kulturwerte   424 Kulturwertsystem   439 Kulturwissenschaft   403, 424 Kündigungsfrist   168, 217 Kunst   17, 32, 37, 116, 126, 145, 330, 335, 343, 361, 362, 372, 396f., 399, 403, 428, 431, 435f., 441, 457f., 475 Kunstausdruck   404, 419 Landesrecht   54 Lebensekel   353 Leben, gesellschaftliches   8, 11f., 24, 29, 41, 209f., 351f., 428f., 466f. Leben, sociales   29f., 51, 143, 265, 277f., 302f., 340f., 404, 410f., 414, 428f., 431, 434f., 477 Leidenschaft   33, 40, 46, 325, 420, 492 Lex Heinze   116 Liebe   16, 18f., 31, 37, 91f., 228, 310, 318f., 325, 349, 364, 396, 413 Lieblichkeit des Gemütes   266 Liberalismus   134, 356, 377, 385, 412, 470, 485 Literatur   116, 136, 145 ff., 317, 349, 410, 414, 420f., 472, 475 Little-England   381 Logik   21f., 51, 64, 89, 403f., 417f., 430, 439, 441, 443 ff., 455 Lohnbedingung/-verhältnis   53, 57 ff., 68, 71f., 77, 83, 87, 95, 107, 113, 137, 176, 315f., s.a. Arbeitsbedingung/verhältnis Lohnkampf   216f., s.a. Streik loi des trois états   413



Sachregister

Lübeck   84, 134, 146, 149, 394 Lüge   22, 32, 34, 37f. Lumperei   322 Macht (des Staates)   3, 53, 94, 110, 320, 375 Macht, ökonomische   20, 477f. Machtbereich, verfassungsmäßig   53 Majestät der Ethik   8 Manhood   383 Mann   7, 13, 23, 38, 47, 63f., 94, 144, 156, 196, 198, 291, 312, 319, 326 ff., 341 ff., 345, 347f., 352, 363, 372, 384, 387, 390, 395, 401f., 435f., 453, 465f., 471f., 476 ff. Marse   401 Massenbetrug   377 Maßregel   29, 93, 279 ff. Maßregel, erziehliche   288, 291 Materialismus   146, 412 Materialismus, historischer   147, 411, 454 materia peccans   290 Materie   405 ff., 450, 477 Mathematik   457 Maxime   10, 32, 34, 329f., 343, 365, 409f. Medizinkiste   186f., 226, 237 Meinung, öffentliche   9, 93, 112, 119, 121, 124f., 314, 322, 358f., 385f., 392 Mensch   15, 17 ff., 23, 26, 33, 36, 39f., 155f., 198, 277, 289, 291f., 309f., 323  ff., 338, 343 ff., 347f., 351f., 362f., 365, 397, 400f., 406 ff., 411f., 418, 425f., 431, 435f., 441, 448 ff., 454f., 458f., 462 Mensch, der ganze   373 Mensch, freier   319, 325, 401 Mensch, gesellschaftlich   12, 462 Mensch, isoliert   11f. Mensch, vollkommener   324f. Menschheit   7, 24f., 36, 289, 310f., 324f., 352 ff., 379, 413, 428, 443, 446f., 454, 460, 463, 468, 491f., 494, 496 Meßvorstand   177, 202, 220 Metamorphosentheorie   59f., 100 Metaphysik   408 ff., 413, 417, 419, 421, 442 Methode   8, 28f., 30, 38, 45, 89f., 143, 151, 296, 302, 319f., 341, 358, 389, 404, 406f., 411, 426f., 430 ff., 437,

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439, 442, 446 ff., 449, 471, 475f., 481, 496 Mexico   392 Miete   200, 313f., 315, 317 Militärregierung/ -herrschaft   121, 359, 386 Militärtüchtigkeit   262, 266, 270 Minderjährige/r   71-78, 97, 277 Minderjährige/r, strafmündig   283, 292f., 301f. Mißbrauch der Amtsgewalt   22f., 284 Mißbrauch (des Rechts)   24, 54, 64, 67, 97f. Mißhandlung   7, 79, 193f., 209, 282 Mißhandlung, körperliche   194, 204, 238f., 253f. Mission, Seemanns-   197f., 241, 255 Mittel   9, 13, 16, 21f., 25, 28, 30, 32f., 39, 45, 50, 55, 57f., 69f., 87, 151, 235, 277, 289, 303, 312, 322, 327, 337, 339f., 350f., 384, 408, 419, 422, 431, 434, 437, 450, 469 Mittel, politisch   9, 58f. Mittelalter, finsteres   363f. Mittelpartei   46f. Mittelstand   109, 111, 114f., 140, 152, 154, 240, 483 Monismus   411f. Moral   3, 51, 89, 93, 116, 134, 136, 141, 148, 280, 289, 319, 322, 350, 344 ff., 421, 431, 438f. Moral, politisch   3, 350, 394f. Moral, wissenschaftlich   343 Moralist   309, 328 Moralpredigt   491 Moral-Statistik   259, 263, 295, 317f. Mündigkeit   278, 292f., 383, 478 Mündigkeit, civilrechtliche   341 Mündigkeit, kriminalistische   301f., 341 Musterrolle   166, 168, 193, 207 Musterverfassung   387 Mutterland   378f., 380f., 464 Muttersprache   160, 204, 416 Nacktheiten   335 Nationalitätsprinzip   489 Natur   19, 24f., 28, 34, 37, 39, 82, 319, 324, 343, 345, 348f., 363f., 406f., 409, 423, 424, 456 ff., 462, 465, 472f., 481f. Natureinrichtung   466f., 476

630

Apparat

Naturerkenntnis   343 Naturgesetz   310, 471, 474, 493 Naturphilosophie   405, 410, 469f. Naturrecht   363, 386, 407f., 412, 470 Naturwissenschaft   38, 146, 405, 408f., 411 ff., 420, 422f., 424, 458, 493 Naturzustand   351, 463 Negation   337, 362, 408f., 485 Neo-Spinozist   409f. Neuer Kurs   112 Neutralität, politische   95f., 356 Niaiserie, moralische   285f. Nicht-Seiendes   37f. Nietzsche-Kultus   145, 396 Niveau   45, 334 Nordamerika   41, 97, 125, 197, 228, 230, 242, 375, 379f., 382, 389, 390f., 394 Norddeutscher Bund   52, 57, 92, 311 Not, materielle   29, 290, 310f., 340, 347 Not, sittliche   309 Not, soziale   310f., 341 Notarbeit   172, 225, 232 Noterziehung   342 Notwendigkeit   8, 20, 39, 76, 214, 238, 244, 327, 337f., 358f., 393, 431, 435, 453, 489f. Nutzen   8, 12, 16, 35, 44, 77, 432, 472 Obdachlosigkeit   311f., 314 Obervormundschaft   29, 283, 285 Objekt, historisches   448 Objekt, individuelles   437 Obrigkeit   10, 57f., 221f., 340, 408 Obstruktion   42, 381, 388 Öffentlichkeit   122, 125, 144, 252f., 263, 334 Öffentlichkeit, Kontrolle der   68 Opposition   114, 117, 119, 123, 126, 128, 356f., 381, 384, 388, 490 Ordnung, gesellschaftliche   15, 468f. Ordnung, öffentliche   54, 64f., 80f., 85, 97f. Ordnung, soziale   28 Organisation, gewerkschaftliche   64, 70, 76f., 92, 108, 114, 137, 216, 246, 256 Organismus   406, 425, 431, 446, 448, 462, 464, 470 Originalaufnahme   333 Ortsarmenverband   307

Pädagogisch   29f., 287, 292f., 420 Palladium, heiliges   36 Panmixie   466 Papsttum   495 Parallelismus   407 Partei   21, 25, 30f., 33, 35-42, 45 ff., 58, 77, 93, 109 ff., 116, 120, 125-135, 387, 439, 494 Partei, liberal   107f., 119f., 122, 127 ff., 356, 378, 385 Partei, nationalliberal   52, 122, 128, 356f., 368 Partei, sozialdemokratisch   77, 82, 84, 9296, 112f., 115, 118, 126, 200 Parteiisch/Parteilichkeit   13f., 25, 33, 35f., 40, 46f., 69f., 326 Parteikampf   11, 32-35 Partei-System   31 ff., 358, 384 ff., 460 Patriotismus   41, 69f., 376f. Patriotismus, europäischer   494 Patriotismus, nationaler   494 Pathologie   339 Paulskirche   367 Pauschquantum   388f. Persönlichkeit   15, 18, 23, 260, 262, 265f., 269f., 283, 285, 304, 326, 342, 347, 366, 408, 432, 435, 442, 445, 454, 460, 465, 479f. Petition   56, 58f., 80, 139 Pflicht   11, 19 ff., 30, 33, 40, 44, 46f., 51, 68, 89, 156, 256, 281f., 341, 343, 433, 459f. Phantasie   70, 413, 418, 449, 452, 457, 492 Philosophie   18, 26, 39, 118, 145 ff., 338, 363, 365, 405f., 408-423, 424, 429, 434, 439f., 450, 455, 458, 469f., 484 Plutokratie   41, 47, 485 Politik   3, 60, 71f., 77 ff., 89, 109, 111f., 119, 122, 124, 135, 137, 328, 334, 350, 377f., 382, 388, 428, 435 Politik, aggressive   379f. Politik der Nadelstiche   74 Politik, äußere   7, 10, 19f., 27, 43, 124, 127f., 354, 357f., 376, 381, 388, 390f., 393, 493f., 496 Politik, innere   7, 10, 19f., 32, 60, 133, 358, 387f., 390f., 463 Politik, Kriminal-   292 Politik, moralin-frei   12



Sachregister

Politik, Sozialpolitik   53, 60f., 71, 113, 119, 129f., 140f., 148, 316, 323 Politiker   9, 19, 30, 38, 41f., 43, 45, 63, 79, 92f., 94, 124, 302f., 328, 354, 357, 385, 387, 435, 472 Polizei   14, 27f., 30, 53, 67 ff., 72 ff., 75f., 80f., 84 ff., 91, 94, 196, 238f., 279, 283f., 287 ff., 299, 304f., 334, 339f., 465f. Polizeigewahrsam   312 ff. Polizei, Kriminalpolizei   28, 30 Polizei, politische   30, 122 Polizei, Sittenpolizei   30 Positivismus   414 Präzisionsmechanik   460 Presse   32, 51, 114, 135, 157, 246, 392 Preußen   52 ff., 54, 56 ff., 61 ff., 65, 67f., 80, 85, 87 ff., 91, 93, 96 ff., 106, 110, 112, 114, 117-124, 128 ff., 135 ff., 143f., 148, 162, 170, 194, 206, 277308, 367, 374, 459, 470, 489 Preußische Regierung   52, 123f., 126, 289, 323 Prinzip   13, 43, 51, 59, 93f., 117, 129, 135f., 146, 251, 279, 323, 329, 346f., 352, 358, 378, 382f., 385, 425f., 434f., 438f., 446, 453f., 457, 463, 470f., 475, 478, 489 Prinzipien   40, 43, 113, 213, 282, 352, 378, 444, 450, 463, 467 Privatmann   11 ff., 21, 44 Privatrecht   52, 92, 140, 278 ff., 282, 284, 292 Proletariat   29, 95f., 246, 341, 454, 469 Protestanten   133f., 136 ff., 346 Psychologie   285, 338, 343, 403, 406 ff., 411f., 417-423, 427, 429f., 432, 442f., 482, 484 Psycho-Pathologie   432 Qualität   196f., 216, 233, 246, 261f., 266, 270, 285f., 332, 475, 478, 482 Quantität   105, 332 Quidditas   417 Radikalismus   95f., 472 Rasse   338, 380, 394, 398f., 462f., 475, 484, 492, 494 Rasse, angelsächsische   125, 379 Ratio juris   58

631

Ratio naturalis   98 Realität, objektive   310, 406 Recht   7, 12 ff., 23f., 27, 33, 40, 47, 49, 111, 114 ff., 117f., 124, 133, 147f., 163, 188, 193f., 203f., 217, 220f., 254, 277, 311, 337f., 380f., 440, 443, 465f., 469f., 477f., 489, 491, 494 Recht, garantiert   31f., 81 Recht, gültiges   51 Recht, natürliches   51, s.a. Naturrecht Recht, öffentliches   52, 279 Recht, politisches   22 ff., 56f., 64, 71, 77, 90, 128, 357, 383f., 387 ff., 394f., 478 ff., 495f. Recht, privates   52, 92, 278 ff., 282, 284, 292 Rechtsfragen, prinzipiell   53f., 279f. Rechtsgefühl   94, 286 Rechtsstaat   51f. Rechtsvertrauen   94 Regel, wissenschaftlich   37, 153, 436, 438, 475f., 481 Regime   41, 112 Regiment, preußisches   374 Reform, soziale   51, 95f., 113, 121f., 132, 320, 348, 353f., 364, 387, 393 Reich Gottes   310, 345 Reichsgericht   54, 57, 61, 65, 67, 87, 89 Reichsgericht-Erkenntnis   56, 59, 61, 100, 282 Reichsrecht   53f., 83, 86, 280 Reichsverfassung   53f., 380f., 479f. Reichswohnungsgesetz   111, 316, 320 Relativismus, demokratischer   423 Religion   8, 15, 33, 93, 114, 139, 201, 325, 343, 363, 408, 413, 440, 460 Retter der Gesellschaft   359 Rettungswesen   188, 193, 226, 237 Rhein[land]-Pfalz   124 Rheinland-Westfalen   106, 123 Richter   7, 21f., 24 ff., 35, 37, 40f., 46, 51  ff., 62, 64f., 67f., 79, 93f., 100, 193, 277-308, 351f. Rinnsteinschiffer   246 Russland   112, 124, 177, 394, 493 Sachsen   71 ff., 77, 80, 90f., 106, 118, 143, 371, 480f. Sachsen-Weimar   79 ff., 85 Sachverständiger   45f., 151, 153, 155, 243

632

Apparat

Säkularisierung   344, 490 Salon   144, 373, 401 Sassenvolk   361 Schein   10, 13f., 16, 20, 36, 46, 79, 156, 188, 332f., 351, 467 Scheinkonstitutionalismus   40f. Scheinmoral   9, 351 Schleswig   159, 206, 223, 224 ff., 249, 251, 369 Schleswig-Holstein   128, 143, 157, 170f., 200, 205f., 219, 228, 259, 264, 272, 367f., 370, 401 Schöpfungsgeschichte   425f. Schuld   11, 13, 15, 44f., 194, 280f., 289, 311, 320, 337, 358, 390 Schule   29, 82, 117f., 123, 129, 131, 141, 146, 260, 270, 281, 283, 288, 303f., 308, 336, 337, 339, 358, 364, 367, 369, 371, 373, 411, 416, 419, 444, 462, 465f., 472 Schule, historische   469f. Schwindel   14, 377 Seele   3, 17 ff., 303, 319, 327, 331f., 347f., 363f., 369, 373, 401, 405 ff., 408 ff., 413, 424f., 430, 432, 458f., 467, 474, 478 Seelsorge   285, 302 Seemannskasse   195, 239f., 254 Seemannsordnung   151, 154, 166 ff., 175f., 193, 198 ff., 217, 220, 233, 238f., 250, 254 Seetüchtigkeit   211, 220, 244 Sein   18, 410, 431f., 458 Selbsterkenntnis   18, 310, 319f., 326f., 411, s.a. Verinnerung Selbsthilfe   57, 63, 353 Selbstmord   143, 194, 209, 243 Selbständigkeit, handelspolitische   380 Sensifics   420 Sicherung   188, 191, 193, 212, 226, 237, 252f., 255, 338 Significs   420 Sinn   10f., 12, 18, 22f., 42, 47, 55, 76, 90, 94, 155f., 221, 295, 311, 363, 373, 377, 416f., 420f., 426 ff., 436, 443, 448 ff., 458, 469, 471, 485, 491 Sitte   7, 17, 26, 29f., 42, 59, 70, 85, 90, 116, 195 ff., 222, 241, 247, 255, 259, 266f., 280 ff., 289 ff., 295, 302 ff., 310, 322, 335, 337, 344, 352 ff., 354f.,

364, 376, 394, 433, 443, 449, 458 ff., 471f., 481f. Sittenprediger   303 Sittenrichter   287 Sittlich-Gutes   261, 270 Sittlichkeit   30, 317 ff., 320 Snobbismus   336 Solidarität   15, 198 Sonderbündler   84f. Sophistizieren   59f. Souveränität   19, 40f., 134, 382f., 385f., 388 Sozialdemokrat(en)   24f., 78, 82, 91, 219 ff. Sozialdemokratie   78, 81f., 92, 155, 221, 246, 473, 485 Sozialdemokratischen Partei   84, 95, 115, 126, 200 Sozialismus   132, 364, 485, 493 Sozialistengesetz   81, 118 Sozialpolitik   49, 101, 309 Sozialwissenschaft   285, 431, 462f., 469 Speiserolle   176 Spekulation   316, 343, 386 Spinozismus   18, 325, 410f. Spionagenetz   333 Sprache   11, 23, 199, 244, 415, 482 Sprache, der Juristen   64f. Sprachgebrauch   64f., 415, 430, 441f. Staat, Aufgaben des   61, 278 Staat, Interessen des   61 Staaten, Verhältnis der   10 Staatsbürger   10, 28, 30, 32, 53, 64, 81, 89, 94, 303, 341    Staatsbürger, Kategorien von   89 Staatsform   97, 382, 386 Staatsgewalt   12, 25, 277f., 279 Staatshilfe   57 Staatsklugheit   31, 43, 79, 94 Staatsmann   9, 11, 13, 19 ff., 25, 30, 40, 43 ff., 47, 92, 326, 354, 367, 377, 393, 423, 477, 489 Staatsordnung   82, 91, 392, 479f. Staatspädagogik   29 Staatsraison   15, 277 Staatsrecht   97, 388 Staatsstreich   393 Staatswesen, englisches   376 ff., 394 Stand/Stände   24f., 27, 62, 67, 93, 137, 140, 152, 154, 196, 201f., 203, 233,



Sachregister

238, 246, 285 ff., 334f., 435, 466 ff., 472, 476, 481 ff. Statistik   129, 143, 231, 256, 259, 263 ff., 277 ff., 294f., 300, 311, 317, 357, 483 Statistik, Kriminal-   25, 142, 294f., 297, 301 Statut   53f., 59, 62 ff., 78, 84, 86f., 137, 151, 194, 200, 240 Stellenvermittlung   166, 175f., 251 Stiftungen   194, 254 Stimmrecht, allgemeines   479f. Stolz, gerechter   17 Strafbarkeit   338, 341 Strafen   15, 75, 89f., 239, 254, 292f., 299 Strafrecht   24f., 29, 51, 55, 85, 89, 116, 279, 288, 291 ff., 302, 304 ff. 338 ff., 466 Streik   57f., 62, 72, 76, 82, 108, 113, 115, 121, 133, 151, 216, 220, 247, 399 Studien, moralstatistische   259, 263, 275, 295, 318 Südafrika   125, 376, 379, 380, 382, 391 Suffrage, Household   383 Suffrage, Female   383 Synthese   363, 417, 419 Synthese, schöpferische   403 System   8, 23, 28, 41, 45f., 52, 54, 58, 94, 169, 173, 175, 232, 279, 341, 344, 357f., 364, 378, 384 ff., 403, 405, 408 ff., 414, 416 ff., 421, 429f., 431f., 437 ff., 441, 444f., 450, 452, 465, 482, 485 Tagelöhnerei   173, 220, 251 Tarifverhandlung   176 Tarifvertrag   168f., 172, 200, 202, 217, 220, 224f., 232, 251 Tatsache   152, 160, 163, 165, 221, 233f., 263, 266, 269f., 275, 464, 470, 475, 478, 484 Tatsache, behauptete   157f. Teilung der Erde   394 Teleologie   410 Terminologie   415, 427, 430, 445 Terminologie, philosophische   419, 423 Theeklub   460 Theologie   8, 24, 135 ff., 325, 343, 363, 389, 406, 412f., 428f. Theorie   19, 59, 71, 87, 100, 291, 340, 344, 404, 406 ff., 409, 411, 417, 419,

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425 ff., 429, 432, 444 ff., 450 ff., 462 ff., 468 ff., 478, 482 ff., 499 Theorie, absolute   337 Theorie, relative   338f. Tiefladelinie   200, 211, 244 Todesstrafe   352 Todesursachen   188 Toleranzhäuser   196 Trade, fair   378 Trade, free   378 Transvaal   125, 360 Trieb   18, 303, 319, 407, 411, 458, 469 Triumph, des Kapitals   493 Triumph, politischer   31 Trunksucht   196, 275 Tugenden, häusliche   318 Überlogik   51 Überstauung   211, 244, 255 Überstundenlohn   166 ff., 217, 224, 232, 247 Umsturzgesetz   114 Unabhängigkeit   20, 23, 137, 280, 376, 382 Unfähigkeit   178, 327 Unfallverhütung   185 Unfallverhütungsvorschriften   159, 187f., 237 Unfug, wissenschaftlicher   481 Ungemütlichkeit   315 Ungleichheit   53, 92, 362 Unparteiisch   33, 35, 39f., 46f., 153, 203, 236, 326 Unrecht   7, 12f., 22, 27, 33, 45, 53, 171, 199f., 329, 338, 354, 394 Unsinn   22, 68, 132 Unterbemannung   213, 216 Unternehmerpolitik   468 Unterricht   5, 28, 243, 308, 348, 393, 420 Unterscheidung    10, 54, 61, 265, 417, 430f., 437, 449, 477, 492 Unterstützungsfonds   223 Unterwerfung   54, 391f. Unwille   287, 324, 327, 329f., 380, 393, 400, 455 Unzweideutigkeit   61 Ursache   34, 37f., 41, 158, 160, 162, 176, 178f., 182, 188, 201, 214, 225, 235, 261, 270, 286, 289, 291f., 302, 315f., 324, 326, 339f., 348, 362, 376, 385,

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Apparat

400, 406, 411, 419, 421f., 428 ff., 436, 438, 446, 453, 474, 476, 483, 492f. Ursachen von Verstimmungen   400 Urteil, objektiv   38 Vacuum   344 Vagabondage   295 Vaterland   28, 93, 95f., 208, 320, 327, 367 ff., 374, 377, 412, 479 Verabredung   53f., 57 ff., 68, 83, 416 Verallgemeinerung   92, 153, 405, 408, 434, 437 Veränderung der Arbeit   210, 250 Verband   61, 63, 66, 83f., 86f., 89, 91, 93, 98, 107, 110, 130, 137, 151, 158f., 165, 171, 174f., 180, 197 ff., 202, 214, 216, 218, 220, 222 ff., 232, 246f., 251, 256, 277, 305 ff., 322f., 327 Verbindung siehe Verein Verbindung, ökonomisch   94 Verbot   52, 57 ff., 68 ff., 78, 80 ff., 86, 96 ff., 197, 234, 288, 317 Verbrechen   22, 28, 30, 75, 77, 287, 290, 293f., 297, 299, 303, 311, 323 Verbrechen, Eigentums-   340f., 344f., 347 Verbrechen, moralisches   323 Verbrechen, Verhütung des   337 Verbrecher   14, 28f., 93, 278, 291 ff., 296, 337 ff., 340, 347, 354 Verein   32, 53, 58 ff., 62, 64, 95f., 289, 294, 353, 378, 456, 478, 495 Verein, Bildungsverein   77f., 99 Verein, Fachverein   56, 63, 71f., 93, 98, 108, 110f., 113, 135, 140, 153, 164, 170 ff. 202f., 217f., 251 ff., 313, 316, 320 Verein, politischer   54 ff., 58 ff., 63f., 69f., 72, 77 ff., 96f., 99f., 353 Verein, sozialdemokratischer   69 Vereinsgesetz   54, 58, 61 ff., 69f., 74 ff., 79, 83, 88, 100 Vereins- und Versammlungsrecht   49, 118, 128 Vereins- und Versammlungsrecht, Mißbrauch des   64 67, 86f., 97 Vereinssatzung   55 ff. Vereinswesen   80, 85 Vererbung    291, 425f., 462, 475, 478, 481f. Verfolgung Andersdenkender   28, 31, 93

Verhalten, unsittlich   280 ff., 287 Verhetzung   320 Verinnerung   s. Selbsterkenntnis Vermögensrecht   278 ff. Vermögensverwaltung, vormundschaftlich    280, 285 Vernunft   13 ff., 18 ff., 24, 31, 34, 38, 44, 46, 68, 89, 221f., 246, 277, 310, 318, 325, 329, 354, 363, 393, 406 ff., 415, 420, 450, 470f. Vernünfteln   59f. Verteidigung   10f., 16, 20, 82, 182, 493 Vertrag   12 ff., 110, 112, 168 ff., 193, 200, 217 ff., 232, 242, 251, 305, 317, 378, 380, 416, 495 Vertrauen   22f., 26, 64, 67, 85, 91, 94f., 285, 341, 348, 356, 384f., 460, 479 Vertreter, gesetzlicher   284, 304 ff. Versammlung   41, 63, 65 ff., 70, 72 ff., 75 ff., 80, 90f., 97 ff., 108, 174, 221f., 246, 256, 313, 316, 320, 479 Versammlung, öffentliche   63 Versammlung, politische   55 ff., 64, 69 ff., 74, 77, 81, 83f., 100 Versammlung, sozialistische   74 Versammlungsberufer   81 Versammlungsfreiheit   80f. Versammlungsrecht   49 Verstehen   431 Verwahrlosung   279f., 288 ff., 296, 304 ff. Verwahrlosung, sittliche   283, 289, 291, 304 ff. Verwaltungsbehörden, Absicht der   71 Versicherung   87 ff., 152, 161, 187, 195, 199f., 240f. Versuchung   23, 177, 301 Verzeihen   324, 326, 328f. Victorian Era   376, 383 Volk   8, 20 ff., 26 ff., 30, 41 ff., 45, 50, 64f., 70f., 79, 90, 92, 96, 128f., 132, 138, 141, 196, 229, 259, 267, 285, 287, 297 ff., 300, 303, 309 ff., 317, 319, 321, 322f., 331, 335, 343, 346, 348, 352f., 357, 358, 360, 363 ff., 367, 371, 373, 376, 382 ff., 385, 391, 397, 399, 403, 412, 416, 434 ff., 438, 443, 453, 478, 484, 494 Volk, Schichten des    26, 29 Völkermord   44 Völkerrecht   12, 14, 394, 495



Sachregister

Volksbewußtsein   287 Volks-Erziehung, sittliche   310 Volkslesebuch   371 Volkslogis   177, 183, 186, 193, 197, 244 Volksrecht   65, 94 Volkssouveränität   385f. Vormärz   367 Vormund   278 ff., 306 ff., 342 Vormundschaft   279 ff., 285, 288, 291 ff., 304 ff. Vorstellung, Allgemein-   418 Vorwurf, moralischer   32 Wahl   21, 45f., 78, 95, 114, 129, 182, 219, 267, 321, 342, 350, 356, 375, 383, 477 ff., 480 Wahl, die Wahl haben   342, 352 391 Wählerqualität   478 Wahnmeinung   36 Wahnsinn   339, 365 Wahrheit   7f., 19, 22, 34, 36, 38, 43, 46f., 53, 69, 82, 97, 155 ff., 234, 295, 301, 309, 323, 325, 335, 345, 348, 364, 386, 388, 396 ff., 404, 438, 445, 469, 475, 485, 489 Wahrscheinlichkeit   10, 301, 319, 442, 445, 452f., 466, 473, 475f., 481f., 491 Waisenpflege   290, 292 Waren-Produktion   16 Wehrpflicht   295, 391 Welt   8f., 19, 24, 37, 42, 60, 85, 125f., 138, 310, 329, 340, 348, 350f., 355, 369, 371f., 378, 380, 386, 396f., 400, 406f., 408f., 413, 422f., 426, 428, 438, 443, 446 ff., 449f., 451f., 455, 457, 459, 461, 463, 490, 492, 495f. Weltbetrachtung, pythagoreische   458 Weltharmonik   458, 495 Weltherrschaft   375, 380f., 391 Weltkongress   495 Welt-Politik   43 Welt-Politik, russische   496 Weltprozess   442 Weltunrecht   45, 394 Werk wahrer Menschenliebe   399 Wertschätzung   37 Wert der Gegenstände   37 Wert, unbedingter   354 Wertmaßstab   443f.

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Wesen   16 ff., 29f., 37, 40, 43, 46, 52, 58, 69, 78, 88, 95, 223, 266, 278f., 287f., 348, 354f., 358, 370, 374, 375 ff., 379, 389, 394, 401, 404 ff., 408, 410, 418f., 425, 432, 437, 443, 446f., 452, 464, 477f., 489 Wesen, allgemeines   451 Wesen, der Dinge   18 Wesen, natürliches   328 Wettbewerb   17, 343, 467f., 473f., 479 Wille   14, 21 ff., 35f., 39, 41, 60, 119, 164, 167, 196, 198, 277, 287, 329, 342, 351f., 473 Wille, böser   57, 178, 338, 383f., 386, 422, 434, 472 Wille, freier   323, 337, 406 Wille, guter   14, 23, 31, 39 ff., 169, 221, 319f., 329, 492 Wille, menschlicher   34, 407 Willensbestimmung   261, 266, 270, 411, 443 Willkür, polizeiliche   53, 72, 85f. Wirklichkeit   16, 36, 38f., 86, 139, 153f., 177, 193, 208, 221, 250, 262, 265f., 270, 297, 404, 409f., 418f., 432f., 436f., 441f., 463, 473, 475f., 490 Wirklichkeit, reale   332 Wirklichkeit, moralische   431 Wirklichkeit, politische   46 Wirklichkeitswissenschaft   411, 414, 427 ff., 433, 438, 447 ff. Wirkung   9, 17f., 23, 31, 37, 52, 70f., 79, 82, 92, 138, 156, 185, 198f., 243, 247, 265, 284, 290, 293f., 296f., 301, 305f., 321, 334, 338, 344, 348, 358, 362f., 366, 375, 380f., 389, 411f., 414, 419, 428, 435, 441, 451f., 456, 462 ff., 468f., 473f., 483, 493 Wirkung, sittliche   222, 247, 301, 458 Wirtschaftsgeschichte   454 Wirtschaftskrise   103 Wissen   26, 33f., 159, 183, 200, 363, 371f. Wissenschaft   3, 17, 22, 36 ff., 55, 65, 67, 76, 99, 112, 122, 126, 131, 137, 153, 262 ff., 285f., 289, 294, 302, 316, 319 ff., 328f., 335, 338f., 343, 346 ff., 350, 362, 396, 403 ff., 409 ff., 413, 415 ff., 422f., 424 ff., 427 ff., 433 ff., 441 ff., 452f, 454f., 456 ff., 460, 463f., 469 ff., 476, 480f., 485, 493, 495

636

Apparat

Wohl, gemeines   9, 11, 13, 16, 20f., 34, 40, 42, 80, 82, 95, 156, 197, 213, 235, 262, 279 ff., 323, 327, 346 Wohlfahrt   285, 291, 313, 337, 387, 453 Wohltat   68, 292, 335, 354 Wohltätigkeit   55, 172, 340, 353f., 494 Wohnen, Kosten   312 ff., 315 Wohnen, mangelhaftes   255, 314, 318 Wohnen, ungesundes   184, 314, 316, 318 Wohnung   111, 205, 312 ff., 316 ff., 319f., 321, 353f., 393 Wohnungsfrage   316, 393 Wohnungsnot   309 Wohnungspflege   315, 321 Wollen   1, 22, 38f., 56, 65, 277, 352, 354, 369, 374, 406 ff., 411, 416, 442f., 490 Wollen, Motor des   364 Wort   7, 9, 11, 13, 18, 22 ff., 27, 29, 32f., 41, 44, 76, 81f., 90f., 94, 98 ff., 117, 122, 138, 148, 182, 191, 204, 219f., 234, 239, 266, 277, 282, 286f., 291, 299, 301, 315, 317, 325 ff., 329, 331, 334f., 337, 344, 351, 359, 363, 369, 375f., 378, 383, 385, 387, 390f., 396, 398, 408, 415 ff., 420 ff., 428, 441 ff., 449 ff., 456, 459, 469, 489 ff. Wortform   422 Wunsch   26f., 32, 34, 38f., 44, 56, 86, 92, 176, 220, 222, 260, 276, 287, 319, 327, 351, 454, 456, 490, 496 Würde, sittliche   42 Württemberg   85, 118, 128, 137f. Zeichen, künstliches   416 Zeichen, natürliches   416 Zeit, freie   173, 183f., 236 Zeitalter   32, 41, 231, 334f., 336, 363, 371f., 405f., 437, 484 Zeitalter, wissenschaftlich   17, 422f., 471 ff. Ziel   16, 58 ff., 65, 111, 154, 201, 311, 343, 405, 413, 421, 451 Ziel, politisches   42, 77, 84, 86, 95, 132, 219, 327, 351, 365, 375, 379f., 431, 494

Zielbewusste   219, 380 Zivilisation   16, 32, 343f., 358f., 388, 412, 463 Zorn, gerechter   324, 329f. Zuchthausvorlage   115, 123 Züchtigung   193f., 238 Zuchtwahl   448, 463, 467, 469f., 484 Zuchtwahl, geschlechtliche   463 Zulassen   56, 83, 262, 266, 270 Zünftler   114, 201 Zusammenleben   8, 209, 319, 345, 354, 369, 408, 477 Zuschauer   13, 33, 35 Zustand, gesellschaftlicher   8, 41, 47, 364 Zustand, innerer   20, 392 Zustand, natürlicher   412 Zustand des Krieges   10, 12, 30f., 395, 462 Zustände   19f., 26, 152 ff., 176 ff., 224f., 229, 243f., 313 ff., 319, 324f., 341, 348, 385, 392, 412, 420, 428f., 460 Zustände, sittliche   195, 241, 255, 287, 290, 295, 346 Zwang   30, 310, 338, 388 Zwangserziehung   29, 264f., 277, 341f. Zwangsversimpelung   334f. Zwangszögling   296, 301, 305 ff. Zweck   9, 13, 15, 21f., 24, 55, 78, 87, 152, 160 ff., 190, 198, 223, 231 ff., 243, 254 ff., 264 ff., 277 ff., 333, 337 ff., 408 ff., 416, 419 ff., 423, 437, 441, 444 Zweck der Besserung   278 ff., 337 ff. Zweck, Gegensatz des   16 Zweck, politisch   27, 30, 32, 55 ff., 60 ff., 71 ff., 77, 94 ff., 96, 346, 350 ff., 384, 406, 478 Zweckmäßigkeit, Prinzip der   16, 21, 27, 51, 457f., 470 Zwecksetzung   22, 54f. Zwittergestalt   364

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 1 Band 2 Band 3

Band 4

Band 5 Band 6 Band 7 Band 8 Band 9 Band 10

Band 11 Band 12 Band 13 Band 14 Band 15 Band 16

1875 – 1892: Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: „Was ist studentische Reform“ – DeJove Ammone quaestionum specimen · Schriften ·Rezensionen 1880 – 1935: Gemeinschaft und Gesellschaft 1893 – 1896: „Ethische Cultur“ und ihr Geleite – Fünfzehn Thesen über die Erneuerung des Familienlebens – Im Namen der Gerechtigkeit– L’évolution sociale en Allemagne – Hobbes · Schriften · Rezensionen 1897 – 1899: Der Nietzsche-Kultus – Die Wahrheit über den Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg – Über die Grundtatsachen des socialen Lebens · Schriften · Rezensionen 1900 – 1904: Politik und Moral – Vereins-und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit – L’évolution sociale en Allemagne (1890–1900) · Schriften 1900 – 1904: Schriften · Rezensionen 1905 – 1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker – Strafrechtsreform – Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht · Schriften ·Rezensionen 1907 – 1910: Die Entwicklung der sozialen Frage – Die Sitte · Schriften · Rezensionen 1911 – 1915: Leitfaden einer Vorlesung übertheoretische Nationalökonomie – Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung · Schriften · Rezensionen 1916 – 1918: Die niederländische Uebersee-Trust-Gesellschaft – Der englische Staat und der deutsche Staat – Weltkrieg und Völkerrecht – Frei Finland – Theodor Storm – Menschheit und Volk · Rezensionen 1916 – 1918: Schriften 1919 – 1922: Der Gang der Revolution – Die Schuldfrage – Hochschulreform und Soziologie – Marx – Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914 · Schriften 1919 – 1922: Schriften · Rezensionen 1922: Kritik der öffentlichen Meinung 1923 – 1925: Innere Kolonisation in Preußen insbesondere der ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung I · Schriften 1923 – 1925: Schriften · Rezensionen

638 Band 17

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe

1926 – 1927: Das Eigentum – Fortschritt und soziale Entwicklung – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung II – Der Selbstmord in Schleswig-Holstein Band 18 1926 – 1927: Schriften · Rezensionen Band 19 1928 – 1930: Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878 – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung III · Schriften Band 20 1928 – 1930: Schriften · Rezensionen Band 21 1931: Einführung in die Soziologie · Schriften ·Rezensionen Band 22 1932 – 1936: Geist der Neuzeit · Schriften ·Rezensionen Band 22,2 1932 – 1936: Geist der Neuzeit – Teil II, III und IV Band 23 Nachgelassene Schriften Teilband 1: 1873 – 1918 Teilband 2: 1919 – 1936 Band 24 Schlussbericht zur TG · Gesamtbibliographie und -register