Geflüchtete in Deutschland: Ansichten - Allianzen - Anstöße [1 ed.] 9783788731755, 9783788730956, 9783788730949

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Geflüchtete in Deutschland: Ansichten - Allianzen - Anstöße [1 ed.]
 9783788731755, 9783788730956, 9783788730949

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Gerhard K. Schäfer / Barbara Montag / Joachim Deterding / Astrid Giebel (Hg.)

Geflüchtete in Deutschland Ansichten – Allianzen – Anstöße

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3095-6 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Franziska Witzmann, Wuppertal

Inhalt

Geleitworte

Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen Hannelore Kraft ..............................................1 Präses Annette Kurschus, Präses Manfred Rekowski, Landessuperintendent Dietmar Arends und Pfarrer Christian Heine-Göttelmann ..................................................3 Gerhard K. Schäfer / Barbara Montag / Joachim Deterding / Astrid Giebel

Einführung .........................................................................................5 1

Ansichten

Reinhard van Spankeren

Wenn Flüchtlinge erzählen Zum Umgang mit – fremden – Menschen .......................................17 Sigurd Hebenstreit / Helene Skladny

Flüchtlingen ein Gesicht geben .......................................................29 2

Grundlagen

Jan-Dirk Döhling

Menschen und Texte in Bewegung Die Bibel als Migrationsliteratur .....................................................51 Sigrid Graumann

Überlegungen zu einer ethisch vertretbaren Flüchtlingspolitik ............................................................................64 Ludger Pries

Flüchtlinge und das Recht auf Ankommen – für alle ......................78 Wolf-Dieter Just

Die Europäische Union – eine Wertegemeinschaft? Asylpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit ..........................93 Thomas K. Bauer / Holger Kolb

Arbeitsmarktintegration von Asylbewerbern ................................114

VI 3

Inhalt

Diskurse

Stephan Kiepe-Fahrenholz

Raus aus dem Krisenmodus – kommunale Herausforderungen ....................................................129 Elke Bartels

Migration und Sicherheitsaspekte aus polizeilicher Sicht .............140 Hildegard Mogge-Grotjahn

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en) ................................155 Michael Roth

Die Kirchen, die Moral und das Flüchtlingsproblem ....................171 4

Allianzen

Carina Gödecke

Wir schaffen das – nur gemeinsam! Erfolgreiche Allianzen in der Flüchtlingsarbeit ............................185 Ulf Schlüter

Ein Knoten im Netz – nicht mehr und nicht weniger Flüchtlingsarbeit im Kirchenkreis .................................................194 Martin Hamburger

Kultur des Zusammenwirkens im Quartier – das Beispiel der Oase in Wuppertal ...............................................200 Heike Spielmann

Die Bedeutung von Netzwerkarbeit in der Hilfe für geflüchtete Menschen ...........................................205 5

Lebensphasen

Eva Breitenbach

Kitas als heilsame Orte Pädagogische Arbeit mit traumatisierten Kindern .........................215 Sandra Sadowski

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland ...............224 Klaus Eberl

Flüchtlinge in der Schule ...............................................................241 Jan Graf / Yasemin Mentes

Digitale Partizipation und Befähigung junger Flüchtlinge ............254 Antje Huber / Ralf Dürrwag

Integration durch Ausbildung und Beruf .......................................260

Inhalt 6

VII Handlungsfelder

Cinur Ghaderi

Begleitung traumatisierter Flüchtlinge ..........................................267 Johanna Thie

Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt .................................278 Helmut Weiß

Migration und Seelsorge ...............................................................286 Thomas Stuckert

Wegbereiter der Integration – Migrant_innen werden Flüchtlingshelfer_innen ...........................296 Stefanie Dohmen / Thomas Drothler / Daniela Handwerk

Eine Kirche wird ein Zuhause für Flüchtlinge Erfahrungsbericht aus Oberhausen ................................................304 Annette Muhr-Nelson

Geflüchteten eine geistliche Heimat geben ...................................312 Michael Mertins

Flüchtlingsarbeit als Chance der Gemeindeentwicklung ..............318 Katharina F. Trelenberg

Kirchenasyl – ein Überblick ..........................................................329 7

Anstöße

Heinrich Bedford-Strohm

Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsarbeit in christlicher Verantwortung ........................................................341 Ulrich Lilie

Perspektiven ab Tag eins: Welche integrationspolitischen Weichen sind jetzt zu stellen? .....348 Heribert Prantl

Ein neues Buch Exodus Perspektiven einer verantwortlichen europäischen Flüchtlingspolitik ....................................................359 Johannes Brandstäter

Die neue Gesellschaft – migrantisch und postmigrantisch: Welche Baustellen entstehen daraus für die Diakonie? .................371 Interview mit Cornelia Füllkrug-Weitzel

Flucht- und Migrationsursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge – was können wir tun? .................................383

VIII 8

Inhalt

Dokumente

World Council of Churches / UNICEF / UNFPA / UNHCR

Europas Reaktion auf die Flüchtlings- und Migrantenkrise, von den Ursprungsorten über die Durchgangsstationen bis zur Aufnahme und Zuflucht: ein Aufruf zu gemeinsamer Verantwortung und koordiniertem Handeln ...........................................................397 Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat – gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt

Aufruf: Die Würde des Menschen ist unantastbar ........................401 Gemeinsame Erklärung der Vertreterinnen und Vertreter der Städte und Kreise sowie der Superintendentinnen und Superintendenten im Ruhrgebiet

Zur Flüchtlingssituation im Ruhrgebiet .........................................405 Erklärung der Regionalen und Kreiskirchlichen Diakonischen Werke in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Die Aufgaben des Gemeinwesens vor den Herausforderungen von Flucht und Zuwanderung ........................407 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .....................................410

Geleitwort der Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen

Gut 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind Flucht und Vertreibung für die meisten Deutschen keine Lebenserfahrung mehr. Bis vor kurzem war das eher ein Randthema in den Medien. Die vielen Millionen Menschen, die vor Krieg, Terror und Gewalt aus ihrem Heimatland flohen, hatten unser Mitleid. Aber sie waren weit weg. Und dann plötzlich ganz nah. Denn hunderttausende Kinder, Frauen und Männer kamen und kommen zu uns in der Hoffnung auf ein Leben ohne Todesangst. Was für uns selbstverständlich ist, kannten viele von ihnen bisher nicht. Sie haben jeden Grund, das Grundrecht auf Asyl für sich in Anspruch zu nehmen. Sie sind willkommen. Ihre Zuwanderung stellt uns vor große Herausforderungen, die wir mit Selbstbewusstsein angehen können. Ja, manches ist nicht gelungen und konnte unter dem enormen Zeitdruck auch nicht gelingen. Auch bei uns gab es – wirklichkeitsferne und deshalb verantwortungslose – Scheindebatten über „Aufnahmestopps“, „Flüchtlingskontingente“ und sogar Grenzschließungen. Bis heute wird in den sozialen Netzwerken gegen Geflüchtete gehetzt. Die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte hat sich innerhalb eines Jahres vervielfacht. Das ist beschämend, aber bei weitem nicht die ganze Wirklichkeit. Die ist eine andere: Deutschland zeigte sich von seiner besten Seite. Tatsache ist: Kein anderes Land in Europa hat so viele Geflüchtete aufgenommen, Hunderttausende Menschen in kürzester Zeit. Darauf können wir stolz sein. Ich denke da nur an die Städte und Gemeinden, die unter Aufbietung aller Kräfte und oftmals einem enormen Improvisationstalent Flüchtlinge aufnahmen, oder an die Hilfsaktionen und -projekte der großen Wohlfahrtsverbände und der Kirchen, Unternehmen, Initiativen und Vereine. Doch geradezu überwältigend ist der Einsatz zahlloser Bürgerinnen und Bürger, die zeigen, wie Willkommenskultur mit Leben erfüllt werden kann. Diese Beispiele für wahre Menschlichkeit aus der Mitte unserer Gesellschaft sind zutiefst bewegend.

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Ministerpräsidentin des Landes NRW

Sie geben zusätzliche Kraft und machen Mut, wenn es jetzt darum geht, Geflüchtete dauerhaft in unsere Gesellschaft zu integrieren. Das ist allem voran eine Frage von Wohnraum, Bildung und Arbeit. Und doch geht es um viel mehr: um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Denn Zuwanderung in diesem Ausmaß und diesem Tempo führt unausweichlich zu Verunsicherung, zu Sorgen und zu Spannungen, die Populisten und Rechtsextremisten versuchen, zu Angst und Hass zu verstärken. Sie gefährden den inneren Frieden. Das müssen wir sehr ernst nehmen. So notwendig es ist, Hetze und Hass politisch und mit den Mitteln unseres Rechtsstaates zu bekämpfen – es genügt nicht. Wir müssen das Übel an der Wurzel packen, also ihren Legenden, Lügen und Hassparolen den Nährboden entziehen. Das heißt: Wir müssen unsere Politik und die nächsten Schritte erklären und nachvollziehbare Entscheidungen treffen, überzeugende Antworten auf die Sorgen und Fragen unserer Bürgerinnen und Bürger geben. Keinesfalls dürfen wir zulassen, dass Menschen, die sich abgehängt und ausgegrenzt fühlen, gegen Geflüchtete ausgespielt werden. Wir müssen ganz konkret, sichtbar und spürbar, dafür sorgen und deutlich machen, dass sie nichts verlieren, wenn Menschen zu uns kommen, die alles verloren haben. Gerade für uns Christen ist es ein Gebot der Nächstenliebe, jedem Menschen zu helfen, der in Not ist. Wenn alle gemeinsam anpacken, dann wird diese Zuwanderung zu einem großen Gewinn für alle.

Hannelore Kraft Die Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen

Geleitwort aus den Evangelischen Kirchen Rheinland, Westfalen und Lippe sowie der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Solidarität und der Einsatz für andere Menschen prägen unsere Gesellschaft in hohem Maße. Sie sind auch Ausdruck unseres christlichen Glaubens. Das große und ungebrochene Engagement für Geflüchtete steht für diesen Zusammenhang. Die Aufnahme und Integration der vielen Geflüchteten sind verbunden mit großen gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen. Zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern im Haupt- und Ehrenamt, Mitarbeitende von Behörden, Polizei und Wohlfahrtsorganisationen leisten Beeindruckendes. Gemeinsame Aufgabe für alle gesellschaftlichen Kräfte ist es jetzt, den Zugewanderten Teilhabe zu ermöglichen – an Bildung, Arbeit und Kultur. Ein breites Engagement in gemeinsamer Verantwortung ist weiterhin gefordert. Wir sind dankbar dafür, dass in so vielen Kirchengemeinden und diakonischen Initiativen Geflüchtete unterstützt werden. Wir wissen um die Grenzen und Krisen, auch um die ganz alltäglichen Schwierigkeiten. Aber wir wissen uns getragen von den Hoffnungsgeschichten und Hoffnungsbildern der Bibel. Sie sind Kraftquellen für unser Leben und Handeln. Eine Verheißung des Propheten Jesaja gehört zu den eindrucksvollsten Hoffnungstexten der Bibel: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen. […] Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt“ (Jesaja 58, 1- 12). Diese Verheißung galt vor 2.500 Jahren dem biblischen Volk Israel, als es im babylonischen Exil am Boden lag. Sie gilt uns heute als Ermutigung, tatkräftig Zukunft gemeinsam zu gestalten.

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Evangelische Kirchen RWL / Diakonie RWL

Den Leserinnen und Lesern dieses Buches wünschen wir, dass sie aus dem großen Fundus der Beiträge und Praxisberichte Anregungen und Argumente für ihr Engagement finden. Zugleich hoffen wir, dass von dem Buch wichtige Anstöße für die notwendigen gesellschaftlichen Diskurse ausgehen. Annette Kurschus Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Manfred Rekowski Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

Dietmar Arends Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche

Christian Heine-Göttelmann Theologischer Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Einführung der Herausgeber_innen

„Es gibt nur eine Möglichkeit, mit der Unvorhersehbarkeit der Zukunft umzugehen, nämlich ein Versprechen zu geben und sich schlicht daran zu halten.“ Hannah Arendt

Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) waren 2015 weltweit so viel Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. 63,5 Mio. Menschen befanden sich Ende 2015 auf der Flucht – vor Krieg und gewaltsamen Konflikten, Hunger und Armut. Überwiegend handelte es sich dabei um Binnenflüchtlinge – also um Menschen, die innerhalb ihres Landes auf der Flucht waren. 50 % der Schutzsuchenden waren Kinder. 4,9 Mio. der Flüchtlinge stammten aus Syrien. Die Türkei ist das Land, das mit ca. 2,5 Mio. weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat.1 1,1 Mio. Geflüchtete kamen 2015 nach Deutschland – davon etwa zwei Drittel aus Syrien, Irak und Afghanistan. Im ersten Halbjahr 2016 wurden 222.000 Flüchtlinge registriert. Die hohe Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge löste seit Sommer 2015 eine in der Geschichte des Landes beispiellose 2 „Engagementwelle“ aus. Es formte sich die sogenannte Willkommenskultur aus, die durch ein hohes bürgerschaftliches Engagement und einen immensen Einsatz von Kirchen, Verbänden und staatlichen Stellen gespeist und geprägt wurde. Auf dem Höhepunkt dieser „Willkommenskultur“, am 31. August 2015, beschrieb Kanzlerin Merkel Deutschland als „Land der Hoffnung und der Chancen“. Im Blick auf die Herausforderungen durch den enorm hohen Zuzug von Geflüchteten formulierte sie den Satz, der seither den Bezugspunkt vieler De3 batten bildet: „Wir schaffen das“ . 1 2 3

Vgl. UNO-Flüchtlingshilfe, Flüchtlinge weltweit, Zahlen & Fakten. Widau / Koop, Engagement für Geflüchtete, 7. Die Bundesregierung, Sommerpressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel.

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G. K. Schäfer / B. Montag / J. Deterding / A. Giebel

Wie haben sich die Dinge seit dem Sommer 2015 entwickelt? Vier Schlaglichter aus den letzten Juli- und ersten Augusttagen 2016 beleuchten signifikante Aspekte: (1) Die nordsyrische Stadt Aleppo ist in den letzten Jahren zum Synonym für Krieg und Gewalt und Verzweiflung geworden. Tausende sind aus der Stadt geflohen – in die Türkei zumeist, aber auch nach Deutschland. Ende Juli 2016 spitzte sich die Lage in der Stadt noch einmal dramatisch zu. 300.000 Menschen wurden fast völlig eingeschlossen und kämpfen ums Überleben. Die syrische Armee kesselte mit massiver Unterstützung durch russische Kampfflugzeuge die von Rebellen gehaltenen Teile der Stadt ein. Dabei wurden Gesundheitseinrichtungen – darunter eine Blutbank und die Kinderstation eines Krankenhauses –, die nach internationalem Recht eigentlich geschützt werden müssten, gezielt angegriffen. Das Regime hat die Öffnung von vier Fluchtkorridoren angeboten – für Zivilisten und Soldaten, die sich ergeben. Ein Bündnis von 40 internationalen Hilfsorganisationen bezeichnete es in einer Erklärung am 3. August als „besorgniserregend“, mit den „humanitären“ Korridoren die Bewohner_innen Aleppos vor die Wahl zu stellen, „entweder in die Arme ihrer Angreifer zu fliehen oder in den belagerten und bombardierten Statteilen zu bleiben“. Aleppo – Ausgangspunkt eines neuen Flüchtlingstrecks 4 oder „Ort des Massensterbens“ , so das düstere Szenario, das sich in der ersten Augustwoche abzeichnete. (2) Zum Massengrab ist längst das Mittelmeer geworden. Am 29. Juli 2016 teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit, dass seit Beginn des Jahres mehr als 3.034 Geflüchtete bei Schiffsunglücken im Mittelmeer ertrunken sind. Im gleichen Zeitraum des Vorjahrs kamen 1.917 Menschen bei dem Versuch ums Leben, den Ort ihrer Sehnsucht, Europa, auf dem Seeweg zu erreichen. Ein Grund für die höhere Zahl an Opfern im ersten Halbjahr 2016 war das Kentern einiger großer Schiffe, auf denen sich jeweils mehrere hundert Personen befanden. Die meisten Todesfälle gab es auf der Route von Libyen nach Sizilien; die Opfer waren vor allem Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Nach Angaben der IOM kamen fast 250.000 Flüchtlinge an europäischen Küstenorten an – in Griechenland fast 160.000, in Italien ca. 90.000. Die meisten dieser 5 nach Europa Geflüchteten stammen aus Syrien. (3) Instruktiv für die europäische Flüchtlingsdebatte und -politik sind die unterschiedlichen Werthaltungen, die beim Besuch von Papst Fran4 5

Rogg, Die entscheidende Schlacht, 4. Merkur.de, Unicef: Immer größere Brutalität in Syrien.

Einführung

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ziskus anlässlich des Weltjugendtags in Polen zutage traten. Das Oberhaupt der katholischen Kirche mahnte am 27. Juli die Staatsspitze des tief katholischen Landes zur Aufnahme von Flüchtlingen. Die konservative polnische Regierung lehnt es wie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung strikt ab, in nennenswertem Umfang muslimische Geflüchtete aus Krisengebieten wie Syrien, Irak oder Afghanistan aufzunehmen. Dagegen forderte der Papst die Bereitschaft zur Aufnahme derer, „die vor Kriegen und Hunger fliehen“. Diejenigen, die ihrer Grundrechte oder des Rechts beraubt seien, in Freiheit und Sicherheit den eigenen Glauben zu bekennen, benötigten Solidarität. Das Phänomen der Migration erfordere eine „zusätzliche Portion an Weisheit und Barmherzigkeit, um die Ängste zu überwinden und das Optimum zu verwirklichen“, so Papst Franziskus. „Gleichzeitig müssen Formen der Zusammenarbeit und Synergien auf internationaler Ebene vorangetrieben werden, um Lösungen für die Konflikte und die Kriege zu finden, die so viele Menschen zwingen, ihre Häuser und ihre Heimat zu verlassen.“ Seine Kritik an der Haltung des EU-Landes Polen zur Flüchtlingskrise verband Franziskus mit dem Traum „eines neuen europäischen Humanismus“ aus christlichen 6 Wurzeln. (4) War in Deutschland spätestens seit der Silversternacht von Köln die „Willkommenskultur“ in den Medien zunehmend hinter den Begriff der „Flüchtlingskrise“ zurückgetreten, so stand die Flüchtlingsdebatte im Sommer 2016 unter dem Eindruck der Attentate von Würzburg und Ansbach. Am 18. Juli verletzte ein in Deutschland als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling registrierter Mann in einer Regionalbahn bei Würzburg fünf Menschen schwer. Am 25. Juli beging ein aus Aleppo in Syrien Geflüchteter, der nach Bulgarien abgeschoben werden sollte, in Ansbach ein Selbstmordattentat und verletzte dabei 15 Menschen. Beide Attentäter erhielten Instruktionen vom sog. Islamischen Staat. Unter dem Eindruck der Anschläge und der damit verbundenen Angst vor terroristischer Bedrohung wurden Fragen nach dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, nach Aufnahmekapazitäten und Grenzkontrollen neu virulent. Die Polarisierung, die die deutsche Diskussion schon vorher bestimmte, verschärfte sich weiter. Hassparolen gegen Flüchtlinge und sog. Gutmenschen nahmen in den sozialen Medien schlagartig zu. Gefordert wurde, an 7 die Stelle der „Willkommenskultur“ müsse eine “Abschiedskultur“ 6

Katholisch.de, Weltjugendtag. So der CDU-Politiker Armin Schuster, der damit auf ein Vollzugsdefizit bei den Abschiebungen aufmerksam machen wollte; Rohrer, Nach der Willkommenskultur brauchen wir nun eine Abschiedskultur. 7

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treten. Einerseits deuten Umfragen z.B. des Instituts YouGov Ende Juli deuten darauf hin, dass die Aufnahmebereitschaft der Bevölke8 rung deutlich sinkt. Andererseits zeigt eine Anfang August 2016 von 9 der Bertelsmann Stiftung vorgestellte Studie, dass die Hilfsbereitschaft der Deutschen für Flüchtlinge nach wie vor hoch ist. Aus der Welle spontaner Hilfe, die sich seit Mitte 2015 entwickelte, sind inzwischen neue Formen strukturierten Engagements entstanden, denen eine wichtige Funktion für eine Kultur der Solidarität in unserer Gesellschaft zukommt. Einige Tage nach den Attentaten von Würzburg und Ansbach wiederholte Bundeskanzlerin Kanzlerin Merkel ihren zum ersten Mal am 31. August 2015 formulierten Satz „Wir schaffen das“ – und erntete damit Zustimmung, aber noch mehr Widerspruch. Schließlich trat am 8. August das neue Integrationsgesetz in Kraft – von den einen als Meilenstein der Teilhabe gepriesen, von den anderen als Instrument der Ausgrenzung kritisiert. Mit den vier Schlaglichtern treten wichtige Entwicklungen, Fragenkreise und Konflikte zutage. Die Dynamik der Flüchtlingsthematik wird sichtbar; Rahmenbedingungen verändern sich ungeheuer rasch. Unterschiedliche Lesarten der Welt und Wahrnehmungen der Wirklichkeit scheinen auf. Die Flüchtlingspolitik ist von spezifischen Spannungen, Widersprüchen und Dilemmata durchzogen. Die Momentaufnahmen aus den letzten Juli- und ersten Augusttagen 2016 deuten die Komplexität sowie die Tiefe und Reichweite des Themas Geflüchtete an. Sie weisen auf die immensen Herausforderungen, Aufgaben und Zumutungen hin, die mit dem starken Zuzug von Geflüchteten für die deutsche Gesellschaft verbunden sind. Die Integration von Geflüchteten gilt es, gemeinsam zu gestalten. Tragfähige und zukunftsorientierte Strategien sind zu entwickeln – sowohl für den Arbeitsmarkt als auch für Wohnen, Bildung und Kultur. Entsprechende Mittel müssen zur Verfügung gestellt werden. Die sog. Flüchtlingskrise birgt gesellschaftliche Chancen und Risiken, die allerdings höchst unterschiedlich beurteilt werden. Unser Buch bringt unterschiedliche Facetten der komplexen Thematik zur Geltung. Es ist inter- und transdisziplinär angelegt. Es verbindet theoretische Grundlagen und wissenschaftliche Zugänge mit Praxisbeispielen und Handlungsorientierungen. Das Buch will mit seinen unterschiedlichen Annäherungen an die Flüchtlingsthematik zu einem empathiegeleiteten, möglichst genauen Hinsehen beitragen. Es 8

Vgl. Schmidt, Nur noch 27 Prozent sagen: „Wir schaffen das“. Vgl. Bertelsmann Stiftung, Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen.

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Einführung

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zielt darauf, eine differenzierte Wahrnehmung zu fördern und Sachverhalte zu klären. Es bietet Anstöße für dringend notwendige gesellschaftliche Diskurse und möchte zu verantwortlichem Handeln auf verschiedenen Ebenen ermutigen. Nüchterne, geerdete Hoffnung – das ist die Haltung, die das Buch durchzieht. Im Buchtitel verwenden wir den Begriff Geflüchtete. Bereits mit der Bezeichnung beginnen die Fragen und Diskussionen. Gegenüber dem Begriff des Flüchtlings, der mit der Endsilbe -ling als abwertend empfunden und entsprechend kritisiert wurde, soll die (Selbst-) Bezeichnung Geflüchtete den aktiven Teil des Flüchtens in der Geschichte eines Menschen betonen. Neben den Begriff Geflüchtete tritt allerdings in dem Buch auch immer wieder die Bezeichnung Flüchtlinge. Zum einen ist diese Bezeichnung in offiziellen und alltagssprachlichen Zusammenhängen gebräuchlich. Zum anderen verweben sich im Phänomen der Flucht immer auch passivische und aktivische Komponenten. Schließlich erscheint es uns gerade geboten, durch das Nebeneinander der Begriffe die Diskussion um das, was Menschen zur Flucht bewegt, offen zu halten. Das Buch gliedert sich in acht Teile. Es beginnt mit „Ansichten“. Der erste Teil handelt von subjektiven Sichtweisen, wechselseitigen Annäherungen und Wahrnehmungen des Anderen in seiner Fremdheit. Thematisiert werden Begegnungen der Verschiedenen. Beziehung und Verständigung in der Vielfalt der Differenzen erfolgen von Angesicht zu Angesicht. Geschichten und Gesichter kommen in den Blick. Entsprechende Bilder und Begegnungserfahrungen verweisen auf eine Tiefendimension der sog. Flüchtlingskrise – den Umgang der unterschiedlichen Subjekte miteinander. Stehen im ersten Teil subjektive Perspektiven im Vordergrund, so beleuchten die Beiträge des zweiten Kapitels grundlegende Fragen der intersubjektiven Verständigung, des gemeinsamen Handelns und der politischen Verantwortung, die mit der Flüchtlingsthematik aufgeworfen sind. Grundlagen der Wahrnehmung und des Handelns werden im Rahmen unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugänge konturiert. Theologische, sozialethische und soziologische Erörterungen erschließen Erfahrungen der Migration, der Flucht und des Ankommens als prägend für die biblischen Überlieferungen sowie die politische Ethik und als Kern eines umfassenden Konzepts in der gegenwärtigen Flüchtlings- und Integrationsdebatte. Zentrale Fragen der europäischen Asylpolitik werden zur Geltung gebracht. Schließlich kommen Rahmenbedingungen und Probleme der Integration von Geflüchteten und Asylbewerbern in den deutschen Arbeitsmarkt zur Darstellung.

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Kapitel drei ist wichtigen gesellschaftlichen Diskursen gewidmet. Umstrittene Themen und offene Fragen, die für die derzeitige Gemengelage um Flucht und Aufnahme von Geflüchteten und deren Integration kennzeichnend sind, werden behandelt. Herausforderungen und Strategiekonzepte der Kommunen, denen in der „Flüchtlingskrise“ bekanntlich eine zentrale Rolle zukommt, werden markiert. Sicherheitsprobleme, die mit der hohen Zahl von Flüchtlingen einhergehen können, wurden politisch und medial lange Zeit eher in den Hintergrund gedrängt. Umso wichtiger ist die Behandlung des Themas aus polizeilicher Sicht. Mit den schrecklichen Ereignissen in der Kölner Silversternacht stellen sich Fragen nach bestimmten kulturellen Deutungsmustern in zum Teil neuer, zum Teil verschärfter Weise. Ethische Kriterien und moralische Gesichtspunkte werden in diesem Buch immer wieder deutlich ins Spiel gebracht und gewichtet. Gerade deshalb ist es aber auch legitim und wichtig, auf die problematische Seite moralischer Kommunikation in der derzeitigen Flüchtlingsdebatte hinzuweisen. Angesichts der Komplexität der Flüchtlingsthematik wird in Kapitel vier gefragt, welche Allianzen in der Arbeit mit Geflüchteten notwendig und möglich sind. Not-wendig ist eine Kultur des Zusammenwirkens unterschiedlicher Organisationen, Initiativen und Subjekte. Die Beiträge fragen einerseits nach den erforderlichen politischen Rahmenbedingungen. Sie beschreiben andererseits – bezogen auf spezifische Erfahrungsräume –, wie verschiedene Akteure mit ihren jeweiligen Prägungen und Handlungslogiken erfolgreich zusammenarbeiten können – z.B. Geflüchtete und Einheimische, Ehrenamtliche und Hauptamtliche, Kirchen und Kommunen. Die Teile fünf und sechs beziehen sich auf konkrete Handlungsfelder und Aufgaben sowie auf beispielhafte Projekte und Initiativen. Die Beiträge des fünften Kapitels orientieren sich an Aufgaben, die sich mit Lebensphasen von Flüchtlingen stellen. Der Bogen spannt sich von der frühen Kindheit bis zur beruflichen Integration. Spezifische Probleme und Möglichkeiten der Kindertagesstätten und Schulen werden ebenso dargestellt wie Anforderungen an die Betreuung und Begleitung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter. Eine exemplarische Initiative zeigt, wie digitale Medien gezielt als Instrumente für die Integration junger Flüchtlinge genutzt werden können. Das Beispiel eines weltweit operierenden Konzerns veranschaulicht, wie ein Unternehmen berufliche Perspektiven eröffnet und damit in spezifischer Weise Verantwortung für die Integration von Flüchtlingen übernimmt.

Einführung

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Begleitung, Schutz, Seelsorge und Beheimatung stellen Leitmotive der Darlegungen und Berichte in Kapitel sechs dar. Dabei stehen insbesondere traumatisierte Flüchtlinge und Frauen im Fokus, aber auch Geflüchtete, die von Abschiebung bedroht sind. Kirchliche Gemeinden kommen in den Blick – mit ihren strukturellen Möglichkeiten, Ressourcen und Aufgaben im Gemeinwesen. Dabei kristallisiert sich auch heraus, wie sich die Fürsorge für andere zu einem Leben mit anderen wandeln kann. Die Beiträge in Kapitel sieben bündeln wesentliche Anliegen des gesamten Buches. Sie bieten pointierte Anstöße für die Debatten zur „Flüchtlingskrise“ und zeigen entsprechende Handlungsperspektiven auf. Anforderungen an eine Flüchtlingsarbeit in christlicher Verantwortung und eine verantwortliche europäische Flüchtlingspolitik verschränken sich mit Aufgaben und Schritten der Integration. Chancen und Zumutungen gesellschaftlicher Veränderungen werden z.B. in ihren Konsequenzen für eine zukünftige Diakonie buchstabiert. Im Sinne eines ebenso weitgespannten wie facettenreichen Ausblicks schließen Überlegungen zur Bekämpfung der Ursachen von Flucht und Migration das Kapitel ab. Das letzte Kapitel enthält Dokumente, in denen sich wichtige gesellschaftliche Diskussionen, Positionierungen und Suchbewegungen widerspiegeln. Die abgedruckten Erklärungen sind unterschiedlich verortet. Die jeweilige Reichweite der Texte ist entsprechend sehr verschieden. Die wesentlich vom Ökumenischen Rat der Kirchen im Januar 2016 verfasste Erklärung zu „Europas Reaktion auf die Flüchtlings- und Migrantenkrise“ schärft im Kontext der weltweiten Fluchtbewegungen die gemeinsame europäische Verantwortung ein und hebt dabei im Besonderen die Rolle glaubensgestützter Organisationen hervor. Der Aufruf „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ wurde initiiert und getragen von einer in Deutschland wohl einmalig breiten Allianz zivilgesellschaftlicher Akteure. Der Allianz für Weltoffenheit gehören u.a. der Bund Deutscher Arbeitgeber und der DGB, der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Koordinierungsrat der Muslime, die Deutsche Bischofskonferenz und die EKD, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und der Deutsche Olympische Sportbund an. Die am 11. Februar 2016 verabschiedete Verlautbarung stellte ein deutliches Signal für Solidarität und gegen jede Form des Rassismus und Rechtsextremismus in der „Flüchtlingskrise“ dar. Einen regionalen Fokus weist die Gemeinsame Erklärung der Vertreterinnen und Vertreter der Städte und Kreise sowie der Superintendentinnen und Superintendenten im Ruhrgebiet vom 8. März 2016 auf. Schließlich beschreibt die Erklärung der Diakonie

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Rheinland-Westfalen-Lippe vom 9. Juni 2016 drängende Herausforderungen des Gemeinwesens und richtet sich mit der Forderung an Verwaltung und Politik, entsprechende strategische Planungen vorzunehmen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind allen zu großem Dank verpflichtet, die sich an dem Buchprojekt beteiligt und es unterstützt haben. Für die beiden Geleitworte danken wir der Ministerpräsidentin des Landes NRW, Hannelore Kraft, sowie der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, dem Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, dem Landessuperintendenten der Lippischen Landeskirche, Dietmar Arends, und dem Theologischen Vorstand der Diakonie Rheinland-WestfalenLippe, Christian Heine-Göttelmann, sehr herzlich. Das Buchprojekt ist entstanden aus der Zusammenarbeit zwischen der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, der Konferenz der Ruhrgebietssuperintendenten und der Diakonie Deutschland. Wir danken allen Autor_innen dafür, dass sie in relativ kurzer Zeit ihre jeweiligen Beiträge verfasst haben. Der Dank gilt außerdem Franziska Witzmann für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts und Herrn Ekkehard Starke von der Neukirchener Verlagsgesellschaft für die gute Zusammenarbeit. Die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen und die Lippische Landeskirche haben die Drucklegung des Bandes durch Zuschüsse finanziell gefördert. Dadurch konnte ein erschwinglicher Preis ermöglicht werden. Dafür sind wir außerordentlich dankbar. Im August 2016 Gerhard K. Schäfer Barbara Montag Joachim Deterding Astrid Giebel

Einführung

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Literatur Bertelsmann Stiftung (Hg.), Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen. Qualitative Studie des Berliner Instituts für empirische Integrationsund Migrationsforschung, Gütersloh 2016. Die Bundesregierung, Sommerpressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel – Thema: Aktuelle Themen der Innen- und Außenpolitik, 31.8.2015, online: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/ Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015-08-31-pk-merkel. html (Zugriff 11.8.2016). Katholisch.de (Hg.), Weltjugendtag: Papst mahnt Polen zur Aufnahme von Flüchtlingen, Katholisch.de, 27.7.2016, online: http:// www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/papst-mahnt-polenzur-aufnahme-von-fluchtlingen (Zugriff 5.8.2016). Merkur.de (Hg.), Unicef: Immer größere Brutalität in Syrien, Merkur.de, 3.8.2016, online: http://www.merkur.de/politik/unicef-im mer-groessere-brutalitaet-in-syrien-zr-6632014.html (Zugriff 5.8.2016). Rogg, Inga, Die entscheidende Schlacht, taz, 4.8.2016. Rohrer, Julian, CDU-Innenexperte: Nach der Willkommenskultur brauchen wir nun eine Abschiedskultur, Armin Schuster im Interview, Focus online, 25.7.2016, online: http://www.focus.de/ politik/deutschland/innenexperte-im-interview-schuster-nach-derwillkommenskultur-brauchen-wir-nun-eine-abschiedskultur _id_5761570.html (Zugriff 5.8.2016). Schmidt, Mathias, Nur noch 27 Prozent sagen: „Wir schaffen das“, YouGov.de, 31.7.2016, online: https://yougov.de/news/2016/07/ 31/nur-noch-27-prozent-sagen-wir-schaffen-das/ (Zugriff 13.8.2016). UNO-Flüchtlingshilfe, Flüchtlinge weltweit, Zahlen & Fakten, online: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlenfakten.html (Zugriff 11.8.2016). Widau, Bettina / Koop, Alexander, Engagement für Geflüchtete – Aufbruch zu einem neuen Miteinander? Vorwort zu: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen. Qualitative Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Gütersloh 2016, 6f.

1 Ansichten

Reinhard van Spankeren

Wenn Flüchtlinge erzählen Zum Umgang mit – fremden – Menschen

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Armen eine Stimme geben …

Etwa eine Million Flüchtlinge sind im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen. „Wir schaffen das“, so die programmatische Ansage von Kanzlerin Angela Merkel. Der angeblich bürokratisch verkrustete deutsche Sozialstaat erwies sich als erstaunlich flexibel, war in der Lage zu improvisieren und schuf pragmatische Lösungen, die kaum einer erwartet hätte. Bei vielen Unzulänglichkeiten im Einzelnen, trotz Wirrwarr bei den Zuständigkeiten, trotz Schlangen vor Ämtern, trotz aller Auseinandersetzungen um die auf allen Ebenen fehlenden Gelder – die Menschen, die auf oft gefährlichen und kraftraubenden Wegen Deutschland schließlich erreicht haben, wurden untergebracht, medizinisch versorgt, ernährt und gekleidet. Kinder aus Flüchtlingsfamilien kamen in Kindertagesstätten und Schulen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge profitierten von den hohen Standards in der Jugendhilfe. Aufnahme in Deutschland hatte aber vor allem eine Komponente, mit der vorher kaum zu rechnen war: Die Zivilgesellschaft hieß die Flüchtlinge herzlich willkommen. Mit Blumensträußen am Bahnhof, mit Sachspenden, mit kleinen, enorm aktiven Unterstützergruppen, mit Initiativen in Kirchengemeinden und Nachbarschaften, mit runden Tischen, mit ehrenamtlich organisierten Sprachkursen, mit Kinder-Spielgruppen und mit vielen, vielen bunten Aktivitäten mehr. „Refugees welcome“, so klang es überall. Keine Studie zu den angeblich nicht ausgeschöpften Potenzialen bürgerschaftlichen Engagements hatte diese Willkommenskultur, die Zahlen und die Stärke dieser sozialen Bürgerbewegung vorhergesehen. Während die Freiwillige Feuerwehr selbst auf dem Land große Nachwuchsprobleme hat und in Kirchengemeinden traditionelle Gruppenaktivitäten an Auszehrung leiden, fanden sich im Engagement für die Flüchtlinge

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Tausende von Frauen und Männern zusammen, um zu helfen, Begegnung zu ermöglichen und Orientierung in der neuen Umgebung zu geben. Auch als es schwierig wurde, etwa nach den „Kölner Ereignissen“ vom Silvester 2015 oder durch fremdenfeindliche Gegenbewegungen, Demonstrationen und Gewaltakte, ließen sich die für Flüchtlinge und ihre Familien freiwillig Engagierten nicht davon abbringen, weiterhin Partei für Geflüchtete zu ergreifen und ihre Aktivitäten auf langfristige, nachhaltige, immer besser organisierte und abgestimmte Grundlagen zu stellen. Das Wunder der Willkommenskultur mündet in die Wirklichkeit einer Gesellschaft, die bunter, hybrider, vielfältiger, jünger, vielsprachiger wird – und neue Herausforderungen bewältigen muss. Jetzt steht Integration auf der Tagesordnung – Integration, die in Kooperation und Konflikt dazu führen wird, dass Deutschland sich neu finden muss, wie die Migrationsforscherin Annette Treibel klarmacht. Wenn sich Alte Deutsche und Neue Deutsche – um auch mit dieser Begrifflichkeit Treibel zu folgen – begegnen, dann geht es um Kommunikation. Da werden zunächst einmal ganz pragmatisch Dolmetscher gesucht, denn wer in Syrien oder Somalia aufgewachsen ist, kann in aller Regel kein Deutsch und schon gar nicht Behördendeutsch. Sprachhindernisse sind aber letztlich leichter zu überwinden als Gesprächshindernisse. Wer sich kennenlernen, verstehen, miteinander arbeiten und sich weiterentwickeln will, der braucht mehr als Google Übersetzer und die 1.000 wichtigsten Vokabeln einer Fremdsprache, mit der man überall auf der Welt schon sehr weit kommt. Der gesellschaftliche Lernprozess, der jetzt auf der Tagesordnung steht, ist ganz wesentlich ein Kennen-Lernprozess. Und wenn Menschen sich kennenlernen wollen, dann erzählen sie sich ihre Lebensgeschichten. So erzählen Flüchtlinge von ihrer Heimat und von ihrer Flucht, von ihren Familien und von ihren Interessen, von ihren Ideen und von ihren Plänen für die Zukunft. Und viele wollen davon hören. So entwickelt sich Empathie, und aus dieser Empathie entwickelt sich Engagement. Seitdem Deutschland faktisch zu einem Einwanderungsland geworden ist, engagieren sich Diakonie und Kirche in besonderem Maße für Flüchtlinge und Zuwanderer – vom Kirchenasyl bis zum Jugendmigrationsdienst. Die Hilfen und Dienste wurden seit 2014 / 2015 noch einmal stark ausgeweitet und partiell neu ausgerichtet. Das gilt für die professionelle soziale Arbeit wie auch für das ehrenamtliche Engagement. Die diakonischen Hilfen zur Erziehung nahmen „Heim-

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kinder“ der besonderen Art auf, nämlich „umF“ – unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. In den Zeitschriften der diakonischen Einrichtungen und Unternehmen werden die Lebensgeschichten und der Alltag junger Flüchtlinge und von Flüchtlingsfamilien mit Bild und Text dokumentiert. „Und manchmal fließen auch Tränen“ heißt da eine Überschrift oder auch „Harun, Chinoso und der Blick nach vorn“ oder „Hochschwanger in einem fremden Land“. Auch der UNICEF-Report 2016 „Flüchtlingskindern helfen“ enthält neben umfangreichen Statistiken, Fachartikeln und Aufrufen sieben Porträts von Flüchtlingskindern. „Europa ist schön. Hier wird nicht geschossen“, sagt hier die achtjährige Saria, die mit ihrer Familie aus Aleppo geflohen ist.1 Der 25-jährige Adil ist mit seinem jüngeren Bruder aus Syrien geflohen. Für ein Ausstellungsprojekt des Diakoniewerks Gelsenkirchen und Wattenscheid erzählt er von seinen Fluchtgründen und seinem Fluchtweg. Ich zitiere hier den Anfang seiner Geschichte: „Ich will keine Menschen umbringen – weder aus religiösen Gründen noch aus anderen. Aber da ich im richtigen Alter bin, kamen Soldaten zu uns nach Hause. Sie forderten mich auf, dass ich mein Studium abbrechen und zum Militär gehen solle. In unserem Land herrscht aber Krieg. Ich hatte Angst, mein Leben zu verlieren, entweder im Krieg oder – wenn ich mich weigern würde, zum Militär zu gehen – direkt durch die Soldaten. Die Soldaten können in unserem Land jeden Menschen willkürlich ins Gefängnis stecken. Ich wollte aber die Chance auf ein besseres Leben, ohne töten zu müssen. Meine Eltern haben dann Geld an die Soldaten gezahlt, damit sie nicht wiederkommen, rund 100 Euro, was bei uns so viel ist wie ein ganzer Monatsverdienst einer normalen Familie. Über Facebook habe ich mich informiert, wie man am besten flüchten kann, dabei habe ich dann circa zehn bis 15 Personen im Netz getroffen, die ebenfalls fliehen wollten. Unsere Familie und Freunde haben 8.000 Dollar für uns gesammelt, damit mein jüngerer Bruder und ich mit diesem Geld fliehen konnten. Zunächst sind wir mit einem Flugzeug von Damaskus bis nach Algier geflogen. Wir Syrer haben ein Visum für Algerien – bis dahin war also alles legal, aber gefährlich. Falls das Militär von unseren Fluchtplänen erfahren hätte, hätten sie uns einfach töten können. Wir haben deshalb kein Wort miteinander gesprochen. Im Flugzeug war es überhaupt ziemlich still, solange, bis wir über das Mittelmeer flogen und die italienische Insel Sizilien unter uns sahen. Da fingen einige Passagiere an zu rufen ‚Hey, Pilot, lass uns hier landen!‘ Uns wurde klar, dass wir nicht die Einzigen im Flugzeug 1 Deutsches Komitee für UNICEF, Flüchtlingskindern helfen, 90. Siehe darin auch Kapitel 2 (Susanne Schlüter-Müller, Was Kinderseelen bewegt) und 7 (Porträts von Flüchtlingskindern).

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waren, die aus Syrien flüchten wollten. Am Flughafen in Algier haben wir dann so lange gewartet, bis der Morgen kam, damit uns keiner unser Geld stehlen konnte, denn das ist das einzig Wichtige auf der ganzen Flucht. Am Morgen sind wir dann in ein Hotel in Algier gegangen. Dort blieben wir zwei Tage und hielten den Kontakt zu unserer Facebook-Gruppe. Danach sind wir weitergefahren, in ein Hotel im Landesinneren. Dort sollte sich die Gruppe zum ersten Mal treffen. Es trafen dann die Einzelnen nach und nach ein. Wir lernten uns kennen, haben Pläne gemacht und uns über das Internet informiert, mit welchem Schlepper wir weiterreisen wollten. Verschiedene Menschen haben sich als Fluchthelfer angeboten. Es war schwierig, denjenigen zu finden, dem man vertrauen wollte. Nach zwei bis drei Tagen haben wir dann die Person, die für uns die nächste Etappe organisieren würde, zum ersten Mal getroffen. Mit dem Bus sind wir dann von einem der Männer zur Grenze nach Libyen gefahren worden. Dort haben wir in einem kleinen Haus auf den nächsten Schritt gewartet.“2

Wesentliches Anliegen solcher journalistisch aufbereiteten Geschichten ist, nicht nur über Flüchtlinge zu reden, sondern mit ihnen. Ihre authentische Stimme soll Gehör finden. Zugleich kann man so „Armen eine Stimme geben“3. So macht es etwa die Freie Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen, die den offiziellen Sozialbericht des Landes NRW um ein eigens gestaltetes Kapitel mit diesem sprechenden Titel ergänzt. Dort wird Armut in Lebensgeschichten anschaulich, zum Beispiel auch in der Geschichte „Ich habe Angst vor der Abschiebung“, die die Sorgen und Nöte einer alleinerziehenden jungen Mutter aus Albanien plastisch deutlich macht. Denen, die von Armut nichts wissen wollen und die deshalb auch keine Armen kennen, will man auf diese Weise klarmachen, wie Armut und Ausgrenzung aussehen und vor allem wie sich die „Lebenslage Armut“ anfühlt. Öffentlichkeitsarbeit mit Originaltönen gehört zum klassischen Repertoire anwaltlicher Parteinahme für Benachteiligte. Misslich an diesem gut gemeinten Lobbying für Arme ist freilich, dass die strukturelle Gewalt verfestigter Armut diffundiert in emotional aufwühlende Geschichten von Einzelschicksalen. 2

… oder Flüchtlinge lieber in Ruhe lassen?

Es gibt weitere Einwände. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi äußert deutliche Vorbehalte gegenüber der Forderung, Flüchtlinge 2

Ausstellungstafel im Ausstellungsprojekt „Hoffnung eine Heimat geben“ des Diakoniewerks Gelsenkirchen und Wattenscheid mit Unterstützung der Diakonie RWL, Gelsenkirchen 2015. 3 Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Armen eine Stimme geben.

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um ihre Erzählungen zu bitten. Er behauptet: „Am besten, das wissen wir aus klassischen Einwanderungsländern, geht es Migranten (welcher Art auch immer), wenn sie möglichst wenig erzählen müssen. Erst dann entstehen ganz neue Geschichten.“4 Der „sprechende Flüchtling“, so Nassehi, sei ein Trugbild, mit dem insbesondere die kirchlich gebundenen Hochgebildeten Vereinnahmung betrieben. Mit einem stark ironischen Unterton karikiert der Sozialforscher dieses Engagement: „Nicht unerwähnt lassen sollte man aber, dass es einen ganz besonderen Typus des gebildeten Engagierten gibt, gerne im Zusammenhang mit Hochkulturinstitutionen wie dem Theater oder mit kirchlicher Beteiligung, die geradezu darum kämpfen, dem Flüchtling etwas vom Status des politischen Sonderlings und kulturell Interessanten zurückzugeben. Es werden Begegnungen organisiert, Kulturen und Religionen treffen aufeinander, es ist viel von Praxis die Rede, man möchte etwas von persönlichen Schicksalen hören und mehr Gemeinschaft und Gemeinsamkeit erzeugen, als es einer modernen Gesellschaft womöglich guttut. Ich jedenfalls habe hier den Eindruck, dass die hochkulturelle Vereinnahmung des Flüchtlings in solchen Projekten den ‚sprechenden Flüchtling‘ hervorbringen soll, der mehr von sich preisgibt, als es Autochthone je müssten. Der sprechende Flüchtling wird damit zum funktionalen Äquivalent für den klassischen politischen Flüchtling, der immer schon eine Geschichte mit sich herumgetragen hat, allerdings eher eine kollektive Geschichte. Jetzt werden die Flüchtlinge zwangsauthentisiert, womit sich vielleicht ein engagiertes Milieu eher Distinktion von den pöbelnden Kleinbürgern vor Flüchtlingsunterkünften verschafft als Lösungen für Flüchtlinge. […] Überall sprießen Initiativen, die ausloten, wie man ‚gemeinsam‘ leben kann und die Leute dann zum Reden bringt.“5

Ähnlich kritisch äußert sich Carlo Kroiß, der im Rahmen eines Promotionsprojekts offene Interviews mit Asylbewerbern geführt hat: „Die Geschichten der Geflüchteten selbst taugen maximal als Grundlage für rührselige Einzelfallporträts in der Zeitung oder als Teil einer Fallakte in einer Schublade der deutschen Ausländerbehörden.“6 Darüber hinaus: Zu viel zu erzählen, kann für den betroffenen „sprechenden Flüchtling“ sogar üble Konsequenzen haben. Einem wohlmeinenden Journalisten eines seriösen Radiosenders erzählte ein Flüchtling seine Geschichte – und wurde abgeschoben, trotz eigentlich guter Bleibeperspektive und trotz Begleitung durch eine diakonische Flüchtlingsberatung in einer westdeutschen Metropole. Wenn 4 5 6

Nassehi, „Die arbeiten nichts“, 110. Nassehi, „Die arbeiten nichts“, 109f. Kroiß, Und sie bewegen sich, 111.

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ein Geflüchteter von seinem Erleben erzählt, kann er sich damit schlimmstenfalls, so zeigt dieses Einzelbeispiel, um Kopf und Kragen reden. Das wird niemand von denen wollen können, die gutwillig und freundlich auf Fremde zugehen, das Gespräch suchen und praktische Hilfe anbieten wollen. Ist es womöglich falsch, Flüchtlingen zuzuhören, das Gespräch zu suchen, Lebensgeschichten aufzuschreiben? Das hielte ich dann doch für problematisch. Wenn man gar nicht zur Kenntnis nehmen will, was Flüchtlinge (uns) zu sagen haben, wenn man gar nicht mit Flüchtlingen redet, sondern nur über sie, dann gerät man, auch in wohlmeinender Absicht, schnell in die Dilemmata der Instrumentalisierung. Für die deutsche Wirtschaft sind Flüchtlinge Humankapital mit Heilserwartungen. Sie sind willkommen, weil sie den Facharbeitermangel beseitigen und mit hoher Geburtenzahl der „Vergreisung“ Deutschlands entgegenwirken sollen. Die Aufnahmebereitschaft der Wirtschaftseliten gehört zu den Überraschungen der jüngsten Zeit. Hier hat sich eine historisch neue Allianz von Open-Border-Gesinnungsethikern und Industriekapitänen gebildet. Erwartungsgemäß kritisieren Autor_innen aus dem linken politischen Spektrum allerdings, dass die Aufnahmefreundlichkeit der Arbeitgeber vor allem durch das Interesse an billigen Arbeitskräften motiviert sei. Man sieht hier die „Gefahr eines rassistisch gespaltenen Prekariats“, wie Martin Koch und Lars Niggemeyer in ihrem Aufsatz „Der Flüchtling als Humankapital. Wider die neoliberale Integrationslogik“ schreiben.7 Auch die politische Linke tappt gerne in die Falle der Funktionalisierung. Hier werden Flüchtlinge gewissermaßen zu humanistischem Kapital mit Heilserwartungen. Koch und Niggemeyer erhoffen sich von den zu uns Geflüchteten die „Wiedererrichtung eines handlungsfähigen Sozialstaats“; sie träumen ganz offensichtlich von Flüchtlingen als neuem revolutionärem Subjekt für eine „Wiedergewinnung des Sozialen“.8 Nicht ganz so hoch sind die Erwartungen von Silke van Dyk und Elène Misbach, die sich eingehend mit der politischen Ökonomie des Helfens befassen9: Sie wünschen sich einen gemeinsamen Streiktag von Ehrenamtlichen und Engagierten. Die in großen Zahlen Zugewanderten der letzten Jahre sind zum Spielball politischer Auseinandersetzungen und zum Gegenstand 7 8 9

Koch / Niggemeyer, Humankapital, 86 passim. Koch / Niggemeyer, Humankapital, 86 passim. Dyk / Misbach, Zur politischen Ökonomie des Helfens.

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wissenschaftlicher Diskurse geworden. Das Bild des Flüchtlings changiert zwischen Schreckbild, Zerrbild und Hoffnungsbild. Im eher rechten politischen Lager hat die massive Zuwanderung Alpträume von Überfremdung und Überforderung ausgelöst. Auf der linken Seite gibt es naive Träume von einer anderen Gesellschaft. Wenn Flüchtlinge selbst erzählen, kann das mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden sein. Erzählte Lebensgeschichte bringt aber Realitäts- und Erkenntnisgewinn. Wenn Flüchtlinge erzählen, sind sie damit Subjekt ihrer Lebensgestaltung und nicht Objekt von Zuschreibungen. 3

Über den Umgang mit Menschen

Eine wahre Anekdote: Zu Weihnachten lud die gut katholische Familie aus der gut katholischen Stadt eine fünfköpfige syrische Familie zum Festessen ein. Mutter gab alles, um ein ebenso schmackhaftes wie korrektes Mahl zuzubereiten. Zum Schluss bedankten sich die Gäste artig, aber ganz vorsichtig merkte der Familienvater an, er hätte durchaus auch Schweinebraten gegessen … Wie das? Antwort: „Ich bin Atheist.“ Bei Begegnungen kann es zu Missverständnissen kommen, zu solchen eher harmlosen wie auch zu ernsthafteren Missverständnissen. Wird Begegnung vermieden oder gar abgelehnt, kommt es aber schnell zu Vorurteilen, die sich zu „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ auswachsen können. Diese Gefahr halte ich für größer als die Gefahren misslingender Gesprächsführung. Den Umgang mit Menschen kann man lernen. Davon war zumindest der große Aufklärer Adolph Freiherr von Knigge überzeugt, der in seinem epochalen Werk 1788 schrieb: „Eine gewisse Leichtigkeit im Umgange also, die Gabe, sich gleich bei der ersten Bekanntschaft vorteilhaft darzustellen, mit Menschen aller Art zwanglos sich in Gespräche einzulassen und bald zu merken, wen man vor sich hat und was man mit jedem reden könne und müsse, das sind Eigenschaften, die man zu erwerben und auszubauen trachten soll.“10 Auf dieser Linie liegen auch die Hinweise, die in dem von Diakonie und Kirche herausgegebenen Wegweiser für die ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen gegeben werden. Dort ist auch von „Stolpersteinen“ im Rahmen des persönlichen Engagements die Rede. Hier heißt es: „Gerade zu Beginn des Kontaktes ist es ratsam, 10

Knigge, Umgang, 62.

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viel Zeit zum Kennenlernen einzuplanen und Vertrauen aufzubauen. Am besten ist es, einfach zuzuhören und nur sehr behutsam Fragen zu stellen.“11 Der alte, aber hochaktuelle Knigge formuliert es kurz und bündig: „Belästige nicht die Leute, mit welchen Du umgehst, mit unnützen Fragen.“12 Ob die vielen Mini-Knigges, die jetzt auf den Markt geworfen werden, um jungen, arabischstämmigen Männern zu erklären, dass man in Deutschland Frauen nicht begrapschen darf, wirklich von Nutzen sind, wage ich zu bezweifeln. Der Rekurs auf den viel zitierten, aber zu wenig gelesenen Original-Knigge könnte hier mehr Nutzen stiften. Hört man von Angesicht zu Angesicht Geschichten von Flüchtlingen oder liest man Sozialprotokolle oder auch ausführlichere Dokumentationen wie die Bücher von Melanie Gärtner und Antonie Rietzschel13, kann man jenseits von Statistik, politischer Programmatik oder knappen Zeitungsberichten anschaulich, ausführlich und emotional aufwühlend vor allem zwei Dinge nachvollziehen: Flüchtlinge kämpfen um ihr Überleben und für ein besseres Leben. Die Geschichten, die sie erzählen, sind Teil dieser (Über-)Lebensstrategie. Wenn Flüchtlinge erzählen, dann inszenieren und stilisieren sie. Gegenüber Behörden, von denen ihr Weiterleben in Deutschland abhängig ist, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig. „Ich sag dir mal was. Du musst dir eine komplett neue Lebensgeschichte einfallen lassen.“14 Das rät der erfahrene Salim dem neu angekommenen Flüchtling Karim Mensy in dem Roman „Ohrfeige“ von Abbas Khider, einem bitterbösen Stück Migrantenliteratur, aus dem man mehr über das wahre Leben in der Einwanderungsgesellschaft lernen kann als aus den wertvollen Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung oder den kritischen Analysen zur Ökonomie der Flucht und der Migration im flexiblen Kapitalismus – deren Studium natürlich auch unverzichtbar ist. Ein weiteres kommt hinzu: Wer auf lebensgefährlichen wochenlangen Fluchtrouten sich Tag und Nacht fragen musste, wem er überhaupt vertrauen kann, wer dabei durch erschütternde Erlebnisse traumatisiert wurde, von dem kann man schlichtweg nicht erwarten, dass er uns im Plauderton seine Abenteuer serviert. Auch bei ehrlichem Interesse müssen Helfer_innen nicht alles wissen, um mit ihren zu11

Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe / Evangelische Kirche im Rheinland / Evangelische Kirche von Westfalen / Lippische Landeskirche (Hg.), Unter dem Schatten, 64. 12 Knigge, Umgang, 52. 13 Vgl. Gärtner, Grenzen am Horizont, und Rietzschel, Dreamland Deutschland? 14 Khider, Ohrfeige, 69.

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gewanderten Mitmenschen ins Gespräch zu kommen. In dem Doppelporträt „Harun, Chinoso und der Blick nach vorn“, das Roelf Bleeker für die Unternehmenszeitschrift der Düsseldorfer GrafRecke-Stiftung verfasst hat, geht der Autor sensibel mit den Lebensgeschichten seiner jungen Protagonisten aus Nigeria und Syrien in ihrer Zeit vor dem Leben in Deutschland um: „Chinosos Geschichte seines Lebens ist noch kurz, aber voller schrecklicher Erlebnisse. Auf jede Frage, die sich auf sein Leben vor seiner Ankunft in Deutschland bezieht, schüttelt er den Kopf: ‚Ich erinnere mich nicht.‘ Als er nach Deutschland kam, schlief er im Warteraum des Oberhausener Bahnhofs, bevor er aufgegriffen wurde, viel mehr erzählt er auch davon nicht.“ Und: „Persönliches erzählt Harun nicht aus seiner Vergangenheit oder Heimat. Stattdessen berichtet er begeistert von einem Hobby, das er ganz neu für sich entdeckt hat: Zwei Mal war er mit seiner Schulklasse Skifahren in Österreich.“15 „Gesichtsausländer_innen“, also Menschen mit Migrationshintergrund, denen man als „people of color“ ihre Zuwanderungsgeschichte ansieht, mögen es nicht besonders, wenn man sie fragt, wo sie „wirklich“ herkommen. Darauf weist Annette Treibel in „Integriert Euch“ hin. Meist haben eben auch Menschen mit dunklerer Hautfarbe, zumindest jüngere, Geburtsorte wie Hamm oder Duisburg. Denn Deutschland ist ja nicht erst seit 2015 ein multiethnisches Einwanderungsland. In der kleinbürgerlich geprägten Großstadt, in der ich lebe, legen die „Paohlbürger“ viel Wert darauf, „echte Münsteraner“ zu sein. In meiner Familie sehen aber die einzigen in Münster Geborenen so aus, dass der Kinderarzt meine Tochter gefragt hat, ob sie ihre Kinder adoptiert habe – was sie etwas pikiert hat. Fragen, Gespräche, Begegnungen und Austausch können von falschen Voraussetzungen ausgehen und von Klischees geleitet sein. Man kann miteinander sprechen und doch aneinander vorbeireden. Im Umgang mit Menschen gibt es viele Fallstricke. Das sollte aber in letzter Instanz kein Hinderungsgrund sein, vorsichtig und respektvoll aufeinander zuzugehen, die Kunst des Zuhörens zu üben und lebensweltlich wie politisch Diskurse über eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz zu führen. Wenn Flüchtlinge erzählen, dann tun sie das nicht nur als Bewohner_innen von Unterbringungseinrichtungen, im kirchlich getragenen Flüchtlingscafé für Frauen oder als Jugendliche, die von diakonischen Hilfen zur Erziehung betreut werden, sondern auch als Schriftsteller_innen. Zum Schluss eine sarkastische Passage aus dem bereits 15

Bleeker, Harun, Chinoso, 26.

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zitierten Roman „Ohrfeige“ von Abbas Khider, aus der man viel lernen kann für den berühmt-berüchtigten interkulturellen Dialog:

„In den Regionalzügen herrscht ständiges Ein- und Aussteigen. Anfangs wollte ich gern die Einheimischen kennenlernen und freute mich darüber, wenn sich jemand zu mir gesellte. Oft setzte ich mich selbst in Bussen oder Zügen neben einen Blondschopf und versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich betrachtete es als kulturellen Austausch und lernte so die Sprache anzuwenden. In letzter Zeit vermeide ich den Kontakt jedoch zunehmend und will lieber für mich alleine bleiben. Ich bin es leid, über Dinge zu reden, die mit meinem jetzigen Leben nichts mehr zu tun haben. Die permanenten Fragen zur Vergangenheit erledigen mich. Seit Monaten bemühe ich mich, den Nachrichten aus der Heimat auszuweichen, höre oder lese sie höchstens ein Mal wöchentlich, und das so oberflächlich wie möglich. Allenfalls die Schlagzeilen, damit der Trübsinn mich nicht übermannt. Die deutschen Fahrgäste wollen sich mit mir jedoch über nichts anderes unterhalten. Die Fragen sind immer dieselben: Woher kommen Sie? Wann kehren Sie in Ihr Heimatland zurück? Der 11. September war abscheulich. Sehen Sie das auch so? Können die Araber überhaupt demokratisch denken? Sind Sie Muslim? Was denken Sie über das, was die Amerikaner in Ihrem Land angestellt haben? Sehen Sie es als Befreiung oder Besatzung? Ist das Leben jetzt besser ohne Diktatur? Was glauben Sie – wird es mit der Demokratie dort funktionieren? Nie macht sich einer mal Gedanken über mein gegenwärtiges Leben. Über die Schwierigkeiten mit der Aufenthaltserlaubnis, die Folter in der Ausländerbehörde, die Schikanen des Bundeskriminalamtes, über die Peinlichkeiten des Bundesnachrichtendiensts oder die Banalitäten des Verfassungsschutzes. Und warum fällt niemandem die Tatsache des Polizeirassismus auf? Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?“16

Integration zielt auf Teilhabe an Arbeit, Politik, Konsum und Kultur. Das ist in erster Linie ein wirtschafts- und sozialpolitischer Transformationsprozess. Die neue Migrationsgesellschaft in Deutschland braucht als Grundpfeiler aber auch den Aufbau von Sozialkapital durch interkulturelle Lern- und Öffnungsprozesse. Die grundlegende Leitfrage lautet: Wie wollen wir leben und wer ist überhaupt dieses „Wir“? Ein neues Leitbild ist zu entwickeln, anders gesagt eine neue Erzählung. Zu dieser vielschichtigen und vielfältigen Erzählung gehören die Erzählungen der zu uns Geflüchteten notwendig dazu. Deshalb plädiere ich letztlich dafür, Flüchtlingen zuzuhören, wenn sie denn erzählen können und mögen. Carlo Kroiß bringt das so auf den Punkt: „Wenn statt Flüchtlingsabwehr eine wie auch immer geartete Willkommenskultur Einzug halten soll, dann müssen wir auf die Berichte derjenigen hören, die man zu Recht als Experten ihrer selbst 16

Khider, Ohrfeige, 18f.

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beschreiben kann: die Asylbewerber, die wissen, wo der Schuh drückt.“17 Literatur Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Armen eine Stimme geben. Ausgrenzung hat viele Facetten, Köln 2016. Bleeker, Roelf, Harun, Chinoso und der Blick nach vorn, recke: in – das Magazin der Graf Recke Stiftung 2 (2015), 24–26. Deutsches Komitee für UNICEF (Hg.), UNICEF-Report 2016 Flüchtlingskindern helfen, Frankfurt / Main, Juli 2016. Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe / Evangelische Kirche im Rheinland / Evangelische Kirche von Westfalen / Lippische Landeskirche (Hg.), Unter dem Schatten deiner Flügel. Wegweiser für die ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen, Mönchengladbach 2015. Dyk, Silke van / Misbach, Elène, Zur politischen Ökonomie des Helfens. Flüchtlingspolitik und Engagement im flexiblen Kapitalismus, Ökonomie der Flucht und der Migration, PROKLA 183 / 2 (2016), 207–227. Foroutan, Naika, Die Einheit der Verschiedenen: Integration in der postmigrantischen Gesellschaft, Kurzdossier, Osnabrück / Bonn 2015. Gärtner, Melanie, Grenzen am Horizont. Drei Menschen. Drei Geschichten. Drei Wege nach Europa, Frankfurt / Main 2015. Geissler, Cornelia, Die falsche Nase. Ein Stück Alltag. Wie das Thema Flucht in Büchern für Kinder und Jugendliche angekommen ist, FR, 22.06.2016, 28. Georgi, Fabian, Widersprüche im langen Sommer der Migration. Ansätze einer materialistischen Grenzregimeanalyse, Ökonomie der Flucht und der Migration. PROKLA 183 / 2 (2016), 183–203. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Wandern. Zur Globalgeschichte der Migration, Mittelweg 36 / 1 (2016). Khider, Abbas, Ohrfeige. Roman, Frankfurt / Main 2016. Knigge, Adolph Freiherr von, Über den Umgang mit Menschen, hg. v. Gerd Ueding, Frankfurt / Main 2001, urspr. Hannover 1788. Koch, Martin / Niggemeyer, Lars, Der Flüchtling als Humankapital. Wider die neoliberale Integrationslogik, Blätter für deutsche und internationale Politik 16 / 4 (2016), 83–89. 17

Kroiß, Und sie bewegen sich, 124.

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Kroiß, Carlo, Und sie bewegen sich doch. Über Einkommen und Auskommen in Deutschland, Kursbuch 183: Wohin flüchten?, Hamburg 2015, 111–125. Muy, Sebastian: Hilfe zwischen Abschreckung und Profit. Interessenkonflikte Sozialer Arbeit in Flüchtlingssammelunterkünften gewerblicher Träger in Berlin, Ökonomie der Flucht und der Migration. PROKLA 183 / 2 (2016), 229–244. Nassehi, Armin, „Die arbeiten nichts“. Eine kleine Polemik gegen den „Wirtschaftsflüchtling“, Kursbuch 183: Wohin flüchten?, Hamburg 2015, 101–110. Nikles, Bruno W. / Nikles-Windolph, Barbara, Im Dschungel der Ehrenamtlichkeit. Case-Management für eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien, Caritas in NRW 2016 / 1: Flüchtlinge integrieren, 9–12. Ott, Konrad, Zuwanderung und Moral, Stuttgart 2016. Reportagen zum Thema Flucht, laufend bei: diakonie-rwl.de. Reschke, Anja (Hg.), Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge, Reinbek 2016. Rietzschel, Antonie, Dreamland Deutschland? Das erste Jahr nach der Flucht. Zwei Brüder aus Syrien erzählen, München 2016. Treibel, Annette, Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland, Bonn 2016.

Sigurd Hebenstreit / Helene Skladny

Flüchtlingen ein Gesicht geben

Die Kapitelüberschrift „Ansichten“ erlaubt subjektive Sichtweisen und eine entsprechende Sprache. Die nehmen wir uns im Folgenden heraus. Wir umreißen Erfahrungen mit deutscher Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres, deuten an, was wir mit „Flüchtlingen ein Gesicht geben“ meinen, wohl wissend, dass Flüchtlinge bereits ein Gesicht haben und wir es ihnen nicht erst geben müssen. Wir skizzieren ein gemeinsames Kunstseminar mit Studierenden der Evangelischen Hochschule Bochum und einer Gruppe von geflüchteten Menschen und präsentieren wenige ausgewählte Ergebnisse. Nichts Spektakuläres, aber Spannendes. 1

2.500 Zeichen einer einjährigen Geschichte deutscher Flüchtlingspolitik

300.000 – 400.000 – 500.000 – 700.000 – 1.000.000 – mehr als 1 Million. Flut – Welle – Schwemme – Überschwemmung. Das war 2015. Auch professionelle Überforderung und ehrenamtliche Willkommenskultur. „Wir schaffen das!“ („Wir schaffen das nicht“, kann ein verantwortungsvoller Politiker kaum sagen.) Kritische Politiker fragen – zunächst vorsichtig: „Wollt ihr noch mehr Flüchtlinge willkommen heißen?“ Ja! Immer mehr Menschen strömen zu den Bahnhöfen, um ankommenden Flüchtlingsmassen zu applaudieren. Warum gehen 100.000 auf die Fan-Meile, um ein Fußballspiel zu betrachten, das sie auch zusammen mit Freunden, ein Bier in der Hand, am heimischen Fernseher verfolgen könnten? Ein Sommermärchen. Ein Hype. Der erfahrene Politiker weiß, das geht vorüber. „Wollt ihr denn noch mehr Flüchtlinge willkommen heißen?“ Das geht doch nicht. Abschottung. Zuerst Ungarn – profaschistisch. Aber dann auch Österreich. Das geht doch nicht. Die europäischen Werte, die Freizügigkeit. Doch im Ergebnis Zufriedenheit – auch der deutschen Politiker verschiedener Parteien. Schließung der Balkanroute.

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S. Hebenstreit / H. Skladny

Der Türkei-Flüchtlings-Deal. Leichter werdende Bedenken. Die Menschenrechte? Die zwiespältige Rolle der Türkei bei der Förderung des Islamismus? Die ungeklärte Kurdenfrage in Syrien, im Irak, in der Türkei? Bedenken. Aber das positive Ergebnis: Während sich die Kommunen nach verschlafenem Beginn auf die Schwemme vorbereiten, reduziert das Bundesinnenministerium seine Prognosen im Jahr 2016 kontinuierlich: von 1.000.000 auf 700.000 auf 450.000, auf 300.000, auf … Es flutet nicht mehr, sondern tröpfelt. Alles gut? Das Flüchtlingshilfswerk der UN gibt bekannt: Noch nie so viele Flüchtlinge wie 2016. Der Blick auf das Innere. Nach der Willkommenskultur der Schock der Silvesternacht von Köln. Die Schlagzeilen ändern sich. Wir müssen Angst bekommen. Die Welle überrollt uns. Die innere Sicherheit ist in Gefahr. Frustrierte Sexualstraftäter, eingeschmuggelte Islamisten, der Terror jetzt auch in Deutschland. Orban hatte recht. Um sich gegen die Sintflut zu schützen, müssen die Dämme erhöht werden. Um die Asylflut einzudämmen, müssen die Gesetze verschärft werden: Asylpaket I, Asylpaket II, Integrationsgesetz. Falls dadurch die Abschreckung nicht reicht: die Asylpakete III bis … Wir werden der Flut Herr. Schotten dicht. Und so schlimm ist es in Afghanistan doch nicht. Es soll sogar Urlauber geben, die dieses Land für ihr Abenteuer aufsuchen. Dschungelcamp. Das schauen wir uns im Fernsehen auch an. Und die deutsche Masse, der kurzfristige Hype bleibt zu Hause vor dem Fernseher, wählt AfD, stimmt in Umfragen ausländerfeindlichen Statements zu oder schüttelt den Kopf und schweigt. War es das, was Angela Merkel meinte, als sie ihr „Wir schaffen das!“ sagte? 2

Flüchtlingen ein Gesicht geben

Durch unser Gesicht präsentieren wir uns den anderen – deshalb das Passfoto auf amtlichen Ausweisen, das Profilbild auf Facebook und WhatsApp, die Angst vor der Burka. Unser Gesicht zeigt unsere Stimmung; mein Gegenüber weiß, ob ich traurig oder fröhlich, offen oder verschlossen, neugierig oder ignorant, interessiert oder abweisend bin. Mein Gesicht, das sind auch meine Augen, Ohren, meine Nase, mit denen ich mir ein Bild von den anderen mache: Sind sie freundlich oder bedrohlich, anziehend oder abstoßend, liebenswert oder neutral; wecken sie meine Neugierde, sie näher kennenzulernen, oder schalte ich auf Abwehr. Ein Gesicht geben und ein Gesicht nehmen, ist ein wechselseitiger Prozess: Ich zeige mich dem Gegenüber, und ich interpretiere die Eindrücke, die ich von dem des anderen er-

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halte. Mein Gegenüber deutet mein Gesicht – als Kommunikationsangebot oder Abweisung – und reagiert darauf – bestätigend oder ablehnend. Kommunikation über die Präsentation des Gesichtes funktioniert nur in der Face-to-face-Situation. Einer Masse kann ich nicht in die Gesichter schauen, die einzelne Stimme nicht hören. Nicht die 1 Million, sondern die / der Einzelne. „Flüchtlingen ein Gesicht geben“, meint diesen wechselseitigen Prozess: Ich gewinne einen Eindruck von der Individualität meines Gegenübers, und ich präsentiere mich ihm als neugierig, aufgeschlossen, zugewandt. Ich sehe nicht „den“ Flüchtling, Syrer, Afghanen, Iraker, Kurden, sondern Ihab, Muhammed, Said, Resha. Und ich bin nicht das Musterexemplar des Deutschen, Vertreter der westlichen Wertegemeinschaft, der Einheimische, sondern zeige mich als individuelle Persönlichkeit mit meinen Stärken und Schwächen, meinen Verständnismöglichkeiten und Grenzen. Wechselseitig: Auch der Geflüchtete nimmt mich als einzelnen Menschen wahr, der ihm vertraut wird oder fremd bleibt. Wir begegnen uns auf Augenhöhe, als Menschen mit gleicher Menschenwürde, mit Interesse an der Begegnung, die neugierig auf das Fremde im Vertrauten macht. Solche Begegnungen auf Augenhöhe können gelingen – die Erfahrungen mit Patenschaften in der Flüchtlingshilfe zeigen dies. Sie sind bereichernd für beide Seiten: ermöglichen mir, einen neuen Menschen kennenzulernen und dabei auch neue Seiten an mir selbst zu entdecken. Ein Beispiel: Mein Interesse an dem anderen zu zeigen, wenn die sprachliche Verständigung schwierig ist, verlangt neue Möglichkeiten des nichtsprachlichen Ausdrucks – ich forme mein Gesicht, und ich kann das einzigartige Gesicht der kopftuchtragenden Frau sehen (und nicht das Kopftuch). Der geflüchtete Mensch, vielleicht in seinem menschlichen Grundvertrauen durch erlittene Gewalt verunsichert, bekommt die Möglichkeit, sich zu öffnen: Ich bin mehr als meine schreckliche Fluchtgeschichte, ich werde nicht darauf reduziert, und ich muss mich selbst nicht darauf reduzieren. Das mir offen gezeigte Gesicht des anderen zeigt mir menschliche Vertrautheit im Fremden; ich kann es mir erlauben, mein Gesicht zu zeigen. Das wechselseitige Geben und Nehmen des Gesichts kann misslingen: subjektiv von Seiten des Geflüchteten, der zu sehr in seiner Angst gefangen ist, als dass er es wagen könnte, sein Gesicht zu zeigen; und von Seiten des Flüchtlingshelfers: Er sieht nicht das Gesicht, sondern nur die Probleme, auf die er sich stürzen mag (wenn jeder zweite Flüchtling traumatisiert ist, dann muss ich doch Spuren

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des Traumas in meinem Fall entdecken), oder er sucht nach Bestätigung der Klischees, die die öffentliche Meinung für Geflüchtete positiv oder negativ bereithält (und übersieht, dass die intellektuelle oder technische Kompetenz des syrischen Flüchtlings die seine übersteigt); er orientiert sich an der Lösung von kleineren oder größeren technischen Problemen, für die er sein überlegenes Wissen parat hat, aber sein eigenes Lachen, seine Traurigkeiten, Enttäuschungen, Hoffnungen bleiben außen vor. Mir ist aufgefallen, dass meine Standarderöffnung „Wie geht‘s?“ immer zu spät kam, weil das Gegenüber mit der gleichen Frage schneller war. Misslingen kann der gleichberechtigte Prozess, ein Gesicht zu geben und zu empfangen, auf Grund politischer Rahmenbedingungen, die die Geflüchteten auf eine passive Empfängerrolle einschränken, die Vorrangstellung der westlichen (christlich-abendländischen) Zivilisation betonen (und damit die neokapitalistischen Interessen verdecken) und Fremdenfeindlichkeit Vorschub leisten. Aber das ist ein weites, anderes Feld … „Flüchtlingen ein Gesicht geben“ – kann gelingen. Eine empirische Untersuchung, welche Faktoren förderlich sind, wie sie sich erlernen lassen und welche Rahmenbedingungen sie benötigen, wäre hilfreich. Wir schreiben hier nur „Ansichten“, subjektive Eindrücke. In diesem Sinne einige Fragen: Wie bereit bin ich, mich auch Fremden mit Neugierde zuzuwenden? Wie nehme ich Abschied von den Illusionen des starken Helfers und des hilflosen Geholfenen? Wie sehr bewahre ich den realistischen Blick auf das, was ist, und das, was möglich ist, anstatt mich in idealistischen Spekulationen zu ergehen? Gelingt es mir, beides zugleich zu sehen: das Neue und das Vertraute? Gelingt es mir, auf Augenhöhe dem anderen ins Gesicht zu sehen und ihm mein Gesicht zu zeigen? Kann ich mich vom Egozentrismus befreien – meinem persönlichen und dem meiner Kultur, Geschichte und Religion? Erlebe ich die Begegnung für mich persönlich als bereichernd oder opfere ich mich – meine Menschenfreundlichkeit herausstellend – für den Dienst an der guten Sache auf? 3

Bilder über Bilder

Flüchtlinge. Unser Bild über sie beruht vor allem auf medial vermittelten Bildern. Noch vor wenigen Monaten reihten sie sich ein in das, was wir täglich in den Tagesnachrichten zu sehen gewohnt sind. Etwa: hoffnungslos überfüllte Schlauchboote, ferne Kriegsschauplätze, Tote, Verletzte, Gestrandete und Helfer_innen. Weinende Kinder, die auf Boote gehoben, von Rettungskräften entgegengenommen werden, Küstenwachen, erschöpfte Frauen am Wegrand, Müll, Absperrzäune,

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Auffanglager, Männer, Frauen, Kinder mit Rucksäcken und Plastiktüten, hinter Zäunen, Registrierungen, Austeilung von Decken, Essensrationen usw. Sie lösten (mehr oder weniger) Betroffenheit aus, so wie all die anderen journalistischen Fotos und Filme über die Katastrophen dieser Welt Betroffenheit auslösen. Ab September 2015 änderte sich das. Natürlich änderte sich auch die reale Situation. Menschen, die uns noch zuvor medial in unseren Wohnzimmern (und real weit entfernt!) begegneten, kamen nun in unser Land. Aber auch das wurde den meisten von uns nur über Bilder vermittelt. Bilder blieben. Eine Flut von neuen Bildern kam hinzu. Einige von ihnen avancierten noch während ihres Erscheinens zu „Symbolbildern“. So z.B. das Foto des auf der Flucht ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi oder Angela Merkels „Selfie“ in einer Flüchtlingsunterkunft. Bahnhofsszenen, in denen Applaudierende Ankommende verdecken, Teddybären verteilen und Pappschilder mit „refugees welcome“ hochhalten. Kurz darauf Bilder von Menschen hinter Absperrzäunen. Auch sie halten Pappschilder: “We are not going back, open the way”. Idomeni, eine Flüchtlingszeltstadt versinkt im Schlamm. Kinder werden über reißende Wassermassen gereicht. Unscharfe, diffuse und dunkle Bilder der Silvesternacht in Köln. Nordafrikanische junge Männer. Wieder Pappschilder mit Aufschriften wie „Nein heißt Nein“. Überfüllte Erstaufnahmelager, halbleere Erstaufnahmelager usw. Bilder und Gegenbilder. Bilder, die Emotionen auslösen, die Meinung und Politik machen und vor allem immer mehr und immer weiter polarisieren. 4

„Wir sind keine Ressource für Euer nächstes Kunstprojekt!“

Kunstprojekte mit Flüchtlingen sind im Trend. Mehr als das. Wer die Stichworte „Kunstprojekte und Flüchtlinge“ im Internet eingibt, gelangt auf eine schier unübersehbare Anzahl von Workshops, Ausstellungen und Dokumentationen. Angefangen von kleinen improvisierten Kursen, die mit geflüchteten Menschen malen, singen usw., bis hin zu professionellen Kunstausstellungen findet man eine breite Angebotspalette. Fragt man nach den Intentionen von Kreativprojekten dieser Art, so stößt man hauptsächlich auf folgende Begründungen: Künstlerische Workshops mit Flüchtlingen bieten u.a. Möglichkeiten, Sprachbarrieren zu überwinden, da auf eine „universellere“ Sprache zurückgegriffen wird. Sprachenlernen kann unterstützt und gefördert werden. Künstlerisch-kreative Betätigungen können entlastende, mitunter therapeutische Wirkungen haben. Kommunikation kann so über ein „Drittes“, nämlich das Material, die Farbe, das Bild, den Rhyth-

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mus usw., stattfinden. Im gemeinsamen Gestalten oder gar „flow“ können Berührungsängste abgebaut werden. Und es macht vor allem Spaß! Hier liegen Chancen und viele wertvolle Möglichkeiten, weil Begegnung (tatsächlich!) stattfindet, es um Kommunikation, Ausdruck und Verstehen geht. Aber hier liegen auch Gefahren. Einige sollen hier kurz skizziert werden: Erstens: Flüchtlingsboote töpfern. Bei der Internetrecherche zu den Stichworten „Kunstprojekte mit Flüchtlingen“ trifft man immer wieder auf einen bestimmten Typus von Kunstprojekten. Zu sehen sind obligatorische Werkraumbilder. Menschen töpfern, halten ihre Ergebnisse in die Kamera, stehen im Halbkreis, sitzen an Werktischen über ihre Arbeiten gebeugt. Bekannte Szenen von Kreativgruppen, wie sie häufig in der Lokalpresse zu finden sind. Mit dem Unterschied, dass einige Teilnehmer_innen „exotisch“ aussehen und dezidiert als „Flüchtlinge“ ausgewiesen werden. Neben den abgebildeten Arbeitsszenen werden auch die Ergebnisse ausgiebig dokumentiert. Zu sehen sind die obligatorischen Gefäße, Masken und Reliefs etc., die an erste Versuche einer Grundschulklasse erinnern. Schaut man weiter, trifft man auf kleine modellierte bemannte Flüchtlingsschlauchboote, die fotografisch in Szene gesetzt werden. Zunächst mutet die (mit Sicherheit unfreiwillige!) absurde Bildsprache dieser massiven Tonobjekte makaber an. Denn beim Anblick der plumpen „Rettungsboote“ kann man sich von der Vorstellung ihres sicheren Versinkens kaum befreien. Weiterhin ist aus dem kurzen Begleittext zu entnehmen, dass die geflüchteten Menschen hier die Möglichkeit erhalten würden, ihre traumatischen Erfahrungen zu bearbeiten. Anfragen: Geht es um ein kreatives Freizeitangebot, das vor allem auch Kontakt zu Flüchtlingen herstellen soll, oder geht es unterschwellig und scheinbar nebenbei um Therapie? Würden diese Menschen, die eventuell das erste Mal in ihrem Leben solch eine Tätigkeit ausüben, tatsächlich ihre Fluchterfahrungen thematisieren, indem sie Rettungsboote töpfern? Und wenn ja, sollte das auf diese Weise öffentlich gezeigt werden? Und vor allem: Was für eine Vorstellung von Therapie wird hier eigentlich propagiert? Sitzen genau jene „Flüchtlinge“ (Absperrzäune, Rettungsboote, Auffanglager, Kölner Silvesternacht …) nun in Töpfer- und Malwerkstätten und bearbeiten ihre Flucht? Bilder von jungen Männern (Nordafrikanern?), die kindlich harmlose Gefäße töpfern und sich scheinbar mühelos in unsere deutschen Vorstellungen von Hobbykursen und laienhafter Kunsttherapie einfügen? Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht weder darum, engagierte Kreativkurse noch erstzunehmende kunsttherapeutische Angebote zu kritisieren. Das Gegenteil ist das Fall. Es

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geht um die Frage, ob und inwieweit hier nicht vielmehr Erwartungen und Projektionen seitens der „Helfer_innen“ erfüllt werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Geht es nicht schon wieder um Bilder, die wir uns machen? Zweitens: In dem Artikel der FAZ vom 31. August 2016 mit dem Titel „Die Kunst der guten Absichten“ setzt sich der Feuilletonist Kolja Reichert kritisch mit der allgegenwärtigen künstlerischen Verarbeitung der Flüchtlingsthematik auseinander.1 Er zitiert aus der an Künstler_innen und Theatermacher_innen adressierten Streitschrift der australischen Künstlerorganisation „Rise“: „10 Dinge, die ihr beachten müsst, wenn ihr mit Flüchtlingen arbeiten wollt“. Reichert stellt folgende markante Thesen daraus vor: Flüchtlinge sind „keine Ressource“ für Künstlerprojekte. Auch warten sie nicht „unbedingt auf Künstler, die für sie sprechen. Das können sie oft selbst besser, solange man sie lässt.“ Und schließlich: „Gute Absichten machen noch keine gute Kunst, ja, sie dienen oft noch nicht einmal guten Absichten.“ Die künstlerische Bearbeitung der Thematik scheint sich u.a. auf einen gewissen Typus von traumatisierten Schlauchbootflüchtlingen festgelegt zu haben. Diesen Eindruck hinterlässt vor allem der in Deutschland so populäre chinesische (Star)Konzeptkünstler Ai Weiwei. Er manifestiert diese Vorstellungen und Bilder insofern, als er mit spektakulären Installationen aus Schwimmwesten von sich reden macht. So benutzte er sie als Material für die Einkleidung der Säulen des Konzerthauses des Berliner Gendarmenmarktes. In einer weiteren Aktion ließ er 2005 auf den griechischen Inseln zurückgelassene Schwimmwesten im Wasserbecken des Wiener Belvedere-Schlossparks in einer „F-Formation“ schwimmen. Auch stellte der Künstler mit seinem Körper das Bild des an den Strand gespülten Aylan Kurdi nach. Damit bediente er sich eines Sensationsbildes und überschrieb es mit einem künstlerischen. Verfolgt man die medialen Berichte über diese Aktionen, so wird vor allem eines deutlich: Hier werden unserer Vorstellungen und damit unsere Bilder „bedient“. Sicherlich lässt sich über die Kunst von Ai Weiwei und seine damit verbundenen öffentlich propagierten „guten Absichten“ streiten. Vielleicht liegt ja gerade in der Vorgehensweise, die Flüchtlingsthe-

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Reichert, Kolja, Die Kunst der guten Absichten, FAZ 31.8.2016, online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/fluechtlinge-und-kuenstler-guteabsichten-14393144.html (Zugriff 1.9.2016).

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matik unverblümt als „Ressource“ für zahlreiche Kunstprojekte zu benutzen, eine Kritik. Vielleicht. Für diesen Zusammenhang geht es darum, die Frage nach unserem Umgang mit Bildern und möglichen Projektionen über Flüchtlinge zu stellen. Es geht um die Bereitschaft einer kritischen Auseinandersetzung mit unseren (in der Regel „gut gemeinten“) Übergriffen und Instrumentalisierungsversuchen, die mehr die eigenen Helferfantasien, Ängste, Wünsche, Vorstellungen, Deutungen usw. widerspiegeln, als dass sie etwas mit den so genannten „Flüchtlingen“ zu tun hätten. 5

Bericht über ein Praxisseminar mit Studierenden der Ev. Hochschule in Bochum: Rahmen – Bedingungen

Drei Zielformulierungen standen am Anfang unseres Seminars, das mit Studierenden der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum mit dem Arbeitstitel: „Flüchtlingen ein Gesicht geben“ im Sommersemester 2016 durchgeführt wurde. Erstens: eingebrannte, fest gefügte Bilder über die Flüchtlinge (so gut es geht!) zurückzulassen und sich stattdessen im direkten Kontakt selber „ein Bild zu machen“. Zweitens: gemeinsam in einen Dialog über Bilder einzutreten, unseren Dialogpartner_innen die Möglichkeit zu geben, uns ihre eigenen Bilder vorzustellen. Drittens: ein ästhetisches Konzept zu entwickeln, das diese Bilder wiedergeben kann. Zum organisatorischen Rahmen: Das Seminar war als künstlerischpraktisches Werkstattprojekt angelegt und fand als ein Teamteaching (Pädagogik: Hebenstreit / Ästhetische Bildung: Skladny) statt. Vier Seminartage über ein Wochenende und zwei Einzeltage verteilt. Zwischen dem Blockwochenende und dem Ausstellungsaufbau sollte genügend Zeit zum Nachbereiten, Vorbereiten und vor allem zum Austausch der Dialogpartner_innen zur Verfügung stehen. Fünfzehn Studierende der Sozialen Arbeit und Elementarpädagogik treffen auf zwölf Menschen, die eine Fluchtgeschichte erlebt haben und seit kurzer Zeit in Deutschland wohnen. Sie verbringen einen Tag miteinander, lernen sich kennen und erstellen Bilder (Fotos, Zeichnungen, Skizzen, Texte …) und / oder wählen aus vorhandenen Bildern aus. Ziel ist das Entwickeln einer Selbstvorstellung anhand von Bildern im Rahmen einer Ausstellung. Im Einzelnen sah die Planung folgendermaßen aus:

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– Ein vorbereitender Theorietag mit Vorträgen und Diskussionen zur Flüchtlingsthematik aus mehreren, für die Soziale Arbeit relevanten Perspektiven. Darunter der Beitrag einer Gastrednerin zum Thema: „Flucht und Trauma“. Austausch persönlicher Erfahrungen sowie Organisation und Konzeption des künstlerischen Konzeptes. – Ein Praxistag der Begegnung. Nach einem gemeinsamen Start in einem Gemeindehaus in Witten werden „Tandems“ gebildet. Diese verbringen einen Nachmittag miteinander. Es gibt die Option, zu den Menschen nach Hause zu gehen oder die Zeit z.B. im Park oder im Café zu verbringen. Der Tag endet mit einer großen Grillfeier. – Ein Praxistag, an dem das gemeinsam erstellte und vorbereitete Bildmaterial zu einer Ausstellung zusammengestellt wird. – Letzter Tag: Vernissage, Ausstellungseröffnung in der Hochschule. Zum künstlerischen und methodischen Rahmen: Wie findet man gemeinsame Bilder? Und wie setzt man einen ästhetisch angemessenen Rahmen, der weder die Studierenden noch die Teilnehmer_innen überfordert und gleichzeitig Raum, Freiheit und Ideen für individuellen Ausdruck (um den es uns ja ging!) zulässt? Gut gemeinte „PseudoKunst“ sollte ebenso wie sonstige Klischees und Projektionen vermieden werden. Dennoch wollten wir eine angemessene und ansprechende Ausstellung. Das Vorbereitungsteam, das aus Lehrenden und Studierenden bestand, entwickelte folgendes Konzept: Jedes „Tandem“ würde ein Set aus zwölf Bilderrahmen unterschiedlicher Größe erhalten. Außerdem sollte ein professionelles Foto des Gesichts des / der zu Porträtierenden am Begegnungstag gemacht werden. Aufgabe für die Dialogpartner_innen war es, rund um dieses Porträt die zwölf leeren Rahmen gemeinsam (!) mit Bildern zu füllen. Mögliche Leitfragen dabei sollten sein: Was ist deine Geschichte, sind deine Vorstellungen und Wünsche? Wie möchtest du dich vorstellen? Und: Was von all dem möchtest du von dir preisgeben? 6

Ein vorläufiges Ergebnis

Das Konzept ging insofern auf, als tatsächlich ganz unterschiedliche „Porträtinseln“ entstanden sind. Vier der insgesamt zwölf Fotoarbeiten sollen hier kurz vorgestellt werden: Das Bild einer jungen Frau aus Afrika mit ihrer kleinen Tochter. Ihre Tandempartnerin, etwa im gleichen Alter, hat auch eine kleine Toch-

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ter und so fand eine Begegnung zweier junger Frauen und Mütter im Park statt. Über „Flucht“ wurde nicht geredet. Nicht weil dieses Thema nicht hätte vorkommen dürfen. Es ergab sich einfach nicht, weil der Augenblick und die Begegnung, der Austausch über das, was gerade ist, für beide wichtiger war. Entstanden sind Momentaufnahmen einer jungen Frau mit ihrem Baby an einem Nachmittag im Park. Ein junger Mann aus Afrika und eine Studentin verständigten sich auf eine ganz eigene Art miteinander. Sie dokumentierten ihren Nachmittag mit wie nebenbei gemachten Handyaufnahmen. So entstanden spontane, situative Fotos, die etwas ganz Eigenes „erzählen“, vor allem aber atmosphärisch wirken. Etwa das unscharfe Bild einer Katze, die den beiden begegnet ist und ihnen Anlass gab, über Voodoopraktiken der afrikanischen Heimat zu reden. Diesen Zusammenhang muss man (wenn man die Bedeutung des Bildes erfassen will) erfragen. Aber auch ohne diese Information reiht sich das skurrile Foto in ein interessantes Porträt ein. Noch rätselhafter als die Katze ist die afrikanische Figur, die wie eine Provokation hinsichtlich unserer Bilder über Afrika im Bilderrahmen erscheint. Auch dazu gibt es eine interessante Gesprächssequenz, die der Betrachter erahnen kann. Später entstand noch eine Zeichnung, eine Figur, mit biographischer Bedeutung aufgeladen, so jedenfalls erscheint es. Eine Teilnehmerin, die mit ihrer Familie in ihrer Heimat aufgrund ihres christlichen Glaubens verfolgt wurde, wollte genau diesen, für sie entscheidenden Aspekt, in den Bilderrahmen zeigen. So ging es, ebenfalls bei ihr zu Hause, darum, was das Leben in Deutschland als Christin für sie nun bedeutet. Ein weiteres „Tandem“, eine Studentin und ein junger Mann, der mit seiner Frau und seinem Sohn aus Syrien geflohen ist, wollte seine Fluchtgeschichte erzählen. Dazu lud er die Studentin in seine Wohnung ein. Familienbilder, Hochzeitsbilder, Fotografien seiner alten Heimat (vor und nach der Zerstörung) wurden gezeigt. Seine Vorstellungen über das, was in die Rahmen sollte, sprengte diese gewissermaßen. Gern hätte er noch mehr von sich und seiner Heimat für unsere Ausstellung zur Verfügung gestellt. So mussten gemeinsam Auswahlen getroffen werden. Dennoch war beiden wichtig, auch Bilder ihrer Begegnung in die Rahmen mit aufzunehmen. Der Rahmen des Projektes und das Medium der Bilder konnten dazu beitragen, in einen intensiven Dialog und Austausch zu kommen. Aus der gemeinsamen Projektarbeit sind nicht nur neue Bilder hervorgegangen, sondern vor allem auch Kontakte und Begegnungen, die

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teilweise noch immer andauern. Sicherlich haben wir nicht immer alle Hinweise der oben genannten kritischen Streitschrift: „10 Dinge, die ihr beachten müsst, wenn ihr mit Flüchtlingen arbeiten wollt“ umsetzen können. Das, was definitiv fehlte, war, dass auch die Studierenden zu Porträtierten wurden. So hätten die Dialogpartner_innen sich gegenseitig vorstellen können. Hierzu war zu wenig Zeit – wir hätten sie uns nehmen sollen! Auch fiel uns recht früh auf, dass der Titel „Flüchtlingen ein Gesicht geben“ mittlerweile über vielen weiteren Kunstprojekten steht und Gefahr läuft, selber zu einem „Klischee“ zu werden. Wir hielten dennoch an ihm fest, da diese Formulierung unserem Anliegen am nächsten kam: Kommunikation über die Präsentation des Gesichtes funktioniert nur in der Face-to-face-Situation. Fotos: Lisa Hentz – S. 40–42, 44, 46 Tanja Krawczyk – S. 43 Shirley Eissmann und Annkathrin Wehlus – S. 45 Michaela Rumpf – S. 47

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2 Grundlagen

Jan-Dirk Döhling

Menschen und Texte in Bewegung Die Bibel als Migrationsliteratur

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Unterwegs von Eden bis zum neuen Jerusalem

Das Motiv der Bewegung, des Exils, der Vertreibung und der Wanderschaft durchzieht die Bibel von der Vertreibung aus der Gottesnähe des Edengartens (Gen 3,23–24; 4,16; 11,2.8) bis zur Herabkunft des himmlischen Jerusalem und dem Ruf nach dem Kommen Jesu in der sog. Offenbarung des Johannes (1,9; 22,20).1 Die Hebräische Bibel, die Bibel des Judentums und das christliche Alte Testament eröffnen große Erzählbögen der Wanderschaft der Erzeltern (Gen 37–50) und vom Auszug aus Ägypten (Ex-Dtn). Doch auch die folgenden Geschichtswerke über den Einzug und das Leben im gelobten Land sind in ihrer Gesamtheit auf den Verlust des Landes bzw. die Rückkehr dorthin bezogen (Jos–2Kön 25; 1Chr–2Chr 36). Neben das ganze Volk betreffende Erzählungen treten zudem einzelne Migrantenschicksale wie die Josefsgeschichte, das Ruthbuch, die ersten Kapitel des Danielbuches oder das apokryphe Tobitbuch. Zu nennen sind ferner die prophetischen Exilstexte eines Jeremia (Jer 29), die Exilsprophetie des Jesajabuches (Jes 40–55) und des Propheten Ezechiel und die Exilspsalmen (Ps 126; 137). Im Neuen Testament setzt sich diese Linie fort, mit der Flucht der heiligen Familie nach Ägypten (Mt 2), der Wanderexistenz Jesu und seiner Jünger und Jüngerinnen, den Missionsreisen des Paulus und seiner Mitarbeitenden bis hin zur Benennung der frühen christlichen Gemeinde als „Leute des Weges“ (Apg 9,2; vgl. 11,19–26) und den Sprachbildern der Briefliteratur, die den Glauben ins Bild des Unterwegs-Seins setzen, so im Hebräerbrief mit dem Konzept des wandernden Gottesvolkes (Hebr 11), der Idee der Fremdlingschaft 1

Ausführliche Belege und umfangreiche Literatur zu den im Folgenden vertretenen Positionen finden sich bei Döhling, „... der die Fremden liebt“, 1–44.

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der Gemeinde im 1. Petrusbrief und des himmlischen Bürgerrechts bei Paulus (Phil 3,20). Oft ist dabei im Ersten Testament auch vom grundsätzlichen Mit-Gehen und Unterwegs-Sein (vgl. nur Gen 28,15; Ex 3,12; 33,16; 2Sam 7,4–8), einem Sich-Entfernen und Wieder-Annähern, gar einem InsExil-Gehen nicht nur der Menschen, sondern Gottes (Hos 5,15; Jer 23,8, Ez 11,22–23), kurzum von einer buchstäblichen Beweglichkeit und Wanderschaft Gottes die Rede. Im Neuen Testament spiegelt sich Gottes Beweglichkeit im Wanderleben des irdischen Jesus, aber auch in den Vorstellungen vom Kommen, Gehen und Bleiben des Gottessohnes (vgl. u.a. Joh 13–17). Dabei ähnelt der Aufbau der christlichen Bibel mit dem Bogen von der sog. Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3) bis zur Rückkehr in die Gemeinschaft mit Gott im neuen Jerusalem (Offb 21–22) auf den ersten Blick dem, was Forscher zirkuläre Migration nennen. Allerdings schließt sich der Kreis innerweltlich gerade nicht, so als könne die Migration geschichtlich je enden oder gar rückgängig gemacht werden. Sie „endet“ in der Herabkunft der Gottesstadt vom Himmel zu den Menschen (Offb 21,2), also damit, dass Gott selbst gleichsam mobil macht und irdisch Wohnung nimmt (V. 3). Ganz ähnlich ist es am Ende des jüdischen Kanons, der sich in der Buchreihenfolge vom christlichen Alten Testament unterscheidet. Er endet im 2. Chronikbuch mit dem sog. Kyrosedikt (36,22–23), in dem der persische König die weltweite Anerkennung des Gottes Israels und die Rückkehr aus dem Exil anordnet. Mit dem Stichwort hinaufsteigen knüpft der persische König an die Grunderzählung Israels vom Auszug aus Ägypten und dem Hinaufgehen (Ex 3,8) ins gelobte Land an. Dieser Text ist – obwohl zeitlich zurückliegend – aus der Kette der Vergangenheiten gelöst und ans Ende der jüdischen Bibel gerückt. So wird die Erinnerung an die Befreiung zur stets neuen Hoffnung. 2

Migrationsvergessenheit in Kirche und Theologie

So gewiss die Bibel auf Schritt und Tritt die Erfahrungen und Sehnsüchte von Migrantinnen und Migranten spiegelt, so wenig haben christliche Theologie und Kirche über Jahrhunderte diese grundlegende Bewegungsenergie ihrer Heiligen Schrift wahrgenommen. In ihren Hauptlinien konnten sie mit dem migrantischen Grundton der Bibel höchsten auf dem Wege der Verallgemeinerung und der Vergeistigung etwas anfangen. Die Rede war von der sprichwörtlichen „letzten Reis“ (Evangelisches Gesangbuch 503,15), angesichts derer

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alle „nur Gast auf Erden“ (Gotteslob 506) sind. Auch diese Vergeistigung kann sich auf die biblischen Texte berufen (vgl. Ps 119,19; Phil 3,20; Hebr 13,14); doch ist sie in der Bibel stets geerdet durch konkrete Schicksale der Wanderschaft oder Heimatlosigkeit und gespeist aus handfesten Erfahrungen, die die frühen christlichen und jüdischen Lesegemeinschaften machten. Dass Kirche und Theologie – bis auf wenige Ausnahmen, wie die Glaubensflüchtlinge der Reformationszeit – die Erdung der Heiligen Schrift in konkreten Migrationserfahrungen weithin ausblendeten, hat wohl damit zu tun, dass das Christentum seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. Staatsreligion war und also staatstragende Theologien zu liefern hatte, während Erzählungen eines buchstäblich beweglichen Glaubens und eines beweglichen Gottes potentiell gefährlich für Herrschaft und Ordnung wurden. Hinzu kommt, dass die Wandererrolle negativ besetzt war. Augustin, der einflussreichste Theologe der Alten Kirche und des Mittelalters, deutete vor dem Hintergrund der Erzählung von Kain und Abel (vgl. Gen 4,12) das Geschick des jüdischen Volkes, das nach dem sog. zweiten jüdischen Krieg aus der römischen Provinz Palästina vertrieben wurde, als Strafe für die Kreuzigung Jesu (Contra Faustum 12,12), sodass Wanderschaft und Verlust des Vaterlandes beinahe zum Synonym für das Bruder- und „Gottesmörderische“ wurden. Waren Kirche und Theologie in Europa jahrhundertelang gewohnt, die Texte vom grundlegenden Unterwegssein mit Gott und Gottes grundlegender Bewegtheit symbolisch zu lesen, so konnte noch im 19. Jahrhundert der deutsch-jüdische Dichter Heinrich Heine – auch er ein Migrant – die Bibel Israels „portatives Vaterland“2 nennen. Selbst die millionenfache Flucht und Vertreibung, die Europa in zwei Weltkriegen erlebte, hat die christliche Migrationsvergessenheit kaum verändert. Erst die Theologien der sog. Dritten Welt und die jüngsten Migrations- und Fluchtbewegungen machen unverkennbar, dass der Gesellschaft und den Kirchen Europas mit den Migrantinnen und Migranten eine verdrängte Wahrheit aus dem Zentrum der Bibel begegnet und gleichsam zurückgebracht wird. Ein geistig und geistlich „sesshaft“ gewordenes Christentum ist auch im Bibellesen herausgefordert, diese fremde, eigene Wahrheit neu sehen zu lernen.

2

Heine, Geständnisse, 4.

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Verdichtete Erfahrung – Migrationstexte der Bibel als Zusammenlebenswissen

Nicht zufällig beginnen beide Gründungserzählungen Israels, die Erzelterngeschichten und der Auszug aus Ägypten, in und mit der Fremde. Ähnlich weist das älteste Evangelium am Ostermorgen den Wunsch, den Auferstandenen zu sehen, zurück nach Galiläa (Mk 16,7), also in die zuvor erzählte Geschichte der Wanderschaft des irdischen Jesus. Es ist wichtig zu erkennen, dass sich in solchen Texten konkrete Erfahrungen der Fremdheit, des Exils und des Unterwegsseins verdichten. Den Erfahrungshintergrund bildet dabei die Geschichte des alten Israels und des frühen Judentums, die eine nahezu lückenlose Kette von Eroberungen und Unterwerfungen, Exilierungen und Vertreibungen ist. Auch in der Antike war der schmale Streifen fruchtbaren Landes zwischen Mittelmeer und Wüste, der den Libanon, das biblische Kanaan bzw. Israel-Palästina-Jordanien umfasst, begehrt und umkämpft. Er bildete wirtschaftlich, kulturell und militärisch die Brücke zwischen Mesopotamien und Ägypten. Über zwei Jahrtausende lösten sich hier die Imperien des Alten Orients und der Antike in fast ununterbrochener Folge von Kriegen, Besatzungen und Eroberungen im Kampf um die Vorherrschaft ab. Dies beginnt mit der Hegemonie Ägyptens über die Stadtstaaten Kanaans im 2. Jahrtausend v. Chr., aus deren Niedergang im 1. Jahrtausend v. Chr. das biblische Israel mit den beiden Königreichen Israel und Juda erwuchs. Mit dem Vordringen der mesopotamischen Mächte nach Westen im 8. Jahrhundert v. Chr. beginnt eine Epoche ununterbrochener Fremdherrschaft, die von der Vernichtung zuerst des Nordreiches Israel (722 v. Chr.) durch die Assyrer und sodann des Südreiches Juda (587 v. Chr.) durch die Babylonier über die Eroberungen der Perser (539) und den Siegeszug Alexander des Großen (323) bis zur Ankunft der Römer (68 v. Chr.) und zur Vertreibung der Juden im Jahre (135 n. Chr.) reicht. Für die dortigen Völker war die imperiale Unterwerfungs- und Ausbeutungspolitik mit dem Verlust der politischen und wirtschaftlichen Autonomie verbunden, aber auch mit stets neuem Krieg, unsäglichem Leid, brutaler Belagerung, Plünderungen, tausendfachem Tod und den Deportationen großer Bevölkerungsteile. Wie brutal die Eroberer vorgingen, zeigen Reliefs in assyrischen Palästen, die als kriegsverherrlichende Propagandabilder gedacht waren. Aber auch biblische Schreckenstexte von Hungertod und Kanni-

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balismus wie in den Klageliedern Jeremias (2,11.21; 4,9–10) oder Rachephantasien der Opfer gegenüber den Peinigern (Ps 137,8–9) belegen traumatisierende Gewalterfahrungen. Einige Historiker gehen davon aus, dass das Königreich Juda nach der Unterwerfung durch die Babylonier – durch Tod, Vertreibung oder Deportation – fast die Hälfte seiner Bevölkerung verlor.

Soldaten mit den Köpfen von Hingerichteten und geplünderten Waren (Assyrisches Relief), © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Die Migrationstexte der Bibel verdichten somit Erfahrungen, die Israel als tausendfache Erfahrung von Flucht und Exil, Wanderschaft und Unterwegssein gemacht und die es nicht etwa verdrängt, sondern als prägende und identitätsstiftende Erfahrung mit Gott gedeutet, bewahrt und weiterentwickelt hat. Als solche haben sie die Glaubensund Hoffnungs-, die Lebens- und Missionspraxis der Jesusleute und die Schriften des Neuen Testaments tief geprägt. Buchstäblich verdichtet sind diese Texte in doppeltem Sinn. Die Erzählungen über biblische Migrant_innen wie Abraham, Jakob, Mose und Miriam, Josef, Esther und Ruth komprimieren – erstens – die Schicksale ganzer Generationen, die ihre konkreten Migrations- und Fremdheitsgeschichten in diese Figuren hinein erzählten und in ihnen verkörpert sein ließen. Nicht von ungefähr etwa lebt der Migrant Jakob als Ein-

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zelner genau an den beiden Orten, wo auch die beiden großen Fremdheitserfahrungen des Volkes lokalisiert sind (Mesopotamien, Gen 28–32, und Ägypten, Gen 46–50), und nicht von ungefähr bekommt er just auf der Grenze zwischen Fremde und Heimat (Gen 32,28f.) den Streit- und Segensnamen Israel, den auch sein Volk trägt. Hieran zeigt sich zweitens, dass die biblischen Migrationstexte nicht rohe Fakten, die auch Historiker_innen oder Journalist_innen beschreiben könnten, protokollieren. Als Verdichtung sind sie auch Dichtung. Sie spiegeln und stärken die Sehnsucht, die Hoffnung und die Gewissheit, dass in solchen Geschichten Gott selbst wirksam und gegenwärtig ist, und verheißen, dass er es weiterhin sein wird. So gilt das, was die Literaturwissenschaft als besondere Stärke und Kraft von Migrationsliteratur beschreibt, allemal auch für die Bibel: dass sie die tausendfache Erfahrung von Flucht, von Vertreibung und Exil aufnimmt, aber diese im Erzählen auch verarbeitet und in Geschichten des Gelingens, der Rettung, des Weiter- und Zusammenlebens verwandelt. Diese verarbeitende und verändernde Kraft macht in Zeiten der Globalisierung und millionenfacher Flucht die Literatur von Migranten und Migrantinnen zum unverzichtbaren Teil des „Überlebens- und Zusammenlebenswissen“ der Menschheit. Literatur ist „mit ihren Erfindungen nicht mit der Realität und nicht mit dem Leben zu verwechseln [.... Doch sie ist mit dem Leben aufs engste verknüpft“. Sie „erfindet im Eigen-Sinn ihrer transarealen [d.h., Regionen und Gegenden übergreifenden, JDD Geschichten den Horizont des Neuen, des Künftigen“3. Was abstrakt klingt, ist zentral für die Rolle der Bibel im gegenwärtigen Ringen um Migration und für unseren meist einseitig problemund defizitorientierten Blick auf Migrantinnen und Migranten. Denn die Bibel, die somit gewissermaßen ein erfahrungssattes Fachbuch des Neuen und Künftigen ist, zeigt uns Flüchtende und Exilierte nicht zuerst als ohnmächtige Opfer und passive Hilfsbedürftige, sondern als selbstbewusste Subjekte des Glaubens und des Lebens, die ihr Schicksal und ihr Leben zu gestalten und zu deuten wissen. Ja mehr noch, sie zeigt Menschen, die sich darin von Gott getragen und begabt wissen und die genau damit die Grundlagen des jüdisch-christlichen Glaubens formten. 3

Ette, ZusammenLebensWissen, 63.

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Stellvertretend für viele andere seien drei grundlegende Texte skizziert, die zeigen, wie die Erfahrungen von Migration, Flucht und Vertreibung verarbeitet und zur Grundlage neuen Zusammenlebens wird: 4

Die Fremden und die eigene Freiheit – Exodus und Fremdenrecht

„Die Fremdlinge sollt ihr nicht bedrücken, denn ihr kennt das Herz des Fremden“ (Ex 22,20; 23,9). Dieser Kernsatz des Fremdenrechts steht fast wortgleich zweimal in einem Abschnitt des sog. Bundesbuches, einer älteren Rechtssammlung, die Teil der großen Erzählung vom Aufenthalt Israels am Sinai geworden ist, wo Mose nach dem Bericht der Bibel alle Gebote empfängt (Ex 19–Num 10), die fortan für das Zusammenleben gelten sollen. Auch wenn die Israeliten in der Logik der Erzählung tatsächlich noch vor kurzem Fremde in Ägypten waren (Ex 1–15), soll dieses Recht auch für alle weiteren Generationen gelten (vgl. Dtn 5,1–3). Das Herz der Fremden zu kennen, wird so zur Aufgabe, sich auch nach Generationen der Sesshaftigkeit aktiv als „fremd“ zu betrachten bzw. sich in die Fremden einzufühlen und sich eigener Fremdheit zu erinnern. Das ist bemerkenswert, denn in Migrationsfragen, auch den gegenwärtigen, behaupten die „Einheimischen“ gegenüber den Fremden gern, sie selbst seien „immer schon“ da gewesen. Obwohl oder weil sie allenfalls eher da und ihre Vorfahren früher selbst Migrant_innen waren. Die Wahrheit, dass „mein Vater ein Heimatloser, [...] dem Umkommen nahe, [...] schlecht behandelt und bedrückt“ war, hält Israel nach Dtn 26,5–8 an jedem Erntedankfest neu fest und macht sie als aktive und kritische Erinnerung zur Basis seiner Fremdenethik. Das Erinnern an das Herz, also die Gedanken und Empfindungen des Fremdseins wirkt doppelt: Es hält Freiheit als Gabe im Bewusstsein und holt die Einsicht wieder, das, was man jetzt an Sicherheit, Freiheit und Wohlstand hat, empfangen zu haben (vgl. Dtn 8). Gleichzeitig verhindert sie die Verewigung der Vergangenheit. Das Dunkle der Vergangenheit soll sich für die jetzt Fremden nicht wiederholen. Die Logik des „Uns gings auch nicht besser“, wie man sie einst in Kasernen und Internaten kannte, wo die älteren Jahrgänge die neuen immer neu schikanieren durften und so das alte Elend stets erneuerten, wird im Erinnern abgebrochen. Entscheidend ist, dass in der Exoduserzählung buchstäblich alles Recht an den Auszug aus Ägypten und den Ursprungsort des Sinai –

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also in die Zeit der ungesicherten und entbehrungsreichen Freiheit – zurückgeführt wird. Denn so wird jedes Recht gleichsam prinzipiell zum Recht von Befreiten und bekommt als großes Vorzeichen den Willen des Gottes, der „dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus geführt hat“ (Ex 20,1) und dessen Wille zur Freiheit im Recht bewahrt und bewährt werden soll. Was im Grundsätzlichen gilt, muss erst Recht im Konkreten gelten. Historisch wurden die Fremdenschutzverse aus Ex 22,20; 23,9 wohl bald nach der Vernichtung des Nordstaates Israel durch die Assyrer verfasst. Damit war das Nachbarreich Juda mit großen Mengen von Flüchtlingen, die Landbesitz und den Halt eigener Familienclanstrukturen verloren hatten, konfrontiert. Der Abschnitt Ex 22,20–23,9 legt das Recht der Fremden als Rahmen um weitere religiöse und soziale Rechte, etwa dem der Gleichheit vor Gericht, dem Schutz der Waisen und Witwen, humanem Zins- und Pfandrecht, dem Tierschutz, aber auch dem Gottesdienst. Diese zunächst merkwürdige Struktur von Rahmen und Zentrum zeigt erstens: Der Fremde ist gleichsam das Maß jeder Sozialgesetzgebung, denn er hat die sozial schwächste Position und steht darum unter Gottes besonderem Schutz. Zweitens aber sind in dieser Kombination von Rahmen und Zentrum – wohl rechtsgeschichtlich zum ersten Mal – Sozialgesetze und religiös-gottesdienstliche Bestimmungen, also – wenn man so will – Gottesliebe und Nächstenliebe, Kirche und Diakonie als vor Gott gleichwertig und aufeinander bezogen zusammengefasst. Diese Struktur setzt sich bis in Jesu Doppelgebot der Liebe (Mt 23,37– 40) hinein fort und hat sich tief in das Zentrum des jüdisch-christlichen Glaubens und in unsere Kultur eingegraben. Wenn die oben skizzierte historische Einordnung zutrifft, hat Israel diese Einsicht in das Wesen des Glaubens und das Wollen Gottes im Eingehen auf eine antike Flüchtlingskrise gewonnen. 5

Mit der Fremde leben – Die Erzelternerzählungen als Modelle multiethnischen Zusammenlebens

Vor dem Auszug aus Ägypten steht der große Erzählkranz der Erzelternerzählungen (Gen 12–50). Er erzählt in vielen Einzelgeschichten über vier Generationen (Abraham – Sara, Isaak – Rebekka, Jakob – Rahel / Lea und der folgenden Josefsgeschichte) die (Vor)Geschichte Israels als weitverzweigte Familiengeschichte. In der Vielfalt der Texte fallen gleichwohl durchgehende Linien auf: So gelten die Vorfahren vieler späterer Nachbarn Israels und gar manche bitteren Feinde als

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engere Verwandte der Abrahamssippe. Andererseits gibt es im Blick auf die Bewohner_innen Kanaans strikte Verbote der Heirat mit den Angehörigen des späteren Israel. Weiter fällt auf, dass die Abrahamssippe nach der Erinnerung Israels nicht nur aus dem Ausland kommt, nämlich von dort, wo auch das Volk im Exil ist. Es wird auch von jeder Generation der Erzeltern erzählt, dass sie mindestens einmal im Ausland als Fremde gelebt hat. Nicht zuletzt heißt es immer wieder, dass sie auch in Kanaan, das ihnen verheißen ist, „als Fremdlinge“ (vgl. Gen 20,1; 26,3; 37,1) leben. Wie die Exodustradtion erfahrene Unfreiheit und politische Freiheitshoffnungen vieler Jahrhunderte spiegelt, verarbeiten auch die Erzeltern-Erzählungen Erfahrungen vieler Epochen. Das Augenmerk der Ausleger lag dabei lange auf Israels Frühzeit, dessen nomadische Vätergott-Religion man in den Geschichten der Erzeltern zu entdecken suchte. Tatsächlich geht es oft um die Überlebensfragen kleiner Leute, um Brunnen- und Weiderechte, Erbe, Heirat und Geburten, den Fortbestand der Familie. Fragen der Weltpolitik und der Großmächte, die in den Exodustexten, den Geschichts- und Prophetenbüchern prominent sind, kommen kaum vor. In jüngerer Zeit aber ist immer mehr aufgefallen, dass die Erzelterntexte zwar von einer Zeit erzählen, in der Israel noch kein festes Territorium, keine eigenen staatlichen Strukturen und kein Staatsheiligtum hatte, dass die o.g. Themen aber auch in Zeiten passen, in der Israel all dies nicht mehr hatte. In der Tat haben die Texte ihre vorliegende Gestalt wohl erst im und nach dem sog. babylonischen Exil erhalten. Zwar durften ab 520 v. Chr. – also nach etwa drei Generationen – die nach Babylon verschleppten Judäerinnen und Judäer auf Befehl des jetzt persischen Herrschers Kyros nach Juda zurückkehren. Doch war die Heimat nicht das einst stolze davidische Königtum, sondern eine fremdregierte Randprovinz des Perserreiches, bewohnt von Nachkommen derer, die einst nicht deportiert worden waren und von anderen ebenfalls unterworfenen Nachbarvölkern, die auf (ehemals) judäischem Territorium siedelten. Wer in der Fremde lebt – oder wem die alte Heimat fremd geworden ist –, wer Staat und Tempel, Land und Dynastie verlor, dem wird – nicht unähnlich heutigen Migrantencommunities – die Familie zum bestimmenden, weil einzig verbliebenen Zentrum der Identität. Ebenso wird die in der Familie gelebte Religion die oft einzig mögliche Form der Religionsausübung. Der Kontakt mit und die Abgrenzung von „den anderen“ aber – wie er sich in den Erzählungen um Heirat, Segen, Nachkommenschaft, Weide-, Brunnen- und Landkonflikte

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findet – wird zum bestimmenden Thema des Alltags. Darum sind die Erzeltern von einem Ausleger geradezu als „ideal immigrants“, als vorbildliche Einwanderer, bezeichnet worden und die Forschung liest die exilisch-nachexilischen Erzelternerzählungen als Modelle der Konvivenz, also des friedlichen Zusammenlebens in einer multiethnischen und multi-religiösen Gesellschaft unter den Bedingungen von imperialer Macht. Wie nun beschreiben die Erzelterntexte dieses Zusammenleben mit den Angehörigen anderer Ethnien und anderen Glaubens und worin sehen sie es ermöglicht? Zunächst fällt auf, dass die Geschichten einerseits selbstverständlich davon ausgehen, dass das Land Kanaan den Nachkommen Abrahams und Sarais – also Israel – zugeeignet ist. Andererseits aber ist es so, dass jede Generation die zugeeignete Verheißung neu realisieren muss. Man kann sich also gerade nicht darauf berufen, „immer schon hier gewesen“ zu sein. Auch ist – anders als in manchen modernen Integrationskonzepten – keineswegs Gleichheit der Lebenshaltungen und -stile das Ideal. Für die eigene Identität halten die Erzelterngeschichten vielmehr eine gewisse Absonderung der Lebensbereiche und etwa ein genaues Achten darauf, dass Eheschließungen innerhalb der (erweiterten) Familie stattfinden, für wesentlich. Vor allem aber wird aus der Verheißung des Landes an die Nachkommen Abrahams und aus der Abtrennung der Lebensbereiche keineswegs die Vertreibung oder gar die Ausrottung der anderen Bewohner_innen des Landes gefolgert. Im Gegenteil, offenbar gilt gerade das „fremd im eigenen Land“ zu leben als Realisierung der Verheißung. Die einzige Art von echtem Landbesitz – eine Grabstelle – wird dezidiert käuflich erworben (Gen 23). Die Bedingungen des Zusammenlebens werden offenbar je konkret ausgehandelt. Diejenigen Situationen, in denen die Beziehungen zwischen der Abrahamssippe und den Bewohner_innen Kanaans auch angesichts von Konflikten gelingen, enthalten dabei immer auch einen gemeinsamen Bezug aller Beteiligten auf Gott. Mit anderen Worten: Die religiöse Dimension ermöglicht wechselseitige Anerkennung; während da, wo die Beziehung misslingt, keine religiöse Kommunikation möglich ist oder selbst das Wort Gott explizit fehlt (Gen 19,1–14; 34).

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Da die Texte aus der Perspektive Israels denken, verwundert es wenig, dass in gelingenden Begegnungen die Bewohner_innen des Landes die besondere Gottesbeziehung Israels anerkennen (Gen; 23,6; 14.19f). Doch bemerkenswerter Weise wird auch die Gegenbewegung vollzogen und betont, dass auch die Nicht-Israeliten und NichtJhwh-Gläubigen eigene Gottesbeziehungen haben (16,13–14), die wiederum auch die Repräsentanten Israels (an) zu erkennen lernen. Eindrücklich zeigen dies die Erzählung von Abraham, der mit seiner – als äußerst attraktiv – geschilderten Frau Sarai als Fremdling im Königtum von Gerar lebt, Sarai aber aus Angst um sein Leben als seine Schwester ausgibt, sodass sie vom König zur Frau genommen wird (Gen 20). Die Erzählung beeilt sich zu betonen, wie anständig sich dieser gegenüber Sarai verhielt, und lässt dann Gott selbst mit dem fremden König im Traum sprechen und ihn über die bereits bestehende Ehe Sarais mit Abraham aufklären. So wird einerseits betont, dass selbst, wenn die Menschen das Prinzip der Endogamie, also der Heirat in der eigenen Sippe in Fragen stellen würden, Gott selbst doch davon nicht abrückt. Andererseits aber geht das Festhalten am Eigenen mit dem (An)Erkennen der Gottesbeziehung der anderen einher (vgl. Gen 16,1–16; Gen 33,9): Vom empörten König zur Rede gestellt antwortet Abraham entschuldigend: „Ich wusste ja nicht, dass Gottesfurcht auch an diesem Ort ist“ (Gen 20,11), und benennt damit, was das nachexilische Israel in der multiethnischen Provinzgesellschaft Juda nach Ansicht der Erzählung im Gegenüber zu den Angehörigen anderer Völker und Religionen nach dem Willen seines eigenen Gottes lernen kann. 6

Das Neu-Erzählen der Grenzen – das Buch Ruth als kreative Öffnung der migrantischen Grunderzählungen Israels

„Warum fand ich Gnade in deinen Augen, [...] da ich doch eine Ausländerin bin?“ (Ruth 2,13) So fragt die moabitische Witwe Ruth Boas – einen Israeliten und ihren späteren Mann –, als er ihr, der Ausländerin, mehr als das innerhalb Israels geltende Recht des Ährenlesens (Dtn 24,19ff) nämlich die Möglichkeit, sich als Arme von den Ernteresten zu ernähren, gewährt. Dass das Zusammenleben in der fremden Heimat, der persischen Provinz Jehud, für die Rückkehrenden aus dem Exil keineswegs einfach und konfliktfrei war, belegen die Bücher Esra und Nehemia. Gerade die Frage der Abgrenzung zwischen im Land lebenden Ethnien war virulent und hier wiederum besonders das Verbot, über ethnische Grenzen hinweg zu heiraten. So legen Esra 9,1;10,15; (vgl. Neh

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13,23–27) explizit fest, gar bestehende Ehen mit Nichtisraelitinnen seien aufzulösen. Einblick in die Tiefe der Konflikte, Vorurteile und gegenseitige Abneigung gibt auch das, was die in dieselbe Zeit weisende Bestimmung Dtn 23,4–7 anordnet: Zwar können Angehörige des – auf den Stammvater Esau zurückgeführten – Brudervolkes Edom „in die Gemeinde Jhwhs“ aufgenommen werden, ebenso Ägypter – „denn du bist ein Fremdling bei ihnen gewesen“ –, nicht aber die Moabiter, da sie Israel „auf dem Weg“ in der Wüste „nicht mit Brot und Wasser“ versorgt hätten. Das Ruthbuch ist eine präzise Gegenerzählung gegen diese Ausgrenzung aufgrund negativer Erfahrung. Es stellt schon die Ausgangssituation des Moabiterverses auf den Kopf, wenn es die Israelitin Noemi ist, die während einer Hungersnot in Moab Aufnahme und Familie findet. Wenn sie dort später mit ihrer moabitischen Schwiegertochter Ruth nach Israel zurückkehrt, weil Gott Israel „wieder Brot gegeben“ habe, stellt sich für die beiden verwitweten Frauen und die Leser die Frage, ob dies auch für sie (beide) gilt. Die Pointe des Buches ist, dass es gerade Ruth, die (angeblich) unsolidarische Moabiterin, ist, die schon „auf dem Weg“ der verwitweten Israelitin Noemi die Treue hält (Ruth 1,6-16), sie mit Brot versorgt und die dafür sorgt, dass nicht nur sie selbst, sondern eben Noemi, die Israelitin, den Weg zurück in die jüdische Gemeinschaft findet. Durch Ruth kommt eine Kaskade von Gabe und Gegengabe in Gang – die als Segen des Gottes Israels benannt wird (2,19; 3,10; 4,14) – sodass am Ende sie der Israelitin Brotgetreide zu essen gibt (2,18) und umgekehrt der Israelit Boas Ruth mit Brot (2,14) und Wasser (2,8) versorgt. Nicht zufällig betont Noemi erst im Zusammenhang der Aufnahme und Teilhabe Ruths am Leben in Israel, dass in sie – die jüdische Migrantin – „das Leben zurückgekehrt“ (4,14–15) sei. So wird deutlich: Auch für die Identität der Einheimischen – die de facto auch nur Migrant_innen waren – ist die Aufnahme der Fremden heilsam. Schon hier ist ausgedrückt, was der überraschende Epilog des Buches noch bekräftig, wenn Ruth – als Urgroßmutter König Davids (4,18–22; vgl. Mt 1,5) – zur Stammmutter der nationalen Identifikationsfigur Israels schlechthin wird. Die Logik der Abgrenzung und Konkurrenz – wie sie Dtn 23,4–7 propagiert – wird in der kreativen Neu-Erzählung und dem Öffnen der eigenen Migrationserfahrungen und Migrationsgeschichten buchstäblich unterwandert. Die eigene (migrantische) Geschichte kommt erst in der Aufnahme anderer Ankömmlinge in die Gemeinschaft und

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in der Teilgabe an den eigenen Lebensmöglichkeiten zum Ziel. Sie gereicht Gott zum Lob (4,15) und wird allen zum Segen. Literatur Döhling, Jan-Dirk, „... der die Fremden liebt und ihnen Brot und Kleidung gibt“ (Dtn 10,18) – Arbeit, Migration und Ethik in den Grunderzählungen Israels, Ethik und Gesellschaft 1 (2014), 1–44, online: http://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/ article/view/2-2013-art-1/50 (Zugriff 20.7.2016). Ette, Ottmar, ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Weltmaßstab (ÜberlebensWissen III), Berlin 2010. Heine, Heinrich, Sämtliche Schriften, Band IV: Geständnisse, München 1995.

Sigrid Graumann

Überlegungen zu einer ethisch vertretbaren Flüchtlingspolitik

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Die Flüchtlingskrise als Gesellschaftskrise

In der sogenannten Flüchtlingskrise wird eine gesellschaftliche Spaltung deutlich: Während sich eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern – darunter viele Kirchengemeinden – in der Unterstützung von Geflüchteten engagieren, trüben brennende Flüchtlingsunterkünfte und rechte Demonstrationen gegen eine vermeintlich zu liberale Flüchtlingspolitik das Bild der „Willkommenskultur“. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass einige Philosophen und evangelische Theologen den in den Willkommensinitiativen engagierten Bürgerinnen und Bürgern sowie den kirchlichen Amtsträgerinnen und -trägern, die sie darin politisch unterstützen, gesinnungsethischen „Moralismus“ vorwerfen.1 Das ist angesichts der beispiellosen Hilfsbereitschaft, die in den Willkommensinitiativen gezeigt wird, nicht fair. Sie selbst nehmen für sich in Anspruch, verantwortungsethisch vor den Folgen eines ungebremsten Zustroms von Geflüchteten zu warnen. Ich halte allerdings die Unterscheidung des Soziologen Max Weber zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik hier für unpassend. Soziologinnen und Soziologen erklären die unterschiedlichen Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger auf die Flüchtlingskrise wie folgt: Auf der einen Seite sehen sie das Engagement in den Willkommensinitiativen nicht nur als Ausdruck von Menschlichkeit und Nächstenliebe, sondern auch als politisches Votum gegen die Abschottung der Wohlstandsinsel, in der wir leben. Offenbar sehen viele Bürgerinnen und Bürger die Flüchtlinge als Opfer einer globalisierten Welt, die auf Grund wachsender sozialer Ungleichheit, zunehmender politischer Krisen und oft kriegerisch ausgetragener Interessenskon1

Vgl. Ott, Zuwanderung und Moral; Körtner, Mehr Verantwortung, weniger Gesinnung.

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flikte aus den Fugen geraten ist. In dieser unüberschaubaren Situation wenigstens einen kleinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten zu wollen, motiviert viele in ihrem Engagement in den Willkommensinitiativen. Sollte das nicht als gelebte Verantwortungsethik angesehen werden? Auf der anderen Seite wird aus soziologischer Sicht der Hauptgrund für die Beschwörung einer konservativen Wertegemeinschaft, die damit einhergehende Fremdenfeindlichkeit und den Zuspruch rechter Parteien in der Angst vor gesellschaftlicher Unsicherheit und insbesondere vor sozialem Abstieg der Mittelschichten gesehen. Das eigentliche Problem hinter dem Erstarken der politischen Rechten sind also Ängste, die in den beschriebenen gesellschaftlichen Spannungen und politischen Krisen begründet sind. Eine noch restriktivere Flüchtlingspolitik wird diese Probleme nicht lösen können. Die richtige Antwort darauf wäre eine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die der wachsenden sozialen Ungleichheit und Unsicherheit entgegentritt und in der Integration so gestaltet wird, dass dies nicht zu Lasten anderer benachteiligter Bevölkerungsgruppen geschieht. Aber was kann ethische Reflexion angesichts der Flüchtlingskrise beitragen? Eine Beschwörung der „Willkommenskultur“ reicht sicher nicht aus. Individuell fühlen sich viele Bürgerinnen und Bürger zur Hilfe und Unterstützung von Geflüchteten moralisch verpflichtet. Ethisch betrachtet, handelt es sich dabei um lobenswertes tugendhaftes Handeln von Bürgerinnen und Bürgern, das kirchlicherseits unterstützenswert ist und auch staatlicherseits unterstützt werden sollte, jedoch weder erzwungen werden kann und noch darf. Aufgabe einer politischen Ethik der Flüchtlingskrise sollte dagegen sein, danach zu fragen, wozu wir als Gesellschaft – und stellvertretend für uns Regierung und staatliche Stellen – gegenüber Menschen verpflichtet sind, die auf der Flucht sind und Hilfe suchen. Hilfen, die als gesellschaftlich verpflichtend ausgewiesen werden können, sind solche, die nicht nur dann geleistet werden sollen, wenn Bürgerinnen und Bürger zu freiwilliger Solidarität bereit sind. Das heißt, es sollte konkret gefragt werden, ob Nothilfe für Geflüchtete geleistet werden muss oder verweigert werden darf? Darüber hinaus muss danach gefragt werden, ob wir zu dauerhafter Aufnahme und Integration von Geflüchteten verpflichtet sind. Mit Blick auf diese beiden Fragen werde ich zunächst auf die aktuelle philosophische Kontroverse über Migrationsrechte eingehen. In dieser Debatte wird von kommunitaristischer Seite ein gemeinschaftliches Recht auf politisch-kulturelle Selbstbestimmung postuliert, das beinhaltet, Migrantinnen und Migranten zurückweisen zu dürfen. Dem wird von liberaler Seite ein Menschenrecht auf globale Be-

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wegungsfreiheit entgegengehalten. Ich werde zeigen, dass beide Seiten keine zufriedenstellenden Antworten auf die Fragen, die sich angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise stellen, bieten können. Was die Kontroverse aber deutlich macht, ist, dass eine restriktive Flüchtlingspolitik unter einem großen ethischen Rechtfertigungsdruck steht. Im Anschluss daran werde ich selbst eine zweistufige Argumentation vorschlagen, in der zwischen der Verpflichtung zur Nothilfe für Geflüchtete und der Verpflichtung zur Integration von dauerhaft bleibenden Migrantinnen und Migranten unterschieden wird. Dabei beziehe ich mich im ersten Schritt auf Immanuel Kants „Weltbürgerrecht“ und Hannah Arendts „Recht auf Rechte“ und im zweiten Schritt auf Seyla Benhabibs „Recht auf politische Zugehörigkeit“.2 2 2.1

Die aktuelle Kontroverse über Migrationsrechte Die kommunitaristische Verteidigung fester Grenzen

Michael Walzer3 postuliert in der Kontroverse über Migrationsrechte einen kollektiven Anspruch auf politisch-kulturelle Selbstbestimmung und argumentiert, dass eine gerechte Verteilung von Gütern in einer unbegrenzten Welt die Ziehung von festen Grenzen um politische Gemeinschaften voraussetze, innerhalb derer die Güter verteilt werden. Eine Welt ohne Grenzen hält er zwar für denkbar, nicht aber für realisierbar. Er versteht Mitgliedschaft als ein Gut, das diejenigen, die bereits Mitglied der politischen Gemeinschaft sind, denjenigen, die Zugang begehren, geben oder verweigern können. Damit verteidigt er die moralische Zulässigkeit von Ein- und Zuwanderungsbeschränkungen; diese dienten dem Zweck, Freiheit und Wohlfahrt sowie Politik und Kultur einer Gruppe von Menschen, die sich einander verbunden fühlen und Lebensvorstellungen teilen, zu bewahren. Dies entspricht der Haltung der oben genannten Kritiker der aktuellen „Willkommenskultur“ hierzulande. An Walzers Position wird kritisiert, angesichts des Wertepluralismus moderner Gesellschaften fälschlicherweise von uniformen, geteilten Vorstellungen vom guten Leben auszugehen.4 Außerdem würde damit auf eine Vereinheitlichung kultureller Identitäten Bezug genom2

Vor dem Hintergrund des Schicksals der europäischen Juden ist es sicher kein Zufall, dass es gerade zwei jüdische Philosophinnen sind, die elementare und differenzierte Beiträge zur Diskussion über die Rechte von Geflüchteten vorgelegt haben. 3 Walzer, Einwanderung. 4 Mona, Recht auf Einwanderung oder auf politisch-kulturelle Selbstbestimmung?

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men, die problematisch sei, weil sie, wie die historische Erfahrung zeige, nach innen wie nach außen Menschen ausschließt.5 Joseph Carens wendet außerdem gegen Walzer ein, dieser führe keine universellen moralischen Prinzipien für ein „Recht auf Ausschluss“ an, sondern beziehe sich lediglich auf die geteilten Werte der jeweiligen Gemeinschaften.6 Zu den zentralen Werten der westlichen Demokratien gehören aber Freiheit, Gleichheit und die Menschenrechte, mit denen ein „Recht auf Ausschluss“ nicht zu vereinbaren ist. Aber auch unabhängig von dieser durchaus berechtigten Kritik können mit Walzer keineswegs Forderungen nach einer restriktiveren Flüchtlingspolitik ausgewiesen werden. Zwar müssten nach Walzer „in Not geratene Fremde“ nicht generell aufgenommen werden, sofern ihnen an dem Ort, an dem sie sich befinden, geholfen werden könne. Sofern es Geflüchteten aber an einem „nicht exportierbaren Gut“, der Zugehörigkeit, mangele, bestehe zumindest in gewissen Grenzen die moralische Verpflichtung, sie aufzunehmen.7 2.2

Die liberale Forderung transnationaler Bewegungsfreiheit

Die Gegenposition zu Walzer wird von Vertreterinnen und Vertretern des politischen Liberalismus wie Joseph Carens vertreten. Von dieser Seite wird in der Debatte über Migrationsrechte für ein Menschenrecht auf transnationale Bewegungsfreiheit argumentiert.8 Dabei wird auf ein universelles Recht auf Autonomie Bezug genommen und argumentiert, dass „jedem Menschen ein grundsätzliches Interesse an Bewegungsfreiheit anzuerkennen [sei] – ohne Rücksicht auf kontingente Umstände“. Dieses moralische Recht könnte auch durch die „ordnungspolitischen Folgeprobleme offener Grenzen“ nicht generell außer Kraft gesetzt werden.9 Die Asymmetrie im Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit, das zwar umfasse, das eigene Land verlassen zu dürfen, nicht aber, in ein anderes Land frei einreisen zu dürfen, sei nicht haltbar.10 Grenzen sollten „grundsätzlich offen und Menschen normalerweise frei sein […], ihr Herkunftsland zu verlassen und sich in einem anderen Land niederzulassen, wobei sie nur solchen Beschränkungen unterworfen sein sollten, die auch für die jetzigen Bürgerinnen des Einwanderungslandes gelten.“11 Carens verteidigt 5 6 7 8 9 10 11

Benhabib, Die Rechte der Anderen, 29. Carens, Fremde und Bürger, 39. Walzer, Einwanderung, 128. Carens, The Ethics of Immigration. Angeli, Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss, 177–178. Brezger, Zur Verteidigung des internationalen Rechts auf Bewegungsfreiheit. Carens, Fremde und Bürger, 24.

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diese Position, in dem er zeigt, dass aus der Perspektive von drei Ethiktheorien, die zusammen, wie er meint, den moralischen „Mainstream“ unter den europäischen Bürgerinnen und Bürgern repräsentieren, der Ausschluss von Migrantinnen und Migranten nicht schlüssig legitimiert werden kann. Carens erste Referenztheorie ist die „eigentumsrechtliche Tradition“ des klassischen Liberalismus. Demnach hätten alle Individuen die gleichen Rechte, Eigentum zu erwerben, zu gebrauchen und freiwillige Tauschbeziehungen mit anderen einzugehen. Das hieße, wenn jemand Migrantinnen und Migranten beschäftigen oder mit ihnen Handel treiben wolle, dürfe der Staat das nicht unterbinden. Dem Staat käme kein Recht zu, Einwanderung einzuschränken, aber auch keine Verpflichtung, Einwanderer bei der Integration zu unterstützen.12 Carens zweite Referenztheorie ist John Rawls Konzept eines Wohlfahrtsstaats, in dem Regeln für den Schutz von Grundrechten und Freiheiten sowie Chancengleichheit und eine gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen gelten würden. Diese Regeln würden die Individuen in einer fiktiven ursprünglichen Vertragssituation unter einem „Schleier des Nichtwissens“ gemeinsam festlegen, wobei sie keine Kenntnisse über den eigenen sozialen Status, die ethnische Zugehörigkeit, das Geschlecht etc. hätten. Da die Vertragsparteien damit rechnen müssten, nach dem Lüften des Schleiers zu einer benachteiligten Gruppe zu gehören, würden sie sich für die Regeln entscheiden, mit denen benachteiligte Gruppen am besten gestellt wären. Carens nimmt an, dass dabei die ursprünglichen Vertragsparteien unter dem Schleier des Nichtwissens auch keine Kenntnis darüber hätten, ob sie „Bürger eines bestimmten Staates oder ein Fremder, der Bürger werden möchte“, sind. Die Konsequenz wäre, dass das „Prinzip der Migrationsfreiheit“ in der „idealen Theorie“ zum zentralen Bestandteil einer gerechten sozialen Ordnung gehören müsste. Die dritte Referenztheorie ist der Utilitarismus mit seinem Moralprinzip der Nutzenmaximierung, dem zufolge alle Konsequenzen einer ungesteuerten Zuwanderung mit ihren Vor- und Nachteilen für alle Betroffenen in Rechnung gestellt werden müssten. Dabei seien unterschiedslos alle Interessen gleichermaßen einzubeziehen, auch die der Einwanderungswilligen, weswegen es kaum möglich sein dürfte, Einwanderungsbeschränkungen zu rechtfertigen.13 Daraus leitet Carens ab, dass die gegenwärtigen Einwanderungsbeschränkungen 12 13

Carens, Fremde und Bürger, 27–36. Carens, Fremde und Bürger, 36–38.

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der westlichen demokratischen Staaten nicht zu rechtfertigen seien: „Sie wirken wie feudale Mobilitätsschranken und schützen ungerechte Privilegien.“14 Carens kann damit zumindest deutlich machen, dass ein „Recht auf Ausschluss“ nicht so selbstverständlich zu rechtfertigen ist, wie das die Vertreterinnen und Vertreter einer restriktiven Flüchtlingspolitik offenbar annehmen. Dennoch kann seine Argumentation für offene Grenzen nicht überzeugen.15 Am stärksten scheint das liberale Argument vorgebracht gegenüber Vertreterinnen und Vertretern wirtschaftsliberaler Positionen zu sein, die Regulierungsaufgaben des Staates generell auf ein Minimum beschränkt sehen möchten. Integrationsförderung und sozialstaatliche Unterstützung von Migrantinnen und Migranten fielen dann aber aus.16 Ohne sozialstaatliche Integrationsförderung aber wäre der soziale Friede wohl tatsächlich bedroht, wie Konrad Ott befürchtet.17 Am Schwächsten ist das utilitaristische Argument, weil es im Utilitarismus generell schwierig ist, moralische Rechte zu begründen. Letztlich könnte jedes moralische Recht zur Disposition stehen, wenn das nur dem Gesamtnutzen dient. Dabei wären die Rechte von Minderheiten besonders gefährdet, gegen mächtigere Interessen aufgerechnet zu werden. Mit dem Bezug auf Rawls Theorie sozialer Gerechtigkeit könnte den Herausforderungen der heutigen Flüchtlingspolitik möglicherweise besser Rechnung getragen werden, weil sich so auch notwendige Ansprüche auf Unterstützung prinzipiell begründen lassen. Dem steht allerdings entgegen, dass sich Rawls nur mit Regeln innerhalb bestehender Gesellschaften18 und mit Regeln zwischen Staaten19 auseinandersetzt. Regeln für die Beziehung von Menschen zu Staaten, deren Bürgerinnen und Bürger diese nicht sind, sind in Rawls Theoriekonzept nicht vorgesehen. 2.3

Zwischenfazit: Eine differenziertere Betrachtung tut Not!

Die bisher angesprochenen Positionen zu Migrationsrechten können offensichtlich keine zufriedenstellenden Antworten anbieten. Die geteilten Werte, auf die sich Vertreterinnen und Vertreter kommunitaristischer Positionen in einer wertepluralen Welt allenfalls stützen können, sind nicht partikulare Bürgerrechte, sondern die allgemeinen 14 15 16 17 18 19

Carens, Fremde und Bürger, 44. Vgl. Ladwig, Offene Grenzen als Gebot der Gerechtigkeit? Schaber, Das Recht auf Einwanderung. Ott, Zuwanderung und Moral. Rawls, Politischer Liberalismus. Rawls, The Law of Peoples.

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Menschenrechte. Damit aber lässt sich eine restriktive Flüchtlingspolitik gerade nicht rechtfertigen. Die allgemeinen Migrationsrechte, die Vertreter_innen mit einer autonomiebasierten Argumentation ausweisen, laufen dagegen ins Leere, solange ungeklärt ist, an welche Adressaten sich die damit verbundenen Verpflichtungen konkret richten. Offenbar ist also eine differenziertere Betrachtung notwendig. Hierfür bietet es sich an, mit Kant nicht von moralischen Rechten, sondern von moralischen Pflichten her zu denken. 3 3.1

Welche Verpflichtungen haben wir gegenüber Geflüchteten? Anerkennung Geflüchteter als Rechtssubjekte

Die entscheidende Voraussetzung für die wirkungsvolle Anerkennung als Person mit gleicher Würde und gleichen Rechten ist die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Das aber ist, wie selbst Walzer einräumt, für Geflüchtete nicht gegeben.20 Die Missachtung der Menschenrechte von Geflüchteten ist daher weder ein örtlich – auf einzelne Staaten – noch ein zeitlich – auf bestimmte historische Situationen – begrenztes Problem, sondern „ein grundlegendes Konstruktionsproblem von nationalstaatlichen Demokratien.“ Da sich diese aber auf die Werte Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte gründen, setzen sie ihre „Exklusionspraktiken“ gegenüber Geflüchteten unter einen erheblichen moralischen Rechtfertigungsdruck.21 Darin zeigt sich eine erhebliche Spannung zwischen Ethik und Recht: Ethisch lässt sich die Verpflichtung demokratischer Nationalstaaten auf die universelle Geltung der Menschenrechte nicht ohne Selbstwiderspruch bestreiten, rechtlich aber wird nur den eigenen Bürgerinnen und Bürgern der gleiche Schutz ihrer Rechte gewährt: Geflüchteten wird ein „Recht, Rechte zu haben“ verwehrt.22 Im Mittelpunkt der Ideale der Aufklärung steht die Idee der Menschenrechte, nach der „alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind“ (AEMR Art. 1). Eine Unterscheidung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern eines Landes und Fremden kommt hier nicht vor. Menschenrechte sind der Idee folgend moralische Rechte, die alleine in der Vernunft des Menschen begründet sind und gerade nicht in der Mitgliedschaft in einer Gruppe, einem Stand oder einer Nation. Im Umgang mit Geflüchteten wird allerdings, wie 20

Vgl. Walzer, Einwanderung, 128–131. De la Rosa, Warum wir EuropäerInnen keine guten DemokratInnen sind. 22 Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, 760; Benhabib, Ein anderer Universalismus, 56. 21

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Hannah Arendt angesichts der Millionen Geflüchteten und Vertriebenen im Zweiten Weltkrieg feststellte, eine „Aporie“ der Menschenrechte deutlich: Das Unglück von Geflüchteten sei nicht, „dass sie des Lebens, der Freiheit, des Strebens nach Glück, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Meinungsfreiheit beraubt sind; ihr Unglück ist mit keiner der Formeln zu decken, die entworfen wurden, um Probleme innerhalb gegebener Gemeinschaften zu lösen. Ihre Rechtlosigkeit entspringt einzig der Tatsache, dass sie zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft mehr gehören.“23 Wenn wir die Menschenrechte ernst nehmen, heißt das, dass wir dazu verpflichtet sind, Geflüchtete als Rechtssubjekte anzuerkennen. 3.2

Nothilfe für Geflüchtete

Seyla Benhabib legt eine Begründung von Migrationsrechten vor, mit der auch der von Hannah Arendt beklagten „Aporie“ der Menschenrechte von Geflüchteten begegnet werden kann. Dafür müssen verschiedene moralische Verpflichtungen gegenüber Geflüchteten in den unterschiedlichen Phasen ihrer Migration unterschieden werden. Die erste Phase der Migration ist die Ausreise aus dem eigenen Land, an die sich die Einreise in ein Gastgeberland anschließt. Es folgt die „vorübergehende Aufnahme in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systeme des Gastlandes zum Zweck der Einreise“. Gegebenenfalls kommt es dann zur dauerhaften Niederlassung im Gastland.24 Dementsprechend sind in der ethischen Reflexion zwei unterschiedliche Fragen zu behandeln: erstens, ob Staaten die Pflicht haben, Menschen, die nicht ihre Bürgerinnen und Bürger sind, ein Recht auf Zuflucht zu gewähren, und zweitens, ob es eine staatliche Verpflichtung gibt, Menschen, die dauerhaft auf ihrem Territorium leben, die Einbürgerung zu ermöglichen und damit ein Recht auf Zugehörigkeit zuzugestehen. Benhabib geht in ihrer Rechtfertigung von Migrationsrechten von Kants Weltbürgerrecht aus,25 das die Beziehung zwischen Menschen und ausländischen Staaten regelt und jedem Menschen, der in friedlicher Absicht in ihr Territorium einreist, ein „Besuchsrecht“ verleiht, „welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten“ und „nicht feindselig behandelt“ zu werden.26 Das Weltbürgerrecht ist allerdings nach Kant kein dauerhaftes Gastrecht, sondern nur ein temporäres Besuchsrecht – begründet im gemeinsamen Besitz der Er23 24 25 26

Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, 759. Benhabib, Die Rechte der Anderen, 137. Benhabib, Die Rechte der Anderen, 36–55. Kant, Zum ewigen Frieden, 214.

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de. Benhabib beruft sich in ihrer weiteren Argumentation auf das Verhältnis von Ethik und Recht bei Kant:27 Mit Kant ist von einer Rechtsordnung zu fordern, dass sie mit dem moralischen Gesetz vereinbar ist.28 Das moralische Gesetz schreibt aber vor, jeden Menschen als Zweck in sich selbst, das heißt als Person mit gleicher Würde und gleichen Rechten anzuerkennen.29 Für die ethischen Anforderungen an eine Rechtsordnung heißt das, dass nicht nur die moralischen Rechte der eigenen Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die moralischen Rechte von Fremden durch sie zu achten und zu schützen sind.30 Außerdem bringt die Anerkennung als Person mit gleicher Würde und gleichen Rechten auch die moralische Verpflichtung mit sich, zum Wohlergehen anderer Menschen beizutragen. Dabei sind mit Kant Tugendpflichten und Rechtspflichten zu unterscheiden. Tugendpflichten zu Wohltätigkeit sind als moralische Selbstverpflichtungen zu verstehen, die einen gewissen Spielraum für Interpretationen lassen, wann sie gegenüber wem in welcher Form ausgeübt werden. Sie dürfen nicht erzwungen werden, insofern die Freiheitseinschränkung der zu Wohltätigkeitshandlungen gezwungenen Person nicht zumutbar wäre.31 Das wäre etwa der Fall, wenn Geflüchtete zwangsweise im privaten Wohnraum von Bürgerinnen und Bürgern untergebracht werden würden, was ja im Nachkriegsdeutschland eine übliche Praxis war. Und auch die ehrenamtliche Unterstützung von Geflüchteten, die viele Bürgerinnen und Bürger derzeit so vorbildlich leisten, darf der Staat nicht von ihnen erzwingen. Rechtspflichten dagegen können und dürfen staatlich erzwungen werden, insofern die damit verbundene Freiheitsbeschränkung notwendig ist, um gleiche Freiheit anderer zu garantieren.32 Zum einen gehört Nothilfe in aller Regel zu den strikten Rechtspflichten, die staatlich sanktioniert sind, und zum anderen können legitimerweise Solidarbeiträge von den Bürgerinnen und Bürgern verlangt werden, mit denen der Staat stellvertretend die kollektive Verpflichtung zur Unterstützung von Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, übernimmt. Wir können davon ausgehen, dass beides verbindliche Verpflichtungen sind, die der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern auferlegen kann und darf, weil er damit von ihnen nicht zu viel verlangt.33 Das heißt aber auch, dass die Lasten unter den Bür27 28 29 30 31 32 33

Benhabib, Die Rechte der Anderen, 129–167. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 336–337. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 69–70. Owen, Human Rights, Refugees and Freedom of Movement. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 512. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 520. Graumann, Assistierte Freiheit, 219–243.

Eine ethisch vertretbare Flüchtlingspolitik

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gerinnen und Bürgern gerecht verteilt werden müssen und nicht einseitig denjenigen aufgebürdet werden dürfen, die ohnehin am wenigsten haben, wie derzeit viele befürchten. Jedenfalls lässt sich auf diese Weise schlüssig eine universelle Verpflichtung von Staaten begründen, Geflüchteten ohne Ansehen ihrer Fluchtgründe eine freie Ein- oder Durchreise zu gewähren, Zuflucht zu gewähren, wenn sie darum bitten, und Nothilfe zu leisten, wenn sie darauf angewiesen sind. Dabei geht es um den Schutz von Leib und Leben und damit der Güter, denen in einer ethischen Abwägung eine sehr hohe Priorität beigemessen werden muss. Die Abschottung der europäischen Außengrenzen, die die Menschen auf lebensgefährliche Fluchtrouten zwingt, die Schließung von Grenzen auf der Balkanroute oder Abschiebungen in Krisenregionen, die zuvor entgegen besseren Wissens zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt worden sind, sind folglich ethisch nicht zu rechtfertigen. Eine moralische Verpflichtung zur Nothilfe für Menschen, die vor Verfolgung, Krieg, Gewalt und Hunger fliehen, sieht übrigens auch Michael Walzer. Ihre Abweisung im Namen eines kollektiven Anspruchs auf politisch-kulturelle Selbstbestimmung hält auch er für nicht zu rechtfertigen. Darüber hinaus macht er eine besondere Verantwortung gegenüber den Menschen geltend, „die durch unser Zutun, durch unsere Mithilfe zu Flüchtlingen geworden sind.“ Ihnen gegenüber hätten „wir durchaus die gleichen Verpflichtungen […] wie unseren eigenen Mitbürgern gegenüber.“34 Mit Blick auf die erhebliche Mitschuld der europäischen Staaten an den gewaltsamen Konflikten im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, Afghanistan und dem Irak, und mit Blick auf die Verantwortung für die Armut und Perspektivlosigkeit vieler Menschen in Afrika in Folge einer entfesselten globalisierten Weltwirtschaft, die primär den Interessen der reichen Staaten dient, trifft dies für den allergrößten Teil der Geflüchteten zu. Jedenfalls dürfte es aus ethischer Sicht unabhängig von der allgemeinen Kontroverse über Migrationsrechte kaum begründete Zweifel an der moralischen Verpflichtung zur Aufnahme der derzeit auf der Flucht befindlichen Menschen geben. „Das universelle Recht auf Hospitalität, auf das jeder Mensch einen Anspruch hat, erlegt uns die bedingte moralische Verpflichtung auf, jenen zu

34

Walzer, Einwanderung, 128.

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S. Graumann

helfen und Zuflucht zu gewähren, deren Leib, Leben und Freiheit in Gefahr ist.“35

3.3

Einbürgerung von Geflüchteten, die dauerhaft bleiben

Wenn Geflüchtete einmal aufgenommen wurden und auf nicht absehbare Zeit bleiben werden, stellt sich aus ethischer Sicht die nächste Frage, ob sie ein Recht auf Einbürgerung haben. Für Touristinnen und Touristen, Geschäftsleute oder Studierende, deren Absicht nur ein vorübergehender Aufenthalt ist, ist sicher die vorübergehende Aufnahme in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systeme des Gastlandes zufriedenstellend. Generell aber hält Seyla Benhabib die Kantische Unterscheidung eines temporären Besuchsrecht, das jedem Menschen gewährt werden müsse, und einem dauerhaften Aufenthaltsrecht, das zugeteilt oder verweigert werden könne, für nicht plausibel. Mit Bezug auf Arendt argumentiert sie für ein Menschenrecht auf Zugehörigkeit, das Staaten zumindest zu transparenten und diskriminierungsfreien Einwanderungsverfahren verpflichte. Jedem Eingereisten müsse eine Einbürgerung ohne Diskriminierung offen stehen.36 Einen längeren Aufenthalt ohne gleichen Rechtsstatus hält sie, wie übrigens auch Walzer, für inakzeptabel. Dies würde dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen. Dieser Argumentation folgend haben alle Menschen ein moralisches Recht auf Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft, weil das die Voraussetzung dafür ist, als Person mit gleicher Würde und gleichen Rechten anerkannt zu werden. Geflüchtete aber, für die auf absehbare Zeit keine Rückkehr in ihr Herkunftsland in Frage kommt, weil die Ursachen für ihre Flucht weiterbestehen bzw. eine Rückkehr unzumutbar wäre, haben die Zugehörigkeit zu ihrer ursprünglichen politischen Gemeinschaft verloren. Außerdem können sie in der Gemeinschaft, in der sie Zuflucht gefunden haben, ohne Einbürgerung keine gleichen Rechte wahrnehmen. Ihnen die vollen Bürgerrechte vorzuenthalten, würde das Gleichheitsprinzip verletzen. Hier kann mit Kant über Kant hinaus argumentiert werden: Das Prinzip der Gleichheit beinhaltet für Kant, dass alle „als Untertanen“ den gleichen Gesetzen unterworfen sein müssen. Deshalb spricht Kant von der Gleichheit „dem Rechte nach“. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des Staatsgebiets unterliegen den Gesetzen und sollten deshalb auch rechtlich gleich behandelt werden. Das Prinzip demokrati35 36

Benhabib, Die Rechte der Anderen, 45–46. Benhabib, Die Rechte der Anderen, 129–167.

Eine ethisch vertretbare Flüchtlingspolitik

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scher Selbstbestimmung umfasst außerdem, dass ein Gesetz, an dessen Erlass ein Mensch nicht über „seine politischen Mitwirkungsrechte beteiligt war, ihm gegenüber als Unrecht gelten“ muss.37 Auch in diesem Punkt bestehen übrigens erstaunlich wenig Kontroversen zwischen Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Ethiktheorien, und auch Seyla Benhabib und Michael Walzer sind sich diesbezüglich einig: „Jedem neuen Zuwanderer, jedem der aufgenommenen Flüchtling, jedem, der am Ort wohnt und arbeitet, müssen die Vergünstigungen der Staatsbürgerschaft dargeboten werden.“ Alles andere wäre keine gemeinschaftliche Freiheit, sondern Unterdrückung.38 Asylregelungen, mit denen das eigene Land als Zufluchtsort unattraktiv gemacht und Geflüchtete zur Rückkehr bewegt werden sollen, wie Arbeitsbeschränkungen, Residenzpflicht, Essenspakete, Einkaufsgutscheine oder ein nur begrenzter Zugang zu Gesundheitsversorgung sind folglich ethisch ebenfalls nicht zu rechtfertigen. 4

Fazit: Plädoyer für eine ethisch vertretbare Flüchtlingspolitik

Vertreterinnen und Vertreter einer restriktiven Flüchtlingspolitik gehen von einem vermeintlichen gemeinschaftlichen Recht aus, Flüchtlinge zurückzuweisen. Dabei beziehen sie sich – wie Michael Walzer – auf eine Wertegemeinschaft, die es zu bewahren gilt. Dabei wird übersehen, dass es eine uniforme kulturelle Wertegemeinschaft zum einen in modernen Gesellschaften nicht mehr gibt, und dort, wo sie dennoch beschworen wird, Bürgerinnen und Bürger mit Migrationsgeschichte diskriminiert werden. Die geteilten Werte, die das normative Fundament moderner Gesellschaften ausmachen, wie Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte, werden durch eine restriktive Flüchtlingspolitik nicht geschützt, sondern im Gegenteil durch diese bedroht. Vertreterinnen und Vertreter liberaler Positionen, die ein universelles Menschenrecht auf transnationale Bewegungsfreiheit postulieren und damit jede Steuerung von Migrationsprozessen zurückweisen, können aber ebenfalls nicht überzeugen. Sozialstaatliche Unterstützungen, ohne die eine erfolgreiche Integration von Geflüchteten zum Scheitern verurteilt und der soziale Friede in der Tat gefährdet wäre, sehen sie nicht vor. Plausibler ist es dagegen, nach den ethischen Verpflichtungen, die wir als Gesellschaft gemeinsam gegenüber Geflüchteten haben, zu 37 38

Kant, Über den Gemeinspruch, 145–150. Walzer, Einwanderung, 143.

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fragen. Dabei hat es sich als sinnvoll erwiesen, die Verpflichtung zur Nothilfe für Geflüchtete und die Verpflichtung zur Integration von dauerhaft im Land lebenden Migrantinnen und Migranten zu unterscheiden. Voraussetzung für beides ist, Geflüchtete als Personen mit gleicher Würde und gleichen Rechten anzuerkennen. Dies nicht anzuerkennen, würde bedeuten, die Menschenrechte als grundlegende Werte aufzugeben. Die Nothilfe gehört zu den universellen Pflichten, die wir gegenüber anderen Personen haben und für die der Staat, wenn er sie stellvertretend übernimmt, Solidarbeiträge von den Bürgerinnen und Bürgern verlangen kann, sofern er die Lasten dafür gerecht verteilt. Davon zu unterscheiden ist ein Recht auf Zugehörigkeit bzw. eine Verpflichtung zur gleichberechtigten Integration von Migrantinnen und Migranten, die dauerhaft bleiben, in die politische Gemeinschaft im Namen des Gleichheitsprinzips. Diese Unterscheidung zwischen einer generellen Verpflichtung zur temporären Aufnahme von und Hilfe für in Not geratene Menschen, und der Verpflichtung zur Integration derjenigen Geflüchteten, die auf Dauer nicht in ihre Heimat zurückkehren können, lässt ausreichend politischen Handlungsspielraum für eine ethisch vertretbare Flüchtlingspolitik, die die Bürgerinnen und Bürger der Aufnahmegesellschaft nicht überfordert und dabei gleichzeitig grundlegende Menschenrechtsstandards achtet. Literatur Angeli, Oliviero, Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss, Zeitschrift für politische Theorie 2 (2011), 171–184. Arendt, Hannah, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, Die Wandlung IV (1949), 754–770. Benhabib, Seyla, Ein anderer Universalismus. Einheit und Vielfalt der Menschenrechte, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 501–519. Benhabib, Seyla, Die Rechte der Anderen, Frankfurt a.M. 2008. Brezger, Jan, Zur Verteidigung des internationalen Rechts auf Bewegungsfreiheit, Zeitschrift für Menschenrechte 8 (2014), 30–49. Carens, Joseph H., Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hg.), Migration und Ethik, Münster 2012, 23–46. Carens, Joseph H., The Ethics of Immigration, Oxford 2013. De la Rosa, Sybille, Warum wir EuropäerInnen keine guten DemokratInnen sind, Netzwerk Flüchtlingsforschung (2015), online:

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http://fluechtlingsforschung.net/warum-wir-europaerinnen-keineguten-demokratinnen-sind/ (Zugriff 25.7.2016). Graumann, Sigrid, Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 2011. Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden, in: Werksausgabe Bd. XI, hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1795 / 1977, 195–251. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werkausgabe Band VII, hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1785 / 1974, 9–102. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, in: Werkausgabe Band VIII, hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1797 / 1977. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Werkausgabe Bd. XI, hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1793 / 1977, 125– 172. Körtner, Ulrich, Mehr Verantwortung, weniger Gesinnung, Zeitzeichen 17 / 2 (2016), 8–11. Ladwig, Bernd, Offene Grenzen als Gebot der Gerechtigkeit?, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hg.), Migration und Ethik, Münster 2012, 67–88. Mona, Martino, Recht auf Einwanderung oder auf politisch-kulturelle Selbstbestimmung?, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hg.), Migration und Ethik, Münster 2012, 147–168. Ott, Konrad, Zuwanderung und Moral, Stuttgart 2016. Owen, David, Human Rights, Refugees and Freedom of Movement, Zeitschrift für Menschenrechte 8 (2014), 50–65. Rawls, John, The Law of Peoples, Cambridge 2002. Rawls, John, Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 2003. Schaber, Peter, Das Recht auf Einwanderung: Ein Recht worauf?, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hg.), Migration und Ethik, Münster 2012, 185–195. Walzer, Michael, Einwanderung: Das Argument für Beschränkungen, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hg.), Migration und Ethik, Münster 2012, 107–146.

Ludger Pries

Flüchtlinge und das Recht auf Ankommen – für alle1

Politische Instabilität, fehlende öffentliche und rechtliche Sicherheit sowie gewaltsame Konflikte haben seit Beginn des 21. Jahrhunderts zugenommen, wobei alle Kontinente, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, betroffen sind. Eine Folge sind anwachsende Flüchtlingsbewegungen, die sich auf die Nachbarregionen der Konfliktgebiete konzentrieren, aber auch bis in die reichen und stabilen Länder ausstrahlen. In einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt gibt es keine „ruhigen Wohlstandsinseln für einige Glückliche“. Kriege und Krisen in irgendeiner Weltregion wirken sich in Form von wirtschaftlichen und politischen Konjunkturen, aber auch von Wanderungsbewegungen bis in die entferntesten Länder aus. Wir müssen lernen, das eigene Leben in diese globalen und transnationalen Vernetzungen einzuordnen. Es reicht nicht aus, nur die wohlfeilen Vorteile der Globalisierung einzusammeln – etwa den bei uns Arbeitsplätze schaffenden Export von Waren und Dienstleistungen oder die Möglichkeiten des Reisens und Kennenlernens anderer Kulturen – und sich um die anderen Aspekte der Globalisierung – etwa die Klimaveränderungen, fehlende Entwicklungsmöglichkeiten oder organisierte Gewalt in bestimmten Regionen – nicht zu kümmern. Wer nicht in dieser globalisierten und transnationalisierten Welt ankommt, sie als real existierende Ausgangsbasis des eigenen Handelns anerkennt, wird kaum eine realistische Strategie für sich und seine Mitwelt entwickeln können. Auch die Flüchtlingsbewegungen kann nur verstehen, wer deren transnationale Bezüge zur Kenntnis nimmt. Schutz suchende Flüchtlinge bei uns ankommen zu lassen, kann nur, wer selbst in der heutigen globalen Welt angekommen ist. 1

Es handelt sich bei diesem Text um die gekürzte und leicht veränderte Fassung eines Ausschnitts aus: Pries, Migration und Ankommen. Im Hinblick auf die Berücksichtigung aller Geschlechter im sprachlichen Ausdruck wurde soweit möglich die Verwendung von geschlechtlich unmarkierten Formulierungen angestrebt, ansonsten trotz aller berechtigten Kritik das generische Maskulinum verwendet.

Das Recht auf Ankommen – für alle

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Der Gedanke des Ankommens kann eine wichtige Klammer sein, um die Gemeinsamkeiten von Flüchtlingen und anderen sozialen Gruppen hervorzuheben. Baidy Sow, ein senegalesischer Fußballspieler, wurde wie viele Afrikaner mit falschen Versprechungen auf eine Fußballerkarriere gegen Bezahlung in die Türkei gebracht und reiste später irregulär nach Deutschland weiter, als sich alle Versprechungen auf eine Anstellung bei einem türkischen Verein als nichtig erwiesen. Er landete beim FC Wacker München. Dann schrieb er einen Brief an Philipp Lahm, den Kapitän des FC Bayern München, und erzählte von seinen Erfahrungen. Lahm fragte ihn in seiner Antwort: „Wissen Sie eigentlich schon, was Sie nach Ihrer Karriere machen wollen? Haben Sie Angst, nichts mehr im Leben so gut zu beherrschen wie das Fußballspielen?“ Und Baidy Sow erwiderte: „In meinem Leben geht es nicht mehr darum, weiterzukommen, sondern darum, anzukommen. Das kann, glaube ich, auch ein schönes Gefühl sein.“2 Indem eine Gesellschaft Flüchtlinge bei sich ankommen lässt, kann sie auch nachhaltiger bei sich selbst ankommen. Ankommen hat dabei viele Bedeutungen, die im Folgenden dargestellt werden sollen: physisch an einen sicheren Ort gelangen, sich angenommen fühlen oder die soziale Wirklichkeit realistisch wahrnehmen. Ankommen kann als ein verbindendes Konzept verstanden werden. Darin drückt sich ein spezifisches Verständnis von Integration aus, das für alle Beteiligten bestimmte Herausforderungen und Chancen beinhaltet. Ankommen kann für alle Gruppen einer Gesellschaft nutzbar und fruchtbar gemacht werden: für diejenigen, die geografisch neu angekommen sind wie etwa Flüchtlinge, und ebenso für diejenigen, die zwar schon lange irgendwo leben, aber dort bisher nicht wirklich angekommen sind – im Sinne der eigenen Selbstverortung oder im Sinne der Anerkennung durch andere. 1

Was bedeutet Ankommen?

Ankommen wird hier als umfassenderes Konzept im Rahmen der Flüchtlings- und Integrationsdebatte verstanden. Es ist nicht nur der Name einer Handy-Applikation, die das Goethe-Institut, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Bundesagentur für Arbeit und der Bildungskanal der ARD gemeinsam entwickelt haben. Laut Duden bedeutet „ankommen“ unter anderem „einen Ort erreichen, an 2

Lahm, „Was treibt Sie an?“, 22.

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einem Ort eintreffen; […] Anklang, Widerhall finden; […] [in bestimmter Weise] auf jemanden wirken, ihn berühren; [für jemanden] wichtig, von Bedeutung sein“.3 Ankommen ist in diesem Sinne mehr als irgendwo landen oder stranden. Es wird nicht als etwas Passives verstanden, vielmehr schließt Ankommen immer auch Eigenaktivität ein. Für Flüchtlinge bedeutet Ankommen vor allem, sich – zumindest vorläufig – in Sicherheit wiegen zu können, eine – zumindest vorübergehende – Bleibe zu haben. Ankommen ist immer mit Zufriedenheit, mit einer gewissen Entspannung, mit Aufgenommensein und Akzeptiertwerden verbunden. Ankommen ist ein Teil von Vergemeinschaftung ebenso wie von Vergesellschaftung, von Sozialintegration und auch von Systemintegration. 1.1

Ankommen als offener Prozess und Teil von Integration

Ankommen ist nach diesem Verständnis immer etwas Interaktives. Es beschreibt einen Prozess zwischen den Ankommenden und dem Ort, an dem sie ankommen. Wenn diejenigen, die ankommen möchten, nicht aufgenommen werden, kann ihr Vorhaben nicht gelingen. Die Millionen sogenannten Gastarbeiter der 1960er bis 1990er Jahre wollten sicher irgendwo ankommen, aber sie wurden vorwiegend nur als Gäste angenommen. Noch ihren Kindern wurde das Ankommen schwer gemacht – von der Ankunftsgesellschaft, aber oft auch von den Eltern selbst, wenn diese befürchteten, dass das Ankommen ihrer Kinder das endgültige Verlassen ihrer Herkunftsregion und -kultur bedeute. Tatsächlich wurde im 20. Jahrhundert und in den meisten Gesellschaften Ankommen im Zusammenhang von Migration vorwiegend als Assimilation, als Aufgeben der sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Orientierungen an der Herkunftsregion und als passive Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse der Ankunftsregion verstanden. Aber selbst dieses assimilationistische Ankommen wurde und wird Migrierenden fast unmöglich gemacht. Die Herkunftsgesellschaften möchten den Einfluss auf die Ausgewanderten nicht verlieren. Das zeigt sich, wenn der türkische Staatspräsident es als Verrat bezeichnet, sobald sich ein Ausgewanderter nicht mehr in erster Linie als Türke versteht. In den Ankunftsgesellschaften führt das Verständnis von Ankommen als Assimilation dazu, dass derjenige verdächtig erscheint, den noch positive Bezüge mit dem eigenen oder elterlichen Herkunftsland verbinden. Die Formen und das entsprechende Gelingen von Ankommen hängen also von den Ankommenden selbst und 3

Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/ankommen.

Das Recht auf Ankommen – für alle

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auch von der Herkunftsgesellschaft und der Ankunftsgesellschaft ab. Noch heute werden Millionen von Menschen in Deutschland von einem Teil der Ankunftsgesellschaft am Ankommen gehindert – wenn sie zum Beispiel auch in der dritten oder vierten Generation noch vorwiegend als „Ausländer“ bezeichnet werden. Diese Menschen können aber auch in dem Land ihrer Vorfahren nicht mehr einfach ankommen, weil sie dort als nicht zugehörig oder gar als Vaterlandsverräter angesehen werden. Für Flüchtlinge gestaltet sich der Prozess des Ankommens in der Regel noch komplizierter und langwieriger. Der Beweggrund ihrer Migration war zunächst einmal, einer lebensbedrohlichen Situation zu entfliehen, irgendwo Schutz und Sicherheit zu finden. Über die weitere Lebensplanung und ein längerfristiges biografisches Ankommen konnten sie sich meist kaum Gedanken machen. Ankommen im beschriebenen Sinne von einseitig aufgezwungener Assimilation ist für die Beteiligten mit hohen Kosten und Verwundungen verbunden. Deshalb sollte Ankommen heute nicht mit einem solchen assimilationistischen Anspruch im Sinne von „endgültig Heimat finden“ oder „unwiderruflich wissen, wo man hingehört“ verstanden werden. Denn Ankommen ist eigentlich immer ein ergebnisoffener Prozess des sich zunächst Sicherfühlens und des Aufgenommenwerdens. Ankommen bedeutet das Anerkennen der Regeln der Aufnehmenden, keineswegs aber darüber hinausgehende umfassende Loyalitätsbekundungen oder Distanzierungen. Ankommen heißt vor allem angenommen, respektiert, akzeptiert und verstanden werden, die Chance zur Teilhabe bekommen. Ankommen heißt auch teilen, sich mitteilen, Sorgen wie Freude teilen. Ankommen kann nur bei prinzipieller Gleichberechtigung und wechselseitiger Anerkennung gelingen. 1.2

Ankommen ist interaktiv, Flüchtlinge sind Akteure

Wenn Ankommen in diesem Sinne immer als ein Interaktionsverhältnis zu verstehen ist, dann ergibt sich, dass andere nur ankommen lassen kann, wer auch bei sich selbst angekommen ist. Wer für sich selbst das Ankommen, Glück und ein erfülltes Leben immer nur außerhalb der eigenen persönlichen Geschichte und der eigenen Lebenserfahrungen sucht, kann weder im oben zitierten Sinne von „Anklang, Widerhall finden“ bei anderen „ankommen“, noch kann er anderen das Ankommen ermöglichen. Ankommen ist also ein iteratives und aktives Verhandeln des eigenen Selbst und des fremden Anderen. Ankommen ist immer eine Station auf einem Weg, der noch nicht abgeschlossen ist. Das gilt für Flüchtlinge noch mehr als für

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diejenigen, die einen bestimmten Ort freiwillig verlassen haben. Im Rahmen einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung „One Way Ticket – Willkommen in Europa?“ formulierte die Schriftstellerin und Journalistin Mely Kiyak zum Thema Dazugehören und Ankommen: „Was ich sagen möchte, ist, dass es bei Flüchtlingen im Gegensatz zu Immigranten kein Ankommen gibt. Der Immigrant kennt sein Ziel, er wandert in etwas ein. Der Flüchtling aber flieht immer weg. Während der Immigrant sein Ziel kennt, kann der Flüchtling nicht wissen, was sein Ziel ist. Deshalb antwortet der Flüchtling oft, dass er irgendwann wieder zurück in sein altes Haus will. Wenn wieder Frieden herrscht. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr begreift der Flüchtling, dass auch dieser Weg zurück sich manchmal schwer gestaltet. […] Ankommen ist mehr als sich irgendwo aufzuhalten. Wenn man das als anthropologische Prämisse des Menschen nicht begreift, kann man keine humane Flüchtlingspolitik betreiben. Wenn wir uns in Deutschland die Orte anschauen, an denen wir Flüchtlinge unterbringen, dann benötigt man nicht viel Phantasie, um festzustellen, dass Ankommen, im Sinne von zur Ruhe finden, in Deutschland nicht gut gelingt. […] Was also tun, jenseits von darüber reden? Ich denke, die Flüchtlinge benötigen mehr Unterstützung dabei, selbst zu Wort kommen zu dürfen und ihre Geschichten vom Weggehen und Ankommen zu erzählen.“4

Weil Ankommen etwas (Inter-)Aktives ist, unterscheidet es sich vom irgendwo stranden. Das gilt auch für die Flüchtlinge. Sie sind nie nur Geworfene, nur passiv Erleidende. Flüchtlinge als Menschen ohne Biografie, ohne eigene Handlungskompetenzen und -strategien zu betrachten, denen in paternalistischer Manier zu helfen sei, versperrt den Zugang zu einem angemessenen Verständnis von Ankommen ebenso wie die bereits kritisierte Perspektive von Ankommen als Assimilation. Ankommen im hier verstandenen Sinne hat viel zu tun mit einem Verständnis von Gastfreundschaft, wie es bereits von Immanuel Kant in seinen Gedanken zum kosmopolitischen Zusammenleben der Menschen entwickelt wurde. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 hatte Kant ein kosmopolitisches Recht auf „allgemeine Wirtbarkeit“ vorgeschlagen, das nicht auf Freundschaft oder emotionale Verbundenheit gegründet sei beziehungsweise sein müsse, sondern aus reinen Vernunftgründen als rechtliches Prinzip allen Menschen und Völkern zustehen solle:

4 Kiyak, Ankommen ist mehr; zu den umstrittenen Äußerungen der Autorin im Rahmen der Sarrazin-Debatte und ihrer Entschuldigung vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/ Mely_Kiyak.

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„Es ist hier, wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein, mehr Recht hat, als der Andere.“5

Gastfreundschaft in diesem Sinne ist als Form eines Mindestangebots von Ankommen zu verstehen. Vernunftrechtlich begründet Kant, dass alle Menschen den legitimen Anspruch haben, als „Fremdlinge“ auf einem bestimmten Boden nicht feindselig behandelt zu werden, solange sie sich selbst friedlich verhalten. Das Besuchsrecht im Sinne Kants ist als ein minimales Recht auf Ankommen zu verstehen. Ankommen impliziert in diesem Zusammenhang immer die Identifizierung von Fremden beziehungsweise Anderen, denn Ankommen müssen ja nicht diejenigen, die sich bereits an einem bestimmten Platz aufhalten. 1.3

Ankommen ist nicht verschmelzen, sondern verhandeln

Ankommen bedeutet keineswegs, dass die Ankommenden mit den bereits dort Lebenden verschmelzen. Es setzt Unterscheidungen zwischen Eigenem und Fremdem ebenso voraus, wie es zu Neuaushandlungen führt. Ankommen ist also weder voraussetzungsloses Aufnehmen noch bedingungsloses Sich-Ausliefern. Ankommen ist weder ein moralisch-emotional begründeter Akt paternalistischer Fürsorge und Unterordnung noch utilitaristisch kalkulierte Maximierung des Eigennutzes. Jedes Ankommen ist deshalb ein intensiver Prozess der Aushandlung von neuen Grenzziehungen, es benötigt Selbstreflexion und induziert gesellschaftliche Innovation. Diese muss keineswegs immer in die Richtung von mehr Toleranz und Verständnis weisen. Wie die Zunahme rechtspopulistischer Wählerpräferenzen und rechtsterroristischer Gewalt im Zuge der „Flüchtlingskrise“ 2015 zeigt, kann das Ankommen von Flüchtlingen auch zum Vorwand oder Anlass für neue aggressive Grenzziehungen genutzt werden. Ankommen 5

Kant, Zum ewigen Frieden, 214.

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ist ein komplexer Prozess wechselseitiger Fremd- und Selbstwahrnehmungen. Das Ankommen hat fast immer kathartische Wirkungen auf das Zusammenleben der dort bereits Lebenden. Das Ankommen Neuer bringt die sozialen Beziehungen zwischen den Alten ins Schwingen. Das Ankommen von Flüchtlingen ist für das (Wieder-) Erstarken rechtsextremistischer Tendenzen in Deutschland und anderen Ländern nicht die eigentliche Ursache, sondern nur ein Anlass. Das Flüchtlingsankommen bringt soziale Deprivation bestimmter Gruppen, das Gefühl der gesellschaftlichen Nichtbeachtung und fehlenden Anerkennung, schon seit längerem von der „politischen Korrektheit“ unterdrückte, ja aufgestaute Meinungen und andere gesellschaftliche Phänomene zum Vorschein. Wer Obergrenzen für das Ankommen von Flüchtlingen fordert, weil die „Grenzen der Belastbarkeit der Gesellschaft“ erreicht seien, wer gar die Flüchtlinge generell zu Schuldigen machen will für den Ausbruch organisierter Kriminalität (wie im Zusammenhang der sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln und anderen Städten) oder wer die natürlich auch zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen beim Ankommen zutage tretenden sozialen Spannungen als Entschuldigung für gewaltsame Übergriffe auf Flüchtlingsheime nutzen möchte, lenkt davon ab, dass das Ankommen der Flüchtlinge nur der Anlass, die eigentliche Ursache aber das mangelhafte Ankommen bestimmter sozialer Gruppen bei sich selbst und in der Ankunftsgesellschaft ist. 2

Ankommen in der eigenen Geschichte: Flucht, Vertreibung, Gastarbeiter

Das Ankommen von neuen Menschengruppen in einem bestimmten Sozialraum führt auch für die bereits dort Lebenden zu neuen Selbstvergewisserungen und Verhandlungen über Geschichte und soziale Positionierungen. Gerade weil Ankommen ein komplexer und wechselseitiger Prozess ist, bietet er viele Chancen, aber auch Herausforderungen. In Schulen finden regelmäßig Probealarme statt, um festzustellen, ob Schüler, Lehrer und sonstiges Personal die notwendigen Handlungsabläufe und ihre Rollen genau kennen. Große Organisationen führen kontinuierlich Risikoanalysen durch, um zu prüfen, ob die bestehenden Ziele, Strukturen und Prozesse robust genug sind, um mögliche unvorhergesehene Ereignisse verarbeiten zu können. Probealarme an Schulen und Risikoanalysen in Organisationen sind bewusst herbeigerufene simulierte Krisensituationen und sollen Schwachstellen identifizieren helfen. Die „Flüchtlingskrise“ 2015 war bis zu einem gewissen Punkt absehbar, aber nicht künstlich aus-

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gelöst wie ein Probealarm. Gleichwohl kann sie als Chance genutzt werden, um latente Risikolagen und unbewältigte Probleme zu bearbeiten. 2.1

Verdrängte Geschichte: Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkrieges

Die heute in Deutschland ankommenden Flüchtlinge können uns daran erinnern, dass viele hier bereits Lebende auf die eine oder andere Weise Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gemacht haben. Allerdings wurde dieses Thema ein halbes Jahrhundert lang eher ausgeblendet und tabuisiert. Das kollektive Verdrängen der NS-Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat den damaligen Flüchtlingen und Vertriebenen – trotz der intensiven politischen Instrumentalisierungsversuche gegenüber diesen Gruppen – kaum eine Chance auf ein ihren Erfahrungen angemessenes Ankommen eröffnet. Ähnlich erging es einer anderen Bevölkerungsgruppe: Das Mantra „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ hat den sogenannten Gastarbeitern und Aussiedlern ein richtiges Ankommen verstellt. Es hat nur den Weg der Assimilation und des Schweigens über die eigenen Lebenserfahrungen zugelassen. Umso wichtiger ist es, die jüngste Flüchtlingsbewegung als Chance für eine breite Auseinandersetzung um Einwanderung und Ankommen zu nutzen. Die deutsche Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg kritisch im Hinblick auf Flucht, Vertreibung und „Gastarbeit“ zu reflektieren, ist eine wesentliche Voraussetzung, um Menschen das Ankommen in diesem Lande zu erleichtern. Denn es gibt bisher nur wenig kritische und kollektive Reflexion darüber, welche Identitätskonflikte und psychisch-sozialen Verwundungen sowohl das Verdrängen von Flucht und Vertreibung durch Wiederaufbauzwang und Wirtschaftswundermythos als auch der integrationsfeindliche und kontrafaktische Slogan „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ bei Generationen von Einwanderern verursacht hat. Die sozialen, kulturellen, politischen und auch ökonomischen Schäden sind noch nicht taxiert worden. In welcher Art und Weise und in welche Richtung die kollektiven Erfahrungen des Jahres 2015 verarbeitet werden, hängt von den Menschen selbst ab – in Deutschland und Europa. Erst die Geschichte wird zeigen, ob die „Flüchtlingskrise“ einen ähnlich bedeutsamen sozialen Wandel markiert wie etwa die Wiedervereinigung. Und die Richtung dieses Wandels wird von der Zivilgesellschaft, den Organisationen und dem politischen System gestaltet. Die „Flüchtlingskrise“ birgt die Chance eines erweiterten Ankommens – in Deutschland und Europa.

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Das gilt zunächst für die Zwangsarbeiter, Geflohenen und Vertriebenen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Endphase des Krieges flüchteten etwa 14 Millionen sogenannte Reichsdeutsche und Volksdeutsche nach Westen, wurden nach dem Krieg dorthin vertrieben oder nach Osten deportiert. Am Ende des Zweiten Weltkrieges zählte man außerdem etwa elf Millionen displaced persons, von denen die meisten während des NS-Regimes als Zwangsarbeiter eingesetzt worden waren, in Konzentrationslagern interniert waren oder beides. Deren Weiterwanderung, Sesshaftwerdung oder Repatriierung zog sich teilweise Jahre hin; oft waren diese Menschen im eigentlichen Wortsinne ohne Platz und Heimat, denn in ihren Herkunftsregionen wurden sie nicht selten – und oft durchaus mit guten Gründen – als Kollaborateure der Nationalsozialisten angesehen. Zusätzlich werden etwa zehn Millionen Binnenwanderer geschätzt, die zum Beispiel vor Bombenangriffen aus den Städten aufs Land geflüchtet waren. Schließlich kehrten bis in die 1950er Jahre insgesamt etwa neun Millionen aus der Kriegsgefangenschaft entlassene deutsche Soldaten zurück. Deportationen, Flucht und Vertreibungen während und als Folge des Nationalsozialismus betrafen also insgesamt etwa 44 Millionen Menschen. Insgesamt lebten in der BRD und der späteren DDR um 1950 knapp 69 Millionen Menschen.6 Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung hatten also selbst Erfahrungen mit Flucht, Vertreibung oder Zwangsverschleppung gemacht – als Opfer, als Täter, als Beobachter oder Mitläufer. Auch von den während des NS-Regimes ins Ausland geflohenen Juden, politisch oder wegen ihrer sexuellen Orientierung Verfolgten und Intellektuellen kehrte ein Teil nach Deutschland zurück. Dies war also die komplizierte Gemengelage all derjenigen, die eigene Migrationserfahrungen gemacht hatten. Der Rest der Bevölkerung wurde mit dem Thema Flüchtlinge und Ankommen in der Regel durch die direkte Erfahrung im Wohnumfeld, auf der Arbeit oder durch die staatliche Zuweisung eines Teils des eigenen Wohnraums an Flüchtlingsfamilien konfrontiert. Das eigene (Wieder-)Ankommen und die Mitgestaltung des Ankommens anderer vollzogen sich meist in unaufgeregter, pragmatischer Weise. In der Regel wurde über die eigenen, oft ja traumatischen Erfahrungen wenig oder gar nicht geredet. Die meisten Menschen wollten nicht Gefahr laufen, die eigenen Erfahrungswunden oder die der anderen wieder aufzureißen. Man konnte auch nie sicher sein, ob das Gegenüber während des Krieges nicht genau der gegnerischen Partei angehört oder mit ihr sympathisiert hatte. 6

Vgl. Bade, Europa in Bewegung; zur Bevölkerungszahl Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. http://www.pdwb.de/deu50-00.htm.

Das Recht auf Ankommen – für alle

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So entwickelte sich eine Kultur des Schweigens und der „Unfähigkeit zu trauern“ (Margarete und Alexander Mitscherlich). Es dauerte mehr als eine Generation, bis die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung in wissenschaftlichen Untersuchungen und biografischen Erzählungen breiter aufgearbeitet und rezipiert wurden. Sie könnten für die Gestaltung des Ankommens der heutigen Flüchtlinge genutzt werden. Das gilt etwa für den pragmatischen, aber ambivalenten Impuls des Verdrängens und Vergessens. Dies kann für das kurzfristige Ankommen hilfreich sein, längerfristig aber gilt auch hierfür: Wer aus der Geschichte nicht lernt, läuft Gefahr, sie zu wiederholen. Gespräche zwischen Flüchtlingen von damals und von heute können – wenn behutsam und professionell gestaltet – für alle Beteiligten wie eine Katharsis wirken und das Ankommen in diesem Land, bei den Mitmenschen und bei sich selbst erleichtern. 2.2

Verweigertes Ankommen durch „Gastarbeiter“-Politik

Kaum waren die durch NS-Regime und Zweiten Weltkrieg verursachten Wanderungsbewegungen einigermaßen abgeschlossen, da begann in den 1950er Jahren die sogenannte Gastarbeiter-Wanderung, in deren Rahmen bis zum Anwerbestopp 1973 etwa 14 Millionen Menschen in die BRD kamen. Ungefähr drei Millionen von ihnen blieben dauerhaft und holten ihre Familien nach. Auch in der DDR wurden – nicht zuletzt aufgrund akuten Arbeitskräftemangels wegen Abwanderungen in den Westen bis zum Mauerbau 1961 – massenhaft „Gastarbeiter“ nach dem Rotationsprinzip (Pflicht zur Rückkehr ins Herkunftsland, kein Recht auf Familienzusammenführung) und hauptsächlich in unterprivilegierten Beschäftigungsfeldern (unmittelbarer Produktionsbereich, härteste Arbeitsbedingungen, bis zu drei Viertel von ihnen im Schichtdienst) eingesetzt. Später diente Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen vor allem der Devisenbeschaffung. Im Jahr 2014 lebten etwa 7,2 Millionen Menschen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in Deutschland, 16,4 Millionen hatten eigene oder durch mindestens ein Elternteil indirekte Migrationserfahrungen.7 Mit der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und den Grünen im Jahre 1998, dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 und dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wurde ein grundlegender Wandel in der offiziellen Politik auf Bundesebene eingeleitet. Deutschland versteht

7

Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Bevölkerung mit Migrationshintergrund, und Destatis, Der Mikrozensus stellt sich vor.

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sich heute mehrheitlich als modernes Einwanderungsland.8 Dieser Konsens wurde auch in der aktuellen „Flüchtlingskrise“ von keiner der größeren bürgerlichen Parteien infrage gestellt. Insofern hat sich seit dem 21. Jahrhundert in Deutschland ein in der Geschichte einzigartiger Umschwung vollzogen. Das zeigt sich an grundlegenden Veränderungen der rechtlich-institutionellen Rahmenordnung wie auch an der veränderten Selbstwahrnehmung des Landes durch die in Deutschland lebenden Menschen. Gerade den Millionen „Gastarbeitern“ und ihren Familien gegenüber war die Aussage „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ das wohl größte Unrecht der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das im Namen der Politik, aber auch der Mehrheitsbevölkerung begangen wurde. Für die in dieser Zeit nach Deutschland Eingewanderten wurde eigentlich nur die assimilationistische Form des Ankommens angeboten: „Entweder du wirst ein guter Deutscher beziehungsweise eine gute Deutsche oder du gehst in dein Herkunftsland zurück.“ Ankommen wurde dabei als einseitige Bringschuld der Migrierenden angesehen. Weder Sprachkurse noch Integrationsprogramme wurden in größerem Umfang angeboten. Die Ankunftsgesellschaft machte für sich keine weiter reichende Holschuld aus. Diese einseitige, auf Assimilation gepolte Ankommensgestaltung prägte auch die Sozialisation und Integration der Nachkommen der „Gastarbeiter“. Ohne die hinreichende Unterstützung ihrer Eltern mussten sie sich vielfach in der Schule und Ausbildung doppelt anstrengen, um ähnliche Leistungen erbringen zu können wie diejenigen, die bereits im Elternhaus die dominante Sprache und Kultur erworben hatten. Waren sie im Erziehungs- und Beschäftigungssystem nicht erfolgreich, wurden die Ursachen dafür bei ihnen beziehungsweise ihren Eltern gesucht, nicht aber im Ankommensverständnis der Ankunftsgesellschaft. Und wenn sie erfolgreich waren, sahen sie sich erweiterten Legitimationszwängen ausgesetzt, warum sie denn so gut Deutsch sprächen, wo sie denn geboren seien, wie sie denn die Hürde einer Universitätsausbildung geschafft hätten. In der Flüchtlingsbewegung 2015 haben sich überdurchschnittlich viele Menschen engagiert, die selbst oder deren Eltern eine Migrationsgeschichte haben. Für sie ist die Unterstützung des Ankommens von Flüchtlingen auch – ob bewusst oder unbewusst – eine Form, das eigene Ankommen in Deutschland zu (re)organisieren. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen der Schwierigkeiten des Ankommens sind sie motiviert und – nicht nur wegen ihrer möglichen Sprach- oder 8

SVR, Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland.

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kulturellen Kompetenzen – sehr gut dazu qualifiziert, den ankommenden Flüchtlingen zu helfen. Indem sie das tun, identifizieren sie sich wahrscheinlich auch besser mit Deutschland als ihrem Land. Dieses haben sie ja bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert bereichert, und zwar nicht nur ökonomisch durch ihre Arbeit, sondern auch kulinarisch, musikalisch, literarisch, im Sport und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen. 2.3

Ankommen als Assimilationsdruck für die Spätaussiedler

Eine besondere Chance – und Herausforderung – stellt das Ankommen der Flüchtlinge auch für die Spätaussiedler dar, also für diejenigen, deren Vorfahren (zum Teil schon auf Einladung der deutschstämmigen Zarin Katharina II. Mitte des 18. Jahrhunderts) in einen Staat des ehemaligen Ostblocks ausgewandert waren und die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Seit dem Ende der Sowjetunion kamen jährlich Hunderttausende Spätaussiedler nach Deutschland. Im Jahre 2011 lebten über drei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler in Deutschland. Jeweils über eine halbe Million Spätaussiedler kommen aus Russland, Kasachstan und Polen. Nach einer von der Schader Stiftung geförderten Studie waren die Spätaussiedler in ihren Herkunftsländern häufig als Deutsche oder gar als Nazis stigmatisiert worden. In Deutschland wurden sie dann in der Regel als Russen typisiert. Ihre Integrationserfahrungen fassten die interviewten Aussiedler mit drei Begriffen zusammen: Zurechtkommen (Lebensunterhalt selbst bestreiten, Alltagsanforderungen bewältigen können), Mithalten (in ausgewählten Lebensbereichen das Niveau der Aufnahmegesellschaft erreichen) und Gleichen (von den Einheimischen nicht mehr als fremd identifiziert werden können). Insgesamt erlebten sie ihr Ankommen in ganz besonderem Maße als Assimilationsdruck. Obwohl in einem völlig anderen gesellschaftlichen Kontext sozialisiert, häufig der deutschen Sprache nicht richtig mächtig und mit wesentlich anderen sozialen Handlungsnormen ausgestattet, empfanden die Spätaussiedler als „Statusdeutsche“ – die sich also nicht wie die Eingewanderten aus anderen Zusammenhängen ihre deutsche Staatsangehörigkeit erst „verdienen“ mussten – einen ganz besonderen Erwartungsdruck der schnellen und problemlosen Anpassung.9 Das Ankommen gestaltete sich für die Spätaussiedler vor allem als forcierte Assimilation. Da sie als Deutschstämmige kamen, wurde ihnen – aufgrund eines traditionellen ius-sanguinis-Denkens – von 9

Vgl. Schader Stiftung, Zuwanderer auf dem Land.

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Anfang an der Status „Deutsche(r)“ mit allen staatsbürgerlichen und sozialen Rechten eingeräumt. Entsprechend wurde aber auch eine rasche Anpassung an „deutsche Identität“ und „deutsche Kultur“ im Sinne einseitiger Angleichung an die (vermeintliche) Mehrheitsgesellschaft erwartet. Gerade diejenigen, die aufgrund einer verschlechterten Arbeitsmarktlage, mangelnder Sprachkompetenzen und von Problemen im Umgang zum Beispiel mit staatlichen Autoritäten die Assimilationserwartungen nicht erfüllen konnten oder wollten, nahmen die Fremdzuschreibung als „Nicht-Deutsche“, als „Russendeutsche“ an und entwickelten sie zu einer assimilationsablehnenden Selbstzuschreibung. Angesichts ihrer oft prekären Lebenslage sahen sie häufiger als andere soziale Gruppen in den ankommenden Flüchtlingen potenzielle Konkurrenten – auf dem Arbeitsmarkt und im System der sozialstaatlichen Sicherung. Zusammengefasst zeigt sich, dass das Thema Ankommen nicht nur für die Flüchtlinge des Jahres 2015 zentral ist, sondern auch für diejenigen, die schon länger in Deutschland leben, die selbst oder deren Vorfahren Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gemacht, diese aber lange Zeit verdrängt haben, aktuell: für die Vertriebenen und Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs, für die „Gastarbeiter“, ihre Nachkommen und für die Spätaussiedler. Das gilt auch für das Verhältnis derjenigen zueinander, die bis zur Wiedervereinigung in der ehemaligen DDR oder in der BRD gelebt haben. Sind die Westdeutschen wirklich bei den kognitiven Rahmungen der Welt, den durch die Sozialisation vermittelten normativen Orientierungen und den gegenwärtigen Lebensperspektiven der Menschen in den neuen Bundesländern angekommen? Fühlen sich umgekehrt die in der ehemaligen DDR sozialisierten Menschen im Sinne einer gleichberechtigten Aufnahme in Deutschland angekommen? Oder haben sie nicht auch vielfach extremen Anpassungsdruck erfahren, im Sinne der westdeutschen „Dominanzgesellschaft“ funktionieren zu müssen? 2.4

Ankommen in Europa – eine Aufgabe für alle

Mit dem Beginn des europäischen Einigungs- und Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg wurde für die beteiligten Staaten und Gesellschaften auch ein Prozess des gemeinsamen Ankommens in Europa eröffnet. Vor dem Hintergrund von 75 Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen, von 1870 bis 1945, war die Erkenntnis gereift, dass die Zukunft Europas nur in der friedlichen Kooperation seiner Länder und verschiedensten Menschengruppen gestaltet werden könne. Die gemeinsamen Ziele der Erhaltung von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit sowie individueller und sozialer Sicherheit sollten

Das Recht auf Ankommen – für alle

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unter Anerkennung der kulturellen und institutionellen Vielfalt Europas verfolgt werden. Wie selbstverständlich und gleichsam naturgegeben den Menschen in der Europäischen Union diese verbindenden Normen und die ihnen zugrunde liegende geteilte Sicht der Welt ist, wurde besonders deutlich, als verschiedene EU-Mitgliedsstaaten 2015 begannen, wieder Grenzkontrollen einzuführen. Denn eine solche Wiedererrichtung althergebrachter Ländergrenzen wollen weder die Bürger Europas noch die Unternehmen oder die Politiker für sich selbst. Die europäische Einigung ist also bei den Bevölkerungen und den Organisationen fest verankert – insbesondere wenn es um die Eigeninteressen geht. Im Hinblick auf Teilbereiche der EU-Integration, wie die gemeinsame Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem, zeigt sich jedoch deutlich, dass weder die Zivilgesellschaften noch die Politiker normativ und kognitiv hinreichend in Europa angekommen sind. So wie die europäische Idee nach dem Zweiten Weltkrieg aus leidvollen Erfahrungen geboren und nur durch diskursive Konfliktbewältigung praktisch umgesetzt und gestaltet wurde, so kann auch die europäische Verantwortung für Flüchtlingsschutz nur an realen Herausforderungen und konfliktreichen Diskursen wachsen. In diesem Sinne setzt ein Ankommen in Europa – genauso wie Ankommen grundsätzlich – den Streit, die diskursive Verständigung über kognitive Situationsdeutungen, über Inhalte und Gewichtung von Normen sowie über unterschiedliche Interessen voraus. Im Jahre 2015 wurde in allen EU-Mitgliedsstaaten die Debatte über den Umgang mit der Flüchtlingsbewegung sehr kontrovers geführt. Vor allem die vorwiegend nationalistisch eingefärbten Diskurse und Politiken vieler europäischer Regierungen und das (Wieder-)Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien führten im Frühjahr 2016 zu einer vorläufigen „Lösung“ dieser Konflikte durch die Verantwortungsverschiebung von Grenzkontrollen auf die Türkei und die generelle Erschwerung des Zugangs zum Flüchtlingsschutz. Eine solche Sankt-Florians-Politik der Externalisierung von Problemen und Konflikten mag vorübergehend beruhigend auf Politiker und Teile der Zivilgesellschaft wirken. Allerdings wäre eine Strategie nachhaltiger, die den Problem- und damit auch den Einigungsdruck innerhalb der EU beließe und durch den notwendigen Streit zu einer Vertiefung des Zusammenlebens in der EU und dem Ankommen der Menschen und Regierungen in Europa führen könnte. Ein solches erweitertes Ankommen in Europa ist dabei nicht automatisch garantiert, auch eine tendenzielle Auflösung oder eine stärkere Fragmentierung der EU sind – wie der Brexit zeigt – denkbar. Allerdings

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erscheint aus sozialwissenschaftlicher Sicht völlig unzweifelhaft, dass jede Vertiefung der gesellschaftlichen Beziehungen in der EU nur durch das Nadelöhr des Streits um deren normative und kognitive Grundlagen führt. Verhandeln, streiten und auch sich erinnern sind dabei wesentliche Formen des Ankommens in Europa. Von der Frage, ob die Zivilgesellschaften und die Politiker der EU-Mitgliedsländer die Kraft finden, es zu einer „Welt offener Grenzen“ zu machen, wird abhängen, ob Europa bei sich selbst im Sinne der erklärten europäischen Normen des Flüchtlingsschutzes ankommt. In einer globalen und transnationalen Welt können Gesellschaften nur lebenswert und nachhaltig sein, wenn sie offen sind. Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche wie soziale Sicherheit als die großen europäischen Versprechen implizieren offene, sorgende und solidarische Gesellschaften. Diese europäischen Ideen beanspruchen für sich, einen Unterschied zu vielen anderen Gesellschaftsentwürfen zu machen. Sie sind erwachsen aus der Erinnerung an und Verarbeitung von Jahrhunderte währenden innereuropäischen Konflikten. Über den Zusammenhang von Erinnern und Ankommen hat schon Hannah Arendt ausführlich nachgedacht. Die deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Philosophin war als Jüdin 1933 von der Gestapo vorübergehend inhaftiert worden und noch im selben Jahr nach Frankreich und 1941 in die USA geflohen. Von 1937 bis 1951 war Arendt staatenlos und schrieb 1943 den Aufsatz „Wir Flüchtlinge“. Darin betont sie, der Mensch sei ein soziales Tier, und das Leben werde schwer für ihn, wenn die sozialen Beziehungen abgeschnitten seien. Als Flüchtling tendiere man zunächst einmal zu einer bedingungslosen Assimilation und versuche, Anerkennung und Integration durch das Aufgeben der eigenen Identität zu erreichen. „Wir sind – und waren immer – bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen, um von der Gesellschaft anerkannt zu werden“, denn: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Angehörigen in polnischen Ghettos zurückgelassen und unsere besten Freunde wurden in Konzentrationslagern getötet, was einen Zusammenbruch unserer privaten Welt zur Folge hat.“10

10

Arendt, We refugees, 17f.

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Ähnlichkeiten mit der Flüchtlingssituation 2015 drängen sich auf, wenn sie feststellt, politischen Flüchtlingen sei schon seit der Antike Asyl gewährt worden, diese Praxis habe bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts „leidlich funktioniert. Die Schwierigkeiten begannen, als sich herausstellte, daß die neuen Kategorien von Verfolgten bei weitem zu zahlreich waren, als daß man sie durch eine Praxis, die auf Ausnahmefälle berechnet war, hätte bewältigen können.“11 Auch die jüngste „Flüchtlingskrise“ birgt moralische Grundsatzfragen: Können wir uns dem Schutzsuchen von Menschen verschließen, bloß weil es viele sind? Gelten die internationalen Flüchtlingsstandards nur für bequeme Schönwetterperioden oder sind sie aus den Erfahrungen des Holocaust, von Flucht und Vertreibung nicht gerade als bedingungslos geltend entwickelt worden? Arendts Werk ist auf die historische Einmaligkeit des Zivilisationsbruchs durch das NS-Regime gerichtet. Gleichwohl eröffnet es auch allgemeine Perspektiven auf die Erfahrungswelten und Paradoxien, in denen Flüchtlinge und Migranten ihr Leben gestalten (müssen). Für Ankommen sind das Knüpfen sozialer Beziehungen und das Wurzelschlagen, das Erinnern und Sich-Austauschen grundlegend. Das gilt für die Flüchtlinge von 2015 ebenso wie für die „Gastarbeiter“ und ihre Nachkommen, für die Spätaussiedler sowie alle sozialen Gruppen in Deutschland. Programmatisch für die sich heute stellenden moralischen, politischen und sozialen Herausforderungen des Umgangs mit der Flüchtlingsbewegung kann gelten, was Hannah Arendt schon 1965 in einer Vorlesung über Ethik im Hinblick auf moralisches Verhalten, Denken, Erinnern und Ankommen in Gesellschaft ausführte: „Denken und Erinnern, sagten wir, sind die menschliche Art und Weise, Wurzeln zu schlagen, den eigenen Platz in der Welt, in der wir alle als Fremde ankommen, einzunehmen. Was wir üblicherweise als Person oder Persönlichkeit – im Unterschied zu einem bloß menschlichen Wesen oder Niemand – nennen, entsteht gerade aus diesem wurzelschlagenden Denkprozeß.“12

11 12

Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, 757. Arendt, Einige Fragen der Ethik, 85.

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L. Pries

Literatur Arendt, Hannah, Einige Fragen der Ethik. Vorlesung in vier Teilen, in: Über das Böse. Eine Vorlesung über Fragen der Ethik, übersetzt von Ursula Lutz, aus dem Nachlass hg. von Jerome Kohn, München 2009, 7–150. Arendt, Hannah, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, Die Wandlung 4, Herbstheft Dezember 1949, 754–770. Arendt, Hannah, We refugees, in: Mark Robinson (Hg.), Altogether Else-where. Writers on Exile, Washington (1966) [1943]; deutsch zitiert nach Patrycja Przybilla, Zur Aktualität von Hannah Arendts Essay „Wir Flüchtlinge“ (1943), 14.2.2016, online: http://projektflucht.de/2016/02/14/zur-aktualitaet-von-hannaharendts-essay-wir-fluechtlinge-1943/ (Zugriff 24.8.2016). Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Bundeszentrale für politische Bildung, Bevölkerung mit Migrationshintergrund, online: http://www.bpb.de/wissen/NY3SWU,0,0, Bev%F6lkerung_mit_Migrationshintergrund_I.html (Zugriff 24.8.2016). Destatis, Der Mikrozensus stellt sich vor, online: https://www. destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Mik rozensus.html (Zugriff 24.8.2016). Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werksausgabe Bd. XI, hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1795 / 1977, 195–251. Kiyak, Mely, Ankommen ist mehr als sich irgendwo aufzuhalten, veröffentlicht von Heinrich Böll Stiftung, 5.2.2015, online: https:// www.boell.de/de/2015/02/05/ankommen-ist-mehr-als-sichirgendwo-aufzuhalten (Zugriff 19.7.2016). Lahm, Philipp, „Was treibt Sie an?“, Briefwechsel von Baidy Sow und Philipp Lahm, Die Zeit, 41 (2015), 8.10.2015, online: http://www.zeit.de/2015/41/fluechtling-philipp-lahm-briefwechsel (Zugriff 19.7.2016). Pries, Ludger, Migration und Ankommen. Die Chancen der Flüchtlingsbewegung, Frankfurt a. M. 2016. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR), Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland. Jahresgutachten 2014 mit Integrationsbarometer, Berlin 2014. Schader Stiftung, Zuwanderer auf dem Land – Forschung: Integration von Aussiedlern, 20.4.2007, online: https://www.scha derstiftung.de/themen/vielfalt-und-integration/fokus/ zuwanderungim-laendlichen-raum/artikel/zuwanderer-auf-dem-land-forschungintegration-von-aussiedlern/ (Zugriff 19.7.2016).

Wolf-Dieter Just

Die Europäische Union – eine Wertegemeinschaft? Asylpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit

1

Eine historische Erinnerung

„Flüchtlinge in Menge, besonders wenn sie kein Geld haben, stellen ohne Zweifel die Länder, in denen sie Zuflucht suchen, vor heikle materielle, soziale und moralische Probleme. Deshalb beschäftigen sich internationale Verhandlungen, einberufen, um die Frage zu erörtern: ‚Wie schützt man die Flüchtlinge?‘ vor allem mit der Frage: ‚Wie schützen wir uns vor ihnen?‘ Oder, durch ein Gleichnis ausgedrückt: Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geschmissen. Er droht zu ertrinken. Die Leute zu beiden Seiten des Stromes sehen mit Teilnahme und wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich nur nicht an unser Ufer rettet!“1

Ist der Text auf die Mitgliedsstaaten der EU gemünzt? Er passt genau – die Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist innerhalb der EU auf einem Tiefststand angelangt. Aber der Text stammt aus dem Jahr 1938. Autor ist Alfred Polgar, Essayist, Literatur- und Theaterkritiker, der als österreichischer Jude und Antifaschist schon 1933 aus Berlin fliehen und in anderen Ländern Schutz suchen musste – zunächst in Österreich, dann in der Schweiz, in Frankreich und schließlich in den USA. Polgar denkt hier an die internationale Flüchtlingskonferenz in Evian, Juli 1938, die den Problemen der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gewidmet war und ergebnislos endete. Auch nach der Konferenz, an der 32 Staaten teilnahmen, fanden die zahlreichen Juden, die dem NS-Staat entfliehen wollten, so gut wie keine aufnahmebereiten Immigrationsländer.  

1

Müller, Exil Asyl, 72.

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W.-D. Just

Flucht, Asyl, Vertreibung, Exil: Das ist – auch in seinem Umfang – kein neues Problem unserer Tage. Es war ein Dauerproblem des vorigen Jahrhunderts – hervorgerufen durch Krieg und Totalitarismus. Henning Müller hat in seinem Buch „Exil Asyl. Tatort Deutschland“ Texte deutscher Flüchtlinge im Exil zusammengestellt. Zu den Exilanten, die in dieser Anthologie zu Wort kommen, gehören Schriftsteller_innen wie Berthold Brecht, Kurt Tucholsky, Else LaskerSchüler, Thomas und Heinrich Mann; Wissenschaftler wie Albrecht Einstein, Theodor Adorno, Ernst Bloch; Politiker wie Willi Brandt und Maler wie Max Liebermann, Paul Klee und Ernst Ludwig Kirchner. Klangvolle Namen! Sie wären von den NS-Schergen ermordet worden, hätten nicht andere Länder sie aufgenommen und ihnen Schutz gewährt. Wenn man die Gedichte und Prosa dieser Deutschen liest, ist man überrascht, wie aktuell ihre Texte sind angesichts unserer Debatten um Asyl und Bleiberecht von Menschen, die heute vor Kriegen und Diktaturen fliehen. Und es waren ja nicht nur diese Eliten, die zur Flucht gezwungen waren. Während der NS-Zeit musste eine halbe Million Flüchtlinge das Land verlassen. Sie fanden in mehr als 80 Staaten weltweit Schutz, waren allerdings – das macht der PolgarText auch deutlich – meistens unerwünscht, abhängig von der Politik und dem Wohlwollen des Aufnahmelandes. Viele erlebten Erniedrigung, Entbehrung und Feindseligkeit. Und: Etliche fanden keinen Schutz, darunter vor allem Juden, vor denen man – wie die Schweiz – die Grenzen verschloss und die dann in Konzentrationslagern endeten! 2 2.1

Die Europäische Union – eine Wertegemeinschaft? Anspruch

Nach dem Krieg führte dieses desaströse Versagen der Völkergemeinschaft zu den Zurückweisungsverboten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 und der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 – in internationales Recht gegossene Lehren, die wir uns heute ins Gedächtnis rufen sollten, wenn darüber diskutiert wird, wie man die Flucht nach Europa und Deutschland stoppen, abschrecken, die Außengrenzen abriegeln kann. Dabei versteht sich die Europäische Union dezidiert als Wertegemeinschaft: So heißt es in Artikel 1 der Grundrechtecharta der EU:

Die Europäische Union – eine Wertegemeinschaft?

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„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.”

Im Folgenden bekräftigt die Charta ausdrücklich die Rechte, die sich aus der EMRK und der Sozialcharta des Europarats ergeben. Sie bekennt sich zum Recht auf Leben und „körperliche wie geistige Unversehrtheit“ jeder Person (Art. 3), zum Asylrecht und zur Geltung der GFK (Art. 18). In Artikel 19,2 heißt es: „(2) Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

Artikel 33,1 stellt fest: „Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz der Familie wird gewährleistet.“ Dieser Schutz der Familie gilt ohne Einschränkung und steht jedem Menschen zu, der sich im Raum der EU aufhält, also auch Flüchtlingen. An diesen Werten und Grundrechten muss sich die Politik der Europäischen Union messen lassen. 2.2

Wirklichkeit

Angesichts dessen, was wir täglich in den Medien über den Umgang mit Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU und in einigen Mitgliedsstaaten erfahren, wird eine krasse Kluft zwischen dem Anspruch einer „Wertegemeinschaft“ und der Wirklichkeit offenbar. Die EU lässt es seit Jahren zu, dass tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken – 3.600 allein im Jahr 2015. Sie nimmt tatenlos hin, dass Schutzsuchende in Lastwagen ersticken. Sie schottet sich ab mit hohen Zäunen entlang der Landgrenze zur Türkei, der Balkanroute, den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla; mit dem EUROSURSystem, das die Grenzen mit Satelliten, Drohnen und Sensoren überwacht. Sie handelt mit Diktatoren Abkommen aus, damit sie Flüchtlinge, die vor deren Repressionen geflohen sind, zurücknehmen2 etc. Immer wieder werden Flüchtlinge – oft auf lebensgefährliche Weise und völkerrechtswidrig – an Land- und Seegrenzen gestoppt und zur Rückkehr gezwungen – sog. „push-backs“3. Obwohl global immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen sind – 2016 wurde mit 65 2 3

Pro Asyl, Deals mit Despoten. Faigle / Lobenstein, Der Mann, der uns abschottet.

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Mio. Flüchtlingen weltweit ein neuer Höchststand erreicht –, verschärfen fast alle EU-Länder ihre Asylgesetzgebung, erschweren den Zugang zum Asyl, verschlechtern die Aufenthaltsbedingungen und erleichtern die Abschiebungen. Die EU – eine Wertegemeinschaft? Mit den Flüchtlingen rückt uns Europäern die ungleiche Entwicklung auf unserem Globus unmittelbar auf den Leib. Sie sind Botschafter einer ganz anderen Welt als der unseren, die wir in Sicherheit und Wohlstand leben – einer Welt von Verfolgung und Bürgerkrieg, Hunger und Elend – von Fluchtursachen, zu denen die westliche Welt selbst allerdings erheblich beiträgt (s.u.). Das Mittelmeer ist zu einer Wohlstandsgrenze und zu einem Massengrab geworden. 3

Die Entwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)

Am 12. Juni 2013 hat das Europäische Parlament das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS) verabschiedet, von mancher Seite euphorisch gefeiert, von anderer Seite heftig kritisiert. In einer Erklärung des Bundesinnenministeriums heißt es: Mit dem GEAS „entwickelt die Europäische Union die rechtlichen Grundlagen für einen gemeinsamen Raum des Flüchtlingsschutzes und der Solidarität substanziell weiter. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem sieht hohe Schutzstandards vor und gewährleistet faire, schnelle und wirksame Verfahren, mit denen auch Missbrauch verhindert werden kann. Unabhängig vom Mitgliedsstaat, in dem sich Schutzsuchende aufhalten, sollen sie eine gleichwertige [!] Behandlung bei Verfahrensgarantien und Aufnahmebedingungen sowie einheitlichen Schutzstatus erhalten.“4

Hält diese positive Bewertung des GEAS einem Realitätstest stand? Hat es in menschenrechtlicher Sicht Fortschritte gebracht? Wird damit das erklärte Ziel der EU erreicht, „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offensteht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Gemeinschaft um Schutz nachsuchen“?5

4 5

BMI, Pressemitteilung vom 07.06.2013. Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom Februar 2003.

Die Europäische Union – eine Wertegemeinschaft?

3.1

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Zur Vorgeschichte des GEAS

Die EU ist auf dem Weg zum GEAS einen langen Weg gegangen. Die Einwanderungs- und Asylpolitik lag zunächst allein in der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten. Sie wurde in den Gründungsverträgen der EG, den Römischen Verträgen von 1957, nicht erwähnt. Die Mitgliedsstaaten taten und tun sich bis heute schwer, in diesem sensiblen Politikfeld nationale Souveränitätsrechte an die EU abzugeben. Andererseits haben sich in der Union immer wieder Koordinierungs- und Harmonisierungsnotwendigkeiten herausgestellt – insbesondere mit der Öffnung innereuropäischer Grenzen, die mit dem Abkommen von Schengen 1985 ihren Anfang nahm. Eine wichtige Zäsur in der europäischen Asylpolitik war der Amsterdam-Vertrag, der 1999 in Kraft trat. Die Politikfelder Asyl und Einwanderung sowie Kontrolle der Außengrenzen sollen schrittweise „vergemeinschaftet“, d.h. in EU-Zuständigkeit überführt werden, um schrittweise EU-weit einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ aufzubauen. Bei dem EU-Gipfel im finnischen Tampere 1999 wurde dies konkretisiert und ein Programm für eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik beschlossen. Maßstab sollten die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) mit ihrem Zurückweisungsverbot und weitere Menschenrechtsabkommen sein. Dieses Bekenntnis zur GFK, der „Magna Charta des internationalen Flüchtlingsschutzes“, war damals von Nichtregierungsorganisationen der Flüchtlingshilfe und den Kirchen begrüßt worden. Mit dem Tampere Programm wollte man ein gemeinsames europäisches Asylsystem schaffen: Zuständigkeiten klären, gemeinsame Asylverfahrensstandards, Mindestnormen für die Aufnahme von Flüchtlingen und für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Bedingungen für vorübergehenden Schutz (z.B. von Bürgerkriegsflüchtlingen) und für subsidiären Schutz festlegen. Weitere Ziele waren der Ausbau von Rückführungsprogrammen, die Bekämpfung des Schlepperunwesens und der illegalen Einwanderung, die Intensivierung der Zusammenarbeit der Grenzkontrollbehörden und die Bekämpfung der Ursachen von Migration und Flucht durch Wirtschaftshilfen für die Herkunftsländer. Bei der späteren Umsetzung der Vorhaben wurden allerdings vor allem die sicherheitspolitischen Belange betont – insbesondere seit dem 11. September 2001. Das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheitsinteressen einerseits und den Grund- und Flüchtlingsrechten andererseits besteht bis heute fort.

100 3.2

W.-D. Just

Zum aktuellen Stand des GEAS6

Das GEAS wird mithilfe von Verordnungen und Richtlinien realisiert. Aufbauend auf Tampere soll die EU zu einem einheitlichen Schutzraum für Flüchtlinge werden, in dem gleiche Bedingungen für alle gelten und wirklich schutzbedürftigen Personen in allen Mitgliedsstaaten ein gleichwertiges, hohes Schutzniveau garantiert wird. Um dieses Ziel zu erreichen, soll ein einheitliches Asylverfahren und ein einheitlicher, unionsweit gültiger Rechtsstatus etabliert werden. Das GEAS umfasst zwei Verordnungen und fünf Richtlinien: – Die Dublin-Verordnung bestimmt, welcher Mitgliedsstaat für das Asylverfahren zuständig ist. – Die Eurodac-Verordnung regelt den europaweiten Fingerabdruckabgleich von Asylsuchenden und Menschen ohne Aufenthaltsrecht. – Die Aufnahmerichtlinie definiert EU-weite Mindeststandards für Unterbringung und Versorgung von Asylbewerber_innen. – Die Qualifikationsrichtlinie definiert die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling und für subsidiären Schutz. – Die Asylverfahrensrichtlinie legt vergleichbare Mindeststandards und Verfahrensgarantien für Asylbewerber_innen fest. – Die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz regelt u.a. den Umgang mit Bürgerkriegsflüchtlingen. – Die Rückführungsrichtlinie regelt einheitliche Verfahren für aufenthaltsbeendende Maßnahmen. 3.2.1 Das Dublin-System Hier soll näher auf das Dublin-System eingegangen werden, das für die EU-Asylpolitik von zentraler Bedeutung ist. Die Dublin-Verordnung regelt, welcher Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, wenn ein Asylsuchender in die EU einreist. Zentraler Inhalt ist das „One-State-Only“-Prinzip, mit dem illegale Weiterwanderungen und die Asylantragstellung einer Person in mehreren Staaten verhindert werden soll. Nur ein Mitgliedsstaat ist für die Prüfung eines Asylantrags zuständig – in der Regel derjenige, der zuerst einem Antragsteller die Einreise in das EU-Gebiet gestattet (bzw. nicht verhindert!) hat. Reist dieser illegal weiter, ist der Ersteinreisestaat verpflichtet, den Bewerber zurückzunehmen. Die Dublin-Verordnung gilt in allen EU-Mitgliedsstaaten sowie in Norwegen, Island und der Schweiz. Sie ist höchst umstritten, weil sie nach Überzeugung ihrer Vgl. hierzu Europäische Kommission, Das Gemeinsame Europäische Asylsystem; Informationsverbund Asyl & Migration, Neuregelungen im EUFlüchtlingsrecht. 6

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Gegner – der Autor eingeschlossen – zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen führt.7 3.2.2 Defizite der Dublin-Verordnung Die Regelung belastet überproportional die EU-Staaten an den Außengrenzen, insbesondere Griechenland, Malta und Italien, während sich die Mitgliedsstaaten in der geographischen Mitte der EU weithin ihrer Mitverantwortung entziehen können. Da sich die Staaten an den Außengrenzen mit der Aufnahme von Flüchtlingen überfordert sehen, greifen sie zu rigorosen Abwehrmaßnahmen, bei denen es immer wieder zu Verletzungen der Zurückweisungs („Refoulement“)Verbote der GFK und der EMRK kommt: Sie versuchen auf oft rüde und menschenrechtswidrige Art und Weise, Flüchtlinge an der Einreise in das EU-Gebiet zu hindern, damit diese gar nicht erst die Möglichkeit erhalten, einen Asylantrag zu stellen: hohe Zäune, Abdrängen und Rückeskortieren von Flüchtlingsbooten, Verstöße gegen die seerechtlich verpflichtende Seenotrettung etc. Zu den Abwehrmaßnahmen der Staaten an den Außengrenzen gehören auch abschreckende Aufnahmebedingungen: In Bulgarien und Ungarn drohen Flüchtlingen Haft oder Obdachlosigkeit, in Italien Obdachlosigkeit und mangelnde soziale und gesundheitliche Versorgung. In Griechenland sind die „Haft-, Verfahrens- und Aufnahmebedingungen“ laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte so menschenrechtswidrig, dass Rücküberstellungen gemäß Dublin-Verordnung nach Griechenland seit 2011 unzulässig sind.8 Mit verschiedenen Verwaltungsgerichtsentscheidungen wurden in jüngster Zeit auch Rücküberstellungen nach Italien, Ungarn und Bulgarien verboten – wegen „systemischer Mängel“ des Asylsystems in diesen Ländern oder wenn den Betroffenen Obdachlosigkeit, mangelnde materielle und gesundheitliche Versorgung droht.9 Schließlich bleiben bei der Regelung des für das Asylverfahren zuständigen EU-Staates die Wünsche der Flüchtlinge gänzlich unberücksichtigt. Ob ein Antragsteller in einem EU-Staat Freunde, entferntere Verwandte oder andere Bindungen hat, ob er die Landessprache spricht, gute Qualifikationen und Job-Chancen hat etc. – all das spielt keine Rolle. Entgegen der erklärten Absicht gibt es keine Garantie für ein faires Asylverfahren durch die Dublin-Verordnung. Vgl. u.a. UNHCR, UNHCR-Analyse; AWO / Diakonie Deutschland, Memorandum, 3ff. 8 EGMR – 30696 – Urteil vom 21.01.2011. 9 Für eine Auflistung solcher Entscheidungen s. Stahmann, Entscheidungen 2015. 7

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Es werden sogar Kern-Familien auseinandergerissen, Menschen inhaftiert oder von sozialer Unterstützung ausgeschlossen.10 Das Dublin-System setzt einheitliche Standards der Schutzgewährung in der EU voraus, wovon in der Realität keine Rede sein kann. Z.B. klaffen die Anerkennungsquoten für Asylsuchende in den Mitgliedsstaaten weit auseinander; die materielle und gesundheitliche Versorgung weist gravierende Unterschiede auf. Die reformierte Dublin III-Verordnung trat am 1. Januar 2014 in Kraft. Sie enthält einige Verbesserungen gegenüber der Dublin IIVerordnung von 2003. Dazu gehört ein Überstellungsverbot bei „systemischen Mängeln“ des Asylverfahrens in dem Mitgliedsstaat, in den abgeschoben werden soll (Art. 3 Abs. 2), und bei Gefahr von „unmenschlicher und erniedrigender Behandlung“ im Sinne von Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta. Ob solche „systemischen Mängel“ vorliegen, soll das auf Malta neu eingerichtete European Asylum Office prüfen. Zu den Verbesserungen gehört auch ein verbesserter Schutz Minderjähriger gemäß der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 6). Das Dublin-System ist aber das gleiche geblieben: Die Zuständigkeit für das Asylverfahren bleibt beim Ersteinreisestaat, d.h. wenig Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten untereinander bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Zum Zwecke der effektiven Anwendung der Dublin-Verordnung wurde schon 2000 die Eurodac-Verordnung beschlossen, das automatisierte, europäische Fingerabdruck-Identifizierungssystem. Damit wird sehr schnell festgestellt, welches Mitgliedsland als Ersteinreisestaat für das Asylverfahren zuständig ist, ob ein Flüchtling bereits in einem anderen Mitgliedsstaat einen Asylantrag gestellt hat etc. 4

Die Erklärung EU–Türkei vom 18. März 201611

Derzeit sind sich die ansonsten äußerst zerstrittenen EU-Regierungschefs in einem Punkt einig: dass die Außengrenzen der EU noch stärker abgeriegelt werden müssen und Frontex gestärkt werden soll. Darum haben sie u.a. mit dem Autokraten Erdogan eine unter völkerrechtlichen und humanitären Gesichtspunkten sehr umstrittene Vereinbarung getroffen:

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European Council on Refugees and Exiles, Dublin II Regulation, 6ff. Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung vom 18.3.2016.

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„1) Alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, werden in die Türkei rückgeführt“12. Trotzdem soll jede_r einen Asylantrag in Griechenland stellen können. Wer nachweisen kann, dass er / sie in der Türkei nicht sicher ist, hat Anspruch auf Schutz. „2) Für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer wird ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt, wobei die VN-Kriterien der Schutzbedürftigkeit berücksichtigt werden.“13 Für dieses 1:1-Umsiedlungsverfahren stehen zunächst 18.000 Plätze zur Verfügung. „3) Die Türkei wird alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass neue See- oder Landrouten für die illegale Migration von der Türkei in die EU entstehen.“14

Der Türkei sollen die bereits zugesagten 3 Mrd. Euro für syrische Flüchtlinge zügig überwiesen werden. Weitere 3 Mrd. Euro sollen bis 2018 folgen. Der Türkei wird die Visafreiheit in Aussicht gestellt, muss dazu allerdings 72 Bedingungen erfüllen, darunter Veränderungen seiner Antiterrorgesetze.15 Schließlich erhält die Türkei eine verbesserte EU-Beitrittsperspektive. Die EU will mit diesem Abkommen die Zuwanderung von Flüchtlingen in die EU deutlich reduzieren und gleichzeitig das menschliche Leid auf den gefährlichen Fluchtrouten von der Türkei in die EU beenden, indem Flüchtlingen deutlich gemacht wird, dass die von den Schleusern angebotenen Routen aussichtslos sind.16 Gleichzeitig soll ein legaler Weg für die Einreise syrischer Flüchtlinge in die EU eröffnet werden. Tatsächlich kommen seit dem 20. März 2016 deutlich weniger Flüchtlinge. Ein Erfolg? Die EU ist zufrieden. In ihrer Evaluation des Abkommens vom Juni 2016 heißt es: „In den Wochen vor der Umsetzung der Erklärung sind täglich rund 1.740 Migranten über die Ägäis auf die griechischen Inseln gelangt.“17 Dagegen ist die durchschnittliche Zahl der irregulären Grenzübertritte pro Tag seit dem 1. Mai 2016 auf 47 zurückgegangen. Insgesamt wurden 511 Syrer über die 1:1-Verabredung aus der Türkei neu in der EU angesiedelt.

Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung vom 18.3.2016. Ebd. 14 Ebd. 15 Dazu ist die Türkei nicht bereit – zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Aufsatzes das größte Hindernis. 16 EU-Kommission, Pressemitteilung vom 15.06.2016. 17 Ebd. 12 13

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Allerdings wird dadurch nur ein europäisches Problem gelöst – aus den Augen aus dem Sinn. Die Probleme jenseits europäischer Grenzen bleiben: Kriege, Vertreibungen und Repression zwingen weiter Menschen zur Flucht. Was wird aus denen, die an den neuen Festungsmauern Europas scheitern? Einige wenige Syrer_innen erhalten noch die Möglichkeit, in Europa Schutz zu finden. Aber was wird aus den Iraker_innen, Afghan_innen und Eritreer_innen, die vor Bomben und Terror fliehen? Zudem hat die Türkei ihre Grenzen geschlossen und schiebt Flüchtlinge sogar nach Syrien ab. Flüchtlingen, die im 1:1-Verfahren rücküberstellt werden, versperrt sie die Möglichkeiten, Asyl zu beantragen, bringt sie in haftähnlichen Lagern unter, zu denen weder der UN-Flüchtlingshochkommissar (UNHCR) noch Anwälte Zugang haben.18 Rechtlich wie praktisch zeigt sich, dass die Türkei kein „sicherer Drittstaat“ ist: Das Ausweisungs- und Zurückweisungsverbot der GFK in Staaten, in denen das Leben und die Freiheit der Flüchtlinge bedroht wären (Art. 33), sichert die Türkei nur Flüchtlingen aus europäischen Ländern zu. Das Land hat die GFK nur mit einem „geographischen Vorbehalt“ unterzeichnet: Für Menschen, die aus anderen Ländern fliehen – wie Syrien, Irak oder Afghanistan –, gilt sie nicht. In seinem Gutachten kommt Rechtsanwalt Reinhard Marx zu dem Ergebnis, dass die Türkei gemäß Unionsrecht nicht als „sicherer Drittstaat“ betrachtet werden kann.19 Libanon und Jordanien sind für Syrien-Flüchtlinge keine Alternative mehr. Beide Länder sind längst überfordert; die Versorgung der Flüchtlinge bricht zusammen. Dass sich Europa auf diese Weise die Flüchtlinge vom Hals hält, ist ein mehr als fragwürdiger „Erfolg“. Der EU geht es – wie in dem eingangs erwähnten Text von Polgar – zuerst um den Schutz vor Flüchtlingen als von Flüchtlingen. Die wenigen Flüchtlinge und Migrant_innen, die noch in Griechenland ankommen, werden in den sog. „Hotspots“ untergebracht. Diese sind nach den neuen Regelungen in Hafteinrichtungen umfunktioniert worden, weil neu ankommende Flüchtlinge in die Türkei rücküberstellt werden sollen – ein Verstoß gegen die GFK (Art. 31 und 33). Der UNHCR lehnt solche sofortigen Inhaftierungen grundsätzlich ab und hat einige Aktivitäten auf den Inseln ausgesetzt, wie den Transport zu und von diesen Standorten.

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Pro Asyl, Bericht zum EU-Türkei Deal. Marx, Rechtsgutachten.

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Was sind die Alternativen zur aktuellen Asylpolitik der EU?

5.1 Umverteilung der Flüchtlinge nach festgesetzten Quoten? Seit das Dublin-System kollabiert ist und Deutschland nicht mehr von seiner geographischen Mittellage bei der Aufnahme von Flüchtlingen profitiert, sondern immer mehr Flüchtlinge aufnehmen muss, schließt es sich Vorschlägen der EU-Kommission und des EU-Parlaments an und ruft nach mehr europäischer Solidarität – Solidarität, die Deutschland selbst den Staaten an den Außengrenzen jahrelang verweigert hat. Es hatte darauf bestanden, dass das Erstaufnahmeland in der EU für das Asylverfahren zuständig ist – also vor allem die Staaten an den Außengrenzen. Eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in der EU wurde abgelehnt. Erst als die Flüchtlingszahlen in Deutschland erheblich zunahmen, weil die Erstaufnahmeländer sich wehrten und Flüchtlinge einfach durchwinkten, begann Deutschland die europäische Solidarität zu beschwören und verlangt die Verteilung der Flüchtlinge nach dauerhaft festen Quoten. Ein solcher Vorschlag ist jedoch im Ministerrat nicht durchsetzbar. Auch einmalige Verteilaktionen funktionieren nicht. Am 22. September 2015 hatte der Ministerrat der EU per Mehrheitsvotum – gegen Mitgliedsstaaten in Osteuropa – beschlossen, einmalig 160.000 Schutzsuchende aus Griechenland und Italien auf andere EU-Staaten umzuverteilen. Von diesen 160.000 wurden bis Ende Februar 2016 ganze 598 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien tatsächlich umverteilt. Einige Staaten aus Osteuropa weigern sich generell, Flüchtlinge aufzunehmen. Ungarn und die Slowakei klagen gegen diesen EU-Umverteilungsbeschluss vor dem Europäischen Gerichtshof. Ungarns Regierungschef Viktor Orban will sein Volk sogar in einem Referendum darüber abstimmen lassen, ob sich Ungarn dem EU-Beschluss beugen und die auf das Land entfallenen 1.294 Flüchtlinge aufnehmen soll. Anfang Mai 2016 hat die EU-Kommission daraufhin einen neuen Vorschlag gemacht, der zur Zeit diskutiert wird – eine Kombination der alten Dublin-Verordnung mit einem Quotensystem: Zunächst bleibt gemäß Dublin-Verordnung der Staat für das Asylverfahren zuständig, in den der Flüchtling zuerst einreist. Für den Fall, dass ein Land aber durch die Zuwanderung vieler Flüchtlinge überfordert ist, soll eine Verteilung auf die übrigen EU-Länder greifen. Für die Verteilung wird für jedes Land eine Quote festgelegt, die jeweils zur Hälfte auf der Bevölkerungsgröße und dem Bruttoinlandsprodukt basiert. Übersteigt die Zahl der Flüchtlinge die Aufnahmequote des Landes um 50 %, werden diese auf die übrigen EU-Länder nach die-

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sem Schlüssel verteilt. Es geht also um einen permanenten Verteilmechanismus. Staaten, die sich diesem System aber komplett verweigern, sollen nach dem Willen der Kommission 250.000 Euro für jeden Flüchtling zahlen, der in einem anderen Land unterkommt. Das, sagten EU-Diplomaten, sei bewusst „als Abschreckung“ gedacht. In einer Situation wie im Sommer 2015 würden auf Verweigerer schnell Rechnungen über Hunderte Millionen Euro zukommen. Ebenfalls berücksichtigt werden soll, ob ein Land Flüchtlinge direkt aus Krisengebieten oder Drittstaaten wie der Türkei oder Jordanien aufnimmt. Solche Aufnahmen finden im Rahmen von sogenannten Neuansiedlungsprogrammen (Resettlement) bereits statt. Der UNHCR prüft in Krisengebieten und Flüchtlingslagern, wer Anspruch auf Asyl hat und besonders schutzbedürftig ist. Die Betroffenen werden dann an ein Aufnahmeland vermittelt. Die Reaktion aus Osteuropa kam prompt. Polens Innenminister Maiusz Blaszczak nannte den Plan der Kommission „nicht akzeptabel“, da er ein „System der dauerhaften Umsiedlung“ schaffe. „Das hört sich nach einem Aprilscherz an“, sekundierte Außenminister Witold Waszczykowski. Sein ungarischer Kollege Peter Szijjarto sprach von „Erpressung“. Der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek sagte: „Etwas vorzulegen, was uns trennt, hilft niemandem.“20 Eine Quotenregelung hätte den Vorteil, dass die Länder an den Außengrenzen entlastet würden. Außerdem würde die Aufnahme von Flüchtlingen als gesamteuropäische Aufgabe anerkannt. Das Problem dieses Vorschlags ist aber nicht nur, dass osteuropäische Staaten ihn ablehnen. Undiskutabel ist, dass bei dem Vorschlag die Wünsche der Flüchtlinge völlig außen vor bleiben: wenn sie z.B. in einem Land Asyl suchen wollen, wo sie Angehörige haben, die Sprache sprechen, Beschäftigungsmöglichkeiten sehen etc. Durch eine solche Zwangsverteilung werden sie weiter wie Objekte behandelt und in Länder geschickt, in die sie nicht wollen und die sie nicht wollen. Zurecht werden sich diejenigen ungerecht behandelt fühlen, die nach Bulgarien, Griechenland, Italien oder Ungarn umverteilt werden, andere nach Schweden oder Deutschland. Die Aufnahmebedingungen und Anerkennungschancen sind trotz aller Harmonisierungsbemühungen in den EU-Ländern eklatant unterschiedlich. Und wie werden die Länder mit Asylsuchenden umgehen, die sie grundsätzlich nicht aufnehmen wollen? Osteuropäische Mitgliedsstaaten haben bis zum historischen Zerfall der Sowjetunion 1989 keine Erfahrung mit Migration und Flüchtlingsaufnahme gemacht. Sie 20

Becker, Osteuropäer kündigen Widerstand gegen EU-Plan an.

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sind „in der Flüchtlingsfrage auch nach 25 Jahren nicht annähernd auf dem gleichen Entwicklungsstand wie die zentraleuropäischen Mitgliedstaaten“. Auch Deutschland, Frankreich, Benelux etc. „haben einen Jahrzehnte dauernden konfliktreichen Prozess durchlaufen“ müssen, bis sie sich als Einwanderungsstaaten verstanden.21 Es ergibt keinen Sinn, osteuropäischen Ländern die Quote aufzuzwingen, die mit „Kulturfremden“ (z.B. Muslimen) bisher nichts zu tun hatten und dementsprechend feindlich ihnen gegenüber sind. Werden dann nicht rechtsextreme Regierungen an die Macht kommen – wie in Ungarn – und dafür sorgen, dass Flüchtlinge sich schnellstens davonmachen? Auch bei einer Quotenregelung bleibt jedem Land die Möglichkeit, die Flüchtlinge so schlecht zu behandeln, dass sie aus diesem Grunde eiligst weiterziehen. Einem Wettbewerb der Schäbigkeiten der EULänder bei der Aufnahme von Flüchtlingen sollte eigentlich das GEAS durch EU-weit einheitliche Standards bei den Aufnahmebedingungen entgegenwirken. Aber wie soll das gelingen – wie soll Bulgarien Flüchtlingen einen deutschen Hartz-IV-Satz zahlen, den kaum ein Arbeitnehmer dort erreicht? Wie soll es schwedische Standards bei der Unterbringung und medizinischen Versorgung stemmen? Wird Griechenland automatisch Iraker_innen, Syrer_innen, Afghan_innen usw. krankenversichern, was im Blick auf die eigenen Landsleute nicht finanzierbar ist? Ein solches System kann nicht funktionieren. Die Umverteilung von Flüchtlingen sollte nur auf freiwilliger Basis erfolgen und die Wünsche der Flüchtlinge berücksichtigen. Zu den aktuellen Plänen der EU gehört auch ein militärisches Vorgehen gegen Schlepper und ein Zerstören ihrer Boote. Dazu erhofft man sich ein UN-Mandat. Auch dieser Vorschlag ist höchst problematisch. Den Flüchtlingen nimmt man die letzte Möglichkeit, nach Europa zu kommen, sie würden in Nordafrika in der Falle sitzen. Schlepperdienste würden wohl nicht aufhören, aber noch gefährlicher und teurer werden.   5.2 Freie Wahl des Aufnahmelandes: Organisationen, die in der Arbeit mit Flüchtlingen engagiert sind wie Wohlfahrtsverbände und Pro Asyl, fordern andere Lösungen. Sie haben in einem Memorandum zur Flüchtlingsaufnahme in der EU (2013) einen menschenrechtlichen Umbau dieses Systems gefordert. Kernpunkt der Forderung ist, dass die Flüchtlinge frei wählen können, in welchem Mitgliedsstaat sie ihren Asylantrag stellen wollen. Der Ersteinreisestaat wäre also nicht 21

AWO / Diakonie Deutschland u.a., Für die freie Wahl des Zufluchtlandes, 7.

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automatisch zuständig, sondern hätte dem Flüchtling gegebenenfalls die Weiterreise in den Staat seiner Wahl zu gestatten. Dieser Vorschlag ist menschenrechtlich gut begründet. Mit einer solchen Regelung würde die freie Selbstbestimmung von Asylsuchenden respektiert. Sie wären nicht länger Objekte eines abstrakten Zuständigkeitssystems für Asylverfahren in der EU und würden nicht wie eine Ware zwischen Mitgliedsstaaten hin- und hergeschoben. Sie wären vielmehr Subjekte ihrer Lebensplanung – eine zentrale Voraussetzung des Schutzes ihrer Menschenwürde. Sie wären frei, ihren Asylantrag dort zu stellen, wo sie am ehesten mit einem fairen Verfahren und dem Schutz ihrer Menschenrechte rechnen können. Sie würden sich auch sehr viel leichter integrieren, weil sie Staaten vorziehen würden, in denen sie die Sprache sprechen, familiäre bzw. Freundesnetzwerke haben, Beschäftigungschancen sehen etc. Das läge natürlich auch im Interesse des Aufnahmestaates. Schließlich würden die EU-Staaten an den Außengrenzen entlastet, die zu Recht über den Mangel an europäischer Solidarität klagen. Der Haupteinwand gegen dieses „Free-Choice-Prinzip“ ist, dass viele Flüchtlinge in die Staaten wandern würden, in denen die Anerkennungschancen und Sozialstandards am höchsten sind. Es würden also wieder einige Mitgliedsstaaten überproportional belastet – voraussichtlich Staaten in der Mitte und im Norden der EU. Solange die Aufnahmebedingungen in der EU nicht angeglichen sind, was zwar Ziel des GEAS ist, aber in weiter Ferne liegt, wäre das unvermeidlich. Um dieses Argument zu entkräften, schlagen die Verfasser des Memorandums vor, Staaten, die überproportional Flüchtlinge aufnehmen, mit Hilfe eines finanziellen Ausgleichsfonds zu entschädigen. Dafür würde sich der Asyl- und Migrationsfonds der EU anbieten und wäre entsprechend aufzustocken. Dies ist sicher ein guter Vorschlag im Sinne der Menschenrechte von Asylsuchenden. Aber er dürfte kaum durchsetzbar sein. Das „Free-Choice-Prinzip“ wird seit Jahren in der EU als „Asylshopping“ diffamiert, das unterbunden werden soll. 5.3 Legale, gefahrenfreie Zugangswege nach Europa eröffnen: Das GEAS „regelt vornehmlich die Rechte derjenigen Flüchtlinge und Asylbewerber_innen, die sich bereits auf dem Territorium eines Mitgliedstaates befinden.“22 Das moralisch und menschenrechtlich größte Problem der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik besteht aber darin, dass sie Menschen, die vor Krieg, Terror und Not fliehen, kaum legale Wege nach Europa bietet – mit der Folge, dass Flücht22

Bendel, Flüchtlingspolitik, 6.

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linge mit Hilfe von Schleppern gefährliche Fluchtrouten nehmen, die bereits Tausenden das Leben gekostet haben. Darum fordern Kirchen und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren, neuerdings sogar der Frontex-Chef23, legale Zugangswege zum Asyl in Europa. Dazu gehören: – Humanitäre Aufnahmeprogramme in Kooperation mit dem UNHCR (Resettlement); diese gibt es zwar bereits, doch sind sie dem Umfang nach völlig unzureichend, – Erleichterung des Familiennachzugs, – Aussetzung der Visumspflicht für Länder wie Syrien, – Ausstellung humanitärer Visa in den Botschaften der Krisenländer, – Aufnahme von Flüchtlingen auf der Basis privater Verpflichtungserklärungen. Leider sind diese Forderungen derzeit politisch kaum durchsetzbar angesichts der Tatsache, dass sich in den Ländern Europas ein kleingeistiger Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit immer mehr breitmachen. Rechtsextreme Parteien gewinnen fast überall starken Zulauf, und die konservativen, etablierten Parteien sind eher bemüht, diesen rechten Rand selbst abzudecken, um Wähler_innen „zurückzugewinnen“, als dass sie die menschenrechtsbasierte europäische Werteordnung verteidigen.   5.4 Was sicherlich sinnvoll ist, ist, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Die EU bekannte sich schon 1999 in Tampere zu diesem Ziel und wiederholt es oft, zuletzt in der European Agenda on Migration von 2015. Dies ist aber oft schwierig und nicht kurzfristig zu realisieren – wie z.B. eine Beendigung der Bürgerkriege in Afghanistan, Syrien und Irak oder der Diktatur in Eritrea. Es ist richtig, dass die EU die Anrainerstaaten jener Krisenregionen bei der Aufnahme von Flüchtlingen finanziell unterstützt – quantitativ allerdings viel zu wenig. Das Hauptproblem der EU-Politik besteht aber darin, dass sie selbst zu vielen Fluchtursachen beiträgt und zu Reformen nicht bereit ist – z.B. zum Verzicht auf Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete, zum Verzicht auf das Agrardumping, das in Afrika die einheimische Landwirtschaft zerstört, zum Verzicht auf eine Fischereipolitik, die afrikanischen Fischern ihre Fanggründe raubt usw. Fluchtursachen bekämpfen ist sehr wichtig, aber das geht nicht ohne faire Handelsbeziehungen, internationalen Interessenausgleich, Stärkung von Demokratiebewegungen weltweit anstatt Stärkung von Diktaturen wie derzeit durch Rückübernahmeabkommen mit Despoten. 23

dts, Frontex-Chef fordert mehr legale Wege für Flüchtlinge nach Europa.

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„Eine systematische Verkoppelung (von Fluchtursachenbekämpfung) mit entwicklungspolitischen Maßnahmen, die menschenrechtlich gestützt sind, steht hingegen aus. Die Mitgliedsländer unterstützen die Herkunfts- und Anrainerstaaten nicht in ausreichendem Maße.“24

5.5 Sinnvoll ist es, die Asylverfahren zu beschleunigen – das ist auch im Interesse der Flüchtlinge. Die langen Wartezeiten auf einen Entscheid über ihr künftiges Leben sind für sie zermürbend, führen zu Depression, zunehmend auch – derzeit in Deutschland zu erleben – zur Rückkehr in ihr Herkunftsland, obwohl ihnen dort Lebensgefahr droht. 5.6 Sinnvoll ist es, diejenigen, die bereits in Europa sind, sofort zu integrieren, sie die Sprache des Aufnahmelandes lernen, eine Ausbildung machen zu lassen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Davon wird Deutschland z.B. längerfristig sogar profitieren. Die Wirtschaft sieht diese Zuwanderung junger, mutiger, hoch motivierter Leute bekanntlich als große Chance angesichts unserer demographischen Probleme und des Fachkräftemangels, angesichts von 40.000 unbesetzten Lehrstellen, dem Mangel an Pflegekräften, Ingenieuren usw. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, schreibt im Handelsblatt (30.10.2015): „Deutschland profitiert von den Flüchtlingen. Die Offenheit für andere Menschen, andere Kulturen und andere Ideen war und ist eine Säule für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes.“ Die fünf Wirtschaftsweisen haben sich ähnlich geäußert. 6

Was Hoffnung macht

Man mag fragen, was die Menschenrechte eigentlich wert sind, wenn sie doch ständig verletzt werden. Aber das Menschenrechtskonzept sollte nicht mit unangemessenen Erwartungen überfrachtet werden. Auch das Diebstahlverbot wird täglich 1000-fach verletzt, ohne darum sinnlos zu sein. Man braucht sich nur vorzustellen, wo wir ohne die Menschenrechte stünden. Ohne sie könnten keine Menschenrechtsverletzungen angeprangert werden. Erst durch die Definition einer Norm „wird ihre Verletzung (überhaupt) benennbar und kritisierbar.“ (Fritzsche) Erst durch die Anerkennung der bürgerlichen und sozialen Menschenrechte werden gnadenlose push-backs, Definitionen von „Obergrenzen“ für Schutzbedürftige, Einschränkungen des Familiennachzugs oder der Ausschluss von ausreichender sozia24

Bendel, Flüchtlingspolitik der Europäischen Union, 7.

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ler und medizinischer Versorgung als Menschenrechtsverletzungen skandalisierbar. Menschenrechte definieren humanitäre Normen, zu deren Gewährleistung sich große Mehrheiten von Staaten dieser Welt verpflichtet haben. Sie besitzen eine breite internationale Legitimationsbasis. Der Rechtscharakter der Menschenrechte hat, wie oben gezeigt, bereits zu einer Reihe wichtiger Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs geführt: so z.B. zum Verbot menschenrechtswidriger „push-backs“ und Rücküberstellungen von Dublin-Flüchtlingen in Mitgliedsstaaten, deren Asylpraxis „systemische Mängel“ aufweisen.25 Zudem fundieren die Menschenrechte das Engagement all derer, die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzen. Es wächst eine Zivilgesellschaft in Deutschland und Europa, die nicht länger bereit ist, den krassen Widerspruch zwischen dem Anspruch der EU einer menschenrechtsbasierten Wertegemeinschaft und der asylpolitischen Wirklichkeit hinzunehmen. Man schaut auf das Leid der Flüchtlinge, die z.B. in Syrien der Hölle entflohen sind, den Fassbomben und Giftgasattacken des Assad-Regimes, den Kopfabschneidern und Vergewaltigern des IS, dem Mangel an Versorgung mit dem Allernötigsten an Nahrung, Obdach und medizinischer Hilfe. Sie zeigen Mitgefühl und praktische Solidarität über alle nationalen Grenzen hinweg, als Bürger_innen dieser einen Welt. Bleibt zu hoffen, dass dieser Teil unserer Gesellschaft weiter wächst und politisch und praktisch an Boden gewinnt. Literatur Bendel, Petra, Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Menschenrechte wahren!, in: Friedrich Ebert Stiftung (Hg.), WISO Diskurs 18/2015, Bonn 2015. AWO / Diakonie Deutschland u.a. (Hg.), Memorandum. Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union: Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit, Frankfurt 2013. AWO / Diakonie Deutschland u.a. (Hg.), Für die freie Wahl des Zufluchtlandes in der EU. Die Interessen der Flüchtlinge achten, Frankfurt 2015. Becker, Markus, Osteuropäer kündigen Widerstand gegen EU-Plan an, in: Spiegel online, 4.5.2016, online: http://www.spiegel.de/ 25

Vgl. dazu Just, „Die Menschenwürde …“, 140ff.

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politik/ausland/reform-des-dublin-systems-osteuropa-gegenneues-asylsystem-a-1090813.html (Zugriff 26.7.2016). Bundesinnenministerium (BMI), Pressemitteilung vom 7.6.2013, online: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2013/06/europaeisches-asylsystem.html (Zugriff 26.7.2016). dts, Frontex-Chef fordert mehr legale Wege für Flüchtlinge nach Europa, in: all-in.de, 28.6.2016, online: http://www.all-in.de/ nach richten/deutschland_welt/politik/Frontex-Chef-fordert-mehrlegale-Wege-fuer-Fluechtlinge-nach-Europa;art15808,2313142 (Zugriff 26.7.2016). European Council on Refugees and Exiles, Dublin II Regulation. Lives on hold. European Comparative Report, Brüssel 2013. Europäische Kommission, Das Gemeinsame Europäische Asylsystem, Brüssel 2014. Europäische Kommission, A European Agenda on Migration, Brüssel 13.05.2015. Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 15.06.2016, Bewältigung der Flüchtlingskrise: Kommission berichtet über die Fortschritte bei der Umsetzung der Erklärung EU-Türkei, online: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2181_de.htm (Zugriff 26.7.2016). Faigle, Philip / Lobenstein Caterina, Der Mann, der uns abschottet, in: ZEIT online, 12.5.2015, online: http://www.zeit.de/2015/07/ fabrice-leggeri-frontex/komplettansicht (Zugriff 26.7.2016). Informationsverbund Asyl & Migration (Hg.), Neuregelungen im EUFlüchtlingsrecht, Beilage zum Asylmagazin 7–8, Berlin 2013. Just, Wolf-Dieter, „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ Soziale Menschenrechte für Flüchtlinge im europäischen Kontext, in: Heinrich Bedford-Strohm u.a. (Hg.): Jahrbuch des Sozialen Protestantismus Bd. 7, Gütersloh 2014, 125– 152. Marx, Reinhard, Rechtsgutachten zur unionsrechtlichen Zulässigkeit des Plans der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die Türkei als „sicherer Drittstaat“ zu behandeln im Auftrag von Pro Asyl, Frankfurt 14.3.2016, online: https://www.proasyl.de/ wpcontent/uploads/2016/03/160315_Gutachten_Marx_Tuerkei_ als_sicherer_Drittstaat_final.pdf (Zugriff 26.7.2016). Müller, Henning (Hg.), Exil Asyl. Tatort Deutschland, Gerlingen 1993. Pro Asyl, Deals mit Despoten. Wie Europa seine Werte opfert, um Fluchtbewegungen zu verringern, Frankfurt 15.4.2016, online: https://www.proasyl.de/news/deals-mit-despoten-wie-europaseine-werte-opfert-um-fluchtbewegungen-zu-verringern/ (Zugriff 26.7.2016).

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Pro Asyl, Bericht zum EU–Türkei Deal: Bietet die Türkei wirklich einen effektiven Zugang zum Asyl? Frankfurt 2016, online: https://www.proasyl.de/news/bericht-zum-eu-tuerkei-deal-bietetdie-tuerkei-wirklich-einen-effektiven-zugang-zum-asyl/ (Zugriff 26.7.2016). Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung 144/16. Erklärung EU–Türkei, 18.3.2016, online: http://www.consilium.europa.eu/ de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-statement/ (Zugriff 26.7.2016). Stahmann, Rolf, Entscheidungen 2015, online: http://stahmannanwalt.de/migrationsrecht/gerichtsentscheidungen/ (Zugriff 26.7.2016). UNHCR, UNHCR-Analyse der vorgeschlagenen Neufassung für die Dublin-II-Verordnung und die Eurodac-Verordnung, 18.3.2009, online: http://ausserkontrolle.blogsport.de/images/UNHCR_Dub II_Neufassung1.pdf (Zugriff 26.7.2016).

Thomas K. Bauer / Holger Kolb

Arbeitsmarktintegration von Asylbewerbern1

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Einleitung

Die durch verschiedene kriegerische Auseinandersetzungen im Nahen Osten und anderen Krisenherden ausgelösten Flüchtlingsströme stellen Deutschland vor große Herausforderungen. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden in Deutschland 2015 mehr als 475.000 Anträge auf Asyl gestellt;2 der bisherige Rekordwert aus dem Jahr 1992 wird damit auf jeden Fall übertroffen. Das tatsächliche Volumen der im Jahr 2015 nach Deutschland eingereisten Schutzsuchenden bildet diese Zahl allerdings nur ansatzweise ab, denn laut dem System der „Erstverteilung der Asylbegehrenden“ (EASY) sind in Deutschland ca. 1,1 Millionen Flüchtlinge registriert worden. Selbst wenn man diese Zahl um Doppelzählungen und Weiterwanderungen bereinigt und die Zahl der Antragsteller_innen unter einer Million bleiben sollte, wird deutlich, dass Deutschland aktuell mit einer gewaltigen integrationspolitischen Herausforderung konfrontiert ist. Trotz dieser dramatischen Zahlen wird in der öffentlichen Debatte zur Flüchtlingskrise häufig vergessen, dass die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Geschichte bereits mehrfach erhebliche Zuwanderungsströme zu meistern hatte. So wurden zwischen 1944 und 1950 nahezu 8 Millionen Vertriebene in einem weitgehend zerstörten Westdeutschland aufgenommen3 und zwischen 1990 und 1993 musste Deutschland sich nicht nur den Herausforderungen der Wiedervereinigung stellen, in diesem Zeitraum kamen auch über 1,2 Millionen Asylbewerber_innen4 und eine Millionen (Spät-)Aussiedler_innen5 nach Deutschland. 1 2 3 4 5

Teile dieses Beitrags sind Bauer, Schnelle Arbeitsmarktintegration, entnommen. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl. Vgl. Bauer / Braun / Kvasnicka, Economic Integration of Forced Migrants. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl. Vgl. Worbs et al., (Spät-)Aussiedler in Deutschland.

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Zwar stellt sich wie zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den 1990er Jahren auch derzeit die Frage der schnellen Integration der Zuwanderer und Flüchtlinge in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt, die Vorzeichen einer erfolgreichen Integrationspolitik unterscheiden sich jedoch in vielerlei Hinsicht von der Vergangenheit. Die derzeit vergleichsweise günstige Wirtschaftslage und der robuste Arbeitsmarkt, auf dem in Teilen aufgrund des demographischen Wandels sogar ein Fachkräftemangel zu verzeichnen bzw. vorhersehbar ist, kann sich dabei als vorteilhaft erweisen. Im Unterschied zur Vergangenheit kommen die derzeitigen Flüchtlinge jedoch überwiegend aus Ländern, deren Kultur sich in vielerlei Hinsicht von der in Deutschland unterscheidet. Darüber hinaus dürfte der überwiegende Teil der Flüchtlinge keine Deutschkenntnisse besitzen, und über die Verwertbarkeit der Qualifikationen der Flüchtlinge auf dem deutschen Arbeitsmarkt kann gegenwärtig nur spekuliert werden. All diese Faktoren stellen potentielle Hemmnisse für eine schnelle Integration in die deutsche Gesellschaft und den deutschen Arbeitsmarkt dar. Im Rahmen dieses Beitrags werden vor dem Hintergrund der existierenden Literatur zur Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt eines Einwanderungslandes Maßnahmen diskutiert, die eine schnelle und nachhaltige Integration der Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt fördern können. In Anlehnung an die vorherrschende Terminologie in der Arbeitsmarktpolitik wird dabei unterschieden zwischen aktiven integrationspolitischen Maßnahmen, d.h. Maßnahmen, die direkt an den Flüchtlingen ansetzen, und passiven integrationspolitischen Maßnahmen, d.h. Veränderungen existierender migrations- und arbeitsmarktpolitischer Regelungen und Institutionen, die geeignet sind, die (schnelle) Aufnahme einer Beschäftigung zu befördern. Der Beitrag schließt mit einem Fazit. 2

Arbeitsmarktintegration von Migranten – Theorie und empirische Evidenz

In der öffentlichen Diskussion zur Integration der Flüchtlinge wird derzeit viel über die formalen Qualifikationen der Flüchtlinge spekuliert, da über diese Qualifikationen bisher keinerlei gesicherte Informationen vorliegen. Aber selbst wenn es derartige Informationen gäbe, wären diese für eine Einschätzung der Integrationsfähigkeit der Flüchtlinge wenig hilfreich. Zwar ist eine hohe Qualifikation für eine schnelle Integration sicherlich nützlich. Die existierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Arbeitsmarktintegration von Zuwanderern verdeutlichen jedoch, dass am Ende entscheidend ist, ob das

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Wissen und die Erfahrungen, die die Flüchtlinge in ihren Heimatländern gesammelt haben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch nachgefragt werden bzw. an dessen Anforderungen angepasst werden können. Beginnend mit dem Beitrag von Chiswick6 wird die Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt des Empfängerlandes von zwei zentralen Faktoren determiniert: (i) der Übertragbarkeit des im Heimatland erworbenen Humankapitals auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes des Empfängerlandes und (ii) den Anreizen der Zuwanderer, in das landesspezifische Humankapital des Empfängerlandes zu investieren. Chiswick geht davon aus, dass in einem Land erworbenes Humankapital nicht uneingeschränkt international übertragbar ist. Die internationale Übertragbarkeit von Humankapital wird dabei umso einfacher sein, je ähnlicher sich Sende- und Empfängerland hinsichtlich des kulturellen Hintergrunds, des Bildungssystems, des technologischen Stands der Produktion und der vorherrschenden Arbeitsmarktinstitutionen sind. Ein Mangel an landesspezifischem Humankapital verhindert darüber hinaus den produktiven Einsatz von im Herkunftsland erworbenem Wissen auf dem Arbeitsmarkt des Einwanderungslandes. Nach derzeitigem wissenschaftlichem Erkenntnisstand stellt die Sprache des Einwanderungslandes dabei die zentrale landesspezifische Humankapitalkomponente dar.7 Darüber hinaus müssen Zuwanderer in vielen Berufen ihre im Heimatland erworbenen Qualifikationen und Erfahrungen im Empfängerland erst anerkennen lassen oder entsprechende Zertifikate erwerben. Die Anreize, in das landesspezifische Humankapital des Einwanderungslandes zu investieren, hängen dabei insbesondere von der erwarteten Aufenthaltsdauer ab. Zuwanderer, die davon ausgehen, bald in ihr Heimatland zurückzukehren oder in ein anderes Land weiterzuwandern, werden vergleichsweise geringe Investitionen vornehmen.8 Zur Frage der Integration der derzeitigen Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt liefert das beschriebene Humankapitalmodell einige wichtige Erkenntnisse. Während Arbeitsmigrant_innen ihre Wanderung üblicherweise bereits im Vorfeld planen und notwendige Investitionen in die Übertragbarkeit ihres Humankapitals vornehmen, kann bei Flüchtlingen nicht von einer geplanten Wanderung ausge6 7 8

Vgl. Chiswick, The Effect of Americanization. Vgl. Chiswick / Miller, International Migration and the Economics of Language. Vgl. Duleep / Regets, Immigrants and Human-Capital Investments.

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gangen werden. Es ist daher zu erwarten, dass Flüchtlinge zu Beginn ihres Aufenthalts im Empfängerland relativ zu vergleichbaren Arbeitsmigrant_innen größere Probleme haben werden, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Im Unterschied zu Arbeitsmigrant_innen haben Flüchtlinge jedoch häufig nicht die Option einer Rückkehr in ihr Heimatland. Aufgrund der damit verbundenen erwarteten längeren Aufenthaltsdauer ergeben sich im Vergleich zu anderen Migrant_innen höhere Anreize, Investitionen in das landesspezifische Humankapital des Aufnahmelandes zu tätigen, die wiederum eine schnelle Anpassung an die Beschäftigungssituation und Löhne vergleichbarer anderer Zuwanderer und einheimischer Arbeitskräfte begünstigen. Diese theoretischen Überlegungen wurden bislang nur in wenigen Studien empirisch überprüft. Dabei werden im internationalen Kontext die dargestellten theoretischen Hypothesen tendenziell bestätigt:9 Flüchtlinge sind im Vergleich zu Arbeitsmigrant_innen zu Beginn ihres Aufenthalts im Aufnahmeland auf dem Arbeitsmarkt weniger erfolgreich, holen aber mit zunehmender Aufenthaltsdauer auf und sind in einigen Fällen sogar erfolgreicher. Da in den meisten für die Wissenschaft zur Verfügung stehenden Daten keinerlei Informationen zum Flüchtlingsstatus enthalten sind, existieren auch für Deutschland nur wenige empirische Erkenntnisse zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. Bauer, Braun und Kvasnicka10 zeigen, dass Vertriebene in Westdeutschland selbst 25 Jahre nach der Vertreibung relativ zu vergleichbaren Nicht-Vertriebenen signifikant geringere Löhne erhielten und eine signifikant höhere Arbeitslosigkeitswahrscheinlichkeit aufwiesen. Brücker, Hauptmann und Vallizadeh11 kommen auf Basis der IAB-SOEP-Migrationsstichprobe ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen Zeit benötigt. Ähnlich zu den oben genannten internationalen Studien zeigen auch deren Ergebnisse, dass sich Flüchtlinge deutlich später als andere Zuwanderungsgruppen in den Arbeitsmarkt integrieren, deren Beschäftigungsquoten und Löhne aber mit zunehmender Aufenthaltsdauer mit denjenigen anderer Zuwanderungsgruppen konvergieren.

9

Vgl. Chin / Cortes, The Refugee / Asylum Seeker. Vgl. Bauer / Braun / Kvasnicka, The Economic Integration of Forced Migrants. 11 Vgl. Brücker / Hauptmann / Vallizadeh, The Economic Integration of Forced Migrants. 10

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Maßnahmen der aktiven Integrationspolitik

Die Überlegungen des letzten Abschnitts legen nahe, dass aktive integrationspolitische Maßnahmen, die das Ziel einer schnellen und nachhaltigen Integration der derzeitigen Flüchtlinge verfolgen, die Übertragbarkeit des in den jeweiligen Heimatländern der Flüchtlinge erworbenen Humankapitals auf die Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarktes in den Fokus nehmen müssen. Sollten derartige Qualifikationen nicht vorliegen, muss in neues Humankapital investiert werden. Sobald auf dem deutschen Arbeitsmarkt nachgefragte Qualifikationen vorhanden sind, sollte die schnelle Aufnahme einer Beschäftigung angestrebt werden, da letztendlich die Integration in den Arbeitsmarkt auch die soziale und gesellschaftliche Integration der Flüchtlinge fördert. Voraussetzung für die Bestimmung notwendiger Maßnahmen der aktiven Integrationspolitik ist die Erfassung der auf dem deutschen Arbeitsmarkt verwertbaren Qualifikationen der Flüchtlinge – möglichst bereits im Umfeld der Erstaufnahme der Flüchtlinge. Diese Informationen werden bei der Registrierung der Flüchtlinge bisher nicht oder nicht in einem ausreichenden Ausmaß erhoben, da sie für die Entscheidung über einen Asylantrag irrelevant sind und auch sein sollten. Darüber hinaus sind diese Informationen nur schwer verlässlich zu erheben, da die Flüchtlinge verständlicherweise nur selten entsprechende Zertifikate bzw. Zeugnisse vorlegen können. Nichtsdestoweniger sollte man versuchen, über geeignete Befragungen möglichst frühzeitig grundlegende Informationen zur Qualifikation der Flüchtlinge zu erheben, um eine erste Einschätzung der Verwertbarkeit der Fähigkeiten der Flüchtlinge auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu erhalten und entsprechend geeignete Maßnahmen der aktiven Integrationspolitik bestimmen zu können. Insbesondere die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen haben in einem derartigen Profiling spätestens seit den Hartz-Reformen umfangreiche Erfahrungen gesammelt, die jedoch sicherlich an die speziellen Erfordernisse der Flüchtlinge angepasst werden müssen. Kenntnisse der deutschen Sprache stellen eine weitere grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration von Zuwanderern dar. Für Flüchtlinge, deren Asylantrag mit einer hohen Wahrscheinlichkeit anerkannt wird, sollten daher bereits vor dem Abschluss des Verfahrens Sprachkurse angeboten werden. Die Erlernung der deutschen Sprache dürfte für viele der derzeitigen Flüchtlinge dabei eine große Herausforderung darstellen, da die in den Herkunftsländern der Flüchtlinge vorherrschende Sprache eine hohe Distanz zur deutschen

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Sprache aufweist (viele Flüchtlinge müssen erst ein neues Alphabet lernen) und eine hohe sprachliche Distanz die Erlernung einer neuen Sprache stark erschwert.12 Auf Basis des Profiling und bei Vorhandensein grundlegender Sprachkenntnisse können in einem weiteren Schritt alle bekannten Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik (Qualifikationsmaßnahmen, Umschulungen, Unternehmenspraktika etc.) ergriffen werden, um entweder die vorhandenen Qualifikationen der Flüchtlinge an die Anfordernisse des deutschen Arbeitsmarktes anzupassen oder die Vermittlung entsprechender Qualifikationen zu organisieren. Auch in diesem Bereich haben die Arbeitsagenturen umfangreiche Erfahrungen und sollten daher bei der Entscheidung über die zu ergreifenden Maßnahmen der aktiven Integrationspolitik eine zentrale Rolle spielen. Zwar werden auch diese Kompetenzen an die speziellen Anforderungen der Flüchtlinge im Detail angepasst werden müssen – im Bereich der Maßnahmen der aktiven Integrationspolitik erscheint Deutschland jedoch vergleichsweise gut gerüstet. 4

Maßnahmen der passiven Integrationspolitik

Zu den besonders umstrittenen und in der letzten Zeit intensiv diskutierten passiven integrationspolitischen Maßnahmen gehört – neben der Vorrangprüfung und der Diskussion von Ausnahmeregelungen für Flüchtlinge hinsichtlich des gesetzlichen Mindestlohns – die rechtliche Normierung des Aufenthaltsstatus von Flüchtlingen im Verfahren oder von Geduldeten sowie daran gekoppelte Fragen des Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarktzugangs für diese Gruppe. Dazu legt u.a. das im Sommer 2016 verabschiedete Integrationsgesetz weitreichende Neuregelungen vor, auf die in der nun folgenden Einordnung des Integrationsgesetzes in die Strukturen der deutschen Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik detaillierter eingegangen wird. Auffällig an den Diskussionen um das im Sommer dieses Jahres diskutierte und verabschiedete Integrationsgesetz13 waren die dem Gesetz entgegengebrachten Reaktionen in Form von Superlativen positiver wie negativer Art. Während von Regierungsseite das Gesetz als „Meilenstein“ oder gar als „historischer Schritt“14 herausgestellt wur12

Vgl. Isphording / Otten, Linguistic Barriers. Vgl. Deutscher Bundestag, Entwurf eines Integrationsgesetzes. 14 Das Prädikat „Meilenstein“ wurde dem Gesetz von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Abschluss der Kabinettsklausur in Meseberg verliehen, von einem „historischen Schritt“ sprach Vizekanzler Sigmar Gabriel. 13

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de, sprachen Kritiker von einem „Desintegrationsgesetz“15 bzw. von einem „Rückschritt in die 1980er Jahre“16. Bei genauerer Betrachtung des Gesetzes wird allerdings deutlich, dass sowohl die in das Gesetz gelegten Hoffnungen als auch die mit dem Gesetz verbundenen Befürchtungen übertrieben sein dürften. Dies erklärt sich vor allem dadurch, dass das Gesetz mitnichten – wie der Name ggf. nahelegt – Integration umfassend neu regelt,17 sondern lediglich die mit den Agenda-Reformen von 2003 bzw. dem Zuwanderungs- bzw. Aufenthaltsgesetz von 2005 etablierten Prinzipien der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Integrationspolitik auf eine neue und aktuell besonders wichtige Zuwanderergruppe, die der Schutzsuchenden im laufenden Verfahren, ausdehnt.18 „Fördern und Fordern“, die Leitmaxime der deutschen Sozial- und Integrationspolitik19, gilt nun auch für Asylbewerber_innen. 4.1

Das „Fördern“ im Integrationsgesetz

So wird die bereits vor einiger Zeit begonnene Öffnung des Arbeitsmarktzugangs sowie der seit dem Zuwanderungsgesetz aufgebauten Integrationsinfrastruktur für Asylbewerber_innen – und damit die „Förderkomponente“ – fortgesetzt. Dies geschieht etwa über die im Gesetz geplante Öffnung von Leistungen der Arbeitsförderung (ausbildungsbegleitende Hilfen, assistierte Ausbildung, berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Berufsausbildungsbeihilfe) für Asylbewerber_innen mit guter Bleibeperspektive20 oder die gut gemeinte, integrationspolitisch aber möglicherweise kontraproduktive Etablierung des öffentlich geförderten Arbeitsmarktprogramms Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM), in dessen Rahmen Asylbewerber_in15 Vgl. PRO ASYL, Geplantes „Integrationsgesetz“ ist in Wahrheit Desintegrationsgesetz. 16 Vgl. Zeit online (Hg.), „Dieses Gesetz spaltet“. 17 Angesichts der Kompetenzverteilung im politischen Mehrebenensystem würde ein Bundesgesetz an dieser Aufgabe auch zwangsläufig scheitern. Siehe dazu Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Deutschlands Wandel, 135ff. 18 Das Integrationsgesetz als umfangreiches Artikelgesetz regelt darüber hinaus auch noch zahlreiche andere Aspekte, auf die allerdings als Platzgründen in diesem Beitrag nicht detailliert eingegangen werden kann. Eher kritisch zu sehen ist dabei die sog. Wohnsitzauflage, über die auch anerkannte Flüchtlinge für einen zeitlich begrenzten Zeitraum an einen bestimmten Wohnort gebunden werden können. Vorgesehen sind allerdings zahlreiche Öffnungsklauseln. Zu begrüßen ist hingegen die ebenfalls im Gesetz vorgesehene Angleichung der für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gültigen Bedingungen für die Erlangung eines Daueraufenthalts mit denen anderer Ausländer_innen. 19 Vgl. etwa § 43 Abs. 1 AufenthG. 20 § 132 Abs. 1 SGB III.

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nen ausweislich der Gesetzesbegründung „niedrigschwellig […] an den deutschen Arbeitsmarkt“21 herangeführt werden sollen.22 Ebenfalls in diesen Bereich gehört die Aussetzung der (zuvor für die ersten 15 Monate des Aufenthalts vorgeschriebenen) Vorrangprüfung in Regionen mit geringer Arbeitslosigkeit. Diese Maßnahme ist zunächst auf drei Jahre befristet und ihre Umsetzung bedarf einer Änderung der Beschäftigungsverordnung parallel zur Verabschiedung des Gesetzes. Die Aussetzung ist generell zu begrüßen, allerdings dürfte für eine nicht unerhebliche Zahl von Flüchtlingen die Vorrangprüfung gar nicht relevant sein, da viele Flüchtlinge voraussichtlich mehr als 15 Monate in Sprach- und Qualifikationsmaßnahmen verbringen werden, bevor sie beschäftigungsfähig sind. Zudem ist beim Thema Vorrangprüfung (wie bei der Frage einer Ausnahmeregelung für Flüchtlinge beim Mindestlohn) zu berücksichtigen, dass nicht nur in Deutschland viele Personen befürchten, dass Zuwanderer die einheimische Bevölkerung aus der Beschäftigung verdrängen oder deren Löhne verringern könnten.23 Auch wenn empirische Analysen diese Befürchtungen überwiegend nicht bestätigen können,24 ist mit diesen Maßnahmen die Gefahr verbunden, die derzeit noch zu beobachtende mehrheitliche Akzeptanz der Flüchtlinge in der Bevölkerung zu gefährden. Diese Akzeptanz ist jedoch für eine erfolgreiche und nachhaltige Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft Deutschlands von zentraler Bedeutung. Weitere (und durchaus als weitgehend einzustufende) Erleichterungen im Sinne eines „Förderns“ sieht das Gesetz auch für die Gruppe vollziehbar ausreisepflichtiger Personen vor, für die die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist25. Im Rahmen des Gesetzes zur Neuregelung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung geschaffene 21

Deutscher Bundestag, Entwurf eines Integrationsgesetzes, 23. So spricht einiges dafür, dass sich die im Rahmen der umfangreichen Evaluationen zur SGB-III-Reform aufgezeigten Gefahren einer Verdrängung von privaten Unternehmen durch staatlich geförderte Beschäftigung wiederholen und die Maßnahmen für die vermeintlich „Geförderten“ (tatsächlich aber Geschädigten) mittelfristig sogar integrationshemmend wirken, da eine solche Arbeitsgelegenheit ein „Lebenslauf-Stigma“ verursacht. Anlass zu dieser Befürchtung gibt u.a. eine Studie des ZEW, die die Erwerbsverläufe von 160.000 Personen ausgewertet hat und solche Arbeitsgelegenheiten weniger als „Merging Lane to Employment“, sondern eher als „Dead-End Road in Welfare“ herausgestellt hat (vgl. Thomsen / Walter, Temporary Extra Jobs). 23 Vgl. Bauer / Lofstrom / Zimmermann, Immigration Policy. 24 Vgl. Bodvarsson / van den Berg, Economics of Migration, 133ff. 25 § 60a AufenhtG, sog. Geduldete. 22

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Bleibeoptionen werden durch das Integrationsgesetz nun deutlich erweitert. Durch das Integrationsgesetz wird der entsprechenden Gruppe nun nicht nur eine Duldung für die komplette Dauer einer gesetzlichen oder tariflichen Ausbildung zugesichert, sondern nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss eine zweifache Anschlussperspektive gewährt: Zum einen besteht die Option, dass Geduldete nach Ausbildungsabschluss auf der Basis von § 18a Abs. 1a AufenthG eine auf zwei Jahre beschränkte Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer der beruflichen Qualifikation entsprechenden Beschäftigung aufnehmen, zum anderen ist vorgesehen, dass nach der Ausbildung eine auf 6 Monate begrenzte Anschlussduldung zur Arbeitsplatzsuche eingeführt wird.26 Die bislang gültige Beschränkung dieser Möglichkeiten auf Personen unter 21 Jahren wird zudem aufgehoben. Angesichts des in Abschnitt 2 dieses Beitrags herausgestellten Zusammenhangs zwischen einer schnellen Klärung der Aufenthaltsperspektive und dem Anreiz, in Humankapital zu investieren, ist diese „Sonderform einer Legalisierung“27 aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive sicher zu begrüßen. Automatische Folge dieser Maßnahme ist allerdings auch die Torpedierung staatlicher Anstrengungen der Aufenthaltsbeendigung, wenn geduldete und damit ausreisepflichtige Personen neue Bleibemöglichkeiten erhalten und mit steigender Aufenthaltsdauer eine Aufenthaltsbeendigung immer schwieriger durchzusetzen sein wird. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Arbeitsmarkt- und Innenpolitik lässt sich nicht grundsätzlich auflösen, bei der Bewertung des Gesetzes ist es allerdings zu berücksichtigen. Mit dem im April 2012 in Kraft getretenen Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen existiert prinzipiell bereits eine weitere wichtige institutionelle Grundlage, eine schnelle Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu fördern. Abgesehen von den Anlaufschwierigkeiten bei der Umsetzung des Anerkennungsgesetzes28 dürfte dieses Gesetz für eine Vielzahl von Flüchtlingen jedoch nur eingeschränkt anzuwenden sein, da davon ausgegangen werden muss, dass diese entweder die für das Anerkennungsverfahren notwendigen Dokumente nicht vorlegen können oder in ihrem Heimatland keine formale Berufsausbildung abgeschlossen haben bzw. abschließen konnten. Hier stellt sich die Herausforderung, über die Entwicklung geeigneter 26

§ 60a Abs. 2 AufenthG. Thym, Stellungnahme, 19. 28 Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Erfolgsfall Europa?, 151 ff.; Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Deutschlands Wandel, 141 ff. 27

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Prüfungsverfahren auch nicht-formale Qualifikationen formal anzuerkennen. Mittlerweile existieren diesbezüglich bspw. vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) koordinierte Projekte zu Qualifikationsanalysen, in deren Rahmen nicht über einschlägige Dokumente belegbare Qualifikationen durch Arbeitsproben, ein Fachgespräch oder auch durch eine Probearbeit in einem Betrieb nachgewiesen werden können. 4.2

Das „Fordern“ im Integrationsgesetz

Den geschilderten „Förderkomponenten“ gegenüber stehen Elemente des Forderns. Auffällig dabei ist, dass im Wesentlichen „das Integrationskonzept des Zuwanderungsgesetzes fortgeschrieben wird“29, das wiederum konzeptionell eng „mit dem allgemeinen Sozialrecht verbunden wurde“30. Das Zentrum des Forderns bildet entsprechend die Einführung von Leistungskürzungen zur Sanktionierung von Fehlverhalten etwa in Form einer Verletzung von Mitwirkungspflichten31 oder einer Ablehnung einer Arbeitsgelegenheit32. Damit werden an Asylbewerber_innen strukturell nun nicht nur die gleichen Maßstäbe der Teilhabeförderung angelegt wie an Zuwanderer, die außerhalb des Asyls nach Deutschland gekommen sind, sondern auch wie an „deutsche Staatsangehörige, wenn diese zumutbaren Arbeitsförderungsmaßnahmen nicht nachkommen“33. In dieser Lesart ist das Integrationsgesetz entsprechend auch und gerade als eine Relevanzerklärung zu verstehen, in dessen Rahmen nun auch Asylbewerber_innen explizit als „Integrationssubjekte“ definiert und adressiert werden. Das Gesetz beendet damit die über viele Jahre politisch und rechtlich aufrechterhaltene Vorstellung einer grundsätzlichen Irrelevanz der staatlichen Aufgabe der Integrationsförderung für die Gruppe der Asylbewerber_innen. Zentral für eine Einschätzung des Integrationsgesetzes ist aber die Tatsache, dass das Gesetz seine Bedeutung zu wesentlichen Teilen aus dem Umstand zieht, dass vor allem aufgrund des von niemandem zumindest in dieser Dramatik erwarteten Anstieges der Flüchtlingszahlen die durchschnittliche Verfahrensdauer immer noch deutlich über drei Monaten liegt und damit über dem Wert, den die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag von 2013 anstreben. Würde 29

Thym, Stellungnahme, 2. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Deutschlands Wandel, 136. 31 § 1a Abs. 5 AsylbLG. 32 § 5a Abs. 3 AsylbLG. 33 Thym, Stellungnahme, 7. 30

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durch eine weitere Verkürzung der Verfahrenszeiten und damit eine in kurzer Zeit (etwa den angesprochenen drei Monaten) erfolgende Ausdifferenzierung der Gruppe der Antragsteller in Schutzbedürftige und Ausreisepflichtige möglich, würden zahlreiche der nun im Gesetz erfolgten Normierungen gegenstandslos und überflüssig. 5

Fazit

Deutschland steht bei der Integration der derzeit großen Anzahl von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft vor einer gewaltigen Aufgabe. Im historischen und internationalen Vergleich erscheint Deutschland für diese Herausforderung aber insgesamt gesehen gut gerüstet. Dies liegt vor allem an der derzeitigen guten wirtschaftlichen Lage, dem robusten Arbeitsmarkt sowie den Erfahrungen der für die Integration der Flüchtlinge zuständigen Behörden. Die vor fast 15 Jahren eingeleiteten Reformen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik haben eine primär Arbeitslosigkeit verwaltende Bundesanstalt zu einer primär in Arbeit vermitteln wollende Bundesagentur für Arbeit verwandelt. Sie könnten sich entsprechend jetzt auch integrationspolitisch auszahlen. Diese zumindest nicht primär integrationspolitisch motivierten Maßnahmen sind damit in ihrer integrationspolitischen Wirkung weitaus bedeutender als ein Integrationsgesetz, das in seiner Bezeichnung zwar weitreichend, in seiner Wirkung aber wohl äußerst begrenzt ist. Sicher ist aber auch, dass die für eine erfolgreiche Integration der Flüchtlinge notwendigen Maßnahmen mit hohen Kosten verbunden sein werden. Schließlich sind diese Investitionen mit erheblichen Risiken verbunden und werden voraussichtlich erst nach mehreren Jahren Erfolge zeigen. Deutschland hat jedoch unter weit ungünstigeren Voraussetzungen bereits mehr als einmal bewiesen, mit erheblicher Zuwanderung erfolgreich umgehen zu können. Literatur Bauer, Thomas K., Schnelle Arbeitsmarktintegration von Asylbewerbern – was ist zu tun?, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 64 (2015), 303–313. Bauer, Thomas K. / Lofstrom, Magnus / Zimmermann, Klaus F., Immigration policy, assimilation of immigrants, and natives´ sentiments towards immigration: Evidence from 12 OECD countries, Swedish Economic Policy Review 17 (2010), 11–53.

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Bauer, Thomas K. / Braun, Sebastian / Kvasnicka, Michael, The Economic Integration of Forced Migrants: Evidence for Post-War Germany, Economic Journal 123 (2013), 998–1024. Bodvarsson, Örn B. / van den Berg, Hendrik, The Economics of Migration: Theory and Policy, Heidelberg 2009. Brücker, Herbert / Hauptmann, Andreas / Vallizadeh, Ehsan, Flüchtlinge und andere Migranten am deutschen Arbeitsmarkt: Der Stand im September 2015, Aktuelle Berichte 14 / 2015 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg 2015. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe: April 2016, online: https://www.bamf.de/SharedDocs/ Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlenzu-asyl-april-2016.pdf;jsessionid=7EAAD2BC4ECDEB5A22883 2F7E2797997.1_cid368?__blob=publicationFile (Zugriff 19.7.2016). Chin, Aimee / Cortes, Kalena E., The Refugee / Asylum Seeker, in: Barry Chiswick und Paul Miller (Hg.), Handbook of the Economics of International Immigration, Amsterdam 2015, 585–658. Chiswick, Barry R., The Effect of Americanization on the Earnings of Foreign-Born Men, The Journal of Political Economy 86 (1978), 897–922. Chiswick, Barry R. / Miller, Paul W. , International Migration and the Economics of Language, in: Barry Chiswick und Paul Miller (Hg.), Handbook of the Economics of International Immigration, Amsterdam 2015, 211–269. Deutscher Bundestag, Entwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drs. 18/8615 vom 31.5.2016, online: http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/18/086/1808615.pdf (Zugriff 17.8.2016). Duleep, Harriet O. / Regets, Marc C., Immigrants and Human-Capital Investment, American Economic Review 89 (1999), 186–191. Isphording, Ingo E. / Otten, Sebastian, Linguistic Barriers in the Destination Language Acquisition of Immigrants, Journal of Economic Behavior and Organization 108 (2014), 30–50. PRO ASYL, Geplantes „Integrationsgesetz“ ist in Wahrheit Desintegrationsgesetz, 23.5.2016, online: https://www.proasyl.de/news/ geplantes-integrationsgesetz-ist-in-wahrheit-desintegrationsgesetz (Zugriff 17.8.2016). Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Erfolgsfall Europa? Folgen und Herausforderungen der EUFreizügigkeit für Deutschland, Berlin 2013. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland, Berlin 2014.

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T. K. Bauer / H. Kolb

Thomsen, Stephan / Walter, Thomas, Temporary Extra Jobs for Immigrants: Merging Lane to Employment or Dead-End Road in Welfare?, ZEW Discussion Paper No. 10-027, Mannheim 2010. Thym, Daniel, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags, 20. Juni 2016, Berlin / Konstanz 2016. Worbs, Susanne / Bund, Eva / Kohls, Martin / von Gostomski, Christian Babka, (Spät-)Aussiedler in Deutschland: Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse, Forschungsbericht 20 des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2013. Zeit online (Hg.), „Dieses Gesetz spaltet!“ – Offener Brief von Wissenschaftlern, Künstlern und Autoren zum geplanten Integrationsgesetz, 5.5.2016, online: http://www.zeit.de/politik/deutschland/ 2016-05/integrationsgesetz-offener-brief-kuenstler-protest (Zugriff 17.8.2016).

3 Diskurse

Stephan Kiepe-Fahrenholz

Raus aus dem Krisenmodus – kommunale Herausforderungen

Die für diesen Artikel vorgegebene Frage nach den kommunalen Herausforderungen, die mit der Anwesenheit von Geflüchteten in Deutschland verbunden sind, möchte ich gleich zum Einstieg mit der These beantworten, dass Flüchtlinge und Asylsuchende in erster Linie eine kommunale Herausforderung sind. Dieser Satz hätte noch vor etwa zweieinhalb Jahren als falsch gegolten. „Mit Asyl hattest du nichts zu tun“, so charakterisierte der Sozialdezernent der Stadt Essen unlängst die damalige Lage. „Das war Innenpolitik. Warte das Anerkennungsverfahren ab; danach kannst du mit deiner Integration anfangen.“ Inzwischen sieht die Wirklichkeit anders aus. Die Europäische Union, deren Aufgabe es wäre, mittels einer abgestimmten Flüchtlingspolitik für eine gerechte und menschenwürdige Antwort auf Flucht und Vertreibung zu sorgen, droht an eben dieser Aufgabe zu zerbrechen. Und die mittels des nationalen Rechts zwischen Bund, Ländern und Kommunen im Rahmen des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland abgestimmten Zuständigkeiten verhindern nicht, dass der Schutz suchende Mensch im Anschluss an Grenzübertritt und Erstaufnahme mit seinen sämtlichen Problemen und Hilfebedarfen ganz schnell bei der Kommune landet. Die vielfältigen objektiven Ursachen von Flucht ebenso wie die nicht minder vielfältigen individuellen und damit asylrelevanten Gründe zur Flucht sind nicht neu. Neu ist, dass die dadurch ausgelösten umfänglichen Bevölkerungsbewegungen spätestens 2014 und noch einmal vervielfacht 2015 die Bundesrepublik Deutschland in einem Maße erreicht haben, das die Eckpfeiler der bisherigen Asylpolitik zum Einsturz bringt.1 1

In diesem Zusammenhang muss wenigstens am Rand daran erinnert werden, dass große Fluchtbewegungen schon seit sehr viel mehr Jahren als dem hier betrachteten

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S. Kiepe-Fahrenholz

Die vorübergehende Außerkraftsetzung des sogenannten Dublin-Verfahrens2 für syrische Flüchtlinge von August bis Oktober 2015 war nicht nur eine humanitäre Geste der Kanzlerin, sondern vor allem der Beweis dafür, dass die Regelung nicht funktionsfähig ist. Die seitdem geführte endlose Debatte um „Obergrenzen“, die Sperrung der „Balkan-Route“, die mit jeder Schönwetterperiode neu einsetzenden lebensgefährlichen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer und nicht zuletzt der asyl- und allgemeinpolitisch bedenkliche „Deal“ mit der Türkei zeigen, dass die Bundespolitik nur eine ernsthaft praktizierte Strategie zum Umgang mit Flucht hat: die europäischen Außengrenzen abschotten, damit nicht noch mehr kommen. Was das politisch und ethisch bedeutet, ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Aber selbst wenn dem Vorsatz, Menschen aus den Kriegsund Krisengebieten dieser Welt weitestgehend von uns fernzuhalten, Erfolg beschieden wäre, lösen sich die Menschen, die bereits hier sind, nicht in Luft auf. An dieser Stelle kommt nun der Umstand in den Blick, dass die genannten mehr oder weniger hilflosen Versuche zur Bewältigung der Krise auch eine wesentliche ordnungspolitische Ursache haben, nämlich das Scheitern der in Deutschland geltenden Verfahrenswege. Das für die Bearbeitung des Asylverfahrens und damit für die grundlegende Entscheidung über Aufenthaltsstatus und Rechte auf soziale Teilhabe zuständige Bundesamt für Migration und Flucht (BAMF) ist hoffnungslos überlastet. Das wird nach gegenwärtigem Erkenntnisstand vorläufig auch so bleiben. Hunderttausende von Geflüchteten warten endlos auf ihr Verfahren, das selbst im Fall der „bevorzugt“ behandelten Menschen aus Syrien mindestens sechs Monate dauert. Von ebenso hoher Bedeutung ist: In NordrheinWestfalen führt die Überlastung der Erstaufnahmestellen dazu, dass Flüchtlinge viel zu schnell und häufig zufallsgesteuert an die Kommunen weitergereicht werden. Der Ausbau der Landesunterkünfte und die verbesserten finanziellen Bedingungen im Flüchtlingsaufnahmegesetz haben das Problem im Kern nicht gelöst. Und schließlich: Der Versuch, mit der „Bescheinigung über die Meldung als AsylsuchenZeitraum über die Erde gehen, dass die Zahl der Schutzsuchenden in Ländern wie der Türkei, dem Libanon und Jordanien weitaus höher liegt als in ganz Europa und dass in Deutschland das, was man jetzt als „Flut“ bezeichnet, keineswegs so neu ist, wenn man an die Flüchtlinge aus den Kriegen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien aus den 1990er Jahren denkt. 2 Gemäß dem 1997 in Kraft getretenen und seither mehrfach überarbeiteten Dubliner Übereinkommen gilt in den EU-Staaten (und einigen Nicht-EU-Mitgliedsländern) der Grundsatz, dass der Staat, in den ein Asylbewerber nachweislich zuerst eingereist ist, das Asylverfahren durchführen muss. Das überfordert insbesondere die südeuropäischen Länder.

Raus aus dem Krisenmodus

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der“ (BüMA) einen vorläufigen Identitätsausweis für Geflüchtete zu schaffen, der Ansprüche gemäß Asylbewerberleistungsgesetz gewähren soll, schaltet im Prinzip lediglich dem Asylverfahren ein weiteres Verfahren vor und hat in erster Linie unklare Rechtsverhältnisse zur Folge. Das Resultat dessen, was ich oben den Einsturz der Eckpfeiler der Asylpolitik genannt und hier in aller Kürze zu skizzieren versucht habe, besteht in einer nahezu vollständigen Kommunalisierung der Aufgaben der Flüchtlingspolitik. Die Kommunalverwaltungen sind auf diese Herausforderung denkbar schlecht vorbereitet. Das hat nur zum Teil mit der Anzahl der ankommenden Menschen zu tun. Mindestens genauso bedeutsam ist die Tatsache, dass im Zuge der seit den 1990er Jahren bis heute von wechselnden Regierungskoalitionen gepflegten Überzeugung, die wesentlichen gesellschaftlichen Prozesse durch den Markt regeln zu lassen, um den Sozialstaat bezahlbar zu halten und den Ruin der kommunalen Kassen zu verhindern, ein massiver Staatsabbau vorgenommen worden ist. Unabhängig davon, wie man zu diesem Prozess grundsätzlich steht: Angesichts der aktuellen Fluchtproblematik rächt er sich nun. Ämter sind unterbesetzt. Infrastruktur wurde zurückgefahren. Öffentliche Bausubstanz ist verkommen. Der staatlich geförderte Arbeitsmarkt ist weitgehend zerschlagen. Das ist deshalb so schlimm, weil die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen – unbeschadet der viel beschworenen und tatsächlich sehr differenziert zu bewertenden sogenannten Willkommenskultur – selbstverständlich zuerst und weitgehend staatliche Aufgaben sind, die von der Verwaltung vor Ort organisiert und von der Öffentlichen Hand finanziert werden müssen, allein schon deshalb, weil es sich im Einzelnen wie im Ganzen von Gesetzes wegen um hoheitliche Vorgänge handelt. Folglich konnten die Kommunen zu Beginn der sprunghaft ansteigenden fluchtbedingten Zuwanderung sich gar nicht anders als im Krisenmodus fühlen. „Ich kann mich zur Zeit nicht mit Konzepten und Standards befassen, sondern muss Wohnungslosigkeit verhindern“, ließ der Duisburger Sozialdezernent völlig zu Recht im August 2014 wissen, als er die bundesweit erste Zeltstadt zur Unterbringung von Asylsuchenden plante.3 Das sorgte damals für einen Aufschrei der Empörung unter allen Wohlmeinenden, der aber immer leiser wurde, je deutlicher sich herausstellte, dass nahezu alle ins Spiel gebrachten Unterbringungsalternativen aus baurechtlichen, sicherheits3

Tatsächlich errichtet wurde sie erst Monate später, als Zeltunterbringung längst „normal“ war.

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technischen, brandschutzbedingten oder sonstigen Gründen nicht machbar waren, und schon gar nicht zeitnah. Es bleibt überhaupt nichts anderes übrig, als sich bis auf weiteres mit Zelten, Schulen, Sporthallen, teuren Neubauten und noch teureren Traglufthallen abzufinden. Und selbst da, wo die kommunalen Finanzen und der örtliche Immobilienmarkt in nennenswertem Umfang die Unterbringung von Flüchtlingen in Wohnungen möglich machen, treten rasch Probleme zu Tage: Der Betreuungsaufwand ist personalintensiver als in einer Sammelunterkunft. Und noch wichtiger: Wohnungen stehen nicht ohne Grund leer und sind zumeist vor allem dort schnell beziehbar, wo ein sozial schwieriges Umfeld mit entsprechendem regelmäßigem Interventionsbedarf herrscht. Unter den geschilderten Umständen ist es den Sozialverwaltungen gar nicht hoch genug anzurechnen, dass es ihnen flächendeckend gelungen ist zu verhindern, dass sich die Flüchtlingskrise zu einer Obdachlosenkrise auswächst. Wer ankommt, hat ein Dach über dem Kopf. Allerdings zu einem hohen Preis. Es fehlen gesetzliche Vorgaben und Standards. Menschen mit meist schrecklichen Erfahrungen leben auf engstem Raum zusammengedrängt. Der ungeklärte Aufenthalt zwischen BüMA und Asylantrag beim BAMF wird zur Erfahrung einer endlosen Warteschleife. Es gibt viel zu wenige Sprachkurse. Es gibt viel zu wenig Beratung, nicht nur in Fragen des Aufenthaltsrechts, des Asylantrags und der Familienzusammenführung, sondern auch bei den praktischen Problemen der Alltagsbewältigung in einem fremden Land. Der Zugang zu Kindergarten- und Schulplätzen ist begrenzt. Es kommt zu Konflikten: sozialen, ethnischen, religiösen – nicht oft, zum Glück, aber immer wieder und vor allem dort, wo die Ämter bei unklarer Dokumentenlage und in der Eile der Unterbringung Menschengruppen unter einem Dach zusammenpacken, die man besser getrennt voneinander ließe. Bund und Land sind den Kommunen leider nach wie vor keine große Hilfe. Richtig und wichtig ist zweifellos, dass inzwischen deutlich mehr Geld fließt als zu Beginn der Krise. Schon weniger Begeisterung lösen die vielfach planlosen und wie ein Alibi wirkenden Landesprojekte und Programme aus, die sich in der Regel nicht nur durch zu kurze Antragsfristen und hohen bürokratischen Bewilligungsaufwand auszeichnen, sondern, was schlimmer ist, sich inhaltlich nur selten effektiv mit Strategien vor Ort verzahnen lassen. Sie werden nicht selten nur deshalb beantragt, damit irgendwie Geld fließt. Für das kommunale Handeln gänzlich irrelevant sind schließlich die in der Medienöffentlichkeit besonders breit geführten Debatten: Der Streit um die angeblich „sicheren Herkunftsländer“ betrifft nur einen

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Bruchteil der hier lebenden Flüchtlinge. Die mit dem neuen Integrationsgesetz geschaffenen Sanktionen für sogenannte Integrationsverweigerer sind ein klassischer Nebenschauplatz, weil, wer Deutsch lernen will, gar keinen Platz dafür bekommt. Ob die heftig diskutierte Residenzpflicht das, was man als ihre einzige vernünftige Rechtfertigung ansehen könnte, hervorbringt, nämlich eine bessere Planbarkeit der notwendigen Maßnahmen zugunsten der Menschen vor Ort, ist äußerst fraglich. Weil das alles so ist, besteht die vordringliche kommunale Herausforderung jetzt und zukünftig darin, unter den jeweiligen lokalen Gegebenheiten zügig ein Integrationskonzept zu entwickeln und umzusetzen. Auch wenn es noch so sehr an Personal und an Geld mangelt und die Entwicklung des künftigen Zuzugs noch so unabsehbar ist – man kann nicht ewig im Krisenmodus verharren. Zu einem strikt an der örtlichen Realität orientierten Masterplan mit dem klaren Ziel, der weit überwiegenden Menge der Geflüchteten in angemessener Zeit die Teilhabe und Teilnahme an der Stadtgesellschaft zu ermöglichen, gibt es keine Alternative. Was das im Einzelnen bedeutet, wird in den Beiträgen des fünften und sechsten Teils des vorliegenden Bandes dargelegt. Hier geht es jetzt darum, ein paar strategische Richtungen zu entwickeln. Erste Feststellung: Am 31. Dezember 2005 hatte die Stadt Duisburg zum letzten Mal über 500.000 Einwohnerinnen und Einwohner; bis Ende 2013 fiel die Zahl kontinuierlich auf 487.000 und stieg binnen zweier Jahre bis 2015 wieder auf 495.000 an. Essen verzeichnet im selben Zeitraum eine Entwicklung von 585.000 über 570.000 auf fast 590.000. In den meisten Großstädten in Nordrhein-Westfalen, soweit ihnen bis vor kurzem ein unaufhaltsamer Bevölkerungsverlust prognostiziert wurde, sieht es ähnlich aus. Dieser Trend wird auch, aber nicht nur von Flüchtlingen verursacht. Und es muss darum gehen, nicht etwa mit der Begründung, die Grenzen seien ja jetzt „dicht“, geschaffene Kapazitäten wieder abzubauen, sondern kurzfristige Maßnahmen der Flüchtlingshilfe zu dauerhafter kommunaler Infrastruktur weiterzuentwickeln, um einer wieder wachsenden, aber wesentlich anders als früher zusammengesetzten Bürgerschaft gerecht werden zu können. Damit hängt eng zusammen ein zweiter Gesichtspunkt. Ein Großteil der inzwischen zur Beratung, Begleitung und Integration von Flüchtlingen ergriffenen Maßnahmen wird, insbesondere von Bund und Land, aus kurzfristig aufgelegten Projektmitteln finanziert. Damit ist, um einen bekannten Spruch wörtlich zu nehmen, auf Dauer kein

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Staat zu machen. Integration, nicht nur die von Flüchtlingen, sondern aller Zuwandernden, bedeutet vor allem die Öffnung der Regeldienste4. Das hat zwei Gründe. Zum einen hat es keinen Sinn, die bestehenden und neu entstehenden Flüchtlingsberatungsstellen, nur weil für sie gerade Geld da ist, so aufzublähen, dass sie zu einem speziell für Asylsuchende bestehenden zweiten sozialen Versorgungssystem von spezieller Wohnungslosenberatung und Suchtberatung bis zu spezieller Jugendhilfe und Behindertenhilfe mutieren. Zum andern sind die Menschen, die auch schon vor der Flüchtlingskrise auf Unterstützung angewiesen waren, noch da, auch wenn man von ihnen kaum mehr spricht. Eine Stadt wie Duisburg zählt seit 30 Jahren stets 30.000 registrierte Erwerbslose zu ihren Bürgerinnen und Bürgern. Einrichtungen des Betreuten Wohnens braucht man schon immer für Jugendliche, die mit einer kaputten Kindheit belastet sind, und nicht erst, seit es unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei uns gibt. Es ist daher zwingend notwendig, interkulturelle Kompetenz zu entwickeln, um die Dienste nachhaltig an die durch Zuwanderung und Flucht veränderten Zielgruppen anpassen zu können, statt ein am Thema Asyl orientiertes Spezialistentum zu züchten, das bei vermeintlich rückläufigen Zuzugszahlen wieder in sich zusammenfällt. Um innerhalb des Systems den Besonderheiten der von Krieg, Vertreibung und Flucht belasteten Zuwanderungsgruppen gerecht werden zu können, benötigt die Kommune eine Vernetzung von Maßnahmen, die sich an typischen Integrationswegen orientieren, welche idealerweise von der Einreise bzw. der Ankunft in der Kommune über die Förderung der sprachlichen und kulturellen Kompetenzen der Erwachsenen wie der Minderjährigen bis zum Bezug der eigenen Wohnung und der Aufnahme einer bezahlten sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit führen. Solche Förderketten funktionieren natürlich nicht nach Lehrbuch, sie ersetzen keineswegs das konkrete Anfassen jedes Einzelfalls und führen auch nicht immer zwingend zum Ziel. Sie sind aber notwendig, wenn die auf den einzelnen geflüchteten Menschen gerichtete einzelne Beratungs- oder Hilfeleistung nicht ziellos und zufallsgesteuert sein soll. In diesem Zusammenhang ist es durchaus vernünftig, wenn die Kommune die sogenannte „Bleibeperspektive“ in ihre Maßnahmenkataloge einbezieht. So richtig es ist, dass man unter humanitären Gesichtspunkten darüber streiten muss, ob Fluchtursachen wie Krieg, Armut und Verfolgung oder der Grad persönlicher Gefährdung untereinander gewichtet 4

Darunter ist die Gesamtheit der gesetzlich normierten Dienste zu verstehen, die kommunale Behörden oder subsidiär tätige Freie Träger erbringen, um dem grundlegenden Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf Daseinsvorsorge zu genügen.

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oder gar gegeneinander ausgespielt werden dürfen, so richtig ist es auch, dass kein Gemeinwesen dieser Welt unterschiedslos alle und jeden integrieren kann. Eine Kommunalverwaltung kommt in dieser Frage mit allgemeinen sozialethischen Erwägungen nicht weit, wohl aber damit, dass unabhängig von den konkreten Chancen auf Verbleib und von der Dauer des Integrationserfolgs jede und jeder Einzelne im Rahmen der bestehenden Gesetze gerecht und fair behandelt wird. Ein vierter und letzter Grundsatz, der mir bei der Frage nach kommunalen Integrationsstrategien wichtig ist, lautet: Keine Sammelunterkunft, kein Zentralregister und kein Integration Point5 wird etwas daran ändern, dass Integration zuerst und zuletzt eine sozialräumliche Aufgabe ist und sich ihr Erfolg in den Straßenzügen und Quartieren der Stadtteile entscheidet. Dazu werden Berufsgruppen benötigt, die es vor ein paar Jahren noch gar nicht gab, die aber auch nicht um der Flüchtlinge willen erst erschaffen werden müssen: Zum Beispiel Quartiersmanagerinnen und -manager, wie man sie etwa aus der Wohnungswirtschaft kennt, oder Alltagbegleiterinnen und -begleiter, wie sie zum Beispiel die Altenhilfe hervorgebracht hat. Das sind Tätigkeiten, für die durchaus eine spezifische Qualifizierung erforderlich und sinnvoll ist, die aber vor allem auf Vernetzung und auf Hilfe zur Selbsthilfe ausgerichtet sind. Sie bilden eine wichtige Brücke zur Organisation nachbarschaftlicher Solidarität und zum bürgerschaftlichen Engagement. Damit haben uns die Überlegungen zu strategischen Eckpunkten kommunaler Integrationskonzepte zu der Frage geführt, auf welche Ressourcen denn das Gemeinwesen zurückgreifen kann. Es ist kein Zufall, dass ich an erster Stelle das Ehrenamt nenne. Ohne den quantitativ so überhaupt nicht erwartbaren und vor allem erstaunlich unermüdlichen und nachhaltigen Einsatz von Ehrenamtlichen für die Belange und Rechte geflüchteter Menschen wäre die Flüchtlingskrise vermutlich längst eine Flüchtlingskatastrophe. Umso wichtiger ist es, sich unter dem Gesichtspunkt, was dem Gemeinwesen zu gelingender Integration verhilft, auch der Grenzen des bürgerschaftlichen Engagements bewusst zu bleiben. Ehrenamtliche sind unersetzbar, wenn es beispielsweise um die Organisation von niederschwelligen Begegnungen, Freizeitaktivitäten oder Kleiderkammern, um das un5

Integration Points sind seit dem 1. September 2015 zuerst in Düsseldorf, seitdem in weiteren Städten eingerichtete zentrale Anlaufstellen von Arbeitsverwaltung, Jobcenter und Kommunalverwaltung mit dem Ziel, Flüchtlinge und Asylbewerber_innen möglichst schnell in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu integrieren.

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bürokratische Besorgen von Gegenständen des persönlichen Bedarfs und – mehr, als man denkt – auch um die Vermittlung erster Deutschkenntnisse und Dolmetschertätigkeiten geht. Ehrenamtliche sind aber auch, und das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung, oft nicht sachkundig, verfügen natürlicherweise über wenig Kompetenz in Asylfragen, sind sich aber dieser Grenzen nicht immer bewusst. Wenn es mit der Integration etwas werden soll, bleibt der Kommune und jedwedem Hauptamt nichts anderes übrig, als gezielt den Bedarf des oder der Einzelnen abzuarbeiten. Ehrenamtliche hingegen neigen, zumal wenn sie sich in locker gefügten Initiativen und Flüchtlingsräten zusammenschließen, dazu, als selbsternannte Anwälte und Fürsprecher_innen der Erniedrigten und Beleidigten im Allgemeinen aufzutreten. Das sorgt für Konflikte, die nicht schlimm sind, solange sie die Funktion erfüllen, der Verwaltung auf die Finger zu sehen und nicht alles unkritisch hinzunehmen, was vom Staat angezettelt wird. Schlimm werden sie, wenn aus dem Blick gerät, dass die Kommune keine Gesetzgeberin ist und dass es deshalb wenig bringt, prinzipielle Auseinandersetzungen dort zu führen, wo man besser an der Bündelung aller Kräfte vor Ort arbeiten sollte. Die beste Antwort auf solche und ähnliche Probleme ist die konsequente Förderung, Vernetzung und Fortbildung des Ehrenamtes. Das aber kann man, da bürgerschaftliches Engagement seinem Wesen nach dezentral angelegt ist, billigerweise gerade nicht von der Kommune erwarten. Da sind Parteien, Verbände, Vereine und nicht zuletzt die Kirchen gefragt, und hier geschieht angesichts der Flüchtlinge in den Städten und Gemeinden ganz viel und trotzdem immer noch viel zu wenig. Hier rücken die lokalen Bildungsträger in den Fokus, denen eine Schlüsselrolle bei den kommunalen Integrationsaufgaben zukommt. Schulische und außerschulische, formale und non-formale Bildung sind neben der Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu gewährleisten, die wichtigste Voraussetzung dafür, um überhaupt am Gemeinwesen teilhaben zu können. Kindertageseinrichtungen, Schulen und Freie Bildungsträger müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie auf unabsehbare Zeit gezwungen sein werden, im Rahmen der vorhandenen Kräfte nicht nur ihre gesetzliche Pflicht zu erfüllen, sondern in der Alltagspraxis die Lücken zu stopfen, die ausgerechnet in diesem Bereich durch eine unzureichende und mindestens teilweise sogar realitätsferne Rechtslage bestehen. Das fängt mit der Bereitstellung von Betreuungsplätzen an, auch dort, wo es eigentlich gar keine gibt, und hört mit dem Angebot von Sprachunterricht für solche, die darauf eigentlich noch keinen Anspruch haben, nicht auf. Das wird alles in allem zusätzlich einen enorm langen Atem er-

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fordern, weil 50 Jahre Zuwanderungsgeschichte in Deutschland lehren, dass sich der über Bildung vermittelte Integrationserfolg vielfach erst in der jeweils nächsten Generation einzustellen pflegt. Eine weitere Hausaufgabe, die sich das Gemeinwesen zur Umsetzung eines strategischen Integrationskonzeptes stellen muss, ist die Erhöhung der eigenen Crossover-Fähigkeit. Das eindimensionale Denken in Ämtern, Sozialgesetzbüchern und förmlichen Zuständigkeiten muss dringend ergänzt werden um die Fähigkeit, über den Tellerrand zu blicken und auch mal mit zwei Löffeln vom selben Teller zu essen. Damit ist nicht nur gemeint, die Grenzen zwischen den klassischen Dezernaten einer Verwaltung durchlässiger zu machen und die praktische Kooperation im operativen Geschäft zu verbessern – das ist auch diesseits und jenseits der Flüchtlingsfrage wünschenswert. Vielmehr ist die intensive Kooperation zwischen unterschiedlichen Rechtsträgern gemeint. Ein Rat der Stadt, der seit Einführung von Hartz IV kein aktives Interesse am örtlichen Arbeitsmarkt mehr hat, und eine örtliche Agentur für Arbeit, die nichts anderes kennt als die Weisungen ihrer Nürnberger Zentrale, werden keine Integration hinbekommen. Und, um auch die nicht-städtischen Akteure in den Blick zu nehmen: Flüchtlingsberatungsstellen, die in der Ausländerbehörde, die auch mal Menschen des Landes verweisen muss, deshalb ihren geschworenen Feind sehen und die Kooperation mit Polizei und Ordnungsamt für ehrenrührig halten, verhindern gelingende Integration, auch wenn sie noch so viel davon reden. Mit dem letztgenannten Gesichtspunkt sind wir bei den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege und den in ihnen organisierten Trägern der sozialen Arbeit angelangt. Vor den Herausforderungen, die mit der eigentlich nicht vorgesehenen Kommunalisierung der Flüchtlingspolitik verbunden sind, sind sie neben Industrie, Handel und Handwerk als den Trägern von Arbeits- und Ausbildungsplätzen einerseits und den Sportvereinen und Kirchen als den mitgliederstärksten Agenturen der sozialen und kulturellen Teilhabe andererseits ein wichtiger Kooperationspartner der Kommunen. Nur sie sind durch die Breite und Struktur ihrer sozialen Dienste, durch die Menge der in ihnen ehrenamtlich Engagierten und durch die erheblichen Eigenmittel, die sie in ihre Arbeit stecken, in der Lage, in die Beratung, Begleitung, Unterstützung und aktive Integration geflüchteter Menschen jene Nachhaltigkeit zu bringen, ohne die eine gedeihliche Weiterentwicklung der Zuwanderungsgesellschaft nicht möglich ist. Die sich derzeit wie ein Füllhorn über das Land ergießende Projektförderung hat zur Folge, dass man auch ohne ein angemessenes „Back Office“ mit Flüchtlingsarbeit einen schnellen Euro verdienen kann. Entsprechend

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lang ist die Schlange der Anbieter in den Rathäusern. Sie sind nicht alle unseriös. Das stellt die Kommunen vor die weitere Herausforderung, genau zu prüfen, ob billig immer gut ist, und sich zu überlegen, wo man Menschen ohne klaren Aufenthaltsstatus schnell irgendeine Leistung zukommen lassen muss oder wo es sinnvoller ist, in zukunftsorientierte Strukturen zu investieren. Auch diese Frage hängt vom Einzelfall und keineswegs von zeitlosen Wahrheiten ab. Wer vor der Fülle der anzusprechenden und im Rahmen dieses Artikels nur ganz grob angerissenen Prozesse nicht kapitulieren will, muss abschließend sagen, wer denn angesichts von Flucht als Herausforderung an die Kommunen den Überblick vor Ort behalten soll. Es ist nicht verwunderlich, dass der Ruf nach „Koordination“ derzeit nirgends so laut ertönt wie bei Flucht und Asyl. Auf Basis des nordrhein-westfälischen Teilhabe- und Integrationsgesetzes scheinen für diese Aufgabe vor Ort vielfach die Kommunalen Integrationszentren (KI) wie geschaffen zu sein. Sie haben als Nachfolger der früheren Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung der Integration von Kindern und Jugendlichen (RAA) nicht nur deren Aufgaben der Integration durch Bildung geerbt, sondern sollen auch Integration als Querschnittsaufgabe verantworten, also die Aktivitäten und Angebote der kommunalen Einrichtungen und der Freien Träger koordinieren, und zwar auf Basis eines Integrationskonzepts, welches für das jeweilige Gemeinwesen zu entwickeln ist. Das KI ist also auf den ersten Blick für fast alles zuständig, was als Schlüsselfragen einer Integrationsstrategie vor Ort zu benennen ist. Auf den zweiten aber nicht. Der Schönheitsfehler, welcher den Zentren von Geburt anhaftet, ist ihre unklare Profilierung zwischen Koordination und eigener operativer Tätigkeit. Dass Bundes- und Landesgelder erst mal auch zur Verbesserung der Refinanzierung des KI selbst dienen, muss gar nicht böser Wille sein, sondern ist strukturell angelegt. Und dass über die Koordinierungstätigkeit des KI unter der Überschrift Flüchtlingspolitik nebenbei auch die Sanierung der städtisch beherrschten Beschäftigungsgesellschaften, kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und anderer Zweckbetriebe mitverfolgt wird, ist nicht wirklich überraschend, weil die Unterscheidung zwischen Trägerschaft und Steuerung auch in anderen kommunalen Handlungsfeldern oft im Dämmerlicht liegt. Wichtiger scheint mir zu sein, dass die oben genannte gesetzliche Grundlage aus dem Jahr 2012 stammt und also quantitativ wie qualitativ gar nicht im Blick haben konnte, was „Koordination“ angesichts der Aufgaben kommunaler Flüchtlingspolitik inzwischen bedeutet. Das KI ist seinem Wesen nach eine klassische Stabsstelle, und somit

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wird der Versuch, unter seiner Federführung die praktische Umsetzung eines städtischen Integrationskonzeptes zu steuern, allein schon an den nicht gegebenen Direktionsrechten scheitern, auch wenn mit noch so vielen Bundes- und Landesmitteln noch so viele neue Stellen geschaffen werden. Soll das Gemeinwesen angesichts der Flüchtlingsfrage wirklich „raus aus dem Krisenmodus“ kommen, muss nach meiner Überzeugung die abschließende Forderung lauten, den Masterplan konsequent zur Chefsache zu machen. Das heißt nicht, dass der Oberbürgermeister oder die Oberbürgermeisterin jede Sitzung leiten soll. Das heißt aber wohl, dass die gesamte Verwaltungsspitze am Integrationskonzept zu beteiligen ist und dass überall dort im Integrationsprozess, wo Ressourcen zu bündeln, ämterübergreifende Maßnahmen umzusetzen und zusätzliche Kräfte bereitzustellen sind, Menschen platziert werden müssen, die nicht bloß koordinieren, sondern die etwas zu sagen haben.

Elke Bartels

Migration und Sicherheitsaspekte aus polizeilicher Sicht

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Entwicklung der Zuwanderung

Zuwanderung und Asylbegehren sind kein neues Phänomen, aber seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es weltweit keine größere Fluchtmigration gegeben als derzeit. Schätzungsweise sind laut des neuesten Berichts des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR) rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht, von denen nur ein Bruchteil in die wohlhabenden Industrienationen gelangen wird. Der größte Teil kann nur innerhalb des eigenen Heimatlandes bzw. in angrenzende Länder flüchten. Diejenigen, die Deutschland erreichen, stellen uns vor große neue Herausforderungen. Deutschland wurde seit über 100 Jahren von verschiedenen Zuwanderungswellen geprägt. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen zunächst viele Menschen aus den osteuropäischen Ländern, insbesondere Polen, um in den aufstrebenden Metropolen der Kohle- und Stahlindustrie Arbeitsplätze zu finden. Ganz besonders betroffen von dieser Zuwanderung war damals auch Nordrhein-Westfalen aufgrund der Industrialisierung an Rhein und Ruhr. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten sich ca. 13 Millionen Vertriebene aus Mittel- und Osteuropa in der Bundesrepublik Deutschland an. Zwischen 1955 und 1973 kamen ca. 14 Millionen sogenannte Gastarbeiter_innen aus Südeuropa und der Türkei nach Deutschland aufgrund von Anwerbeabkommen mit diesen Staaten. Viele dieser Menschen wurden bei uns heimisch. In großem Umfang fand daher bis Mitte der 1980er Jahre dann ein Familiennachzug statt. In den 1990er Jahren kamen zum einen Aussiedler_innen nach dem Zerfall der Sowjetunion und zum anderen vor dem Bürgerkrieg in Jugoslawien Geflüchtete. Aufgrund der EU-Beitritte einiger Länder ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts ein steter Zuzug von sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu verzeichnen. Insbesondere seit dem Bei-

Migration aus polizeilicher Sicht

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tritt der Staaten Rumänien und Bulgarien haben sich viele Menschen aus den ethnischen Gruppierungen der Roma und Sinti in Deutschland angesiedelt. Deutschland kann daher faktisch seit längerem als Einwanderungsland angesehen werden. Doch der starke Anstieg von Flüchtlingen aufgrund des islamistischen Terrors im Nahen Osten und in Nordafrika im Jahre 2015 hat Europa und insbesondere Deutschland unerwartet hart getroffen. Auch wenn nach Schließung der sogenannten Balkanroute die Zahl der ankommenden Migrant_innen derzeit stark zurückgeht, dürfte der Zustrom keineswegs auf Dauer beendet sein. Die Bundesregierung rechnet damit, dass zu den bisher 1,1 Millionen Flüchtlingen des letzten Jahres zwischen 2016 und 2020 jährlich ca. eine halbe Millionen Menschen dazu kommen werden. Das wäre im Jahr 2020 eine Gesamtzahl von 3,6 Millionen Flüchtlingen. Woher die Flüchtlinge stammen, wer sie sind, ob sie einen Anspruch auf Asyl haben oder ob sie einen Duldungsstatus erhalten, ist bei vielen noch ungewiss. Allein für die verwaltungsmäßige Erfassung der hohen Anzahl von Menschen ist Deutschland schlichtweg quantitativ nicht eingerichtet. Aber von einem Fakt dürfte jetzt schon auszugehen sein: Viele dieser Menschen werden hier bleiben, ob registriert oder nicht, als Asylsuchender anerkannt oder abgelehnt, für eine gewisse Zeit oder sogar auf Dauer. Besteht ein Bleiberecht, werden diese Menschen die doppelte oder dreifache Anzahl an Familienangehörigen nachziehen. 2

Einfluss von Städtebau auf Sicherheit und Ordnung

Die Kommunen stehen somit vor dem gigantischen Problem der Unterbringung der Menschen auf der Flucht. Derzeit leben diese noch in Übergangsunterkünften, z.B. Turnhallen oder sogar Zeltstädten. Dabei kann es sich aber nur um eine Interimslösung handeln. Denn spätestens mit dem Bleiberecht ist auch der Anspruch auf Integration zu erfüllen. Dazu gehört unzweifelhaft eine menschenwürdige Unterbringung, die die Privatsphäre achtet. 2.1

Vermeidung von Ghettoisierung

Die Zuwanderung trifft in größeren Städten auf einen ohnehin schon bestehenden Wohnungsmangel im unteren Preissegment. Ländliche Regionen mit alternder und abnehmender Bevölkerung kommen weniger in Betracht, denn zur Integration gehören auch die Perspektive

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E. Bartels

auf geeignete Arbeitsplätze und ein soziales Umfeld. Bleiben also die Stadtrandgebiete mit ihren bereits vorhandenen und zum Teil leerstehenden „Trabantenstädten“. Ein solches Vorgehen birgt aber die Gefahr einer Ghettoisierung der Flüchtlinge. Die Wirkung einer Ghettoisierung zeigt sich z. B. eindrucksvoll in den Vororten von Paris, den Banlieues. Diese Vororte sind von städtischer Verwahrlosung, Arbeitslosigkeit und hoher Kriminalität geprägt. Insofern stehen die Kommunen auch vor der Herausforderung, die Flüchtlinge adäquat unterzubringen. Galten Großraumsiedlungen zur Zeit ihrer Erbauung oftmals als Errungenschaft der Moderne, werden sie heute häufig als „Brutstätten von Kriminalität“ angesehen. Die Entstehung von Kriminalität hängt selbstverständlich von vielen Faktoren und deren Wechselwirkung ab. Aber unbestritten ist auch, dass zwischen der Sozialstruktur, dem räumlichen Umfeld und einem delinquenten Verhalten von Menschen ein Zusammenhang besteht. Die in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre entstandenen Großraumsiedlungen beheimaten oft Menschen in problematischen Lebenslagen. Die Anonymität solcher Siedlungen führt zum Verlust der informellen Sozialkontrolle. Die Lage der meisten Siedlungen am Stadtrand, unzureichende Infrastruktureinrichtungen, fehlende Gewerbeflächen, mangelnde Freiraumgestaltung, hoher Instandhaltungsrückstand und ein unzulängliches Wohnumfeld führen zu einer höheren Kriminalitätsrate – insbesondere von Jugendlichen – als in anderen Stadtteilen. Vandalismus, z.B. in Form von Vermüllung und Graffitis, greift um sich und immer mehr Angsträume entstehen. Bereits der physische Verfall von Gebäuden in einem Viertel erzeugt Ängste. Ein zerbrochenes Fenster in einem Gebäude, das nicht sofort repariert wird, zieht die Zerstörung der restlichen Fenster des Gebäudes innerhalb kürzester Zeit nach sich. Dies hat in New York zur sogenannten Zero-Tolerance-Strategie (Null-Toleranz-Strategie) geführt. Bestehende Bau- und Nutzungsstrukturen können mithin die Begehung von Delikten begünstigen oder hemmen. Dies kann sich entsprechend negativ bzw. positiv auf das Sicherheitsgefühl der Bürger_innen auswirken. Diese Überlegungen sind bei neuen baulichen und planerischen Maßnahmen genauso einzubeziehen wie z.B. die übersichtliche Gestaltung von Straßenzügen, günstige Standorte von Spielplätzen oder die nächtliche Ausleuchtung von Plätzen und Straßen. Bei der nicht zuletzt durch die erfolgende Zuwanderung notwendigen Schaffung neuen Wohnraums ist daher zu beachten, dass nicht dieselben Bausünden begangen werden wie in den 1960er Jahren. Die

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Zuwanderer dürfen nicht in Großsiedlungen konzentriert und damit gleichfalls diskriminiert werden. Anzustreben ist die kleinräumige Unterbringung, die Verteilung auf möglichst viele Stadtteile und beim Neubau von Sozialwohnungen eine Durchmischung von Migrant_innen und deutschen Einwohner_innen. 2.2

Städtebauliche Kriminalprävention

Die Städtebauliche Kriminalprävention als eine noch junge Disziplin befasst sich mit der Entwicklung von Konzepten, die zum Ziel haben, aktuell und künftig durch Gestaltung und Umgestaltung von Wohnraum und Wohnumfeld Kriminalität zu verhindern oder zu erschweren. Die objektive Sicherheitslage soll verbessert und das subjektive Sicherheitsgefühl gestärkt werden. Zwar kennt die Polizei vor Ort meist als erste Institution die Sorgen der Anwohner_innen und weiß um ihre Ängste. Sie hat auch die besten Erkenntnisse zur Kriminalitätsentwicklung. Eine effektive Städtebauliche Kriminalprävention fußt aber auf einer funktionierenden Kooperation mit allen vor Ort Beteiligten. Nur durch die enge Zusammenarbeit zwischen Verantwortungsträgern aus Polizei, Kommune, Bau- und Wohnungswirtschaft, Architektur und Städtebau sowie Sozial- und Jugendhilfeeinrichtungen kann das Ziel verwirklicht werden. Von Polizei und Kommune sollten Initiativen zu Kooperation und Netzwerkarbeit ausgehen, z.B. im Rahmen von Sicherheitskonferenzen oder durch Einrichtung von Kriminalpräventiven Räten. Auch ist eine Zusammenarbeit der Polizei mit Sicherheitsdienstunternehmen anzustreben. Die Mitarbeiter_innen dieser Unternehmen erkennen im Rahmen ihrer Streifenfahrten oder während des Objektschutzes Brennpunkte vor Ort, an denen es beispielsweise häufig zu Vandalismus oder Gewaltdelikten kommt. Die sofortige Unterrichtung der Polizei über diese Fakten sollte vereinbart werden. Auch die Einbeziehung der Bürger_innen in Bau- und Nutzungsmaßnahmen erscheint sinnvoll. Hinweisen von Bürger_innen, inwieweit Bebauung, Bauelemente wie etwa die Straßenbeleuchtung, und Nutzungsstrukturen sich auf ihr Sicherheitsempfinden auswirken, können sehr wertvoll sein. Überhaupt sollten die Bürger_innen in Bau- und Wohnumfeldgestaltung frühzeitig einbezogen werden, um durch ihre Beteiligung die Akzeptanz und Wertschätzung von Maßnahmen zu erhöhen. Architekten, Stadtplaner und Bauherren haben dann die Möglichkeit, schon in der Planungs- und Entwurfsphase einer Baumaßnahme im Zusammenwirken mit der Polizei präventive Aspekte zu berücksichtigen. Bevorzugte Tatgelegenheiten (gute Fluchtmög-

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lichkeiten, unzureichende Beleuchtung, fehlende Sichtbeziehung für helfende Zeug_innen) können so vermieden werden. 2.3

Problemimmobilien in Duisburg

Die Herausforderung der sozialadäquaten Unterbringung von Zuwanderern soll im Folgenden anhand der Stadt Duisburg dargestellt werden. Duisburg ist eine Stadt mit ca. 487.000 Einwohnern aus insgesamt 140 Nationen. Der Ausländeranteil beträgt ca. 16 %; knapp 30 % der Duisburger_innen haben einen Migrationshintergrund. In einzelnen Stadtteilen beträgt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bis zu 70 %. Die Arbeitslosenquote ist mit etwa 13 % eine der höchsten in NRW. Duisburg ist traditionell eine Stadt, die Zuwanderer tolerant und vorurteilsfrei aufgenommen hat. Die bereits beschriebenen Zuwanderungswellen nach Deutschland sind auch gerade in Duisburg gut nachzuvollziehen. Bergbau und Stahlindustrie haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Nachkriegszeit vielen ausländischen Zuwanderern Arbeit und eine neue Heimat verschafft. In den 1990er Jahren kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine große Anzahl an sogenannten Kontingentflüchtlingen, und seit der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in die EU im Jahr 2007 genießen die Bürger_innen dieser Staaten Freizügigkeit. Viele von ihnen haben sich in Duisburg angesiedelt. Derzeit sind es ca. 17.000 Zuwanderer, die fast ausschließlich den Ethnien Roma und Sinti angehören. Die Menschen kommen nach Duisburg, weil sie dort aus ihrer Sicht eine gute Infrastruktur vorfinden. Denn die Stadt verfügt über sehr viele leerstehende Wohnungen, sogenannte Problemimmobilien. Diese Problemimmobilien entstanden nach dem Niedergang der Schwerindustrie und des Bergbaus. Zunächst fielen Arbeitsplätze weg und das hatte einen Bevölkerungsverlust zur Folge. Dieser Umstand wiederum führte zu hohen Leerständen auf dem Wohnungssektor. Die Bewirtschaftung von Gebäuden lohnt sich seitdem nicht mehr. Dringend erforderliche Modernisierungs- und Sanierungsmaßnahmen können nicht mehr finanziert werden. Die Folge sind dauerhafter Leerstand, Verwahrlosung und letztlich die völlige Unbenutzbarkeit. Solche Gebäude stellen dann nicht mehr nur ein Problem für die Eigentümer dar, sondern auch für das Umfeld. Denn sie beeinträchtigen das Stadtbild und haben auf die Entwicklung des Wohnungsmarktes in dem betroffenen Viertel negative Auswirkungen.

Migration aus polizeilicher Sicht

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Die Stadt hat es damals versäumt, gegen den Verfall einiger Gebäude oder ganzer Straßenzüge aktiv vorzugehen, z.B. durch Aufkauf und Abriss dieser Häuser. Die wirtschaftliche Situation der Stadt hätte ein solches Vorgehen aber auch nicht zugelassen. Die seit 2007 stetig zunehmende Anzahl von Zuwanderern aus Südosteuropa fand in Duisburg eine Vielzahl dieser Problemimmobilien vor. Zum Teil wurden die Gebäude einfach okkupiert, ohne dass Eigentümer Einwände erhoben, zum großen Teil freuten sich aber die Eigentümer darüber, dass ihre bis dato leerstehenden Immobilien wieder Mietzins einbrachten. Eine wirkliche Sanierung fand leider kaum statt, sodass die Zuwanderer unter zum Teil erbärmlichen Umständen in diesen Gebäuden leben. In Duisburg zählt die Stadt derzeit 70 verwahrloste Gebäude. Um diese kümmert sich die Verwaltung mit einer Task force nach dem 2014 in Kraft getretenen Wohnungsaufsichtsgesetz NRW. Als schärfste Maßnahme sieht das Gesetz die Erklärung der Unbewohnbarkeit vor. Mangelnder Brandschutz, fehlerhafte oder gänzlich fehlende Strom- und Wasserzufuhr, untragbare sanitäre Anlagen sind die Hauptgründe für eine Unbewohnbarkeitserklärung. Diese wurde bisher für drei Häuser ausgesprochen. In vielen anderen Fällen kam der Eigentümer durch Maßnahmen einer solchen Erklärung zuvor. 2.4

Beispiel Wohnblock „In den Peschen“

In Duisburg hat durch den sehr starken Zuzug von Südosteuropäern in den Jahren 2011 bis 2013 insbesondere ein Wohnblock national und sogar international Bekanntheit erzielt. Der Wohnblock „In den Peschen 3–5“ im Ortsteil Rheinhausen zeichnete sich innerhalb kurzer Zeit durch völlige Überbelegung aus. In den 50 Wohneinheiten lebten zeitweilig bis zu 1.400 Menschen. In einem gutbürgerlichen Wohnumfeld gelegen, wurde der Komplex zu einem Synonym für unangepasstes Verhalten von osteuropäischen Zuwanderern. Gravierende Müllprobleme, tägliche Ruhestörungen, ein Anstieg der Kriminalität insbesondere von Diebstahlsdelikten im unmittelbaren Umfeld und dadurch eine hohe Anzahl polizeilicher Einsatzlagen waren die Folge. Erst die behördliche Schließung des Komplexes aus baurechtlichen und hygienischen Gründen führte zur Entspannung dieser Situation. Da Duisburg aber bis zu 70 solcher Problemimmobilien verzeichnet, zogen die dort lebenden Menschen in andere Stadtteile Duisburgs, die nunmehr vergleichbare Probleme aufweisen. Bei diesen Immobilien handelt es sich aber nicht um große Wohnkomplexe in einem bürgerlichen Umfeld, sodass die mediale Aufmerksamkeit nicht so hoch ist wie bei dem zuvor beschriebenen Objekt.

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E. Bartels

Einfluss von Zuwanderung auf Sicherheit und Ordnung

Bei dem Begriff Zuwanderung ist zu unterscheiden zum einen zwischen den nach Deutschland geflohenen Asylbewerber_innen bzw. Asylberechtigten aus dem Nahen Osten, aus arabischen, afrikanischen und Ländern des Westbalkans, die nicht der EU angehören; und zum anderen den Zuwanderern, die aus EU-Ländern stammen und Freizügigkeit in der gesamten EU genießen, wie z.B. Rumänien und Bulgarien. Der erste Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) zur „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ vom Juni dieses Jahres befasst sich mit der erstgenannten Gruppe und stellt fest, dass von dieser der weitaus größte Anteil keine Straftaten begeht. Die Flüchtlinge werden im Durchschnitt genauso wenig oder oft straffällig wie Vergleichsgruppen der deutschen Bevölkerung. Nur auf den kleinen Anteil Straffälliger aus beiden Gruppierungen richtet sich im Folgenden die polizeiliche Betrachtung. 3.1

Kriminalitätsentwicklung und Zuwanderung

Die polizeiliche Lage wird in Duisburg maßgeblich durch die sozialen Brennpunkte und die daraus erwachsenden polizeilichen Handlungsfelder bestimmt. In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Brennpunkte stark erhöht. Dabei spielt vor allem ein bestimmter Anteil der Zuwanderer eine große Rolle, die sich zum einen schon sehr lange in Duisburg aufhalten, wie z.B. Türkischstämmige und Großfamilien, die während des Bürgerkriegs im Libanon nach Deutschland als Libanesen oder Staatenlose geflohen sind. Des Weiteren beschäftigen die Polizei rumänische und bulgarische Staatsbürger_innen der Volksgruppen der Roma und Sinti, die sich als EU-Bürger_innen seit 2007 aufgrund ihres Freizügigkeitsrechts in Duisburg angesiedelt haben. Gerade im Norden der Stadt, so z.B. im bekannten und viel beschriebenen Stadtteil Marxloh, leben diese unterschiedlichen Ethnien auf engem Raum zusammen und es kommt des Öfteren zu Konfliktlagen. Spannungen treten vor allem zwischen etablierten Zuwanderergruppen und den südosteuropäischen Neuzuwanderern auf. Die Südosteuropäer trafen in ihrem neuen Wohnumfeld z.B. auf verschiedene Rockergruppierungen, meist mit türkischem Migrationshintergrund. Die Mitglieder gehen dort ihren einträglichen „Geschäften“ nach (sofern sie von der Polizei nicht davon abgehalten werden) und wollen dabei nach Möglichkeit ungestört agieren. Die direkte

Migration aus polizeilicher Sicht

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Nachbarschaft zu libanesischen Großfamilien, die den Stadtteil für sich reklamieren, und nunmehr der starke Zuzug von Südosteuropäern in ihr „Revier“ führt häufig zu Gemengelagen, die nur noch mit beharrlicher polizeilicher Intervention zu beherrschen sind. Die Sinti und Roma stellen sich als homogene Zuwanderungsgruppe dar, die zumeist in kinderreichen Familienverbänden leben. Circa 40 % dieser Gruppe sind unter 18 Jahren alt. Nach einer Erhebung der Stadt aus September 2014 sind 95 % dieser Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Eine Zuführung der Menschen auf den Arbeitsmarkt ist daher ohne vorherige schulische und berufliche Qualifikation kaum möglich. In den letzten Jahren ist ein Anstieg von durch geringes Einkommen bedingten Kriminalitätsformen zu verzeichnen, wie z.B. Ladendiebstahl, Wohnungseinbruchdiebstahl, Betrugshandlungen, Schwarzarbeit, Sozialleistungsbetrug u.ä. Sowohl aus der Gruppe der alteingesessenen Migranten als auch den Südosteuropäern versuchen immer wieder größere Personengruppen andere Anwohner durch massive Präsenz auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen mit einhergehenden Ordnungsstörungen und sogar Straftaten einzuschüchtern und die Straße für sich zu reklamieren. Dieses Verhalten hat aus ihrer Sicht offenbar Symbolcharakter für ihre eigene Bedeutung. Es gibt Hinweise darauf, dass Anwohner und Geschäftsinhaber aus Angst vor Repression Straftaten durch Mitglieder dieser Gruppen nicht anzeigen. Außer den der Polizei bekannten Taten gibt es demnach wahrscheinlich noch ein nicht zu unterschätzendes Dunkelfeld. Bei ihrem Einschreiten sieht sich die Polizei nicht nur einer hohen Aggressivität und Respektlosigkeit gegenüber. Das Behindern und Erschweren polizeilicher Maßnahmen, das Ignorieren von Anordnungen, physische und psychische Gewalt und Widerstandshandlungen oder auch das Zusammenrotten zur Beeinflussung des polizeilichen Handelns tangieren die Funktionsfähigkeit der Polizei und damit ein Sicherheitsgut. Von diesem Phänomen ist leider nicht nur die Polizei betroffen, sondern auch immer häufiger Feuerwehr und Rettungsdienste sowie das Personal der kommunalen Ordnungsämter und von Verkehrsgesellschaften. 3.2

Gegensteuerung durch Polizeistrategie

Die Polizei hat die Rechtspflicht des Staates, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zu gewährleisten. Für die

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E. Bartels

Polizei gibt es keine Tabuzonen bzw. von Medien so benannte NoGo-Areas. Die Polizei nimmt ihre Aufgaben in jeder Situation wahr und, wenn es sein muss, mit einem sehr hohen Personaleinsatz. So kann es bei großen Menschenansammlungen, die sich gerade im Duisburger Norden oftmals ganz spontan zu Körperverletzungsdelikten zusammenfinden, vorkommen, dass die Besatzungen von bis zu 20 Streifenwagen die Lage beruhigen müssen. Aber Alternativen gibt es für die Polizei nicht. Gerade in solchen Stadtbezirken, in denen das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bereits nachhaltig negativ beeinträchtigt erscheint, muss Polizei Strategien entwickeln, um das subjektive Empfinden und vor allem die objektive Sicherheitslage positiv zu beeinflussen. Nachdem die Anzahl der Polizeieinsätze in Stadtteilen des Duisburger Nordens stark zugenommen hatte und die Qualität der Anlässe einen immer höheren Kräfteansatz erforderte, wurde die ständige Polizeipräsenz in diesen Bereichen erhöht. Dies konnte nur mit Unterstützung von Kräften aus den Hundertschaften des ganzen Landes Nordrhein-Westfalen gelingen, die fast arbeitstäglich in einer Stärke von 20 bis 25 Beamten der Duisburger Polizei vom Landesinnenministerium seit Mitte 2015 bis heute zugewiesen werden. Dieser Offensive liegt ein integriertes Handlungskonzept zugrunde, das auf einer ganzheitlichen Polizeiarbeit im Zusammenwirken mit der Stadtverwaltung basiert. Dies sieht u.a. vor: – eine offene Präsenz an Brennpunkten, – gemeinsame Einsätze mit der Stadt Duisburg, – konsequente Ermittlungsmaßnahmen, – konsequente Verfolgung von Verstößen. Von der Polizei werden die Problemgruppen gezielt angesprochen und auf ihr non-konformes Verhalten hingewiesen. Damit wird die Anonymität der Gruppenmitglieder aufgehoben. Die Polizei geht nach einer Null-Toleranz-Strategie vor. Das bedeutet, dass die Schwelle des Einschreitens gering ist. Es bedarf keiner Straftat, sondern jegliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wie z.B. Falschparken, fehlendes Gurtanlegen, Lärmbelästigungen, Pöbeleien udgl. wird geahndet, um das Sicherheitsgefühl der Bürger_innen zu stärken und den öffentlichen Raum für jeden frei zugänglich zu halten. Gemeinsam mit dem Ordnungsamt der Stadt werden Gaststätten- und Gewerbekontrollen durchgeführt. Illegale Aktivitäten werden nachhaltig gestört und zur Bekämpfung von Betäubungsmitteldelikten werden Schwerpunkteinsätze gefahren.

Migration aus polizeilicher Sicht

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Es kann nicht erwartet werden, dass sich die fehl verhaltenden Menschen durch die Maßnahmen in kurzer Zeit verändern werden. Aber erste positive Wirkungen konnten erzielt werden, indem den Mitarbeiter_innen von Polizei und Stadt wieder mit höherem Respekt begegnet wird und Widerstandshandlungen abgenommen haben. Eine langfristige Trendwende kann aber nur durch eine intensive Zusammenarbeit mit städtischen und anderen Institutionen aus dem sozialen Bereich sowie einem ständigen Dialog mit den Betroffenen vor Ort erreicht werden. 4

Einfluss von Kultur und Religion auf Sicherheit und Ordnung

Auf Unterschiede in Kultur und Religion zwischen Deutschen und „den Migranten“ einzugehen, wäre zu kurz gegriffen. Es gibt keine homogene Migrantengruppe, vielmehr sind die Unterschiede auch zwischen den Gruppierungen sehr groß und zum Teil unüberwindbar. Eine undifferenzierte Betrachtungsweise der Menschen mit Migrationshintergrund verbietet sich somit. Im Folgenden werden Unterschiede dargestellt, die aus polizeilicher Sicht eine Rolle bei der Wahrnehmung der polizeilichen Kernaufgabe spielen, die Sicherheit und Ordnung für alle Menschen zu gewährleisten. 4.1

Gruppe der türkischstämmigen Bevölkerung

Die größte Gruppe der Migranten, die türkischstämmigen Mitbürger_innen, leben zum Teil in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland. Nach einer Studie der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen aus dem Jahr 2014 fühlt sich die Mehrheit der Türk_innen in Deutschland heimisch. Sie haben eine Schulbildung genossen, zum größten Teil eine Ausbildung oder ein Studium absolviert und einen Beruf ergriffen. Viele von ihnen haben deutsche Freunde. Gleichwohl bedienen viele türkische Frauen das traditionelle Rollenbild und erlernen zu knapp 70 % keinen Beruf. Auch ist bei einigen Türkischstämmigen das Bildungsniveau durch eine unterschiedliche Ausgangssituation geringer als bei den Deutschen. Gerade die Frauen haben diesen Rückstand oft nicht aufgeholt, den Kindern eine tradierte Erziehung zukommen lassen und die deutsche Sprache nicht ausreichend gelernt, sodass in den Familien weiterhin nur Türkisch gesprochen wird. Oftmals erhalten die Kinder auch eine strenge Erziehung, in der auch Gewalt eine Rolle spielt. Gerade männliche Jugendliche adaptieren somit Werthaltungen, die Gewalt zur Verteidigung der Ehre gutheißen. Solche gewaltlegitimierten Männlichkeitsnormen können dann die Tendenz

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E. Bartels

zu Körperverletzungsdelikten, zu massiver häuslicher Gewalt bis hin zu „Ehrenmorden“ verstärken. Das Männlichkeits- und Imponiergehabe gerade türkischer Jugendlicher löst immer wieder größere Polizeieinsätze aus. 4.2

Gruppe der Roma und Sinti

Anders als für die türkischen Mitbürger_innen ist für die meisten nach Duisburg gezogenen Roma und Sinti mit vorwiegend rumänischer oder bulgarischer Staatsangehörigkeit eine Sozialisierung und Integration in die deutsche Werteordnung offenbar sehr schwierig. Dabei könnte man annehmen, dass gerade bei EU-Bürgern innerhalb Europas kulturelle Unterschiede im Gegensatz zu nicht europäischen Migranten weniger ausgeprägt sind. Aber diese sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge sind meist schlecht oder gar nicht ausgebildet, häufig Analphabeten und nicht geeignet, auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt vermittelt zu werden. Sie beziehen in Deutschland überwiegend staatliche Transferleistungen, wie z.B. Kindergeld. Die Menschen sind meist kinderreich, leben in Großfamilien, bewohnen ganze Straßenzüge und bleiben ausnahmslos unter sich. Sie sprechen kaum Deutsch und kommen auch häufig der deutschen Schulpflicht für ihre Kinder nicht nach. Das Wohnumfeld dieser Migrant_innen zeichnet sich oft durch Verwahrlosung aus, so z.B. durch wilde Müllkippen oder Zweckentfremdung von öffentlichen Flächen. Einen Großteil des täglichen Lebens verbringen die Menschen auf der Straße und nicht in ihren Wohnungen. Ruhestörungen und Lärmbelästigung, insbesondere in den Sommermonaten sowie das von anderen Bevölkerungsschichten als Bedrohungslage empfundene „Zusammenrotten“ führen täglich zu Polizeieinsätzen. Ein Teil dieser Migrant_innen wird statistisch häufiger straffällig als andere Flüchtlinge. Raubdelikte, Ladendiebstähle und andere Diebstahlsformen sind hierbei überproportional ausgeprägt. 4.3

Gruppe der Neuzuwanderer

Wieder anders gelagert ist die Migration aus arabischen und afrikanischen Ländern. Seit einigen Jahren ist ein Zulauf von Asylbewerbern aus diesen Staaten zu verzeichnen. Es handelt sich meist um allein gereiste junge Männer und Jugendliche. Nach dem Bericht des BKA zur „Kriminalität im Kontext mit Zuwanderung“ werden Männer aus den Maghrebstaaten (Marokko, Algerien, Tunesien) neben Georgiern und Serben überproportional straffällig. Die deliktischen Schwerpunkte liegen dabei zu einem Drittel auf Diebstahlsdelikten, zu einem weiteren Drittel auf Betrugsdelikten und zu einem Viertel auf

Migration aus polizeilicher Sicht

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Körperverletzungsdelikten sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit. Zu beobachten ist ein Deliktsphänomen, bei dem die Täter durch Tanzbewegungen potenzielle Opfer ablenken und sie dann bestehlen oder gar ausrauben. In größeren Gruppen begehen sie auch Eigentumsdelikte im Einzelhandel. Darüber hinaus wird gegen sie auch häufig im Zusammenhang mit Betäubungsmitteldelikten ermittelt. Aus den Reihen dieser Ethnien ist auch ein weiteres neues Kriminalitätsphänomen zu beklagen, nämlich das der sexuellen Gewalt von Männergruppen gegen Frauen, wie es sich in der Silvesternacht 2015 in einigen Großstädten ganz massiv manifestiert hat. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass laut Bericht des BKA solche von Zuwanderern begangenen Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung nur 1,1 % aller Straftaten ausmachen. Für die Polizei am unproblematischsten verhält es sich mit neu zugewanderten Menschen, insbesondere Familien, aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens. Zwar kommt es gelegentlich in den Notunterkünften wegen der prekären Wohnsituation ohne Privatsphäre zu Einsätzen wegen Auseinandersetzungen. In der letzten Zeit treten auch vermehrt Konflikte religiöser Art auf, insbesondere zwischen Moslems und Christen. Dabei ist zu konstatieren, dass die sich aus dem Grundgesetz ergebende Religionsfreiheit auch in Flüchtlingsheimen gilt. Diese Einsatzanlässe haben aber zumindest in Duisburg bisher kein bedrohliches Maß angenommen. Spielt bei den Südosteuropäern die Religion wenn überhaupt nur eine unbedeutende Rolle, ist bei Türkischstämmigen und vor allem den neu hinzukommenden Flüchtlingen der islamische Glaube ein zu berücksichtigender Faktor. Gerade die gegen Frauen gerichtete Gewalt entspringt einem Verständnis der Geschlechterrollen und des Sexualitätsbegriffs, das das westliche Wertesystem nicht kennt. Durch die weitgehende Tabuisierung von Sexualität in den Herkunftsländern entstehen bewusste oder unbewusste Verhaltenscodices, die das Verhältnis der Geschlechter untereinander regeln. Schon der bloße Blickkontakt oder ein Anlächeln wird häufig als untugendhaft interpretiert. Die Kleidung und das selbstbestimmte Verhalten einer aufgeklärten europäischen Frau stimmen mit diesen Verhaltenscodices nicht überein und werden falsch gedeutet. Streng religiöse Moslems, die nach den Regeln der Scharia, dem islamischen Rechtssystem, leben, definieren den Bewegungs- und Entscheidungsspielraum für Frauen sehr eng. Das religiös begründete Prinzip der Geschlechtersegregation geht von der Überordnung des Mannes über die Frau und deren unbedingtem Gehorsam aus. Dem Mann wird ein Erziehungsrecht an

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E. Bartels

seiner Frau sowie in vielen Ländern sogar polygames Verhalten zugestanden. Doch der Versuch einer Erklärung kann keineswegs sexuelle Gewalt entschuldigen, sondern eine solche ist strafrechtlich und gesellschaftlich zu sanktionieren und zu ächten. 4.4

Schutz der Flüchtlinge

Ein weiteres polizeiliches Betätigungsfeld ist der Schutz der Flüchtlinge vor politisch motivierten Angriffen. Die Migrationsbewegungen haben rassistische Reaktionen von Rechtsextremisten nach sich gezogen. Diese versuchen, Menschen auf der Flucht als Bedrohung der deutschen Gesellschaft zu diffamieren und damit in bürgerlichen Kreisen Ängste vor Überfremdung auszulösen. Rechtsextremistische Propaganda im Internet, auf der Straße und auch in Kommunalparlamenten schafft einen Nährboden für fremdenfeindliche Straftaten und für ansteigende Gewaltbereitschaft. Ausfluss dieser Propaganda ist eine Zunahme der Übergriffe gegen im Bau befindliche und bewohnte Flüchtlingsunterkünfte sowie gegen Asylbewerber_innen selbst. Das BKA zählte für das Jahr 2015 insgesamt 1.032 Angriffe und bis April 2016 bereits 368. In NRW hatte sich 2015 die Zahl der rechtsmotivierten Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte im Vergleich zum Vorjahr auf 222 verneunfacht. Auch die Tatsache, dass die Hinweiszahlen zu mutmaßlichen Kämpfern bzw. Sympathisanten von islamistischen Terrororganisationen, die sich in Deutschland aufhalten sollen, beständig wachsen, erhöht die latente Radikalisierung des gesellschaftlichen Diskurses. Die Sicherheitsbehörden setzen bei der Bekämpfung sowohl des Rechtsextremismus als auch des Islamismus auf einen Dreiklang aus Repression, Prävention und Ausstiegshilfe. Die Repression beinhaltet die intensive Zusammenarbeit zwischen Polizei, Verfassungsschutz und Justiz, Vereinsverbote, Strafverfahren und ausreisehindernde Maßnahmen, wenn sie rechtlich möglich sind. Zur Prävention gehören Informations- und Sensibilisierungsveranstaltungen für die breite Öffentlichkeit durch die Sicherheitsbehörden. In NRW zählt dazu auch das 2014 initiierte Präventionsprogramm „Wegweiser – Gemeinsam gegen gewaltbereiten Salafismus“. Besondere Aussteigerprogramme bieten Menschen, die sich aus einer extremistischen Szene lösen wollen, Hilfe bei einem Neustart in der Gesellschaft an.

Migration aus polizeilicher Sicht

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In Duisburg befinden sich sowohl kommunale Flüchtlingsunterkünfte als auch eine Zentrale Unterbringungseinrichtung des Landes NRW. Trotz vielfältig politisch motivierter Demonstrationen, wie z.B. der seit 18 Monaten montäglich stattfindenden Pegida NRW-Demonstrationen, sind bisher keine gravierenden Angriffe zu verzeichnen gewesen. Im Wesentlichen beschränkte sich die Kriminalität auf Propagandadelikte. Dennoch ist die Aufmerksamkeit der Polizei in diesem Bereich sehr hoch. Sie führt an den Unterbringungseinrichtungen täglich Präsenz- und Aufklärungsmaßnahmen rund um die Uhr durch und geht jedem gefährdungsrelevanten Hinweis nach. 5

Fazit

Integration ist ein interaktiver, sehr langer Prozess, der einer wechselseitigen Anpassung und Angleichung bedarf. Der Prozess muss auf Augenhöhe ablaufen und getragen sein von gegenseitiger Akzeptanz, Anerkennung und Respekt. Integration ist nicht gleichbedeutend mit Assimilation; der Flüchtling wird nicht zum Einheimischen. Aber wer in Deutschland leben will, muss sich den Werten und Normen des aufnehmenden Landes anpassen. Er muss die freiheitlich demokratische Grundordnung, das Grundgesetz und die daraus folgenden Regelungen als für sich verbindlich anerkennen. Es ist daher nicht akzeptabel, wenn er seinem Handeln z.B. stattdessen die Regeln der Scharia zugrunde legt. Die Zuwanderer, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung und Krieg und eine bessere Lebensgrundlage für sich und ihre Familien suchen, sollten schnellstmöglich registriert und aus den Interimsunterkünften in adäquate Wohnungen wechseln. Dabei ist es für den integrativen Ansatz wichtig, sie nicht isoliert in Großraumsiedlungen unterzubringen, sondern in überschaubaren Wohneinheiten und einem Sozialumfeld, in dem sie die in Deutschland herrschenden Wertegrundlagen leichter adaptieren können. Sprache ist der wesentliche Schlüssel zu einem integrativen Miteinander. Wer in einem anderen Land dauerhaft leben will, muss zwangsläufig die Sprache dieses Landes erlernen. Auch zwischen Polizei und Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, kommt es des Öfteren zur Eskalation, da der Einsatzanlass nicht verständlich gemacht werden kann. Ein weiterer wesentlicher Baustein zur Integration ist die Bildung. Schulische Bildung und arbeitsspezifische Ausbildung sind die Vor-

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aussetzung für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben. Unter den Neuzuwanderern sind bereits viele gut handwerklich und auch akademisch ausgebildete Menschen, die den in unserem Land herrschenden Fachkräftemangel reduzieren könnten. Der Zuwachs ist daher auch als Aspekt zur Sicherung des Wohlstands und des Wirtschaftswachstums unseres Landes zu betrachten. Die Auswirkungen einer weniger gelungenen Integration, wie sie in Bezug auf libanesische Großfamilien und Sinti und Roma in Duisburg festzustellen sind, stellen auch für die Polizei eine große Herausforderung dar. Je besser die Integration der nunmehr bei uns Schutz suchenden Menschen auf der Flucht gelingt, desto günstiger fällt die Prognose für die künftige Sicherheit und Ordnung in Duisburg sowie überall aus. Bei Menschen, die Perspektiven haben und zuversichtlich in die Zukunft blicken, ist das Delinquenzverhalten wesentlich geringer ausgebildet als bei denen, die sich als Verlierer der Gesellschaft fühlen.

Hildegard Mogge-Grotjahn

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

1

Einleitung

Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Thema „Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)“ ist die sog. „Kölner Silvesternacht“, über die zwar schon reichlich viel gesagt und geschrieben worden ist, die aber doch immer noch viele Fragen offen lässt. Die Berichterstattung über die Kölner Ereignisse war dazu angetan, starke Emotionen zu schüren. Selbst seriöse Medien schreckten nicht davor zurück, stereotype Vorstellungen über die Bedrohung „weißer Frauen“ durch „dunkelhäutige Männer“ zu bedienen. Beispielsweise zeigte die Süddeutsche Zeitung auf ihrer Titelseite eine schwarze Hand zwischen weißen (Frauen-)Beinen, und der Focus illustrierte seinen Titel „Frauen klagen an“ mit der Abbildung eines von schwarzen Händen befleckten weißen weiblichen Oberkörpers. Damit wurden vor jeder Analyse rassistische Denkmuster bedient, wobei der hier verwendete Begriff von Rassismus sich nicht auf individuelle und / oder kollektive Vorurteile bezieht, sondern auf die Legitimation gesellschaftlicher Macht-Verhältnisse. Diese Legitimation geschieht – erstens durch „Naturalisierung“, indem soziale Beziehungen zwischen Menschen als unveränderlich und einfach gegeben verstanden werden, – zweitens durch Homogenisierung, indem Menschen in vermeintlich jeweils homogenen Gruppen zusammengefasst und ihnen gemeinsame Merkmale zugeschrieben werden, – drittens durch Polarisierung, indem Gruppen von Menschen als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt werden, – und viertens durch Hierarchisierung, indem diese verschiedenen Gruppen in eine Rangordnung gebracht werden.1

1

Vgl. Köbsell, Ableism, 25; Bezug: Rommelspacher, Rassismus.

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H. Mogge-Grotjahn

Meine eigenen Reaktionen auf diese und ähnliche Nachrichten und Berichte aus Köln waren sehr widersprüchlich. Etwas pointiert lassen sie sich so zusammenfassen: Bestürzung:

Das darf doch nicht wahr sein. Wie kann denn so was passieren?

Empörung:

Was sind das denn für Dreckskerle?!

Besorgnis:

Das ist politisch eine Katastrophe. Das ist Rückenwind für die Rechten.

Angst:

Kann ich mich als Frau im öffentlichen Raum noch angstfrei bewegen?

Solidarität 1:

Wir Frauen halten zusammen. Wir dürfen kein Freiwild sein.

Solidarität 2:

Wir Demokrat_innen und Menschenrechtler_innen halten zusammen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

Politisches Grausen:

Wie können Polizei und Parteien / Minister_innen / Landesregierung derart unprofessionell agieren? Wie kann ein Großteil der Medien so verantwortungslos mitmischen?

Herausforderung:

Wir müssen alles neu überdenken. Selbstverständlichkeiten in Frage stellen. Vermeintliche Sicherheiten aufgeben.

Dieser Herausforderung – alles neu zu überdenken und gewohnte Kategorien und Analyseschemata zu überprüfen – will ich mich mit meinem Beitrag stellen. 2 2.1

„Muster“ von Analysen und Reflexionen zum Verhältnis von Geschlecht, Kultur, Religion und Macht bzw. Dominanz Kulturalisierende Verbindung von Islam und patriarchaler Gewalt

Ein erstes Muster ist die Herstellung einer engen Verbindung von Islam und Gewaltaffinität, genauer: die Identifikation von Islam mit patriarchaler bzw. männlicher Gewalt. Auch wenn es „den“ Islam bekanntermaßen nicht gibt, lebt diese Identifikation von umstandslosen

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

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und vereinheitlichenden kulturellen und / oder religiösen Zuschreibungen. Diese werden sowohl von nicht-muslimischen als auch von muslimischen Autor_innen vorgenommen. Besonders pointiert äußern sich – schon lange vor und verstärkt nach der Kölner Silvesternacht – einige in Deutschland lebende muslimische Autor_innen. Als ein Beispiel von vielen zitiere ich den Politikwissenschaftler Bassam Tibi: „Als Syrer aus Damaskus lebe ich seit 1962 in Deutschland, und ich weiß: Patriarchalisch gesinnte Männer aus einer frauenfeindlichen Kultur lassen sich nicht integrieren“.2 Im gleichen Text schreibt Tibi: „Und es geht dem arabischen Mann bei der ausgeübten sexuellen Gewalt nicht nur um die ‚sexuelle Attraktion‘ der europäischen Frau, sondern auch um den europäischen Mann, dessen Ehre der Orientale beschmutzen will“.3 Tibi bedient sich hier aus einem festen Repertoire anti-muslimischer Topoi, nämlich der Annahme, „dass sich Muslim_innen aufgrund ihrer Religion und Kultur […] nicht in westliche Gesellschaften ‚integrieren‘ ließen. Ein unüberwindbares Hindernis stelle dabei unter anderem das archaische und repressive Verständnis von Geschlechterrollen dar, denen Muslim_innen anhingen, ebenso wie eine der ‚islamischen Kultur‘ inhärente Homophobie und Ablehnung der Freiheit des Individuums. Während ‚der Westen‘ auf der zivilisatorischen Leiter vorangeschritten sei und die Aufklärung ‚hinter sich gebracht‘ habe, stünde diese evolutionäre Leistung Muslim_innen erst noch bevor. Ob sie diese zu vollbringen in der Lage wären, solange sie an ihrer Religion und Kultur festhielten, sei jedoch überaus zweifelhaft“.4 2.2

Verstärkung des Musters durch „Kronzeug_innen“

Shooman weist darauf hin, dass solche Zuschreibungen und Anschuldigungen besonders wirksam werden, wenn sie von muslimischen Autor_innen wie Bassa-m Tibi oder auch Necla Kelek5 formuliert werden. Denn ähnlich wie „Kronzeug_innen“ vor Gericht werden die Vorwürfe ja „durch Mitglieder aus dem Kreise der Beschuldigten ‚bezeugt‘“ bzw. bestätigt. Nun beziehen sich diese sog. „internen Stimmen“ auf ganz unbestreitbar vorhandene patriarchale Strukturen innerhalb muslimisch geprägter Gesellschaften bzw. muslimischer Communities in nicht-muslimischen Gesellschaften. Und es sind nicht 2 3 4 5

Tibi, Syrien und Deutschland, 96. Tibi, Syrien und Deutschland, 93. Shooman, Einblick gewähren, 47. Kelek, Islam.

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nur Einzelfälle, in denen diese patriarchalen Strukturen zu Gewaltvorfällen wie Zwangsverheiratungen oder sogar so genannten Ehrenmorden führen. Aber durch die Pauschalität der Vorwürfe und dadurch, dass sie sich als „Insider“ jeder Kritik entziehen, fördern sie ein „essentialisierendes Kulturverständnis“, bejahen eine „dichotome Gegenüberstellung von ‚westlicher‘ und ‚islamischer‘ Kultur“ und bestätigen damit „die Überlegenheit der Dominanzkultur […] und Minderwertigkeit der ‚eigenen Kultur‘“.6 Aus diesem behaupteten kausalen Zusammenhang zwischen (häuslicher) Gewalt und islamischer Religion folgt, dass die Kritik an der Gewalt gegen Frauen notwendigerweise zu einer generellen Islamkritik werden muss, denn wer Ersteres ablehnt, muss auch Letzteres ablehnen. Und schließlich erwächst daraus eine Art doppelte Handlungsaufforderung an die dominante nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft: zum einen im Sinne eines Rettungsauftrages in Hinblick auf muslimische Frauen und Kinder und zum anderen im Sinne eines Disziplinierungsauftrages in Hinblick auf muslimische Männer.7 2.3

Ent-Kulturalisierung von Gewalt nicht-muslimischer Männer

Während die Gewaltaffinität und Gewalttätigkeit muslimischer Männer als Ausdruck ihrer kulturellen und / oder religiösen Identität gedeutet wird, gilt die Gewalt weißer deutscher Männer nicht als Ausdruck „deutscher“ oder „christlicher“ Gewaltkultur. Sie wird stattdessen als Ausdruck historisch „eigentlich“ überholter Geschlechterverhältnisse verstanden und / oder als fehlgeleitete Männlichkeit individualisiert und / oder mit möglicherweise randständigen sozialen Positionen der gewaltbereiten Männer erklärt. Das bedeutet: Im einen Fall wird männliche Gewalt als kulturspezifisch, im anderen Fall aber nicht als kulturspezifisch gedeutet. Ersteres geschieht explizit, d.h., es wird eine nahezu unauflösliche Verbindung von „islamischer Kultur“ mit männlicher Gewalt hergestellt. Letzteres dagegen geschieht implizit und entzieht sich damit weitgehend der kritischen Reflexion. Damit fällt die aktuelle Debatte über „islamische Männergewalt“ weit hinter die Erkenntnisse der neuen Frauenbewegungen seit den 1960er Jahren und auch der feministischen Theorie zurück. Diese hatten aufgedeckt, dass männliche Gewalt gegen Frauen ein nahezu uni6 7

Kelek, Islam, 48. Vgl. Kelek, Islam, 54f.

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

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verselles Phänomen ist, das sich ebenso wenig auf kulturelle und / oder religiöse Verursachungszusammenhänge wie auf individualisierte Defizite reduzieren lässt. Stattdessen wurde sie als Ausdruck von männlicher Macht in jeweils gegebenen Ungleichheitsverhältnissen analysiert. Und mit Connells Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“8 stand ein theoretischer Bezugsrahmen zur Verfügung, der auch die unterschiedlichen sozialen Positionierungen und damit verbundenen Identitätskonzepte von Männern einer differenzierten Analyse zugänglich machte und Männlichkeit zugleich aus der Falle pauschaler Zuschreibungen befreite. Solche Erkenntnisse lagen der Thematisierung von Gewalt gegen Frauen seit den Anfängen der neuen Frauenbewegung zu Beginn der 1970er Jahren zugrunde, in deren Folge u.a. Frauenhäuser und Notruftelefone gegründet wurden. Zentraler Ausgangspunkt von Forschung wie von sozialer Bewegung war der Tatbestand, dass das „Private politisch“ ist, somit Vergewaltigung und Misshandlung als „struktureller Bestandteil einer die gesamte Gesellschaft durchziehenden Gewalt gegen Frauen“ betrachtet werden muss.9 2.4

Entpolitisierung von Frauen und Relativierung der Gewalt muslimischer Männer

Nicht erst seit der Kulturalisierung der aktuellen Gewaltphänomene gibt es eine Art „Rückfall“ im öffentlichen und teilweise auch im professionellen und wissenschaftlichen Verständnis von Gewalt gegen Frauen. Sie wird wieder uminterpretiert „von einem im Geschlechterverhältnis (aufgrund von Hierarchisierungen und ungleicher Machtverteilungen) verankerten Phänomen zu einem individualisierten Verständnis von Gewalt einzelner Männer (im Kontext von Sucht- und Beziehungsproblematiken) und von Gewalterduldung einzelner Frauen (aufgrund persönlicher Abhängigkeit)“.10 Diese Umdeutung entpolitisiert den Skandal um die ja nur vermeintlich „private“ Gewalt gegen Frauen und individualisiert die Opfer der Gewalt. Sie weist Frauen den Status von Hilfe-Empfängerinnen zu, anstatt sie als politische Subjekte zu betrachten. Margrit Brückner weist darauf hin, dass diese Umdeutung eine – fast schon paradoxe – Folge des Erfolgs der neuen Frauenbewegungen sei. Denn mit der Etablierung von Frauenhäusern und anderen Hilfe8 9 10

Connell, Der gemachte Mann. Hagemann-White, Gewalt gegen Frauen, 48. Brückner, Transformationen, 64.

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Angeboten für von Gewalt betroffene Frauen sei eine Transformation der „Frauen gegen Männergewalt“ von einer gesellschaftlichen Gegenbewegung zu einem Teil des sozialen Systems einhergegangen.11 Und – vielleicht gravierender: Trotz aller Hilfeangebote und Schutzgesetze ist das Ausmaß der psychischen, physischen und sexuellen Gewalt, der Frauen in unserem Land ausgesetzt sind, nach wie vor beträchtlich. Eine Erhebung des Bundesfamilienministeriums belegt, dass circa 25 % aller Frauen in Deutschland zwischen 18 und 65 Jahren Gewalterfahrungen erlitten haben. Der Großteil der gegen Frauen (und auch Kinder) gerichteten Gewalt wird im häuslichen Umfeld verübt – und zwar in allen sozialen Milieus und von Männern mit und ohne Migrationshintergrund.12 Es handelt sich also keineswegs um ein „islamisches“ Problem, sondern um eine in verschiedenen Kulturen verankerte hegemoniale Männlichkeit, d.h. Männlichkeit mit Herrschaftsanspruch und tendenzieller Gewaltbereitschaft – einerseits. Auf das „Andererseits“ dieser Relativierung der durch muslimische Männer verübten Gewalt komme ich gleich noch zu sprechen. 2.5

Der „emanzipierte Westen“ gegen den „rückständigen Islam“

Aber zunächst will ich auf ein weiteres, ebenfalls nicht erst seit „Köln“ geläufiges, infolge der „Silvesternacht“ aber stärker hervorgetretenes Argumentationsmuster eingehen. Dieses leugnet zwar nicht rundheraus, dass es nach wie vor auch in Deutschland hierarchische Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse gibt, knüpft aber an den Erfolgen der westlichen neuen Frauenbewegungen und an der tatsächlich bereits erreichten Emanzipation von Frauen an. Davon ausgehend wird „das Selbstbild einer geschlechtergerechten und sexuell emanzipierten Gesellschaft gezeichnet […]. Ein Selbstbild, das dazu dient, in Stellung gebracht zu werden gegenüber einem kulturalisierten […] Gegenbild frauenverachtender und patriarchal erzogener Fremder“, so Astrid Messerschmidt.13 Und Silvia Staub-Bernasconi kritisiert das „westliche Selbstbild“, weil es „das Risiko des Scheiterns von Emanzipation und Befreiung negiert […] (und) den Musliminnen in kulturalistischer Verengung das Potential der Transformation und eigenständigen Wahl von möglichen Befreiungsalternativen […] abgesprochen wird“.14

11 12 13 14

Brückner, Transformationen, 63; Bezug: Nancy Fraser. Vgl. Bundesministerium für Familien, Gewalt gegen Frauen. Messerschmidt, Nach Köln, 8 f. Staub-Bernasconi, Das Werk von Birgit Rommelspacher, 18.

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

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Ähnlich konstruiert ist eine weitere Argumentationsfigur, in der dem Islam ganz pauschal Homophobie zugeschrieben wird. So konstatiert Zülfukar Cetin, dass sich „parallel zum weiß-feministischen Emanzipationsdiskurs, der einen universalistischen Repräsentationsanspruch, nämlich alle Frauen zu vertreten, geltend macht, […] im Westen spätestens seit den 2000er Jahren ein antimuslimischer HomophobieDiskurs (entwickelt habe)“.15 In diesem Diskurs wird die zunehmende Akzeptanz von Schwulen und Lesben in westlichen Staaten als „Ausdruck einer ‚Zivilisationsüberlegenheit‘ speziell gegenüber muslimischen Gesellschaften“ gedeutet.16 Diese „beliebte“ Gegenüberstellung von „westlicher Freiheit“ und „islamischer Unterdrückung“ erweist sich aber bei näherer Betrachtung als empirisch nicht einlösbar. Denn zum einen gibt es im Zeitalter von Globalisierung und weltweiten Migrationsbewegungen keine homogenen „westlichen“ oder „islamischen“ Gesellschaften mehr, und zum anderen sind auch die jeweiligen Communities in den verschiedenen Gesellschaften alles andere als homogen. Während beispielsweise in einzelnen bundesdeutschen evangelischen Landeskirchen schwule oder lesbische Paare kirchlich gesegnet werden, gilt Homosexualität in vielen eher pietistisch ausgerichteten evangelischen Glaubensgemeinschaften als Sünde. 2.6

Struktur statt Kultur

Während die bislang rekonstruierten Deutungsmuster die möglichen Zusammenhänge von Geschlecht(ern) und Kultur(en) fokussieren, setzen andere Analysen darauf, eben diesen Zusammenhang als „kulturalistisch“ zu kritisieren. Sie setzen der kulturorientierten Analyse einen Diskurs entgegen, der sich an gesellschaftlichen Strukturen und sozialer Ungleichheit als die entscheidenden Gewalt begünstigenden Faktoren orientiert. Astrid Messerschmidt beispielsweise deutet die Kölner Silvesternacht als „Einbruch des Realen“ in eine vermeintlich heile Welt und konkretisiert: Es gehe um das „Reale der normalisierten sexualisierten Gewalt gegen Frauen und Mädchen, das Reale der zum Milieu gewordenen Kleinkriminalität und der organisierten Drogenkriminalität“. Bei genauem Hinsehen müssten „die Kontexte der Männer, die hier zu Tätern geworden sind, angeschaut werden […]: illegalisierte Einwanderung, soziale Marginalisierung bereits im Herkunftsland, Lebensbedingungen auf der Straße, Kriminalität als Einkommensperspektive“. Zugleich verweist sie auf 15 16

Cetin, Schwulenkiez, 35 f. Cetin, Schwulenkiez, 36; Bezug: Dietz u.a.

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H. Mogge-Grotjahn

„Männlichkeitsphantasien, die vermeintlich Selbstwert vermitteln (und) Dynamiken in Männerbünden“17, durch die ebenfalls Dominanzgebaren und Gewaltbereitschaft begünstigt werden. 3

Zwischenbilanz

Es ist nicht nur politisch, sondern auch theoretisch / analytisch richtig und wichtig, Kulturalisierungen entgegenzuwirken und auf die strukturellen Verursachungen von Gewalt hinzuweisen. Zugleich aber ist es offenkundig, dass die pure Dekonstruktion kulturell-religiöser Dimensionen zum Verständnis der aktuellen Gemengelagen nicht ausreicht. Denn zum einen wird nicht jeder marginalisierte Mann gewalttätig und nicht alle Menschen, die von materieller und politischer Teilhabe weitgehend ausgeschlossen sind, begeben sich in Gegnerschaft zu den jeweils als „Andere“ betrachteten Personen und Gruppen. Und zum anderen bleibt das Phänomen massenhafter sexualisierter Gewalt gegen Frauen in etlichen nicht westlich geprägten Gesellschaften. Und das ist das „Andererseits“ von Vorhin. Denn auch wenn die Konstruktion des Gegensatzes von “westlicher Emanzipation” und “islamischem Patriarchalismus” zu Recht als kulturalistisch kritisiert wird, so lassen sich unterschiedliche „Qualitäten“ hegemonialer Männlichkeiten nicht einfach weg-konstruieren. In der Kölner Silvesternacht – und bei ähnlichen Vorfällen in anderen Städten – wurde und wird den Frauen der öffentliche Raum streitig gemacht. Und dies nicht „nur“ in deutschen oder anderen (west) europäischen Städten, in denen illegal eingewanderte oder geflüchtete Männer aus unterschiedlichen Herkunftsländern gestrandet sind, sondern auch in eben diesen Herkunftsländern. So kam es in Kairo während des sog. Arabischen Frühlings vermehrt zu männlicher Gewalt gegen Frauen – die Schilderungen betroffener Frauen vom Tahrir-Platz ähneln denen der Frauen aus Köln: „Sie bildeten einen engen Kreis, fingen an, sie zu betatschen, mit ihren Händen über ihren Körper zu fahren. Berührten jeden Zentimeter, schändeten jeden Fleck“.18 Aber es geht nicht nur um islamisch geprägte Gesellschaften. Auch aus dem multireligiösen Indien oder aus dem teils orthodox-christlich und teils atheistisch geprägten Russland wird immer wieder von brutalen Vergewaltigungen und anderen Gewalttaten gegen Mädchen und Frauen berichtet.19 17 18 19

Messerschmidt, Nach Köln, 7. Jakat, Gewalt im Schutz jubelnder Massen. Vgl. Putz, Vergewaltigungen in Indien; o.A., Horror hinter der Familienfassade.

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

4

163

Kontexte der Diskurse

Wenn also weder kulturalistische noch strukturalistische noch individualisierende Deutungen und Analysen ausreichen, um die aktuellen Geschlechterverhältnisse zu verstehen, müssen wir uns den Kontexten zuwenden, in denen Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit aktualisiert und wirksam werden. Ich kann hier nicht auf den gesamten gender-theoretischen Diskurs eingehen, der hinter dieser Formulierung steckt. Einige kurze Hinweise müssen genügen. Ich schließe mich Rita Casale20, Raewyn Connell21 und Paula-Irene Villa22 an, die aus der gewohnten Gegenüberstellung der Essentialisierung von Geschlecht auf der einen und seiner diskursiven Dekonstruktion auf der anderen Seite ausbrechen und sozusagen die „Hand aufs dekonstruierte Herz“ legen.23 Die genannten Autorinnen betonen die Bedeutung der körperlichen bzw. leiblichen Existenz des Menschen und die damit verbundenen sinnlich-emotionalen Erfahrungsdimensionen. Der Körper bildet eine Art „Scharnier zwischen Struktur und Subjekt“, und der Prozess des „Embodiment“ von Geschlecht wird als Teil eines ständigen, an Kontexte gebundenen Prozesses der Identitätsbildung verstanden. In dieser Analyse stecken einige Anknüpfungspunkte an die klassische Frage der Kritischen Theorie nach dem Verhältnis von Subjekt, Geschichte und Gesellschaft als drei interdependenten Kategorien24 sowie an Bourdieus Verständnis des sozialen (und geschlechtlichen) Habitus als Ausdruck einer Position im Gefüge gesellschaftlicher Ungleichheit.25 Vor diesem hier nur skizzierten theoretischen Hintergrund kehre ich nun nochmals zurück zur Kölner Silvesternacht als Ausgangspunkt aktueller Diskurse. Ich gebe drei Beispiele für mögliche Kontextualisierungen. 4.1 Als erstes beziehe ich mich auf eine Rede von Paul Mecheril. Wir sind, so Mecheril, „gegenwärtig einmal mehr Zeitzeuginnen der gewaltvollen Selbstsakralisierung Europas […]. Europa befindet sich aus mehreren Gründen in einer grundlegenden Krise und inszeniert 20

Casale, Epistemologisierung. Connell, Gender. 22 Villa, Sexy Bodies. 23 Diese schöne Formulierung stammt leider nicht von mir, sondern ist der Titel eines von Claudia Koppert und Beate Selders herausgegebenen Buches. 24 Vgl. Casale, Epistemologisierung, 151. 25 Vgl. Bourdieu, Reflexive Anthropologie. 21

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sich unter Ausblendung – oder sagen wir lieber im Spiegel – der 30.000 Toten im Mittelmeer, die dort ihr Leben als direkte Folge der europäischen Grenzpolitik verloren haben, als Ort des auserwählten Guten, der Werte, als Hort der Geschlechteregalität […], (und) der Menschenrechte […] als Raum der Gerechtigkeit. Für diese Inszenierung brauchen wir die Anderen, ihre Hässlichkeit, ihre Gefährlichkeit, ihre Unzivilisiertheit“.26 Natürlich würde auch Mecheril nicht leugnen, dass es viele Menschen gibt, die sich vom Elend der Flüchtlinge tief berühren lassen und sich leidenschaftlich für deren Menschenwürde und Menschenrechte engagieren. Aber er weist völlig zu Recht darauf hin, dass die aktuelle europäische Politik nicht nur auf eine äußere Abschottung, sondern infolge dieser Abschottung auch auf eine emotionale Abspaltung und auf eine kulturelle Selbstvergewisserung im Interesse des ökonomischen und politischen Status quo setzt. 4.2 Im Zusammenhang mit den Kölner Ereignissen positionieren sich auch Feminist_innen. Sie versuchen, in Anbetracht sowohl der von Mecheril benannten politischen Situation als auch der realen Bedrohungs- und Gewalterfahrungen von Frauen auf dem Kölner Domplatz den vereinfachenden und diskriminierenden medialen Inszenierungen, dem Alltags- wie dem Wissenschafts-Rassismus differenzierende Positionen entgegenzusetzen, politische Forderungen zu formulieren und Handlungsstrategien für die soziale und pädagogische Arbeit und die sozialen Bewegungen im Lande zu formulieren. Als zweites Beispiel zitiere ich deshalb die Verfasserinnen des Aufrufs „Ausnahmslos“: „Als Feminist_innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen setzen wir uns seit vielen Jahren für Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und für eine offene und faire Gesellschaft ein, engagieren uns gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt. Dabei haben wir gelernt, wie wichtig es ist, auch gegen Rassismus und andere Formen von Diskriminierung zu stehen. Der konsequente Einsatz gegen sexualisierte Gewalt jeder Art ist unabdingbar und von höchster Priorität. Es ist für alle schädlich, wenn feministische Anliegen von Populist_innen instrumentalisiert werden, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen, wie das aktuell in der Debatte um die Silvesternacht getan wird. Sexualisierte Gewalt darf nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die vermeintlich ,Anderen‘ sind: die muslimischen, arabischen, Schwarzen oder nordafrikanischen Männer – kurzum, all jene, die rechte 26

Mecheril, Flucht, Sex und Diskurse, 5f.

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

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Populist_innen als ,nicht deutsch‘ verstehen […]. Der Einsatz gegen sexualisierte Gewalt muss jeden Tag ausnahmslos politische Priorität haben, denn sie ist ein fortwährendes Problem, das uns alle betrifft“.27

4.3 Und auch kritische Männerbewegungs-Aktivisten haben sich zu Wort gemeldet. Als drittes Beispiel zitiere ich die Stellungnahme der Initiative „Nicht mit mir. Männer gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus“: „Wir möchten den Frauen, die in der Silvesternacht in Köln und anderswo zu Opfern sexualisierter Gewalt gemacht wurden, unser Mitgefühl und unsere Solidarität aussprechen. Diese Vorfälle haben uns tief erschreckt und wütend gemacht. Sexualisierte Gewalt – gegen Menschen egal welchen Geschlechts – ist ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung. Sexualisierte Gewalt darf nirgendwo auf der Welt Platz haben. Wir fordern bestmögliche Unterstützung für alle von (sexualisierter) Gewalt Betroffenen. Wir unterstützen die Forderungen von frauenpolitischen Organisationen, dass gesetzliche Schutzlücken (Nötigung, Vergewaltigung, Beleidigung) schnellstens beseitigt werden. Der Grundgedanke der Istanbul-Konvention ‚Nein heißt Nein‘ muss auch in deutsches Recht umgesetzt werden. Er muss ausnahmslos für alle Menschen, an jedem Ort und unter allen Bedingungen gelten. Wir wenden uns dagegen, dass die ‚Silvestervorfälle‘ für rassistische Zuschreibungen und rechtspopulistische Hetze genutzt sowie für die Verschärfung von Flüchtlings- und Asylregelungen in Deutschland instrumentalisiert werden. Dadurch wird das Stereotyp des orientalischen, männlichen Triebtäters bedient und sexualisierte Gewalt zu einem Problem ‚der anderen‘ gemacht, der ,Nordafrikaner‘, der ,Marokkaner‘. Ebenso wenden wir uns gegen die stereotype Zuschreibung, alle Männer seien – ob potenziell oder faktisch – Sexualstraftäter“.28

In seiner eben schon erwähnten Rede geht Paul Mecheril auf statistische Daten und auf den aktuellen Fall eines jungen Deutschen aus Brandenburg ein, der zwei Jungen (darunter einen Jungen aus einer Flüchtlingsunterkunft) entführt, sexuell missbraucht und ermordet hat, und zieht daraus den Schluss, dass wir „Untersuchungen (benötigen) […], die verdeutlichen, in welchen Kontexten (etwa einem spezifisch migrantischen, etwa einem christlich zölibatären oder einem brandenburgischen Milieu, wobei sich migrantisch, christlich-zölibatär und brandenburgisch nicht ausschließen müssen), in welchen Kontexten Männer wann und wie auf die Handlungsoption männlicher Gewalt zurückgreifen. Und wir benötigen eine Pädagogik, die 27 28

#Ausnahmslos, Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Nicht mit mir, Männer gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus.

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es möglich macht, dass die Identitäts- und Beziehungsform, die die australische Soziologin Raewyn Connell hegemoniale Männlichkeit nennt, Männlichkeit mit Herrschaftsanspruch sozusagen, weniger attraktiv ist“.29 5

Drei vorsichtige Schlussfolgerungen

Zum Abschluss formuliere ich nun drei vorläufige Schlussfolgerungen – im Sinne von: „Bis hierher bin ich gekommen, und da könnte oder müsste es weitergehen“. Dabei gehe ich davon aus, dass die Kölner Ereignisse zwar eine bis dahin nicht gekannte Dramatik aufwiesen, aber nichts gänzlich Neues waren, sondern Verhältnisse und Problematiken spektakulär sichtbar gemacht haben, die schon länger existierten. Diese Verhältnisse und Problematiken sind geeignet, uns auf dreierlei Weise zu irritieren oder sogar zu verstören: Sie verunsichern persönlich; sie sind politisch nicht „korrekt“ zu beantworten; und sie stellen scheinbar geklärte wissenschaftliche Positionen infrage. 5.1 Meine erste Schussfolgerung lautet, dass wir die vertraute alte Kontroverse um „Strukturalismus oder Kulturalismus“ beiseite legen sollten. Hinter dieser Kontroverse verbirgt sich der Versuch, empirisch beobachtbare Unterschiedlichkeiten und Konflikte zwischen Menschen verschiedener Herkunft entweder auf die jeweilige Position im sozialen, politischen und ökonomischen Ungleichheitsgefüge oder aber durch die jeweiligen kulturell geprägten Identitäten zurückzuführen.30 Jede auch nur halbwegs redliche Analyse (nicht nur) der Kölner Silvester-Ereignisse zeigt aber, dass sich die Konflikte und Widersprüchlichkeiten unserer Gegenwart nicht in die eine oder andere Richtung auflösen lassen. 5.2 Die zweite Schlussfolgerung lautet, dass wir nicht nur die Kategorien Geschlecht, Kultur, Religion, Ethnizität und Identität neu durchdenken und miteinander in Beziehung setzen müssen, sondern dass sich stärker als bisher unsere Aufmerksamkeit auf die Kontexte richten sollte, in denen die verschiedenen Dimensionen von Identitäten aktualisiert und bedeutsam werden. Zu diesen Kontexten gehören re29 30

Mecheril, Flucht, Sex und Diskurse, 5. Vgl. Freise, Interkulturelle Soziale Arbeit, 22ff.

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

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ale und virtuelle Interaktionen, Lebenslagen und Lebenswelten wie auch situationsspezifische Aspekte. Diese Kontexte, in denen Menschen agieren und interagieren, sind eingebettet in politische und ökonomische Strukturen und gesellschaftspolitische Rahmungen. Deshalb ist auch die Analyse der sich verschränkenden Diskriminierungsmechanismen unabdingbar. Theoretisch zurückgreifen können wir hier vor allem auf das Konzept der Intersektionalität31 sowie das eben schon erwähnte Bourdieu’sche Habitus-Konzept. Und wir müssen uns darauf einlassen, dass es nicht die EINE Theorie gibt, die all diese komplexen Verschränkungen widerspruchsfrei erklären und auflösen kann. – Zum „Trost“ oder besser: Als Ermutigung möchte ich hierzu die US-amerikanische Philosophin Sandra Harding zitieren, die schon 1990 formuliert hat: „Kohärente Theorien in einer offensichtlich inkohärenten Welt sind entweder nichts sagend und uninteressant oder repressiv und problematisch, je nach dem Ausmaß der Hegemonie, das sie zu erringen vermögen […] denn die Welt ist immer vielschichtiger als das Fassungsvermögen solcher unglücklicherweise hegemonialen Theorien“.32 5.3 Die dritte Schlussfolgerung knüpft teilweise hieran an und bezieht sich ebenfalls darauf, Diskurse aufeinander zu beziehen, die üblicherweise getrennt voneinander geführt werden. Spätestens seit der sog. europäischen und der sog. Flüchtlings-Krise ist es unmittelbar evident, dass Analysen von Herrschafts- und Dominanz-Verhältnissen innerhalb unserer Gesellschaft ohne Berücksichtigung globaler Verflechtungen unvollständig bleiben. Zugleich aber müssen auch die Subjektperspektive und das Verständnis von Subjekt und Identität in die Analyse einbezogen werden. Dies schließt auch leibliche und emotionale Dimensionen mit ein. Gerade die emotionalen Dimensionen scheinen mir sowohl in den Gender- als auch in den politischen Diskursen häufig „unterbelichtet“ zu sein, was schon deshalb verwunderlich ist, weil sie in den realen Geschehnissen unübersehbar eine große Rolle spielen. Während die Gefühle von Angst, Ohnmacht und Wut auf Seiten der Opfer der Kölner Silvesternacht zumindest medial thematisiert werden, gibt es in Hinblick auf die Gefühle der Täter allenfalls Spekulationen. Geht es um die Auftritte von Pegida, AfD oder anderen Vertreter_innen der Dominanzkultur, werden diese zu Recht bezichtigt, Ängste und 31 32

Vgl. Mogge-Grotjahn, Intersektionalität. Harding, Feministische Wissenschaftstheorie, 177.

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Abwehr bis hin zu Hassgefühlen zu schüren – aber die emotionalen Qualitäten, die zur Identifikation mit einer den Menschenrechten verpflichteten Selbstpositionierung gehören, werden kaum thematisiert (oder als „Gutmenschentum“ disqualifiziert). So plädiere ich abschließend dafür, der Bedeutung von Emotionen nicht nur für das politische Handeln, sondern auch für die damit verbundenen kognitiven und bewertenden Prozesse vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken. Die Gender-, Kultur- und Religionsdiskurse sowie politisch-ökonomische Analysen könnten und sollten mit einer „Theorie der politischen Emotionen“ im Sinne Martha Nussbaums verbunden werden.33 Literatur #Ausnahmslos, Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall, online: http://ausnahmslos.org/# (Zugriff 27.5.2016). Attia, Iman / Köbsell, Swantje / Prasad, Nivedita (Hg.), Dominanzkultur Reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015. Bourdieu, Pierre, Die Praxis der reflexiven Anthropologie, in: ders. / Loic J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, 251–294. Brückner, Margrit, Transformationen im Umgang mit Gewalt im Geschlechterverhältnis: Prozesse der Öffnung und Schließung, in: Barbara Rendtorff / Birgit Riegraf / Claudia Mahs (Hg.), 40 Jahre Feministische Debatten. Resümee und Ausblick, Weinheim / Basel 2014, 59–73. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen, Berlin 2014. Casale, Rita, Epistemologisierung und Kulturalisierung feministischer Theorien, in: Barbara Rendtorff / Birgit Riegraf / Claudia Mahs (Hg.), 40 Jahre Feministische Debatten. Resümee und Ausblick, Weinheim / Basel 2014,150–162. Cetin, Zülfukar, Der Schwulenkiez. Homonationalismus und Dominanzgesellschaft, in: Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, 35–46. Connell, Robert, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 2. Aufl., Opladen 2000. Connell, Raewyn, Gender, Wiesbaden 2013 (engl. Original 2009). 33

Vgl. Nussbaum, Politische Emotionen.

Macht, Geschlecht und Dominanzkultur(en)

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Freise, Josef, Interkulturelle Soziale Arbeit. Theoretische Grundlagen – Handlungsansätze – Übungen zum Erwerb interkultureller Kompetenz, Schwalbach / Ts. 2005. Hagemann-White, Carol, Gewalt gegen Frauen als Schlüsselthema der neuen Frauenbewegung. Wirkungen und Wandel einer machttheoretischen Patriarchatskritik im Zeitalter der Veränderung staatlichen Regierens, in: Barbara Rendtorff / Birgit Riegraf / Claudia Mahs (Hg.), 40 Jahre Feministische Debatten. Resümee und Ausblick, Weinheim / Basel 2014, 46–58. Harding, Sandra, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg 1990 (amerikanisches Original: 1986). Jakat, Lena, Gewalt im Schutz jubelnder Massen. Sexuelle Übergriffe am Tahir-Platz, Süddeutsche Zeitung vom 04.7.2013, online: www.sueddeutsche.de/panorama/sexuelle-uebergriffe-am-tahirplatz-im-schutz.de (Zugriff 25.8.2016). Kelek, Necla, Islam und Geschlechter-Apartheid, in: Alice Schwarzer (Hg.), Der Schock – die Silvesternacht von Köln, Köln 2016, 65– 76. Köbsell, Swantje, Ableism. Neue Qualität oder ,alter Wein‘ in neuen Schläuchen?, in: Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, 21–34. Kopert, Claudia / Selders, Beate (Hg.), Hand aufs dekonstruierte Herz. Verständigungsversuche in Zeiten der politisch-theoretischen Selbstabschaffung von Frauen, Königstein 2013. Lenz, Ilse, Geschlechter in Bewegung?, in: Barbara Rendtorff / Birgit Riegraf / Claudia Mahs (Hg.), 40 Jahre Feministische Debatten. Resümee und Ausblick, Weinheim / Basel 2014, 12–30. Mecheril, Paul, Flucht, Sex und Diskurse. Gastrede im Rahmen des Neujahrsempfangs der Stadt Bremen, Überblick. Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen 21 (2016 / Heft 1), 3–7. Messerschmidt, Astrid, Nach Köln – sprechen über Sexismus und Rassismus, Überblick. Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen 21 (2016 / Heft 1), 7–10. Mogge-Grotjahn, Hildegard, Körper, Sexualität und Gender, in: Ernst-Ulrich Huster / Michael Wendler (Hg.), Der Körper als Ressource in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2015, 141–154. Mogge-Grotjahn, Hildegard, Intersektionalität: Neun Thesen sowie Schlussfolgerungen und einige praktische Hinweise, in: Theresia Degener u.a. (Hg.), Menschenrecht Inklusion. 10 Jahre UN-

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Behindertenrechtskonvention – Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern, Neukirchen-Vluyn 2016, 140–155. Nicht mit mir. Männer gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus 2016: Kampagnentext, online: www.nichtmitmir.eu (Zugriff 27.5.2016). Nussbaum, Martha, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, Berlin 2014. o.A., Horror hinter der Familienfassade. Häusliche Gewalt in Russland, taz vom 21.3.2013, online: www.taz.de, (Zugriff 8.6.2016). Rendtorff, Barbara / Riegraf, Birgit / Mahs, Claudia (Hg.), 40 Jahre Feministische Debatten. Resümee und Ausblick, Weinheim / Basel 2014. Rommelspacher, Birgit, Was ist eigentlich Rassismus?, in: Claus Melter / Paul Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach / Ts. 2009, 25–38. Schwarzer, Alice, Der Schock – die Silvesternacht von Köln, Köln 2016. Shooman, Yasemin, Einblick gewähren in die Welt der Muslime. ,Authentische Stimmen‘ und ,Kronzeugenschaft‘ in antimuslimischen Diskursen, in: Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, 47–58. Putz, Ulrike, Vergewaltigungen in Indien: „Am schlimmsten ist die Ächtung“, Spiegel online vom 19.1.2016, online: http://www. spiegel.de/panorama/gesellschaft/vergewaltigungen-in-indien-amschlimmsten-ist-die-aechtung-a-1071405.html (Zugriff 8.6.2016). Staub-Bernasconi, Silvia, Das Werk von Birgit Rommelspacher, in: Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, 11–18. Tibi, Bassam, Syrien und Deutschland, in: Alice Schwarzer (Hg.), Der Schock – die Silvesternacht von Köln, Köln 2016, 91–98. Villa, Paula-Irene, Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, 2. Aufl., Opladen 2001.

Michael Roth

Die Kirchen, die Moral und das Flüchtlingsproblem

1

Vorbemerkung

Auch wenn Christinnen und Christen im Blick auf Gottes bedingungslose Zusage vertrauen dürfen und davon befreit sind, sich selbst ein Urteil zu sprechen und die eigene Gerechtigkeit aufzurichten, übersehen sie in der Regel nicht, dass sie nicht im Licht der Herrlichkeit leben. Der Glaubende ist „gerecht und Sünder zugleich“ (simul iustus et peccator). Wenn über den Glaubenden gesagt wird, dass er immer auch Sünder ist, heißt dies nichts anderes, als dass er immer zugleich auch Nicht-Glaubender ist, jemand, der Gottes Zusage nicht vertraut und in allem nur auf sich selbst gerichtet ist und sich zu sichern sucht, kurz: der alles und jedes instrumentalisiert, um die eigene Gerechtigkeit aufzurichten. Das trifft natürlich auch auf die Flüchtlingsproblematik zu. Wie alles ist auch sie eine Versuchung, sie zur Aufrichtung der eigenen Gerechtigkeit zu instrumentalisieren. Dieser Mechanismen gilt es ansichtig zu werden – allein schon deshalb, um nicht auf sich selbst hereinzufallen und auf eine ganz und gar ungute Weise gut zu sein. 2

Trivialisierung, Infantilisierung und Moralisierung

Die Großkirchen sind schon seit geraumer Zeit zutiefst verunsichert; denn es ist nicht zu übersehen, dass die Rolle der Kirche in der Situation der fortschreitenden Entchristlichung der Gesellschaft im Begriff ist, sich zu ändern. Dies bedeutet natürlich auch, dass sie auf viele Privilegien, die zugestandenermaßen auch mit äußeren Annehmlichkeiten besonders der Amtsträger verbunden waren, immer weniger zurückgreifen können. Die gegenwärtige Gefahr besteht m. E. darin, dass die Kirchen die aus diesem Verlust erwachsenden Chancen, nach der eigentlichen Aufgabe der Kirche zu fragen, verpassen in der

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M. Roth

Sehnsucht, möglichst viele alte Zustände zu bewahren und die einstige Machtstellung wenigstens rudimentär zu sichern. Ins Zentrum tritt dann das Interesse an der Bewahrung der Institution, die zum Selbstzweck zu werden droht. Die entscheidende Frage ist dann nur, wie die Organisation stabilisiert werden kann. Der Münchner Theologe Friedrich-Wilhelm Graf spricht in seinem Buch „Kirchendämmerung“ aus dem Jahr 2011 gar von „verfilzte[n] Organisationen mit viel Pfründenwirtschaft zur Alimentierung von Funktionären“. Auf die Herausforderungen der Zeit werde von der Kirchenleitung primär „sozialtechnologisch, mit der Rezeption von Betriebswirtschaft und sozialen Management-Techniken reagiert“1. In diese Richtung weisen auch die Überlegungen des Bonner Praktischen Theologen Reinhard Schmidt-Rost in seinem im Jahr 2011 erschienenen Buch „Massenmedium Evangelium“: „Die theologisch gebildeten Mitarbeiter“ – so Schmidt-Rost – „werden nicht primär nach ihrer Kompetenz eingeschätzt, das Programm, die spezifische Vorstellungswelt des christlichen Glaubens, an ihrem gesellschaftlichen Ort zur Darstellung zu bringen; vielmehr werden von ihnen Fähigkeiten erwartet, die die Organisation zu ihrer Stabilisierung zu brauchen scheint.“2 Diese Tendenz führt dazu, dass die Kirche sich immer mehr aushöhlt, ihre Substanz einbüßt oder – im schlimmsten Fall – offenbart, um was es ihr eigentlich häufig (nur) gegangen ist: Macht und Machterhalt. Der Heidelberger Theologe Michael Welker spricht von einem schleichenden Auflösungsprozess, in dem sich die klassischen Großkirchen befinden. „Auch wenn die meisten Menschen die Kirche nicht verlassen wollen, entfremden sie sich doch immer mehr von den Inhalten und Formen des Glaubens. Das Glaubenswissen, die Glaubensbildung, die Vertrautheit mit den Inhalten des Glaubens nimmt immer mehr ab.“3 Welker sieht die Ursachen für diesen Auflösungsprozess in den Umbrüchen im „Rollenbild und Rollenverständnis des Pfarrers und der Pfarrerin“, dem „Ausfall der theologischen Bildung vom Religionsunterricht bis zu kirchlichen Akademien“, dem „Moralisieren“ und der „Entleerung der Religion“. „Da aber die Menschen“ – so Welker – „mit einem leeren Glauben auf Dauer nicht leben können und wollen, saugt diese Frömmigkeit schließlich alle möglichen Inhalte an“. Diese „Selbst-Säkularisierung“ führe letztlich zu einer „Selbst-Banalisierung“4:

1 2 3 4

Graf, Kirchendämmerung, 22f. Schmidt-Rost, Massenmedium Evangelium, 12. Welker, Selbst-Säkularisierung, 17. Welker, Selbst-Säkularisierung, 18.

Die Kirchen, die Moral und das Flüchtlingsproblem

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„In den klassischen Großkirchen der westlichen Industrienationen und Informationsgesellschaften leiden wir heute sehr an dieser diffusen, verquasten und verkitschten Religion, die die gebildeten Menschen aus der Kirche geradezu heraustreibt und auch den weniger Gebildeten das Gefühl gibt, irgendwo und irgendwie um das Wichtige und Entscheidende betrogen zu werden.“5

In eine ganz ähnliche Richtung weist auch die Diagnose von Friedrich-Wilhelm Graf, der in seinem bereits erwähnten Buch „Kirchendämmerung“ die Vertrauenskrise der Kirche beschreibt: „Die biblischen Überlieferungen und die Symbolwelten des christlichen Glaubens sind in sich äußerst spannungsreich. Gerade in dieser inneren Komplexität und Deutungsoffenheit liegt ihre Faszinationskraft begründet. Denn nur so ermöglichen sie es, den elementaren Ambivalenzen endlichen Lebens gerecht zu werden, der paradoxen Gleichzeitigkeit von Sünde und Gelingen, Kreativität und Scheitern, Angst und Hoffnung. In der Verkündigung der Kirchen ist davon oft nur wenig zu spüren. Ein wild wabernder Psychojargon, der Kult von Betroffenheit und Authentizität hat wohl nirgends sonst so großen Schaden angerichtet wie in den Kirchen. Hier sind argumentativer Streit, intellektuelle Redlichkeit und theologischer Ernst weithin durch Gefühlsgeschwätz, antibürgerliche Distanzlosigkeit und moralisierenden Dauerappell abgelöst worden. Wem nichts mehr einfällt, dem bleibt das Moralisieren, und darin sind die Kircheneliten besonders stark. Man denkt über schwierige, unübersichtliche Verhältnisse nicht nach, sondern setzt ‚ein Zeichen‘, in der Attitüde prophetischer Besserwisserei. Gern wird semantisch hochgerüstet, und unter dem ‚Weltfrieden‘ oder der ‚Bewahrung der Schöpfung‘ tut man es nicht.“6 Wie Welker so macht auch Graf auf die „Tendenzen der Trivialisierung und Infantilisierung“7 aufmerksam. „Der zeitgeistaffine Gegenwartsgott ist immer nur reine Liebe, Güte, Gnade und Herzenswärme, ein trostreicher Heizkissengott für jede kalte Lebenslage von Mann wie Frau, Jungen und Alten, Gott entbehrt hier den Stachel der Negativität, kann also keine Irritationskraft mehr entfalten. […] Viel Distanzlosigkeit und Gefühlsduselei lassen sich in protestantischen Kanzelreden inzwischen beobachten. Emotionen, subjektive Befindlichkeiten, das Sich-Wohlfühlen rücken in ihr Zentrum. Das erste Gebot dieses neuen Kults von Einfühlsamkeit und Herzenswärme lautet: Fühle dich endlich wohl!“8

5 6 7 8

Welker, Selbst-Säkularisierung, 19. Graf, Kirchendämmerung, 21. Graf, Kirchendämmerung, 37. Graf, Kirchendämmerung, 38.

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M. Roth

Sowohl Welker als auch Graf machen darauf aufmerksam, dass Trivialisierung, Selbst-Banalisierung, Infantilisierung und vor allem das Moralisieren Folge der Verunsicherung der Kirche sind. Die Kirche – so deuten die Überlegungen von Welker, vor allem aber von Graf an – scheint vornehmlich mit der Frage beschäftigt, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse sie befriedigen kann, um die Organisation zu stabilisieren und weiterhin ihre Funktionäre zu alimentieren. Ihre Antwort auf diese Frage ist Trivialisierung der Verkündigung und die Moralisierung. Gerade der letzte Punkt ist für unseren Zusammenhang interessant: die Moral als kirchlicher Exportschlager. Ist dies ein erfolgversprechender Weg? 3

Moralische Kommunikation als Gefahr

Ethik ist ganz groß angesagt: Es wäre daher auch ein Zerrbild, wenn man annähme, in unserer heutigen Zeit gehöre der Moralexperte zu den verachteten Gruppen der Gesellschaft, der der gesellschaftlichen Verachtung zum Trotz tapfer sein Werk verrichtet. Das Gegenteil ist der Fall: Er ist gern gesehener Redner auf Tagungen und Kongressen, Schmuck von so manchem Gesprächsforum und mancher Diskussionsrunde; die Meinung des Moralexperten ist allseits gefragt. David Mc Naughton bringt es auf den Punkt: „Die Nachfrage nach Moralexperten steigt. Sie werden gebeten, in Regierungskommissionen zu sitzen und in Ethikausschüssen von Krankenhäusern und Ähnlichem. Man hat außerdem das Gefühl, dass jeder Berufstätige sein eigener Amateur-Moraltheoretiker werden sollte; keine Weiterbildungsmaßnahme in einem beliebten Berufsfeld ist ohne einen Kursus in praktischer Ethik und Moraltheorie vollständig.“9 Gehen wir einen Schritt zurück, von der Ethik zur moralischen Kommunikation: Um was geht es eigentlich in der moralischen Kommunikation? Georg Edward Moore betont, dass wir in einer moralischen Aussage eine Zustimmung zu einer Handlung ausdrücken.10 Wer etwas als „moralisch richtig“ prädiziert oder als „moralisch fragwürdig“ tadelt (dabei muss der Begriff „Moral“ bzw. „moralisch“ gar nicht bemüht werden), stimmt damit einer Handlung zu; moralische Urteile sind – wie Alfred Jules Ayer herausgearbeitet hat – Ausdruck der Billigung oder Missbilligung.11 Nun muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden, inwiefern es sich bei moralischen Urteilen um Tat9 10 11

McNaughton, Moralisches Sehen, 238. Vgl. Moore, Principia ethica, 4ff. Vgl. Ayer, Language, Truth and Logic.

Die Kirchen, die Moral und das Flüchtlingsproblem

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sachenaussagen handelt, die wahr oder falsch sein können, oder – wie Ayer behauptet – um reine Gefühlsausdrücke, die ausschließlich aufrichtig oder unaufrichtig sein können. Entscheidend ist, dass wir im moralischen Urteil Positionen formulieren, die beinhalten, was moralisch richtig und was moralisch fragwürdig zu heißen verdient. Diese Positionen der moralischen Kommunikation sind nicht deckungsgleich mit dem moralischen Handeln. Vielmehr nehmen wir in der moralischen Kommunikation eine bestimmte Perspektive ein, mit der wir Handlungen betrachten und beurteilen.12 Ob dies eine Perspektive ist, die auch in unserer alltäglichen Wahrnehmung leitend ist und ob diese Beurteilungsperspektive gar eine solche ist, die unser tatsächliches Handeln bestimmt (mit anderen Worten: die nicht nur hypothetische Beurteilungsperspektive, sondern faktischer Handlungsgrund ist), kann an dieser Stelle zunächst offen bleiben. Offen bleiben kann auch die Frage, ob es überhaupt erstrebenswert wäre, wenn unser tatsächliches Handeln von einer moralischen Perspektive bestimmt wird. Festzuhalten bleibt auf jeden Fall, dass diese Beurteilungsperspektive nicht von vornherein als tatsächlicher Handlungsgrund derer verstanden werden darf, die sich dieser Perspektive in der moralischen Kommunikation bemächtigen. Nun geht es uns hier ausschließlich darum, die problematische Seite der Moral in den Blick zu bekommen, um die Gefahren zu erkennen, die sich durch eine allzu ungenierte Beteiligung an der moralischen Kommunikation ergeben. Dieser problematischen Tendenz werden wir ansichtig, wenn wir der Frage nachgehen, wie sich die Beliebtheit der moralischen Kommunikation erklärt. Ganz offensichtlich geschieht hier etwas durchaus Luststeigerndes. Worin liegt die Attraktivität in dem moralischen Urteilen? Im moralischen Urteil erweise ich mich als jemand, der eben moralisch zu urteilen versteht. In der moralischen Kommunikation wird so ein Setting etabliert, in dem Positionen formuliert werden, deren Bedeutung zunächst darin liegt, anerkannt und für richtig befunden zu werden, sodass man anderen, vor allem aber sich selbst, zeigen kann, dass man den genannten Positionen zustimmt. Gerade deshalb ist moralische Sprache so anziehend: Es ist ein Sprechen von einem höheren Standpunkt aus.13 In moralischen Urteilen machen wir uns zum Sprachrohr einer höheren Instanz, nämlich der moralischen Ordnung, und wir erweisen uns als jemand, der eben auf diesem höheren Standpunkt zu stehen vermag. Es kann nicht überraschen, dass dieses Setting auch den Raum bietet, von diesem höheren Standpunkt aus mit dem Finger auf andere zu zeigen 12 13

Vgl. Roth, Die moralische Signifikanz. Vgl. Bittner, Verwüstung durch Moral.

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(soweit dies im Kirchenraum geschieht, freilich mit sanftmütiger Nachsicht, die nicht wütend, sondern „betroffen“, „traurig“ und „erschüttert“ von der Unmoral der Mitbürger ist): beispielsweise auf Manager und Vorstandsvorsitzende wie Josef Ackermann, die so schauderhaft unmoralisch sind und jede gesellschaftliche Solidarität vermissen lassen. So kann die moralische Kommunikation in ein moralisches Entertainment umschlagen: Es wird eine wohlige Sphäre der moralischen Entrüstung etabliert. Dabei ist es für das Wohlbefinden und Selbstwertgefühl bei der moralischen Kommunikation durchaus förderlich, sich als dem Verfall entgegenstemmende Minderheit zu begreifen. Gerade weil wir „Moral haben“, urteilen wir eben so oder so und unterscheiden uns darin von der Gruppe der vielen Morallosen, die sich im Unterschied zu uns eben nicht durch die Moral bestimmen lassen: „… aber Woyzeck, er hat keine Moral! Moral das ist, wenn man moralisch ist, versteht er.“14 4

Kirche als Lieferantin von Moral?

Friedrich-Wilhelm Graf formuliert: „Das Selbstverständnis beider Großkirchen in der Bundesrepublik ist vom Anspruch geprägt, in besonderem Maße für die öffentliche Sitte und individuelle Moral zuständig zu sein. Beide Kirchen verstehen sich als die zentralen Institutionen für gesellschaftliche Wertbildung und Propagierung moralischer Normen“ bzw. als „Institutionen, die Moral predigen“.15 Nun muss nicht untersucht werden, ob es angemessen ist, dass sich die Kirche in der Öffentlichkeit vornehmlich als Predigerin des moralisch Gebotenen erweist. Allerdings scheint mir der Hinweis von Johannes Fischer durchaus bedenkenswert, dass das Programm der „Öffentlichen Theologie“, dem der jetzige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und sein Vorgänger Wolfgang Huber sich verpflichtet wissen, einer problematischen Ethisierung des Verständnisses davon, was Kirche ist und ausmacht, Vorschub leistet.16 Noch schärfer urteilt Friedrich-Wilhelm Graf in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Mai 2010 „Gutmenschenreligion für Sinnhungrige. Bischof Huber erklärt seinen Glauben“17 über die selbstbewusste Glaubenslehre von Wolfgang Huber: Hier werde der „Christenglauben als eine Gutmenschenreligion für Sinnhungrige [präsentiert], die Gott brauchen, um nachhaltig ihren Müll zu trennen und den gerechten Frieden 14 15 16 17

Büchner, Woyzeck, 190. Graf, Der deutsche Protestantismus und der zweite Weltkrieg, 217f. Vgl. Fischer, Gefahr der Unduldsamkeit. Graf, Gutmenschenreligion für Sinnhungrige.

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zu fördern. Diese Theologie kennt weder harte Arbeit am Begriff noch Selbstironie“. Im Folgenden geht es nicht um diese grundsätzliche Frage, sondern nur darum, nach den problematischen Konsequenzen zu fragen, wenn die moralische Kommunikation der eigenen Glorifizierung dient. In einem Artikel aus den „Zeitzeichen“ warnt Ulrich Körtner die Kirche und ihre Vertreter davor, in der Flüchtlingsfrage einer Gesinnung zu frönen, die die Verantwortung außer Acht zu lassen droht: „[G]esinnungsethisch argumentieren […] diejenigen, die keine Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen und sonstigen Migranten akzeptieren wollen. Das Motto ‚Kein Mensch ist illegal – Refugees Welcome!‘ ist eine gesinnungsethische Handlungsperspektive. Um mögliche Folgen für das Gemeinwesen – und damit womöglich auch für die Flüchtlinge selbst – macht sie sich keine ausreichenden Gedanken“18. Wie immer man zu dieser Diagnose Körtners steht, ob man der Auffassung ist, dass sie die Situation trifft oder nicht: Unbestreitbar scheint mir zu sein, dass das Interesse an der Bewahrung der eigenen Gesinnung dazu führen kann, dass die Situation der anderen aus dem Blick gerät. Statt die Not der anderen nüchtern wahrzunehmen, droht der Blick auf mich selbst (und meine moralische Qualität) fixiert zu sein, der andere wird zum bloßen Mittel für meine moralische Qualität. Dies ist kontraproduktiv. Ein weiteres Problem macht Körtner namhaft: „Verfechter dieser politischen Linie treten nicht selten mit einem hochmoralischen Anspruch auf, um nicht zu sagen mit dem Gestus der moralischen Überlegenheit.“19 Dieses Interesse an der moralischen Überlegenheit – und hierin besteht eine weitere Gefahr – führt dazu, dass politisch Andersdenkende schnell in eine Ecke gestellt werden und ihnen Positionen unterstellt werden, die nichts mit dem zu tun haben, was sie tatsächlich vertreten. Auch diese Gefahr scheint mir nicht aus der Luft gegriffen. So scheint Arnulf von Scheliha dieser Gefahr teilweise zu erliegen, wenn er auf den Artikel von Körtner mit den Worten reagiert: „Es handelt sich […] nicht um eine gesinnungsethische Überspannung, wenn die Bundesregierung, Kirchen und weite Teile der Bevölkerung sich der Flüchtlingsnot stellen und viele Flüchtlinge aufnehmen. Mit dieser Entscheidung wird vielmehr konkrete Verantwortung für die Not von Menschen übernommen, an der wir nicht unschuldig sind.“20 Von Scheliha insinuiert, Körtner habe bereits die 18 19 20

Körtner, Mehr Verantwortung, 8. Ebd. Scheliha, Gebot des Wohlwollens, 11.

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Tatsache, dass „weite Teile der Bevölkerung sich der Flüchtlingsnot stellen und viele Flüchtlinge aufnehmen“, als „gesinnungsethische Überspannung“ dargestellt, sei mithin grundsätzlich dagegen, sich der Not der Flüchtlinge zu stellen und diese aufzunehmen. Wenn von Scheliha behauptet, dass „die ethische Pflicht […] nicht nur deshalb ermäßigt werden [kann], weil sie mit schweren Lasten verbunden ist“21, dann unterstellt er, dass es die eigene persönliche schwere Last ist, die Menschen nicht tragen wollen, die eine andere Auffassung haben, und hierin der Unterschied begründet sei. Hier droht von Scheliha sich in die Reihe von solchen Kirchenfunktionären einzureihen, die ihren Gegnern (gerne unauffällig und zwischen den Zeilen) unlautere Motive unterstellen – zu denken ist hier etwa an den Altbischof Johannes Friedrich, der in einer Predigt zum Karfreitag Menschen, die in Fragen der Präimplantationsdiagnostik eine andere Auffassung haben als er, unterstellt, diese wollten sich „an der Wirklichkeit des Leidens in der Welt vorbeimogeln“22. Dies ist äußerst unappetitlich, nicht nur weil Friedrich meint, konkreten Menschen mit konkreten Sorgen ohne größeren Nachweis unlautere Motive unterstellen zu müssen, sondern vor allem deshalb, weil er zu glauben scheint, es zeichne einen moralischen Menschen aus, anderen Leid zuzumuten. Doppelt unappetitlich. 5

Empfehlung: Sich nüchtern Sachfragen widmen

Nach reformatorischem Verständnis wird der Mensch von Gott gerecht gemacht, er muss sich nicht seine eigene Gerechtigkeit erwerben und ständig auf sich selbst und seine eigene moralische Qualität schauen. Damit aber hat er einen freien Blick auf den anderen mit seinen Sorgen und Nöten. Befreit von dem Kreisen um sich selbst und seine eigene moralische Vorzüglichkeit kann er sich in notwendiger Nüchternheit der Sache widmen und Verantwortung übernehmen. Eine „christliche“ Ethik ist nicht an der Frage interessiert, was „das moralisch Gute“ ist, das es zu verwirklichen gilt, sondern ganz nüchtern daran, was die Situation verlangt und was zu tun ist, um den in den Konflikten verwickelten Menschen gerecht zu werden. Daher müssen es auch nicht immer besondere, außergewöhnliche Taten sein, auf die ein Christ schielt. Dem Glauben – so Luther – „ist kein unterscheidt in wercken.

21 22

Scheliha, Gebot des Wohlwollens, 11. Vgl. o.A., Schneider: „An Gottes Menschenliebe glauben“.

Die Kirchen, die Moral und das Flüchtlingsproblem

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Thut das grosz, lang, vile szo gere, als das klein, kurtz, wenige“23. Es muss nicht immer die ganz große Nummer sein. Befreit um die Sorge nach der eigenen moralischen Qualität ist die Frage des Christen und der Christin ganz schlicht: „Was ist zu tun nötig?“. Christen und Christinnen sind nicht an ihrer moralischen Vorzüglichkeit und an der Frage, welche Handlungen und Taten für die moralische Vorzüglichkeit notwendig sind, interessiert, sondern an dem, worauf es in der Situation ankommt. Und hier bedarf es zunächst eines: Sachkenntnisse. Diese werden nicht erworben, indem von moralischen Prinzipien oder biblischen Geschichten etwas deduziert wird.24 Die biblische Option für Arme und Schwache im Alten Testament, die Erzählung von der Flucht Josefs, Marias und Jesu nach Ägypten oder auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ersetzen keine Sachkenntnisse, auch lassen sich aus ihnen keine konkreten Handlungsanweisungen entnehmen oder gar Lösungen deduzieren, wie etwa das Recht auf unbegrenzte Zuwanderung oder gar das Recht von Flüchtlingen, in das Land ihrer Wahl einzureisen.25 Die Vorstellung, die Kirche könne ihre Bedeutung für die Gesellschaft darin erweisen, dass sie als Herrin über die biblischen Stories konkrete Handlungsanweisungen ableitet und die Kirchenfunktionäre der Gesellschaft vorschreiben, was sie konkret tun muss, um sich sittlich nennen zu dürfen, ist verfehlt: Diese Einsichten besitzt die Kirche nicht, nicht einmal die höchsten Kirchenfunktionäre. Zu Recht sieht Johannes Fischer es daher als gravierendes Problem an, wenn die Kirchen ihr kirchliches Profil „auf ethischem Gebiet ausweisen will“. Vor allem werde dies in der Vorstellung deutlich, „in ethisch kontroversen Fragen müsse es genau einen, ‚den‘ christlichen Standpunkt geben, den die Kirche in der öffentlichen Debatte zur Geltung bringen muss. Aber wenn in derartigen Fragen unter Christinnen und Christen mit guten Gründen ein ebenso großes Spektrum unterschiedlicher Auffassungen vertreten werden kann wie in der Gesellschaft, wie kann die Kirche dann der Gesellschaft ethische Orientierung vermitteln“26? Was aber kann dann die Kirche für die Gesellschaft leisten? Meines Erachtens empfiehlt es sich nicht, bestimmte moralische Positionen religiös zu überhöhen und dadurch eine Spaltung zwischen den moralisch Anständigen und den moralisch Unanständigen religiös zu ze23 24 25 26

WA 6, 207, 19f. Vgl. Roth, Narrative Ethik. Ebenso Körtner, Mehr Verantwortung, 10. Fischer, Gefahr der Unduldsamkeit, 45.

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mentieren, sondern gerade diese Spaltung zu beseitigen und damit der Diskussion einen nüchternen und sachorientierten Charakter zu verleihen. Die Kirche schafft nicht Interesse in der Verkündigung von moralischen Positionen, von denen sich der Hörer sowieso nur fragt, was es denjenigen oder diejenige eigentlich schon groß kostet, sich einer moralischen Position zu verpflichten (für die man sowieso durch Anerkennung und Wertschätzung belohnt wird). Beeindruckend ist vielmehr, wenn Menschen ihren Hochmut fahren lassen können, weil sie dessen nicht bedürfen. So wäre es sicherlich beeindruckend, wenn die Kirchenfunktionäre deutlich machen, dass sie darum wissen, dass sie sich von Funktionären der AfD oder Pegida nicht wesentlich unterscheiden, weil ihre Gemeinsamkeit viel größer ist als alle Unterschiede; denn wir sind alle Sünder, die auf Gottes Gnade angewiesen sind. Die Präsentation einer solchen Haltung wäre in der Tat etwas, das die Kirche für die Gesellschaft leisten kann – es würde der Gesprächsatmosphäre gut tun, weil sie dazu einlädt, statt hysterisch im Blick auf die eigene Gesinnung zu sein und um moralische Überlegenheiten zu konkurrieren, sich nüchtern der Sache zuzuwenden. Und was folgt aus den Überlegungen für die konkrete Flüchtlingshilfe vor Ort? Zunächst folgt daraus, dass es bei der Flüchtlingshilfe darum geht, die Not der Flüchtlinge zu mildern, nicht darum, ein moralisches Selbst zu etablieren und dafür die Not der Flüchtlinge zu instrumentalisieren. Dies aber wissen in der Regel die Menschen, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind; denn sie bieten ja konkrete Hilfe an und reden nicht bloß über moralische Normen und Prinzipien. Sie stellen sich die Frage, was zu tun nötig ist, um die Not von Menschen zu mildern. Das ist genau richtig. Sie sind ganz nüchtern bei der Situation und den in der Situation gegebenen Herausforderungen. Es bedarf dafür keiner „theologischen Begründung“, in der nun Theologen und Kirchenfunktionäre als Herren über gute und richtige Gründe auf den Plan treten. Es gibt kein theologisches Prinzip, von dem die besondere Form der Hilfe abgeleitet werden könnte. Was getan werden muss, richtet sich nach den Anforderungen der Situation und hier ist Sachkenntnis erforderlich. Daher kann man bei der Frage, wie geholfen werden kann, ganz unterschiedlicher Auffassung sein – es gibt nicht die christliche Perspektive. Auch konkret vor Ort gilt es, sich nüchtern der Sache zuzuwenden und keinen Streit der Gerechten zu führen.

Die Kirchen, die Moral und das Flüchtlingsproblem

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Literatur Ayer, Alfred Jules, Language, Truth and Logic, New York 1946. Bittner, Rüdiger, Verwüstung durch Moral, in: Brigitte Boote / Philipp Stoellger (Hg.), Moral als Gift oder Gabe? Zur Ambivalenz von Moral und Religion, Würzburg 2004, 98–103. Büchner, Georg, Woyzeck. Lese- und Bühnenfassung, in: Werke und Briefe – Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann, München 1980, 145–210. Fischer, Johannes, Gefahr der Unduldsamkeit. Die „Öffentliche Theologie“ der EKD ist problematisch, Zeitzeichen 17 / 5 (2016), 43– 45. Graf, Friedrich-Wilhelm, Der deutsche Protestantismus und der Zweite Weltkrieg, in: Venanz Schubert u.a. (Hg.), Der zweite Weltkrieg und die Gesellschaft in Deutschland. 50 Jahre danach. Eine Ringvorlesung der Universität München (Wissenschaft und Philosophie. Interdisziplinäre Studien 8), St. Ottilien 1992, 217–267. Graf, Friedrich-Wilhelm, Gutmenschenreligion für Sinnhungrige, Süddeutsche Zeitung 17.5.2010, online: http://www.sueddeut sche.de/kultur/bischof-huber-erklaert-seinen-glaubengutmenschenreligion-fuer-sinnhungrige-1.689299 (Zugriff 31.8.2016). Graf, Friedrich-Wilhelm, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 22011. Körtner, Ulrich, Mehr Verantwortung weniger Gesinnung. In der Flüchtlingskrise weichen die Kirchen wichtigen Fragen aus, Zeitzeichen 17 / 2 (2016), 8–11. McNaughton, David, Moralisches Sehen. Eine Einführung in die Ethik. Aus dem Englischen übersetzt von L. Schewe, Frankfurt am Main 2003. Moore, Georg Edward, Principia ethica, Cambridge 1903. o. A., Schneider: „An Gottes Menschenliebe glauben“, chrismon.de – Das evangelische Online-Magazin, 9.4.2012, online: https:// chris mon.evangelisch.de/meldungen/2012/schneider-gottes-men schen liebe-glauben-14283 (Zugriff 31.8.2016). Roth, Michael, Die moralische Signifikanz von Situationen und Lebenslagen. Seelsorge als Herausforderung für die Ethik, Deutsches Pfarrerblatt 116 (2016), 203–207. Roth, Michael, Narrative Ethik. Überlegungen zu einer lebensnahen Disziplin, in: Ulrich Volp / Friedrich W. Horn / Ruben Zimmermann (Hg.), Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie. Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik (WUNT), Tübingen 2016, 123–139.

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Schmidt-Rost, Reinhard, Massenmedium Evangelium: Das „andere“ Programm, Hannover 2011. Scheliha, Arnulf von, Gebot des Wohlwollens. Warum Regierung und Bürger helfen müssen, Zeitzeichen 17 / 3 (2016), 8–11. Welker, Michael, Selbst-Säkularisierung und Selbst-Banalisierung, Brennpunkt Gemeinde 19 (1 / 2001), 15–20.

4 Allianzen

Carina Gödecke

Wir schaffen das – nur gemeinsam! Erfolgreiche Allianzen in der Flüchtlingsarbeit1

In meinem Beitrag möchte ich drei Gedanken entfalten, die mir bei der Auseinandersetzung mit dem Titel der Veranstaltung „Wir schaffen das – nur gemeinsam! Erfolgreiche Allianzen in der Flüchtlingsarbeit“ durch den Kopf gegangen sind. 1

Gelingensbedingungen

Bei „Wir schaffen das – nur gemeinsam!“ wird ganz bewusst ein Ausrufezeichen verwendet. Das macht aus dem Satz eine kraftvolle Aussage, die zugleich auch zur Aufforderung, zum Appell wird. Wir schaffen das – nur gemeinsam! Das heißt deshalb auch: Macht mit, stellt euch nicht abseits, bringt euch ein, werdet ein Teil dieses Wir. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, wer denn gemeint ist, wenn vom gemeinsamen Schaffen und vom Wir ausrufend und auffordernd die Rede ist. Natürlich haben wir alle eine Antwort auf diese eher rhetorische Frage parat: Eben wir alle! Wir alle, das sind die Politik, die Kirchen, diejenigen, die in den Kommunen Verantwortung tragen, zugleich die vielen Ehrenamtlichen aus Kirche, Vereinen, Verbänden und Organisationen. Und genauso diejenigen, die bislang nicht ehrenamtlich in Vereinen engagiert waren und nun vielleicht sogar zum ersten Mal in der Flüchtlingsarbeit ihre Aufgabe, ihre Berufung oder auch ihre christliche oder humanitäre Verpflichtung entdeckt haben. Das halte ich übrigens für eine Erfahrung und Beobachtung, die gerade für die Politik und das organisierte Ehrenamt wichtig sind. Menschen sind offensichtlich, wie die Erfahrungen des letzten Jahres zeigen, durchaus ansprechbar, durchaus motivierbar und motiviert, sich ehrenamtlich einzusetzen. Viele Menschen sind durchaus 1 Leicht überarbeitete Fassung meines Impulsbeitrags am 16.02.2016 im Rahmen des Fachtags „Wir schaffen das – aber nur gemeinsam. Erfolgreiche Allianzen in der Flüchtlingsarbeit“ in der Pauluskirche Dortmund.

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bereit, ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Die These von der Individualisierung unserer Gesellschaft muss daher künftig zumindest in Teilen viel differenzierter betrachtet werden als bisher. Das Ausrufezeichen nach dem Wort „gemeinsam“ macht deutlich: Wir reden nicht etwa über die Frage, ob wir das schaffen oder ob wir das nur gemeinsam schaffen. Nein! Es ist auch nicht das berühmte „Pfeifen im Wald“, das ausdrücken soll, dass wir – wenn überhaupt – es nur gemeinsam schaffen. Nein, das Ausrufzeichen macht deutlich: Es geht um die konkrete Ausgestaltung dieser Gemeinsamkeiten. Es geht um eine gewünschte und notwendige Allianz verschiedener Akteure. Deshalb wird es sehr grundsätzlich auch darum gehen, miteinander darüber zu reden, was wir, die wir Teil erfolgreicher Allianzen sind oder künftig werden wollen, – wechselseitig voneinander erwarten, – welche Erfahrungen wir im Miteinander bisher gemacht haben und – was wir uns für die Zukunft wünschen. Damit wären wir dann bei dem Thema der „erfolgreichen Allianzen“ angekommen, die es zu beschreiben gilt. Erfolgreiche Allianzen und der feste Wille, es zu schaffen, benötigen selbstverständlich Rahmenbedingungen, die eine Zielerreichung ermöglichen. Für die Rahmenbedingungen ist auf allen Ebenen die Politik zuständig, und zwar am besten in enger Kooperation und Abstimmung miteinander. Auch wenn es fast schon eine Binsenweisheit ist, stimmt es dennoch: Integration ist stets eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Dabei will ich die Europäische Union in dieser Aufzählung der Verantwortungsakteure nicht vergessen, sondern erst einmal ausblenden, da sie ja bereits bei der Frage der Flüchtlingsaufnahme versagt. Über den zweiten Schritt zu reden, wenn der erste nicht klappt, macht daher zumindest im Moment wenig Sinn. Um nicht missverstanden zu werden: Ich sehe die EU durchaus in der Verantwortung und bin in großer Sorge, was dort gerade passiert. Wenn wir also über Rahmenbedingungen reden, dann geht es auch um rechtliche, finanzielle und personelle Anforderungen. Ohne die Diskussion zwischen Kommunen und Land in die heutige Veranstaltung verlagern zu wollen, will ich nachdrücklich unterstreichen, dass ich sehr genau weiß, dass trotz der Verständigung zwischen den Kommunalen Spitzenverbänden und dem Land NRW die Aufstockung der Mittel für die Flüchtlingspolitik auch in diesem Jahr mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen werden. Obwohl die Mittel im Landeshaushalt 2016 auf rund 4 Milliarden Euro angewachsen sind,

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rechnen die Kommunen bereits im Februar eindrucksvoll und durchaus nachvollziehbar vor, dass die ihnen angekündigten Mittel nicht reichen werden. Denn die Pauschalen des Flüchtlingsaufnahmegesetzes (FlüAG) bilden ja eben nicht die kommunalen Folgekosten der Integration von Flüchtlingen ab, die sich zum Beispiel in einem Mehr an Kita-Plätzen, Schulraum, Sportstätten, sozialer Infrastruktur usw. niederschlagen. Richtig ist, und darauf will ich gerne hinweisen, dass das Land und der Landtag mit dem Haushalt 2016 bereits darauf reagiert haben: Denn in den rund 4 Milliarden Euro sind unter anderem auch 72 Millionen Euro für den Neu- und Umbau von Kitas, Jugendtreffs, Schulen und Sporteinrichtungen enthalten. Es werden mehr Lehrer eingestellt, zusätzliche Stellen für Polizeianwärter geschaffen, es wird weitere Plätze an den offenen Ganztagsschulen geben und einiges mehr. Dennoch glaube ich, dass man kein Prophet sein muss, um vorherzusagen, dass bei ungebremstem Zuzug von Menschen nach Deutschland auch diese Maßnahmen, dieses Geld nicht ausreichen wird. Allein der weitere Zubau von Unterbringungsmöglichkeiten stellt für die Kommunen eine riesige finanzielle Herausforderung dar. Zumal, wenn wir über Haushaltssicherungskommunen reden, deren genehmigte Haushaltssicherungskonzepte kaum Spielräume lassen oder eröffnen. Damit sind wir ganz schnell an der Stelle angelangt, an der nachvollziehbar wird, dass die finanzielle Ausstattung der Kommunen nicht ausreichend ist. Die politischen Forderungen, die sich daraus ableiten und als Forderungen gleichermaßen an Land und Bund gehen, sind mir bekannt. Ich gehe sogar einen Schritt weiter, ich kann diese Forderungen nachvollziehen und weiß, dass wir gemeinsam an der Lösung dieser vor allem kommunalen Herausforderungen arbeiten müssen. Dabei dürfen wir die Kommunen nicht alleine lassen. Das Land und vor allem der Bund sind weiterhin gefordert. Für mich ist es durchaus einfach, das so dezidiert zu formulieren, da ich als Landtagspräsidentin spreche – also als diejenige, die überparteilich agierend Ihnen gut zuhören, Ihre Anforderungen verstehen und vor allem diese dann in die Debatten nach Düsseldorf mitnehmen soll. Daher kann ich sehr viel einfacher als andere Politiker die Notwendigkeiten, die die kommunale Familie formuliert, bejahen und anerkennen, zumal ja mit dem Landeshaushalt 2016 aber auch schon im laufenden Jahr 2015 über Nachtragshaushalte finanziell nachgesteuert wurde und eine ganze Reihe von Maßnahmen und Programmen zur Entlastung und Unterstützung der Kommunen und des Ehrenamtes auf den Weg gebracht wurden. Wirklich nur beispielhaft will ich in Erinnerung rufen:

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– aus dem Jahr 2015 das Ehrenamtsprogramm mit 1 Million Euro und das Programm „Ankommen und Verstehen“ mit 2 Millionen Euro, – aktuell das Programm KOMM-AN NRW mit insgesamt 13 Millionen Euro, wovon 7,7 Millionen in die direkte Unterstützung des Ehrenamtes fließen, – darin enthalten, die personelle Verstärkung der kommunalen Integrationszentren mit 73 zusätzlichen Stellen, – die Förderung von Sprachkursen. Es gibt aber durchaus einen zweiten Grund, warum es für mich etwas einfacher ist als für andere. Denn schwerpunktmäßig geht es hier ja nicht um die Finanzierung der Flüchtlingspolitik, sondern um gemeinsame Allianzen, also um ein gemeinsames Vorgehen und damit um die Gelingensbedingungen. Wenn wir über die Rahmenbedingungen für gemeinsame sinnstiftende Allianzen in der Flüchtlingsarbeit sprechen, geht es darum, die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der praktischen Arbeit vor Ort in die permanente Überprüfung und Weiterentwicklung der landespolitischen Entscheidungen und Maßnahmen einzubeziehen. Die konkreten Hilfen und Anforderungen sind ja direkt abhängig von der Zahl der Menschen, die zu uns kommen, der Schnelligkeit des Zuzugs sowie von der Zahl derjenigen, die auf Dauer bei uns bleiben und Teil unserer Gesellschaft werden. Das heißt, die zentrale Aufgabe von uns allen in sinnstiftenden Allianzen lautet: Neben der Flüchtlingsunterbringung und Erstversorgung vor allem den Bereich der Integration, bei dem wir ja noch sehr am Anfang stehen, anzugehen. „Wir schaffen das – nur gemeinsam!“ Je größer eine Aufgabe wird, umso mehr geht es auch darum, denen, die sich ehrenamtlich engagieren, nicht nur zu danken und ihre Arbeit wertzuschätzen, sondern sie nachhaltig zu unterstützen, sie zu entlasten, und manchmal auch darum, sie zu schützen. Damit will ich deutlich machen, dass niemand glauben sollte, dass ehrenamtliches Engagement erstens beliebig lange fortgesetzt werden und zweitens auch noch erweitert werden kann. Wenn der Zuzug von Flüchtlingen in derselben Intensität wie im letzten Jahr weitergeht, dann wird irgendwann jedes noch so aktive und stabile Netzwerk von Ehrenamtlern an seine Grenzen stoßen. Das heißt, die Aufgabe von Politik ist es, Ehrenamt zu fördern, zu qualifizieren, zu unterstützen – die Programme dazu habe ich in Beispielen bereits benannt. Gleichzeitig geht es aber auch um die Ergänzung des Ehrenamtes durch das Hauptamt. In der Debatte um die Unterstützung der Geflüchteten muss es auch um das ehrliche Aufzeigen von Grenzen gehen. Grenzen des ehrenamtlichen Engage-

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ments zu erkennen, zu akzeptieren und zu respektieren, hat ja nichts mit „nicht wollen“ oder gar mit „versagen“ zu tun, sondern vielmehr damit, dass innerhalb einer gelungenen Allianz auch die unterschiedlichen Möglichkeiten, Stärken, Kompetenzen und Zuständigkeiten der verschiedenen Akteure eine entscheidende Rolle spielen. Es geht also um Gelingensbedingungen und um eine sinnvolle Ergänzung und Kooperation zwischen Hauptamt und Ehrenamt. Ich möchte den ersten Gedanken so zusammenfassen, dass Politik für die Gelingensbedingungen zuständig ist, das Gelingen selbst aber viele Akteure benötigt. Dabei habe ich noch nicht einmal über das Schaffen und Aufrechthalten von Akzeptanz in der Bevölkerung, der Nachvollziehbarkeit und Transparenz staatlichen Handelns, in das ich die kommunalen Entscheidungen ausdrücklich einbeziehe, und die Aufrechterhaltung der sozialen Balance in unserer Gesellschaft, in unseren Städten gesprochen. Denn all das, und wahrscheinlich noch viel mehr, gehört auch zur Beschreibung von Gelingensbedingungen. 2

Kultur des Zusammenwirkens

Mein zweiter Gedanke ist der, dass mit dieser Aussage kraftvoll unterstrichen wird, dass es um Gemeinsamkeit geht. Also um die Stärke, die aus dem Zusammenwirken vieler erwächst. Damit geht es nicht nur um zum Beispiel einen alten Grundgedanken der Arbeiterbewegung, das christliche Grundverständnis der Kirchen oder die gemeinsame Interessenvertretung durch die Gewerkschaften, sondern letztlich geht es um das, was unsere Gesellschaft und ihren Zusammenhalt im Kern ausmacht – das solidarische Miteinander. Wenn man genau hinsieht, dann erleben wir seit langem eine durchaus gespaltene, eine polarisierte Gesellschaft. Manche Medienberichterstattung und manche Darstellung gerade in den Sozialen Medien und im Internet lassen fast vermuten, dass wir in zwei Parallelwelten leben, die nur noch wenige Berührungspunkte miteinander haben. Aber Vorsicht und Achtung, genau das stimmt natürlich nicht. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Deutschen spricht sich für Flüchtlingsaufnahme aus, ist in Helfernetzwerken organisiert und lehnt – Gott sei Dank – die rechten Parolen mit Nachdruck ab. Wenn wir über unsere Gesellschaft sprechen, dann sind da zum einen die, die mit unverändert großem Engagement und großer Hilfsbereitschaft Flüchtlingen helfen, sie begleiten und unterstützen. Nach wie vor gibt es eine Welle der Hilfsbereitschaft, der sich dankenswerter

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Weise immer wieder neue Ehrenamtliche anschließen. Zum anderen erleben wir das genaue Gegenteil, nämlich diejenigen, die gegen Flüchtlinge hetzen, oder noch viel schlimmer, sogar gewalttätig werden und auch vor Übergriffen auf Heime oder sogar Flüchtlinge nicht Halt machen. Wir erleben zudem eine öffentliche und auch politische Debatte, die sich zu wenig um Integration und alle damit zusammenhängenden Fragestellungen dreht, dafür aber umso mehr um Obergrenzen, sehr schnelle Ausweisungen oder sogar Schießbefehle als ultima ratio. Das heißt, – nicht ausgelöst, aber durchaus beschleunigt – durch die großen Flüchtlingsmengen scheint der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft brüchiger zu werden oder bereits geworden zu sein. Die offen ausgelebte Fremdenfeindlichkeit, der erstarkende Rechtsradikalismus, die zunehmenden rechtsradikalen und gewalttätigen Ausschreitungen, aber auch die Sympathien und die steigende Zustimmung zu Parteien, die sich an den äußeren Rändern unseres Systems bewegen, sind weitere Belege dafür, dass es in unserer Gesellschaft um mehr als die Frage von Aufnahme, Unterbringung und Integration von Flüchtlingen geht. Umfragewerte für die AfD im hohen zweistelligen Bereich sind daher durchaus ein Anlass zur Beunruhigung. Denkt man konsequent weiter, geht es letztendlich um die Demokratie. Und auch da sind wir alle gemeinsam, als Allianz der Demokraten, gefordert. Wir alle sind gemeinsam aufgefordert, uns für unsere freiheitlich demokratische Gesellschaft einzusetzen. Wir sind aufgefordert, laut und vernehmlich Nein zu sagen, an den Stellen, an denen man Nein sagen muss, als Christ, als Demokrat, als Humanist. Also Nein zu jeder Form von Fremdenfeindlichkeit, Gewalt, Hass und Intoleranz. Nein zu Respektlosigkeit und Antisemitismus. Nein zu Rechtsextremismus und vor allem Nein zu Bürgerwehren. Das mag etwas pathetisch und plakativ klingen, aber es geht bei den Allianzen für Flüchtlingspolitik eben auch um Bekenntnisse und unmissverständliche Positionen. Wir alle sind gefordert zu sagen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Manchmal braucht man dazu Mut und Zivilcourage. Viel öfter aber „nur“ den gesunden Menschenverstand und eine gefestigte christliche oder humanistische Grundeinstellung. Tun wir das nicht, dann stärken wir damit die Gegner unserer Demokratie. Deshalb geht es auch darum, Haltung zu zeigen und Position zu beziehen. Gerade in Debatten, die Flüchtlinge zu Sündenböcken machen wollen. Gerade bei Gruppierungen und Parteien, die sich nicht scheuen, die Sprache der NS-Zeit und die Ideologie der NS-Zeit zu verwenden. Auf dem Nährboden solcher Debatten wach-

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sen Hass und Menschenverachtung immer weiter. Das müssen wir gemeinsam verhindern. Mein zweiter Gedanke lautet zusammengefasst: Erfolgreiche Allianzen in der Flüchtlingsarbeit sind zugleich Ausdruck und Garanten des solidarischen Miteinanders in einer Gesellschaft. Sie stabilisieren die Demokratie. 3

Einstellungen und Haltungen

Meinen dritten Gedanken habe ich indirekt schon angesprochen. Gegenüber 2015 haben sich die öffentliche Debatte und die gesellschaftliche Stimmung zumindest in Teilen signifikant geändert. Erinnern wir uns: Das Jahr 2015 war vor allem geprägt von vielen Menschen, die bei uns Schutz und Hilfe suchten, die in immer größerer Zahl und in sehr schnellen zeitlichen Abfolgen gekommen sind. Allein Nordrhein-Westfalen hat im letzten Jahr rund 330.000 Menschen aufgenommen. Nordrhein-Westfalen war im Jahr 2015 vor allem gekennzeichnet – erstens – durch das große und vielfältige ehrenamtliche Engagement unglaublich vieler Bürgerinnen und Bürger, zweitens durch die Bereitschaft der Städte und Gemeinden, immer wieder sehr kurzfristig, über Nacht Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und – drittens – durch die Unterstützung durch Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Vereine und Organisationen. All das hat die Willkommenskultur in unserem Land geprägt. Daran wird man sich noch in vielen Jahren erinnern. Gleichzeitig haben wir aber schon im ganzen Jahr 2015 das Erstarken von rechten und rechtsradikalen Gruppen und Parteien sowie deren zum Teil fanatischen Gedankenguts sehen können. Zudem wurde das Jahr 2015 von Terroranschlägen und Terrorandrohungen erschüttert. Angst vor Überforderung durch die Flüchtlinge, Angst vor Terroranschlägen, Angst vor dem IS oder ganz allgemein vor dem Islam und Muslimen, gepaart und begleitet von Fremdenfeindlichkeit, Gewaltbereitschaft, Intoleranz, rechter Ideologie und offen ausgetragenen neonazistischen Übergriffen sowie völliger Distanzlosigkeit und aggressivem Hass in sozialen Netzwerken und in den Internetmedien, auch das bleibt vom Jahr 2015. Auch daran wird man sich in vielen Jahren noch erinnern. Und dann hat es auch noch die Silvesternacht gegeben, mit ihren unfassbaren und brutalen sexuellen Verbrechen, die in aller Öffentlichkeit begangen wurden. Seitdem hat sich das gesellschaftliche und politische Klima in unserem Land noch einmal verändert. Vieles, was bis dahin nicht laut, sondern eher hinter vorgehaltener Hand geäußert

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wurde, scheint jetzt hoffähig geworden zu sein und ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. In der Politik, aber auch in Kirche, in den Gewerkschaften, in den Verbänden und Vereinen, also überall dort, wo Menschen wissen, dass es auf die komplexe internationale Situation keine einfachen nationalen und Sündenböcke suchenden Antworten geben kann, kommt es jetzt auch darauf an, – und ich wiederhole mich noch einmal – Haltung zu zeigen. Mein dritter Gedanke lässt sich daher so zusammenfassen: Bei der Flüchtlingspolitik geht es um politische Antworten und Lösungen, es geht um politische Entscheidungen und politisches Handeln, um Konzepte und Maßnahmen, es geht um Rahmenbedingungen. Aber es geht auch um Einstellungen und Haltungen. In diesem gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen Ängsten, erstarkendem Rechtradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz und dem großen herzlichen Willkommen und der ehrenamtlichen Unterstützung fragen wir nach erfolgreichen Allianzen. Es ist gut, dass wir vor allem die Frage, wie wir das Miteinander gestalten können, wie wir es zu erfolgreichen Allianzen werden lassen können, in den Mittelpunkt stellen. Weil damit deutlich wird, dass wir es auch schaffen wollen. Schluss: Begegnungen mit Geflüchteten Ich möchte zum Schluss einfach nur noch einmal betonen, dass die Bilder von Krieg und Verfolgung die Hilfsbereitschaft in Deutschland drastisch haben ansteigen lassen. Während das ehrenamtliche Engagement in den letzten Jahren bei durchschnittlich 12,5 Millionen Menschen lag, waren in 2015 13,5 Millionen Menschen ehrenamtlich tätig. Die Formen des Ehrenamtes sind dabei vielfältig; jeder setzt sich nach seinen Fähigkeiten für die humanitäre Aufnahme der Flüchtlinge ein. Ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe ist durch nichts zu ersetzen. Ohne ehrenamtliche Tätigkeit ist Flüchtlingshilfe schlichtweg nicht zu realisieren. Diese Aussage bezieht sich nicht – wie man zunächst denken könnte – auf ausschließlich monetäre Gesichtspunkte. Auch wenn die staatlichen Institutionen hinreichend finanzielle, personelle und sachliche Ressourcen zur Verfügung stellen könnten, wäre eine humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen schwierig. Denn nur Ehrenamtliche können das leisten, was Menschen brauchen, die Kriege erlebt und sich monatelang auf der

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Flucht befunden haben – ich zitiere aus einem Fachbeitrag einer Dozentin für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Berlin: „Sie können durch die persönliche Art ihrer Kontakte eine einzigartige Beziehung zu Flüchtlingen aufbauen, indem sie gezielt auf Menschen zugehen, persönliche Berührungspunkte herstellen und mit den Flüchtlingen eine ganzheitliche Begegnung erleben. So tragen sie zur seelisch-emotionalen Stabilisierung und Integration insbesondere auch der traumatisierten Flüchtlinge bei. In der Ehrenamtsbeziehung findet eine Begegnung statt, in der sich Ich und Du als gleichberechtigte Subjekte begegnen und keiner dem anderen bewertend gegenübersteht […]. Von daher ist es möglich, dass in den Ehrenamtsbeziehungen (familiäre) Nähe und Wärme entstehen, zumal die Akteure ihrem Gegenüber ohne Erwartungen einer Gegenleistung begegnen und in der Regel bereit sind, auch seelische Zuwendung und Zuneigung zu schenken.“2

Genau darum geht es beim ehrenamtlichen Engagement, das niemals durch staatliches Handeln ersetzt werden kann. Das Ehrenamt in der Flüchtlingsarbeit ist unentbehrlich, und es wird angesichts des anhaltenden Flüchtlingszustroms und der Nachhaltigkeit von Integration noch mindestens ein Jahrzehnt erforderlich sein. Als letztes: Wir schaffen das! Ja! Aber noch lieber wäre mir die Formulierung: Wir machen das!

2

Han-Broich, Misun, Engagement in der Flüchtlingshilfe – eine Erfolg versprechende Integrationshilfe, Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015 / 14–15), 45.

Ulf Schlüter

Ein Knoten im Netz – nicht mehr und nicht weniger Flüchtlingsarbeit im Kirchenkreis Dortmund

Nein, klüger als andere waren wir nicht. In welcher Weise unsere Kommune binnen weniger Monate zum Brennpunkt der Flüchtlingsaufnahme werden würde, hat auch im Evangelischen Kirchenkreis Dortmund niemand geahnt und vorausgesehen. 333 Flüchtlinge in Summe wurden der Stadt Dortmund im Jahr 2012 zugewiesen. Drei Jahre später, im zweiten Halbjahr 2015, waren es phasenweise 215 Flüchtlinge pro Woche, die im Dortmunder Stadtgebiet unterzubringen und zu versorgen waren; im ersten Halbjahr 2016 kamen jede Woche immer noch 100. Zugleich war und ist Dortmund (noch) Standort einer der bisher drei Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen. Mehrere hundert Geflüchtete am Tag fanden mitunter dorthin ihren Weg. Weit mehr als 1.000 Menschen wurden 2015 an vielen Tagen dort versorgt und registriert, bevor sie in andere Kommunen weiterreisen konnten. Und damit nicht genug: Wochenlang wurde Dortmund zur nordrhein-westfälischen Drehscheibe für die Flüchtlingszüge aus dem Süden. Sonderzug um Sonderzug erreichte den Dortmunder Hauptbahnhof, wo man die Ankömmlinge mit dem Nötigsten versorgte und auf den weiteren Weg brachte. Wer hätte das prognostizieren wollen? Nein, wir waren nicht klüger, wir wussten es nicht besser als andere. Und keine Rede kann davon sein, dass die evangelische Kirche bei der Bewältigung der akuten Krise vielleicht eine andere Akteure überragende Rolle gespielt habe – mitnichten. Nur den gemeinsamen, intensiven und entschlossenen Bemühungen der Kommune und der vielen spontanen Freiwilligen, dem Engagement der Wohlfahrtsverbände und vieler zivilgesellschaftlicher Gruppierungen ist es zu verdanken, dass die immensen Aufgaben überhaupt bewältigt wurden.

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Ein Knotenpunkt im Netzwerk – nicht mehr und nicht weniger war und ist die evangelische Kirche dabei. Immerhin: Ganz unvorbereitet und ahnungslos waren wir nicht. Spätestens seit den Erfahrungen der 1990er Jahre im Gefolge der BalkanKriege gehörte die Thematik von Flucht und Migration zur chronischen Agenda der Kirchenkreise und Gemeinden in Dortmund, Lünen und Selm. Praktische Beratungs- und Begleitungsangebote für Flüchtlinge, Angebote von Kirchenasyl, Synodalbeauftragungen und öffentliche Erklärungen, Bildungsveranstaltungen und anderes mehr zählten Jahre vor der jüngsten Zuspitzung weniger dringlich und zahlreich, aber kontinuierlich zum Kanon evangelischen Engagements in Dortmund und Lünen. Bereits 2014 waren es deshalb nicht zufällig die drei Synodalbeauftragten des Evangelischen Kirchenkreises, die eine stadtweit erste und einzige Fortbildungsreihe für Ehrenamtliche und Freiwillige in der Flüchtlingsarbeit entwickelten und realisierten. Vor dem Hintergrund der bereits erkennbar anwachsenden Zahl von Flüchtlingen erwies sich das Echo als groß – neben den 60 Teilnehmenden gab es eine gleich hohe Zahl an Interessierten, die zunächst keine Berücksichtigung finden konnten. Zwischenzeitlich wurde das Angebot mehrfach wiederholt und weiter differenziert. Dass Vertreterinnen und Vertreter der Dortmunder Stadtverwaltung ebenso aktiv in das Fortbildungsangebot einbezogen werden konnten wie Verantwortliche der großen Verbände und der freien Unterstützergruppen, ist bezeichnend für die von Anfang an gegenseitig gesuchte Kooperation. In der sich schnell dynamisierenden Situation des Jahres 2015 bewährt sich diese Zusammenarbeit – unbeschadet mancher Irritationen und Defizite, die unter dem für alle Akteure herrschenden Druck nicht ausbleiben können. Eine kurze Chronologie: Schon im Herbst 2014 kommt es zu ersten Gesprächen zwischen Stadtverwaltung und Kirchen über die mögliche Nutzung von kirchlichen Liegenschaften zur Unterbringung von Flüchtlingen. Eine Reihe von Wohnungen und ehemaligen Pfarrhäusern wird kurzfristig zur Verfügung gestellt. Geprüft wird darüber hinaus die Bereitstellung von drei Gemeindehäusern und einer entwidmeten Kirche für größere Unterkünfte. Zu diesem Zeitpunkt zeichnet sich ein weiteres deutliches Anwachsen der Zuweisungsraten unzweifelhaft ab, ohne dass das ganze im Jahr 2015 erreichte Ausmaß bereits erkennbar gewesen wäre.

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Dennoch trifft die Stadt bereits Ende 2014 Vorbereitungen, in allen Dortmunder Stadtbezirken zentrale Übergangseinrichtungen zu schaffen und sie von Wohlfahrtsverbänden und anderen sozialen Dienstleistern betreiben zu lassen. Um in den Quartieren die notwendige Akzeptanz für die Aufnahme der Flüchtlinge zu fördern, organisiert die Sozialverwaltung im Vorfeld der Eröffnungen regelmäßig öffentliche Bürgerversammlungen, die wiederholt und nicht zufällig in evangelischen Gemeindehäusern oder Kirchen ihren Ort bekommen. Störungen durch in Dortmund aktive Rechtsradikale bleiben dabei nicht aus, wogegen regelmäßig ein breites Bündnis – unter Beteiligung des vom Kirchenkreis initiierten Arbeitskreises „Christen gegen Rechts“ – seine Stimme erhebt. Um die Aktivitäten in den Ortsgemeinden, in den zentralen kirchlichen Diensten und im örtlichen Diakonischen Werk zu koordinieren und den Erfahrungsaustausch untereinander zu gewährleisten, ruft der Kirchenkreis Ende 2014 einen „Ad-hoc-Arbeitskreis Flucht und Asyl“ ins Leben. Schwerpunkt der Arbeit in den Kirchengemeinden ist von Beginn an die praktische Begleitung von Flüchtlingen in den Gemeinschaftsunterkünften vor Ort durch Ehrenamtliche und Freiwillige. Einzelne Gemeinden, insbesondere die Dortmunder ChristusKirchengemeinde1, in deren Gebiet die Zentrale Kommunale Unterkunft gelegen ist, verfügen dabei über mehrjährige Erfahrungen und Kompetenz beim Aufbau von runden Tischen und praktischen Hilfsangeboten. Im Zusammenhang der konkreten Begleitung von Flüchtlingen ergeben sich von 2014 an immer wieder Anfragen mit Blick auf ein mögliches Kirchenasyl zum Schutz vor Abschiebung oder Rückführung. Um die Kirchengemeinden in der Beurteilung und Bearbeitung dieser Anfragen zu unterstützen, entwickelt der Kirchenkreis Anfang des Jahres 2015 eigene Leitlinien für die Praxis des Kirchenasyls. Diese orientieren sich an den zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Kirchen ausgehandelten Verfahren, das nicht zuletzt gegenseitige Transparenz sicherstellen soll. Zugleich richtet der Kirchenkreis eine zentrale Erstberatung für Kirchenasyl-Anfragen sowie einen dringend erforderlichen Rechtshilfefonds ein. Aufgebaut wird zudem die kontinuierliche Zusammenarbeit mit einem Fachanwalt für Asyl- und Ausländerrecht, der bei Bewertung der Verfahrenschancen unverzichtbare Kompetenz einbringt. Im Laufe des Jahres 2015 werden mehr als 30 konkrete Anfragen zum Kirchenasyl 1

Siehe den Beitrag von Michael Mertins in diesem Band.

Flüchtlingsarbeit im Kirchenkreis

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bearbeitet. Zwei Fälle von Kirchenasyl können erfolgreich zum Abschluss gebracht werden. Das Diakonische Werk des Kirchenkreises bereitet sich seinerseits ab Ende 2014 auf die Übernahme des Betriebs von zunächst einer, später von zwei zentralen Unterkünften im Stadtbezirk Hörde vor, in denen ab Juni bzw. Oktober 2015 ca. 300 Flüchtlinge untergebracht und begleitet werden. Die organisatorischen und logistischen Herausforderungen sind dabei gewaltig – vom Aufbau eines vollständig neuen Fachbereichs „Migration und Integration“ über die Akquise von mehrsprachigem Personal bis hin zur Beschaffung von Mobiliar und Gerätschaften ergeben sich zahllose Aufgaben innerhalb kürzester Zeit, mitunter innerhalb von Tagen. Zugute kommen der Diakonie freilich langjährige Erfahrungen im Zusammenhang mit der Zuwanderungsthematik – etwa die bereits vor längerem übernommene Verantwortung für die Asylverfahrensberatung in der Dortmunder Erstaufnahmeeinrichtung, deren Umfang im Laufe des Jahres 2015 erheblich erweitert werden kann. Darüber hinaus erweist sich das seit 2012 verstärkte Engagement der Dortmunder Diakonie im Zusammenhang mit der EU-Zuwanderung insbesondere aus dem Südosten Europas als hilfreicher Vorlauf für die Herausforderungen der Jahre 2015 und 2016. Große Resonanz findet zudem das Projekt „Do it“ des Diakonischen Werkes, das ebenfalls schon längere Zeit vor der akuten Zuspitzung der Zuwanderung entwickelt worden ist. Im Rahmen von „Do it“ werden annähernd 100 ehrenamtliche Vormünder für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge qualifiziert und begleitet. Zumal Dortmund durch die örtliche Erstaufnahmeeinrichtung des Landes ein Schwerpunkt bei der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist, erweist sich das Projekt als überaus hilfreich. Ergänzt werden die Aktivitäten des Diakonischen Werkes seit Ende 2015 durch eine allgemeine Sozialberatung für Flüchtlinge. Gemessen am Bedarf herrscht in Dortmund an einer solchen eklatanter Mangel. Flüchtlinge und ihre Begleiter_innen können sich nun mit Fragen zum Asylverfahren, zum Aufenthaltsstatus sowie zu sozialen Problemen an die Beratungsstelle der Diakonie wenden. Ähnliche Angebote halten mit kommunaler Förderung inzwischen auch andere Wohlfahrtsverbände vor. Gut aufgestellt für die neue Situation ist nicht zuletzt das Evangelische Bildungswerk des Kirchenkreises. Seit längerem bietet es Er-

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wachsenen und Jugendlichen ab 16 Jahren nachträglich den Erwerb von staatlich anerkannten Schulabschlüssen an. Davon profitieren nun auch zahlreiche Flüchtlinge. Die Kurse sind Türöffner in weiterführende Schulen oder in die Berufsausbildungen des dualen Systems; sie vermitteln die grundlegenden Sprachkenntnisse und führen am Ende zum Hauptschulabschluss oder zur Fachoberschulreife. Der Schwerpunkt des Angebots liegt bei Jugendlichen ab 16 Jahren und vor allem Frauen mit Migrationshintergrund. Darüber hinaus hat das Bildungswerk seit 2015 Fortbildungsangebote für Freiwillige in der Flüchtlingsarbeit im regelmäßigen Programm. Ein außergewöhnlicher Akzent ist im Rahmen der Veranstaltungsreihen jeweils die Situation geflüchteter Frauen. In Kooperation mit der städtischen Frauenberatungsstelle und der Dortmunder Mitternachtsmission werden die Teilnehmenden für deren Lage in besonderer Weise sensibilisiert. Nein, klüger als andere waren und sind wir nicht. Und auch nicht aktiver. Die lange, leicht noch zu verlängernde Liste der Aktivitäten von Kirchengemeinden, Diakonie und gemeinsamen Diensten des Kirchenkreises muss in bescheidene Relation gesetzt werden zu der logistischen Kraftanstrengung der kommunalen Verwaltung, die über Monate hinweg in unablässig tagenden Krisenstäben und im Ausnahmezustand die Unterbringung und Versorgung aller Ankommenden sichergestellt hat. Nahezu alle städtischen Behörden und Bediensteten haben dazu mit großem Einsatz beigetragen, oft bis zur Grenze des Zumutbaren und darüber hinaus. Nicht verschwiegen werden soll auch, dass im Laufe der krisenhaften Zuspitzung manche freien, nicht kirchlichen Initiativen sich als überaus flexibel und effizient erwiesen haben und immer noch erweisen. Als die ersten Sonderzüge im Sommer 2015 Richtung Dortmund rollten, organisierten nicht Kirchen und Wohlfahrtsverbände, sondern engagierte Aktivist_innen binnen Stunden über die sozialen Netzwerke ein beeindruckendes Hilfsangebot für die Ankommenden. So schnell sind wir dann meist nicht … Ein Knoten im Netz neben vielen anderen – nicht mehr und nicht weniger war und ist die Flüchtlingsarbeit des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund. Bei allem, was geleistet wird, steht uns Bescheidenheit gut zu Gesicht. Dennoch zieht sich eine Erfahrung durch: Wo immer Kirchengemeinden, Diakonie oder gemeinsame Dienste sich den Geflüchteten zuwenden – ihnen Aufnahme geben, sie schützen, beraten, begleiten, versorgen, weiterbilden, ihnen offen begegnen –,

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verändert das das eigene Denken, das Selbstverständnis und die Perspektive. Für jene Kirchengemeinden, die sich der Herausforderung der letzten zwei Jahre besonders aufgeschlossen und intensiv gestellt haben, ging das Engagement für Flüchtlinge einher mit einer Wiederentdeckung des Diakonischen. Gerade darin aber erschloss sich ein großes, vielleicht unerwartetes Potenzial – ein Pfingstgeschehen eigener Art. Plötzlich waren da neue, zahlreiche und andere Menschen aktiv, saßen da Menschen im Gottesdienst, die sonst allenfalls Gegenstand der Fürbitte waren, war da Bewegung, wo vorher Stillstand einzukehren schien. Es wäre klug, daraus etwas zu lernen.

Martin Hamburger

Kultur des Zusammenwirkens im Quartier – das Beispiel der Oase in Wuppertal

Das komplexe multikulturelle Miteinander und der vermehrte Zuzug von Flüchtlingen 2015 erfordern eine Kultur des Zusammenwirkens unterschiedlicher Organisationen, Initiativen und Personen. Am Beispiel der Oase in Wuppertal wird im Folgenden gezeigt, wie sich Christinnen und Christen gemeinsam mit dem Diakonischen Werk im Quartier erfolgreich engagieren. 1

Zur Entstehung der Oase

In den 1970er Jahren wurden von einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft im Uellendahl in Wuppertal drei Hochhäuser als Sozialwohnungen gebaut; sie bieten Platz für 750 Menschen. Als Ende der 1990er Jahre verstärkt Migranten und Migrantinnen aus Osteuropa und dem Balkan dort einzogen und auf lang ortsansässige Bewohner_innen trafen, traten vermehrt Konflikte auf. Zudem wurde Vandalismus zu einem immer größeren Problem in und um die nah beieinander stehenden Gebäude. 21 Nationen mit unterschiedlichen Lebensgewohnheiten auf engstem Raum, das sorgte für Spannungen. Die Wohnungsbaugesellschaft trat an die Diakonie Wuppertal heran mit der Bitte um sozialarbeiterische Unterstützung. In Wuppertal-Vohwinkel hatten wir gute Ergebnisse bei Veränderungsprozessen in schwierigen Wohnquartieren erzielt; unsere Gemeinwesenarbeit war in der Stadt anerkannt. Bei der Bewältigung der Aufgabe am Uellendahl kam uns die bewährte Zusammenarbeit mit der örtlichen evangelischen Kirchengemeinde zugute, die sehr im Sozialraum engagiert ist. Wir arbeiteten zu dem Zeitpunkt bereits an ihrem, aus den Niederlanden stammenden, Projekt „Menschenhaus“ mit: Anstelle des traditionellen Gemeindehauses für Insider hatte die Kirchengemeinde ihre Räume allen Menschen des Quartiers für unterschiedliche Aktivitäten geöffnet. Auch die drei Hochhäuser waren längst im Blick: Auf das ehrenamtliche gemeindliche Engagement konnten wir bauen.

Kultur des Zusammenwirkens im Quartier

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Schnell wurde klar, es bedarf eigener Räumlichkeiten zwischen den Hochhäusern, um Programme für Kinder und Erwachsene anzubieten und die Selbstorganisation der Menschen zu fördern. Die Oase entstand, zunächst in einem großen Container, später, ab 2002, in einem festen Gebäude mit Versammlungsraum und Spielstube für die Kleinen, einem Büro für die Mieterberatung der Wohnungsbaugesellschaft, mit Besprechungsraum und einer Küche für gemeinsames, länderspezifisches Kochen. Das Selbsthilfeprogramm „Pflege des Wohnumfeldes“ wurde konzipiert, da keinem der Bewohnerinnen und Bewohner die Vermüllung der Gemeinflächen in und um die Hochhäuser gefiel. Zudem wurden die Gebäude saniert. Ein von Bewohner_innen in Eigenregie betriebener Kiosk wurde initiiert. Das rein betriebswirtschaftlich formulierte Fazit der Wohnungsbaugesellschaft betrachteten wir als großes Kompliment: „Wir geben lieber im Jahr 60.000 Euro für einen Sozialarbeiter als 120.000 Euro für die Beseitigung der Vandalismus-Schäden aus.“ 2

Ankunft neuer Flüchtlinge im Quartier: Eine Befriedung gelingt mit Familienpaten

Seit im Jahre 2014 die ersten syrischen Flüchtlinge in den Hochhäusern am Uellendahl untergebracht wurden, entstanden neue Herausforderungen: Eine neue Bevölkerungsgruppe war angekommen, die ihren Platz in der zwischenzeitlich etablierten Mietergemeinschaft finden musste. Schnell gerieten wir mit den auf die anderen Bewohnerinnen und Bewohner zugeschnittenen Programmen in der Oase an unsere Grenzen, zumal in den Hochhäusern die Zahl der Flüchtlinge, besonders aus Syrien, rasch anstieg und man ihnen von Seiten der „etablierten Bewohner_innen“ feindselig begegnete. Die Flüchtlinge selbst hatten während ihrer Odyssee ebenfalls gelernt, dass man die Ellenbogen einsetzen muss, sonst wären sie nicht in Deutschland angekommen. Eine Vikarin der Kirchengemeinde suchte wegen der Flüchtlinge schon im April 2014 den Kontakt zu uns: Wir seien durch die Arbeit der Oase nahe an den Menschen, die evangelische Gemeinde wolle sich ehrenamtlich engagieren. Die Arbeitsgemeinschaft „Willkommen“ wurde gegründet, und gemeinsam überlegten wir, wie sich unsere Zusammenarbeit gestalten könne. Die Diakonie brachte vor allem Beratung, Kontakte zu den Behörden und sozialarbeiterische Begleitung der Flüchtlinge ein. Die Kirchengemeinde baute ein Projekt von Paten und Patinnen auf Zeit auf, bei dem sich ein oder zwei Ehrenamtler_innen um einzelne Flüchtlinge beziehungsweise Familien kümmern. Derzeit arbeiten 26 Frauen und Männer aus der Kirchengemeinde ehrenamtlich in diesem Projekt mit. Sprachkurse wur-

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M. Hamburger

den eingerichtet und parallel Kinderbetreuung, damit die Eltern konzentriert lernen können. Die Aufgaben der Familienpat_innen dürfen aber nicht idealisiert oder überstrapaziert werden. Es bedarf der Unterstützung professioneller Sozialarbeit, um manches Verhalten der Flüchtlinge, die nicht immer nur dankbar sind, zu verstehen und zu bewältigen. Doch es gelingt. Das Projekt Familienpaten ist der Schlüssel zur Integration in diesem Quartier. Viele Geflüchtete wohnen mittlerweile nicht mehr in den Hochhäusern, sondern in Wohnungen der Umgebung; auch hier halfen die Kontakte der Kirchengemeinde. 3

Netzwerkerweiterung: Die Oase, Angebote und das ehrenamtliche Engagement wachsen

Der Stand unserer Arbeit in der Oase lässt sich im Sommer 2016 so zusammenfassen: Ziel unserer Arbeit ist es, die Lebensbedingungen der Menschen des Quartiers zu verbessern. Menschen sollen aktiviert und befähigt werden, sich selbst zu helfen. Ort unserer Arbeit ist das gesamte Viertel, Straßen, Hausflure, Wohnungen und natürlich der Bewohnertreff Oase. Dieser hat eine Öffnungszeit von circa 50 Stunden pro Woche. Viele Angebote laufen unter Selbstverwaltung der Bewohnerinnen und Bewohner, auch Jugendliche stehen hier in der Verantwortung. Im Quartier leben Menschen aus 22 verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen Religionen dicht gedrängt in drei Hochhäusern. Menschliches Zusammenleben ist komprimiert auf acht Etagen. Von den ca. 750 Bewohner_innen in der Siedlung sind derzeit 250 Kinder und Jugendliche. Fast alle Menschen leben von ALG II (Hartz IV) oder anderen Transferleistungen. Darüber hinaus sind seit zwei Jahren 20 Übergangswohnungen für Flüchtlinge im Quartier geschaffen worden. Hier finden Menschen unter anderem aus den Krisengebieten Syriens, Irak, Iran, Eritrea Unterkunft. Da die Menschen sich im Quartier wohlfühlen, verbleiben viele Familien im Viertel und beziehen feste, regulär gemietete Wohnungen in der Umgebung. Die Anzahl dieser Bewohnerinnen und Bewohner liegt mittlerweile bei über 200. Im Rahmen des Zuzugs der geflüchteten Menschen hat sich eine Vielzahl von speziellen Angeboten im Bewohnertreff etabliert, zum Beispiel: – Spielgruppen für Kinder und Jugendliche, – Beratungsangebote in Arabisch, – Frauengruppen, – Kochkurse, – Sprachkurse mit Kinderbetreuung, – Familienpatenprojekt, – Begleitung zum Beispiel bei Ämtergängen.

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Viele dieser Aktivitäten werden von Ehrenamtlichen getragen. Darüber hinaus bestehen auch Angebote für die „Stammbewohner_innen“ der Siedlung. Neben einer Hausaufgaben- beziehungsweise Nachhilfegruppe und vielen pädagogischen Programmen für Kinder und Jugendliche organisieren engagierte Mieter_innen Bewohnersprechstunden und Veranstaltungen im Quartier. Mietergruppen treffen sich selbstständig. Es sind Angebote wie der internationale Kochclub oder das Bewohnercafé entstanden. Die Polizei ist wöchentlich mit einer Sprechstunde vor Ort und hat eine Sicherheitspartnerschaft mit den Vertreter_innen des Wohngebietes geschlossen. Die Diakonie führt allgemeine Sozialberatungssprechstunden durch und vermittelt bei Bedarf an spezialisierte Beratungseinrichtungen außerhalb des Wohngebietes. In der von den Bewohner_innen gewählten Mietervertretung engagieren sich viele zur Verbesserung der Wohnqualität. Eine Gartenlaube zum Feiern rundet das Angebot für den Stadtteil ab. In den letzten Jahren hat sich der Bewohnertreff Oase für die Schaffung von Spielplätzen im Quartier stark gemacht. Ergebnis sind zwei neue Spielbereiche für Kinder. Drei Viertel der Mitarbeitenden im Bewohnertreff stammen aus dem Quartier und engagieren sich in verschiedenen Bereichen. Auch die Wohnumfeldpflege und die Gartenarbeiten werden von Bewohner_innen durchgeführt. Für alle diese vielfältigen Aktivitäten im Wohnquartier bildet der Bewohnertreff Oase die verbindende Klammer. 4

Höhere Anforderungen an die Netzwerkarbeit – gelingendes Miteinander von Hauptamt und Ehrenamt

Eine neue Qualität unserer Arbeit für die Integration von Migrantinnen und Migranten in Wuppertal bildete sich durch die große Zahl der Flüchtlinge seit Sommer 2015. In diesem Jahr kamen insgesamt circa 9.500 Zuwanderer, 4.500 Flüchtlinge und 4.000 Menschen aus der EU und anderen europäischen Ländern nach Wuppertal. Nicht nur die öffentlichen Systeme von Bund, Land und Kommune sind an ihre Grenzen gekommen; es ist auch eine Bewährungsprobe für das diakonische Engagement der Evangelischen Kirche. In mehreren Stadtteilen Wuppertals bildeten sich unter maßgeblicher Beteiligung der evangelischen Kirchengemeinden „Willkommensinitiativen“ mit hohem ehrenamtlichen Engagement: von der rasch in einer leer stehenden Industriehalle eingerichteten Kleiderkammer über persönliche Kontakte zwischen Familien bis hin zu ad hoc initiierten Sprachkursen und Spielangeboten für Kinder. Die Stadt Wuppertal war in der

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M. Hamburger

glücklichen Lage, rasch Wohnraum in abgeschlossenen Wohnungen anbieten zu können; große Sammelunterkünfte wurden nur für die vom Land NRW finanzierten Notaufnahmestellen eingerichtet. Die Diakonie Wuppertal übernahm so im September 2015 mit einer Vorlaufzeit von drei Tagen die Begleitung und Versorgung von bis zu 300 Flüchtlingen in einer solchen Unterkunft im Stadtteil Cronenberg, zunächst in der Turnhalle des örtlichen Schulzentrums, nach den Herbstferien dann in einem leer stehenden Fabrikgebäude. Die entsprechende stadtteilbezogene Initiative „Willkommen in Cronenberg“ klinkte sich in die Betreuung der Menschen mit ein. Anfang 2016 konnte diese, wie auch die drei anderen Notunterkünfte in unserer Stadt, wieder geschlossen werden, da kaum noch Flüchtlinge zu uns kamen. Bereits in diesen wenigen Monaten hat sich die Zusammenarbeit zwischen Ehrenamt und Hauptamt bewährt: Einerseits wäre der plötzliche Bedarf an Unterstützung mit öffentlichen Mitteln und Ressourcen gar nicht zu bewältigen gewesen, andererseits mussten auch die teilweise überbordenden Erwartungen der Ehrenamtlichen und wenig später die Enttäuschung, als keine Flüchtlinge mehr nachkamen, aufgefangen und in konstruktive Bahnen gelenkt werden. 5

Fazit: Netzwerke im Quartier helfen, ein komplexes Miteinander lebenswert zu gestalten

5.1 Angesichts der aktuellen politischen Diskussion um Subsidiarität in Deutschland hat das zweite Halbjahr 2015 gezeigt: Auf die Kirchen ist Verlass; ehren- wie hauptamtliche Christinnen und Christen trugen maßgeblich dazu bei, dass es bei uns zu keinen Ausschreitungen kam und der einzelne Mensch mit seinem Schicksal im Blick blieb. 5.2 Integration kann nur kleinteilig und kleinschrittig gelingen. Alle Akteure in einem Quartier müssen zusammenarbeiten. Die Politik ist gefordert, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass nicht nur auf Bundes- und Landesebene der starke Zuzug von Zuwanderern, sowohl von Flüchtlingen als auch von EU-Bürger_innen aus Ost- und Südosteuropa, bewältigt werden kann. Integration muss vor Ort gelingen. 5.3 Dazu sind Netzwerke wie das beschriebene Projekt Oase zwischen Kirchengemeinde und örtlichem Diakonischen Werk in Verbindung mit anderen Akteuren in den Quartieren und den öffentlichen Stellen unabdingbar.

Heike Spielmann

Die Bedeutung von Netzwerkarbeit in der Hilfe für geflüchtete Menschen

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Einleitung

Netzwerkarbeit hat in den vergangenen Jahren als Begriff und Methode in Feldern der sozialen Arbeit besonders im Zusammenhang der Sozialraum- und Ressourcenorientierung hohe Relevanz gewonnen. Der Grundgedanke ist nicht neu. Soziale Arbeit vollzieht sich stets in sozialen Kontexten und bedarf der Vernetzung mit anderen: Personen, Institutionen und Organisationen. Relativ neu ist indes die systematische Konzeptionierung und methodische Ausgestaltung der Netzwerkarbeit. Angesichts einer komplexer werdenden Wirklichkeit mit einer ständigen Vermehrung von relevanten Akteuren in der sozialen Arbeit bietet eine methodische reflektierte Netzwerkarbeit einen besonders hilfreichen Zugang zur Gestaltung von multidimensionalen Fragestellungen. Die Situation geflüchteter Menschen stellt eine spezifische Herausforderung für den lokalen Umgang mit multidimensionalen Fragen dar. Denn diese Situation hat neben der örtlichen und überörtlichen Ebene auch eine europäische und eine globale Dimension. In den Jahren 2013 bis 2015 ist laut Statistik des UNHCR (Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlingsfragen) die Zahl der geflüchteten Menschen weltweit von 51,2 Millionen 2013 auf 65,3 Millionen Menschen 2015 gestiegen. Diese Entwicklung ist die Folge regionaler Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzungen wie beispielsweise in Syrien, Irak, Afghanistan und Zentralafrika. Die globale Perspektive spiegelt sich wider in gestiegenen Flüchtlingszahlen in Deutschland: Stellten 2013 über 127.00 Menschen Erstanträge auf Asyl, stieg diese Zahl 2014 auf beinahe 203.000 und 2015 auf 476.649 registrierte Erstanträge auf Asyl. Die genaue Zahl der 2015 in Deutschland eingereisten und durchgereisten Flüchtlinge kann nur geschätzt werden. Im Jahr 2015 konnte niemand in diesem Land mehr daran vorbeisehen, dass Deutschland von weltweiten Entwick-

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H. Spielmann

lungen konkret beeinflusst wird. Die globalen Fehlentwicklungen, die wir in den Medien aus weiter Ferne betrachtet hatten, bekamen ein „Gesicht“ in den vielen erschöpften Menschen, die in unseren Kommunen eintrafen. Die Städte und Landkreise auch im Einzugsgebiet der Diakonie MarkRuhr mussten mit Zuzugszahlen umgehen, wie sie zuletzt in den Jahren des Balkankonfliktes an der Tagesordnung waren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zuwanderungsberatung wurden im Verlauf dieser sich zuspitzenden „Krise“ oder „Herausforderung“ zu ständig geforderten Gesprächspartner_innen für Verwaltung, Politik, Medien, ehrenamtliche und hauptamtliche Helfer_innen. Die langjährige Erfahrung und die Kontinuität in der Flüchtlingsarbeit – unabhängig vom öffentlichen Interesse daran – qualifizierten die Einrichtung dazu, in allen relevanten Fragen angesprochen zu werden. Dies forderte – bis hin zur Überforderung. Deshalb war es wichtig, an der Gestaltung von Netzwerken federführend mitzuwirken, denn es war klar, dass es sich bei dieser „Herausforderung“ nicht um eine „Kurzstreckendistanz“, sondern vielmehr einen „Marathon“ handelte, der tragfähige Bündnisse, Netzwerke und Allianzen erfordert, um dem Ziel einer integrierenden Gesellschaft möglichst nahe zu kommen. Welche Grundgedanken uns dabei leiteten, was wir für wichtig bei Netzwerkarbeit halten und welche Erfahrungen wir dabei machten, ist Gegenstand dieses Beitrags. 2

Diakonie Mark-Ruhr

Die Diakonie Mark-Ruhr ist als regionales Diakonisches Werk verortet in den Kirchenkreisen Hagen, Hattingen-Witten, Iserlohn und Schwelm. Die Zuwanderungsberatung der Diakonie Mark-Ruhr ist zentral tätig in der Stadt Hagen und darüber hinaus mit Angeboten in den Kirchenkreisen Schwelm und Hattingen-Witten präsent. Ein multiprofessionelles Team ist tätig in diversen Beratungsangeboten: Migrationsberatung für Erwachsene, Integrationsagenturen, Regionale Flüchtlingsberatung, Psychosoziales Zentrum zur psychosozialen / gesundheitlichen Versorgung für Flüchtlinge und Folteropfer, Betreuung in städtischen Unterkünften für Flüchtlinge, Integrationskurse, Netzwerke zur Arbeitsmarktintegration von Asylbewerber_innen und Flüchtlingen, Schulungen zu den Themen Interkulturelle Kommunikation und Diversity. Seit vielen Jahren arbeiten wir intensiv mit engagierten Freiwilligen zusammen, die sich für Flüchtlinge einsetzen.

Die Bedeutung von Netzwerkarbeit

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Durch die jahrelange Erfahrung in der Migrationsarbeit und die Präsenz in Gremien, Arbeitskreisen und Ausschüssen ist die Zuwanderungsberatung insbesondere in der Stadt Hagen intensiv vernetzt. Aus der Vielfalt der Arbeitsgebiete resultiert eine hohe Themenvielfalt und aus der kontinuierlichen Erfahrung speziell in der Beratung von geflüchteten Menschen in psychosozialen und rechtlichen Fragestellungen ein konzentriertes Fachwissen. Dies macht die Zuwanderungsberatung und ihre Mitarbeiter_innen zu gesuchten Gesprächsund Netzwerkpartner_innen. 3

Netzwerkstrukturen

Es gibt Netzwerke, die klar strukturiert und geleitet sind und deren Informationsfluss systematisch organisiert ist. Solche klaren Strukturen finden sich in der sozialen Arbeit häufig in Projekten, bei denen die Netzwerkpartner durch gemeinsame Mittelbeantragung, gegenseitige vertragliche Verpflichtungen und vorgeschriebenes Berichtswesen gegenüber Mittelgebern eng aneinander gebunden sind. Hier sind Verantwortlichkeiten im besten Fall klar beschrieben und können wechselseitig eingefordert werden. Die Netzwerke von Engagierten in der Hilfe für geflüchtete Menschen, oft „runde Tische“ genannt, die sich im vergangenen Jahr unter dem Eindruck des großen Flüchtlingszuzugs allerorten bildeten, wiesen einen solch hohen Organisationsgrad zu Beginn selbstverständlich nicht auf. Doch neben dieser vermeintlichen Schwäche zeichnet ihre Organisationsform Folgendes aus: eine offene, nicht hierarchische Struktur, bei der viele unterschiedlich starke und dennoch gleichgestellte Organisationen / Personen an einem Tisch sitzen, die gemeinsam Verantwortung für Themen und Aufgaben übernehmen; Offenheit für neue und wechselnde Akteure; wenig starre Formen der Koordination und Kooperation, die je nach Situation neu angepasst werden können. Dies bedingt einen sehr hohen Rede- und Abstimmungsbedarf und strengt die Beteiligten auf Dauer nicht unerheblich an. Dennoch führt an der Abstimmung kein Weg vorbei, da es eben – zumindest zunächst – keine klare Hierarchie gibt. Die Aushandlungsprozesse brauchen viel Zeit. Was sind wichtige Erfolgsfaktoren für das Gelingen von Netzwerkarbeit? – gemeinsame(s) Ziel(e) – wechselseitiges Vertrauen – das Gemeinsame suchen und die Vielfalt / Unterschiedlichkeit schätzen

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– den Perspektivwechsel einüben und pflegen, – regelmäßige Kommunikation und Kontaktpflege untereinander, – Kooperation pflegen trotz Konkurrenzsituationen, – Win-win-Situationen herstellen, – gemeinsam Organisationsstrukturen entwickeln. Innerhalb der oben beschriebenen Netzwerke gibt es stets Schlüsselpersonen, d.h. zentrale Figuren, bei denen viele Informationen zusammenfließen. Idealerweise können sie die Teile zu einem Ganzen verbinden helfen, und häufig kommt ihnen auch die Moderator_innenrolle zu. In einem Netzwerk sind einerseits starke Verbindungen zwischen einzelnen Mitgliedern zu beobachten, sie zeichnen sich durch großes Verständnis füreinander und gleiche Überzeugungen aus. Diese „Verbündeten“ haben wechselseitig eine hohe Unterstützungsbereitschaft für die jeweiligen Argumente und Interessen des „Bündnispartners“. Wenn solche „starken Bande“ in einem Netzwerk überhand nehmen, kann dies zu Monotonie und Gleichförmigkeit führen. Der wechselseitige Inspirations- und Innovationsgrad nimmt ab. Andererseits gibt es aber auch schwache Verbindungen innerhalb des Netzwerkes, d.h., Personen oder Vertreter_innen von Organisationen sind zwar gemeinsam in einem Netzwerk unterwegs, doch ihr Verbindungsgrad ist eher gering und zufällig. Gerade solche Konstellationen bergen jedoch die Möglichkeiten neuer wechselseitiger Informationen und Lernchancen. Wünschenswert wäre eine Ausgewogenheit zwischen zuverlässigen Verbindungen und inspirierenden neuen Ergänzungen rund um ein gemeinsam zu erreichendes Ziel. 4

Praktische Gesichtspunkte

Die analytische Sicht auf Netzwerke hat mir geholfen, die Zähigkeit des Aushandelns in solch flachen Strukturen wie den zahlreichen „runden Tischen“ nicht nur zu „erleiden“, sondern auch als Chance zu erkennen, dass möglichst viele mit diskutieren und zu Lösungen beitragen wollen. Schlüsselpersonen in Netzwerken Häufig sind die Mitarbeiter_innen der Zuwanderungsberatung in den Netzwerken und „runden Tischen“ Schlüsselpersonen auf Grund ihrer Erfahrung, ihrer Expertise und des Zuganges zu den geflüchteten Menschen. Es ist wichtig, sich über diese Rolle klar zu sein und sie soweit auszufüllen, wie es möglich und sinnvoll für das gemeinsame Ziel und die geflüchteten Menschen ist. Dies kann jedoch zu Über-

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forderungen führen. Mögliche Gegenstrategien sind folgende: die Verteilung solcher Positionen in der eigenen Organisation auf mehrere Schultern anstreben; neue und alte Bündnispartner_innen aktivieren; die eigenen Informationen teilen, um andere Netzwerkpartner zu stärken und anschließend entlastet zu werden; für eine gute Kommunikations- und wechselseitige Informationsstruktur sorgen. Nicht zuletzt galt es, sorgfältig zu entscheiden, an wie vielen „runden Tischen“ ich tatsächlich teilnehmen sollte, und eine Prioritätenliste der Teilnahme zu erstellen und diese auch zu befolgen. Kooperation trotz Konkurrenz Trotz Konkurrenz z.B. der Wohlfahrtsverbände untereinander ist es sinnvoll, auf das Gemeinsame zu schauen, die Verbindungen untereinander zu stärken und somit komplexe Aufgaben wie die Initiierung einer Willkommenskultur für geflüchtete Menschen in einer Stadt gemeinsam zu schultern. Dies erlebten wir besonders intensiv in der Untergruppe „Ehrenamtliches Engagement“ des städtischen „runden Tisches“, in der unter Federführung der Freiwilligenzentrale viele gute gemeinsame Aktionen gelangen. Miteinander haben wir unter Zurückstellung von Konkurrenz wesentlich mehr bewältigt, als es jede einzelne Organisation vermocht hätte. Dies waren klassische Win-win-Situationen. Verbindungen innerhalb der Netzwerke Große Lernchancen ergaben sich besonders in der Zusammenarbeit mit Personen und Organisationen, zu denen vorher nur „schwache“ Verbindungen oder weniger Begegnungsflächen bestanden, wie beispielsweise in Stadtteilen mit in Windeseile installierten Flüchtlingsunterkünften. Hier führte das gemeinsame Ziel, die Situation für die bisherige Wohnbevölkerung und die geflüchteten Neuankömmlinge gemeinsam zum Guten zu gestalten, zu ganz neuen unerwarteten Begegnungen und Allianzen beispielsweise mit Vertreter_innen verschiedener politischer Parteien, die sich ungeachtet differierender politischer Überzeugungen zum Wohle anderer aufeinander einlassen und miteinander anpacken konnten. Wirksamkeit bewährter Verbindungen und neue Bündnispartner_innen Hier sind die ausgesprochen positiven ökumenischen Allianzen zu nennen. Katholische, evangelisch-landeskirchliche und evangelisch-freikirchliche Gemeinden leisteten und leisten gemeinsam sehr wichtige

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Vernetzungsarbeit zugunsten der geflüchteten Menschen in ihrer Nachbarschaft und für den Frieden in ihrem Wohnquartier. Die Kirchen werden dabei als Vermittler besonders geschätzt, und ihre unmissverständliche fremdenfreundliche Haltung – ohne Schwierigkeiten zu verschweigen – fand Gehör, wurde respektiert und wirkte häufig entkrampfend und verändernd. Für die Zuwanderungsberatung waren die starken bewährten Verbindungen, die wir zu vielen Gemeinden unabhängig von der Konfession schon hatten, in der herausfordernden Situation von hohem Wert und erwiesen sich als tragfähig. Zugleich lernten wir auf dem Weg neue Bündnispartner kennen. So konnten wir zum Beispiel ein erfolgreiches Kirchenasyl gemeinsam mit einer Freien Gemeinde durchführen, die von der benachbarten Reformierten Kirchengemeinde unterstützt wurde. Eine inspirierende Zusammenarbeit entwickelte sich zu Vertreter_innen von Gewerkschaften in Netzwerken, weil sie die Frage nach Gerechtigkeit zwischen zugewanderten und angestammten Bürger_innen in den Fokus nahmen. Sie haben den Ängsten von Arbeitnehmern und Arbeitslosen in der Aufnahmegesellschaft eine differenzierte Stimme gegeben. Sie haben dabei die globale wirtschaftliche Perspektive nicht verschwiegen und dennoch die menschenfreundliche Begegnung für geflüchtete und beheimatete Menschen vor Ort aktiv mitgestaltet. In diesen neuen Beziehungen war es wichtig, durch eine sorgfältige Kommunikation auf Augenhöhe wechselseitiges Vertrauen aufzubauen, um in der gemeinsamen Netzwerkarbeit erfolgreich sein zu können. Dazu wurde einerseits in einem von Kirchen und Gewerkschaften gestalteten Bündnis für eine sozial gerechte Stadt mit vielen verschiedenen Gesprächspartnern an einem Tisch diskutiert und versucht, Ideen für gelingendes gerechtes Zusammenleben zu entwickeln. Andererseits gab es gemeinsame Stadtrundfahrten von Gewerkschaft und Diakonie für die „Neubürger“, in denen die Diakonie den Kontakt zu den geflüchteten Menschen und kompetenten muttersprachlichen Sprachmittler_innen herstellte. Die Gewerkschafter_innen übernahmen die Stadtführung, die den Zugewanderten einen Eindruck ihrer neuen Wohnumgebung vermittelte, indem sie auch an solche Orte wie das städtische Bürgeramt, das Straßenbahndepot oder die Müllverbrennung führte. In einer weiteren Aktion kamen Gewerkschaftsfrauen zum Weltfrauentag mit Rosen und Keksen in unsere Beratungsstelle und in Flüchtlingsunterkünfte, um auf die universellen Rechte von Frauen aufmerksam zu machen und ein Zeichen der gemeinsamen Solidarität zu setzen. Diese Aktionen waren möglich, weil beide Seiten sich für neue Allianzen in der Netzwerkarbeit geöffnet hatten.

Die Bedeutung von Netzwerkarbeit

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Fazit

Netzwerkarbeit ist unerlässlich und lohnt sich, auch wenn sie großen Einsatz, intensive Reflexion und manchmal die Zurückstellung eigener Interessen und das Teilen von Ressourcen und Informationen erfordert. Neue Kooperationsbeziehungen engagierter Menschen und Allianzen unterschiedlicher Gruppen und Organisationen können entstehen und Gestalt gewinnen. Durch Netzwerkarbeit lassen sich z.T. unerwartete Bündnispartner_innen für die Arbeit mit Geflüchteten finden.

5 Lebensphasen

Eva Breitenbach

Kitas als heilsame Orte Pädagogische Arbeit mit traumatisierten Kindern

Der angemessene pädagogische Umgang mit traumatisierten Kindern unterscheidet sich nicht grundlegend vom pädagogischen Umgang mit allen Kindern. Traumapädagogik in Institutionen wie der Kita ist vor allem pädagogische Alltagsarbeit. Sie findet nicht außerhalb des pädagogischen Alltags statt und sie umfasst diejenigen Bereiche, die für die frühpädagogische Arbeit insgesamt zentral sind, nämlich Beziehungen, Spiel, Raum, Zeit, den Alltag mit seinen Routinen und seiner Intimität und die gezielte Förderung (z.B. Resilienzförderung). Im folgenden Beitrag möchte ich ein zentrales Feld der Frühpädagogik als traumapädagogisches Instrument stark machen – und zwar das Spiel und, in engem Zusammenhang damit, den Umgang mit Raum und Zeit. Traumatische Erfahrungen werden oft als außergewöhnlich, als außerhalb der gemeinsam geteilten Realität stehend, beschrieben. Eine traumatische Erfahrung ist nicht deshalb außergewöhnlich, weil sie selten vorkommt, sondern weil sie die Bewältigungsmöglichkeiten von Menschen übersteigt. „Das Trauma entsteht in dem Augenblick, wo das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastrophe. Üben andere Menschen diese Macht aus, sprechen wir von Gewalttaten.“1 Traumatische Erfahrungen, auch chronische Traumata, gehören für sehr viele Menschen zu ihrem Alltag. Das gilt auch für Kinder, die eine verwundbare Gruppe darstellen. Nicht alle Kinder, die geflüchtet sind, sind traumatisiert. Und nicht alle einheimischen Kinder sind nicht traumatisiert. Auch vor der aktuellen Zuwanderung von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten waren 1

Herman, Die Narben der Gewalt, 53.

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traumatisierte Kinder – mit und ohne Migrationshintergrund – in den Kindergruppen der Kitas. Wenn ich mich im Folgenden auf Ausführungen über Traumatisierung und Traumapädagogik beschränke und betone, dass es sich hier nicht nur um ein pädagogisches Konzept für geflüchtete und traumatisierte Kinder handelt, möchte ich damit natürlich nicht sagen, dass die Arbeit mit geflüchteten zugewanderten Kindern nicht ihre Besonderheiten hat, auch ihre besonderen Herausforderungen.2 Als erstes ist die Sprache zu nennen, vielmehr der Mangel an einer gemeinsamen Sprache. Als zweites die oft unsichere und belastete Situation der Kinder und ihrer Familien hier im Aufnahmeland. Schließlich wissen wir oft wenig über den Herkunftskontext der Kinder und ihrer Familien, und diese wissen oft wenig über den Aufnahmekontext.3 1

(Chronische) Traumatisierung von Kindern

Eine traumatische Erfahrung, definiert als ein „belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“,4 verändert die Wirklichkeit eines Menschen grundlegend. Sie zerstört das Fundament eines guten Lebens, nämlich die erlebbare Vorstellung von der Welt als einem hinreichend sicheren Ort mit hinreichenden Möglichkeiten, zu überleben, zu leben und die Idee einer sinnvollen persönlichen und sozialen Zukunft zu entwickeln. Eine traumatische Erfahrung isoliert das Opfer und löst seine Verbindungen zur gemeinsam geteilten Realität teilweise oder vollständig auf. Opfer traumatischer Erfahrungen sind alleine in einer unwirtlichen Welt, in der Mitmenschen tendenziell bedrohlich sind. Der Zugang zu dieser unwirtlichen Welt ist nicht einfach zu finden. Ihn zu finden und gleichzeitig Kindern Wege in eine freundlichere Welt zu bahnen, ihre Bündnispartner_innen zu sein, ist eine zentrale Aufgabe für alle, die mit traumatisierten Kindern arbeiten. Ich gehe hier nicht weiter auf einmalige traumatische Erfahrungen ein, sondern beschränke mich auf eine Skizze chronischer Traumatisierung. Die Auswirkungen chronischer Traumatisierung sind in der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) beschrie2 3 4

Siehe dazu den Beitrag von Cinur Ghaderi in diesem Band. Vgl. Robert Bosch Stiftung, Was wir über Flüchtlinge (nicht) wissen. Wagner, Die Posttraumatische Belastungsstörung, 183.

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ben. Die betroffene Person lebt unter traumatisierenden Lebensumständen, mit wiederholten traumatisierenden Erfahrungen.5 Die Besonderheit bei (kleinen) Kindern ist, dass traumatische Erfahrungen auf einen sich entwickelnden Menschen treffen. Lebensverhältnisse, die bei Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit chronische Traumatisierungen hervorrufen, können sein: unzureichende Grundversorgung, Flucht, Krieg und Terror, Vernachlässigung, physische und psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch, Zeugenschaft von Gewalt. Im Folgenden werden zwei Dimensionen dargestellt, die als Folgen traumatisierender kindlicher Lebensverhältnisse gelten können: erstens die Störungen der kindlichen Entwicklung und zweitens Probleme der (Selbst)Regulation. Eine dritte Folge, die Anpassung an die traumatisierenden Lebensumstände, wird hier ausgespart. 1.1

Kindliche Entwicklung

Eine Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung bilden eine angemessene Versorgung, eine hinreichend sichere Umgebung, ein Minimum an Kontinuität und Vorhersehbarkeit. Kinder entwickeln sich wesentlich in der Beziehung zu ihren Mitmenschen, insbesondere zu ihren engen Bezugspersonen. Aus der Interaktion, aus den Reaktionen auf seine Äußerungen, bildet das Kind eine Vorstellung von sich selbst, von der umgebenden Welt und dem eigenen Platz darin. In Anlehnung an die Entwicklungstheorie Erik Eriksons6 lässt sich sagen, dass im Falle chronischer Traumatisierung Entwicklungsstufen nicht gegangen werden können bzw. dass bereits erreichte Entwicklungen rückgängig gemacht werden (Regression). Wenn ein Kind gedeihlich aufwächst, kann es Urvertrauen entwickeln. Traumatisierungen zerstören das Urvertrauen bzw. verhindern, dass es sich entwickelt. Die Welt kann nicht als hinreichend sicherer und freundlicher Ort betrachtet werden. Das Kind entwickelt kein Gefühl für sein Recht, in der Welt zu sein und geschützt zu werden. Traumatisierungen verhindern die Entwicklung von Autonomie und eigenen Grenzen. Die Nähe anderer Menschen kann dann entweder bedrohlich werden oder umgekehrt ständige Nähe notwendig sein. 5

Vgl. Herman, Die Narben der Gewalt; Sachsse/Sack, Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung. 6 Vgl. Erikson, Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit.

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E. Breitenbach

Möglicherweise ist die Grenze zwischen der eigenen Person und der Umwelt / den anderen Personen unklar oder aufgelöst.7 An die Stelle von Selbstwertgefühl treten Zweifel, Scham und Schuldgefühle. Schließlich verhindern traumatische Erfahrungen die Entwicklung von Initiative und (vom Bewusstsein eigener) Fähigkeiten und Möglichkeiten. Das Kind kann sich nicht offen, neugierig und selbstbewusst den Dingen der Welt zuwenden, sich mit ihnen auseinandersetzen und sie gestalten. Es kann keine Selbstwirksamkeit entwickeln. Wenn man Bildung als eine Selbsttätigkeit des Subjekts ansieht, kann man im Ergebnis sagen, dass die kindliche Bildsamkeit grundlegend beschädigt wird. 1.2

(Selbst)Regulation

Eine chronische Traumatisierung bewirkt bei einem Kind „einen Zusammenbruch seiner Fähigkeit, das Geschehende zu verarbeiten, zu integrieren und zu kategorisieren: Im Zentrum des traumatischen Stresses steht der Zusammenbruch der Fähigkeit, innere Zustände zu regulieren.“8 Betroffene Kinder haben Schwierigkeiten, innere Zustände (Emotionen und Kognitionen) wahrzunehmen, zu spüren, zu erkennen oder zu definieren und schließlich angemessen mit ihnen umzugehen. Van der Kolk beschreibt solche Kinder als „innerlich ausgeklinkte, dissoziierte und übererregte Kinder“9. Sie können sich nicht selbst regulieren, aber auch keine Hilfe holen. Gleichzeitig sehnen sie sich danach, versorgt zu werden. Sie wirken oft starr, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht im Inneren von heftigen Gefühlen und Energien heimgesucht sind, die nicht nach außen dringen können und / oder dürfen. „Viele Probleme von traumatisierten Kindern können als Anstrengungen verstanden werden, objektive Bedrohungen zu minimieren und ihre emotionale Not zu regulieren.“10 Die Liste der Symptome des charakteristischen Syndroms der chronischen Traumatisierung ist lang und enthält unter anderem: Störungen der Affektregulation, Übererregung, Aggression gegen sich und andere, dissoziative Symptome, Bewusstseinsveränderung, Amnesie, Vermeidung und Rückzug, eingeschränkter Bereich der Initiative, Verlust von Zukunft und Vergangenheit, keine Kontinuität in der Zeit, Störungen der Selbstwahrnehmung, mangelnde Selbstsicherheit, 7 8 9 10

Vgl. auch Hantke / Görges, Handbuch Traumakompetenz, 122. Kolk, Entwicklungstrauma-Störung, 576. Ebd. Kolk, Entwicklungstrauma-Störung, 576 f.

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ambivalente Beziehungen, Depression, Misstrauen und Angst, Wut, körperliche Beschwerden. Zusammengefasst: Die Welt eines traumatisierten Kindes ist instabil. Sie ist räumlich unsicher und zeitlich ungeordnet. Der offene aktive und emotionale Zugang zur Welt ist behindert. Der Handlungsspielraum ist eingeschränkt. Beziehungen sind tendenziell bedrohlich, zumindest schwer einzuschätzen. Das eigene Ich konnte sich noch nicht hinreichend entwickeln und ist von Fragmentierung bedroht. Das Ich stellt keine verlässliche Ressource dar, vielmehr gibt es ein Grundgefühl von Hilflosigkeit, Angst und Wut. Die eigene Wahrheit kann / darf nicht in die Welt. 2 2.1

Traumapädagogik Sichere Räume und Sicherheit im Raum

Das erste Prinzip im pädagogischen Umgang mit traumatisierten Kindern ist es, ihnen einen sicheren Raum zu bieten und ihnen Sicherheit im Raum zu bieten. Dabei bedeutet Raum nicht nur „Innenraum“, sondern auch draußen und unterwegs! Sichere Räume mögen zunächst Inseln sein. Sie zu kreieren, umfasst aber die Hoffnung, dass sie sich ausdehnen werden, nach außen in größere Räume, nach innen in die Vorstellung von der Welt als einem sicheren Ort oder immerhin als einem Ort, in dem es sichere Inseln in der Unwirtlichkeit gibt. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch, dass es nicht nur um traumatische Erfahrungen geht, sondern für viele Kinder (nicht nur die, die geflüchtet sind) um das gegenwärtige alltägliche Leben in schwierigen Lebensverhältnissen. Was zeichnet einen sicheren Raum (und die Sicherheit im Raum) aus? – Er ist zu überschauen und damit zu kontrollieren. – Er verändert sich nicht zu schnell: Er ist morgen noch da (Stabilität). – Er bietet Gestaltungsmöglichkeiten. – Er bietet die Möglichkeit, Nähe und Distanz zu anderen zu regulieren. – Im Raum gelten transparente Regeln.

220 2.2

E. Breitenbach

Zeitliche Ordnung und Zeitlosigkeit

Da traumatische Erfahrungen nicht ohne weiteres kognitiv bearbeitet und integriert werden können und z.B. über flash backs und Alpträume in die Gegenwart hineinreichen, können sie oft auch nicht in eine zeitliche Ordnung gestellt werden. Wenn sie zeitlich vor dem Spracherwerb einer Person liegen, stellt das ein zusätzliches Hindernis bei der Verarbeitung dar.11 Ebenso wie in der Kita ein sicherer Ort geschaffen werden kann, kann dort eine „sichere Zeit“ geschaffen werden. Ziel kann es erstens sein, deutlich zu machen, dass die zeitliche Gegenwart in der Kita nicht die Gegenwart der traumatischen Erfahrung ist. Die Zeit kann mit anderen Dingen gefüllt werden. Die Zeit kann mit liebevoller Zuwendung gefüllt werden. Zweitens kann in der Kita eine klare zeitliche Ordnung etabliert werden, die stabilisierend wirkt. Sie zeichnet sich aus durch Rhythmen, Wiederholungen, klare Abläufe, Fehlen von Hektik und Zeitdruck (keine engen Takte). Idealerweise ist die Zeit nicht bleiern, sondern schwingt. Und ganz essentiell – drittens – ist: Es gibt Zeit für Zeitlosigkeit. Zeitlosigkeit und Selbstvergessenheit im Spiel können zutiefst heilsam wirken. 2.3

Spiel als zentraler kindlicher Weltzugang

Im Einklang mit der Theorie frühkindlichen Spiels verwende ich hier einen weiten Begriff des Spiels. Darin enthalten sind Beschäftigungen mit Gegenständen und Materialien, Rollenspiele, Spiele mit anderen oder alleine, Betätigungen wie malen oder kneten, musizieren und singen. (Ich hebe nicht auf eine bestimmte Art des Spiels traumatisierter Kinder ab, das oft monoton, wiederholend und schwer zu unterbrechen ist und möglicherweise das Trauma wiederholt.) Auch wenn das Spiel als Instrument der Kindertherapie genutzt wird, so reicht seine Bedeutung weit darüber hinaus. Spiel kann als universal gelten, als „eine Ausnahmeerfahrung, durch die ein Mensch sein Dasein als Mensch empfinden und verstehen können soll.“12 Spielen zu können ist grundlegend für kindliche Entwicklung und seelische Gesundheit. Im Folgenden skizziere ich heilsame Dimensionen des Spiels, die für traumatisierte Kinder schwer zugänglich sind, nämlich vertieft sein und sich bilden, Emotionen regulieren, in einem ausgeglichenen Rhythmus sein und nicht zuletzt: sich wohlfühlen und Spaß haben. 11 12

Vgl. Hantke / Görges, Handbuch Traumakompetenz. Wiesing, Luxus, 24.

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Vertieft sein und sich bilden. Im Spiel macht das Kind Erfahrungen mit den Gegenständen der Welt. Es kann sich „vertiefen“13. Gleichzeitig erfährt das Kind im Spiel etwas über sich selbst. Es lernt, sich mit sich wohlzufühlen und nicht zu langweilen. Es vermehrt sein Wissen und Können. Es entwickelt Phantasie. Es erlebt Urheberschaft, Selbstwirksamkeit, Macht und Kontrolle: Das Kind bildet sich. „Es findet Befriedigung und Freude in dem, was es mit seinen Händen in der physischen Welt ausrichten kann; in seiner spielerischen Neuerschaffung der Welt, die es umgibt, liegt der Grundstein seines Selbstgefühls im Verhältnis zu dieser Welt.“14 Emotionen regulieren. Dass Kinder ihre Gefühle, Wünsche und Phantasien im Spiel bearbeiten, wissen alle, die mit Kindern zu tun haben. Das betrifft die positiven wie die negativen Gefühle. „Die Möglichkeit, negative Gefühle durch das Spiel auszudrücken, kann dem Kind viele Qualen ersparen. Die Puppen, die es schlagen darf, können ihm helfen, seine wirklichen Lebensprobleme zu lösen.“15 Der Spielraum ist ein zentraler Raum, in dem das Kind seine Gefühle ausleben und regulieren kann. Die Bedeutung des Spiels geht jedoch über die Bearbeitung von Gefühlen hinaus. „Der Spielbereich ist nicht Teil der intrapsychischen Realität. Er liegt außerhalb des Individuums, ist aber auch nicht Teil der äußeren Welt. In diesen Spielbereich bezieht das Kind Objekte (das können auch Menschen sein, E.B.) und Phänomene aus der äußeren Realität ein und verwendet sie für Vorstellungen aus der inneren, persönlichen Realität.“16 Diesen Spielraum nennt Winnicott den „intermediären Raum“, in welchem das sich entwickelnde Kind seine innere Welt und die äußere Welt zunehmend miteinander verschränkt und gleichzeitig lernt, innere und äußere Welt voneinander zu differenzieren. Damit wird das Spiel zum zentralen Raum kindlicher Entwicklung. Deshalb ist es gerade dort auf angemessene Interaktionen angewiesen. Hin- und Herschwingen und Gleichgewicht. Scheuerl17 wählt das Hin- und Herschwingen der Wellen auf dem Wasser als Bild des Spiels. Spiel zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Spiel ist Bewegung. Spiel ist frei und ungezwungen (aber nicht zweckfrei) 13 14 15 16 17

Vgl. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, 62. Biber, Wachsen im Spiel, 13. Biber, Wachsen im Spiel, 17. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, 63. Vgl. Scheuerl, Spiel – ein menschliches Grundverhalten?

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E. Breitenbach

und wird gleichzeitig begrenzt durch Spielräume und durch Spielregeln. Das Spiel hat seine eigene Zeit: Wenn Kinder spielen, sind sie ganz in der Gegenwart. Das Spiel kann immer wiederholt werden und immer weitergehen. Dennoch ist kein Spiel wie das andere, es enthält immer Überraschungen. Wer sich nicht ernsthaft auf ein Spiel einlässt, findet selbst keinen Spaß daran und stört die anderen Spielteilnehmer_innen. Andererseits kann auch jemand, der das Spiel zu wichtig nimmt, keine Freude daran entwickeln. Der Modus des Spiels ist gleichzeitig engagiert und heiter / gelassen. Im Modus des Spiels können ambivalente Kräfte ausgeglichen werden: Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit, Freiheit und Regeln, begrenzter Raum und Spielraum, Gleichförmig-Bekanntes und ÜberraschendNeues. Idealerweise geschieht dies in der Bewegung, in einem schwingenden Rhythmus. Im Modus des Spiels kann das Kind sich im klassischen Sinne der Persönlichkeitsbildung, nämlich der Entfaltung eines Wechselverhältnisses zwischen sich und der Welt, bilden. Diese Dimensionen, die Entwicklung und Entfaltung der Person, das Ausbalancieren und Regulieren von Emotionen, das Erleben von Leichtigkeit und Spaß, sind diejenigen, die bei traumatisierten Kindern zutiefst verstört sind. Pädagog_innen ihrerseits benötigen zwei Fähigkeiten, die ebenfalls ausbalanciert werden müssen: Die Fähigkeit, mit Kindern (und vielleicht auch miteinander) zu spielen, einerseits und die Fähigkeit, das kindliche Spiel den Kindern zu überlassen, andererseits. Literatur Biber, Barbara, Wachsen im Spiel, in: Andreas Flitner (Hg.), Das Kinderspiel. Erziehung in Wissenschaft und Praxis, München 1976, 12–17. Erikson, Erik, Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit, in: Erik Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main 1997 / 1959. Hantke, Lydia / Görges, Hans-J., Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik, Paderborn 2012. Herman, Judith, Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, München 1994. Kolk, B. A. van der, Entwicklungstrauma-Störung: Auf dem Weg zu einer sinnvollen Diagnostik für chronisch traumatisierte Kinder,

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Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 58 (2009), 572–586. Robert Bosch Stiftung, Was wir über Flüchtlinge (nicht) wissen. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur Lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland, Expertise 2016. Sachsse, Ulrich / Sack, Martin, Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, in: Günther H. Seidler / Harald J. Freyberger / Andreas Maercker (Hg.), Handbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart 2015, 196–206. Scheuerl, Hans, Spiel – ein menschliches Grundverhalten?, in: Hans Scheuerl (Hg.), Das Spiel. Theorien des Spiels, Band 2, Weinheim / Basel 1997, 189–208. Wagner, Frank, Die Posttraumatische Belastungsstörung, in: Günther H. Seidler / Harald J. Freyberger / Andreas Maercker (Hg.), Handbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart 2015, 182–195. Wiesing, Lambert, Luxus, Berlin 2015. Winnicott, Donald, Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 2012.

Sandra Sadowski

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland

1

Einführung

Die Betreuung und Begleitung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF)1 in Deutschland ist keinesfalls ein neues Phänomen. Jugendämter sind spätestens durch die Änderung des Kinderund Jugendhilfegesetzes aus dem Jahr 2005 berechtigt und verpflichtet, junge Menschen, die unter 18 Jahre alt sind und ohne ihre Eltern bzw. ohne Personensorgeberechtigten nach Deutschland einreisen, in Obhut zu nehmen und ihnen die notwendige pädagogische Hilfe zukommen zu lassen. In vielen Kommunen war die Vertrautheit mit jener Zielgruppe der Sozialen Arbeit lange Zeit allerdings nicht gegeben. Dies ergab sich aus dem Umstand, dass sich viele UMF gezielt innerhalb der deutschen Großstädte Hamburg, Bremen, Köln, Berlin oder Dortmund aufhielten, weil hier bereits große ethnische Communities vorhanden waren und die Jugendlichen vor Ort ein zusätzliches Unterstützungsgeflecht vermuteten. Zudem gibt es jene Kommunen, die eine Vielzahl von UMF betreuten, da sie zusätzlich an den entscheidenden Knotenpunkten der Fluchtrouten liegen – wie etwa München, Frankfurt und Aachen. Eine veränderte Wahrnehmung der Jugendlichen in Deutschland, die derzeit vor allem aus Afghanistan, Syrien und dem Irak stammen, basiert vor allem auf dem rasanten Anstieg der Zugangszahlen. Wurde vor wenigen Jahren die Zahl der UMF noch auf maximal 10.000 geschätzt, so kann im April 2016 festgehalten werden, dass inzwischen mehr als 67.000 UMF in Deutschland leben. Aufgrund der unproportionalen Verteilung der jungen Geflüchteten auf die einzelnen Bundesländer und innerhalb dieser auf bestimmte Kommunen, kam es nicht nur zur finanziellen 1

Im weiteren Verlauf wird gezielt der Begriff UMF im Gegensatz zur im Gesetz verwendeten Bezeichnung UMA verwendet. Die Einschätzung hinsichtlich der Verwendung der Begrifflichkeiten des Bundesfachverbandes UMF wird geteilt. Siehe dazu: BUMF, Stellungnahme, 1–2.

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Überlastung einzelner Städte, sondern auch zu drohender Obdachlosigkeit junger Geflüchteter. Die Unterbringung von UMF auch außerhalb der Jugendhilfestandards konnte an diesen Orten nicht länger gewährleistet werden. Entsprechend wurde eine Gesetzesänderung im November 2015 initiiert, welche die Umverteilung von UMF ermöglicht. Daraus ergibt sich, dass auch Kommunen, die im Vorfeld nicht mit der Betreuung und Begleitung von UMF betraut gewesen sind, dieser Pflichtaufgabe des Jugendamtes nachkommen müssen. Im Folgenden sollen wichtige Aspekte der Lebenswirklichkeit junger Geflüchteter in Grundzügen erläutert werden.2 2

Betreuung und Begleitung im Rahmen der Jugendhilfe

Stellt das Jugendamt die Minderjährigkeit einer geflüchteten Person fest und ist diese ohne Begleitung einer gesetzlichen Vertretung in Deutschland, so ist es unmittelbar zur Inobhutnahme des Minderjährigen befugt und verpflichtet. Es obliegt der Entscheidung der Behörde, ob der junge Mensch bei einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform untergebracht wird. Entscheidend hierfür sollten die pädagogischen Bedarfe der betroffenen Person sein.3 Die Unterbringung bei einer geeigneten Person kann sich unterschiedlich ausgestalten. Zunächst kommt in diesem Zusammenhang die Verwandtenpflege in Betracht. Dabei kann der Verwandte entweder schon seit langer Zeit in Deutschland leben oder erst mit dem Minderjährigen gemeinsam eingereist sein. In beiden Fällen muss positiv bewertet werden, dass sowohl familiäre als auch kulturelle Bezüge des Jugendlichen aufrechterhalten werden können. Bei bereits längerem Aufenthalt der Verwandten im Bundesgebiet kann zudem oftmals auf deren Brückenfunktion hinsichtlich der Vermittlung von kulturellen und gesellschaftlichen Unterschieden verwiesen werden. Auch Fortschritte im Spracherwerb gestalten sich einfacher, wenn entsprechende Kenntnisse bei der Familie vorhanden sind. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass ggf. keine Beziehung zwischen den Angehörigen und dem jungen Menschen besteht, da sich die Beteiligten entweder lange oder noch nie gesehen haben. Eine Aufnahme des Jugendlichen im eigenen Haushalt kann entsprechend stärker dem familiären Pflichtgefühl als dem persönlichen Wunsch aller Beteiligten entsprechen. Ähnliches kann auch für Verwandtenpflege in jenen Fällen gelten, in denen die Einreise der Familienmitglieder gemeinsam erfolgte. Teilweise ist die familiäre 2 3

Vgl. Oehlmann-Austermann, Gesetz, 1–14. Vgl. MFKJKS, Handreichung, 12–17.

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S. Sadowski

Bindung zwischen den Beteiligten ausgeprägter, allerdings verfügen die erwachsenen Begleitpersonen selbst dann oftmals über stärker rudimentäre Sprachkenntnisse. Sie können durch die Erfahrung der Flucht selbst zudem schwer belastet sein. Eine Vermittlung zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland ist zu diesem Zeitpunkt oftmals noch nicht gegeben. Entsprechend lässt sich in dieser Betreuungsform nicht von erleichterten Integrationschancen der jungen Menschen ausgehen. Dies ist oftmals ein Grund, warum sich viele Fachkräfte für die Betreuung von UMF in Gastfamilien aussprechen. Durch die Schaffung eines familienähnlichen Kontextes kommt es zu einer relativ engmaschigen Betreuung der jungen Menschen. Sowohl erleichtere Möglichkeiten des Spracherwerbs als auch die Vermittlung zwischen verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Bezügen werden in diesem Rahmen oftmals als gegeben betrachtet. Entsprechend habe die Integration junger Menschen in diesem Kontext beste Aussichten auf Erfolg. Dies kann jedoch lediglich auf Basis einer engmaschigen Betreuung der Gastfamilien selbst gewährleistet werden. Besonders zu Beginn der Betreuung kann es aufgrund von mangelnden Kommunikationsmöglichkeiten zu Konflikten kommen. Einige Jugendliche empfinden es als soziale Beschneidung, ohne Personen aus dem gleichen Kulturkreis untergebracht zu sein. Auch ein Mangel an interkultureller Kompetenz auf beiden Seiten kann das Betreuungsverhältnis erschweren. Dies ist vor allem bei jenen jungen Flüchtlingen zu beachten, die sich nichts mehr wünschen, als ihre eigene Familie nach Deutschland nachzuholen. Dadurch, dass sie in einer Familie aufgenommen werden, können Gefühle von Scham und Schuld gegenüber der Herkunftsfamilie verstärkt werden. Dies erschwert es, sich auf das familiäre Betreuungssetting einzulassen. Entsprechend verfügen inzwischen viele Jugendämter über eigene Konzepte zur Unterbringung von UMF in Gastfamilien, um geeignete Jugendliche und Familien zusammenzuführen. In keinem Fall sollten Gastfamilien als kostengünstiger Ersatz für fehlende Regelangebote instrumentalisiert werden.4 In der Regel werden UMF somit häufig im Rahmen der stationären Jugendhilfe untergebracht. Optimaler Weise erfolgt zu Beginn zunächst die Unterbringung in einer sog. Clearingstelle. Durch den erhöhten Personalschlüssel kann eine enge Begleitung der jungen Menschen gewährleistet werden. In diesem Rahmen kann die Erörterung des pädagogischen Bedarfes gezielt erfolgen, was in einer Vermittlung von UMF in passgenaue Anschlussmaßnahmen mündet. Ein flächendeckendes Angebot an entsprechenden Einrichtungen ist in Deutschland derzeit allerdings nicht vorhanden. Im Bereich der stationären Unterbringung gibt es ebenfalls ver4

Vgl. Kompetenz Zentrum Pflegekinder, Gastfamilien, 3–14.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

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schiedenartige Konzepte. Neben multiethnischen und monoethnischen Wohngruppen existiert auch die Unterbringung in so genannten integrativen Gruppen. Eine UMF-Gruppe, bei der alle Mitbewohner_innen aus einem Herkunftsland stammen, erleichtert es den Trägern, muttersprachliche Mitarbeiter_innen einzusetzen und sich gezielt mit den Gegebenheiten eines Herkunftslandes auseinanderzusetzen. Es wird vermutet, dass Konflikte innerhalb dieser Gruppen relativ selten aufkommen. Mit einem Blick auf innerstaatliche Konflikte, beispielsweise zwischen arabischen und kurdischen Syrern oder zwischen Paschtunen und Hazara in Afghanistan, kann dies jedoch auch anders bewertet werden. Insgesamt wird diese Form der Unterbringung hinsichtlich des Spracherwerbs und der Integration der jungen Menschen teilweise kritisch betrachtet. Multiethnische Gruppen werden diesbezüglich bereits anders bewertet. Aufgrund der Tatsache, dass nicht alle Jugendlichen die gleiche Muttersprache sprechen, wird angenommen, dass die Kommunikation vor allem auf Deutsch stattfinden muss. Eine besondere Herausforderung stellt allerdings die zu bewältigende kulturelle Vielfalt dar. Betreuer_innen müssen eine Vielzahl von Kenntnissen bezüglich der unterschiedlichen Herkunftsländer besitzen und auftretende Differenzen möglichst miteinander in Einklang bringen. Hinsichtlich der Möglichkeit des zeitnahen Spracherwerbs und der Integration von UMF wird die integrative Wohnform von Experten oftmals deutlich positiver bewertet. Zunächst ist dies nicht von der Hand zu weisen. Allerdings kann es hier dazu kommen, dass Jugendliche sich einsam fühlen, da sie allein in einer „deutschen“ Wohngruppe untergebracht sind. Zusätzlich darf nicht verkannt werden, dass viele UMF einen sehr positiven familiären Bezug aufweisen, was das Zusammenleben mit Jugendlichen, welche einen „traditionellen“ Hilfebedarf aufweisen, deutlich erschweren kann. Ungeachtet zu welcher Bewertung man hinsichtlich dieser unterschiedlichen Wohngruppenformen kommt, kann erfahrungsgemäß darauf verwiesen werden, dass die Unterbringung von vor allem älteren UMF im Rahmen der stationären Jugendhilfe sich teilweise auch als schwierig erweisen kann. Nach einer ersten Phase der Angepasstheit und auch der Dankbarkeit für erfahrene Hilfe empfinden einige junge Geflüchtete das stationäre Setting als beengend und wenig im Einklang mit ihren bisherigen Lebenserfahrungen. Viele junge Menschen haben nicht nur auf der Flucht, sondern auch bereits in ihrem Heimatland ein hohes Maß an Autonomie und Selbstbestimmtheit entwickelt. Der Wunsch, an diese Fähigkeiten der Vergangenheit anknüpfen zu können, ist entsprechend ausgeprägt. Die Betreuung im Rahmen des ambulanten Wohnens ist nicht selten ein selbsterklärtes Ziel. Viele UMF kommen in diesem Setting deutlich besser zurecht, und vorangegangene Konflikte lösen sich auf.

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S. Sadowski

Dennoch müssen auch an dieser Stelle Stolpersteine wie etwa die soziale Isolation oder die Überforderung durch eine eigenständige Haushaltsführung benannt werden. Die Entscheidung, welche Hilfeform für welchen UMF etabliert wird, wird in der Regel im Zuge der Hilfeplanung durch das Jugendamt, den Vormund und den Träger gemeinsam mit dem Jugendlichen erörtert.5 3

Über die Notwendigkeit der Einrichtung einer Vormundschaft

Junge Menschen, die ohne ihre Eltern nach Deutschland einreisen, verfügen im Inland nur selten über eine rechtliche Vertretung. Damit steht das Jugendamt in der Pflicht, in einem familiengerichtlichen Verfahren sowohl die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge als auch die Einrichtung einer Vormundschaft in die Wege zu leiten. Da der Vormund einzig und allein dem Wohl des jungen Menschen verpflichtet und perspektivisch eng in die Lebensplanung seines Mündels einbezogen sein sollte, ist die Einrichtung einer Vormundschaft möglichst zeitnah zu vollziehen. Das zuständige Jugendamt ist angehalten, ein entsprechendes Verfahren spätestens drei Tage nach Beginn der regulären Inobhutnahme in die Wege zu leiten.6 Generell kann zwischen verschiedenen Arten von Vormundschaften unterschieden werden. Man spricht von Amts-, Vereins- bzw. Berufs- und Einzelvormundschaft. Für erstere ist bezeichnend, dass ein Mitarbeiter des Jugendamtes aus der Abteilung der Vormundschaften diese über den UMF ausübt. Oftmals liegt hier ein hohes Fachwissen vor, v.a. was Verfahrensabläufe und gesetzliche Grundlagen betrifft. Eher negativ wird die hohe Fallzahl beurteilt. Amtsvormünder können bis zu 50 Mündel gleichzeitig vertreten. Damit wird bereits deutlich, dass eine enge Anbindung an die Lebenswelt der jungen Menschen oftmals nicht gewährleistet werden kann. Zusätzlich entsteht stellenweise der Eindruck, dass es durch die Nähe zwischen der Abteilung der Vormundschaften und der des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Jugendamtes zu einer Verschiebung von Interessenslagen kommen kann, was teilweise ein parteiliches Agieren des Vormundes alleinig für sein Mündel erschweren könnte. Durch die Einrichtung einer Vereins- oder Berufsvormundschaft ist dies nicht in gleichem Maße gegeben. Auch hier wird eine Vormundschaft beruflich ausgeübt. Die 5 Vgl. Detemple, Zwischen Autonomie und Hilfebedarf, 41–43; Ehring, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 35–36; Deutscher Caritasverband, Rechtliche Vorgaben, 80–88; Marko, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 70–71. 6 Vgl. MFKJKS, Handreichung,12–17; Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlung, 6–28.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

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Fallzahlen sind auf 30 pro Person beschränkt. Monatlicher persönlicher Kontakt lässt sich auch in diesem Zusammenhang nur unter besonderen Anstrengungen realisieren. Demgegenüber steht die Einzelvormundschaft. Verwandte oder auch ehrenamtliche Privatpersonen, oftmals ohne vorherigen Bezug zum Jugendlichen, üben in diesem Fall häufig nur eine einzige Vormundschaft aus. Damit ist zumindest theoretisch die Möglichkeit, ein enges persönliches Verhältnis zum Mündel aufzubauen, gegeben. Es muss nicht gesagt werden, dass sich die konkrete Ausgestaltung in der Praxis deutlich differenzierter darstellt und von vielen Faktoren abhängig ist. Dennoch darf der Mehrwert einer Einzelvormundschaft in Hinblick auf die Integration der jungen Menschen nicht unterschätzt werden. Zwischen Vormund und Mündel kann eine wichtige Bindung entstehen, welche dem jungen Menschen nicht nur den Zugang zu einem erweiterten sozialen Umfeld ermöglicht. Der Vormund kann sich zusätzlich als dauerhafte Unterstützung auch über die Volljährigkeit hinaus erweisen. Da die Übernahme einer Vormundschaft eine sehr vertrauensvolle und anspruchsvolle Tätigkeit ist, u.a. da dem Vormund die Begleitung des Asylverfahrens aufgetragen wird, ist es wichtig, nicht nur die Schulung, sondern auch die Beratung ehrenamtlicher Vormünder sicherzustellen. Nur so kann eine parteiliche und anwaltschaftliche Vertretung der jungen Menschen in Gänze sichergestellt werden.7 4

Die Sicherstellung des gesundheitlichen Wohlergehens

Die Gesundheit unbegleiteter Minderjähriger lässt sich von verschiedenen Perspektiven aus betrachten und ist von großer Bedeutung. Doch bevor es um die individuelle Gesundheit eines jungen Flüchtlings selbst geht, stehen zumeist erst andere Erwägungen im Mittelpunkt. Es kann nicht bestritten werden, dass die obligatorische Erstuntersuchung durch das Gesundheitsamt und die nachfolgende TBCTestung vor allem dem Wunsch geschuldet sind, dass mögliche Infektionskrankheiten ausgeschlossen werden. Neben der Abklärung des Gesundheitszustandes des Einzelnen geht es somit auch immer darum, mögliche Ansteckungsgefahren für das neue, soziale Umfeld zu minimieren. Da es sich dabei um Untersuchungen handelt, die extern veranlasst werden und nur selten auf eine medizinische Indikation zurückgehen, ist es besonders wichtig, dieses Vorgehen mit den jungen Menschen zu besprechen. Wenn die Gründe für derartige Untersuchungen im Vorfeld erläutert werden, wird das Risiko, dass 7

Vgl. Deutscher Caritasverband, Rechtliche Vorgaben, 188–190; Detemple, Zwischen Autonomie und Hilfebedarf, 35–37; Stauf, Bestandsaufnahme, 38–39.

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S. Sadowski

junge Geflüchtete sich wiederholt unmündig oder ausgeliefert fühlen, reduziert. Zudem liegt es bei einer Vielzahl der jungen Menschen oftmals auch im eigenen Interesse, den eigenen Gesundheitszustand abzuklären. Viele Mitarbeiter_ innen aus der Praxis teilen mit, dass ein Großteil der Betreuungszeit für die Begleitung von Arztterminen aufgewendet wird. Dies ist verschiedenen Aspekten geschuldet: Zum einen gibt es junge Menschen, die nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch auf der Flucht enormen körperlichen Strapazen ausgesetzt waren. Kriegsverletzungen, Misshandlungen oder Fehlbildungen aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung sind nur einige Gründe, die eine Behandlung notwendig machen können. Des Weiteren gibt es Jugendliche, die sich eine Art ärztlichen Check wünschen, um Krankheiten eindeutig ausschließen können. Hinzu kommen jene, die aufgrund von extremen Belastungssituationen unter symptomatischen Schmerzen leiden. Es gibt nicht selten Jugendliche, die unter Kopf- oder Bauchschmerzen leiden, ohne dass eine körperliche Ursache gefunden werden könnte. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass nicht nur die physische, sondern auch die psychische Gesundheit bei UMF besonderer Beachtung bedarf. Viele Geflüchtete waren und sind einer Vielzahl an Erfahrungen und Ereignissen ausgesetzt, die sich als psychisch enorm belastend erweisen. Allerdings ist die landläufige Annahme, alle Flüchtlinge seien zwangsweise traumatisiert, nicht haltbar. Die Herausbildung eines Traumas ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig.8 Zu nennen sind hier unter vielen anderen das Alter, der Bildungsstand, die Resilienzfähigkeit und die Bindungserfahrungen der Vergangenheit. Im Kontext der Flucht ist zusätzlich zu beachten, dass die Vorstellung, traumatische Erfahrungen ließen sich allein in der Vergangenheit der jungen Menschen verorten, nicht haltbar ist. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Schwere eines Traumas vor allem davon abhängt, welche pädagogische und gesellschaftliche Antwort junge Geflüchtete auf das erfahrene Leid erhalten. Somit können katastrophale Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht durch einen positiven Unterstützungsverlauf im Aufnahmeland deutlich abgemildert werden. An dieser Stelle besteht die Möglichkeit, die Traumatisierungskette zu brechen. Allerdings ist es ebenso denkbar, dass ein weniger dramatischer Verlauf der Flucht und des Lebens im Herkunftsland sich durch ungünstige Rahmenbedingungen in Deutschland durchaus verschärft und somit zur Retraumatisierung der jungen Menschen beiträgt. Ein neutrales Helfen von außen ist nicht möglich. Alle Bezugspersonen von belasteten UMF sind auch immer Teil des traumatisierenden Prozesses. Wichtig ist, dass junge Menschen in dieser 8

Siehe den Beitrag von Cinur Ghaderi in diesem Band.

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Phase Unterstützung erhalten. Neben der Stabilisierung im therapeutischen Kontext können auch weitere Akteure wichtige Beiträge leisten. Hilfreich ist es, wenn ehren- und hauptamtliche Kräfte über ein Basiswissen im Bereich „Trauma“ verfügen und dieses an die jungen Menschen weitergeben. Damit ermöglichen sie es, die wichtige Erkenntnis zu vermitteln, dass nicht das Verhalten der Jugendlichen abnormal ist, sondern dieses eine normale Reaktion auf abnormale Erfahrungen und Ereignisse darstellt. Damit werden nicht nur Schuldund Schamgefühle reduziert, sondern die jungen Menschen haben eine Möglichkeit, ihre Selbstwahrnehmung zu stärken. Sie lernen, sich selbst besser zu verstehen und wieder zu vertrauen. Eine Verlagerung des Traumas allein in den Kontext der Therapie entspricht daher nicht der Lebenswirklichkeit der Menschen und verkennt wichtige Entlastungsfaktoren. Denn neben dem Zugang zu therapeutischen Hilfen sind es vor allem die weiteren Rahmenbedingungen, wie das Ausländerrecht oder der Zugang zu Bildung, die eine Traumatisierung abmildern können. Deshalb liegt es in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, das gesundheitliche Wohlergehen der jungen Menschen zu fördern, indem auch auf anderen Ebenen eine Veränderung der Lebensbedingungen angestrebt wird.9 5

Die Bedeutung des ausländerrechtlichen Status und der Zugang zum Asylverfahren

Nichts ist im Leben von UMF und geflüchteter Personen so zentral wie ihr ausländerrechtlicher Status. Denn nur über diesen kann die Sicherheit erlangt werden, dass der für viele schlimmste Alptraum, eine zwangsweise Rückkehr in die katastrophalen und belastenden Bedingungen der Vergangenheit, ausgeschlossen werden kann. Viele Beispiele aus der Praxis zeigen ganz deutlich, dass viele Problemlagen von UMF sich aufheben oder abschwächen, sobald ein relativ dauerhafter Aufenthaltstitel erworben werden konnte. Nicht nur weil dadurch ein dauerhafter Verbleib in Deutschland und zum Teil auch erweiterte Rechte erworben werden konnten, sondern z.T. auch, weil das erfolgreiche Durchlaufen des Asylverfahrens den jungen Menschen ein Stück weit die Anerkennung erfahrenen Leids ermöglicht. Dennoch ist es bis dahin ein langer und sehr schwerer Weg. Manchen von ihnen bleibt diese Form der Anerkennung auf Dauer verwehrt. Zu Beginn des Aufenthalts in Deutschland bekommen die Jugendlichen nach einer ersten Registrierbescheinigung über die unerlaubte 9

Vgl. Stauf, Bestandsaufnahme, 82; Weeber / Gögercin, Traumatisierte minderjährige Flüchtlinge, 69; Marko, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 107.

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Einreise zunächst oftmals eine Duldung. Dabei handelt es sich nur um eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung und damit nicht um einen Aufenthaltstitel. Eine Duldung erhalten zudem auch jene Menschen, die das Asylverfahren mit einem negativen Bescheid durchlaufen haben und eigentlich ausreisepflichtig wären. Die Duldung wird häufig nur für einen begrenzten Zeitraum ausgestellt. Dies belastet den Inhaber eines solchen Dokumentes ungemein, da er zu jedem Verlängerungstermin damit rechnen muss, dass es nicht zu einer solchen kommt und das Land verlassen werden muss. Besonders im Hinblick auf UMF ist dieses Vorgehen kritisch zu betrachten, da Minderjährige bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres ohnehin nicht abgeschoben und seit Inkrafttreten der so genannten Dublin-III-Verordnung auch nicht gegen ihren Willen in ein „sicheres Drittland“ zurückgeschoben werden können. Entsprechend ist zu fragen, warum die jungen Menschen diesem emotionalen Druck ausgesetzt werden. Denn bereits das Wort Duldung vermittelt ihnen, dass sie im Land allenfalls toleriert werden. Dies hemmt zum Teil die Integrationsbestrebungen der jungen Menschen.10 Entsprechend sinnvoll kann es sein, in bestimmten Fallkonstellationen auch vor Erreichen der Volljährigkeit einen Asylantrag zu stellen. Sind gute Bleibeperspektiven anzunehmen, ist es sinnvoll, für die jungen Menschen Klarheit zu schaffen. Vor allem wenn sie selbst den Wunsch haben oder gar mit dem Auftrag geschickt worden sind, eine Familienzusammenführung in Deutschland zu veranlassen. Denn diese lässt sich im Fall von UMF nur so lange realisieren, wie die Minderjährigkeit des Jugendlichen besteht. Aufgrund der sich stetig ändernden Rechtslage und der wechselnden Situationen in den Herkunftsländern ist es allerdings mehr als ratsam, vor Stellung eines Asylantrages eine erfahrene Flüchtlingsberatungsstelle aufzusuchen, die dem jungen Menschen nicht nur das Verfahren erklärt, sondern mit ihm die individuelle Fluchtgeschichte durchspricht. Damit die Jugendlichen, die im Rahmen ihres Aufenthalts in Deutschland oftmals nicht durchschaubare Befragungsszenarien durchlaufen müssen, Vertrauen fassen können, ist es besonders wichtig, sie im Vorfeld auf die Unabhängigkeit der Beratungsstelle zu verweisen. Viele Jugendliche bewegen sich in für Außenstehende nicht immer unmittelbar erkennbaren Zwangskontexten. Einige werden durch Familienangehörige, Schlepper oder bereits anerkannte Flüchtlinge instruiert, eine ganz bestimmte Geschichte im Rahmen der Asylanhörung zu erzählen. Damit ist nicht selten der aufrichtige Wunsch verbunden, ihnen zu einer Anerkennung zu verhelfen. Problematisch ist diesbezüglich allerdings, dass auch den Anhörern des 10

Vgl. Detemple, Zwischen Autonomie und Hilfebedarf, 28–29; Weeber / Gögercin, Traumatisierte minderjährige Flüchtlinge, 20–22.

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Bundesamtes für Migration und Flucht diese Geschichten oftmals bekannt sind und den jungen Menschen dann aufgrund mangelnder Mitwirkungspflicht eine Anerkennung nicht zugesprochen werden kann. Besonders tragisch ist dies, wenn die Jugendlichen mit ihrer eigenen Geschichte diese erlangt hätten. Durch eine gute Asylverfahrensberatung lässt sich dieser Problematik ggf. vorbauen. Aber auch an dieser Stelle muss kritisch hinterfragt werden, was es für junge Geflüchtete bedeuten muss, wenn ihnen vermittelt wird, dass das Leid, das sie erfahren haben, möglicherweise nicht ausreichend ist, um in Deutschland bleiben zu können. Um dies zukünftig zu vermeiden, sollte es immer stärker zur Anerkennung kinderspezifischer Fluchtgründe und einer Veränderung des Asylsystems in Gänze kommen. Denn sowohl die Asylanhörung als auch die lange Wartezeit auf das Ergebnis bedeuten für UMF eine erhebliche Belastung. Im Rahmen der Interviewsituation werden sie erneut in eine Situation gebracht, in der Machtverhältnisse asymmetrisch verteilt sind. Alte Gefühle der Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins können erneut aktiviert werden. Auch die Anforderungen, Ereignisse der Vergangenheit lückenlos und chronologisch darzustellen, stellen für viele, vor allem belastete Kinder und Jugendliche eine schwer zu lösende Herausforderung dar. Dennoch müssen die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit auch ein stückweit positiv betrachtet werden. Dass es beim Bundesamt für Migration und Flucht schon länger Sonderbeauftragte für die Befragung von UMF und auch ein gesondertes Verfahren für diesen Personenkreis gibt, ist im Hinblick auf das Alter der Betroffenen positiv zu bewerten. Dies gilt auch für die Umsetzung der Dublin-IIIVerordnung, welche nicht länger die Rückschiebung von UMF in sichere Drittstaaten fokussiert. Dies hat zur Entlastung der jungen Menschen beigetragen, da auch heute noch kaum ein UMF direkt mit dem Flugzeug nach Deutschland einreist und somit zwangsweise andere Länder durchreist haben muss. Durch die neue Gesetzgebung, die im November 2015 in Kraft getreten ist, wird erstmalig die Vorrangigkeit des Kinder- und Jugendhilferechts vor dem Ausländerrecht fest verankert. Bis dahin galten UMF im Alter ab 16 Jahren als verfahrensfähig und waren verpflichtet, das Asylverfahren auch ohne Vormund zu durchlaufen. Durch diese Inkongruenz zwischen verschiedenen Gesetzeslagen kam es in der Vergangenheit oft dazu, dass UMF im Alter von 16 und 17 Jahren als Volljährige behandelt worden sind. So wurden trotz anders lautender Vorgaben des § 42 SGB VIII diese jungen Menschen zum Teil nicht in Obhut genommen und verblieben in Gemeinschaftsunterkünften für Erwachsene. Trotz dieser positiven Entwicklungen hinsichtlich der Umsetzung der UNKinderrechtskonvention darf nicht verkannt werden, dass viele junge Geflüchtete z.T. weiterhin gesetzlichen Bestimmungen unterliegen,

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die dem förderlichen Grundgedanken des Kinder- und Jugendhilfegesetzes entgegenstehen. Es ist Aufgabe hauptamtlicher und ehrenamtlicher Mitarbeiter_innen dieses Arbeitsfeldes sowie gesellschaftlicher und politischer Akteure, derartige Missstände anzuzeigen und weitere Fortschritte zu erringen.11 6

Zugang zu Möglichkeiten des Spracherwerbs und zur schulischen Bildung

Kaum eine andere Zielgruppe der Sozialen Arbeit kann die Bedeutung des Spracherwerbs und der schulischen Bildung so deutlich einschätzen wie UMF. Die Motivation, Sprachkenntnisse zu erwerben und sich durch den Schulbesuch gute Zukunftsperspektiven zu eröffnen, wird oftmals schon bei der Ankunft der Jugendlichen in Deutschland deutlich. Besonders sehr junge Geflüchtete zeigen, wie schnell sie im Zuge der Regelbeschulung erhebliche Fortschritte machen. Dies stärkt nicht nur das Selbstwertgefühl, sondern auch die Partizipationsmöglichkeiten der jungen Menschen und ist deshalb unbedingt zu fördern. Leider gestaltet sich dies nicht nur mit Blick auf das Alter der UMF, sondern auch in Hinsicht auf die Kommunen, in denen sie leben, durchaus unterschiedlich. Nicht erst mit der Einführung des neuen Gesetzes im November 2015, sondern auch schon zuvor wurde deutlich, dass das deutsche Bildungssystem für Seiteneinsteiger nur eine bedingte Durchlässigkeit aufweist. Die große Zahl der UMF, die zwischen 16 und 18 Jahre alt sind, wird zunächst im Rahmen von internationalen Förderklassen beschult. Grundgedanke dahinter ist, dass die Jugendlichen zunächst jene Deutschkenntnisse erwerben, die sie zu einem erfolgreichen Durchlaufen des Regelschulsystems benötigen. Dieser Grundgedanke ist durchaus plausibel. Leider scheitert das Anliegen oftmals an der Ausgestaltung des Unterrichts innerhalb jener Förderklassen. Viele UMF beklagen, dass der Spracherwerb innerhalb der Klassen, in denen alle Schüler_innen einen Migrationshintergrund aufweisen, nur schwerlich vorangeht. Zudem wäre die Dauer des Unterrichts zum bestehenden Bedarf kontraindikativ. Die Jugendlichen fragen zu Recht, wie sie zu deutschen Jugendlichen aufschließen sollen, wenn der Unterricht unsystematisch und nur im Rahmen von wenigen Zeitstunden am Tag erfolgt. Die überproportional häufige Platzierung von UMF an Förder- oder Hauptschulen ist oftmals nicht auf den tatsächlichen Bil11

Vgl. Weeber / Gögercin, Traumatisierte minderjährige Flüchtlinge, 31–32; Marko, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 62–64; Deutscher Caritasverband, Rechtliche Vorgaben, 119–120.

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dungsstand der jungen Menschen zurückzuführen, sondern ist teilweise durch mangelnde Sprachkenntnisse bedingt. Die monolingulae und monokulturelle Ausrichtung des deutschen Bildungssystems verhindert somit den Bildungserfolg junger Menschen. Dies tritt vor allem dann deutlich zu Tage, wenn dem sehr diversen Bildungshintergrund der jungen Menschen Rechnung getragen werden soll. Unter den UMF gibt es sowohl Analphabeten, die noch nie eine Schule besucht haben, als auch Jugendliche, die in ihrem Heimatland das Abitur erworben haben oder hätten. Auf eine derartige Vielfalt ist das deutsche Schulsystem nur bedingt vorbereitet oder ausgerichtet. Menschen ohne jegliche Schulbildung haben nur wenige Möglichkeiten, die vorhandenen Lücken im Rahmen der Pflichtschulzeit zu schließen.12 Mit Blick auf junge Geflüchtete ist dies besonders fatal, da die Institution Schule verschiedene, sehr zentrale Aufgaben erfüllen kann. In ihrer Bedeutung als Stabilisierungsfaktor darf diese nicht verkannt werden. Zum einen generiert Schule Regelmäßigkeit und ein stückweit auch Normalität – zwei Faktoren, die viele UMF lange in ihrem Leben entbehren mussten. Zudem werden in der Schule nicht nur Sprache und Inhalte vermittelt, sondern auch Werte und Normen. Damit werden auch an dieser Stelle wichtige Beiträge zur Integration geleistet. Zusätzlich liegt es in der Grundeigenschaft der Schule, dass diese Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Mit Hinblick auf die aktuelle Lebenswirklichkeit können UMF in der Schule Anerkennung und Bestätigung erfahren. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf den Fortschritt im Unterricht, sondern auch auf Mitschüler_innen, etwa wenn sie sich in den Pausen als besonders begabte Fußballspieler_innen erweisen. Innerhalb der Schule werden die Jugendlichen zusätzlich dazu angehalten, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen, mit Wünschen und Träumen. Diese können sich deutlich von ursprünglichen Zukunftswünschen – dem reinen Überleben oder dem Ausweg aus Armut, Gewalt und Kriminalität – unterscheiden und die jungen Menschen hoffnungsvoller werden lassen. Aufgabe der hiesigen Politik und Gesellschaft ist es folglich, die Bildungsambitionen dieser Menschen zu nutzen und zu fördern und sie nicht aufgrund ausländerrechtlicher Bestimmungen oder der mangelnden Entwicklung des deutschen Schulsystems ins Leere laufen zu lassen. Insgesamt muss sich immer wieder kritisch mit dem Bildungssystem auseinandergesetzt und Veränderungsbedarf angezeigt werden. Eine interkulturelle Öffnung muss auch in der Institution Schule vollzogen werden. Denn nicht nur die Menschen, die ge-

12

Vgl. Stauf, Bestandsaufnahme, 42–43; Marko, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 64–65.

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rade eingereist sind, haben verstanden, wie eng Bildung und dauerhaftes Wohlergehen in Deutschland miteinander verknüpft sind.13 7

Zur Frage der Integration junger Geflüchteter

Ebenso wenig wie Kultur als abgeschlossene und statische Größe gesehen werden kann, so wenig kann Integration die Aufgabe einer Einzelperson darstellen. Um diese gelingen zu lassen, bedarf es neben der Aufgeschlossenheit der Zielgruppe auch der Unterstützung der Sozialen Arbeit, der Politik und der Gesellschaft. Gelungene Integration beruht auf wechselseitiger Annäherung. Mit Blick auf junge Geflüchtete ist festzuhalten, dass diese sich zwischen verschiedenen kulturellen Bezügen bewegen. Geltende Normen und Werte, aber auch Verhaltensweisen können in der Aufnahmegesellschaft u.U. nicht im gleichen Maße nutzbar gemacht werden, wie dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Zudem sehen sie sich mit neuen kulturellen Bezügen und normativen Gegebenheiten konfrontiert, die sich von ihrer bisherigen Erfahrungswelt möglicherweise unterscheiden. Es bedeutet nicht selten einen großen Kraftakt für die jungen Menschen, mit dieser Diskrepanz umzugehen und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Es steht außer Frage, dass genau in dieser Phase Unterstützung notwendig ist. Zunächst ist es von großer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung, dass es zu einer Anerkennung der ursprünglichen kulturellen Bezüge kommt. Das heißt, dass UMF aufgrund des vorhandenen Integrationswunsches nicht dazu angehalten werden, ihre eigenen kulturellen Wurzeln zu negieren oder abzuwerten. Die Vorstellung, dass jegliche Erfahrungen der jungen Menschen allein negativer Natur sind, ist nicht nur diskriminierend, sondern verkennt auch ihre Lebenswirklichkeit. Gerade die Anknüpfung an positive Erfahrungen der Vergangenheit kann zur Persönlichkeitsentwicklung einen wichtigen Beitrag leisten. Entsprechend wichtig ist es, dass die Jugendlichen eine Möglichkeit bekommen, weiterhin ihre Muttersprache anzuwenden, ihre Religion auszuüben und Kontakt zu Menschen aus ihrem Kulturkreis zu erhalten. Aufgabe der sie begleitenden Erwachsenen ist es, sie gleichzeitig mit jenen Normen und Werten vertraut zu machen, die zum Verständnis der kulturellen Bezüge in Deutschland maßgebend sind. Nur durch diese wichtige Orientierungsarbeit kann Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden. Da junge Menschen vor allem über positive Vorbilder be13 Vgl. Detemple, Zwischen Autonomie und Hilfebedarf, 44–47; Haversiek-Vogelsang, Traumatisierte Flüchtlingskinder, 199; Deutscher Caritasverband, Rechtliche Vorgaben,137–138.

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sonders einfach Zugänge erhalten, ist es notwendig, dass interkulturelle Kompetenzen und der Wunsch einer multikulturellen Gesellschaft vor allem bei den die Jugendlichen betreuenden und begleitenden Erwachsenen vorhanden sind. Die Schaffung von Begegnung und die Erweiterung des sozialen Umfeldes können dies befördern. Wie bereits erläutert, kann vor allem der Kontakt zu einem ehrenamtlichen Vormund entsprechende Möglichkeiten eröffnen. Durch die Partizipation in Sportvereinen oder an Angeboten im Bereich von Tanz und Theater kann auch in Fällen von noch geringen kommunikativen Möglichkeiten nicht nur Selbstwirksamkeit erfahren werden, es können zudem wichtige Kontakte geknüpft werden, die sich von dauerhafter Wichtigkeit erweisen. Durch die wechselseitige Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt können zudem wichtige gesellschaftliche Veränderungsprozesse angestoßen werden. Dazu ist es notwendig, davon Abstand zu nehmen, lediglich über die Zielgruppe zu sprechen – in der Annahme, diese könne ihre Anliegen (noch) nicht eigenständig vertreten. Es ist zentral, dass die jungen Menschen mit ihren Ressourcen und Potentialen wahrgenommen und nicht auf die Rolle des „Flüchtlings“ reduziert werden.14 8

Volljährigkeit und dann?

Viele unbegleitete Minderjährige mussten im Verlauf ihres noch jungen Lebens besondere Selbstständigkeit zeigen. Nicht immer geht dies mit abgeschlossenen Entwicklungsphasen einher. Viel stärker ist dies als Ausprägung eines spezifischen Überlebensmechanismus zu werten. Dennoch zeigt sich in der Lebenswirklichkeit dieser jungen Menschen, dass sie oftmals über ausgeprägte, lebenspraktische Fähigkeiten und ein hohes Maß an Selbstorganisation verfügen. Ihr Hilfebedarf über das Erreichen der Volljährigkeit hinaus wird dadurch oftmals verkannt. Doch gerade dieser Personenkreis zeichnet sich durch ein hohes Einstiegsalter in die Jugendhilfe aus – wie bereits erwähnt, sind die meisten Jugendlichen 16 Jahre alt oder älter. Darüber hinaus verfügen nur wenige junge Geflüchtete mit Eintritt des 18. Lebensjahrs über ein ausgeprägtes soziales Unterstützungssystem oder entsprechende Netzwerke. Der Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenalter, welcher bereits für Jugendliche außerhalb der Jugendhilfe und ohne Migrationshintergrund eine erhebliche Herausforderung darstellt, wird für diesen Personenkreis ohne das Bestehen14 Vgl. Weeber / Gögercin, Traumatisierte minderjährige Flüchtlinge, 83–84; Ehring, Unbegleitete Minderjährige, 62–74; Marko, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 43–49.

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bleiben pädagogischer Unterstützungsmaßnahmen deutlich erschwert. Dabei gäbe es mit Hilfe gem. § 41 SGB VIII eine Möglichkeit, jungen Geflüchteten perspektivisch weitere Hilfe zu gewähren. Der Zugang zu jener Hilfeform wird innerhalb der einzelnen Kommunen in Deutschland sehr unterschiedlich und oftmals restriktiv gehandhabt. Um die positiven Entwicklungen, welche im Rahmen der Jugendhilfe bereits gemacht werden konnten, nicht ins Leere laufen zu lassen, ist es wichtig, dass die jungen Menschen in ihrem Recht unterstützt werden. Derzeit wird das Erreichen der Volljährigkeit von einigen UMF nicht mit einem Zugewinn an Freiheiten, sondern mit einer Zunahme an Unsicherheit verbunden. Der Verbleib innerhalb der Jugendhilfe kann den jungen Menschen einen Teil dieser Belastung nehmen und so zu dauerhafter Stabilität und selbstbewusster Entwicklung beitragen. Wenn man es vermeiden will, in Sozialhilfesysteme zu sozialisieren, sollte die Gewährung dieser Hilfeform weitaus häufiger umgesetzt werden, sofern dies dem Wunsch des jungen Menschen entspricht. Das Recht auf eine freie Persönlichkeitsentfaltung sowie der Wunsch nach dauerhafter Integration sollten finanziellen Überlegungen nicht nachgestellt sein. Andernfalls ließe sich fragen, ob die bis zu diesem Zeitraum gewährte Unterstützung lediglich als gesetzliche Pflichterfüllung gegenüber dem jungen Menschen zu verstehen ist und nicht auf die „Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“15 ausgelegt war.16 9

Abschließende Gesichtspunkte

Um UMF bestmöglich unterstützen zu können, ist es zentral, sie als Kinder und Jugendliche zu sehen, die ebenso wie alle anderen Menschen ein Anrecht darauf haben, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestärkt zu werden. Es ist wichtig, sie aus der Rolle des Flüchtlings zu entlassen und sie gemäß ihrer Ressourcen und Potentiale zu fördern. Durch die Entwicklung neuer Konzepte und Vorgehensweisen in ihrer Betreuung und Begleitung kann ihre dauerhafte Integration ermöglicht werden. Dieses Ziel muss nicht nur als ethische und moralische Verpflichtung gegenüber jedem Individuum verstanden werden, sondern auch als deutlicher Mehrwert für die deutsche Gesellschaft. Aller Voraussicht nach wird ein Großteil dieser jungen Menschen dauerhaft in Deutschland verbleiben. Schon einmal hat es die Bundesrepublik versäumt, eine derartige Sachlage zu erkennen bzw. 15 16

§ 1 SGB VIII. Vgl. BUMF, 18 – und dann?, 1–2.

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realistisch einzuschätzen. Die Folgen hinsichtlich der Integration jener Menschen in die deutsche Gesellschaft sind hinlänglich bekannt. Demnach ist es unverkennbar Aufgabe Sozialer Arbeit sowie gesellschaftlicher und politischer Akteure zu zeigen, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Vor allem eine Gesellschaft, die einen Mangel an jungen Menschen beklagt, kann es sich nicht erlauben, hochmotivierten Jugendlichen gesellschaftliche Teilhabe zu versagen. Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (Hg.), Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Inobhutnahme, Clearingverfahren und Einleitung von Anschlussmaßnahmen, 2014, online: www.bagljae.de/ downloads/118_handlungsempfehlungen-umf_2014.pdf (Zugriff 1.9.2016). Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Hg.), Stellungnahme. Kritik an der Bezeichnung „unbegleitete minderjährige Ausländer_in“, 2015, online: www.b-umf.de/de/startseite/ kritik-uma (Zugriff 1.9.2016). Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Hg.), 18 – und dann? Arbeitshilfe zur Beantragung von Hilfen für junge Volljährige, 2015a, online: http://www.b-umf.de/de/themen/ junge-volljaehrige (Zugriff 1.9.2016). Detemple, Katharina, Zwischen Autonomiebestreben und Hilfebedarf. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe, Baltmannsweiler 2013. Deutscher Caritasverband, Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge in Deutschland. Rechtliche Vorgaben und deren Umsetzung, Freiburg 2014. Ehring, Wally Marianne, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ihre rechtliche Stellung in Deutschland und Anforderungen an die Soziale Arbeit, Saarbrücken 2008. Haversiek-Vogelsang, Sabine, Traumatisierte Flüchtlingskinder. Therapeutische Behandlung im Spannungsfeld von individueller Bewältigung und kinderrechtlichem Notstand, in: Zeitschrift für Politische Psychologie 14 (2006), 191–204. Kompetenz Zentrum Pflegekinder (Hg.), Jugendliche Flüchtlinge in Gastfamilien. Eine Erste Orientierung in einem großen gesellschaftlichen Feld, 2016, online: www.nds-fluerat.org/wp-content/ uploads/2016/06/jugendliche-fluechtlinge-in-gastfamilien.pdf (Zugriff 1.9.2016).

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Marko, Katharina, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ein blinder Fleck der Pädagogik? Traumatisierung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen als Herausforderung an das pädagogische Handeln, Saarbrücken 2008. Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, Handreichung zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2013. Oehlmann-Austermann, Alfred (Hg.), Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung (unbegleitet eingereister) ausländischer Kinder und Jugendlicher. Vortrag im Rahmen der LWL-Veranstaltung: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in NRW – eine fachliche Herausforderung für die Jugendhilfe, 2015, online: www.lwl.org/lja-download/fobionline/anlage.php? urlID=12954&PHPSESSID=a3e9cb9c18f17a213d812598b07581 82 (Zugriff 1.9.2016). Stauf, Eva, Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe: Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven in RheinlandPfalz, Mainz 2012. Weeber, Vera Maria / Gögercin, Süleyman, Traumatisierte minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe. Ein interkulturell- und ressourcenorientiertes Handlungsmodell, Herbolzheim 2014.

Klaus Eberl1

Flüchtlinge in der Schule

Bildung ändert alles2, auch die Lebenslagen von Flüchtlingen. Die Integration zugewanderter Kinder und Jugendlicher ist eine zentrale Aufgabe schulischer Bildung. Die Aufgabe besteht nicht nur darin, Sprachkenntnisse und Bildungsinhalte zu vermitteln, sondern auch Gemeinschaft und Geborgenheit anzubieten. Zu den Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte gehören in den letzten Jahren zunehmend Kriegsflüchtlinge, deren Heimat zerstört wurde, die Verwandte durch den Krieg verloren haben und die zum Teil eine jahrelange Flucht hinter sich haben. Angesichts dieser Belastungen ist der Bildungsauftrag umfassend zu verstehen. Traumatisierte Kinder und Jugendliche benötigen neben dem Unterricht psychosoziale Unterstützung und seelsorgliche Begleitung. Die Qualitätserfordernisse dieser Aufgaben und die in den letzten Jahren sprunghaft angestiegene Zahl von zugewanderten Kindern und Jugendlichen stellen die Schulen vor große Herausforderungen, zu deren Bewältigung gute Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. 1

Schulbesuchsrecht

Das Schulbesuchsrecht von Flüchtlingskindern wird im Grundsatz nicht ernsthaft bestritten. Allerdings unterliegen Asylbewerberinnen und -bewerber während des laufenden Antragsverfahrens oder Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus nicht automatisch der Schulpflicht. Das verzögert leider häufig den Schulbesuch. Dem steht entgegen, dass das unbedingte Recht auf Bildung schon in Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) sowie der UN-Kinderrechtskonvention (1989) verankert ist. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention formuliert ein Recht auf Bildung, und die Aufnahmerichtlinie der Europäischen Union präzisiert, dass der Zu1 2

Praxisbeispiele von Wibke Janssen, Udo Kotthaus und Sabine Lindemeyer. Plakat der Kindernothilfe.

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gang zum Bildungssystem nicht länger als drei Monate verzögert werden darf. Alle Bundesländer haben rechtliche Regelungen für „neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne bzw. mit geringen Deutschkenntnissen im schulpflichtigen Alter“3 erlassen, um ihren Schulbesuch zu ermöglichen. Kriterium für den Besuch einer konkreten Schule ist in der Regel der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt sowie die Ausbildungs- oder Arbeitsstätte. Damit kommt der Verteilung von Asylbegehrenden nach dem „Königsteiner Schlüssel“ große Bedeutung zu. Nach Ankunft oder Zuweisung in eine Stadt erfolgt normalerweise ein Beratungsgespräch im Integrationsamt. Dort wird über die Zuweisung zu einer Schule entschieden. Besondere Probleme ergeben sich allerdings für den Schulzugang von Kindern und Jugendlichen ohne aufenthaltsrechtlichen Status („sans papiers“). Erst seit Aufhebung der Meldepflicht für die Schulen besteht eine realistische Chance, auch für diesen Personenkreis das Recht auf Bildung zu verwirklichen. Auch die Beschulung von Jugendlichen, die über 18 Jahre alt sind, ist nicht sichergestellt, da für sie keine Schulpflicht mehr besteht. Die Möglichkeit, in Berufskollegs die Deutschkenntnisse zu verbessern und bestehende Bildungsdefizite aufzuholen, steht in der Regel unter dem Haushalts- und Kapazitätsvorbehalt. 2

Sprachförderung

In den Schulen finden individuelle Vorgespräche statt, um das schulspezifische Angebot zu erläutern und einen ersten Eindruck von der Vorbildung der Kinder und Jugendlichen zu erhalten. Die Sprachförderung in Deutsch für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler findet entweder im Unterricht speziell eingerichteter altersgemischter Klassen (paralleles Modell) oder durch Aufnahme in den Regelunterricht mit zusätzlichen Sprachfördermaßnahmen (integratives Modell) statt. Darüber hinaus gibt es vielfältige Zwischenformen. Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrungen und besonderem Sprachförderbedarf ist naturgemäß extrem heterogen. Die Kinder und Jugendlichen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Alters, ihrer Familiensituation, ihres aufenthaltsrechtlichen Status, 3

Zu den Konzepten des Spracherwerbs vgl. insgesamt: Mercator-Institut, Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche, 13.

Flüchtlinge in der Schule

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der Nationalität und Religion, der Fluchtgründe und der bisherigen schulischen Vorbildung. Um auf die besonderen pädagogischen Anforderungen zu reagieren, bestehen in den Ländern Beratungs- und Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer. Das Unterrichtsmaterial ist noch nicht standardisiert. Viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer arbeiten mit selbst entwickeltem Lernmaterial. Allerdings erfordert nicht nur der Unterricht im Bereich Deutsch als Zweitsprache spezifische Kompetenzen, sondern auch die Arbeit mit z.T. traumatisierten oder entwurzelten Kindern und Jugendlichen. Dafür gibt es bisher kaum eine hinreichende Vorbereitung. Immerhin bieten die unterschiedlichen schulorganisatorischen Modelle und die Aufstockung des pädagogischen Personals bisweilen Freiräume, um den komplexen Anforderungen gerecht zu werden. Diese Anstrengungen sind nicht vergeblich. Jedenfalls berichten viele Lehrerinnen und Lehrer, dass sie trotz schwieriger Ausgangslagen vom Lernwillen und Eifer der Schülerinnen und Schüler überwältigt sind. Das Ziel, kontinuierlich die Regelklasse zu besuchen, wird häufig früher erreicht als erwartet. 3

Beispiele aus der Praxis

3.1

Schulseelsorge im Kontext einer heterogenitäts- und migrationssensiblen Schulkultur (von Sabine Lindemeyer)

In diesem Zusammenhang gewinnt – nicht nur an kirchlichen Schulen – die Schulseelsorge eine immer größere Bedeutung. Sie versteht sich als Teil der psychosozialen Praxis neben bzw. in Zusammenarbeit mit anderen sozialen Diensten im System Schule.4 Eine wichtige Bündnispartnerin der Schulseelsorge ist die Schulsozialarbeit. In Internationalen Förderklassen tragen Schulseelsorge und Schulsozialarbeit in besonderem Maß dazu bei, dass interkulturelles Leben funktioniert und „soziale Inklusion“5 neben Sprache auch über Beziehung gelingt, indem beide Professionen einerseits Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit als Chance und Bereicherung wahrnehmen und andererseits auf ihre jeweilige Weise Gemeinsamkeiten und Gemeinschaft konstruieren. Für viele Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen stellt der persönliche und reflektierte Umgang mit der eigenen und der fremden Religion sowie unserem demokratischen Gesellschaftssystem ei4 5

Vgl. EKD, Schulseelsorge, 7. Evangelische Kirche im Rheinland, Weggemeinschaft und Zeugnis, 5.

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ne große und ungewohnte Herausforderung dar. Auch die Erfahrung religiöser Pluralität ist häufig neu, und gegenseitige Toleranz muss erst noch entwickelt werden – auch und gerade in den religiös heterogenen Internationalen Klassen. Schulseelsorge und Schulsozialarbeit leisten dabei einen unschätzbaren Beitrag und helfen, den geflüchteten Schülerinnen und Schülern mit ihren individuellen Bedürfnissen, Hoffnungen und Ängsten besser gerecht zu werden. Die Schülerinnen und Schüler lernen Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorger in der Regel als Religionslehrerinnen und Religionslehrer im Unterricht kennen. Viele von ihnen sind zunächst irritiert, wenn sie das Fach Religion auf der Stundentafel entdecken. Ihre eigene Religionszugehörigkeit ist den meisten sehr bewusst; sie macht einen wesentlichen Teil ihrer Identität aus. Häufig geben sie offen und nicht ohne Stolz über ihre Religionszugehörigkeit Auskunft. Eine andere Religion als die eigene haben einige als brutal feindlich, tötend und zerstörerisch erlebt. In der Regel können die Schülerinnen und Schüler der Internationalen Förderklassen sich zunächst nicht vorstellen, was sie in einer deutschen staatlichen Schule im Fach Religion lernen sollen. Religionsunterricht und Schulseelsorge sind zwar professionell zu unterscheiden, in Internationalen Förderklassen aber sind beide gefragt, denn der Religionsunterricht in diesen Klassen soll – neben inhaltlichen Zielen – Ängste nehmen, Freiheit lehren, Emotionen zulassen, ohne Grenzen zu verletzen, Sprache geben, Korrektiv sein und Wahrnehmung fördern. Zu seinen Zielen gehört es, dass die Schülerinnen und Schüler eine Sprache für ihre eigene Religion finden, in der sie anderen davon erzählen und damit ihre Identität stabilisieren können. Darüber hinaus sollen sie lernen, auch Standpunkte zu respektieren, die den eigenen nicht entsprechen. Sie sollen erfahren, dass Religionen und Kulturen nicht monolithisch, sondern bestimmt sind durch die tägliche Praxis von vielen Menschen, und sie als veränderbar erleben. Absolutheitsansprüche und auf Abgrenzung ausgerichtete Grundhaltungen sollen überwunden und damit dem ideologischen Missbrauch von Religion und ihrer Instrumentalisierung für politische Konflikte der Boden entzogen werden. Darin liegt die besondere gesellschaftliche Relevanz des Religionsunterrichts in Internationalen Förderklassen für Verständigung und Dialog. In einem interreligiösen Miteinander soll ein Dialog im Respekt und in der Wertschätzung gegenüber anderen Menschen und in Liebe zu Gott möglich und so Religionsfreiheit lebendig und erfahrbar werden.

Flüchtlinge in der Schule

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Für Schülerinnen und Schüler in der Internationalen Förderklasse ist es zunächst äußerst schwierig, die Bedeutung von Religionsfreiheit zu verstehen, die mehr ist als Toleranz, weil sie nicht nur vom Staat gewährt oder versagt werden kann, sondern sich von der Menschenwürde des Einzelnen ableitet, also menschenrechtlich verankert ist.6 Die Schülerinnen und Schüler begeben sich in der Klassen- und Schulgemeinschaft auf einen langen Weg, um die Bedeutung dieses Wertes zu erfassen. Sie lernen zuerst die positive Seite der Religionsfreiheit kennen: Der Einzelne und seine religiöse Praxis bzw. Weltanschauung stehen unter dem Schutz des Staates, womit nicht nur die private Glaubenspraxis gemeint ist, sondern auch das Ausleben der Religion im öffentlichen Raum, – dabei darf die Ausübung der Religion keine anderen Grundrechte verletzen. Dann erfahren sie, dass es auch eine negative Seite der Religionsfreiheit gibt, also das Recht, keiner Religion angehören zu müssen und dementsprechend nicht zu religiösen Praktiken gezwungen werden zu dürfen. Junge Menschen, die in Syrien, Afghanistan, Kaschmir, den Kurdengebieten Nordiraks oder Nigeria aufgewachsen sind, betreten hier geistiges Neuland. Durch Angebote jenseits des Unterrichts, wie Einzel- oder Gruppengespräche über ganz persönliche Sinn- und Glaubensfragen der Schülerinnen und Schüler, gemeinsame Feste und Ausflüge, erlebnispädagogische Spiele, im Aushalten von starken Emotionen und Wahrnehmen auch leiser Töne verwirklicht sich eine Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaft, die Bernd Schröder mit dem missionswissenschaftlichen Begriff „Konvivenz“7 bezeichnet. Diese besondere Gemeinschaft bildet die Grundlage für einen religionssensiblen Dialog. Schröder plädiert dafür, dass Schulseelsorge „Konvivenz übt“, d.h., sich so gestaltet, dass Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen sich eingeladen fühlen – im Sinne von „Begegnung in Differenz und aus Differenz“8. Unterschiede sollen zur Geltung kommen. Sie sollen zu wechselseitigen Lernerfahrungen verhelfen, somit interkulturelle Kompetenz vermitteln und soziale Inklusion befördern. Alle Angebote der Schule sollen darauf ausgerichtet sein, differenzsensible Gemeinsamkeit und Gemeinschaft zu ermöglichen.

6 7 8

Evangelische Kirche im Rheinland, Weggemeinschaft und Zeugnis, 24. Schröder, Religiöse Pluralität, 9. Ebd.

246 3.2

K. Eberl / W. Janssen / U. Kotthaus / S. Lindemeyer

Internationale Klassen am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Hilden der Evangelischen Kirche im Rheinland (von Udo Kotthaus)

Im Laufe des Schuljahres 2015/2016 wurden am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Hilden in Trägerschaft der Evangelischen Kirche im Rheinland zwei Internationale Klassen eingerichtet, in denen Schülerinnen und Schüler beschult werden, die mit sehr marginalen Deutschkenntnissen nach Deutschland gekommen sind. Die Arbeit mit Flüchtlingen und Migrant_innen ist seit vielen Jahren ein Schwerpunkt der Landeskirche. Die Bibel ist voller Geschichten über Menschen, die sich auf der Flucht befinden, und darüber, wie Gott ihnen zu Hilfe kommt. Aktionen wie „Wir sind MitMenschen“ werben für eine Kultur der Akzeptanz und Solidarität. Diese Priorisierung findet auch in den Schwerpunkten der kirchlichen Schulen ihren Niederschlag. Für die Internationalen Klassen in Hilden wurde ein Konzept entwickelt, das mit individuellen Förderplänen den schrittweisen Eintritt in die Regelklassen ermöglicht. Da bisher nicht sehr viele Schulen in diesem Sinne arbeiten, werden auch Kinder und Jugendliche aufgenommen, die in den Nachbarstädten wohnen. Die Grundidee ist, dass die Schülerinnen und Schüler zunächst einmal weitestgehend in der Gruppe unterrichtet werden. So bestand die erste Internationale Klasse zu Beginn des Schuljahres aus 24 Schülerinnen und Schülern aus 13 Nationen im Alter von 9 bis 17 Jahren. Sie kamen aus dem Irak, Iran, Türkei (Kurden), Syrien, Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Spanien, Italien, Griechenland, Polen und Malaysia. Als Klassenraum wurde ein ehemaliger Kunstraum ausgewählt, der durch seine räumliche Größe ein binnendifferenziertes Arbeiten möglich macht. Die Klasse wird außer von den Lehrerinnen und Lehrern von zwei Sozialpädagog_innen unterstützt, die viele Jahre in der Betreuung von Spätaussiedler_innen tätig waren. Sie arbeiten während der gesamten Woche vormittags in der Klasse und sind permanente Ansprechpartner_innen – auch für alle Sorgen und Nöte. Um das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe zu stärken, werden jeweils zwei Stunden Musik, Kunst und Sport mit allen Schülerinnen und Schülern unterschiedlichen Alters durchgeführt. Der Deutschunterricht war zunächst nur mit selbst erstellten und einfachen Materialien (Karten, Gegenstände des Alltags wie z.B. eine Uhr, Magnetschilder mit Begriffen) möglich, da noch keine für die Anfangsphase geeigneten Lehrbücher zur Verfügung standen. Bei nahezu allen Schülerinnen und Schülern war es notwendig, ihnen grund-

Flüchtlinge in der Schule

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legende Alltagsbegriffe und -kenntnisse zu vermitteln (z.B. Anrede, Familienverhältnisse, Tageszeiten, Uhrzeiten, einfache Zahlen, Gebrauchsgegenstände). Dies geschah 15 Stunden in der Woche in den ersten vier Wochen für alle Schülerinnen und Schüler im Klassenverband, bis eine Differenzierung in Leistungsgruppen und der Einsatz von „professionellem“ Lehrmaterial möglich waren. Insofern wurde ein „Konzept für den Deutschunterricht“ eher handlungsorientiert und bezogen auf die zu betreuende Klientel entwickelt. Im Laufe der Zeit wurde für jede Schülerin und jeden Schüler je nach Leistungsstand und Vorkenntnissen, die aufgrund fehlender Zeugnisse erst mühsam erforscht werden mussten, ein individueller Stundenplan entwickelt. Die Integration in eine Regelklasse erfolgte sukzessive. Ein Schüler besuchte zum Beispiel nach dem Erwerb rudimentärer Deutschkenntnisse in den Fächern Englisch, Erdkunde und Mathematik die Regelklasse, kehrte dann aber immer wieder in die Lerngruppe der Internationalen Klasse zurück. Dieser individuelle Stundenplan wird ständig mit wachsenden Kenntnissen und Fähigkeiten verändert, bis die vollständige Zuordnung in eine Regelklasse erfolgt. Dies ist innerhalb von sechs Monaten schon in drei Fällen gelungen. Nach Abschluss eines Schuljahres sollen es 14 weitere werden. Zudem findet auch in der Internationalen Klasse neben dem Erlernen der deutschen Sprache ein binnendifferenzierter Unterricht in Englisch und Mathematik unter Anleitung mehrerer Lehrkräfte statt. Ergänzt wird das Angebot durch individuelle Nachhilfe von Oberstufenschüler_innen, die dies in ihren Freistunden anbieten. Außerdem gibt es kooperative Angebote eines Judo- und Basketballclubs, einer ortsansässigen Tanzschule und der Musikschule Hilden, um den Schülerinnen und Schülern weitere Integrationsmöglichkeiten zu eröffnen. Neben der fachlichen Förderung steht nach wie vor das soziale Lernen im Mittelpunkt aller pädagogischen Überlegungen. Es ist positiv, dass die Schule auf langjährige Erfahrungen mit Spätaussiedler_innen zurückgreifen kann und über pädagogisches Personal verfügt, das im Internatsbereich tätig war. Dadurch können erlebnis- und spielpädagogische Angebote gemacht werden, bei denen die Sprachbarriere keine Rolle spielt. Die große Herausforderung besteht darin, den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Einige haben z.B. einen unsicheren Aufenthaltsstatus. Wenn sie beobachten, dass einige aus der Klasse schon wieder abgeschoben werden, schlägt sich dies natürlich auf die Lernmotivation und Atmosphäre der Gruppe nieder. Umso wichtiger ist es, dass alle Schülerinnen und Schüler spüren, dass sie an der Schule willkommen sind,

248

K. Eberl / W. Janssen / U. Kotthaus / S. Lindemeyer

und dass vielfältige Unterstützungsmaßnahmen greifen. Dazu gehört neben der Schulsozialarbeit und der Schulseelsorge auch das freiwillige Engagement von Oberstufenschüler_innen als Lernpat_innen. Die Maßnahme der Internationalen Klasse, von der Bezirksregierung „Seiteneinsteigerklasse“ genannt, ist zunächst auf zwei Jahre begrenzt. Innerhalb dieser Zeit sollen alle Schülerinnen und Schüler in der Lage sein, die Regelklasse irgendeiner Schulform zu besuchen. Es soll also anschließend eine Zuweisung zu einer Hauptschule, einer Sekundarschule, einer Realschule, einer Gesamtschule oder einem Gymnasium erfolgen. Das bedeutet, dass zumindest einige der betreuten Schülerinnen und Schüler nach den geltenden Regeln das DietrichBonhoeffer-Gymnasium verlassen müssten. Allerdings bemüht sich die Schule, möglichst keine Schülerinnen und Schüler nach dem Verlassen der Internationalen Klasse an andere Schulen zu verweisen. Denn tatsächlich haben sie in der Gruppe und in der Schule eine neue Heimat gefunden. Das ist angesichts der Flucht- und Migrationserfahrungen, die viele dieser Kinder und Jugendlichen gemacht haben, neben allen Lernerfolgen eine wichtige Frucht der schulischen Arbeit. Diese sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, dass unter dem Dach des Evangelischen Schulzentrums Hilden das Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium und die Evangelische Gesamtschule zusammenarbeiten. Ob es möglich ist, die Arbeit der Internationalen Klassen nach dem Projektzeitraum weiterzuführen, hängt davon ab, ob weiterhin Stellenzuschläge für die schulische Betreuung von Flüchtlingen und Asylsuchenden gewährt werden. Denn das System mit festen und immer anwesenden Betreuerinnen und Betreuern ist personalaufwendig. Für Sachmittel, Unterrichtsmaterialien und technische Geräte, aber auch für die Durchführung spezifischer Unternehmungen werden von der Evangelischen Kirche im Rheinland zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt.

Flüchtlinge in der Schule

3.3

249

„Unsere Tür ist offen, unser Herz noch mehr“9 – internationale Vorbereitungsklasse an der Erzbischöflichen Liebfrauenschule Bonn (von Wibke Janssen)

Der erste Impuls zur Einrichtung einer Klasse für Geflohene an der Liebfrauenschule Bonn kam aus der Schulpastoral / Schulseelsorge. Eine Kollegin für Philosophie und Deutsch, der katholische Pfarrer und die evangelische Pfarrerin entwickelten nach Rücksprache mit der Schulleitung zunächst ein Konzept für die Klasse mit theologischer Begründung, pädagogischer Grundlegung und ersten praktischen Umsetzungsvorschlägen auf der Basis der oben beschriebenen Rechtsgrundlagen. Neben der Haltung christlicher Nächstenliebe war von vornherein der Ansatz gegenseitigen Lernens und einer Begegnung „auf Augenhöhe“ zentral. Das Konzept wurde in den Gremien der Schule diskutiert und befürwortet und dadurch zu einer „gemeinsamen Sache“. Die Schulleitung übernahm den erfolgreichen Antrag auf Unterstützung und Stellenbewilligung bei der erzbischöflichen Schulabteilung. Ab Oktober 2015 wurde mit dem Aufbau der Klasse begonnen; Anfang Februar 2016 war die Gründung der Klasse mit 16 Schülerinnen abgeschlossen. Die Schülerinnen wurden der Schule von der „Beratungsstelle für schulpflichtige Kinder und Jugendliche ohne ausreichende Deutschkenntnisse der Stadt Bonn“ vorgeschlagen. Die Liebfrauenschule ist ein reines Mädchengymnasium, und die Beratungsstelle sah im Profil der Schule eine besondere Chance für Mädchen und junge Frauen, die unbegleitet geflohen waren. Andere Kriterien waren eine mögliche gymnasiale Eignung und die Bereitschaft, sich auf eine Schule mit christlichem Profil einzulassen. Das Altersspektrum der Klasse reicht von zwölf bis achtzehn Jahren. Die Schülerinnen kommen überwiegend aus Syrien und dem Irak, sie sind christlich, muslimisch oder jesidisch religiös geprägt, manche sprechen Englisch, viele Arabisch und / oder Kurdisch (unterschiedliche „Dialekte“). Die Klassenleitung der Vorbereitungsklasse klärt wöchentlich in der Klassenleiterstunde aktuelle organisatorische und persönliche Fragen. Sie verantwortet gemeinsam mit der Schulleitung regelmäßige Elternabende, die sich als außerordentlich wichtig erwiesen haben.

9

Angelehnt an den zisterziensischen Grundsatz: „porta patet, cor magis“, Teil der theologischen Begründung der Einrichtung einer Vorbereitungsklasse; vgl. zur Flüchtlingshilfe im Erzbistum Köln auch: http://www.aktion-neue-nachbarn.de/die-aktion/.

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K. Eberl / W. Janssen / U. Kotthaus / S. Lindemeyer

Die Vorbereitungsklasse erhält zehn Stunden Deutschunterricht im Verband plus individuelle Deutschstunden zu zweit oder in Kleingruppen. Ein Glücksfall ist die Mutter einer Schülerin, die ehrenamtlich für das Projekt arbeitet. Sie ist Dozentin an der Bonner Universität und forscht zu Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Sie beteiligt sich am Unterrichtsgeschehen, berät die Deutsch-Fachkollegin in der Klasse, vermittelt Studierende, die sich in der individuellen Förderung der Schülerinnen engagieren, und bildet das Kollegium fort. Zusätzlich erhalten die Schülerinnen im Verband der Vorbereitungsklasse so genannten Projektunterricht, der ehrenamtlich von aktiven und pensionierten Kolleg_innen erteilt wird. Ein Projekt dauert sechs Wochen und wird jeweils in einer Doppelstunde pro Woche erteilt. Im ersten halben Jahr waren das z.B. ein Sportprojekt mit Schwerpunkt Tanz, ein Erdkunde-Projekt mit Schwerpunkt Orientierung in Bonn, ein Kunstprojekt, ein Kochprojekt (in dem ein internationales Rezeptbuch entstand) und ein Politik-Projekt zu Formen schulischer Gremienarbeit (die Vorbereitungsklasse hat Klassensprecherinnen gewählt, die in der Schülervertretung vertreten sind). Ein wichtiger Teil des Schulalltags ist der Unterricht in jeweils altersoder entwicklungsentsprechenden Regelklassen. Er ist ein entscheidender Faktor für die Integration und Inklusion der Schülerinnen und trägt dazu bei, dass sie an das deutsche Schulsystem herangeführt werden und dass z.B. die Schülerinnen, die sich auf die gymnasiale Oberstufe vorbereiten, mehr Unterricht haben als Schülerinnen der Stufe sieben. In den Regelklassen findet auch der FremdsprachenUnterricht statt, der an vorhandene Kenntnisse der Schülerinnen anknüpft, sie stabilisiert und ausbaut. Zwischen der Klassenleitung der Vorbereitungsklasse und den Klassenleitungen der Regelklassen finden regelmäßige Dienstgespräche statt. Die Schülervertretung hat zu Beginn des Projekts sensibel, zügig und sachgerecht die Versorgung der neuen Schülerinnen mit Schulsachen, Kleidung und Hygieneartikeln übernommen. Inzwischen organisiert sie gemeinsame Freizeitaktivitäten. Schülerinnen verantworten auch z.B. den ehrenamtlichen Gitarrenunterricht, der ein großer Wunsch von vier Schülerinnen aus der Vorbereitungsklasse war. Die Schülerinnen der Vorbereitungsklasse nehmen inzwischen Schulseelsorge aktiv an und suchen das Gespräch, um über Erlebtes und aktuelle Schwierigkeiten zu sprechen. Es ist erstaunlich, wie viel mit wenig gemeinsamer Sprache möglich ist. Selbstverständlich vermitteln wir an Facheinrichtungen mit Übersetzungskräften weiter, wenn dafür Bedarf ist.

Flüchtlinge in der Schule

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Für die Vorbereitungsklasse engagieren sich bleibend vielfältige Kräfte. Schule ist ein wunderbares Biotop für vernetzte Hilfe. Das Projekt wird unterstützt und gefördert von Prof. (em.) Dr. Ursula Lehr als Schirmherrin. Eltern, die fachlich qualifiziert sind, bringen sich in den Deutschunterricht ein oder beraten einzelne Schülerinnen. Sie vermitteln Berufspraktika. Schülerinnen helfen mit ihren Sprachkenntnissen als Übersetzerinnen und erteilen Nachhilfe. Wir profitieren ungemein von der Vernetzung mit den unterschiedlichen kirchlichen Einrichtungen in Bonn (Kirchengemeinden, Diakonie, Caritas, katholisches Bildungswerk, Evangelische Migrations- und Flüchtlingsarbeit u.a.). Nach dem ersten halben Jahr sind manche Schwierigkeiten bewältigt. So kamen einige Schülerinnen zunächst nicht mit dem Autoritätsprofil unserer Lehrkräfte zurecht. Sie berichteten von Schlägen in ihrem heimatlichen Unterricht, empfanden uns als zu „lasch“ und verhielten sich entsprechend. Den Unterricht in den Regelklassen empfanden die Schülerinnen oft zunächst als „nutzlos“, und wir mussten Techniken entwickeln, sie auch dort zu fördern. Das Kollegium hat sich über die jesidische Religion informiert und gelernt, auch deren Fastentage im Blick zu haben. Die ersten internationalen Schülerinnen haben an Klassenfahrten ihrer Regelklassen teilgenommen. Andere Aufgaben bleiben: Durch Schulausfall wegen Krieg und Flucht gibt es z.B. große Lücken in Mathematik und Englisch, und der Weg zu einer wirklichen Inklusion (!) in die Schülerinnenschaft, also weg vom Besonderen, hin zum Selbstverständlichen, muss weiter begleitet werden. Das Anliegen der Gegenseitigkeit und des gemeinsamen Lernens bleibt zentral. Die Schulgemeinschaft hat mit der Vorbereitungsklasse an interkultureller Kompetenz gewonnen, und als Kollegium haben wir z.B. einen neuen Zugang zu individueller Förderung kennengelernt. Der letzte Schultag endet bei uns mit Gottesdienst und Schulversammlung auf dem Schulhof. In diesem Jahr haben die Schülerinnen der Vorbereitungsklasse eine kurze Rede über ihre Situation gehalten und einen Tanz aufgeführt. Ihr Mut wurde mit brausendem Beifall honoriert. Für das nächste Schuljahr planen wir eine interkulturelle Projektwoche mit Abschlussfest, an deren Vorbereitung und Konzeption Schülerinnen und Eltern der Vorbereitungsklasse teilhaben werden.

252 4

K. Eberl / W. Janssen / U. Kotthaus / S. Lindemeyer

Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler – Erlasslage in NRW

Das NRW-Schulministerium hat den Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler mit einem Erlass vom 28. Juni 2016 geregelt. Er bezieht sich auf die Kinder und Jugendlichen, die erstmals eine deutsche Schule besuchen und (noch) nicht über die notwendigen Deutschkenntnisse verfügen. Das Ministerium stellt heraus, dass Teilhabe und Integration Aufgabe der gesamten Schule und ihrer Partner sind und das Erlernen der deutschen Sprache in allen Fächern erfolgt. Große Bedeutung wird der Orientierung im Alltagsleben in Deutschland eingeräumt. Grundsätzlich kann die Förderung in der deutschen Sprache in innerer und äußerer Differenzierung durchgeführt werden. Allerdings präferiert das Ministerium eine möglichst frühe Integration in Regelklassen, um Separierungen zu vermeiden. Wenn eine Aufnahme in die Regelklasse noch nicht möglich ist, kann die Schulaufsichtsbehörde befristet Klassen zur vorübergehenden Beschulung, d.h. Internationale Klassen, einrichten. An den Berufskollegs werden entsprechend „Internationale Förderklassen“ (IFK) eingerichtet. Darüber hinaus eröffnet das Ministerium die Möglichkeit des herkunftssprachlichen Unterrichts. Damit wird die natürliche Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler gefördert. Allerdings ist dies als Ergänzung zu verstehen. In der Regel wird der herkunftssprachliche Unterricht – wenn überhaupt – im Bereich der AGs am Nachmittag stattfinden, zumal dieses Angebot unter dem Haushaltsvorbehalt steht. 5

Empfehlungen

Die große Zahl neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher wird das deutsche Schulsystem verändern. Wenn dadurch die Differenzierungsmöglichkeiten im Unterricht verbessert werden und insgesamt eine heterogenitätssensible Schulkultur entsteht, können alle Schülerinnen und Schüler davon profitieren. Die Studie des Mercator-Instituts über neu zugewanderte Kinder und Jugendliche hat dazu empfohlen: – Potenziale neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler erkennen und Ressourcen nutzen,

Flüchtlinge in der Schule

253

– Zugang zum Bildungssystem für alle Kinder und Jugendlichen gewährleisten: unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen Status, – Mindestanforderungen und Standards festlegen, – Handlungsspielräume für passgenaue Konzepte nutzen, – migrationssensible Haltung entwickeln, – Fortbildungsmaßnahmen am Bedarf ausrichten, – Definition und Datenerhebung länderübergreifend vergleichbar gestalten, – schulorganisatorische Modelle für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler untersuchen und evaluieren.10 Darüber hinaus muss die Bedeutung der Schulseelsorge, der Schulsozialarbeit und der ehrenamtlichen Unterstützungssysteme betont werden. Sie alle tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche trotz ihrer zum Teil traumatischen Erfahrungen in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht sich in ihrer neuen Heimat orientieren können. Eine ganzheitliche Bildung „mit menschlichem Maß“ ist wesentliche Voraussetzung für gelingende Integration. Literatur EKD, Evangelische Schulseelsorge in der EKD. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2015. Evangelische Kirche im Rheinland, Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen, Arbeitshilfe, Düsseldorf 2015. Mercator-Institut (Hg.), Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem, Köln 2015. Schröder, Bernd, Religiöse Pluralität in der Schule. Praktisch-theologische Perspektiven für evangelische Schulseelsorge, in: Harmjan Dam / Volker Elsenbast / Matthias Spenn (Hg.), Schulseelsorge in der pluralen Schule (Schnittstelle Schule – Impulse evangelischer Bildungspraxis 6), Münster 2014, 9–28. Schulministerium NRW, Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler, Düsseldorf 2016, online: http://www.schul ministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Integration/Gefluechtete/K ontext/RS-Erlass-13-63-Nr_3.pdf (Zugriff 15.8.2016). Schulministerium NRW, Vielfalt gestalten – Teilhabe und Integration durch Bildung, online: http://www.schulministerium.nrw.de/docs/ Schulsystem/Integration/Schulentwicklung/Erlass_vom_ 29_6_2012.pdf (Zugriff 15.8.2016).

10

Vgl. Mercator-Institut, Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche, 7.

Jan Graf / Yasemin Mentes

Digitale Partizipation und Befähigung junger Flüchtlinge

1 1.1

Digitale Medien in den Lebenswelten junger Flüchtlinge Fluchthelfer Smartphone

Smartphones und die damit nutzbaren sozialen Netzwerke spielen bei der Flucht junger Menschen eine zentrale Rolle. Der Kontakt zu Schleppern und Fluchthelfern erfolgt in der Regel über soziale Netzwerke wie Facebook, WhatsApp oder Viber. Auf dem Fluchtweg haben die Mobilgeräte die Funktion, den Kontakt mit der Familie zu halten und bei der Orientierung und Planung der nächsten Etappe zu helfen. Vor allem aber bieten sie ein wenig Schutz. Nach der erfolgreichen Ankunft an einem Etappenziel rufen die Jugendlichen ihre Familie an oder versenden eine Nachricht. Erst dann wird der lokale Schlepper vor Ort bezahlt. Skype, weitere Chat-Programme usw. ermöglichen die regelmäßige und kostenfreie Kommunikation zwischen räumlich verteilt lebenden Familienmitgliedern. Auch aktuelle Entwicklungen in den Heimatländern werden auf diese Weise mitverfolgt. Die Alltagswirklichkeit vieler Jugendlicher wird durch diesen Austausch in hohem Maße geprägt, ohne dabei dem „Ankommen“ in der neuen Gesellschaft im Wege zu stehen. Vielmehr haben die transnationalen Kontakte für die Jugendlichen in aller Regel eine Stabilisierungsfunktion und helfen ihnen bei ihrer Lebensbewältigung ohne ihre Familie. Digitale Medien eröffnen jungen Geflüchteten auf diese Weise nebeneinander existierende, transnationale Lebenswelten. 1.2

Digitale Medien als Integrationshelfer

Junge Flüchtlinge müssen nicht nur die Grenzen zwischen Staaten überwinden. In Deutschland angekommen, stehen sie vor neuen und zusätzlichen Grenzlinien. Entlang von Sprach-, Kultur- und Informa-

Digitale Partizipation und Befähigung

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tionsgrenzen verlaufen unsichtbare Grenzen, die den Zugang zur Gesellschaft erschweren. Hinzu kommt eine Integrationsgrenze ganz eigener Art: Junge Flüchtlinge wissen zunächst nicht, ob sie in dieser Stadt, in dieser Gemeinde verbleiben können. Insbesondere für unbegleitete junge Geflüchtete stellt dies eine zusätzlich belastende Verunsicherung dar. Nach oftmals langen und belastenden Fluchterfahrungen benötigen diese jungen Menschen ein Höchstmaß an Klarheit über ihre Situation. Bereits während der ersten Tage und Wochen müssen den Kindern und Jugendlichen konkrete Perspektiven aufgezeigt werden, unabhängig davon, in welcher Stadt oder Gemeinde sie verbleiben werden. Dazu benötigen sie verständliche Informationen über das Land, in dem sie nun leben, über kulturelle Aspekte, ihre rechtliche Situation und vieles andere mehr. Dies gilt selbstverständlich ebenso, wenn feststeht, in welcher Stadt oder Gemeinde der junge Flüchtling künftig leben wird. Er benötigt dann vielfältige Kenntnisse über die Kommune, denn auch in den Lebenswelten junger Flüchtlinge kommt der möglichst eigenständigen Aneignung des öffentlichen Raumes, der Bildungs-, Arbeits- und Teilhabemöglichkeiten in der jeweiligen Stadt oder Gemeinde eine zentrale Bedeutung zu. Um den Jugendlichen die Integration an ihren neuen Lebensort zu ermöglichen, ist es entscheidend, dass sie sich aktiv mit der Aufnahmekultur auseinandersetzen können und zur Teilhabe befähigt werden. Digitale Medien können Unterstützungsoptionen und Angebote vor Ort zugänglich machen, erweiterte soziale Beziehungen eröffnen, das Erlernen der neuen Sprache erleichtern und zur Selbstständigkeit sowie Teilhabe befähigen. Smartphones und ein Zugang zum Internet sind somit ein elementarer Bestandteil der Soziabilität junger Flüchtlinge. 2 2.1

www.stadtgrenzenlos.de Ein Integrationsportal für junge Flüchtlinge und andere Integrationsakteure

Stadtgrenzenlos.de wurde vor dem Hintergrund der geschilderten Lebenswelten junger Flüchtlinge als sogenannte Web-App entwickelt. Nahtlos wird an die fundamentale Bedeutung sozialer Medien im Er-

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J. Graf / Y. Mentes

fahrungshorizont dieser Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeknüpft. Im Gegensatz zu herkömmlichen Stadtportalen geht es bei Stadtgrenzenlos.de jedoch nicht vorrangig um die Frage: „Wo befindet sich etwas?“, sondern vor allem um die Frage: „Wie genau funktioniert etwas für mich?“. Denn allgemeine Informationen über Städte haben für junge Flüchtlinge wenig bis keinen integrativen Mehrwert. Diese können zudem jederzeit problemlos aus dem Internet bezogen werden. Von dem ersten Tag ihrer Ankunft an bietet Stadtgrenzenlos.de jungen Flüchtlingen daher die Chance, ihre Situation und ihre Möglichkeiten in Deutschland in ihrer Landessprache eigenständig zu erschließen, unabhängig davon, in welcher Stadt oder Gemeinde sie zukünftig leben werden. Dabei geht es um einen Überblick über die wichtigsten Fragen und das Leben in Deutschland. Komplexe Themenfelder, wie z.B. rechtliche Zuständigkeiten, werden u.a. in Form sogenannter Erklärvideos erläutert. Die 2- bis 5-minütigen Videos sind in den Sprachen Pashto, Dari, Arabisch, Tigrinya, Türkisch, Kurdisch, Englisch sowie natürlich in Deutsch verfügbar und wurden zusammen mit jungen Flüchtlingen erarbeitet und erstellt. Bereitgestellt werden zusätzlich auch häufig gestellte Fragen samt Antworten (FAQs), alltagsrelevante Wörterbücher sowie alltagsrelevante Verständigungshilfen. Alle diese Informationen und Lernmaterialien sind selbstverständlich auch den Kindern und Jugendlichen zugänglich, die mit Eltern oder Verwandten eingereist sind und gemeinsam mit diesen leben. Neben den „Erstinformationen“ für junge Flüchtlinge stellt Stadtgrenzenlos.de den Integrationsakteuren Fachartikel sowie aktuelle Informationen über relevante Sachverhalte zur Verfügung. 2.2

WeReport und MyVoice: Junge Flüchtlinge als Integrationsakteure in eigener Sache

Niemand kann die Wünsche, Fragen und Bedürfnisse der neu ankommenden Jugendlichen besser nachvollziehen als die jungen Flüchtlinge selbst. Kinder und Jugendliche, die schon länger vor Ort sind, kennen bereits viele wichtige Orte und Ansprechpartner, sind mit den sozio-kulturellen Besonderheiten vertraut und können ihre Erfahrungen an die Neuankömmlinge weitergeben. Stadtgrenzenlos.de fördert und befähigt die jungen Menschen daher in ihrer Rolle als möglichst selbstständige Akteure und Experten in

Digitale Partizipation und Befähigung

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eigener Sache. Den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten eröffnet, wie z.B. die Mitwirkung bei der Erstellung von Erklärvideos, Artikeln, Lern- und Informationsmaterialien bzw. die Nutzung von FeedBack-Möglichkeiten. Umgesetzt wird dies durch den Aufbau sogenannter „WeReporterTeams“. Junge Flüchtlinge berichten über bundesweite Entwicklungen und erarbeiten ebenso Beiträge aus ihrer Kommune. In Partizipationsworkshops mit begleiteten und unbegleiteten jungen Flüchtlingen wird den Betroffenen selbst die Möglichkeit eröffnet, die Grenzen innerhalb ihrer Kommune zu überwinden, indem sie die Zugänge zu ihrer Kommune nicht nur ganz unmittelbar kennenlernen, sondern auch die Möglichkeit erhalten, die Darstellung dieser Zugänge mitzugestalten. Dies geschieht, indem z.B. graphische Gestaltungsmöglichkeiten angeboten werden. Ebenso werden durch ein Team von jugendlichen Reportern kurze Videoclips über einzelne Integrationsakteure gestaltet oder Kurzinterviews durch „We-Reporter“ durchgeführt etc. Ein weiteres Partizipationselement stellt das Umfragesystem „MyVoice“ dar. Hierbei werden von Stadtgrenzenlos.de bundesweit Umfragen zu relevanten Themen an die betroffenen Kinder und Jugendlichen versendet. Auf diese Weise erhalten junge Flüchtlinge eine eigene Stimme und Rückmeldemöglichkeiten auf konkrete Fragestellungen, die entsprechend bundesweit ausgewertet werden können. Damit möchte Stadtgrenzenlos.de gleichzeitig einen Beitrag zur Umsetzung der Artikel 12, 13, 17 sowie Artikel 28 UN-Kinderrechtskonvention leisten (Recht des Kindes auf freie Meinungsäußerung, sich Informationen zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, das Recht auf Zugang zu Informationen aus einer Vielfalt nationaler und internationaler Quellen sowie das Recht auf Bildung). 2.3

Die kommunalen Dialogforen: Vernetzung der unterschiedlichen Integrationsakteure

Stadtgrenzenlos.de wendet sich in Form kommunaler Dialogforen an die relevanten Integrationsakteure in einer Kommune. Exemplarisch sei dazu auf die konkreten Erfahrungen des „1. Dialogforums junge Flüchtlinge, Bonn“ hingewiesen. Mehr als achtzig Akteure aus den Bereichen Jugendhilfe, Gesundheitshilfe, Jugendmigrationsdienste, der Industrie- und Handelskammer, Arbeitsagentur, Jobcenter, Schulen usw. trafen sich im März 2016 erstmalig. Ziel des Forums waren

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J. Graf / Y. Mentes

das gegenseitige Kennenlernen und die Vernetzung, aber auch eine Bestandsaufnahme der Hilfen für junge Flüchtlinge. Dazu dienten vier Themenräume, die die Teilnehmenden nacheinander aufsuchten. Im „Problem-Raum“ wurde deutlich, dass es zwar eine Vielzahl an Angeboten für junge Flüchtlinge gibt, aber Informationen darüber in kompakter und jederzeit abrufbarer Form nicht vorliegen. Hier wünscht man sich vor allem eine „technische Lösung“, die die Dienstleistungen bündelt. Weiterhin wird die fehlende Vernetzung der Akteure bemängelt. Eine bessere Zusammenarbeit könnte auch Wissensdefizite abbauen. Dazu wurden im „Best Practice-Raum“ und im „Treff-Punkt“ unmittelbar erste Grundlagen geschaffen. Denn hier wurden Informationen über bestehende Projekte gesammelt und die Kontaktdaten sowie die Dienstleistungen erfasst. Die Vielfalt der Hilfen wurde insgesamt als gut bis überdurchschnittlich gewertet. Trotzdem fehlen Schulplätze sowie Angebote zur intensiven Sprachförderung. Erschwerend kommt hinzu, dass Mitarbeitende aus unterschiedlichen Institutionen die jungen Menschen auf konventionellem Weg nicht erreichen. Beispielhaft beschrieben Mitarbeitende der IHK, dass es eine Vielzahl an Unternehmen gibt, die Ausbildungs- und Praktikumsplätze anbieten. Diese Informationen seien aber bei den Zielgruppen nicht angekommen, sodass nur wenige Stellen besetzt werden konnten. Im „Informationsraum“ wurde deutlich, dass viele digitale Angebote – sowohl bei haupt- als auch ehrenamtlichen Kräften – bisher wenig bekannt sind. Dabei könnte deren Kenntnis viele „Zeitfresser“ in der alltäglichen Arbeit reduzieren. Die Fülle an Rückmeldungen war beeindruckend. Festzuhalten ist, dass Online- und Offline-Welten miteinander vernetzt werden müssen. Daher wurde z.B. auch vorgeschlagen, haupt- und ehrenamtliche Akteure zu schulen, um mit jungen Flüchtlingen auf digitalem Wege zu kommunizieren. Einige andere Ideen der Teilnehmenden konnten sofort umgesetzt werden. So stand z.B. unmittelbar eine Liste der Teilnehmenden und deren Angebote online bereit. Auf diese Weise können die verschiedenen Akteure ihre Dienstleistungen für die jungen Flüchtlinge auf Stadtgrenzenlos.de in vielfältiger Form darstellen. Dazu wurde ein Leitfaden erarbeitet. Ein nächstes Dialogforum ist bereits in Planung.

Digitale Partizipation und Befähigung

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Es hat sich gezeigt, dass die Entwicklung und Umsetzung von Stadtgrenzenlos.de höchst unterschiedliche Kompetenzen erfordert. Neben sozialpädagogischer Kompetenz bezieht Stadtgrenzenlos.de daher auch sozialgeographische, ethnologische und medientechnische Expertisen in Form eines interdisziplinären Projektteams ein. Stadtgrenzenlos.de kooperiert auf Bundesebene darüber hinaus u.a. mit dem „Bundesverband für unbegleitete junge Flüchtlinge“. Auf Landesebene arbeitet Stadtgrenzenlos.de u.a. mit der „Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW“ in Köln zusammen. Eine wissenschaftliche Begleitung erfolgt durch das „Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen, BIM, e.V.“. Viele Initiativen und Unterstützer bilden darüber hinaus die Voraussetzung für die jeweils erforderlichen aktuellen Weiterentwicklungen des Portals. Grundsätzlich kann Stadtgrenzenlos.de in den verschiedensten Kommunen Anwendung finden. Für die konkrete Darstellung von Integrationsakteuren in Form von Videos, Interviews etc. baut das Stadtgrenzenlos-Team vor Ort „We-Reporter-Teams“ auf und führt regionale Dialogforen zur Vernetzung durch. In beiderlei Hinsicht ist Stadtgrenzenlos.de dabei allerdings auf die Zusammenarbeit mit interessierten Partnern vor Ort angewiesen.

Antje Huber / Ralf Dürrwag

Integration durch Ausbildung und Beruf

1

Initiative „Flüchtlingshilfe: Gemeinsam handeln!“

Abseits der medialen Berichterstattung, im normalen Leben, kann man die sogenannte Flüchtlingskrise leicht ignorieren. Im Straßenbild fallen die nach Deutschland geflüchteten Menschen kaum auf, allenfalls in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterhalten sich jetzt mehr Menschen in anderen Sprachen. Nicht wegschauen können die Beschäftigten der Deutschen Post in der Briefzustellung. Sie bringen jeden Tag Briefe in die Zeltlager, Containerdörfer und dezentralen Unterkünfte. Meist handelt es sich dabei um Behördenpost. In den Umschlägen stecken die sehnlich erwartete Anerkennung, der befürchtete Abschiebebescheid, der Leistungsnachweis des Jobcenters oder die Aufforderung der Ausländerbehörde, sich zu einem bestimmten Termin wegen der Familienzusammenführung einzufinden. Die Zustellerinnen und Zusteller der Deutschen Post kommen im Arbeitsalltag in Kontakt mit Geflüchteten – und dies erzeugt Nähe. Die allermeisten Postbotinnen und Postboten wollen auch nicht wegsehen, im Gegenteil: Viele engagieren sich ehrenamtlich. Damit hatte die im September 2015 gestartete Initiative „Flüchtlingshilfe: Gemeinsam handeln!“ von Deutsche Post DHL Group ideale Voraussetzungen. Ein anderer Startvorteil bestand darin, dass Unternehmensverantwortung („Living Responsibility“) in der Geschäftsstrategie des Unternehmens verankert ist. Seit über zehn Jahren fördert das weltweit tätige Unternehmen, das in Deutschland Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus 150 Nationen beschäftigt, das freiwillige Engagement der Beschäftigten und hat sich in Programmen wie GoTeach und GoHelp mit den ebenso erfahrenen wie anerkannten Hilfsorganisationen SOS-Kinderdorf, Stiftung Lesen und Teach First Deutschland zusammengetan. Die Kooperationen zielen darauf ab, benachteiligte junge Menschen beim Spracherwerb zu unterstützen, ihnen Bildungschancen zu ermöglichen und berufliche Perspektiven aufzuzeigen.

Integration durch Ausbildung und Beruf

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Diese Kooperationen passen sehr gut zum Thema Flüchtlingshilfe: Geflüchtete sind auf vielerlei Weise benachteiligt, sie sind überwiegend jung und sie benötigen Unterstützung beim Spracherwerb. So ist die Initiative zur Flüchtlingshilfe die Fortsetzung des bisherigen Engagements. Das Basiskonzept für die Initiative „Flüchtlingshilfe: Gemeinsam handeln!“ konnte also auf Bestehendem aufbauen. Allerdings wurde das Engagement angesichts der Größe der gesellschaftlichen Aufgabe massiv ausgebaut. So unterstützt Deutsche Post DHL Group außerdem im Rahmen der Initiative das Bündnis „Aktion Deutschland hilft“ und trat der Initiative der deutschen Wirtschaft zur Unterstützung der Integration von Flüchtlingen in Deutschland, „Wir zusammen“, bei. 2

Ein Helferkreis aus 13.000 Menschen

Für die Initiative stellt das Unternehmen umfangreiche Ressourcen bereit: Bereits zum Start im September 2015 wurden in den Niederlassungen des Konzerns 100 Koordinator_innen aktiv, die als Ansprechpartner_innen vor Ort für geflüchtete Menschen, ehrenamtlich tätige Beschäftigte und Hilfsorganisationen bereitstehen. Bei den Koordinator_innen handelt es sich um Freiwillige, vorrangig aus dem Personalbereich, die im Unternehmen gut vernetzt sind und von anderen Aufgaben entlastet wurden. In den darauffolgenden neun Monaten engagierten sich mehr als 13.000 Mitarbeitende in über 650 Projekten. Für ehrenamtlich Engagierte wurden Weiterbildungsprogramme für Sprachpaten und Integrationslotsen geschaffen. Diese begleiten die Geflüchteten bei Behördengängen, helfen bei der Wohnungssuche, geben Deutschunterricht, checken Lebensläufe oder übernehmen organisatorische Aufgaben in den Flüchtlingsunterkünften. Außerdem stellte das Unternehmen den Gemeinden 26.000 Quadratmeter Flächen seiner Liegenschaften für die Unterbringung von Geflüchteten oder die Einrichtung von Kleiderkammern zur Verfügung. Zuletzt, und dies erachten die Hilfsorganisationen, die lokalen Helferkreise und die geflüchteten Menschen selbst als besonders wertvollen Beitrag, hat sich das Unternehmen dazu bereiterklärt, Geflüchtete beruflich zu qualifizieren, damit sie mittelfristig die Chance auf Arbeit haben. Bisher konnten im Konzern über 150 Praktika an Geflüchtete vermittelt werden, die perspektivisch zu Ausbildung und Arbeit führen sollen. Weitere 50 geflüchtete Menschen wurden (Stand Juni 2016) eingestellt. Das Ausbildungsangebot ist allerdings weitaus größer, in den Konzernniederlassungen sind über 800 der im Rahmen der Initia-

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A. Huber / R. Dürrwag

tive zusätzlich geschaffenen Praktikumsplätze unbesetzt. Und das, obwohl in einer ebenso schnellen wie behutsamen Integration in das Arbeitsleben letztlich der Schlüssel für das Ankommen in der Gesellschaft des Aufnahmelandes liegt. Eine Integration der Geflüchteten in die Arbeitswelt in Deutschland stellt auch eine große Chance für die Wirtschaft Deutschlands dar, da in vielen Wirtschaftszweigen bereits heute aufgrund des demografischen Wandels ein Nachwuchskräftemangel herrscht. 3

Arbeit allein genügt nicht

Dass die Integration in Arbeit und Beruf trotz des guten Willens aller Beteiligten oft nur schleppend erfolgt, hat mehrere Gründe. Häufig scheitert der Einstieg in den Beruf an den mangelnden Sprachkenntnissen. Selbst bei Helfertätigkeiten, etwa in der Paketverladung, die von ungelernten Kräften erledigt werden können, ist es notwendig, dass die Beschäftigten Arbeitsanweisungen und Sicherheitshinweise verstehen. Außerdem kann es nicht das Ziel sein, geflüchtete Menschen mit einem rudimentären Sprachverständnis auszustatten, um sie möglichst schnell „arbeitsfähig“ zu machen, wie dies bei den Arbeitsmigrant_innen der 1950er bis 1970er Jahre die übliche Vorgehensweise war. Die in der Vergangenheit gemachten Fehler sollten jetzt nicht wiederholt werden. Erwerbsarbeit ist zwar ein wirksamer Integrationsfaktor, aber Arbeit allein führt nicht zu gesellschaftlicher Integration. Arbeitsbegleitende Sprach- und Integrationskurse sind eine absolute Notwendigkeit. Verzögert wird die Integration in der Arbeitswelt auch durch unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und Berufsbilder. Zudem erschweren lange Anerkennungsverfahren und eine selbst für Verwaltungsfachleute schwer zu durchschauende Asylbürokratie die Integration ins Arbeitsleben. So pragmatisch Ausländerbehörden, Arbeitsagenturen und Jobcenter inzwischen bei der Ausführung von Verwaltungsvorschriften vorgehen und so groß das Entgegenkommen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden im Einzelfall auch sein mag, sind doch immer wieder neue Hürden zu überwinden. Ein gelungenes Beispiel für die Integration geflüchteter Menschen in das Erwerbsleben und in die Berufsausbildung bei der Deutschen Post findet sich in Oberreichenbach. Das etwa 20 Kilometer außerhalb der Stadt Erlangen gelegene mittelfränkische Dorf war im Juli 2015 Endpunkt der Flucht von acht jungen Männern aus Äthiopien. Bevor sie auf ihre Reise durch die Sahara und über das Mittelmeer

Integration durch Ausbildung und Beruf

263

aufbrachen, waren sie in ihrem Heimatland Handyverkäufer, verkauften als fliegende Händler Wasser, handelten mit Getreide, arbeiteten in der Landwirtschaft oder gingen zur Schule. In Oberreichenbach wurden sie von einem engagierten Helferkreis empfangen, der in einer Industriebrache eine improvisierte Schule installierte und mit dem Deutschunterricht begann. Über persönliche Kontakte kam es bereits im November 2015 zu einem Vorstellungsgespräch bei der Deutschen Post in Nürnberg, bei dem die Bewerber mit einem leicht abgespeckten Einstellungstest aus dem üblichen Bewerbungsverfahren für Azubis konfrontiert wurden. Nach dieser Leistungsauswahl erhielten sechs der jungen Männer ein fünfwöchiges entgeltloses Orientierungspraktikum mit Stationen in der Briefsortierung, der Paketverladung und der Paketzustellung angeboten. Allerdings konnten dieses Angebot nur vier der Asylbewerber wahrnehmen, zwei entgingen im Kirchenasyl der Abschiebung nach Italien. Im Betrieb legten die Praktikanten hohe Disziplin und Arbeitseifer an den Tag, aber nur bei zweien waren die Deutschkenntnisse gut genug, um als nächsten Schritt eine Einstiegsqualifizierung zu beginnen. Dabei handelt es sich um eine Maßnahme zur Berufsorientierung der Agentur für Arbeit. Jugendliche bereiten sich in einem betrieblichen Langzeitpraktikum auf den Ausbildungsberuf zur Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienstleistung vor und besuchen dabei auch die Berufsschule. Auch die beiden zwischenzeitlich aus dem Kirchenasyl entlassenen Geflüchteten konnten als Nachrücker in die Einstiegsqualifizierung wechseln – das Bewerbungsgespräch fand in der kirchlichen Einrichtung statt. 4

Große Momente – und viel zu tun

Während der Einstiegsqualifizierung begleiteten die jungen Männer Zusteller_innen auf ihrer Tour und übernahmen kleine Handreichungen. Für die Praktikanten gab es in dieser Zeit viele große Momente: Die Verpflichtung auf das Postgeheimnis, der erste Gehaltszettel, der Empfang der Gesundheitskarte oder der erste Schultag in der Berufsschule gehören dazu. Zu den positiven Erlebnissen gehören auch die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb und der freundschaftliche Kontakt zu Mitschülerinnen und Mitschülern. Die Kund_innen freuen sich ebenfalls über „ihre DHL-Äthiopier“; bislang wurde kein einziger Fall einer rassistischen Anfeindung bekannt. Damit Projekte wie dieses gelingen, ist viel zu tun. Die Geflüchteten wenden sich nicht nur in beruflichen Dingen an ihren Arbeitgeber,

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A. Huber / R. Dürrwag

sondern auch mit ihren Alltagssorgen. In Summe kostet die Betreuung der jungen Geflüchteten ein Mehrfaches der Zeit, die üblicherweise für Jugendliche in einer Einstiegsqualifizierung aufzuwenden ist. Den Einsatz des Arbeitgebers machen die Praktikanten mit Fleiß und Durchhaltewillen wett. Obwohl ihnen ihr Einkommen zum Großteil auf die Asylbewerberleistung angerechnet wird und sie finanziell kaum besser gestellt sind als ihre Landsleute ohne Arbeit, nehmen die vier Äthiopier aus Oberreichenbach beispielsweise lange Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln und mit dem Rad zur Arbeit nach Erlangen und in die Schule nach Nürnberg auf sich. Zum Start des Ausbildungsjahres 2016 im September erhoffen sich nun alle, dass eine Wohnung in der Nähe des Arbeitsortes gefunden und der Wohnungswechsel genehmigt wird. Noch nicht realisiert ist der „Plan B“ für die vier Äthiopier, die noch nicht für eine Einstiegsqualifizierung in Frage kommen. Ihnen bietet die Deutsche Post Helfertätigkeiten im Paketzentrum in Feucht an, wobei der Arbeitseinsatz von einem Sprachkurs begleitet werden würde. Dies scheitert derzeit noch an ausstehenden Genehmigungen. 5

Übergeordnete Planung und Umsetzung vor Ort

Ähnliche Erfahrungen haben auch andere Teams von Deutsche Post DHL Group im Rahmen der Initiative gemacht. Ein Erfolgsfaktor liegt in der übergeordneten Planung der Initiative und der Koordination der Hilfsangebote. Nur dadurch und durch den intensiven Austausch der Teams mit der Zentrale lassen sich beispielsweise Prozesse entwickeln, um schnell die erforderlichen Genehmigungen für eine Arbeitsaufnahme zu erhalten. Entscheidend für den Erfolg ist aber das Engagement der Menschen vor Ort. Arbeit mit Geflüchteten ist Arbeit. Wer Geflüchteten Hilfe leistet, braucht Zeit, Geduld und Verständnis. Doch damit verändert die Initiative „Flüchtlingshilfe: Gemeinsam handeln!“ die Unternehmenskultur von Deutsche Post DHL Group zum Positiven. Das Leitbild der Unternehmensstrategie lautet „Menschen verbinden, Leben verbessern“. In der Initiative wird dieser abstrakte Anspruch greifbar.

6 Handlungsfelder

Cinur Ghaderi

Begleitung traumatisierter Flüchtlinge

Menschen flüchten, getragen von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Eine beachtliche Zahl der Geflüchteten ist infolge ihrer Verfolgung, der Situation in ihren krisen- und kriegsgeschüttelten Herkunftsländern oder durch die Erfahrungen auf der Flucht traumatisiert. Was sie dringend brauchen, ist Schutz. Sicherlich benötigt ein Teil von ihnen Psychotherapie, nicht minder wichtig sind psychosoziale Stabilisierung und Begleitung. Die Begleitung von Flüchtlingen hat durch die jüngsten Entwicklungen an Relevanz und Alltäglichkeit gewonnen; so waren 2015 10 % der Bevölkerung daran beteiligt.1 Im Folgenden soll umrissen werden, was das Besondere an der Begleitung traumatisierter Flüchtlinge ausmacht und welche Differenzierungen sich ergeben, wenn von Begleitung, d.h. eben nicht von Beratung oder Therapie durch Professionelle wie Sozialarbeiter_innen und Psychotherapeut_innen, die Rede ist, sondern von Begleitung, die meist von Ehrenamtlichen und anderen engagierten Menschen umgesetzt wird. Welcher Achtsamkeitslinien bedarf die Begleitung, wenn es um traumatisierte Menschen geht und wenn ihr Status als Flüchtling limitierende psychosoziale Lebensbedingungen impliziert? 1

Was meint Traumatisierung?

Geflüchtete haben weltweit einen schlechteren körperlichen und psychischen Gesundheitsstatus. Je nach Herkunftsländern schwanken die Zahlen der Traumatisierten unter ihnen;2 für Deutschland gehen die Studien von 40 % bis 50 % aus.3 Für weitere häufige oder gar komorbide Störungen wie Depression, Angst, Suizidalität sind die Zahlen ähnlich hoch. 1 2 3

Vgl. Ahrens, Skepsis. Vgl. Bozorghmehr u.a., Systematische Übersicht. Vgl. Gäbel u.a., Prävalenz; Flatten u.a., Posttraumatische Belastungsstörung.

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C. Ghaderi

Psychische Traumatisierung geht kausal mit dem Erleben belastender und lebensbedrohlicher Ereignisse einher. Die Auswirkungen gelten dann als besonders hoch und gravierend, wenn diese Erfahrungen, ob kumuliert oder sequentiell, lang andauernd und wiederholt sind und von Menschenhand intendiert (man-made-desaster) zugefügt wurden. Dieser Dosis-Effekt ist unbestritten, zugleich wird aus psychotraumatologischer Sicht ein dynamisches Zusammenwirken von Resilienzen auf individueller Ebene und der posttraumatischen Lebenssituation gesehen. Auf einer individuellen Ebene wirken Resilienz und Kohärenz schützend, da sie mit persönlichen Haltungen wie eine positive Lebenseinstellung und einem Gefühl der Selbstwirksamkeit einhergehen und als aktive Bewältigungsstrategien genutzt werden. Ein weiterer fundamentaler Schutz sind kognitive Fähigkeiten und Wissen um Traumatisierung und damit die Vorhersehbarkeit von Entwicklungen. Für die Pathogenese einer traumatischen Störung ist nicht nur das Wechselverhältnis der traumatischen Situationen als Stressauslöser und der individuellen Risiko- und Schutzfaktoren ausschlaggebend; maßgebend ist vielmehr die posttraumatische Umwelt: das Vorhandensein von Sicherheit und Ruhe, die wahrgenommene soziale Unterstützung und die gesellschaftliche Wertschätzung (u.a. über juristische Anerkennung). Theoretisch können Traumatisierungen ein breites Spektrum psychischer Störungen zur Folge haben, wie depressive Störungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, dissoziative Störungen, Substanzabhängigkeiten oder Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung. Das DSM-V4 benennt konkret folgende Störungen im Zusammenhang mit Traumata und Stressoren:5 Reaktive Bindungsstörung, Bindungsstörung mit sozialer Enthemmung, Posttraumatische Belastungsstörung, Akute Belastungsstörung, Anpassungsstörung. Am bekanntesten ist die Posttraumatische Belastungsstörung. Zu den Kernsymptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (F43.10), die für Kinder ab sechs Jahren beschrieben werden kann,6gehören:

4

Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen der American Psychiatric Association (APA), 5. Auflage vom 18. Mai 2013. 5 Vgl. Falkai / Wittchen, Diagnostisches und statistisches Manual, 361–396. 6 Zu Traumatisierung bei Kindern vgl. den Beitrag von Eva Breitenbach in diesem Band.

Begleitung traumatisierter Flüchtlinge

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Intrusionen. Hierbei schießen ungewollt und wiederholt Bilder, Gerüche, Gedanken der traumatischen Situation ein. Sie können durch Trigger ausgelöst werden. Auch belastende Träume und Alpträume sind häufig, ebenso Flashbacks. Vermeidung. Taumaassoziierte Stimuli, wie Orte, Personen, Gefühle, werden vermieden. Ein Gefühl der Entfremdung und emotionale Taubheit, Numbing genannt, sind vorherrschend. Typisch sind ein allgemeiner Rückzug, Interesseverlust, innere Teilnahmslosigkeit und das Gefühl, wie abgestorben und erstarrt zu sein. Negative Veränderungen in traumaassoziierten Gedanken und Stimmungen. Hyperarousal. Personen zeigen Übererregungssymptome wie Schreckhaftigkeit, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Schlafstörungen, übermäßige Wachsamkeit, Affektintoleranz. Traumainduzierte psychische Störungen werden durch Erfahrungen von Todesangst und extremer Hilflosigkeit evoziert und lösen das Alarm- / Selbstschutzsystem des Menschen aus. Dabei kommt es zu einer psychischen Fragmentierung von Erleben und Erinnern und die „räumlich-zeitliche Einordnung (Hippocampus) und die assoziativen Fähigkeiten des Bewusstseins (Fronatlhirnfunktion), die normalerweise den sensorischen Input zu einem zusammenhängenden Erlebnis und einer später abrufbaren Erinnerung verknüpfen, werden außer Kraft gesetzt“7. Diese neurophysiologischen Veränderungen führen zu Gedächtnisspeicherung und -abrufstörungen, erschweren die Versprachlichung des Erlebten, da Sprache kognitive Zuordnungen voraussetzt, und haben Folgen für interpersonelle Beziehungsmuster. Diesen Prozessen versuchen psychotherapeutische und traumapädagogische Ansätze in der Arbeit mit traumatisierten Menschen Rechnung zu tragen: So gilt als Fundament unterschiedlicher Phasenmodelle die Notwendigkeit der Stabilisierung und Ressourcenorientierung in einem sicheren (Beziehungs-)Raum. Oberstes Prinzip ist die Stressreduktion, indem äußerlich und innerlich stabile, „sichere Orte“ geschaffen werden. Es folgen Phasen der Transformation (Verarbeitung, ggf. über Konfrontation) und der Integration und Neuorientierung, im Idealfall kann es zum sogenannten posttraumatischen Wachstum kommen. Diese Phasen sind dynamisch und sind aus einer 7

Hüthner u.a., Neurobiologische Grundlagen, 22.

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C. Ghaderi

ökologisch-dialektischen Perspektive abhängig von subjektiven Bedeutungszuschreibungen und objektiven Umweltfaktoren. 2

Gestundeter Schutz – politische und psychosoziale Aspekte aus posttraumatologischer Sicht

Psychische Traumatisierung – erst recht von Flüchtlingen – kann niemals losgelöst vom gesellschaftspolitischen Kontext allein als individuelle Pathologie gedacht werden. Die politische Ebene ist in den auslösenden Ereignissen als Kristallisation von gewaltsamen Konflikten manifest und eng mit sozialpolitischen Entwicklungen verwoben. Dabei sind nicht nur die Erfahrungen in den Herkunftsländern und der Flucht, sondern auch die psychosozialen Bedingungen, in der Geflüchtete in Deutschland leben, Teil einer posttraumatischen Umwelt, die die Traumasymptome und psychische Gesundheit beeinflussen. Zu den Risikofaktoren für eine posttraumatische Störungsentwicklung gehören erwiesenermaßen eine schlechte Qualität der Aufnahmecamps, ein verzögertes Verfahren bzw. die Verzögerung des Asylprozesses, das Fehlen eines legalen Aufenthaltsstatus, die Einsamkeit und Eintönigkeit in den Flüchtlingsunterkünften, gesellschaftliche Marginalisierung und fehlende Partizipation. Der eingeschränkte Zugang zur gesundheitlichen Versorgung begünstigt eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit.8 Eine Umwelt, die Sicherheit und Ruhe bietet, wirkt hingegen protektiv. Damit liegen Fluch und Segen eng beieinander: Es kann zu Chronifizierung durch eine belastende Umwelt kommen, und es kann trotz erlebter Traumata zu Stabilisierung kommen. Die psychosoziale Umwelt von traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland aus der posttraumatologischen Perspektive betrachtet zeigt, dass das fundamentale Bedürfnis nach Sicherheit durch lange Asylverfahren, einen unsicheren Aufenthaltsstatus, durch die Unterbringungssituation, Arbeitsverbot und den erschwerten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung verletzt wird und den Postmigrationsstress erhöht. So kann das Gefühl von Sicherheit in Unterbringungseinrichtungen reduziert sein, da die eingeschränkte Privatsphäre die Möglichkeiten der Stresskompensation verringert. Es kann gar zu Dekompensation und Retraumatisierung kommen. So hat beispielsweise eine Frau, die auf der Flucht sexualisierte Gewalt erfahren hat, nachvollziehbar extreme Angst, in einer Unterkunft zu duschen, wenn die Duschen nicht abschließbar sind. Nicht nur aus psycho8

Vgl. Baron / Flory, Versorgungsbericht.

Begleitung traumatisierter Flüchtlinge

271

traumatologischer Sicht, sondern auch aus allgemeinpsychologischer Sicht ist die zwangsweise Unterbringung in Sammelunterkünften fragwürdig, da bio-physiologische und psychische Grundbedürfnisse9 verletzt werden. Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Sexualität und Schlaf können nur bedingt befriedigt werden, ebenso die psychischen Bedürfnisse nach Bindung, Kontrolle, Kohärenz, Unlustvermeidung und Selbstwerterhöhung. Der Alltag gestaltet sich in Erwartung von Einschränkungen bei selbstverständlichen Freiheiten wie Duschen oder Schlafen. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle bleibt unbefriedigt, wenn sich in den Unterkünften soziale Gruppen erneut begegnen, die sich vielleicht zuvor als Verfolger und Verfolgte gegenüberstanden. Je nach Unterkunft und Konstellation ist das Leben mit der Angst vor Diskriminierung verbunden. Existentiell kann die Angst vor Abschiebung sein. „Ich möchte endlich in Sicherheit sein, bleiben dürfen, nicht mehr laufen müssen. Ich bin seit Jahren unterwegs,“ sagt ein junger Mann in einem Beratungsgespräch. Das Asylverfahren ist ein verunsichernder Faktor, den viele Geflüchtete nicht einschätzen können. Insbesondere Traumatisierte sind mit der Anhörung und der Erwartung, ihre Geschichte strukturiert wiederzugeben, überfordert. Geschulte Begleiter_innen können hier unterstützend wirken, um den psychologischen Effekt des Vergessens traumatisierender Erfahrungen in der Anhörung zu überwinden.10 Die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen ist geprägt von dem Widerspruch, Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsrecht, teils unter den Bedingungen institutionalisierter Desintegration, individuelle und gesellschaftliche Perspektiven zu eröffnen, mit der Herausforderung, sie in einem politisierten Raum nicht paternalistisch zu klientisieren. Es gibt Wege, diese Herausforderung anzugehen und zugleich trotz der verunsichernden psychosozialen Lebensbedingungen traumatisierter Flüchtlinge durch verschiedene Handlungen ein Maß an Sicherheit zu schaffen: Sicherheit kann objektiv hergestellt werden, indem Stressoren beseitigt und grundlegende Bedürfnisse (wie Nahrung, Schlaf) befriedigt werden, über Routinen, Kontakt zu Bezugspersonen und hilfreiche Beziehungen.

9 10

Vgl. Grawe, Neuropsychotherapie; Bierwirth, Psychotherapie. Z.B. Projekt „Arrival Aid“ (http://www.arrivalaid.org/).

272 3

C. Ghaderi

Hilfreiche Beziehungen – wie Begleiter_innen traumatisierten Flüchtlingen helfen können

Ein hilfreiches Beziehungsangebot für traumatisierte Flüchtlinge trägt den durch Traumatisierung geprägten Veränderungen Rechnung, dass Menschen in ihren Grundüberzeugungen bzgl. Sicherheit, Vertrauen in sich und die Welt erschüttert sind. Es zielt darauf, durch neue korrigierende Erfahrungen zu entängstigen und ein Stück die Verbindung zum Mensch-Sein und zur sozialen Umwelt wiederherzustellen. Hierbei ist die Basisstrategie in der Beziehung, den größtmöglichen Kontrast zur traumatischen Situation herzustellen, d.h. Sicherheit und Würde zu geben durch eine durchschaubare, offene und respektvolle Haltung. Dieser Anspruch an eine hilfreiche Beziehung bedarf Bewusstheit. Denn Traumasymptomatik beeinflusst intrapsychische Strukturen und interpersonelle Beziehungen und kann damit in jede Beziehung – ob therapeutisch, pädagogisch, begleitend oder freundschaftlich – eingreifen. Die Auseinandersetzung mit extremen Ereignissen menschlicher Aggressivität und Destruktivität führt bei beiden / allen Beteiligten zu Gefühlen von Angst, Grauen und existentieller Bedrohung, durch diese sonst meist verleugneten Seiten menschlicher Existenz. Die Folgen können eine Überidentifikation mit Traumatisierten oder erhöhte Distanz und mangelnde Empathie sein. Im Kontakt mit häufig schwer traumatisierten Flüchtlingen ist es wichtig, sich die zum Teil gravierenden Auswirkungen erlebter (ggf. interpersoneller) Gewalterfahrungen bewusst zu machen11 und die Tatsache, dass Menschen „aus ihrer Geschichte“ heraus handeln. So ist einer der Kernsymptome die Übererregung, mit der Konsequenz einer affektiven Dysregulation, d.h., es kann das Gefühl permanenter Gefahr dominieren. Eine unzureichende Differenzierung zwischen hier und jetzt / heute und damals / dort erhält das Hyperarousal aufrecht. Solche aktuellen Symptome, wie starke Unruhe, Misstrauen oder Rückzug, sind teils zu begreifen als quasi automatisierte Bewältigungsversuche, die in einer traumatischen Lebenssituation sinnvoll gewesen sind und jetzt vielleicht in Kontakt mit Begleiter_innen eher irritieren oder dysfunktional wirken / sind. Teils sind sie den realen Lebensbedingungen geschuldet: So verstärkt das Asylverfahren im Schwebezustand die Unsicherheit, und die Angst vor möglicher Abschiebung kann durchaus berechtigt sein. 11

Vgl. Zito / Martin, Umgang, 20 ff.

Begleitung traumatisierter Flüchtlinge

273

Auch die Begleiter_innen haben „ihre Geschichte“, die sie motiviert zu begleiten. Es kann mit der eigenen Familiengeschichte als Kriegskind, Flüchtling oder „schuldige Täter“ zusammenhängen oder wie bei dem größten Teil der Engagierten in Deutschland mit ethischen Grundsätzen (Menschen in Not zur Seite stehen) verbunden sein und mit dem Wunsch, die „Gesellschaft zu gestalten“12, korrelieren. Oder auch aus Langeweile, dem Wunsch etwas Sinnvolles zu tun oder zu helfen. Helfen ist eine Handlung, die durch Empathie und durch Mitleid erzeugt werden kann. In der Literatur wird die Bedeutung von Empathie, im Gegensatz zu Mitleid, betont, denn Mitleid kann „eine Form der Unterstützung für die Bemitleideten zur Folge haben, die auf subtile Form dann doch zur Diskriminierung wird. Das geschieht, wenn Hilfeverhalten benevolent oder paternalistisch daherkommt und so die Hilflosigkeit der Unterstützten eher erhöht, wenn sie also nicht zu einer Stärkung von Selbstbestimmung beiträgt, sondern zur Abhängigkeit.“13 D.h., Selbstreflexion und Balance sind gefragt. Nicht Mitleid, sondern Mitgefühl ist Voraussetzung einer guten hilfreichen Beziehung. Aus einem Zuviel an Empathie hingegen können sich Erschöpfungszustände und sekundäre Traumatisierung entwickeln. Erschöpfung tritt nicht unbedingt nur aufgrund der Dichte von Tätigkeiten auf, sondern auch durch als teils perspektivlos erscheinende Lebenswege, geringe Handlungsspielräume durch verschärfte Gesetze oder wenn Fragen der Geflüchteten unbeantwortet bleiben müssen (nach Familiennachzug, Abschiebung). Das Leid der Menschen zu sehen, berührt tief, und der Selbstanspruch, zu helfen, ist hoch. Ist die eigene Belastungsgrenze erreicht und die Notwendigkeit „Nein“ zu sagen, kann dies zu moralischen Dilemmata führen. Nicht immer geht es um empathische Gefühle, sondern es können eher irritierende sein und sich Fragen auftun: Wie gehe ich mit Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern um? Wie ist es mit Verhalten von Männern und Frauen, das kulturell anders geprägt ist? In beide Richtungen lauten die Antworten: eigene Verstehensgrenzen wahrnehmen, weder Leid bagatellisieren noch in Abgrenzungsmanöver verstricken. Achtsamkeit für einen angemessenen Weg zwischen Nähe und Distanz zu finden, gilt nicht nur für professionelle Beratungskontexte als Schlüsselkompetenz, sondern ist auch bei der Begleitung traumatisierter Flüchtlinge unabdingbar. Erst die innere Distanz macht handlungsfähig und beugt Verstrickungen in Übertra12 13

Karakayali / Kleist, EFA-Studie, 5. Wagner, Flüchtlinge und wir.

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gungsphänomene vor. Zugleich dient es der Selbstfürsorge und Psychohygiene, wenn eigene Hilflosigkeitsgefühle und Verstehensgrenzen zugelassen werden. Die Formulierung, eigene Verstehensgrenzen wahrnehmen, entspringt keiner routinierten Auflistung. Tatsächlich scheint ein Unterschied zwischen professionellen Berater_innen und ehrenamtlichen Begleiter_innen darin zu bestehen, dass Erstere im Gegensatz zu Letzteren ihre eigenen Grenzen kennen und sich z.B. mit Beratungsstellen vernetzen und Unterstützung holen.14 4

Beziehung jenseits von Sprache

Grundsätzlich gilt auch bei der Begleitung traumatisierter Flüchtlinge die übliche Basis guter Kommunikation über Vertrauen, Echtheit und Personenzentrierung. Doch wenn Menschen „ihre Sprache verlieren“, dann ist damit eine existentielle Identitätsfrage aufgeworfen. Sprache verschafft einen Zugehörigkeitsraum über Kommunikation und ermöglicht es, eine neue gemeinsam geteilte Wirklichkeit zu erfahren, ein Stück Normalität, nach der ver-rückten Zeit der Flucht. Sprache ist essentiell und wo Sprache als verbale Intervention zur Beruhigung, Empathiebildung und Vertrauenserwerb nicht möglich ist, wird der nonverbale Anteil umso gewichtiger – wie eine Geste, ein Tonfall oder ein Blick. Darüber hinaus wirkt ein achtsames kommunikatives Miteinander über Verlässlichkeit, Transparenz und Kontinuität als stabilisierend und erzeugt ein Gefühl von Zugehörigkeit. Derlei Entwicklungen benötigen selbstverständlich Zeit. Alternativ kann eine gemeinsame Drittsprache herangezogen werden. In professionellen Kontexten ist der Einsatz von Sprach- und Integrationsmittler_innen möglich; darüber hinaus werden vermehrt sprachreduzierte und non-verbale Methoden erprobt.15 Begleiter_innen, die nicht in professionellen Kontexten arbeiten, können ermutigt werden, selbst handhabbare und sichtbare Materialien und Symbole kreativ zu entwickeln, ggf. angeregt durch bestehendes Material.16 Kulturelle Aspekte und Fremdheitskompetenz werden in diesem Beitrag ausgespart, dennoch soll ein Gedanke Erwähnung finden: Gerade wenn es keine sprechbare oder gemeinsame Sprache (und Kultur) gibt, ist die Sensibilität für den Körper als Kommunikationsmedium, über das Zeichen des Verstehens gegeben werden, entscheidend, um eine sichere soziale Atmosphäre zu schaffen. Immerhin besteht kom14 15 16

Vgl. Kurt, Vorsicht zerbrechlich; Pell, Sekundärtraumatisierung. Vgl. Özkan / Belz, Neue Wege. UNHCR, Flucht und Trauma.

Begleitung traumatisierter Flüchtlinge

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munikatives Verstehen nur zu 7 % aus dem Inhalt, zu 38 % aus paraverbalen und zu 55 % aus nonverbalen Anteilen.17 Friedrich Nietzsche bringt es auf dem Punkt: „Man lügt zwar mit dem Mund, mit dem Maul, das man dabei macht, sagt man doch die Wahrheit.“18 5

Abschließend

Geflüchtete sind erheblichen Risiken einer Traumatisierung ausgesetzt, und entsprechend hoch liegt die Prävalenz von Traumatisierung bei Flüchtlingen in Deutschland. Was sie dringend benötigen, sind Schutz und Sicherheit. Demgegenüber steht die Realität migrationsund aufnahmeprozessbedingter Lebensumstände, die die psychische Gesundheit beeinflussen und zur Reaktualisierung ihrer Symptome führen können. Aus psychotraumatologischer Sicht trägt eine schützende posttraumatische Umwelt entscheidend zur Salutogenese bei. D.h., gerade weil es eine Diskrepanz zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit und den psychosozialen Rahmenbedingungen gibt, hängt die Entwicklung vom Engagement Einzelner ab, dazu braucht es traumasensible Begleitung. Die Begleitung von traumatisierten Flüchtlingen ist aus mehrfachen Gründen wichtig: Bei vielen Flüchtlingen fehlt in der neuen Gesellschaft das „Know-how“, so mögen sie z.B. für eine Psychotherapie motiviert sein, doch Begleitung ist von Nöten, damit der Weg zur Psychotherapie realisiert werden kann. Begleiter_innen nehmen ihnen die Unsicherheit und geben Orientierung in einer Phase, in der es entscheidend ist, eine Perspektive zu finden, angefangen vom Spracherwerb bis hin zum Zugang zu Bildung, Wohnen, Praktikum, Arbeit, Freizeitangeboten und sozialen Bindungen. So werden Personen, die Flüchtlinge begleiten, zu TürÖffnern der Gesellschaft. Literatur Ahrens, Petra Angela, Skepsis oder Zuversicht? Erwartungen der Bevölkerung zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, online: https://www. ekd.de/si/download/Fluechtlinge_21.12.15.pdf (Zugriff 5.7.2016). Baron, Jenny / Flory, Lea, Versorgungsbericht zur psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern in Deutschland, 2. aktualisierte Auflage, Berlin 2016, online: http://www.baff-zent

17 18

Vgl. Treichel, Kommunikation und Kultur, 165. Zitiert n. Treichel, Kommunikation und Kultur, 165.

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C. Ghaderi

ren.org/wp-content/uploads/2016/05/Versorgungsbericht2015.pdf (Zugriff 5.7.2016). Bierwirth, Jutta, Psychotherapie mit traumatisierten Flüchtlingen, in: Eva van Keuk u.a. (Hg.), Diversity. Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern, Stuttgart 2011, 281–287. Bozorgmehr, Kayvan u.a., Systematische Übersicht und „Mapping“ empirischer Studien des Gesundheitszustands und der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland (1990–2014), Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 59 (2016), 599–620. Falkai, Peter / Wittchen, Hans-Uwe (Hg.), Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – DSM-5, Göttingen 2015. Flatten, Guido u.a.,Posttraumatische Belastungsstörung: S3-Leitlinie und Quellentext, Stuttgart 2013. Gäbel, Ulrike u.a., Prävalenz der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und Möglichkeiten der Ermittlung in der Asylverfahrenspraxis, Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 35 (2005/1), 12–20. Grawe, Klaus, Neuropsychotherapie, Göttingen 2004. Hüthner, Gerald u.a., Neurobiologische Grundlagen der Herausbildung psycho-traumabedingter Symptomatiken, in: Trauma und Gewalt 4 (2010/1), 18–31. Karakayali, Serhat / Kleist, J. Olaf, EFA-Studie. Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland, Berlin 2015, online: www.bim.hu-berlin.de/media/2015-05-16_ EFA-Forschungsbericht_Endfassung.pdf (Zugriff 5.7.2016). Kurt, Ronald (2016), Vorsicht zerbrechlich. Das Flüchtlingsberatungsgespräch als fragiler Kooperationsprozess, in: Cinur Ghaderi / Thomas Eppenstein (Hg.), Flüchtlinge – Multiperspektivische Zugänge, Wiesbaden, 323–347. Özkan, Ibrahim / Belz, Maria, Neue Wege in der Behandlung von traumatisierten Migranten. Stabilisierung jenseits von Sprache und Traumatherapie, Nervenheilkunde 33 (2014/6), 451–454. Pell, Martin, Sekundärtraumatisierung bei Helferinnen im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen, Wien 2013, online: http:// othes.univie.ac.at/29474/1/2013-07-08_0349137.pdf (Zugriff 5.7.2016). Treichel, Dietmar, Kommunikation und Kultur, in: Dietmar Treichel / Claude-Hélène Mayer, Lehrbuch Kultur. Lehr- und Lernmaterialien zur Vermittlung kultureller Kompetenzen, Münster 2011, 158–169. UNHCR, Flucht und Trauma im Kontext Schule, Wien 2016, online: http://www.unhcr.at/service/bildungsmaterialien/traumahandbuch. html (Zugriff 3.7.2016).

Begleitung traumatisierter Flüchtlinge

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Wagner, Ulrich (i.V.), Flüchtlinge und wir. Sozialpsychologische Zugänge, in: Cinur  Ghaderi / Thomas Eppenstein (Hg.), Flüchtlinge – Multiperspektivische Zugänge, Wiesbaden (i.V.). Zito, Dima / Martin, Ernest, Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen. Ein Leitfaden für Fachkräfte und Ehrenamtliche, Weinheim 2016.

Johanna Thie

Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt

„Gewalt gegen Frauen [...] kennt keine Grenzen, weder geographisch noch kulturell, noch im Hinblick auf materiellen Wohlstand. Solange sie anhält, können wir nicht behaupten, dass wir wirkliche Fortschritte in Richtung Gleichstellung der Geschlechter, Entwicklung und Frieden machen.“ Kofi Annan, Generalsekretär der Vereinten Nationen, 2000

1

Frauen auf der Flucht – ein schwerer Weg

Frauen und Männer leiden unter Krieg und Verfolgung gleichermaßen. Frauen verlassen ihre Heimat zwar auch aus denselben Gründen wie Männer: politische Verfolgung oder Bürgerkrieg, Armut oder Folter, Folgen von Umweltzerstörung oder Naturkatastrophen. Frauen fliehen jedoch in einem wesentlich größeren Ausmaß als Männer vor sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt. Mit 49 % sind laut UNHCR die Hälfte der Flüchtlinge Frauen weltweit. Dennoch bleibt diese Personengruppe eher im Hintergrund und ist kaum sichtbar. Dies ist vor allem historisch begründet. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 kannte keinerlei Geschlechterbezüge. Flüchtlinge wurden stereotyp als junge, politisch verfolgte Männer gesehen, sodass das Flüchtlingskonstrukt männlich dominiert war. Durch die Veröffentlichungen des UNHCR 19901 werden Frauen und ihre spezifischen Fluchtgründe in der Flüchtlingshilfe – erstmals – deutlich angesprochen. Als geschlechtsspezifische Verfolgung gelten insbesondere nach der Definition des UNHCR sexuelle und häusliche Gewalt, Bildungsverbot, Ehrenmord, Zwangsabtreibung, Zwangssterilisation und Zwangsverstümmelung – wie weibliche

1

UNHCR, Policy on Refugee Women.

Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt

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Genitalverstümmelung – sowie Diskriminierung auf Basis des Geschlechts. Auch während der Flucht sind insbesondere allein reisende Frauen sexuellen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen ausgesetzt. Sowohl Frauen als auch Männer müssen häufig in großen Flüchtlingslagern auf engstem Raum, unter schlechten hygienischen Bedingungen und mit labiler Versorgung mit lebenswichtigen Gütern leben – oder sie lassen sich in Städten nieder, in denen sie „irgendwie“ ihre Existenz sichern müssen. Zumeist sind Frauen von Schleppern oder korrupten Strukturen abhängig. Sex als „Währung“ – für die Bezahlung der Schlepper oder für männlichen Schutz verlangt – ist keine Seltenheit. Angesichts dieser Tatsachen erscheint die Erkenntnis, dass Flucht auch eine empowernde Wirkung für Frauen und Mädchen haben kann, zunächst irritierend. Das UNHCR erklärt dies in seinem Handbuch für den Schutz von Frauen und Mädchen folgendermaßen: „Ihre Erfahrungen und der durch die Vertreibung verursachte Wandel der Geschlechterrollen können sie dazu befähigen, die traditionellen Geschlechterrollen, die sie an ihrer Partizipation in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen hindern, aktiv zu hinterfragen. Dort, wo sie sich organisiert haben, können sie ihr Recht auf Partizipation in unterschiedlichen Aspekten des Lebens im Lager oder in den Städten und bei ihrer Heimkehr in ihren Gemeinden beanspruchen.“2 Diese Erkenntnisse werden durch aktuelle Forschungen belegt, wonach geflüchtete Frauen den strukturell gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen und Dienstleistungen positiv erfahren können. Es müssen aber tatsächlich Partizipationsmöglichkeiten bestehen. Darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass eine bevorzugte Behandlung von Frauen gegenüber Männern kontraproduktiv sein kann. Das heißt, auch die Einbeziehung der Männer in Veränderungsprozesse ist wichtig.

2

Zit. n. Krause, Flüchtlingsfrauen.

280 2 2.1

J. Thie

In Deutschland angekommen – Möglichkeiten und Grenzen des Gewaltschutzes Asylrecht

Das deutsche Asylrecht berücksichtigt seit 2005 ausdrücklich geschlechtsspezifische Verfolgung.3 Die grundsätzliche Möglichkeit der Anerkennung dieser Verfolgungsgründe stellt eine effektive Verbesserung für verfolgte Frauen dar. Die Praxis zeigt jedoch, dass es trotz der rechtlichen Anerkennung in der Theorie große Barrieren bei der praktischen Anwendung dieses Rechts gibt. Es fehlt in der bürokratischen Praxis an Sensibilität und Verständnis, Anhaltspunkte für geschlechtsspezifische Verfolgung im Asylverfahren zu erkennen. Geschlechtsspezifische Verfolgung findet oft im familiären Bereich statt und wird selten durch die betroffenen Frauen nach außen kommuniziert. Problematisch gestaltet sich dann die Nachweisbarkeit im Asylverfahren. Den Aussagen der Frauen wird in der Anhörung häufig mit Skepsis begegnet. In einigen Fällen wird den Frauen unterstellt, sie würden sich damit Vorteile im Asylverfahren verschaffen wollen. Dies kann dann zu fehlerhaften Einschätzungen bis zu Ablehnungen bei der Bearbeitung von Asylanträgen führen. Hinzu kommt, dass aufgrund des großen Zeitdrucks eine fachkundige Vorbereitung durch Flüchtlingsberater_innen oder Rechtsanwält_innen kaum möglich ist. Dieses Problem ist schon länger bekannt. Bereits vor den hohen Zugangszahlen von Flüchtlingen wurde es von Flüchtlingsund Frauenorganisationen festgestellt und wiederholt gegenüber der Politik problematisiert und Veränderungen wurden eingefordert. Aus Sicht der Diakonie Deutschland müssen geschlechtsspezifische Verfolgung und Gewalterfahrungen konsequent und umfassend im Anerkennungsverfahren als Asylgrund berücksichtigt werden. Aufgrund der besonderen Lebenssituation von geflüchteten Frauen ist die Schaffung von Wohngruppen für Frauen mit adäquater Verfahrensberatung im Asylverfahren nötig.

3

„Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft“, § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz.

Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt

2.2

281

Flüchtlingsunterkünfte

Die Folgen der Fluchterfahrungen durch Gewalt sind schwerwiegend. Sie können die Frauen dauerhaft belasten und stehen den positiven Wirkungen der Flucht entgegen. Frühzeitige medizinische oder therapeutische Behandlung und Schutz nach der Ankunft in Deutschland sind notwendige Voraussetzungen für eine gelingende Integration. Die Realität ist jedoch, dass viele Frauen mit nicht oder nicht ausreichend behandelten psychischen Krankheiten oder Traumata in Flüchtlingsunterkünften unter Bedingungen leben, die ungeeignet sind, das psychische Befinden zu verbessern; dies gilt vor allem für die Unterbringung in engen Räumen bzw. Großunterkünften mit fehlender Privatsphäre. Hinzu kommt die Ungewissheit um die Anerkennung auf Asyl. Erzwungenes Nichtstun, langes Warten auf den nächsten bürokratischen Schritt oder Angst vor Angriffen durch ausländerfeindliche Gruppen kommen hinzu. Sicher betrifft dies alle Personen in Flüchtlingsunterkünften; aber durch die Vorerfahrungen ist die Belastung von Frauen wesentlich höher. Erschwerend kommt hinzu, dass es aufgrund des unfreiwilligen Zusammenlebens für Frauen in den Flüchtlingsunterkünften problematisch ist, sich vor weiterer Gewalt, sexuellen Übergriffen und Belästigungen von Männern zu schützen. Es braucht sichere Orte für Frauen in den Flüchtlingsunterkünften. Präventiv müssen verbindliche Gewaltschutzkonzepte in allen Flüchtlingsunterkünften umgesetzt werden. Derzeit sind solche Konzepte weder Voraussetzung für den Betrieb von Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften noch auf andere Weise von den für die Unterbringung zuständigen Stellen abgesichert. Bezogen auf die räumliche Ausstattung heißt dies z.B., Wohneinheiten mit abschließbaren Zimmern und separate Sanitärräume zu schaffen. Ein Mindestmaß an Privatsphäre muss gegeben sein. Dort, wo es bereits Gewaltschutzkonzepte gibt, ist es wichtig, diese auch in die Praxis umzusetzen und mit entsprechenden Fortbildungsmaßnahmen für das Personal in Flüchtlingsunterkünften zu flankieren. In die Erstellung und Umsetzung der Gewaltschutzkonzepte müssen geflüchtete Menschen, darunter auch Frauen, aus der Einrichtung einbezogen werden. 2.3

Rechtliche Schutzmöglichkeiten

In Deutschland gilt das Gewaltschutzgesetz für alle Menschen zum Schutz einer Person vor allen Formen von Gewalt im privaten häuslichen Umfeld. Das Gewaltschutzgesetz verfolgt das Prinzip, dass der / die Täter_in geht, damit die Betroffenen nicht zusätzlich gegen ihren

282

J. Thie

Willen mit einem Ortswechsel belastet werden. Dazu können die geflüchteten Frauen entsprechende Anträge auf Kontakt- und Näherungsverbote sowie auf Wohnungszuweisungen beim Familiengericht stellen. Hierzu gibt es bundesweit bisher nur wenig Erfahrungen in der Anwendung auf geflüchtete Frauen. Für erste Schutzmaßnahmen zur Beendigung der Gewaltsituation dürfen keine hohen Anforderungen an den Nachweis für Gewalt gestellt werden. Die Schutzmaßnahmen müssen schnell greifen. Hier haben die Polizeibehörden die Möglichkeit, Wegweisungen, Betretungsverbote und Aufenthaltsverbote entsprechend den Landespolizeigesetzen zur Verhinderung weiterer Gewalt zu erlassen. Die Anwendungspraxis durch die Polizei ist bundesweit sehr unterschiedlich und steht bezogen auf die Umsetzung in Flüchtlingsunterkünften erst am Anfang. In einigen Bundesländern wurden die polizeilichen Handlungsleitfäden in Fällen häuslicher Gewalt um diese Fallkonstellationen ergänzt, in anderen Regionen werden Hürden für die Anwendung der polizeilichen Schutzmaßnahmen in Flüchtlingsunterkünften gesehen und keine Schutzmaßnahmen durchgeführt. Bezogen auf das Aufenthaltsrecht und das Gewaltschutzgesetz sowie polizeiliche Schutzmaßnahmen bedarf es deshalb rechtlicher Klarstellungen oder Ergänzungen. Die Durchsetzung von Maßnahmen bei Gewalt darf nicht durch aufenthaltsrechtliche Regelungen verhindert werden, sondern muss uneingeschränkt durchgesetzt werden können. 2.4

Schutz und Unterstützung im spezialisierten Hilfesystem

Grundsätzlich besteht in Deutschland für gewaltbetroffene Frauen die Möglichkeit, Schutz und Hilfe in Frauenhäusern zu finden oder sich in spezialisierten Fachberatungsstellen beraten zu lassen. Frauenhäuser bieten Schutz und Unterkunft zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie sind i.d.R. anonym, d.h., Ort und Adresse sind nicht bekannt. Aber: Ein wirksamer Gewaltschutz ist schon deshalb schwierig, weil asylsuchende und geduldete Frauen die Flüchtlingsunterkünfte nicht einfach verlassen dürfen. Die Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen beschränken die Bewegungsfreiheit und damit auch die Schutzmöglichkeiten von gewaltbetroffenen geflüchteten Menschen. Ausländerbehörden können zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt Ausnahmen von der Residenzpflicht zulassen und Wohnsitzauflagen auf eine andere Unterkunft, Stadt oder Region umschreiben.4 Die Verfahren sind jedoch auf ein kurzfristiges Schutzbedürfnis nicht zugeschnitten und dauern zum Teil Monate. Dies kann zu der Situation 4

Vgl. Rabe, Effektiver Schutz, 13.

Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt

283

führen, dass eine Asylbewerberin im akuten Ernstfall nur unter Verstoß gegen die Residenzpflicht vor Gewalt fliehen kann.5 Der Zugang zum Frauenhaus ist für geflüchtete Frauen bislang abhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. So können beispielsweise nach der derzeitigen Rechtslage in einigen Bundesländern keine Asylbewerberinnen in Frauenhäusern aufgenommen werden. Die Möglichkeit, Frauen an anderen Orten in einem Frauenhaus unterbringen zu können, kann ebenfalls nicht als verlässlich bezeichnet werden. Regelmäßig führt die Unterbringung in einem Frauenhaus außerhalb der Landesgrenzen der Erstaufnahmeeinrichtung zu Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Aufenthalts in der Schutzeinrichtung. Darüber hinaus führt auch die Möglichkeit, einen Verstoß gegen Aufenthaltsbeschränkungen finanziell oder rechtlich sanktionieren zu können, zu einer großen Verunsicherung der Betroffenen. Durch den ohnehin hohen Auslastungsgrad der Frauenhäuser – insbesondere in Großstädten und Ballungsräumen – ist es schwierig, freie Plätze für akut gefährdete Frauen bereitzustellen. Es fehlen bundesweit Plätze in den Frauenhäusern, um einen schnellen Schutz ohne Wartelisten oder mehrfache Weiterverweisung sicherzustellen. Grundsätzlich sind Beratung und Begleitung von Flüchtlingsfrauen in Frauenhäusern und Beratungsstellen nicht neu. Das Hilfesystem hat seit vielen Jahren Erfahrungen in der Unterstützung von geflüchteten und asylsuchenden Frauen, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. Die gegenwärtig hohen Flüchtlingszahlen stellen wie die Flüchtlingsarbeit auch die Frauenhäuser und Fachberatungsstellen vor besondere Herausforderungen. Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen verfügen oft nicht über ausreichend Personal, um den spezifischen Bedarfen traumatisierter Frauen und deren Kinder Rechnung zu tragen. Oft fehlt es auch an qualifizierten Sprachmittler_innen und Fort- und Weiterbildungsangeboten für die Mitarbeiter_innen in Frauenhäusern und Fachberatungsstellen. 3

Recht auf Schutz und Hilfe bei Gewalt für alle

Die Stärkung von Rechten für Frauen führt immer zu mehr Schutz vor Gewalt. Die Diakonie Deutschland setzt sich gemeinsam mit Brot für die Welt durch politische Lobbyarbeit, im fachlichen Diskurs, in den verschiedensten Projekten im In- und Ausland für mehr Ge5

Vgl. Rabe, Effektiver Schutz, 13.

284

J. Thie

schlechtergerechtigkeit ein. Diese Projekte sollen nicht nur den Einzelnen bei geschlechtsspezifischer Gewalt in akuten Notsituationen helfen, sondern auch durch angepasste und sensible Bildungsarbeit, Lobbyarbeit und Vernetzung das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung stärken und die rechtsstaatliche Praxis verbessern. Frauen werden in den Herkunftsländern durch Projekte unterstützt, sich zu organisieren und sich durch die Schaffung von Einkommen für ihre Rechte einzusetzen und ökonomische Abhängigkeit und Armut zu reduzieren. Die Möglichkeit, aus dem Herkunftsland mitgebrachte Kenntnisse und Fähigkeiten in der neuen Gesellschaft einzubringen, motiviert und erweitert den Aktionsradius, lässt neue Orientierungen entstehen, führt zum Knüpfen zwischenmenschlicher Kontakte und zur aktiven Teilhabe in der Gesellschaft. Gewaltschutz, Integration und Teilhabe von Flüchtlingsfrauen in Deutschland darf keine Frage des Aufenthaltsstatus sein, darf nicht an Bürokratie und Verwaltung scheitern und muss uneingeschränkt für alle durchsetzbar sein. Literatur Frauenhauskoordinierung e.V., Positionspapier – Frauenhauskoordinierung fordert: Schutz vor Gewalt für alle Frauen in Deutschland sicherstellen, Berlin 10.2.2016, online: http://www.frauenhaus koordinierung.de/aktuelles/view/artikel/fhk-fordert-gewaltschutzfuer-alle-frauen-in-deutschland-auch-fuer-gefluechtetefrauen.html (Zugriff 11.7.2016). Frings, Dorothee, Gewaltschutz in Flüchtlingseinrichtungen, Streit – Feministische Rechtszeitschrift 34 (2015 / 4), 148–156. Krause, Ulrike, Flüchtlingsfrauen: (Un)sichtbar, (un)sicher und (un) abhängig?, FlüchtlingsforschungsBlog des Netzwerk Flüchtlingsforschung, 8.3.2015, online: http://fluechtlingsforschung.net/ fluchtlingsfrauen/ (Zugriff 25.8.2016). Rabe, Heike, Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften, policy paper des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin im August 2015, http://www.institut-fuermenschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Policy_P aper/Policy_Paper_32_Effektiver_Schutz_vor_geschlechtsspezifis cher_Gewalt.pdf (Zugriff 11.7.2016). Schröder, Susanne, Geschlechtsspezifische Verfolgung in der rechtsanwaltschaftlichen Praxis, Flüchtlingsrat – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen: Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung: Wo stehen wir heute? 137 (2011), 5–7.

Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt

285

UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), UNHCR Policy on Refugee Women, 20 August 1990, online: http://www.refworld. org/docid/3bf1338f4.html (Zugriff 11.7.2016).

Helmut Weiß

Migration und Seelsorge

1

Einleitung

Migration und Flucht sind in der Regel äußerst komplexe Erfahrungen mit vielfältigen einschneidenden Auswirkungen für ein ganzes Leben. Millionen Menschen haben dies während des Krieges 1944 und 1945 und nach dem Krieg in Deutschland erlebt. Millionen waren seither weltweit durch Krieg, Hunger, wirtschaftliche Nöte, Naturkatastrophen und andere Gründe gezwungen, neue Orte des Lebens zu suchen, und auch das 21. Jahrhundert ist geprägt von massenhaften Migrations- und Fluchtbewegungen.1 Migration und Flucht sind riesige Herausforderungen für die gesamte Weltgemeinschaft; vor allem aber steht an, die Ursachen für erzwungene Flucht zu beseitigen. Die Komplexität von Migration und Flucht wird unterstrichen, wenn wir das Phänomen genauer anschauen: Man kann von einer zunehmenden Globalisierung von Migration und Flucht sprechen. Denn immer mehr Länder sind heute von Migrationsströmen betroffen. Menschen entschließen sich oder sind gezwungen, ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen zu verlassen: weil sie aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt werden; weil sie durch Krieg und Terror an Leib und Leben bedroht sind; weil sie wirtschaftlich kaum überleben können – um nur einige wenige Gründe zu nennen. Einwanderungsländer müssen immer mehr Flüchtlinge aus anderen Kulturen und Religionen aus verschiedenen Herkunftsländern aufnehmen, was einerseits zu Angst und Widerstand führt, aber andererseits auch begrüßt wird.

1

Polak, Migration als Ort der Theologie, 90: „Mehr Menschen als jemals zuvor in der Geschichte migrieren. Nach Schätzungen der UNO ist seit der Jahrtausendwende die Zahl der internationalen MigrantInnen von ca. 150 Mio. auf 214 Mio. (2009) weltweit gestiegen. 42,5 Mio. Flüchtlinge (2011) sind in dieser Statistik ebenso wenig berücksichtigt wie die geschätzten 50–150 Mio. (2010) Umweltflüchtlinge.“

Migration und Seelsorge

287

Man kann von einer zunehmenden Differenzierung von Migration sprechen: In sehr vielen Ländern der Welt gibt es eine Vielfalt an Migrationstypen: Arbeitsmigration, Flüchtlinge, dauerhaft Ansässige mit Migrationshintergrund, nicht dokumentierte Migration, Menschen, die sich illegal in Ländern aufhalten und andere Formen. Diese Ausdifferenzierung zählt zu den größten Herausforderungen für nationale oder internationale politische Maßnahmen, weil die Betroffenen differenziert zu behandeln sind. Man kann von einer Feminisierung von Migration sprechen: In allen Regionen und Migrationsformen sind vorwiegend Frauen betroffen. Seit den 1960er Jahren übernehmen sie weltweit die Hauptrolle in der Arbeitsmigration; in manchen Flüchtlingsbewegungen und im organisierten Menschenhandel machen sie die Mehrheit aus. Jugendmigration ist eine besondere Herausforderung: Kinder und Jugendliche sind von Migration betroffen. Vielfach kommen sie ohne Erwachsene in fremde Länder, was für sie besondere Leistungen erfordert – und eine Chance bedeutet. Gerade auch bei den Flüchtlingen seit September 2015, die nach Europa kommen wollen, sind viele junge Männer dabei. Migration und die Flüchtlingsbewegungen werden zunehmend politisiert: Sie fordern bilaterale und regionale Beziehungen zwischen Staaten und die nationalen Sicherheitspolitiken heraus. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen Aufnahme-, Transit- und Herkunftsländern sowie für global governance wächst. Konzepte dafür, geschweige denn Lösungen sind allerdings schwer zu finden.2 Auf jeden Fall bringt Migration gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Vielfalt mit sich und fordert heraus, diese Vielfalt zu gestalten. Die Versuche, Homogenität zu bewahren oder herzustellen, ganz gleich welche Motive dahinter liegen, werden durch Migration in Frage gestellt und unmöglich gemacht. Für Seelsorge ist es hilfreich, solche globalen Hintergründe zu beachten, denn sie scheinen in jeder einzelnen Lebensgeschichte von Flüchtlingen in unterschiedlicher Gestalt und unterschiedlicher Ge-

2

Vgl. Polak, 91.

288

H. Weiß

wichtung auf. Auf jeden Fall ist jede Migrations- und Fluchtgeschichte eingebettet in weltgeschichtliche Zusammenhänge.3 Im Folgenden möchte ich in zwei Schritten Hinweise zu Seelsorge und Migration geben: Zum einen geht es um grundlegende Einsichten, die mir für migrationssensible Seelsorge wichtig erscheinen. Zum anderen möchte ich anhand eines fiktiven Beispiels darstellen, was in migrationssensibler Seelsorge zu beachten ist. 2 2.1

Gesichtspunkte zu Seelsorge im Kontext Migration Würde

Wohl jeder, der seine Heimat verlassen muss, flieht wegen Entwürdigung oder erlebt auf der Flucht und bei der Ankunft an fremden Orten Entwürdigung. Im September 1944 wurde mein Heimatort in Siebenbürgen wegen eventueller Kampfhandlungen evakuiert, woraus dann Flucht wurde. Erst im Frühjahr 1946 kam meine Familie in einem Dorf in Franken an, und wir wurden in einem dortigen Bauernhof einquartiert. Ich erinnere sehr lebendig die Abwehr mancher Einheimischen, die Armut und den Hunger, die Scham und die Minderwertigkeitsgefühle. Es war deutlich, dass wir nicht zur Dorfgemeinschaft gehörten und manchmal sogar verachtet wurden. Menschen, die heute in Deutschland oder in anderen Ländern ankommen, ergeht es in einem Klima der „Angst“ und der Abwehr vermutlich noch viel schlimmer. Es gibt viele Menschen, die Fremde willkommen heißen, aber sie können nicht wettmachen, dass auf der anderen Seite Menschen gleichgültig oder abwehrend sind – bis hin zu Gewaltbereitschaft. Kein Wunder, wenn sich viele Migrant_innen in ihrer Würde nicht beachtet fühlen. Vor diesem Hintergrund hat die Wahrung der Menschenwürde gerade für Migrant_innen eine zentrale Bedeutung. Mit Würde ist für unseren Zusammenhang gemeint: Jede Person ist als ein verantwortliches Subjekt mit Selbstbestimmung zu verstehen, die mit ihrer eige3

Polak, 88: „Zugleich ist Migration immer auch ein zeitspezifisches Phänomen, da ihre Motive und Rahmenbedingungen geschichtlich kontingent sind. Die Sozialwissenschaften definieren Migration daher als ‚dauerhafte Ortsveränderung‘, ‚die mit einer Grenzüberschreitung verbunden sein kann und mit einem Wechsel des sozialen und kulturellen Bezugssystems einhergeht‘. Raum und Zeit (Ortsveränderungen und Zeithorizont), Grenzen (Überschreitung politisch-administrativer Trennlinien), Sozialordnungen (Statusordnungen, Schichtgefüge) und kulturelles System (Werte- und Normensystem) werden miteinander verknüpft.“

Migration und Seelsorge

289

nen Lebensgeschichte nach zukünftiger Lebensgestaltungen sucht. Würde schließt aus, Migrant_innen und Flüchtlinge als Objekte jeglicher Art zu instrumentalisieren, weder politisch, gesellschaftlich noch diakonisch. Würde ist verbunden mit verantwortlichem Leben in Gemeinschaft als höchstem Rechtsgut. In der Seelsorge – und im gesellschaftlichen und politischen Handeln – darf dieses hohe Gut nicht aus den Augen verloren werden, sondern muss im Mittelpunkt der Begegnung, des Gespräches und der Beziehung stehen. Der Umgang mit Migrant_innen wird zum Prüfstand, wie wir es gesellschaftlich, politisch und religiös mit der Menschenwürde halten.4 2.2

Gerechtigkeit

„Migration entlarvt globale Ungerechtigkeit.“5 Dieser Satz hat mich tief beeindruckt und nachdenklich gemacht. Er macht nämlich deutlich, dass Migration nicht eine individuelle oder gar willkürliche Entscheidung ist, sondern zu einem Symptom in einem System wird, in dem Menschen ihre Würde und Selbstbestimmung nur teilweise oder sehr wenig bewahren können. Wenn wir Gerechtigkeit als einen guten Zustand des sozialen Miteinanders, in dem es einen angemessenen Ausgleich der Interessen und der Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den Menschen gibt, beschreiben, dann demonstrieren Flucht und Vertreibung, dass das soziale Miteinander gestört ist. Das wird offenbar im Umgang mit Flüchtlingen und fordert heraus, diesen Menschen „Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“. Gerade auch Seelsorge hat die Aufgabe, „eine bessere Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) auszuüben, das heißt, konsequent die Menschen im Blick zu behalten und nicht irgendwelche „Gesetze“. Menschlichkeit wird sichtbar in der Liebe zu Fremden, über denen Gott die Sonne aufgehen lässt (Mt 5,45). Seelsorge aber kann sich nicht mit „individueller Sorge“ begnügen, sondern muss im sozialen Miteinander für „angemessenen Ausgleich“ eintreten und gesellschaftliches Engagement unterstützen. Im Umgang mit Migrant_innen werden „Strukturen globaler Ungerechtigkeit […] ebenso bewusst wie die enge Zusammengehörigkeit der Menschheit“.6 4

Pontifical Council for the Pastoral Care of Migrants and Itinerant People, 7th World Congress, Conclusions 3: “The human dignity of each and every migrant is paramount. Religious, ethnic, social or cultural variables, citizenship or lack of it, do not change this fact that gives each individual an inherent and immeasurable worth and dignity, in which every human life is and must be considered sacred.” 5 Polak, 93. 6 Polak, 100.

290 2.3

H. Weiß

Familie

Vielfach wird Migration als individuelles Schicksal betrachtet. Damit verkürzt man die Problematik, da Migration immer einen tiefen Einfluss auf Familie und Familiengeschichte hat. Meine eigene Fluchtgeschichte vor 70 Jahren ist mit Familie verbunden – und heute ist es nicht anders. Erst recht ist die gesamte Familie betroffen, wenn sich Familien trennen müssen oder wenn familiäre Kontakte zusammenbrechen. Deshalb scheint es mir wichtig, in der Seelsorge die Gesprächspartner_innen immer im System ihrer Familie wahrzunehmen und mit ihnen herauszuarbeiten, welche Bedeutung im gegenwärtigen Moment Familie für sie hat – als Verlust und als Ressource. 2.4

Fremdheit

Migration heißt, fremd zu sein. Bei Begegnungen mit Flüchtlingen sind alle Beteiligten fremd, auch die, die zur „Mehrheitsgesellschaft“ gehören. Denn ihnen wird vor Augen geführt, dass ihre eigene Lebensweise und ihre Deutungen ihrer Welt nicht selbstverständlich sind. Die Bibel weist das Volk Israel darauf hin, dass sie selbst Fremde gewesen sind „in der Gefangenschaft“ und auch im verheißenen Land fremd bleiben – ein Motiv, das sich bis heute durchzieht. Seelsorge mit Migrant_innen ist eine Einübung, mit Fremdem und mit Fremden zu leben, Bedrohungen und Ängste, die Fremdsein mit sich bringen, zu bearbeiten – und ein Zeichen zu setzen, welch ein Segen die Beziehungen zu Fremden werden und sein kann. In Seelsorge und Migration geht es um gegenseitige „Gastfreundschaft unter Fremden“. 3

Zur Alltagsseelsorge mit Flüchtlingen

Nach diesen einleitenden Vorbemerkungen will ich nun an Hand einer fiktiven Person beschreiben, welche Punkte bei Begegnungen, Gesprächen und Beziehungen zu Flüchtlingen aus seelsorglicher Perspektive zu beachten sind. Sie bleiben etwas allgemein gehalten, können aber meiner Überzeugung nach in konkreten Situationen mit konkreten Menschen bedacht und umgesetzt werden. Es geht nicht um Gesprächs- oder Handlungsanweisungen, sondern eher um ein Einüben von Einstellungen gegenüber Flüchtlingen. Besonderes Augenmerk soll auf eine kultur- und religionssensible Beziehungsgestaltung gelegt werden, die nach meiner Kenntnis im Umgang mit Flüchtlingen eher gemieden oder vermieden wird. Nennen wir die fiktive Person Omar, ein junger Mann von 19 Jahren wie viele andere Geflüchtete. Er ist in Syrien geboren, hat die Schule

Migration und Seelsorge

291

abgeschlossen, aber keine Ausbildung gehabt. Vorübergehend hat er mal hier, mal dort gearbeitet, aber sein Verdienst hat nicht gereicht, die Familie zu ernähren. Sein Vater ist vor drei Jahren im Krieg umgekommen, seine Mutter ist noch mit vier kleinen Töchtern in einer Kleinstadt zurückgeblieben. Seine Familie hat ihn bestärkt, nach Europa zu gehen. Über die Türkei und Griechenland hat er es bis Deutschland geschafft und wohnt jetzt in einer Turnhalle. Er selbst beschreibt sich als Muslim, ist aber in der Heimat nur selten zur Moschee gegangen. Jedes Gespräch und jede Begegnung einer einheimischen Person mit Omar ist durch Differenz gekennzeichnet. Bei der Datenerfassung bei der Einreise, bei der Ausgabe von Kleidern, im Deutschunterricht, beim Erzählen seiner Fluchtgeschichte bei Gesprächen in der Gemeinde – immer besteht ein Gefälle zwischen Omar und den Einheimischen. Dieses Gefälle ist nicht zu übergehen und aufzuheben. Es besteht in Besitzverhältnissen, in Sprache, in Kenntnissen der Verhältnisse und in vielen anderen alltäglichen Erfahrungen. Ganz gleich in welcher Situation sich Omar befindet, es herrscht ein Machtgefälle: auf der einen Seite ein Hilfesuchender und Bedürftiger, auf der anderen die „Helfer“ – oder auch Gleichgültigen. Dieses Machtgefälle schafft Abhängigkeiten. Wie können nun Begegnungen seelsorgliche Qualitäten bekommen, also für die Menschen und ihre Seelen hilfreich werden? In der Seelsorge geht es darum, bei aller Unterschiedlichkeit und in dem vorhandenen Machtgefälle die andere Person als gleichwertig zu betrachten und zu behandeln, in ihrer Würde zu achten und ihre Personalität so zu stärken, dass sie etwas mehr Verantwortung für sich übernehmen kann (empowerment) – und damit das Machtgefälle zu relativieren. Das kann gelingen, wenn Menschen möglichst ohne vorgefasstes „Programm“ in Begegnungen hineingehen, ohne den Gedanken, man wisse schon etwas über die Lebenssituation dieses Menschen. Die Einstellung des „Nicht-Wissens“ (attitude of not-knowing) ist dabei hilfreich. Denn tatsächlich ist dieser Mensch – also etwa Omar – zunächst „ein unbeschriebenes Blatt“. Er soll aber die Gelegenheit bekommen, in geschützten Räumen von sich selbst zu erzählen und sich selbst auszulegen. Dies wiederum fordert ein aktives Zuhören heraus, das zunächst nicht analysiert oder urteilt, sondern sich für die Äußerungen des Gesprächspartners offenhält. Es ist ein Zuhören, das emotionale Nähe sucht und gleichzeitig Distanz behält, um wahrnehmen zu können, was für diese Person im Moment wichtig ist.

292

H. Weiß

Omar befindet sich in einer äußerst komplexen Lebenssituation mit einem Bündel von Bedürfnissen. Schon die kurze Skizzierung seiner Situation oben deutet an, dass sich bei ihm Erfahrungen bündeln, die so vielfältig und existentiell sind, dass sie kaum zu bewältigen sind. Erfahrungen von Gewalt, von Verlust, materieller Not, familiärer Hilflosigkeit und Bedrohung, das Erleiden physischer und seelischer Strapazen während der Flucht, die Unsicherheit in einer neuen Umgebung, viele Formen von Beschämung, etwa die Scham, keine Intimsphäre im Lager zu haben, und gleichzeitig der starke Wille, Neues zu beginnen, sich durchzusetzen, um zu überleben und seiner Familie zu helfen: Das sind nur einige wenige Stichworte, die auf seine Situation hinweisen und seine Situation zu beschreiben versuchen. In dieser Komplexität ist es ihm und den Menschen, die mit ihm in Kontakt kommen, nur möglich, zu „funktionieren“, wenn die Komplexität in der jeweiligen Situation reduziert wird und er und sein Gegenüber sich jeweils auf bestimmte Aufgaben konzentrieren. Seine Bedürfnisse können nicht gleichzeitig und auf einmal behoben werden, sondern nur punktuell. Wenn die Registrierung stattfindet, dann müssen nicht auch gleichzeitig eventuelle Traumatisierungen behandelt werden. Aber wie die Registrierung geschieht, kann „seelsorglich“ sein und so durchgeführt werden, dass sie die Person würdigt. Wenn Essen oder Kleidung ausgeteilt wird, muss nicht die Lebensgeschichte von Omar im Mittelpunkt stehen. Aber diese Leibsorge kann Ausdruck von Seelsorge – also Sorge um den ganzen Menschen – werden. Wenn Omar beim Deutschunterricht seine Pläne und Hoffnungen in dem neuen Land mit einfachen Worten versucht auszudrücken und die ehrenamtliche Lehrerin ihm dabei zuhört, bekommt er Gelegenheit, seine Seele zu öffnen. Wenn Omar bei einem Treffen mit Menschen aus der umliegenden Bürger- oder Kirchengemeinde in einfacher Sprache mit ein paar Sätzen erzählen kann, geschieht seelsorgliche Biographiearbeit. In der komplexen Lebenssituation von Flüchtlingen ist es nötig, ihre Bedürfnisse von vielen Seiten wahrzunehmen und je nach Situation in kleinen Sequenzen darauf einzugehen. In allen Situationen ist eine seelsorgliche Haltung einzunehmen und auszuüben, so wie sie oben kurz skizziert wurde. Alltagssorge wird zur Seelsorge.

Migration und Seelsorge

4

293

Anmerkungen zu kultur- und religionssensibler Seelsorge mit Flüchtlingen

Omar kommt aus einem anderen Land nach Deutschland, er wurde in einem anderen Kontext sozialisiert: Sprache, Leben in der Familie, die Bedeutung von Individualität und Gemeinschaft, Werte, Lebensregeln, Ehre und Würde, Bedeutung von Autorität, die Beziehungen von Mann und Frau und vieles andere haben ihn während seiner Kindheit und Jugend bewusst und unbewusst geprägt. Das alles bringt er mit. Oder anders ausgedrückt: Er bringt seine Kultur und seine Glaubensvorstellungen mit, seien sie religiös oder von einer unreligiösen Weltsicht geprägt; vielleicht hat er auch schlimme Erfahrungen mit Religion gemacht. Das alles spielt für die Begegnung und dann schließlich auch für das Zusammenleben mit ihm in Gegenwart und Zukunft eine wesentliche Rolle. Mit dem, was Omar an Prägung mitbringt, befindet er sich jetzt in einem Konflikt: In der neuen Umgebung gelten zu einem großen Teil andere Werte, Normen und Ansichten. Soll er deswegen seine bisherigen Lebensüberzeugungen über Bord werfen und kann er das überhaupt? Hat das, was bisher wichtig war, keinen Wert mehr? Omar ist einem Kultur- und vielleicht auch einem Religionsschock ausgesetzt, der ihn wahrscheinlich ein Leben lang begleiten wird. Vielleicht kann er sich eines Tages aus materieller Not befreien, vielleicht findet er in seiner neuen Umgebung die Erfüllung seiner Hoffnungen und Lebensmöglichkeiten, aber seine Lebensgeschichte wird wegen der unterschiedlichen Kulturen, Wertvorstellungen und Weltsichten wahrscheinlich immer mit Brüchen verbunden sein – Brüche, die auch in nächste Generationen einwirken. Alle Begegnungen, Gespräche und Beziehungen mit Flüchtlingen (übrigens auch von Flüchtlingen untereinander) müssen die kulturellen und religiösen Brüche und Konflikte in Betracht ziehen und für sie sensibel sein. Sie zu übergehen, würde einen wesentlichen Bereich der Erfahrung der Menschen ausklammern und sie reduzieren. Der Umgang mit Flüchtlingen erfordert ein Gespür für deren innere Spannungen. Vor allem Migrant_innen haben eine hohe psychische und kulturelle Integrationsarbeit zu leisten, indem sie bei sich selbst verschiedene kulturelle und religiöse Wertvorstellungen miteinander in Kontakt zu bringen und für sich befriedigende Lösungen zu finden haben. Um die inneren Spannungen so gut wie möglich auszubalancieren, müssen Flüchtlinge ein hohes Maß an Arbeit leisten. Dabei will Seelsorge Hilfe leisten.

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H. Weiß

Mit Seelsorge meine ich hier zunächst vor allem die Situationen, die ich mit Alltagsseelsorge umschrieben habe. Aber auch gezielte seelsorgliche Kontakte habe ich dabei vor Augen, also Besuche von Menschen aus der Zivilgesellschaft (und damit auch von kirchlichen Gemeinden), die sich um die seelischen Nöte der Flüchtlingen kümmern, die mit ihnen sprechen und signalisieren: Wir sind für euch da, ihr interessiert uns als Menschen in eurer Situation und mit eurer Lebensgeschichte. Seelsorge nimmt die Form an, diesen „Fremden“ nahe zu kommen, sich ihnen auszusetzen und sie in ihrer Menschenwürde zu bestätigen. Seelsorge will dabei das Potential dieser Menschen entdecken und stärken, gerade auch das kulturelle und religiöse Potential, das sie mitbringen. Ein Beispiel: Dass Omar sich verpflichtet fühlt, nicht nur an das eigene Fortkommen zu denken, sondern seine Anstrengungen, sich hier einzuleben und Arbeit zu finden, mit der Sorge um seine Familie in Syrien verknüpft, ist eine kulturelle und religiöse Ressource, die jede Unterstützung verdient. Bei diesen gezielten Kontakten wird es immer wieder auch darauf ankommen, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger als Bürger_innen unseres Landes vorleben und auch ausdrücklich erklären, wie „es bei uns zugeht“, von welchen Verhaltensweisen, Gebräuchen und Werten unsere Gesellschaft geprägt ist. Das eigene Selbstverständnis braucht nicht verschwiegen zu werden, sondern führt zu gegenseitigem Verstehen. Auf diese Weise wird interkulturelles Lernen in dem notwendigen Inkulturationsprozess der Flüchtlinge geleistet. Seelsorge an Flüchtlingen ist interkulturelle und interreligiöse Seelsorge. Sie beschreibt, dass Begegnung und Beziehung in Differenz möglich sind. Dabei sind aber Grundsätze zu beachten, die hier in zwei Punkten zusammengefasst werden: – Kulturelle und religiöse Macht- und Absolutheitsansprüche verderben die Seelen und Gesellschaften. Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge begibt sich dagegen in einen Diskurs der verschiedenen Kulturen und religiösen Traditionen, um deren lebensfördernde Potentiale zu stärken und sie miteinander zu teilen. – Vielfalt der Kulturen und Religionen ist nicht nur eine Gegebenheit, sondern eine kreative Kraft, Leben zu gestalten. Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge sucht Wege aus Apathie und Sprachlosigkeit und fördert die vielfältigen Lebensmöglichkeiten der Menschen. Gleichzeitig sucht sie nach der verbindenden Kraft der Menschlichkeit, die sich in der Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte und in Nächstenliebe und Barmherzigkeit zeigt.7 7

Vgl. dazu Weiß, Interreligiöse Seelsorge, 91–96.

Migration und Seelsorge

295

Literatur Polak, Regina, Migration als Ort der Theologie, in: Tobias Keßler (Hg.), Migration als Ort der Theologie (Kirche und Weltmission 4), Regensburg 2014, 87–114. Pontifical Council for the Pastoral Care of Migrants and Itinerant People, 7th World Congress for the Pastoral Care of Migrants, 2014, online: http//www.usccb.org. (Zugriff 31.5.2016). Weiß, Helmut, Grundlagen interreligiöser Seelsorge, in: Helmut Weiß / Karl Federschmidt / Klaus Temme (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2010, 73–96.

Thomas Stuckert

Wegbereiter der Integration – Migrant_innen werden Flüchtlingshelfer_innen

1

Kleine Dinge, die große Wirkung zeigen

Violaine Dobel ist eine von zwei sozialpädagogischen Kräften im Projekt „Wegbereiter für Flüchtlinge“, das die NEUE ARBEIT der Diakonie Essen gGmbH im Auftrag des Jobcenter Essen umsetzt. Nach drei Monaten Einsatz der Wegbereiter_innen für Flüchtlinge zieht V. Dobel ein erstes Resümee: „Sie haben Gespräche übersetzt zwischen Flüchtlingen und den Sozialarbeitern, den Einrichtungsbetreuern, den Mitarbeitern der Ausländerbehörde; sie haben Telefonate und Dokumente übersetzt. Sie haben den Flüchtlingen ihre ersten deutschen Wörter gelehrt und ihnen erklärt, wie man sich in Deutschland begrüßt und wie man sich in der Öffentlichkeit verhält. Sie haben ihnen gezeigt, wie man mit Bus und Bahn durch Essen fahren kann. Sie haben den Flüchtlingen geholfen einen Arzt zu finden, der arabisch spricht. Sie sind mit ihnen zu dem Arzt gegangen. Sie haben Müttern mit kleinen Kinder erklärt, wohin man gehen muss, wenn man Babynahrung benötigt, und sie unterstützt, eine Kinderbetreuung zu finden. Sie haben Flüchtlinge zum Jobcenter und zur Ausländerbehörde begleitet.“

Violaine Dobel könnte ihre Aufzählung jener Dinge, die die Wegbereiter_innen mit den Flüchtlingen im ersten Vierteljahr der Projektlaufzeit gemacht haben, fortsetzen. Stattdessen bringt sie das Wirken der Wegbereiter_innen auf den Punkt: „Sie sind wirklich eine Brücke zwischen allen Beteiligten in der Flüchtlingsarbeit.“ Es sind die kleinen Dinge, die am Ende große Wirkung zeigen. 2

Zweisprachigkeit und Fluchterfahrung als wertvolle Ressource

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015 entwickelte sich im Dialog zwischen dem Jobcenter Essen und der NEUE ARBEIT der Diakonie Essen die Idee, arbeitslose Migrant_innen im Projekt

Wegbereiter der Integration

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„Wegbereiter“ für den Einsatz in Flüchtlingsunterkünften zu gewinnen. Die Flüchtlinge müssen zu Behörden und Ärzten begleitet und in Sprach- und Integrationskurse vermittelt werden. Sie benötigen Unterstützung bei der Anmeldung ihrer Kinder in Kindergärten und Schulen und bei der Suche nach einer Arbeitsstelle. Migrant_innen – so der konzeptionelle Grundgedanke weiter – bringen zwei wichtige Ressourcen mit, um einen Zugang zu Flüchtlingen zu finden, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und ihnen bei den ersten Schritten bei der sozialen und beruflichen Integration zu helfen: die eigene kulturelle Herkunft und die persönlichen Migrations- bzw. Fluchterfahrungen. Sie wissen um die Unterschiede zwischen der Kultur, aus der sie kommen, und der Kultur, in der sie heute leben. Sie wissen um die persönlichen Schwierigkeiten, die das Leben in einer neuen Kultur mit sich bringt, und um die allgemeinen Schwierigkeiten, die der Integrationsprozess mit sich bringt. Sie wissen, dass einem der Integrationsprozess Kompromisse abverlangt als Gegenleistung für neue Perspektiven und ein Leben in Freiheit, Frieden und Sicherheit. Als Wegbereiter_innen können sie mit ihrer Fähigkeit, sowohl die Muttersprache der Flüchtlinge als auch Deutsch zu sprechen, für Flüchtlinge Mittler_innen zwischen den Kulturen sein. Als Dolmetscher_innen und Begleiter_innen können sie Flüchtlingen akut helfen, erste Schritte auf den Weg zur sozialen und beruflichen Integration zu gehen. Als Wegbereiter_innen sollen sie – so die Idee – neben den professionellen Akteuren der Flüchtlingshilfe und den zahlreichen ehrenamtlichen Unterstützer_innen die Flüchtlinge möglichst früh (unmittelbar nach ihrer Ankunft) ansprechen und ihnen bei den ersten Schritten hier in Deutschland zur Seite stehen. Dabei sollten sie von professionellen sozialpädagogischen Kräften in einer Qualifikation vorbereitet und später im Feld angeleitet und begleitet werden. 3

Was erreicht werden soll

Das Projekt „Wegbereiter“ hat mit Blick auf unterschiedliche (Handlungs-)Ebenen mehrere Zielstellungen. Das Projekt verfolgt zum einen Ziele in Bezug auf die Gruppe der Flüchtlinge: 1. Integrations- bzw. sozialpolitische Ziele: – Vermitteln von grundlegenden Informationen zu „Leben und Arbeiten in Deutschland“,

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– Vermitteln von Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland, – Einbinden in sozialintegrative Aktivitäten, – Unterstützen auf Wegen zu Behörden und Institutionen. 2. Arbeitsmarktpolitische Ziele: Flüchtlinge sind sehr an Spracherwerb interessiert und hoffen, schnellstmöglich auf eigenen Füßen stehen zu können, d.h. Arbeit zu finden. Damit sowohl die Arbeitsagentur Essen als auch das Jobcenter Essen diese Bestrebungen optimal unterstützen können und eine berufliche Integration ermöglicht wird, ist es notwendig zu ermitteln, über welche schulischen und beruflichen Qualifikationen und über welche beruflichen Erfahrungen die Flüchtlinge verfügen. Um ein erstes Bild zu erhalten, ist ein Fragebogen entwickelt worden, mit dem o.g. arbeitsmarktrelevanten Aspekte erfasst werden können. Die „Wegbereiter für Flüchtlinge“ können – nachdem sie Kontakt zu den Flüchtlingen aufgebaut haben und eine vertrauensvolle Beziehung entstanden ist – den Fragebogen an die Flüchtlinge verteilen, ihnen die Bedeutung für eine Arbeitsmarktintegration erklären, ihnen den Fragebogen erklären und sie beim Ausfüllen unterstützen. Sie können den Fragebogen an die relevanten Stellen weiterleiten. Zum anderen werden Projektziele in Bezug auf die „Wegbereiter“ selbst verfolgt: – Befähigen von langzeitarbeitslosen Menschen mit Migrations- bzw. Fluchterfahrungen im ALG-II-Bezug zum Einsatz als „Wegbereiter für Flüchtlinge“, – Verbessern der Beschäftigungsfähigkeit der Zielgruppe durch die vorbereitende Qualifizierung zum „Wegbereiter für Flüchtlinge“ und das Sammeln von beruflichen Erfahrungen als „Wegbereiter für Flüchtlinge“, – Entwickeln alternativer beruflicher Perspektiven. 4

Erfolg beginnt mit der richtigen Vorbereitung

Die Vorbereitung auf den Einsatz der Wegbereiter_innen im Handlungsfeld (Flüchtlingsunterkünfte) erfolgte auf zwei Ebenen: 1. 2.

das Vorbereiten der Teilnehmenden durch eine Qualifizierung, das Implementieren des Projektes / der Wegbereiter_innen im Handlungsfeld.

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Die Vorbereitung der Wegbereiter_innen war in zwei Phasen gegliedert: die achtwöchige Qualifizierungs- und die vierwöchige Transferphase. In der Qualifizierungsphase sollte den künftigen Wegbereiter_innen neben notwendigem Wissen vor allem Handlungssicherheit vermittelt werden. Entsprechend handlungsorientiert wurde der „Unterricht“ (eigentlich „das Training“) durchgeführt. Kernbestandteile der Qualifizierung waren: – Entwickeln eines Selbstverständnisses als Wegbereiter_in, – Kennenlernen des Arbeitsfeldes und der maßgeblichen Akteure, – Kennenlernen und Verinnerlichen des eigenen Auftrages sowie Abgrenzen gegenüber den Aufgaben anderer Akteure im Handlungsfeld, – Erkennen, bis wohin und in welchen Bereichen dem Flüchtling geholfen werden darf und kann und wann an Dritte abgegeben werden muss, – Abgrenzen gegenüber informellen Aufträgen Dritter oder von Flüchtlingen, – Training von kommunikativen und sozialen Kompetenzen sowie von kultursensiblem Verhalten, – Entwickeln von Zugängen und von vertrauensbildenden Maßnahmen, – Erarbeiten von Informationen zu Leben und Arbeiten in Deutschland, – Erfassen der schulischen und beruflichen Ausbildung sowie der beruflichen Erfahrung, – Aneignen von Begleitungs-Know-how, – Dokumentieren und Reflexion der Arbeitsprozesse. In der sog. Transferphase absolvierten die Wegbereiter_innen ihre ersten Einsätze in Flüchtlingseinrichtungen. Diese Einsätze wurden anschließend reflektiert und – wenn notwendig – Vorgehensweisen verbessert. 5

Zugänge schaffen – ein Netzwerk aufbauen

Bereits während der Qualifikationsphase hat die Projektleitung die Kontakte zu den Akteuren im Handlungsfeld aufgebaut: zu Verantwortungsträgern und operativen Kräften der Flüchtlingshilfe von Caritas und Diakoniewerk sowie von European Homecare, zur Ausländerbehörde, zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und zu weiteren Akteuren im Handlungsfeld, zu sogenannten „runden Tischen“, die sich rund um die Flüchtlingsheime gegründet hatten.

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Aufgabe war es nicht nur, die Akteure im Handlungsfeld zu identifizieren und Kontakte herzustellen, sondern auch, die Aufgaben und Einsatzmöglichkeiten der Wegbereiter_innen vorzustellen, die Abgrenzung zu den Aufgaben der anderen Akteure im Feld deutlich zu machen und die Wegbereiter_innen zu platzieren. 6

Selbstverständnis der Wegbereiter_innen

In der Vorbereitung auf ihren Einsatz entwickelten die Wegbereiter so etwas wie ein Selbstverständnis. Alle Teilnehmenden hatten sich freiwillig für das Projekt entschieden. Welchen schwierigen Situationen man sich als Fremder in einem fremden Land stellen muss, kennen sie aus eigener Erfahrung. Sie waren selbst vor zehn und mehr Jahren aus ihrer Heimat geflohen, weil sie politisch verfolgt oder als Minderheit unterdrückt wurden oder weil in ihrer Heimat Krieg herrschte. Als sie nach Deutschland kamen, mangelte es an Unterstützung. Es sei schwer gewesen, an notwendige Informationen zu kommen. Die Sprache sei ein großes Problem gewesen. Sie konnten keine Dokumente ausfüllen oder Briefe lesen. Es war schwierig, eine Wohnung und eine Arbeit zu finden. Kontakt zu Deutschen habe es kaum gegeben. Und sie hätten sich große Sorgen, um die Familie gemacht. „Es war so schwierig, sich in eine neue Kultur einzuleben“, fassten sie zusammen. Das sei ihre Motivation, den heutigen Flüchtlingen zu helfen. Sie haben ihr Selbstverständnis wie folgt formuliert: „Wir sind alle vor zehn und mehr Jahren als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Wir kommen alle aus verschiedenen Ländern: aus dem Irak, dem Iran, aus Syrien und Marokko. Wir sprechen Arabisch, Kurdisch, Persisch, Englisch, Französisch und Deutsch. Wir sind alle Essener. Wir möchten gerne Flüchtlinge unterstützen und helfen.“

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Angekommen im Handlungsfeld – erste Ergebnisse

Die Wegbereiter_innen sind im doppelten Sinne „angekommen“ in den Flüchtlingseinrichtungen, bei den Akteuren der Flüchtlingshilfe und vor allem bei den Flüchtlingen. Wie geplant konnte das Projekt im Handlungsfeld implementiert werden. Während der Transferphase waren die Wegbereiter_innen gemeinsam mit ihren pädagogischen Fachkräften vor Ort, um die Einrichtungen, die Akteure vor Ort und

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ihre Aufgaben kennenzulernen. Es wurden Absprachen getroffen, welcher / welche Wegbereiter_in wann und wie oft kommt. Zunehmend haben die Wegbereiter_innen Zugang zu den Flüchtlingen bekommen und Vertrauen aufgebaut. Dabei haben vor allem auch vertrauensbildende Angebote, wie z.B. ein Frauencafé, geholfen. Zunächst haben die Wegbereiter_innen die oben beschriebenen Aufgaben erledigt. Mit den berufsbiografischen Fragebögen haben die Wegbereiter_innen erst begonnen zu arbeiten, nachdem die Flüchtlinge weiter Vertrauen gefasst hatten. Einige kamen von selbst zu den Wegbereiter_innen, da sie sich Unterstützung beim Finden einer Arbeitsstelle versprachen. Andere – insbesondere Frauen – waren zögerlicher, da sie besorgt waren, noch nicht genügend auf eine Arbeitsstelle vorbereitet zu sein. Frauen mit Kindern wollten sich zunächst um ihre Kinder kümmern. In Feedbackgesprächen mit den professionellen Flüchtlingsbetreuer_innen in den Wohnheimen wurde deutlich, dass die Wegbereiter_innen eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung der professionellen Flüchtlingsbetreuung sind. Das Projekt und die Wegbereiter_innen sind von der professionellen Flüchtlingshilfe der Caritas und des Diakoniewerkes von Anfang an positiv aufgenommen worden. „Nachdem sie eine Woche da waren, konnten wir sie uns gar nicht mehr wegdenken“, formulierte ein professioneller Flüchtlingshelfer. Aktuell – Stand 01.07.2016 – sind allerdings nur noch drei Wegbereiter_innen in zwei Flüchtlingsheimen und im Integrationspoint Essen im Einsatz. Von den ursprünglich acht Frauen und drei Männern sind aus gesundheitlichen bzw. persönlichen Gründen vier aus dem Projekt ausgeschieden. Dies scheint auch ein Hinweis auf die besondere Belastung zu sein, die das Tätigkeitsfeld „Flüchtlingshilfe“ insbesondere vor dem Hintergrund der eigenen Fluchterfahrung darstellt. Vier haben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefunden – alle im Bereich der Flüchtlingshilfe. Was in gewisser Weise auch eine Erfolgsgeschichte ist. Zeigt es doch auch, dass die Qualitäten der Wegbereiter_innen von anderen Akteuren im Handlungsfeld „Flüchtlingshilfe“ erkannt wurden. Festzuhalten ist, dass die positive Resonanz und die hohe Wirksamkeit des Projektes auch auf den intensiven Einsatz der Projektleitung und der pädagogischen Fachkräfte zurückzuführen ist, die einerseits die Wegbereiter_innen sehr eng begleiten, andererseits eine sehr intensive Netzwerkarbeit leisten.

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Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden

Das Thema „Psychische Belastungen durch Konfrontation mit Fluchtgeschichten“ ist während der Qualifikationsphase sorgfältig aufgearbeitet worden, sodass die Teilnehmenden für sich entscheiden konnten, ob sie tatsächlich als Wegbereiter_innen tätig werden möchten. Ein Teilnehmer entschied sich bereits in der Anfangsphase, sich nicht weiter am Projekt zu beteiligen. In den ersten drei Monaten Einsatz in den Flüchtlingsunterkünften gab es keine Probleme. Die pädagogischen Begleitungen thematisierten dies auch immer wieder in den Reflexionsphasen. Dauerhaft wäre anzuregen, eine externe Supervision vorzusehen. Die Wegbereiter thematisierten vor den ersten Einsätzen in den Unterkünften einige Bedenken. Wegbereiterinnen wollten zunächst ungern mit männlichen Flüchtlingen arbeiten. Diese Einschränkung galt vor allem in den ersten Wochen. So wurde zweierlei deutlich: 1.) wie wirksam das Rollenverständnis der Ursprungskultur nach wie vor ist; 2.) dass es mehr männliche Wegbereiter geben sollte. Eine weitere Schwierigkeit ist die Abgrenzung a) gegenüber Aufträgen der professionellen Flüchtlingshilfe und der institutionalisierten Hilfe, die aus verständlichen Gründen versuchen, die Wegbereiter als willkommene Personalaufstockung für sich und ihre Aufgabenstellungen zu vereinnahmen; b) gegenüber Vereinnahmungsversuchen durch die Flüchtlinge; c) von ihrer eigenen Migrationsgeschichte. Die besondere Stellung der Wegbereiter_innen zwischen den Kulturen macht aber auch in besonderer Weise deutlich, wie schwer es ist, eine fremde Kultur zu verstehen. Das thematisieren die Wegbereiter_innen. Sie erleben, wie schwer sich die Flüchtlinge tun, die deutsche Kultur zu verstehen. Sie erleben aber auch, wie schwer es Deutschen fällt, die kulturellen Eigenheiten der Flüchtlinge nachzuvollziehen. 9

Ausblick

Die verbliebenen drei Wegbereiter_innen sind im sprichwörtlichen Sinne „nur ein Tropfen auf den heißen Stein“. Der Bedarf in der Flüchtlingsarbeit an Wegbereiter_innen ist weit höher. Das Jobcenter Essen hat dies registriert und bereits darauf reagiert. Noch im August 2016 wird eine weitere Gruppe von Migrant_innen auf den Einsatz als Wegbereiter_innen vorbereitet.

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Für die Arbeit vor Ort wäre es wünschenswert, wenn – mehr Männer mit Migrationshintergrund, – auch junge Menschen1 und – weitere Nationalitäten für das Projekt „Wegbereiter“ gewonnen werden könnten, um die „notwendige Brücke“ zu den Flüchtlingen schlagen zu können. Das Dolmetschtraining als ein Bestandteil der Qualifizierung wird in der folgenden Vorbereitung erweitert werden, da die Anforderungen an Dolmetschertätigkeiten sehr groß sind und es einer besonderen Kompetenz bedarf, Gesagtes ohne eigene Färbung zu übersetzen. Während der Vorbereitungsphase wird es noch mehr Exkursionen zu Einrichtungen geben, die im Rahmen der Flüchtlingshilfe bedeutsam sind. Die interkulturelle Kompetenz und die Reflexionskompetenz müssen weiterentwickelt werden. Das Offen-Sein für fremde Kulturen stößt an Grenzen, wo automatisierte Denk- und Verhaltensmuster wirksam werden. Die Wegbereiter_innen waren froh, hier in Deutschland Krieg, Terror und Unterdrückung hinter sich gelassen und hier Fuß gefasst zu haben. Was sie nicht hinter sich lassen können, sind tradierte und automatisierte Denk- und Verhaltensmuster der Kulturen und Religionen,2 in denen sie aufgewachsen sind und sozialisiert wurden. Obwohl die Wegbereiter_innen sich in Deutschland gut integriert fühlen, stößt hier das eigene Verhalten bisweilen an Grenzen.

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Der Altersdurchschnitt liegt derzeit bei 50 Jahren. Tradierte und automatisierte Denk- und Verhaltensmuster existieren selbstverständlich auch in uns. Tradierte und automatisierte Denk- und Verhaltensmuster wirken auch in den Flüchtlingen, die jetzt zu uns kommen. Sie – Christen, Jesiden, Muslime – fliehen vor gewalthaltigen Konflikten in ihrer Heimat, entstanden durch Vorbehalten gegenüber anderen Ethnien, Kulturen und Religionen. Es genügt manchmal aber ein scheinbar nichtiger Anlass und das, wovor man geflohen ist, flammt hier wieder auf. 2

Stefanie Dohmen / Thomas Drothler / Daniela Handwerk

Eine Kirche wird ein Zuhause für Flüchtlinge Erfahrungsbericht aus Oberhausen

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Kirchen-Geschichte der besonderen Art

Es war einmal, so fängt doch eine gute Geschichte an. In unserem Fall heißt es: „ist immer noch“ – eine kleine, aber feine evangelische Kirche in Oberhausen-Schmachtendorf. Idyllisch gelegen in einer 1921 erbauten Bergbausiedlung. Viele Gottesdienste, Taufen, Hochzeiten, aber auch Beerdigungen hat diese Kirche erlebt. Die Mauern, wie bei vielen anderen Kirchen, könnten Geschichten erzählen. Bei dieser Kirche kommt noch eine ganz besondere Geschichte hinzu. Im Herbst 2015, als die Flüchtlingswelle nach Deutschland ihren Höhepunkt erreicht, suchen Länder und Kommunen dringend nach weiteren Unterkünften. Auch die Stadt Oberhausen fragt bei den Gemeinden an. Das Presbyterium der Gemeinde Königshardt-Schmachtendorf überlegt angestrengt und kann „nur“ die Kirche anbieten. Dies wird zunächst von der Stadt abgelehnt. Der Aufwand sei zu hoch, heißt es. Schon kurz danach erfolgt eine weitere Begutachtung der Kirche und des umliegenden Geländes. Drei Tage später fällt überraschend die Entscheidung: Die Kirche wird zur vorübergehenden Notunterkunft für 50 Menschen. Die erste Zeitung berichtet, immer mehr Pressevertreter kommen, sogar das Fernsehen. So schnell konnte keiner reagieren. Die Gefühle und Reaktionen von Anwohner_innen und Gemeindemitgliedern sind sehr gemischt: „Wer kommt da rein?“, „Wie lange soll das sein?“, „Wer sorgt für die Sicherheit unserer Familien?“, „Da betet man, da schläft man nicht!“, „Bleibt die Glocke an?“, „Was wird aus dem Kreuz?“ Die Anwohner_innen, die erwartet hätten, als Erste persönlich informiert zu werden, haben es aus der Presse erfahren. Zu spät. Auch ein Informationsabend mit allen Beteiligten kann bei den Emotionen

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nicht für Abkühlung sorgen. „Die Kirche hat uns belogen.“ Eine Nachbarschaftsinitiative wird gegründet, um die Interessen der Anwohner_innen zu vertreten und zu verteidigen. Viele bringen an ihren Häusern extra Bewegungsmelder mit Scheinwerfern an; Wachhunde sind im Gespräch. Der Tag, an dem die Kirche geräumt wird, ist irgendwie sonderbar still. Der Altar, das Taufbecken, alles kommt raus. Die Kirche ist leer. Gemischte Gefühle machen sich breit: Angst, Besorgnis, Neugier, Ungewissheit und Freude. Keiner kennt Einzelheiten, viele Fragen bleiben offen. Als der eigentliche Umbau beginnt, verändert sich auch viel im Außen. Eine Extra-Beleuchtung wird angebracht, auf die Rückseite werden Container gestellt für Toiletten, Duschen und zum Wäsche Waschen. Es wird gebuddelt, um Leitungen zu legen. Innen wird eine eigene Heizung installiert. Nicht hübsch, aber es sollte zweckmäßig sein. Das Kreuz wird kurzfristig abgehängt, aus Sicherheitsgründen, um es dann sicher zu befestigen. Dies hat erneut zu heftigen Reaktionen im Umfeld gesorgt: „Jetzt haben sie das Kreuz doch abgehängt!“ „Nur für die.“ 2

Fragen und Gedanken

„Ich sitze auf der Treppe vor unserem Haus gegenüber der Kirche, die Sonne scheint, ein schöner Herbsttag. Ein Lkw fährt vor. Die Männer tragen Teile von Stahlbetten in die Kirche. Durch die offene Tür ist die Reihe von kalten, leeren Betten zu sehen. Jetzt weiß ich, dass ich helfen möchte. Mein Impuls war, rüberzugehen und die Betten zu beziehen.“

Die Ungewissheit in Nachbarschaft und Gemeinde bleibt. Keiner bekommt die Antworten, die er für sich benötigt; es ist viel Platz für Spekulationen in dieser Zeit. Die große Hoffnung ist, dass ausschließlich Familien in der Kirche untergebracht werden. Am Tag vor der Ankunft wird dazu aufgerufen zu helfen. Es „wohnlich“ zu machen. Kann man das eigentlich, in einer Kirche mit Stahlbetten und Stellwänden? Ja! An diesem Tag kommen viele Menschen, um zu helfen. Die Kirche ist voller Liebe und Barmherzigkeit. Die Betten werden bezogen. Viele haben ein Stofftier, ein Kuschelkissen, eine Wolldecke mitgebracht. Jedes Bett wird individuell her-

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gerichtet. Obwohl sich die meisten nicht kennen, stimmt das Miteinander auf Anhieb. 3

Die Ankunft

„Wer kommt?“, „Wann ist die Anreise, kommen alle zusammen?“, „Werden sie in die Kirche reingehen?“, „Wie geht es den Menschen?“, „Wo kommen sie her?“ Die ersten Tage haben die Helfer_innen vor viele Herausforderungen gestellt, menschlich und organisatorisch. In der Nachbarschaft herrschen weiterhin Skepsis, Angst und die Suche nach einem „Schuldigen“. Interessant zu sehen ist, dass durch solche Ereignisse sich Menschen wieder näherkommen, die Nachbarschaft auflebt. Die geflüchteten Menschen sind bei der Ankunft offensichtlich freundlich und doch rollen bei einigen Tränen der Enttäuschung über die Wangen. Bei vielen ist dies die dritte Unterbringung und immer wieder mit der Hoffnung auf eigenen Wohnraum verbunden. Voller Ehrfurcht und Skepsis betreten die Menschen die Kirche. Sie versuchen sich zu sortieren, anzukommen und sich mit den Gegebenheiten anzufreunden. Viele Dinge sind eine Herausforderung – das deutsche Mittagessen, die Nachtruhe, die Nutzung der Toilettenanlagen außerhalb des Gebäudes, Einkaufen, der Gang zu Ämtern, Ärzten. Und wieder Interviews durch die Presse bei Anwohner_innen, Flüchtlingen, Helfer_innen. Berichte, Fotos, das Fernsehen. Einige der neuen Bewohner_innen haben auch schnell ihre Aufgabe innerhalb der Gruppe gefunden. So haben wir einen Bürgermeister für die Organisation, einen König („Malik“), einen für die emotionalen Belange, einen Übersetzer (zu Anfang mit Englisch), einen Charmeur und, nicht zu vergessen, die Frauen für das leibliche Wohl. Die Kinder aus allen Altersgruppen, das ist ein eigener Kindergarten. Aus den „Bettenbeziehern“ kristallisiert sich ein Helferkreis heraus, der anfängt, die Menschen zu unterstützen und zu begleiten. Es gibt Treffen, in denen man sich austauscht und organisiert – zuerst in Kleingruppen: Sprechstunde täglich in der Kirche, Deutschunterricht, Kinderbetreuung, Arztgruppe, Amtsangelegenheiten, Technik und vieles mehr.

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Aus dem Dorf meldet sich spontan eine Frau mit ihrer Tochter. Ursprünglich stammen sie aus dem Iran, sind aber schon seit über 20 Jahren in Deutschland. Sie war und ist für uns eine wertvolle Hilfe, auch um wirklich wichtige Angelegenheiten richtig zu vermitteln. Für die Frauen ist sie eine Freundin geworden. Weitere Unterstützung haben wir durch einen Herrn aus einer anderen Unterkunft, der uns bis heute behilflich ist und sich immer herzlich für die Unterstützung seiner Landsleute bedankt. Aus den „Kleingruppen“ entwickeln sich mit der Zeit neue Ideen und Initiativen; manchmal ein bisschen unkonventionell chaotisch, aber immer mit Herz. „Learning by doing“ ist das Motto. Da eine Medaille zwei Seiten hat, sind auch negative Erfahrungen dabei, durch die oft auch Gutes und Neues entsteht. Etwas Besonders sind auch die Abende in der Kirche, wenn es ruhig wird, man isst gemeinsam, es wird aus den Lebensgeschichten erzählt. In dieser Zeit kommt man sich sehr nah und erhält Einsicht in Geschichten, über die nicht in den Nachrichten berichtet wird. Zwischenzeitlich haben wir einen blinden Passagier, einen Onkel, der gar nicht registriert ist, eine Familie, die mit einem Visum eingereist ist zwecks Familienzusammenführung, für die sich keiner zuständig fühlt, ein Vater-Sohn-Gespann, die zu uns aus einem anderen Camp zugeflüchtet sind, Krankenwageneinsätze, einen „vereinsamten / abgestellten“ Koffer, aber eines haben wir nicht: große Ausschreitungen von keiner Seite oder gar Beschädigungen von Eigentum. Bei unseren täglichen Begegnungen wird uns sehr schnell bewusst, dass es wichtig ist, einen festen Ansprechpartner zu haben, sowohl für die Familien als auch für die Helfer_innen. Unsere Schützlinge besitzen nämlich die Gabe, mit einem Thema sieben Helfer_innen gleichzeitig zu beschäftigen; in Syrien ist dies gang und gäbe, einer wird sich schon kümmern. Gewöhnungsbedürftig ist zu Anfang auch die doch etwas andere Zeitrechnung und Organisation. Auch die Beziehung zu Geld ist anders ausgeprägt oder der Umgang mit der Möglichkeit, etwas kostenfrei oder günstig zu bekommen. Aus diesen Erfahrungen und den wachsenden Verbindungen formt sich unsere „Patenidee“, die Familien individuell zu begleiten. Eine feste Person, an die man sich wenden kann, zu der es auch ein Vertrauensverhältnis gibt.

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Aus Wohnraum wird wieder Gottesdienstraum

Ab Februar 2016 soll die Kirche endgültig wieder gemäß ihrem Ursprung als Gottesdienststätte der Gemeinde zur Verfügung stehen. Binnen kürzester Zeit gelingt es uns mit viel Einsatz und Herz, 18 Familien in eigenem Wohnraum unterzubringen. Sie pflegen auch nach wie vor Kontakt untereinander. Der Auszug ist sehr emotional, aber auch gut. Ein Abschnitt unserer Arbeit ist getan. Auch die ehemaligen Bewohner_innen gehen mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die Freude ist groß über die wiedergewonnene Intimsphäre und das Verlassen des „Schutzraumes“. Ein großes Ziel ist es, die Familien in ihre Selbstständigkeit zu begleiten, vor allem durch den eigenen Wohnraum. Dieser Umzug läutet für uns die zweite Phase unserer Arbeit ein. 5

Beobachtungen

Flüchten ist ein hartes Wort, verbunden mit vielen negativen Emotionen. Die Menschen aus Syrien mussten fliehen. Ihnen ist Leid widerfahren. Ihre Freunde und Angehörigen wurden ermordet, das Zuhause zerbombt. Ihre Existenz wurde zerstört. Hab und Gut wurden veräußert, man musste Geld leihen, um die Flucht zu finanzieren. Versprechen der „Schlepper“, gemischt mit Bildern und Geschichten über Europa und Deutschland, formen die Erwartungen. Die Entscheidung, das Land, die Heimat, zu verlassen, ist mit tiefem Schmerz verbunden, den wir erst nach und nach sehen durften. Wir stellen immer wieder fest, wie wichtig es ist, mit einem offenen Herzen und einem Vorschuss an Vertrauen auf die Menschen zuzugehen. An einem Abend wird an uns herangetragen, dass ein junger Mann starke Schmerzen in seinem Arm hat, eine alte Verletzung. Eine aus unserem Kreis handelt intuitiv. Sie besorgt sich etwas Salbe und einen Verband. Sie setzt sich zu ihm, nimmt seinen Arm, salbt den Arm und macht achtsam einen Verband darum. Dem jungen Mann geht es direkt besser. Eine von vielen Geschichten, aus denen wir lernen, dass es oft Zuwendung und Liebe sind, was fehlt oder gerade notwendig ist.

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Im Nachgang betrachtet fällt uns auf, dass das ganz Offensichtliche während unserer Arbeit nie ein Thema im negativen Sinn ist: die Religionen. Es findet ein Austausch statt, Fragen, die „man“ sich schon immer stellt, werden beantwortet. Durch gemeinsame Aktivitäten, wie Kochen, Tanzen, das Schmücken eines Weihnachtsbaumes, gemeinsames Singen am Heiligabend, das neue Jahr begrüßen, wird Integration gelebt. Aber auch gesellschaftlich durch Verkehrserziehung, Deutschunterricht, Brettspiele mit den Kindern. Ein Thema, das uns direkt zu Anfang beschäftigt, ist das Teilen in der neuen Gemeinschaft. Die Stimmung in den ersten acht Tagen ist angespannt, man kennt sich nicht. Rücksicht nehmen, sich Organisieren für die täglichen Abläufe ist oft nur durch stetige Appelle an alle zu vermitteln. Durch das bewusste und geführte Teilen von Spenden kann der Gedanke und das Gefühl von Gemeinschaft mit der Zeit transportiert werden. Obst wird auf mehrere Teller und Tische verteilt. Aufsichtspflicht erklären bedeutet, dass es hier üblich ist, dass zumindest ein Erwachsener auf die Kinder achtet, wenn sie draußen spielen. Bei Brettspielen Rücksicht üben, Regeln einhalten und auch mal verlieren können, ohne das Spiel im ganzen Raum zu verteilen. In der zweiten Phase unserer Arbeit, der Begleitung nach dem Auszug, ergeben sich wieder völlig neue Herausforderungen. „Wir haben keine Post“, sagt eine Familie. Des Rätsels Lösung: Kein Namensschild am Postkasten. Viele dieser normalen und für uns selbstverständlichen Vorgänge sind für die geflüchteten Menschen eine Herausforderung. Nun sind das Themen wie Strom anmelden, ummelden, Schule für die Kinder, Hilfe bei Alltagsangelegenheiten (zum Beispiel Mülltrennung, wie verschicke ich einen Brief, Überweisungen). Zu Anfang bekommen die Menschen Unmengen an zum Teil sehr wichtiger Post und Terminen, leider ausschließlich in Deutsch. Inzwischen haben alle Familien mindestens einen festen Paten. Der Helferkreis hat weitere Menschen, die in speziellen Themenfeldern unterstützen, etwa bei Freizeitgestaltung, Botengängen, Verwaltungsangelegenheiten. Aber auch größere Probleme wie Familiennachzug, Umzug aus einer Stadt nach Erteilung der Aufenthaltsgestattung, Hilfe für Familienangehörige im Ausland, fordern uns bereits. Nicht immer mit dem gewünschten Ergebnis, aber der Erweiterung von Erfahrung und Wissen.

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Helfen nicht nach Muster und Schema

Ein Fazit ist, dass dieses Projekt funktioniert hat, weil wir nicht nach Muster und Schema gegangen sind. Unsere Arbeit war durch Zuruf, Intuition, Wahrnehmung, Vertrauen und „Machen“ geprägt. Wir sind auch dankbar für die Menschen, die uns mit ihrer administrativen Fähigkeit unterstützt haben und dabei Informationen für alle aufgearbeitet und nutzbar gemacht haben. Es haben sich hier Menschen getroffen, wiedergetroffen, kennen und schätzen gelernt. Viele aus unserem Kreis haben sich auch auf Themen spezialisiert im Laufe dieser Zeit. Es hat sich ein Netzwerk mit anderen Organisationen, dem Sozialamt, Spendern, Übersetzern, der Gemeinde entwickelt. Wir sind offen für das, was kommt oder sich entwickelt. Man kann jetzt noch nicht absehen, wohin die Reise führt. Wir bieten weiterhin eine Sprechstunde an, vornehmlich auch für die Helfer_innen, um sich auszutauschen, Sachverhalte zu recherchieren, aber auch für die Familien. Es gibt auch noch unsere Deutschkurse, wir werden einen Stand beim Gemeindefest haben. Wir wollen weitere Maßnahmen anbieten. Zurzeit suchen wir eine Wohnung für eine zugezogene Familie. Auf diesem Weg trafen wir auf eine Frau aus Sri Lanka, die wieder zurückkehren möchte. Sie löst ihre Wohnung auf und benötigt Hilfe. Wir könnten die Wohnung vermitteln, auch die Möbel gemeinsam veräußern oder übernehmen. Vor ein paar Wochen wandte sich eine Sozialarbeiterin an uns, sie hätte in unserer Nähe eine Familie mit drei Kindern, die dringend Unterstützung benötigen. An diesen Beispielen kann man sehen, dass diese Arbeit nicht wirklich planbar ist. Nur durch eine Begleitung der Menschen mit Herz und einer Portion Ratio ist es möglich, Integration zu gestalten und zu leben. Allerdings müssen wir gut hinhören, ob die Menschen „ja“ sagen zu diesem Leben hier. Das ist eine grundlegende Voraussetzung für eine gelungene Integration. Ein weiterer sehr wichtiger Punkt sind die Menschen, die hier bereits leben. Auch hier gibt es Schwierigkeiten, Armut, Leid. Nicht in Form von Bomben und Attentätern, vielmehr sind es soziales Ungleichgewicht, fehlende Bildung.

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In unserer täglichen Arbeit begegnen wir immer mehr Menschen, die gerne helfen möchten, aber auch selbst Hilfe benötigen. Diesen Menschen möchten wir auch zuhören und einen Weg zeigen. Ob das Hilfe ist, die wir selbst leisten können, oder ob wir einfach nur da sind und bei Bedarf weitervermitteln. Gemeinschaft als Grundelement der Gesellschaft – das schließt alle mit ein.

Annette Muhr-Nelson

Geflüchteten eine geistliche Heimat geben

Sonntagmorgen, 11 Uhr. In einer sauerländischen Kleinstadt beginnt der evangelische Gottesdienst. Orgelvorspiel, liturgische Eröffnung, Begrüßungsworte, Eingangslied. Die eine Hälfte der Gottesdienstbesucher_innen singt mit, die andere nicht. Psalm im Wechsel, Kyrie und Gloria. Nur wenige sind liturgiefest. Das ist keine Überraschung. Doch ist die Atmosphäre anders als sonst, wenn viele Kirchenferne oder Gottesdienst-Ungewohnte, „religiös Unmusikalische“, zu Gast sind. Es herrscht eine „sprechende Stille“. In vielen Bänken sitzen Menschen eng beieinander, hoch konzentriert, aufmerksam lauschend, manche mit geschlossenen Augen. Fremde, ihrem Aussehen nach zu urteilen, aber ihrem Verhalten nach hier, in diesem Gottesdienst, genau richtig. Woran liegt das? Sie verstehen die Sprache nicht, sind nicht vertraut mit der lutherischen Liturgie der Gemeinde, aber sie lassen sich ein, fühlen sich hinein, schweigen und hören. 1

Unsere Gottesdienste verändern sich

„Wir haben schon seit Monaten eine große Gruppe von Iranern im Gottesdienst“, erzählt die Pfarrerin beim anschließenden Kirchkaffee. „Sie kommen Sonntag für Sonntag.“ Eine von ihnen tritt jetzt mit der Lektorin zusammen ans Pult. Erst wird das Evangelium auf Deutsch gelesen, dann auf Farsi. „Mehr Übersetzung können wir momentan im Gottesdienst nicht leisten. Aber mehr wollen wir unserer Gemeinde auch nicht zumuten.“ Sie erzählt von den Gemeindeversammlungen, auf denen diskutiert wurde, wie sie sich den Neuankömmlingen öffnen wollen. Inzwischen gibt es einen schriftlichen Gottesdienstablauf in Deutsch / Farsi. Und am Donnerstagabend einen Bibelkreis für alle, die mehr vom Christentum erfahren wollen. Dahin kommen auch interessierte Gemeindeglieder, die es spannend finden, mit den Iranern Kontakt aufzunehmen und ihre Lebensgeschichten zu hören. Ausgesuchte biblische Texte bilden eine gute Grundlage, um miteinander über Herkunft, Familie, Pläne, Hoffnungen und Ängste zu reden.

Geflüchteten eine geistliche Heimat geben

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Wie in dieser Gemeinde geht es z.Zt. in vielen anderen zu. Als Außenstehende fragt man sich, was die Menschen, die da zusammenkommen, an so einer „stinknormalen“ Kirchengemeinde attraktiv finden. „Es war die erste Kirche, die ich sah, als ich vom Bahnhof in die Stadt ging“, erzählt mir ein Iraner, der schon seit drei Jahren in Deutschland lebt, vor acht Monaten aber erst seiner Aufnahmekommune zugewiesen wurde. „Hier sind wir willkommen. Wir haben einen Ort und eine feste Zeit, uns zu treffen. Und es gibt auch Menschen, die übersetzen können und weiterhelfen.“ Ranah hat schon in Teheran beim Goethe-Institut Deutsch gelernt. Das setzt sie jetzt hier ein, um Neuankömmlinge zu unterstützen. Sie organisiert auch den Lektorendienst auf Farsi. Omer, der vor 30 Jahren vor dem Schah geflohen ist, kommt immer erst nach dem Gottesdienst zum Kirchkaffee. Er sei Atheist, sagt er. Aber am nächsten Sonntag treffe ich ihn doch in der Kirche. 2

Viele wollen sich taufen lassen

An diesem Sonntag werden Nadja, Ahmed und Yasmin getauft. Auch dieser Gottesdienst unterscheidet sich äußerlich nicht vom üblichen Gottesdienst der Gemeinde. Mit den drei Erwachsenen werden der acht Monate alte Paul und die vierjährige Lotte getauft. Alles geschieht mit großer Ruhe und Selbstverständlichkeit, freundlich zugewandt. Das Wasser, das Kreuz, die Kerze, das Zusprechen des Taufspruchs, der Segen stehen für sich. Das geht alles ohne große Erklärungen. Nach seiner Taufe wird jeder Einzelne der versammelten Gemeinde vorgestellt. Und die klatscht und freut sich über den Zuwachs. Das ist eindrucksvoll, gerade weil es so unaufgeregt und selbstverständlich vonstattengeht, ohne große Worte, aber mit warmherzigen Gesten. Die Predigt ist einfach in der Sprache, klar in der Aussage und nah bei den Lebenswirklichkeiten der Gemeindeglieder. Darin liegt vielleicht das Geheimnis dieser Kirchengemeinde. Sie ist einladend und gastfreundlich. Das spüren alle, die kommen, und die in der Stadt lebenden Iraner_innen nehmen es dankbar an. Die Gruppe, die sich hier regelmäßig trifft, besteht aus ca. 30 Personen. Nicht alle, aber viele von ihnen wollen sich taufen lassen. Das ist der Gemeindepfarrerin zwar recht, aber sie beteuert, dass sie das nicht forciert. Am Anfang sei sie sogar sehr zurückhaltend gewesen. Die wenigen Christen, die im Iran leben, versammeln sich hinter verschlossenen Türen. Sich als Christ zu erkennen zu geben, ist zumindest für Einheimische gefährlich. Und Konvertiten droht eine Ge-

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fängnisstrafe. „Die meisten, mit denen wir es hier zu tun haben, haben keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Es könnte sein, dass sie abgeschoben werden. Daher spreche ich mit jedem einzeln darüber, was die Taufe für ihn für Folgen haben kann, wenn er in den Iran zurück muss“, sagt sie. Aber auch in Deutschland kann die Konversion zum Christentum unangenehme Begleiterscheinungen haben: Ausschluss aus der Familie, Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den muslimischen Chef, Hänseleien oder Mobbing im Übergangswohnheim, im Freundeskreis o.ä. Viele Menschen, die aus dem Iran, aus Afghanistan oder Pakistan geflohen sind, nehmen solche Konsequenzen bewusst in Kauf. Sie wollen endlich frei sein, und dazu gehört für sie die Befreiung von einer Religion, in die sie hineingezwungen wurden. Der iranische Staat z.B., eine sog. theokratische Republik, die von schiitischen Geistlichen geführt wird, missachtet Menschenrechte, durchdringt mit seinem Zwang zu religiöser und ideologischer Konformität das Leben aller Bürger_innen und beschneidet die Freiheit des Einzelnen. 3

Das Christentum steht für Freiheit

Die, die Kraft, Mut und Geld aufbringen, diesem System zu entfliehen, haben sich in der Regel lange schon damit auseinandergesetzt und nicht nur mit ihrem Staat, sondern auch mit ihrem Herkunftsglauben gebrochen. Hier angekommen suchen sie Anschluss an Gleichgesinnte und finden ihn u.a. in Kirchengemeinden, in denen man sie nicht nur als Adressat_innen diakonischen Handelns wahrnimmt, sondern ihnen einfach auch Räume zur Verfügung stellt. Meistens haben sie sich in ihrer Heimat schon mit dem Christentum beschäftigt, haben in der Bibel gelesen und wissen um den Freiheitsanspruch der christlichen Botschaft. Das christlich geprägte Europa ist für sie schon lange Ziel ihrer Träume und Inbegriff von Freiheit. Vor diesem Hintergrund bekommen die paulinischen Worte „zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5, 1) einen neuen Klang. Es ist immer wieder faszinierend, wie selbsterklärend biblische Texte sind, wenn sie in eine spezifische Situation hinein gesprochen werden. Die Verfolgungssituationen, die Auseinandersetzung mit „Feinden“ und die Furcht vor dem Bösen, das Flehen, Gott möge doch endlich mit starker Hand eingreifen, Bangen und Hoffen spielen in vielen Psalmen und biblischen Geschichten eine große Rolle. Vieles davon ist für unseren Geschmack schwer verdauliche Kost. Aber wenn wir mit Menschen, die Terror, Folter und Angst am eigenen Leibe erlebt ha-

Geflüchteten eine geistliche Heimat geben

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ben, Gottesdienst feiern, erschließt sich die Tiefendimension der biblischen Texte von selbst. Die versammelte Gemeinde interpretiert sie schon allein durch ihre bloße Zusammensetzung. Das ist ein spannendes Geschehen, das nicht ohne Folgen bleibt. 4

Unsere Aufgabe: Räume zur Verfügung stellen …

Gemeinden, zu denen regelmäßig Geflüchtete kommen, verändern sich. Sie öffnen ihre Räume und bekommen Impulse für ihren eigenen Glauben zurück. Damit die Geflüchteten sich finden können, brauchen sie regelmäßige Treffpunkte, z.B. immer nach dem Gottesdienst oder jeden Donnerstagabend. Da findet viel Lebenspraktisches statt, Austausch zwischen den Neuankömmlingen in der Stadt und denen, die ihnen ein paar Monate voraus sind. Da gibt es auch lebhafte Diskussionen um die große Politik und um den Alltag in einer deutschen Kleinstadt. Und da werden Dinge angesprochen, die der Beratung und Unterstützung bedürfen. Hier können Mitglieder der Kirchengemeinde hilfreich unterstützen. Notwendig sind auch virtuelle Kommunikationsräume, sprich freier Zugang zum W-Lan, um in Kontakt mit den Zurückgebliebenen zu bleiben oder mit Freunden oder Familienangehörigen, die noch unterwegs sind. Und schließlich geht es um Freiräume für Seele und Geist. Der Gottesdienstraum ist ein solcher Raum, wohltuend in seiner Klarheit und Weite, ausgerichtet auf das Wesentliche: das Kreuz, das Licht, die Taufe, die Bibel, das Abendmahl. Musik ist der Klangraum, der Menschen birgt, wenn Erinnerungen und Gefühle hochkommen. Der Gottesdienst an sich ist Balsam für die Seele. Die eine Stunde am Sonntag in einem schönen sakralen Raum, der Frieden ausstrahlt und Ruhe, das ist heilsame Unterbrechung des anstrengenden und oftmals tristen Alltags. Er gibt Kraft, die schlimmen Erinnerungen, die Sorgen um die Angehörigen und die unsichere Zukunft zu ertragen. „Was finden Sie attraktiv an einem Gottesdienst, wenn Sie doch kaum etwas verstehen?“, habe ich Ahmad gefragt. „Ich denke an Jesus, der so vieles erlitten hat“, war die plausible Antwort.

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A. Muhr-Nelson

… und eine neue Erzählung in die Welt setzen

„Ich glaube, dass es unsere Aufgabe als Kirchen sein wird, in Deutschland und Europa eine neue Erzählung – auch gegen jede Form von Hass und Gewalt – in die Welt zu setzen und wirksam werden zu lassen. Eine Erzählung von dieser inklusiven, friedlichen und gerechten Gesellschaft, die wir werden können, wenn wir im anderen den uns entgegenkommenden Christus erkennen: Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.“1 In vielen Gemeinden entsteht zur Zeit eine solche neue Erzählung. Gerade Gemeinden im ländlichen Raum erfahren durch die Öffnung für Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund eine neue Sinnstiftung. Sie diskutieren neu über die Taufe. Sie feiern Abendmahl mit Fremden und fragen sich erst hinterher, ob es nicht gegen die Kirchenordnung verstößt, Ungetaufte zum Tisch des Herrn zu laden. Sie organisieren Bibeln in verschiedenen Sprachen, und auch die deutschen Gottesdienstbesucher_innen fangen an, den Predigttext nachzuschlagen. Sie üben Lieder und Gesänge in vielen unterschiedlichen Sprachen ein, und das Vater Unser erklingt mehrsprachig. 6

Gemeinsam Kirche sein mit Geflüchteten und Migranten – Lernfeld für alle

Viele Pfarrerinnen und Pfarrer stellen sich mit Elan und Begeisterung dieser neuen Herausforderung. „Gemeinsam Kirche sein mit Geflüchteten und Migranten“ heißt die Facebook-Gruppe, die sich nach einem Studientag spontan gebildet hat. Hier werden Anregungen und Tipps, Veranstaltungstermine und Literaturhinweise ausgetauscht, z.B. dass Getaufte beim Einwohnermeldeamt einen Sperrvermerk ihrer personenbezogenen Daten beantragen können oder wo mehrsprachige Gottesdienstliturgien zu finden sind. Viele Gemeinden integrieren die Geflüchteten in ihre Gottesdienste und bieten begleitend Bibel- und Glaubenskurse an. Mancherorts gibt es aber auch mehrsprachige internationale Gottesdienste, z.T. in guter ökumenischer Zusammenarbeit.

1

Helge Hohmann, Beauftragter für Zuwanderung der EKvW, Vortrag auf der ökumenischen Konsultation zur Landessynode am 14.11.2015, Bielefeld-Bethel.

Geflüchteten eine geistliche Heimat geben

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In der westfälischen Reihe „Materialien für den Dienst“ sind hilfreiche praktische Tipps und Materialhinweise zusammengestellt.2 Dabei wird insbesondere dem Aspekt der Beteiligung nachgegangen. Damit Geflüchtete sich in unseren Kirchengemeinden geistlich beheimaten können, müssen sie sich vor allem wahrgenommen fühlen. Das fängt mit der Begrüßung an der Tür an. Nach Namen und Herkunft zu fragen, signalisiert Interesse und Willkommen. Wenn es dann gelingt, kleine Gottesdienstbausteine in der Muttersprache der Hinzugekommenen vortragen zu lassen, ist das von unschätzbarem Wert für die gesamte Gemeinde. Alles andere entwickelt sich – je nach den Gaben und Interessen, die sich da konkret vor Ort versammeln.

2

Evangelische Kirche von Westfalen (Hg.), Gemeinsam Kirche sein – Gottesdienst feiern mit internationaler Beteiligung, Materialien für den Dienst 1/2016 – zu beziehen über Ev. Presseverband für Westfalen und Lippe e.V., Cansteinstraße 1, 33647 Bielefeld oder als PDF-Datei im Download-Bereich von www.evangelischin-westfalen.de.

Michael Mertins

Flüchtlingsarbeit als Chance der Gemeindeentwicklung

Dieser Beitrag reflektiert die Flüchtlingsarbeit einer einzelnen Kirchengemeinde, der Evangelischen Christus-Kirchengemeinde Dortmund. Im ersten Teil werden die Rahmenbedingungen und die Vernetzungen dieser Arbeit dargestellt, die im zweiten Abschnitt beschrieben wird. Der dritte Teil reflektiert die Flüchtlingsarbeit und formuliert dabei fünf Chancen für die Gemeindeentwicklung. Diese Chancen dürfen aber nicht als Motivation für die hier beschriebene Flüchtlingsarbeit missverstanden werden. Diese liegt vielmehr im christlichen Glauben bzw. humanistischen Menschenbild der Akteure dieser Arbeit sowie im Selbstverständnis der Kirchengemeinde begründet. Die Gemeinde engagiert sich nicht in der Flüchtlingsarbeit, um dadurch neue Gemeindeglieder binden, Mitarbeiter_innen gewinnen oder das eigene Ansehen in der Öffentlichkeit profilieren zu können. Darum ist in diesem Beitrag explizit von „Gemeindeentwicklung“ die Rede. Der missverständliche Begriff „Gemeindeaufbau“ wird bewusst vermieden. 1

Rahmenbedingungen und Vernetzung

Die Evangelische Christus-Kirchengemeinde Dortmund (im Folgenden: Christusgemeinde) umfasst mit ihren rund 12.000 Gemeindegliedern im äußersten Westen der Stadt Dortmund die Ortsteile Lütgendortmund, Bövinghausen, Somborn, Westrich und Holte. Dazu kommen die Ortsteile Kreta der Stadt Bochum sowie Merklinde der Stadt Castrop-Rauxel. In Lütgendortmund befindet sich die Zentrale Kommunale Unterbringungseinrichtung für Flüchtlinge (ZKU) der Stadt Dortmund und in Merklinde eine Übergangseinrichtung für Flüchtlinge der Stadt Castrop-Rauxel. Eine weitere Übergangseinrichtung der Stadt Dortmund ist im Ortsteil Bövinghausen für Ende 2016 geplant. In Lütgendortmund befindet sich ferner eine Wohngruppe für Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. In Holte ist ein

Flüchtlingsarbeit und Gemeindeentwicklung

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integriertes Wohnprojekt mit Wohnungen für Flüchtlinge und Sozialwohnungen in Planung. Zahlreiche Flüchtlinge und Flüchtlingsfamilien leben in Wohnungen im Bereich der Christusgemeinde. Die Arbeit der Gemeinde ist in vier Gemeindebezirken bei vier Pfarrstellen organisiert. Neben der Arbeit im Pfarrbezirk nimmt jeder / jede Pfarrer_in noch die Verantwortung für einzelne Arbeitsbereiche der gesamten Kirchengemeinde wahr, denen jeweils ein Fachausschuss des Presbyteriums zugeordnet ist. Die Flüchtlingsarbeit wird vom Fachausschuss für „Diakonie und soziale Verantwortung“ begleitet. Der Autor ist Vorsitzender dieses Fachausschusses und einer der Synodalbeauftragten für Flüchtlinge des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund. Somit ist die Flüchtlingsarbeit der Gemeinde mit der des Kirchenkreises und der Westfälischen Landeskirche vernetzt. Im Kirchenkreis nimmt der Verfasser teil an der Fachgruppe „Flucht und Migration“ des kreiskirchlichen Ausschusses für Gesellschaftliche Verantwortung und ist an der Organisation einer Fortbildungsreihe für Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit beteiligt, die stadtweit angeboten wird. Die Christusgemeinde ist Mitglied im „Dialogforum Lütgendortmund“ zur Koordination der Flüchtlingsarbeit im Stadtbezirk und arbeitet eng mit „European Homecare“, dem Träger der ZKU, der Erstaufnahmeeinrichtung und von Übergangseinrichtungen in Dortmund zusammen. Die Kooperation mit dem Diakonischen Werk Dortmund geschieht auf Kirchenkreisebene in der genannten Fachgruppe und auf Gemeindeebene bei der Begleitung der sogenannten Flüchtlingspat_innen. Darüber hinaus ist die Gemeinde vertreten im „Netzwerk Flüchtlinge“, einem Zusammenschluss verschiedener Träger der Flüchtlingsarbeit in Dortmund, und steht im informellen Austausch mit dem „Projekt Ankommen“, das stadtweit Flüchtlinge in Wohnungen begleitet. Die Gemeinde arbeitet mit dem Ausländeramt der Stadt Dortmund gut zusammen, besonders eng aber mit dem Sozialamt, dessen Leiter ständiges Mitglied im Dialogforum ist. Mit der „Flüchtlingshilfe Merklinde“ organisiert die Gemeinde ein Begegnungscafé für Flüchtlinge und Deutsche. 2

Die Flüchtlingsarbeit in der Christusgemeinde

Die Flüchtlingsarbeit begann im Frühjahr 2011, als die ZKU der Stadt Dortmund in den Bereich der Christusgemeinde verlegt wurde. Schon im Vorfeld wurde das Dialogforum gegründet, das die hauptund ehrenamtliche Arbeit in der ZKU unterstützt und sich mit verschiedenen Projekten im Stadtteil für die Akzeptanz und Integration der Flüchtlinge einsetzt. Die Christusgemeinde ist Gründungsmit-

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glied dieses Forums, dem neben dem Bezirksbürgermeister, der Stadtbezirksverwaltung, dem Leiter des Dortmunder Sozialamtes auch Vertreter_innen des katholischen Pastoralverbunds DortmundWest sowie von ortsansässigen Schulen, Vereinen, Einzelhändlern, der Polizei sowie engagierte Bürger_innen angehören. Die Christusgemeinde ist vertreten durch den für Diakonie zuständigen Pfarrer, einen Presbyter – beide zudem Mitglieder des oben genannten Fachausschusses – sowie ehrenamtlichen Mitarbeitern_innen der Flüchtlingsarbeit. Das Dialogforum trifft sich jährlich vier- bis fünfmal in der Regel in Räumen der Christusgemeinde. Es ist gelungen, im Stadtteil eine Atmosphäre der Akzeptanz für die Flüchtlinge in der ZKU zu schaffen. Aus anfänglicher Skepsis vieler Bürger_innen ist eine gute Nachbarschaft im Stadtteil geworden. Dazu hat die Christusgemeinde einen wesentlichen Beitrag geleistet, indem sie die Arbeit des Dialogforums nicht nur durch ihre Logistik (Gemeindehaus, Büro, Einrichtung eines Spendenkontos), sondern auch durch ihr Veranstaltungsprogramm aktiv unterstützt hat. Dabei ragt insbesondere die jährliche Geschenkaktion heraus, die bereits fünfmal im Advent für Flüchtlingskinder der ZKU von der Gemeinde organisiert wurde. Dabei sind alle Bürger_innen des Stadtbezirks eingeladen, ein Geschenk auszusuchen, einzukaufen und in der Gemeinde abzugeben. Als Information bekommt man dazu lediglich den Vornamen, das Geschlecht und Alter eines Kindes mitgeteilt. Die Geschenke sind aber ganz bewusst nicht vorher ausgesucht worden. Wer sich beteiligen möchte, muss also nicht nur Geld, sondern auch eine Idee für ein Geschenk haben, mit dem man dem jeweiligen Flüchtlingskind eine Freude machen kann. So werden Schenkende und Beschenkte emotional miteinander verbunden. In einer Feierstunde am Freitag vor dem 3. Advent werden die Geschenke dann an die Kinder in einem Zentrum der Christusgemeinde verteilt. Daran wirken Vertreter_innen der Stadt, der Gemeinde und der ZKU mit. An der Geschenkaktion beteiligen sich jedes Jahr nicht nur Gemeindeglieder der Christusgemeinde, der römisch-katholischen sowie der neuapostolischen Nachbargemeinden, sondern auch zahlreiche konfessionslose Bürger_innen sowie Kindergärten und Schulklassen. Dieses Projekt hat viel zur Akzeptanz von Geflüchteten in der Bürgerschaft des Stadtteils beigetragen. Die Christusgemeinde unterstützt mit ihrem Programm für Kinder die Flüchtlingsarbeit der ZKU und lädt seit fünf Jahren in der ZKU zu Kinderbibeltagen und Sommerferienspielen der Gemeinde ein, bei denen jeweils zum Abschluss auch gemeinsam gegessen wird. Flüchtlingskinder nehmen unter Begleitung einer Mitarbeiterin der ZKU regelmäßig daran teil. Außerdem reserviert und finanziert die Christusgemeinde auf ihrer jähr-

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lichen Kinderfreizeit Plätze für Flüchtlingskinder. So hat sich in den Jahren eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Kirchengemeinde und Europaen Homecare (EHC), dem Träger der ZKU, entwickelt. Die Gemeinde unterstützt die ZKU bei der Ausrichtung ihres jährlichen Sommerfestes. Als im Sommer 2015 die Flüchtlingszahlen auch in Dortmund enorm anstiegen und weitere Übergangseinrichtungen im Stadtbezirk geplant wurden, hat die Christusgemeinde eine ihrer Kirchen als Versammlungsort für eine Bürgerinformationsveranstaltung geöffnet und im Anschluss daran die zahlreichen Bürger_innen, die sich zur ehrenamtlichen Mitarbeit bereit erklärten, zu verschiedenen Arbeitsgruppen zusammengebracht und ihre Flüchtlingsarbeit schrittweise ausgebaut. Dabei kam ihr die Zusammenarbeit der im Dialogforum vertretenen Institutionen und Verbände zugute: Die Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft Lütgendortmund stellte eine ihrer Wohnungen im Stadtteil für eine Kleiderkammer zur Verfügung und eine weitere Wohnung für ein Zwischenlager. Diese Kleiderkammer wird von zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen dreimal wöchentlich vorgehalten. Hier können zur selben Zeit Kleiderspenden abgegeben und entgegengenommen werden, sodass es regelmäßig zu Begegnungen zwischen Deutschen und Flüchtlingen kommt. Neben der Kleiderkammer wurde ein Team gebildet, das Möbel- und Haushaltswarenspenden an Flüchtlinge vermittelt. Das dazu benötigte Zwischenlager konnte in einer Industriehalle eingerichtet werden, die der Flüchtlingsarbeit kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, was wiederum durch die Kontakte von Mitgliedern des Dialogforums ermöglicht worden ist. Die Gemeinde beteiligt sich an dieser Arbeit mit der Koordination von Spendenangeboten und -bedarfen, mit ihrem Gemeindebus und zwei Hängern und vor allem mit der Durchführung regelmäßiger Teamsitzungen. Die Christusgemeinde richtete in ihren Räumen außerdem Sprach- und Konversationskurse für Flüchtlinge sowie das erwähnte Begegnungscafé ein. Hinzu kommt ein Kreis von Patinnen und Paten, die im Bereich der Christusgemeinde Flüchtlinge in ihrem Alltag begleiten, die in Wohnungen außerhalb der ZKU oder einer Übergangseinrichtung wohnen. Ein Presbyter moderiert die regelmäßigen Teamtreffen der Mitarbeiter_innen der Sprach- bzw. Konversationskurse, und der für Diakonie zuständige Pfarrer betreut die Teams von Kleiderkammer, Möbelspenden und die Flüchtlingspat_innen. Insbesondere die Begleitung der Pat_innen stellt sich als supervisorische Arbeit dar und wird unterstützt von der Ehrenamtskoordinatorin des Diakonischen Werkes Dortmund-Selm. Darüber hinaus übernimmt die Christusgemeinde die Verwaltung von Spendengeldern für die Flüchtlingsarbeit. Schon früh wurde auf dem Ge-

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meindekonto ein Spendenunterkonto für Kinder in der ZKU eingerichtet. Als die Flüchtlingsarbeit ausgedehnt wurde, kam ein Spendenunterkonto für die allgemeine Flüchtlingsarbeit der Gemeinde hinzu. Im Frühjahr 2015 gewährte die Christusgemeinde einer pakistanischen Flüchtlingsfamilie Kirchenasyl, das erfolgreich abgeschlossen werden konnte. 3 3.1

Chancen der Flüchtlingsarbeit für die Gemeindeentwicklung Stadtteilarbeit – „Kirche findet Stadt“ und „Stadt findet Kirche“

Die Christusgemeinde hat das Dialogforum mitbegründet, weil sie sich in der Mitverantwortung für die Geflüchteten und für den Stadtteil sieht. Die Stadtbezirksverwaltung bekam mit dem Umzug der ZKU in ihren Stadtteil eine Aufgabe, an deren Bewältigung die Christusgemeinde von Anfang an erfolgreich mitgewirkt hat. Dabei geht es der Gemeinde ebenso wie allen anderen Akteuren des Dialogforums immer um die Integration der Flüchtlinge in den Stadtteil und um dessen positive Entwicklung im Sinne einer offenen Gesellschaft. Die Christusgemeinde wird durch die gemeinsame Flüchtlingsarbeit im Dialogforum als verlässlicher Partner wahrgenommen, nicht nur von den politischen Verantwortungsträgern, sondern auch von Schulen, Vereinen und den weiteren Akteuren des Forums. Im Zusammenhang mit dem engagierten Einsatz für Geflüchtete kam es im Stadtteil auch zu Auseinandersetzungen mit Neonazis. Insbesondere die Partei „Die Rechte“ veranstaltete im Zentrum des Stadtteils mehrmals sogenannte Mahnwachen und Infostände. Gemeinsam mit der katholischen Nachbargemeinde hielt die Christusgemeinde zeitgleich Friedensandachten unter Beteiligung vieler auch konfessionsloser Bürger_innen des Stadtteils. Später entwickelte sich daraus das monatliche ökumenische Friedensgebet. In der Flüchtlingsarbeit findet Kirche die Stadt und umgekehrt findet hier auch Stadt die Kirche, die sich für den Zusammenhalt von Deutschen und Flüchtlingen im Stadtteil einsetzt und dazu die innere Einstellung der Menschen erreicht. Unabhängig von Parteien- oder Verbandsinteressen wirkt die Gemeinde für viele engagierte Menschen in der Flüchtlingsarbeit als glaubwürdige Institution und für die Arbeit hilfreiche Organisation. Kirche gewinnt durch die Flüchtlingsarbeit an gesellschaftlicher Relevanz. Die Christusgemeinde nimmt ihre Verantwortung für den Stadtteil auch in ihrer Einrichtung der wöchentlichen Sozialberatung wahr.

Flüchtlingsarbeit und Gemeindeentwicklung

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Ursprünglich eingerichtet zur Unterstützung von Bürger_innen mit besonderem sozialem Förderbedarf, ist sie in den letzten zwei Jahren auch zur Flüchtlingsberatung weiterentwickelt worden, weil zunehmend Geflüchtete diese Beratungsstelle der Gemeinde aufsuchen. Umgekehrt wurden Kleiderkammer und Möbel- und Haushaltswarenlager, die ursprünglich zur Unterstützung von Flüchtlingen eingerichtet wurden, erweitert für Deutsche, die die Sozialberatung aufsuchen. Die Mitarbeiter_innen der Flüchtlingsarbeit tragen dies ebenso mit wie das Team der Sozialberatung. Hier hat es sich als hilfreich erwiesen, dass sowohl die Flüchtlingsarbeit als auch die Sozialberatung der Christusgemeinde von dem Fachausschuss für „Diakonie und soziale Verantwortung“ geleitet wird. Die Christusgemeinde leistet durch diese Verbindung von Flüchtlings- und allgemeiner Sozialarbeit einen aktiven Beitrag zur öffentlichen Flüchtlingsdebatte, in der Flüchtlinge gegen Sozialhilfebedürftige ausgespielt werden sollen. Die Gemeinde lädt alle Kritiker ein, sich in der sozialdiakonischen Arbeit zu engagieren. Es ist gelungen, sowohl im Team der Kleiderkammer als auch im Team der Möbel- und Haushaltswarenspenden aktuell elf Flüchtlinge als feste Mitarbeiter_innen zu integrieren. So können Deutsche, die Spenden abgeben oder auch entgegennehmen möchten, Flüchtlinge als Helfer_innen und nicht nur als Empfänger_innen sozialer Hilfen erleben. Auch dadurch trägt die Gemeinde zu einer positiven Atmosphäre gegenüber Geflüchteten im Stadtteil bei und hilft ihnen, sich zu integrieren. 3.2

Sozial-diakonische Profilierung von Gemeinde in einem säkularen Umfeld

Aus den bisherigen Ausführungen wird ersichtlich, dass die Christusgemeinde ein sozial-diakonisches Profil entwickelt, weil sie sich den sozialen Aufgaben in ihrem Stadtteil stellt. Kirche wird für die säkular geprägte Dortmunder Stadtgesellschaft erkennbar, weil sie sich an der Lösung sozialer Herausforderungen beteiligt. Gemeinde wird von außen wahrnehmbar als Akteur sozialen Engagements und entspricht damit der positiven Erwartung vieler Menschen an Kirche. Dieser Erfolg kann aber nicht an einer steigenden Zahl der Teilnehmer_innen an Gottesdiensten oder anderen gemeindlichen Veranstaltungen abgelesen werden. Wichtiger sind hier als Gradmesser zum einen die Berichterstattungen in den öffentlichen Medien, zum anderen aber auch die große Anzahl der Menschen, die bislang kirchendistanziert waren und sich nun an die Christusgemeinde wenden, um für Flüchtlinge zu spenden oder sogar in der Flüchtlingsarbeit der Gemeinde mitzuarbeiten. Sie nehmen Kirche wahr, weil sie helfen wollen und ihre Hilfe hier für sie glaubwürdig und zuverlässig organisiert wird.

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Gleichzeitig bringt diese Profilbildung auch neue Schwierigkeiten. Die Gemeinde nimmt Partei für alle Flüchtlinge, unabhängig davon, ob es sich um Bürgerkriegs- oder sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge handelt. Das führt auch zu Unmut. Beispielhaft dafür ist die Verärgerung einzelner Besucher_innen der Heiligabendgottesdienste 2015. Sie nahmen Anstoß daran, dass die Gemeinde den Aufruf des Dortmunder Sozialamts, Mietwohnungen für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, mit den Gottesdienstprogrammen verteilen ließ und in den Predigten dazu aufgerufen wurde. Das stand für die Kritiker dem Bedürfnis nach weihnachtlicher Atmosphäre im Weg. Mit ihrer Profilbildung wird die Gemeinde auch kritisch wahrgenommen. 3.3

Neue Akteure und Formen der Gemeindearbeit

Die Christusgemeinde hat mit ihrer Flüchtlingsarbeit neue Formen ihrer Gemeindearbeit ausgebildet und dazu neue Mitarbeiter_innen gewonnen. Die beschriebenen Arbeitsgruppen sind nicht gebildet worden, um das Gemeindeleben zu bereichern, sondern um Geflüchteten zu helfen und ihre Integration zu befördern. Dennoch stellen diese Arbeitsgruppen auch neue Formen des Gemeindelebens dar. Denn ihre Arbeit erfüllt den genuinen Auftrag von Kirche und Diakonie. Dies ist nicht nur die theologische Deutung dieser Arbeit, sondern entspricht auch dem Selbstverständnis und der Eigenwahrnehmung der Akteure der Flüchtlingsarbeit: Sie findet in Räumen und mittels weiterer logistischer Unterstützung der Kirchengemeinde statt. Vor allem aber die Begleitung der Mitarbeiter_innen in den regelmäßigen Teamsitzungen unter Anleitung des zuständigen Pfarrers bzw. eines Presbyters werden als Veranstaltungen der Kirchengemeinde erkennbar. Auch das Diakonische Werk wird durch den Einsatz der Ehrenamtskoordinatorin von den Flüchtlingspat_innen positiv wahrgenommen. Und schließlich werden die Fortbildungsveranstaltungen von Kirchenkreis und Diakonischem Werk von den ehrenamtlichen Akteuren der Flüchtlingsarbeit als kirchliches Angebot geschätzt. Neben diesen neuen Formen der Gemeindearbeit werden durch die Flüchtlingsarbeit aber auch altbewährte Veranstaltungsformate verändert: Dies zeigt sich insbesondere in der Arbeit mit Kindern in der Gemeinde. Flüchtlingspat_innen bringen die von ihnen begleiteten Flüchtlingsfamilien mit zum jährlichen Kinderfest der Gemeinde. Flüchtlingsfamilien aus der ZKU finden inzwischen ohne Begleitung von hauptamtlichen Mitarbeiter_innen der ZKU den Weg zum Gemeindefest. Kinder nehmen teil an Kinderbibeltagen, Sommerferienspielen und Kinderfreizeit. Christliche Flüchtlingskinder besuchen den Kindergottesdienst. Flüchtlingsfamilien kochen für die Besu-

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cher_innen eines Kleinkunstprogramms und stellen ihr Heimatland vor. Bei den genannten Beispielen erhöhen die Flüchtlinge nicht nur die Besucherzahlen bestehender Veranstaltungsformate, sie verändern diese auch durch ihre aktive Teilnahme. Das Essen aus Ghana bzw. Pakistan hat den Absatz der gewohnten Pommes frites stark einbrechen lassen. Bei den Kinderbibeltagen und im Kindergottesdienst erzählen Flüchtlingskinder von ihren Erlebnissen in der Heimat und nun in Dortmund, aber auch von ihrem Glauben. Geplante Methoden und Programmabläufe werden gestört. Gibt man sie auf oder passt sie an die Flüchtlinge und ihre Bedürfnisse an, gewinnen die vertrauten Veranstaltungen an geistlicher Tiefe und bunter Vielfalt und werden von Flüchtlingen und Deutschen als großer Gewinn geschätzt. 3.4

Geistliche Entwicklung der Gemeinde

Die Flüchtlingsarbeit hat in der Christusgemeinde bereits intensive geistliche Auswirkungen gezeigt: Diese gingen insbesondere von christlichen Flüchtlingen selbst aus, die z.T. regelmäßig, z.T. vereinzelt die Sonntags- und Festtagsgottesdienste der Gemeinde besuchen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Christen aus Syrien, Iran, Ghana und Eritrea. Sie besuchen die deutschsprachigen Gottesdienste, obwohl sie viele Passagen sprachlich kaum verstehen können. Dennoch feiern sie die Gottesdienste mit, weil sie dabei innere Ruhe und geistliche Heimat in der Fremde finden. Allein diese konzentrierte Anwesenheit der Flüchtlinge macht auf deutsche Gottesdienstteilnehmer_innen nachhaltigen Eindruck. Gottesdienstbesuch wird plötzlich kostbar. Dies wurde besonders deutlich in dem Gottesdienst zu Flucht und Vertreibung, den wir zusammen mit der St. Mariengemeinde in der St. Marienkirche in der Dortmunder City gefeiert haben. Dabei standen Flüchtlinge aus Iran als mitverantwortliche Akteure dieses zweisprachigen Gottesdienstes im Zentrum. Sie berichteten über die bedrängende Situation von Christen im Iran. Der Glaube wurde für die deutschen Teilnehmer_innen kostbar. Mitarbeiter_innen der Flüchtlingsarbeit, die der Kirche und dem christlichen Glauben distanziert gegenüberstehen, suchten das Gespräch über die Predigt, die verschiedene Bibelstellen zum Thema Flucht auf die heutige Situation von Migration und Flüchtlingsarbeit bezog. Die Mitarbeiter_innen öffnen sich der geistlichen Reflexion ihrer Arbeit. Erlebbar wurden der Glaube, die Bedeutung von Taufe und des Pfingstfestes im Pfingstgottesdienst, bei dem ein iranischer Flüchtling getauft wurde. Mit seinem Bruder zusammen beteiligte er sich an der musikalischen Ausgestaltung des Gottesdienstes. Flüchtlinge zeigten durch ihren Glauben Deutschen die Bedeutung des Pfingst-

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wunders auf: Es geschah Verständigung trotz fremder Sprachen. Die Gegenwart und vor allem das aktive Mitfeiern von Flüchtlingen in Gottesdiensten führt die ökumenische Weite der Kirche Jesu Christi eindrücklich vor Augen. Die intensive Flüchtlingsarbeit der Christusgemeinde hat dazu geführt, dass diese Arbeit immer wieder den Horizont theologischen Arbeitens mitbestimmt: in Predigten und Andachten, in der Katechese und in der Religionspädagogik vom Kindergarten über die Arbeit mit Kindern bis hin zur Jugendarbeit. Dabei ereignen sich immer wieder theologische Erkenntnisse sowohl über die geistliche Bedeutung eines biblischen Textes oder eines kirchlichen Festes als auch über den Auftrag der Kirche in der Gesellschaft. Die theologische Bedeutung von Weihnachten, Himmelfahrt und Pfingsten wurde in bewegenden Gottesdiensten an den entsprechenden Festtagen eben durch die Fluchtthematik in ihrer Tiefe und Weite entdeckt. Dabei sind vor allem Fluchtgeschichten und die Erlebnisse menschlicher Nähe in der Begegnung mit Flüchtlingen für die neue geistliche Erfahrung wichtig. Im Kindergottesdienst erzählen Flüchtlingskinder deutschen Kindern die biblischen Geschichten und erklären christliche Feiern. Flüchtlinge bringen geistliche Impulse in die Gemeinden ein. Schon jetzt ist wahrnehmbar, wie sich dadurch die Haltung vieler engagierter Deutscher verändert: Hilfe und Beistand geschehen nicht mehr einseitig, sondern ereignen sich wechselseitig. Flüchtlinge werden von Fremden und Gästen zu Brüdern und Schwestern in der Gemeinde. 3.5

Integrationsarbeit für Flüchtlinge und Deutsche in Gesellschaft und Gemeinde

Die Ausführungen haben exemplarisch deutlich gemacht, welche besonderen Möglichkeiten eine Kirchengemeinde zur Integration von Flüchtlingen hat. Das gilt nicht nur für christliche Flüchtlinge. Die Christusgemeinde wird auch von zahlreichen muslimischen Flüchtlingen aufgesucht: Sie beteiligen sich an Gemeindefesten und kulturellen Veranstaltungen, ihre Kinder nehmen an Sommerferienspielen und Kinderfreizeiten teil, und sie suchen die Begegnung mit Deutschen in der aktiven Mitarbeit in den genannten Arbeitsgruppen der Flüchtlingsarbeit. Geflüchtete suchen die Begegnung mit Deutschen, weil sie sich integrieren wollen und nicht zuletzt auch, um ihre deutschen Sprachkenntnisse zu üben. Dafür bietet die Kirchengemeinde mit ihren Räumen, ihren haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen, insbesondere aber mit ihrer voraussetzungslosen Annahme der Menschen die besten Voraussetzungen für Geflüchtete mit jeder oder auch ohne jede Religion.

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Gleichzeitig trägt die Flüchtlingsarbeit auch zunehmend zur „Integration“ von Deutschen in die multikulturelle Gesellschaft bei. Häufig schon ließen sich positive Einstellungsveränderungen bei Deutschen wahrnehmen, nachdem sie „echten“ Flüchtlingen begegnet sind. Dazu kann die Gemeinde so viele und gute Gelegenheiten bieten wie sonst in der Gesellschaft allenfalls noch die Sportvereine. Eine besondere Erfahrung war das erwähnte Kirchenasyl einer Familie, die ihren muslimischen Glauben lebte. Gemeindeglieder entwickelten die Haltung, es seien „unsere“ Flüchtlinge. Die Unterstützung war vielfältig. Für viele gehört diese Familie seit dem Kirchenasyl zur Gemeinde dazu, trotz ihres muslimischen Glaubens. Manche Seniorinnen berichteten davon, wie sie durch diese eindeutige Parteinahme der Gemeinde beim Kirchenasyl selbst innerlich aufgebaut wurden. Nun waren sie ermutigt, fremdenfeindlichem Gerede in ihrem Umkreis offen zu widersprechen. Auch hier zeigt sich, wie die Flüchtlingsarbeit nicht nur den Flüchtlingen, sondern auch den Deutschen zur „Integration“ in die offene Gesellschaft hilft. Das wird immer wieder auch in der Seniorenarbeit der Gemeinde deutlich: In Frauenhilfen findet angeregt durch die Flüchtlingsarbeit der Gemeinde immer wieder Biographiearbeit statt. Seniorinnen berichten von ihren eigenen Fluchterfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Andere erzählen von ihrer Flucht aus der DDR. Übereinstimmend ist die Erinnerung daran, wie schwer der Anfang in Dortmund war. Einige erzählen davon, wie sie als Fremde abgelehnt wurden, dass ihnen nachgesagt wurde, soziale Hilfen umsonst zu bekommen, während alteingesessene Dortmunder_innen sich benachteiligt fühlten. Parallelen zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion ziehen die Seniorinnen selbst. Dabei hilft die Erinnerung allerdings nicht immer zu einer freundlichen Einstellung gegenüber aktuellen Flüchtlingen. Vereinzelt wird auch die Meinung vertreten: „Uns wurde damals auch nicht geholfen.“ Solche Äußerungen eröffnen spannende Diskussionen, die helfen, die Erinnerung zu präzisieren und die eigene Einstellung zu gegenwärtigen Flüchtlingen zu überdenken. Manche berichten aus der länger zurückliegenden Familiengeschichte von Vorfahren, die aus der Armut Ostpreußens oder Schlesiens ins Ruhrgebiet migrierten, um hier Arbeit im Bergbau zu finden. Diese Erinnerungen helfen, die in der aktuellen Flüchtlingsdebatte beliebte Unterscheidung von den „guten“ Bürgerkriegsflüchtlingen und den „bösen“ Wirtschaftsflüchtlingen in Frage zu stellen und zu überwinden. So leistet die Biographiearbeit in der Seniorenarbeit der Gemeinde einen wichtigen Beitrag zur Integration von Flüchtlingen und Deutschen. Die Gemeinde gibt durch ihre Flüchtlingsarbeit vielen Menschen die Gelegenheit, Gutes zu tun. Verschiedene gezielte Spendenaufrufe haben mit ihren großen Erfolgen gezeigt, wie dankbar Menschen dafür

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sind, Gelegenheit zum praktischen Helfen zu bekommen. Je konkreter der Spendenaufruf, desto größer der Erfolg, wie die Spendenaufrufe für Koffer, Kindersitze, Kinderwagen, Schuhe sowie Geldspenden für die Nahverkehrs-Jahreskarte, die einem Flüchtlingskind ermöglichen sollte, den Fußballverein in seinem früheren Stadtteil besuchen zu können, belegen. Gemeindeglieder werden ermutigt, auf Familienfeiern statt Geschenken Geldspenden für die Flüchtlingsarbeit der Gemeinde zu erbitten. 4

Ausblick

Die Flüchtlingsarbeit entwickelt die Christusgemeinde zur „Kirche für andere und mit anderen“. Flüchtlinge können noch stärker in das aktive Leben der Gemeinde integriert werden, damit für alle Menschen im Stadtteilbereich die Gemeinde als Ort erkennbar wird, an dem Menschen erfahren können, was jeder Kirchengemeinde verheißen ist: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist. Durch ihn werdet auch ihr miterbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist“ (Eph 3,19–20.22).

Katharina F. Trelenberg

Kirchenasyl – ein Überblick

1

Einleitung

Kirchenasyl beruht auf einer jahrtausendelangen Tradition und erfuhr in den verschiedenen Epochen der Geschichte höchst unterschiedliche Akzeptanz und Legitimation. Bis zum Hochmittelalter entwickelte sich das kirchliche Asylrecht zu einem staatlich anerkannten Instrument, welches zugleich eine politische Demonstration der Macht der Kirche darstellte.1 Jedoch verlor das Kirchenasyl im Zuge der Aufklärung und der damit einhergehenden Säkularisierung der Gesellschaft an Bedeutung und wurde von außerkirchlichen Asylregelungen abgelöst.2 Heute muss es sich teilweise den Vorwurf gefallen lassen, nicht mehr zeitgemäß zu sein. Allerdings lässt sich auch eine gegenläufige Entwicklung mit dem Wiederaufkommen von Kirchenasylen in Deutschland Ende des 20. Jahrhunderts beobachten. Als der erste Fall eines solchen Kirchenasyls gilt die Aufnahme einer von Abschiebung bedrohten Gruppe von Palästinenser_innen durch die Berliner HeiligKreuz-Gemeinde im Jahr 1983.3 Dieses Ereignis führte zum Beginn einer (erneuerten) Kirchenasyl-Bewegung, die sich in den Folgejahren formierte und organisierte. Wenngleich die Zahl der bundesweiten jährlichen Kirchenasyle konstant relativ gering war, gab es eine innerkirchliche Debatte um die grundsätzliche Legitimität des Verfahrens. Das Ergebnis war eine bejahende Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Jahr 2014 kam dem Thema Kirchenasyl plötzlich abermals erhöhte Aufmerksamkeit sowie zunehmende politische Relevanz zu: Während im Januar 2014 noch 34 Fälle verzeichnet waren, stieg diese Anzahl im Laufe der Folgejahre kontinuierlich an und beläuft sich mittlerweile auf durchschnittlich etwa

1 2 3

Vgl. Babo, Kirchenasyl, 101 ff. Vgl. Babo, Kirchenasyl, 121 ff. Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland, 118.

330

K. F. Trelenberg

270 bis 280 Fälle, die monatlich erfasst werden.4 Pro Fall handelt es sich dabei sowohl um Einzelpersonen als auch Personengruppen. Die Entwicklung steht zweifelsohne im Zusammenhang mit dem sprunghaften Anstieg der Anzahl der Schutzsuchenden in der Bundesrepublik. Zusätzlich ist jedoch anzumerken, dass der Großteil der Geflüchteten in kirchlichen Asylen von der sogenannten Dublin-IIIGesetzgebung betroffen ist und sie somit in das Land ausgewiesen werden sollen, in welchem sie erstmals die Europäische Union erreichten. Durch Überlastung dieser Staaten drohen den Geflüchteten dort zum Beispiel Obdachlosigkeit, unzureichende medizinische und psychologische Versorgung oder die Gefahr sogenannter Kettenabschiebungen in das Herkunftsland. All diese Faktoren können eine Gefahr für die Unversehrtheit der Betroffenen bedeuten. Wie die Gewährung von Kirchenasyl sich unter diesen aktuellen Bedingungen gestaltet, worin die Chancen und Herausforderungen liegen und wie sich Kirchenasyl biblisch-theologisch sowie menschenrechtlich begründet, wird im Folgenden erläutert.

2

Zum Begriff des Kirchenasyls

Der Begriff des Asyls stammt aus dem Griechischen und bezeichnet das, „was nicht ergriffen werden darf“5, oder einen „Ort, an dem es verboten war, Personen oder Sachen wegzuführen“6. Diese ursprüngliche Idee des Asyls ist verknüpft mit einem Heiligtum, also einer sakralen Sphäre, in der die Asylsuchenden dem Schutz eines Gottes unterstellt sind, und setzt so „die Unterscheidung von heilig u. profan voraus“7. Hieran orientiert sich auch der Begriff des heutigen Kirchenasyls, welches auch als Gemeindeasyl oder Asyl in der Kirche bezeichnet wird. Geflüchtete finden Schutz in den Räumlichkeiten einer Kirchengemeinde, sind allerdings im Unterschied zur Antike hiermit nicht komplett dem profanen Recht entzogen. Das heutige Kirchenasyl ist also kein staatlich anerkanntes Rechtsinstitut. Es ist „nur eine Noteinrichtung […], um Zeit zu gewinnen und Verfahren noch einmal zu überprüfen“8. 4

Vgl. Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, Aktuelle Zahlen: Kirchenasyle bundesweit. 5 Schultz-Süchting, Kirchenasyl, 158. 6 Honecker, Asyl, 123. 7 Honecker, Asyl, 123. 8 Honecker, Asyl, 123.

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Charakteristika, Chancen und Herausforderungen des heutigen Kirchenasyls

Das antike und mittelalterliche Kirchenasyl zeichnete sich dadurch aus, dass bedrohte Menschen aus allen erdenklichen Gründen Schutz in kirchlichen Räumen suchen konnten. Das heutige Wesen des Kirchenasyls ist demgegenüber wesentlich enger gefasst, da es sich auf den Schutz geflüchteter Menschen fokussiert. Zusätzlich handelt es sich in diesem Kontext um Härtefälle. Es betrifft also solche Angelegenheiten, die bereits durch Ämter und Behörden geprüft wurden und deren Verfahren nicht mit einem Aufenthaltstitel endeten, sodass in vielen Fällen konkret eine Abschiebung droht. Haben die Geflüchteten sowie die kirchliche Einrichtung nun aber berechtigte Sorge um Leib und Leben der Betroffenen in Folge einer Abschiebung, ist das Kirchenasyl die letzte – radikale – Möglichkeit, die „ultima ratio“9. Das Asyl in der Kirche ist in diesem Sinne ein „Moratorium, eine Unterbrechung von Verwaltungshandeln“10, um Zeit zu gewinnen und eine erneute Prüfung des Verfahrens zu erwirken. Diesbezüglich ist auf die hohe Erfolgsquote von Kirchenasylen zu verweisen. Der Statistik der „Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“ zufolge nahmen 95–97 % der verzeichneten Kirchenasyle der letzten Jahre einen positiven Ausgang, endeten also mindestens mit der Erwirkung einer Duldung.11 Hierin liegt wiederum ein Hinweis darauf, dass in der Bearbeitung von Asylanträgen Fehler passieren können, durch welche die Betroffenen nach einer Abschiebung zu Schaden oder gar zu Tode kommen.12 Dies zu verhindern, ist der Zweck des Kirchenasyls. Es ist ein dem Wortsinn nach Not-wendiges Mittel. Ziel der Kirche ist keineswegs die Implementierung einer eigenen Rechtsprechung, welche den bestehenden Gesetzen widerspricht. Dieses Umstandes müssen die Ausführenden sich bewusst sein, denn sie verstoßen zunächst gegen geltende gesetzliche Regelungen und riskieren eine Strafe. In der Vergangenheit hat es in einigen Fällen juristische Verfolgungen aufgrund von „Beihilfe zu [...] illegalem Aufenthalt“13 gegeben, welche mit Bußgeldern geahndet wurden. Es lässt sich jedoch feststellen, dass durch offene Kommunikation sowie durch die vielen positiven Ausgänge der Kirchenasyle von staatlicher 9

Babo, Kirchenasyl, 416. Dethloff / Mittermaier, Was hat Kirchenasyl in Deutschland bisher gebracht?, 18. 11 Vgl. Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, Aktuelle Zahlen: Kirchenasyle bundesweit. 12 Vgl. Huber, Vorwort, 11. 13 Keßler, Ist das Gewähren von Kirchenasyl strafbar?, 49. 10

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Seite nahezu in allen Fällen von einer Strafverfolgung abgesehen wird. Die Entscheidung zur Gewährung eines Kirchenasyls bedarf daher im Vorfeld der gewissenhaften Prüfung des Einzelfalls durch die Kirchengemeinde, zu der auch ein Jurist hinzugezogen werden kann, um die rechtlichen Möglichkeiten auszuloten und Überlegungen zu potenziellen Maßnahmen anzustellen. Der offizielle Beginn eines Kirchenasyls erfordert einen Presbyteriumsbeschluss. Dabei ist die einzelne Kirchengemeinde die Entscheidungsinstanz; handelt es sich um Härtefälle, werden die Entschlüsse aber auch von der jeweiligen Landeskirche mitgetragen.14 Intention eines Kirchenasyls ist ein transparentes Verfahren gegenüber den Behörden und kein Verstecken von Personen, sodass eine Meldung an die zuständige Ausländerbehörde erfolgen sollte. Diesbezüglich wird erneut deutlich, dass Kirchenasyl nicht als Konkurrenzrecht zum staatlichen Recht zu verstehen ist.15 Asyle in der Kirche sind nicht unbedingt öffentlich, die Entscheidung hierüber bedingt der Einzelfall. Allerdings kann Öffentlichkeit hilfreich sein, um den Kreis der Unterstützer_innen zu vergrößern und einen gewissen Druck auf die Behörden auszuüben.16 Zusätzlich ist auch die Dauer eines Kirchenasyls im Vorhinein zu bedenken, denn die genaue Spanne ist ungewiss und kann mehr als ein Jahr betragen. In diesem Punkt ist eine klare Kommunikation zwischen allen Beteiligten erforderlich.17 Den vorangegangen Ausführungen ist zu entnehmen, dass die Gewährung von Kirchenasylen eine Gratwanderung darstellt. Allerdings birgt das Verfahren vielfältige Chancen. Für Kirchengemeinden ist es eine Möglichkeit, sich nach außen zu öffnen, Gesellschaft mitzugestalten und Vorbild für diese zu sein. Denn durch Kirchenasyle erfolgt eine deutliche Solidarisierung mit den Geflüchteten und somit eine gesellschaftliche Positionierung der Kirche – auch wenn dies nicht unbedingt immer mit rechtlicher Konformität einhergeht. Der Fingerzeig auf rechtliche Missstände durch das Kirchenasyl macht es zum Instrument der „Evaluation des Flüchtlingsschutzes“18 und die Kirche zur Anwältin für Menschenrechte. Der Einsatz für Schutzsuchende verstärkt die Glaubwürdigkeit der christlichen Religionsgemeinschaften, die sie möglicherweise an anderen Stellen eingebüßt haben. Hier14 15 16 17 18

Vgl. Dethloff / Mittermaier, Wie geht Kirchenasyl?, 39 f. Ebd. Ebd. Ebd. Dethloff / Mittermaier, Was hat Kirchenasyl in Deutschland bisher gebracht?, 21.

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in liegt also großes Potenzial für die Kirche, sich einerseits auf die Wurzeln ihres Selbstverständnisses zurückzubesinnen und andererseits an Attraktivität zu gewinnen. 4

Begründungen

Die zum Teil scharfe Kritik am Asyl in der Kirche erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit den Begründungen, die dieser Maßnahme zu Grunde liegen, um sowohl nach innen wie auch nach außen sprachfähig und sich des eigenen Handelns bewusst zu sein. Dabei ergänzen sich die biblisch-theologische und die menschenrechtliche Argumentation, welche im Folgenden vorgestellt werden. 4.1

Biblisch-theologische Begründung

Zweifellos lässt sich die christliche Nächstenliebe als Begründung für Kirchenasyl heranziehen, jedoch erschöpft sie sich nicht darin. Kirchenasyl ist mehr als ein barmherziger Gnadenakt.19 Bereits im Alten Testament findet sich eine Fülle von Flucht- und Migrationsgeschichten. Dabei durchzieht die Wegbegleitung Gottes die gesamte Geschichte Israels. Gott stellt sich radikal auf die Seite der Heimatlosen, „nimmt seinen Bund mit den Menschen bis zum äußersten ernst“20. Israel, das Judentum sowie das Christentum sind konstitutiv durch die Fremdheitserfahrung geprägt, was die Erzählung der Knechtschaft in Ägypten und der Exodus unter dem Schutz Gottes verdeutlichen. „Das Volk Israel nimmt diese Fluchterfahrung, die zur Gotteserfahrung wurde, in sein Glaubensbekenntnis auf (vgl. Ex 20,2) und verpflichtet sich aufgrund dieser Erfahrung mit Gott auf ihn selbst und seine Gebote.“21 „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“ (3. Mose 19,33–34)

In den weiteren Rechtsvorschriften des Alten Testaments folgt aus dieser Erfahrung eine völlige Gleichstellung von Einheimischen und Fremden, unabhängig vom Glauben. Das Volk Israel ist sich seiner Geschichte bewusst und handelt dementsprechend an jenen, die 19 20 21

Vgl. Lob-Hüdepohl, Wer steht in der Pflicht?, 57. Krockauer, Abschieben oder Aufnehmen?, 82. Krockauer, Abschieben oder Aufnehmen?, 84.

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schutzbedürftig sind. Crüsemann bündelt diesen Umstand im Begriff des „Gottesvolk[es] als Schutzraum für Fremde und Flüchtlinge“22: „Wer sich in Israel aufhält, ist auch bei Gott geborgen“23. Hieran können sich Kirchen und ihre Gemeinden auch heute orientieren. Im Fremden ist die Begegnung mit Gott selbst möglich, das wird im Neuen Testament an der Person Jesu deutlich. Er ist als Wanderprediger heimatlos und darauf angewiesen, dass ihm Gastfreundschaft gewährt wird. Jesus hat „von Kindheit an das Los eines Fremden erfahren. Schon die Geburt im Stall“24 deutet das an. Als Schutzsuchender wird ihm Zugewandtheit jedoch nicht immer zuteil. Allen Abweisungen zum Trotz lebt Jesus selbst Fremdenfreundlichkeit vor, indem er sich mit sozial benachteiligten und von der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen seiner Zeit an einen Tisch setzt und auf diese Weise regelmäßig gegen Konventionen verstößt. Dieses unkonventionelle Verhalten kann im Kontext von Kirchenasyl ebenso als Vorbild dienen. Das Gleichnis vom Weltgericht verdeutlicht zusätzlich, dass es bei der Begegnung mit Fremden und Flüchtlingen und bei ihrem Schutz um Gott selbst geht: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“ (Mt 25,35) „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)

Diese beispielhaft aufgezeigten biblischen Befunde verdeutlichen die Basis der theologischen Begründung des Kirchenasyls. Gottes Bund mit dem Volk Israel gilt auch – und vor allem – für Notsituationen. Aus dieser Gewissheit heraus stehen Christ_innen in der Pflicht, anderen Menschen in bedrohlichen Situationen Schutz zu gewähren und sie an diesem Versprechen teilhaben zu lassen. Die Zuwendung und Annahme Fremder ist eine Begegnung mit Gott. 4.2

Menschenrechtliche Begründung

Der Einsatz für Fremde und Geflüchtete ist dem Christentum theologisch inhärent, allerdings findet diese Argumentationsweise in einer säkularisierten Gesellschaft nicht unbedingt Akzeptanz. Daher ist es 22 23 24

Crüsemann, Das Gottesvolk als Schutzraum, 31. Crüsemann, Das Gottesvolk als Schutzraum, 48. Krockauer, Abschieben oder Aufnehmen?, 86.

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von großer Bedeutung, ebenfalls die profane Begründung des Kirchenasyls anzuführen – zumal diese nicht weniger relevant ist. Sie begründet sich in den Allgemeinen Menschenrechten, nach denen jeder Mensch (unabhängig von seiner Herkunft) das Recht auf körperliche und psychische Unversehrtheit genießt. Hieraus resultiert das Recht auf Asyl in einem Land, welches nicht das Herkunftsland ist, wenn dem Betroffenen in eben diesem Schaden droht. „Asyl ist folglich Menschenrecht. Die Verweigerung von Asyl dann, wenn die Bedrohung tatsächlich gegeben ist, ist selbst eine Menschenrechtsverletzung.“25 Denn die Menschenrechte geben „sog. Verschaffungsansprüche“26 wieder, also Ansprüche des Individuums, für dessen Erfüllung ein Staat Sorge zu tragen hat. Je nachdem, um welchen Anspruch es sich handelt, kann die adäquate Umsetzung berechtigterweise eine gewisse Dauer in Anspruch nehmen, zum Beispiel wenn sie mit großen strukturellen Änderungen verbunden ist. Demgegenüber stehen die „unaufschiebbaren Verschaffungsansprüche“27, deren Erfüllung keine Verzögerung duldet. Dass es sich bei konkreter Bedrohung von Leib und Leben um einen solchen handelt, liegt auf der Hand. Die Gewährleistung und Durchsetzung von Menschenrechten wird für gewöhnlich durch die staatliche Autorität vorgenommen und in Gesetzen konkretisiert.28 Was geschieht aber nun, wenn trotz akuter Bedrohungslage dem geflüchteten Menschen durch den Staat kein Schutz, kein Asyl zugestanden wird? Dann „steht jede gesellschaftliche Gruppe, ja prinzipiell jede/r Einzelne in der Pflicht, im Rahmen ihrer/seiner politischen Gestaltungsmöglichkeiten für die effektive Verwirklichung dieser verletzten Menschenrechte einzutreten“29. Problematisch wird das erst bei einer Kollision mit staatlich vorgegebenen Normen, also Gesetzen. Kirchenasyl ist daher die Abwägung zwischen zwei Normen, die für den Rechtsstaat beide von hoher Bedeutung sind. Jedoch steht in Fällen des Kirchenasyls „nichts Geringeres auf dem Spiel […] [als] das Lebensschicksal eines Menschen, für das wir eine unabweisbare moralische Verantwortung tragen“30, und damit ist Gewährung von Asyl 25 26 27 28 29 30

Lob-Hüdepohl, Wer steht in der Pflicht?, 55. Lob-Hüdepohl, Wer steht in der Pflicht?, 56. Ebd. Vgl. ebd. Lob-Hüdepohl, Wer steht in der Pflicht?, 57. Ebd.

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in der Kirche ein absoluter „Akt der Nothilfe“31, der im Dienst der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte zu verstehen ist. Denn „die Entrechtung von Menschen mitten unter uns wirkt sich negativ auf unseren Rechtsstaat aus. Es gefährdet auch unsere Menschenwürde“32. Im Sinne dieser Betrachtungsweise kann keine Rede davon sein, dass die Kirche ihre eigenen Gesetze im Staat erlässt, im Gegenteil: „Kirchenasyl hat die Demokratie im Blick“33. Es ist somit ein „Dienst am Rechtsstaat. […] [und] erinnert den Staat an Gerechtigkeitslücken“34. 5

Fallbeispiel

Um die Gründe zur Gewährung eines Kirchenasyls sowie dessen Ablauf zu veranschaulichen, soll als Beispiel ein Kirchenasyl-Fall aus dem Jahr 2016 kurz dargestellt werden. Es handelte sich um einen jungen Mann, der, aus dem Irak stammend, nach Deutschland flüchtete. Bereits in seinem Heimatland wurde er als yezidischer Kurde verfolgt und war zur Binnenflucht in den kurdischen Teil des Iraks gezwungen. Dort erfolgten jedoch wiederum Angriffe durch den sogenannten Islamischen Staat, woraufhin er sich zur Flucht nach Deutschland entschloss, da einige seiner Verwandten hier wohnen. Sein Weg führte ihn über die Türkei nach Bulgarien, wo der junge Mann als Geflüchteter unter schlechtesten Bedingungen in einem Armeegefängnis inhaftiert wurde. Die menschenunwürdige Unterbringung, mangelnde Hygiene und medizinische Versorgung, zu geringe Nahrungsrationen und ein Sprechverbot sollten Druck auf die Geflüchteten ausüben, ihre Fingerabdrücke in Bulgarien abzugeben. Da nach einer dortigen Registrierung nach Dublin-III-Gesetzgebung kein Asylantrag in Deutschland mehr möglich gewesen wäre, wehrte sich der junge Mann zunächst dagegen. Nach 20 Tagen stimmte er jedoch zu, weil der psychische und physische Druck zu hoch geworden war. Zur Abgabe der Fingerabdrücke wurde der Iraker in ein Camp gebracht, aus welchem er fliehen konnte und von wo aus er anschließend zu Fuß, mit dem Bus und mit dem Auto weiter bis nach Österreich reiste. Hier wurde er abermals in ein Camp aufgenommen und zur Abgabe seiner Fingerabdrücke und eines Asylantrages gezwungen. Allerdings wurde ihm auch die Möglichkeit zuteil, seine Verwandten in Deutschland zu kontaktieren, welche ihn daraufhin mit dem Auto ab31 32 33 34

Lob-Hüdepohl, Wer steht in der Pflicht?, 57. Dethloff / Mittermaier, Wie geht Kirchenasyl?, 38. Ebd. Huber, Vorwort, 11.

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holen und in die Bundesrepublik bringen konnten. In Deutschland suchte der Geflüchtete Rat und Hilfe bei einem Anwalt, jedoch wurde die unmenschliche Behandlung in Bulgarien während des Verfahrens kaum thematisiert und zudem ein Eilantrag auf aufschiebende Wirkung der Anordnung auf Rückführung nach Bulgarien durch den Anwalt zu spät eingereicht. Infolgedessen entschied sich eine evangelische Kirchengemeinde, dem jungen Mann Kirchenasyl zu gewähren, um die drohende Abschiebung abzuwenden und das Asylverfahren erneut prüfen zu lassen. Zwar wird seitens der deutschen Behörden nicht von einem generellen systematischen Mangel im bulgarischen Asylverfahren ausgegangen, allerdings hatte der Betroffene genau dies erlebt – mit schwerwiegenden psychischen Folgen (Panikattacken, Depression und Schlafstörungen). Die Beteiligten des Kirchenasyls waren sich darüber einig, dass eine Rückführung nach Bulgarien den psychischen Zustand des jungen Mannes immens verschlechtern würde, das familiäre Netzwerk in Deutschland hingegen zu einer Stabilisierung beitragen könnte. Letztendlich konnte durch die Gewährung des Kirchenasyls eine Abschiebung verhindert werden, und der Asylantrag ging durch den Ablauf der Überstellungsfrist nach Bulgarien in das deutsche Asylverfahren über. Die Gesamtdauer dieses Kirchenasyls belief sich auf drei Monate. 6

Weiterführende Hinweise

Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass das Thema Kirchenasyl durch vielfältige Faktoren beeinflusst wird und sich im ständigen Prozess als Reaktion auf aktuelle Gegebenheiten befindet. So ist auch zukünftig mit innen- und außenpolitischen Ereignissen und Veränderungen und damit einhergehendem Wandel und einer Weiterentwicklung des Kirchenasyls zu rechnen. Aus diesem Grund soll hier der Hinweis auf die „Ökumenische Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“ erfolgen, die den Zusammenschluss der Kirchenasylbewegung in Deutschland bildet und auf deren Homepage (www.kirchenasyl.de) aktuelle Informationen zu finden sind. Zusätzlich bieten die jeweiligen Ansprechpartner_innen der Landeskirchen Beratung und Unterstützung.

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Literatur Babo, Markus, Kirchenasyl – Kirchenhikesie. Zur Relevanz eines historischen Modells im Hinblick auf das Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland, Münster / Hamburg / London 2003. Crüsemann, Frank, Das Gottesvolk als Schutzraum für Fremde und Flüchtlinge. Zum biblischen Asyl- und Fremdenrecht und seinen religionsgeschichtlichen Hintergründen, in: Wolf-Dieter Just / Beate Sträter (Hg.), Kirchenasyl. Ein Handbuch, Karlsruhe 2003, 31– 49. Dethloff, Fanny / Mittermaier, Verena, Was hat Kirchenasyl in Deutschland bisher gebracht? Zwischen Selbst-Verständlichkeit und Selbst-Verständnis, in: Fanny Dethloff / Verena Mittermaier, Kirchenasyl. Eine heilsame Bewegung, Karlsruhe 2011, 17–35. Dethloff, Fanny / Mittermaier, Verena, Wie geht Kirchenasyl?, in: dies. (Hg.), Kirchenasyl. Eine heilsame Bewegung, Karlsruhe 2011, 38–48. Honecker, Martin, Asyl, theologisch, in: Martin Honecker / Horst Dahlhaus / Jörg Hübner / Traugott Jähnichen / Heidrun Tempel (Hg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 2001, 123. Huber, Wolfgang, Vorwort, in: Wolf-Dieter Just / Beate Sträter (Hg.), Kirchenasyl. Ein Handbuch, Karlsruhe 2003, 7–13. Keßler, Stefan, Ist das Gewähren von Kirchenasyl strafbar?, in: Fanny Dethloff / Verena Mittermaier, Kirchenasyl. Eine heilsame Bewegung, Karlsruhe 2011, 49–60. Krockauer, Rainer, Abschieben oder Aufnehmen? Christen engagieren sich für Asylsuchende und Flüchtlinge, München 1990. Lob-Hüdepohl, Andreas, Wer steht in der Pflicht? Theologischethische Überlegungen zu Verantwortlichkeiten beim „Kirchenasyl“, in: Wolf-Dieter Just / Beate Sträter (Hg.), Kirchenasyl. Ein Handbuch, Karlsruhe 2003, 50–69. Morgenstern, Matthias, Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung – Aktuelle Situation – Internationaler Vergleich, Wiesbaden 2003. Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, Aktuelle Zahlen: Kirchenasyle bundesweit, online: http://www.kirchen asyl.de/aktuelles/ (Zugriff 1.7.2016) Schultz-Süchting, Nikolaus, Kirchenasyl, Frankfurt am Main 2000.

7 Anstöße

Heinrich Bedford-Strohm

Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsarbeit in christlicher Verantwortung

Wir ringen um die richtigen Lösungen zur Bewältigung der Herausforderungen, die mit der Ankunft und Integration der großen Zahl von Flüchtlingen in unserem Land verbunden sind. Worin liegen die theologischen Quellen der ethischen Orientierungen für das politische Handeln in dieser Frage? Und welche sozialethischen Konsequenzen gilt es daraus abzuleiten? 1

Grundorientierungen biblischer Ethik

Unser theologisches Reden über Flucht und Migration gründet auf der Überzeugung, dass jeder Mensch einen unendlichen Wert besitzt, der ihm von Gott zugesprochen wird und der ihm deswegen durch niemanden aberkannt werden kann. In der ersten biblischen Schöpfungsgeschichte ist davon die Rede, dass der Mensch „zum Bilde Gottes“ geschaffen ist (1.Mose 1,27f). Darin liegt seine besondere Würde, die über die religiösen Wurzeln dieses Satzes weit hinaus in den internationalen Rechtstraditionen breiten Konsens gefunden hat. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – und bleibt doch immer ein erst noch zu erreichendes Ziel. In der christlichen Theologie wird die Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ergänzt – und in gewisser Weise überboten – durch die Vorstellung, dass Gott selbst in Jesus Christus Mensch geworden sei. Stärker kann man das humanitäre Erbe, dem wir verpflichtet sind, nicht begründen als mit der Überzeugung, dass uns in einem Menschen – in einem, der als politisch und religiös Verfolgter den Foltertod am Kreuz gestorben ist – Gott selbst begegnet. Wo diese Überzeugung gilt, gibt es keine Gottesbeziehung mehr ohne Beziehung zum Nächsten. Deswegen kann es aus meiner Sicht auch nicht die Frage sein, ob sich die Kirche, die aus dieser Tradition heraus lebt, zu öffentlichen Diskussionen äußert, in denen es um die

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Überwindung menschlicher Not geht, sondern nur, wie sie sich dazu äußert. Ein zweiter Gedanke: Die von der biblischen Überlieferung geprägte christliche Ethik ist eine Ethik, die aus einer Migrationsbewegung stammt. Der Gott, an den wir Christen glauben, ist einer, der sein Volk aus der Unterdrückung durch die Ägypter in die Freiheit geführt hat. Diese Befreiungserfahrung formuliert das sogenannte „kleine geschichtliche Credo“ im 5. Buch Mose 26,5-9 gleichsam als Ur-Bekenntnis Israels. Und mit dieser Befreiungserfahrung wird in der hebräischen Bibel das Gebot zum Schutz des Fremdlings unmittelbar verbunden: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott“ (3.Mose 19,33f; ähnlich 5.Mose 10,19f; 2.Mose 22,20).

Es heißt hier gerade nicht einfach: Du sollst die Fremdlinge lieben! Es wird vielmehr in einer doppelten Weise für das Gebot geworben: Zum einen wird an die Einsehbarkeit des Gebots aufgrund der eigenen Erfahrung appelliert: „Du weißt doch, wie es ist, fremd zu sein und ausgegrenzt zu werden. Also handle an dem Fremden genauso, wie du selbst es dir wünschen würdest, wenn du in der gleichen Situation wärst!“ Die zweite Weise, in der für das Gebot geworben wird, bezieht sich direkt auf Gott selbst. „Denn ich bin der Herr, dein Gott“, heißt es zum Schluss. „Ich mache mir die Sache aller Fremden zu eigen, wie ich mir eure Sache zu eigen gemacht habe. Ich bin euer Gott, ich habe die Fremdlinge lieb. Also habt auch ihr die Fremdlinge lieb!“ Ein dritter Gedanke: Diese „Ethik der Einfühlung“ kann als ein Charakteristikum jüdisch-christlicher Ethik gelten. Es wird bei der Frage nach dem Umgang mit dem Fremden besonders deutlich, es gilt aber für die Ethik als Ganze. Besonders deutlich wird das am Liebesgebot Jesu und seiner engen Verbindung zur sogenannten „Goldenen Regel“. Auf die Frage nach dem höchsten Gebot im Gesetz antwortet Jesus: „,Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das ist das höchste und größte Gebot.‘ Das andere aber ist ihm gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich

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selbst‘. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 22,35-40).

Matthäus unterstreicht den besonderen Stellenwert des Doppelgebots der Liebe dadurch, dass er es als „das Gesetz und die Propheten“ bezeichnet (Matthäus 22,40) – eine Formel, die den grundlegenden Charakter dieses Gebots herausstellt. Nur einer anderen neutestamentlichen Tradition wird die Ehre zuteil, als „das Gesetz und die Propheten“ bezeichnet und damit als inhaltliche Summe der Ethik Jesu besonders herausgehoben zu werden: der Goldenen Regel. „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,12). Die Goldene Regel kann geradezu als eine Programmformel für die Einsehbarkeit ethischer Orientierungen und die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich in den anderen einzufühlen, gesehen werden. Umso mehr kann das Liebesgebot, interpretiert durch die Goldene Regel, als Einfühlungsgebot interpretiert werden und weist damit die gleiche Grundstruktur auf, die wir im Hinblick auf den Schutz des Fremden herausgearbeitet haben. Wie das Gebot des Fremdenschutzes folgt es dem Prinzip der Reziprozität. Zugleich korrespondiert es mit tiefen menschlichen Erfahrungen – unabhängig von einer bestimmten weltanschaulichen Orientierung. Was im letzten Jahr in München, in Saalfeld, in Dortmund und in vielen anderen deutschen Städten die Menschen mobilisiert hat, um andere Menschen willkommen zu heißen, die sie noch nie gesehen hatten, war schlicht und einfach Empathie. Ein Mitgefühl, das das Leid, das vor Terror und Gewalt fliehende Menschen erleben, zum eigenen Leid werden lässt. Das Ausmaß, in dem solche Empathie angesichts des Leids der Flüchtlinge überall in Deutschland sichtbar und spürbar geworden ist, das ist – jenseits der aktuellen Diskussionen um die Grenzen der Aufnahmefähigkeit Deutschlands – das eigentlich Historische an dem, was wir erlebt haben und erleben. 2

Sozialethische Konsequenzen

Als Kirchen können wir uns über diese Empathie gegenüber Flüchtlingen nur freuen. Eine an dem Liebesgebot und der Goldenen Regel orientierte Ethik der Einfühlung hat aber nun auch eine unmittelbare sozialethische Relevanz. Fünf Aspekte möchte ich benennen, auf die es meiner Ansicht nach beim Ringen um die richtigen Lösungen in der Flüchtlingspolitik und in der Arbeit mit Geflohenen ankommt.

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2.1 Es gilt, selektive Wahrnehmungsmuster zu überwinden. Wir müssen unsere jeweils eigene Sicht der Chancen und Probleme im Zusammenhang mit hier ankommenden Flüchtlingen durch möglichst exakte Zahlen überprüfen. Wenn eine solide Kriminalstatistik ergibt, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht überdurchschnittlich häufig Straftaten begehen, müssen wir die eigene Sicht überdenken, selbst wenn es gefühlt anders ist. Wenn die Statistiken aber ergeben, dass Zugewanderte generell oder in bestimmten Bereichen messbar häufiger straffällig werden, dann muss man das wahrnehmen, und es müssen die damit zusammenhängenden Probleme angegangen werden. Informationen aus der Sorge heraus zu unterdrücken, dass sie Vorbehalten gegenüber Ausländer_innen neue Nahrung geben könnten, ist jedenfalls nicht der richtige Weg. Wenn man sich nicht auf umfassende Information verlassen kann, stärkt das nur das Misstrauen und nährt damit die Vorbehalte. Die zur Verfügung stehenden Informationen müssen – wo sie verlässlich sind – weitergegeben werden. Auf dieser Basis muss dann mit guten Gründen gegen Generalverdachtstendenzen argumentiert werden. Man kann auch als Mann ahnen, wie schlimm es für Frauen sein muss, wie Freiwild von Männern eingekreist und angefasst zu werden. Diese Art von sexistischer Gewalt muss entschieden bekämpft und geahndet werden. Zusätzlich muss solches Verhalten an der Wurzel bekämpft werden. Wenn es wie in Köln von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeht, dann gilt umso mehr, was ich in meinem Bericht vor der EKD-Synode im November 2015 mit allem Nachdruck gesagt habe: „Die Gleichberechtigung von Frauen gehört zu der menschenrechtlichen Ausrichtung unserer Gesellschaft. Es wird eine große Herausforderung für die Bildungsarbeit in unserem Land sein, das in die Herzen von Menschen zu bringen, die in ihren Kulturen oft von anderen Frauenbildern geprägt worden sind.“ 2.2 Die notwendige Diskussion um die Konsequenzen der Übergriffe in Köln in der Silvesternacht 2015 darf nicht den Blick auf die Situation der Menschen verstellen, die nach wie vor aus Not ihre Heimatländer verlassen. In der Diskussion um den Umgang mit der großen Zahl von Flüchtlingen droht vergessen zu werden, dass es schlimme Gründe für die Flucht gibt. Als Kirchen erfahren wir durch unsere internationale Vernetzung von den Notsituationen aus erster Hand. Berichte von Menschen, die ihr Leben verlieren, ob in der Heimat oder auf der Flucht, landen auf unseren Schreibtischen und berühren unser Herz. Diese einzelnen Schicksale müssen wir miteinbe-

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ziehen, wenn wir um politische Lösungen in der Flüchtlingsfrage ringen. 2.3 Wir müssen aufhören, Humanität und Realismus gegeneinander auszuspielen. Es ist nicht hilfreich für die öffentliche Diskussion, für eine bestimmte politische Position das Merkmal „Realismus“ in Anspruch zu nehmen und abweichende Meinungen als blauäugig zu bezeichnen oder der Humanitätsduselei zu verdächtigen. Was Realismus bedeutet, hat Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik un1 ter der Überschrift „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“ eindrucksvoll deutlich gemacht. Aus christlicher Sicht kann unsere Wirklichkeit nie ohne den Blick auf Christus als die zugrundeliegende Realität verstanden werden. Realismus schließt ein, was Bonhoeffer den „Blick von unten“ nennt. Für die Flüchtlingsfrage heißt das, dass Realismus immer auch die Frage beantworten muss, was die damit verbundenen Optionen jeweils für die Schwächsten bedeuten. Wer wie unsere Hilfswerke die Situation von Flüchtlingen in den Lagern des Nahen Ostens genau vor Augen hat, wer sich wie viele hunderttausend christliche Ehrenamtliche derzeit vor Ort für Schutzsuchende engagiert, wer mit den Menschen auf der Flucht tagtäglich zu tun hat, bekommt einen sehr breiten Blick für die Wirklichkeit. Und er weiß sich – in seinem Engagement gegründet – in genau der Verbindung von Humanität und Realismus, von der Dietrich Bonhoeffer spricht. 2.4 Wir müssen aufhören, in der Flüchtlingsfrage politische Symboldebatten zu führen. Dass parteipolitische Machtkämpfe über diese Debatten ausgetragen werden, verbietet sich ohnehin, denn es geht für viele der betroffenen Menschen buchstäblich um Leben oder Tod. Ich erwarte von denen, die profilierte Vorschläge in der politischen Debatte machen, aufzuzeigen, wie die vorgeschlagenen Maßnahmen funktionieren sollen und welche Konsequenzen sie für die jeweils betroffenen Menschen haben werden. Andernfalls muss offen gesagt werden, dass die Probleme zu komplex sind, um zu einfachen Lösungen zu gelangen, und dass an vielen Stellschrauben gedreht werden muss, um wirklich zu Lösungen zu kommen. Der Bevölkerung einfache Lösungen zu suggerieren und damit kurzfristig zu punkten, ist ein falscher Weg, wenn die Versprechen dann am Ende nicht eingelöst werden können. 1

Bonhoeffer, Dietrich, Ethik, hg. v. Ilse Tödt / Heinz-Eduard Tödt / Ernst Feil / Clifford Green, DBW 6, München 1992, 31–61.

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2.5 Es gilt zu integrieren, nicht zu polarisieren. Wir werden die Probleme nur dann lösen können, wenn jetzt wirklich alle zusammen helfen. Ich glaube, dass der Konsens unter den großen politischen Kräften in unserem Land viel größer ist, als das in der öffentlichen Debatte gegenwärtig zum Ausdruck kommt. Soweit ich sehen kann, spricht niemand von einer unbegrenzten Aufnahmekapazität Deutschlands. Deswegen ist es auch eine ebenfalls von allen prägenden Kräften in unserem Land geteilte Erkenntnis, dass der Schlüssel für die langfristige Lösung des Problems in der Beseitigung der Fluchtursachen besteht. Intensive und vor allem diplomatische Anstrengungen zur Beendigung der Kriege gehören genauso dazu wie die Überwindung extremer Armut und die Bekämpfung des Klimawandels, der die Flüchtlingsströme der Zukunft zu verursachen droht. Konsens in unserem Land ist auch, dass die Lebensbedingungen in den heimatnahen Zufluchtsorten massiv verbessert werden müssen, um die Menschen in der Region zu halten. Dass die erbärmliche Situation in den Flüchtlingslagern dazu führt, dass Menschen ihr Leben riskieren, um nach Europa zu kommen, muss niemanden wundern. Es ist Konsens in unserem Land, dass Europa die Herausforderung nur gemeinsam bewältigen kann. Alle Länder in Europa müssen gemäß ihren jeweiligen Möglichkeiten einen Beitrag zur Aufnahme von Flüchtlingen leisten. Andere Länder in Europa von Deutschland aus moralisch abzuqualifizieren, hilft indes nicht weiter. Wir müssen im Gespräch bleiben, um uns einander anzunähern. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat zusammen mit dem Weltkirchenrat in Genf Ende Oktober 2015 in München und im Januar 2016 in Genf Kirchenrepräsentant_innen aus ganz Europa und dem Nahen Osten in München versammelt, um zu erörtern, wie wir in den jeweiligen Ländern auf die Regierungen im Sinne einer höheren Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge einwirken können. Europa als Ganzes in die Pflicht zu nehmen, bleibt schwer. Aber wir dürfen nicht nachlassen, es immer wieder von Neuem zu versuchen. Schließlich ist es auch Konsens in unserem Land, dass die Herrschaft des Rechts wiederhergestellt werden muss. Nur registrierte Flüchtlinge können auch die nötige Hilfe empfangen. Die mit dem neuen Flüchtlingsausweis vereinheitlichte Datenerfassung ist deswegen ein wichtiger Fortschritt. Über ein Weiteres besteht ein breiter Konsens: Es liegt im existentiellen Interesse sowohl der Asylsuchenden als auch unseres ganzen Gemeinwesens, dass angesichts eines riesigen Bergs von nicht bearbeiteten oder noch nicht einmal gestellten Asylanträgen rasche recht-

Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsarbeit

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liche Verfahren die Basis für die Möglichkeit gelingender Integration schaffen. Notfalls muss das durch eine rückwirkende Stichtagsregelung geschehen oder durch eine Kontingentierung von Flüchtlingen, die ohne das übliche Procedere eine Anerkennung zugesprochen bekommen. Nur dann können Flüchtlinge, die voller Tatendrang auf Arbeitsmöglichkeiten und Existenzgründung hoffen und damit auch ihre Dankbarkeit für die Aufnahme bei uns durch Fleiß und Engagement bezeugen wollen, endlich ihren Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten. Schließlich ist es dringend nötig, das Asylrecht in Europa so zu modifizieren, dass die Anwendung des Rechts überhaupt möglich ist. Es ist Zeit einzugestehen, dass die konsequente Anwendung des DublinVerfahrens, das die gesamten Lasten ausgerechnet auf Griechenland, Italien und Spanien abwälzt, schlicht und einfach nicht funktioniert. Nur ein gemeinsames europäisches Vorgehen kann verhindern, dass ein Staat nach dem anderen die Grenzen schließt und das Problem damit verlagert, anstatt es zu lösen. Für das alles scheint mir ein großer Konsens in Deutschland möglich zu sein. Ich wünsche mir, dass die maßgeblichen politischen Kräfte das auch deutlich machen. Das wäre das beste Mittel gegen das Erstarken von Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus. Wenn der Geist der Gemeinsamkeit hier in Deutschland die Oberhand behält, werden wir die Mammutaufgabe bewältigen, die Flüchtlinge zu integrieren. Angesichts der finanziellen, zivilgesellschaftlichen und empathischen Kraft, mit der wir als Land gesegnet sind, bin ich guter Hoffnung, dass dies gelingen kann.

Ulrich Lilie

Perspektiven ab Tag eins: Welche integrationspolitischen Weichen sind jetzt zu stellen?1

„Making Heimat. Germany, Arrival Country.“2 Unter diesem Titel steht der deutsche Beitrag auf der 15. Internationalen Architekturausstellung, der Biennale in Venedig. Mir geht das Bild, das ich vom Deutschen Pavillon in der Süddeutschen Zeitung3 gesehen habe, nicht aus dem Kopf. Das Berliner Architekturbüro „Something Fantastic“ hat den traditionsgesättigten Bau von 1909 buchstäblich aufgestemmt: Mehr als 48 Tonnen Ziegelsteine wurden aus den denkmalgeschützten Wänden gebrochen. Und diese herausgebrochenen Steine verwandeln das Gebäude nun in ein offenes Haus. Und in eine Baustelle. Es geht einfach so nicht weiter wie bisher, sagt dieser Entwurf: Der Pavillon ist offen. Deutschland ist offen. Der Bezug zu den Menschen, die bei uns Zuflucht und Zukunft suchen, liegt auf der Hand: Obwohl aktuell die Außengrenzen der EU für Flüchtlinge weitgehend geschlossen wurden, fordert die Geste des offenen Hauses dazu auf, über Deutschland als Zufluchtsort, aber auch als offenes Einwanderungsland nachzudenken. Ich freue mich immer, wenn ich unerwartet geistige Verbündete entdecke, die sich engagiert und konstruktiv mit den Themen Flucht und Einwanderung beschäftigen. In der Architektur, in der Wirtschaft, in der Kunst oder der Kirche. Wir brauchen diesen konstruktiven Gedankenaustausch kreuz und quer in unseren Zivilgesellschaften, nicht nur in Deutschland. Es braucht, dringender denn je, einen internationalen, interdisziplinären Austausch, um zu Handlungskonzepten zu kommen, die der Menschheit im globalen Dorf eine lebenswerte Zu1

Der Vortrag wurde am 21. Juni 2016 auf dem „16. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz: Europa an der Grenze: Die Krise und die Zukunft des Flüchtlingsschutzes“ gehalten. 2 Deutsches Architekturmuseum, Making Heimat. 3 Weissmüller, Frontbericht, 18.

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kunft erlauben. 60 Millionen Flüchtlinge weltweit sind erzwungenermaßen auf Wanderung. Derzeit kommt nur ein Bruchteil von ihnen hier bei uns an. Ob das so bleibt? Im Deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale geht es auch um Flüchtlingsheime – und um die Frage, wie sich Städte oder ländliche Räume zukünftig gestalten lassen, um das Ankommen neuer Menschen zu erleichtern. Die den Pavillon begleitende Ausstellung „Making Heimat“ stellt Antworten auf die Frage vor, wie sich stadtplanerisch günstig, schnell und doch nachhaltig Häuser für Flüchtlinge (und andere Menschen mit wenig Geld) bauen lassen, in denen es sich gut und gerne leben lässt. Von einer weitsichtigen, menschennahen Integrationspolitik profitiert langfristig immer die ganze Gesellschaft. Im Umkehrschluss gilt auch: Eine kurzsichtige Ausgrenzungspolitik schadet und spaltet unser Land. Perspektiven ab Tag eins: Welche integrationspolitischen Weichen sind jetzt zu stellen? Das Wort Perspektive kommt aus dem Lateinischen. Perspicere heißt hindurchsehen, hindurchblicken. Perspektiven, das, was jemand sieht, sind an den Standort des Betrachters gebunden. Der Standpunkt, von dem aus wir in der Diakonie Perspektiven entwickeln, ruht gleichermaßen auf der Verfassung unseres Landes wie auch auf unserem christlichen Menschenbild. Beides bildet die Basis unseres Denkens und Handelns. 1

Asyl ist ein Menschenrecht

Die Deutsche Verfassung garantiert – Gott sei Dank! –, dass Menschenwürde und Menschenrechte nicht verhandelbar sind. Das individuelle Grundrecht auf Asyl, das im Deutschen Grundgesetz und in der EU-Grundrechtecharta verankert ist, gilt in unserem Land. Christen verstehen Menschen auch als „Ebenbilder Gottes“. Das ist ein kraftvoller, biblischer Aufschlag, der dem moderneren, säkularen Begriff der Menschenwürde voranging. Wenn ich über integrationspolitische Weichenstellungen rede – über Perspektiven ab Tag eins –, sind es dieses Menschenbild und dieses Rechtsverständnis, die mich, die uns in der Diakonie leiten. Die Auffassung, Konflikte und Kriege oder die Folgen des Klimawandels in fernen Ländern gingen uns nichts an, ist schon deswegen nicht haltbar. Nationale oder gar nationalistische Politikansätze sind schlicht vorgestrig. Die Menschheit lebt längst als eine Schicksalsund Verantwortungsgemeinschaft auf diesem Planeten. Fluchtursachen – Krieg, Armut, Klimawandel – können wir nur gemeinsam wir-

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kungsvoll bekämpfen. Nur gemeinsam können wir erfolgreich daran arbeiten, dass dieser unbegreiflich erwählte Planet weiterhin eine Lebensgrundlage für alle bietet. Die Zeit für tragfähige Antworten drängt. Selbstverständlich sollte auch sein, dass wir in einem Europa der Menschenrechte eine gemeinsame und glaubwürdige europäische Antwort auf diese Jahrhundertherausforderung Flucht brauchen. Diese Antwort kann nicht darin bestehen, Grenzen dicht zu machen. Genau so wenig darf die Aufgabe, Flüchtlinge in Deutschland und Europa zu schützen, dauerhaft auf andere Staaten wie die Türkei abgewälzt werden, in denen bis heute kein angemessener Schutz und kein rechtsstaatliches Asylverfahren garantiert sind. Angesichts der weltweiten Flüchtlingsbewegungen haben wir die grundsätzliche Pflicht, denen, die bei uns Zuflucht und Zukunft suchen, angemessene Wege in unsere Gesellschaften zu öffnen. Die Frage ist: Wie kann das gelingen? 2

Integration beginnt im Kopf

Ich bin überzeugt: Integration beginnt zunächst im Kopf. Und im Herzen. Wer die Menschen, die bei uns Zuflucht und Zukunft suchen, ausschließlich als Bedrohung ansieht, wird kaum brauchbare Ideen entwickeln, wie man ihnen die Ankunft erleichtert. Deswegen brauchen wir in Deutschland und in Europa dringend einen Paradigmenwechsel: Weg vom einseitigen Paradigma der Last, hin zu dem des Potenzials, das jeder Mensch in sich trägt. Weg vom Flüchtling, der kostet, hin zum Menschen, der kostbar ist. Doch die Wurzeln des alten Paradigmas der Last, des lästigen Flüchtlings, liegen tief: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache kürte „Flüchtling“ zum Wort des Jahres 2015. In der lesenswerten Begründung heißt es, das Substantiv sei auch sprachlich interessant. Ich zitiere: „Gebildet aus dem Verb flüchten und dem Ableitungssuffix -ling […], klingt Flüchtling für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig: Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere wie Prüfling, Lehrling, Findling, Sträfling oder Schützling haben eine deutlich passive Komponente. Neuerdings ist daher

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öfter alternativ von Geflüchteten die Rede. Ob sich dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.“4

Für das Gelingen von Integration, für die Verwandlung von Flüchtlingen in Mitmenschen, ist bloßes Abwarten keine angemessene Haltung. Nicht nur wer ablehnt, gefährdet den Erfolg von Integration. Auch wer nur abwartet, gefährdet Integration. Und wer Integration gefährdet, gefährdet den gesellschaftlichen Frieden für uns alle. 3

Integration geht uns alle an

Integration ist nicht allein eine Bringschuld der auf das Fremdsein reduzierten „Fremden“. Eine wirklichkeitsnahe und erfolgreiche Integration ist vielmehr immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die das Engagement der Alteingesessenen genauso wie das der Neuankommenden braucht. Denn: „Migration heißt, fremd zu sein. Bei Begegnungen mit Flüchtlingen sind alle Beteiligten fremd, auch die, die zur ‚Mehrheitsgesellschaft‘ gehören. Denn ihnen wird vor Augen geführt, dass ihre eigene Lebensweise und ihre Deutungen ihrer Welt nicht selbstverständlich sind.“5 Vermutlich ist das die tiefstgreifende aktuelle Lernerfahrung und Herausforderung für unsere Gesellschaft, die mit einer weit verbreiteten und tiefen Verunsicherung verbunden ist. Und selbstverständlich verändert der Prozess der Integration unser Land. Wie es solche Prozesse immer mit sich gebracht haben. Doch die Aufnahme von Flüchtlingen oder von Arbeitsmigrant_innen und ihre gelingende Integration ist nicht nur in der deutschen Geschichte immer eine Investition in die Zukunft einer Gesellschaft gewesen. Im 17. Jahrhundert kamen die Hugenotten nach Preußen, im 19. Jahrhundert die Ruhrpolen aus Masuren, im 20. Jahrhundert die Türken – auf Einladung. Menschen gehen dorthin, wo sie Arbeit, Frieden und Zukunft für sich und ihre Kinder erhoffen. Und Menschen kommen in ihrer neuen Heimat an, wenn sie dort eben schnell Arbeit, Frieden und Zukunft für sich und ihre Kinder finden. Immer wieder lösten und lösen „die Neuen“ Widerstände aus: ihr anderer Glaube, ihre anderen Lebenserfahrungen, ihre andere Sprache, die andere Kleidung und das andere Essen – Fremde eben. Aber wir können ihrer Hoffnung und ihrem Talent eine neue Heimat geben. Wir können es ihnen und uns auch nur schwerer

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Gesellschaft für deutsche Sprache e. V., Wort des Jahres. Helmut Weiß, Migration und Seelsorge, in diesem Band, 290.

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machen. Aber dann werden wir gemeinsam einen hohen gesellschaftlichen Preis dafür bezahlen müssen. 4

Integration beginnt am ersten Tag

Integration beginnt mit dem ersten Tag. Ob aus dem Willkommen ein Ankommen wird, entscheidet sich heute. Das lange Warten macht die Menschen krank und zornig. Wer monatelang untätig auf seinem Feldbett sitzen und darauf warten muss, bis sein Schutzstatus und sein Aufenthaltstitel geklärt werden, bis seine Familie zu ihm nachkommen kann und er oder sie arbeiten darf, verliert den Mut. Oder wird wütend. Wer sein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen darf und beim Aufbau eines neuen Lebens nicht unterstützt wird, ist dann später nur sehr viel schwieriger für gute Vorschläge zu gewinnen. Darum müssen wir schneller, effizienter und beweglicher bei unseren notwendigen Bemühungen um Integration werden. Voraussetzung für Integration sind zum einen staatliche Angebote und rechtliche Regelungen, die den Menschen einen sicheren Aufenthalt, Zugang zu Integrationsmaßnahmen und zum Arbeitsmarkt sichern. Entscheidend sind vor allem gut koordinierende Kommunen und die Zivilgesellschaft. Ich werbe für kommunale Runde Tische, an denen sich zum Beispiel Wirtschaftsbetriebe, Handwerks- und Handelskammern, Kommunalverwaltung, Stadt- und Bildungsplaner, Jobcenter, Bildungsinstitutionen, Kirchengemeinden, Hochschulen, Migrantenselbstorganisationen und Flüchtlingsinitiativen miteinander vernetzen und sich gemeinsame, verbindliche, am besten auch überprüfbare Integrationsziele setzen – Ziele, die wir gemeinsam erfüllen und von denen sowohl die Neuankömmlinge als auch die Gesamtgesellschaft profitieren werden: Denn es geht jetzt um die kommunale Organisation von Arbeit, Wohnung und Bildung. Davon haben langfristig alle etwas. DWI-Präsident Marcel Fratzscher hat das jüngst so formuliert: „Die Flüchtlinge zahlen die Rente der Babyboomer.“6 Immerhin sind 60 % von ihnen unter 25 Jahre alt. Ambitioniert und chancenorientiert nach vorne denken und dabei die besondere Situation der Schwachen, der Alten, der Behinderten, der Kranken und der Traumatisierten nicht vergessen, sondern ihnen gerecht werden – diesen Geist der Zuversicht, der Menschenfreundlichkeit und der Nächstenliebe würde ich an Stelle von German Angst gerne entfacht sehen in unserem Land. Der dem Deutschen Bundes6

Zit. n. Markmeyer, Flüchtlinge.

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tag im Juni 2016 vorgelegte Entwurf für ein Integrationsgesetz7 ist leider nicht davon getragen. Es ist ein zu wenig ambitioniertes Gesetz herausgekommen, das den Geist des Misstrauens atmet – und das ist – freundlich gesagt – wenig hilfreich. Denn es unterstellt den Schutzsuchenden mangelnden Integrationswillen. Diese Unterstellung ist durch nichts zu belegen und stimmt überhaupt nicht mit den Erfahrungen überein, die wir als Diakonie flächendeckend in unserer vielfältigen Arbeit mit Flüchtlingen machen. Statt Anreize zu setzen, schwingt das Gesetz die Drohkeule und verhängt Sanktionen für angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft. Ganz neue, hohe Hürden schafft der Gesetzesentwurf beim Zugang zu einem unbefristeten Aufenthaltstitel für Flüchtlinge. Anforderungen werden gestellt, die so hoch sind, dass viele, zum Beispiel ältere Menschen und Analphabeten, sie nie werden erfüllen können. Die vorgesehene zwangsweise Wohnsitzzuweisung wird Integration hemmen und nicht fördern, weil sie nicht Rücksicht nimmt auf tatsächliche Jobchancen, bestehende soziale Netzwerke, Integrationserfolge wie einen Minijob, die Kitaeingewöhnung des Kindes und die vielleicht gerade erreichte Stabilität vielfach belasteter Menschen. Selbst die adäquate Versorgung Behinderter scheint nicht gesichert. Ärgerlich ist der Versuch im Gesetzesentwurf quasi nebenbei, ohne inhaltliche Begründung und ohne Sachzusammenhang zur Integration, weitere Asylrechtsänderungen durchzusetzen. Wir befürchten, dass durch die geplanten Asylrechtsänderungen die Aufgaben des Flüchtlingsschutzes auf Staaten außerhalb der EU abgewälzt werden sollen. Das lehnt die Diakonie entschieden ab. Wir stehen dafür ein, dass Flüchtlinge auch weiterhin in Deutschland und Europa dauerhaft Schutz bekommen – so wie das der Grundgedanke der Genfer Flüchtlingskonvention und des Grundgesetzes fordert. Wir wollen es ändern, dass Familien und soziale Netzwerke auseinandergerissen werden, dass Kranke wegen Sprachproblemen nicht die ärztliche Versorgung bekommen, die sie brauchen, dass Männer und Frauen wegen eines Arbeitsverbots oder einer Vorrangprüfung für viele lange Monate oder Jahre zum Nichtstun verdammt sind. Wir befürchten: Alles, was auf der Gesetzgebungsebene – etwa bei der Wohnsitzzuweisung – unklar bleibt, Rechte und berechtigte Interessen verletzt und Hemmnisse schafft, das wird im Alltag unserer Beratungsstellen, bei Behörden und Gerichten eins zu eins und tausendfach wieder ankommen. Eine solche in Gesetze gehüllte abweisende 7

Deutscher Bundestag, Entwurf eines Integrationsgesetzes.

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Haltung transportiert sich, schürt Ressentiments gegenüber Geflüchteten. Und das befördert Integration sicher nicht. Das können wir besser. Mit diesem „Wir“ möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen weiteren entscheidenden Faktor für gelingende Integration lenken, der in den Debatten um Geld und Gesetze zu oft untergeht: Denn was die Menschen, die bei uns Zuflucht und Zukunft suchen, mindestens genauso dringend brauchen wie Arbeit und Wohnung sind andere Menschen: Nachbarn, Bekannte, Freundinnen und Freunde, hoffentlich bald Kolleginnen und Kollegen, irgendwann auch Familienmitglieder. Auch deswegen ist es so bedeutend, dass sich die Integrationsarbeit auf die Schultern vieler verteilt. In der Nachbarschaft wachsen Beziehungen, nicht nur Beziehungen zwischen Alt-Einwohnern und Neu-Einwohnern. Sondern auch Beziehungen zwischen alteingesessenen Menschen, die sich ohne die Ankunft der Flüchtlinge nie kennengelernt hätten. Wie viele neue Netzwerke zwischen Institutionen, Parteien, Kirchengemeinden, Sportvereinen, Theatern, Flüchtlingsinitiativen sind entstanden und entstehen noch! Wie viele Geschichten gäbe es hier zu erzählen! Diese Beziehungen bilden die Basis für ein neues gesellschaftliches Wir. Für ein weltoffenes und tolerantes Zusammenleben der Verschiedenen. Integration braucht Menschen. Ich bin zuversichtlich: Auch in Zukunft werden sich Menschen begeistern lassen für diese Aufgabe. Doch um nachhaltig zu sein, braucht die Kultur des Ehrenamts – das wissen wir in der Diakonie mit 750.000 bürgerschaftlich Engagierten schon lange – auch professionelle Koordination und Förderung. Auch hier könnten die Kommunalen Runden Tische ein entscheidendes Instrument sein, um die Kräfte von Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu bündeln. Die Hauptintegrationsfelder Wohnung, Sprache, Schule und Arbeit müssen dabei gleichzeitig bearbeitet werden. Dazu sind schnell erhebliche Investitionen und eine entsprechende Ausstattung der Kommunen nötig: im sozialen Wohnungsbau wie beim Ausbau von Schulen und Kindertagesstätten. Hier sind erste Schritte getan worden. Ans Ziel gelangen wir nur, wenn Staat, Land und Kommunen, aber auch Verbände und Zivilgesellschaft noch stärker zusammenarbeiten. Auf der kommunalen Ebene entscheidet sich viel – vor allem, wenn sie europäisch gedacht wird. Für nachdenkenswert halte ich die Idee, die im Kreise der europäischen Sozialdemokratie um Gesine Schwan aufgekommen ist. Caterina Lobenstein schrieb neulich unter der Überschrift „Bürgermeister, übernehmen Sie“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ darüber: „Was aber wäre, wenn man im komplexen Geflecht der europäischen Asylpolitik die

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nationale Ebene umginge und sich direkt an die Kommunen wendete? Wenn also die EU-Kommission nicht mehr mit störrischen Nationalregierungen verhandelte, sondern direkt mit denen, die sich am Ende um die Flüchtlinge kümmern: mit den Bürgermeistern der Städte und Gemeinden? Nicht Deutschland, Polen und Frankreich würden dann um die Verteilung der Flüchtlinge feilschen, sondern Tuttlingen, Slubice und Toulouse. […] Im Detail geht diese Idee so: Bürgermeister aus Städten oder Dörfern, die Flüchtlinge aufnehmen möchten, schreiben gemeinsam mit lokalen Unternehmern, Kirchen und Vereinen eine Bewerbung. Sie erklären darin, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen und was sie ihnen bieten können: Arbeitsplätze, Wohnraum, Sprachkurse. Sie geben an, welche Kosten sie für ihre Kommune erwarten und welche Gewinne – etwa weil durch den Zuzug offene Lehrstellen besetzt oder Schulen vor der Schließung bewahrt werden könnten. Das Geld, das die Kommunen für die Versorgung der Flüchtlinge brauchen, wird in diesem Modell nicht mehr vom Bund oder den Ländern überwiesen, sondern direkt von der Europäischen Union.“8 Damit Integration gelingen kann, brauchen wir in der deutschen, in der europäischen Politik „Durchbrüche“, wie den in der Wand des Deutschen Pavillons auf der Biennale. „Making Heimat“ braucht Inspiration, neues Denken und Improvisation. Der Innenminister unseres Landes hat vor kurzem bei einem öffentlichen Vortrag von seinen vielen Vorortgesprächen mit Verantwortlichen in den vergangenen Wochen und Monaten erzählt. In allen Gesprächen berichteten ihm Sozialdezernent_innen und Landkreisdirektor_innen, dass sie sich bei der Erstversorgung und Unterbringung über manche Verwaltungsvorschrift hinweggesetzt hätten. Wir brauchen noch mehr Menschen, die sich zuerst fragen: Wie schaffen wir jetzt die Gelingensvoraussetzungen für Integration möglichst schnell und erfolgreich? 5

Die Kultur der Improvisation

Integration braucht die Gabe der Improvisation. Eine Kultur der Improvisation speist sich aus Geistesgegenwart und gesundem Menschenverstand, aus der Fähigkeit, aus dem Stehgreif mit anderen etwas darzustellen oder herzustellen, ungewohnte Allianzen einzugehen, nicht zu verzweifeln, wenn Lösungen nicht sofort auf der Hand liegen – auch nicht, wenn nicht alle Mittel vor Beginn zur Verfügung stehen. Manchmal erfordert Improvisation aber eben auch einen sou8

Lobenstein, Bürgermeister, übernehmen Sie, 21.

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veränen Umgang mit Regeln. Die Begabungen, die man zum Improvisieren braucht, sind auch in Deutschland ausreichend vorhanden und dürfen sich jetzt weiter entfalten: „Making Heimat“ braucht den Geist der Bastler_innen und Heimwerker_innen, den der Globetrotter oder der Gamer am Computer. Ich meine die Gaben der Köchin, die vor einem fast leeren Kühlschrank steht und doch ein schmackhaftes Gericht herzustellen vermag. Das Improvisationstalent berufstätiger Eltern. Ich meine die Deutschen mit Migrationshintergrund, die bereits unter uns leben und ihre kulturelle Beweglichkeit. Und ich meine nicht zuletzt die Menschen, die unter den Lebensbedingungen der DDR nicht müde wurden, nach praktikablen Lösungen für die Alltagserleichterung zu suchen. Sie fanden sich nach 1989 ohne Auswanderung oder Flucht plötzlich in einem neuen Land vor, das sich keineswegs für alle als das gelobte Land entpuppte. Wie vielen hat ihr Improvisationstalent in die neue Gesellschaft hineingeholfen. Deutschland ist auch heute nicht das Gelobte Land, in dem Wohlstand für alle einfach herrscht. Das bleibt den Menschen, die aus zerstörten Gesellschaften zu uns kommen, zunächst mitunter verborgen. Viele kennen aus den Medien nur die funkelnde Oberfläche unserer Konsumgesellschaft und tragen eine undifferenzierte Sehnsucht nach einem Leben in sich, das an diesem Glanz Anteil haben möchte. Das ist verständlich. Aber unrealistisch. Wir dürfen von den Menschen, die sich zu uns flüchten und bleiben wollen, Realismus erwarten und Engagement. Aber dafür müssen wir auch vieles erklären, im Kleinen, im Großen, was uns selbstverständlich erscheint, aber für andere nicht selbstverständlich ist. Natürlich muss die deutsche Sprache gelernt werden. Aber wir müssen akzeptieren, dass nicht jeder und jede dazu gleich gut in der Lage ist. Es ist deswegen unverzichtbar, dass das Kursangebot erweitert und differenziert wird, dass es schon in den Gemeinschaftsunterkünften verlässliche Angebote geben muss. Bei der derzeitigen Angebotssituation mit Sanktionen zu drohen, ist bestenfalls ahnungslos, schlimmstenfalls populistisch. Selbstverständlich müssen die Werte des Grundgesetzes als Fundament unserer Gesellschaft von allen Menschen, die hier leben wollen, anerkannt werden: Die Presse ist frei. Die Kunst ist frei. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Natürlich muss Religiosität wieder ihren angemessenen Platz in unserem säkularen Gemeinwesen finden können. Kirchen, Synagogen und Moscheen und viele andere Religionsgemeinschaften und ihre Ver-

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sammlungsorte gehören zu Deutschland. Eine zivile und öffentliche Form gelebter Religion ist ein Segen – auch im säkularen Staat! Wir werden darüber zu diskutieren haben. Und zwar nicht nur mit den Menschen, die Zuflucht und Zukunft bei uns suchen, sondern auch mit denen, die ihren Hass auf alles Fremde so ungeniert ausleben, dass es einem fast die Sprache verschlägt. Aber den Gefallen, zu schweigen, werden wir diesen Schreihälsen und ihren regressiven Konzepten nicht tun! Wir hören nicht auf damit, Respekt und adäquate Lösungen für komplexe Fragestellungen einzufordern. Doch auch Respekt – Christen sprechen sogar von Nächstenliebe – muss immer wieder aufs Neue eingeübt werden. Respekt ist nicht einfach da. Nächstenliebe schon gar nicht. Man muss beides wollen und einüben. Gegenseitiger Respekt ist das kleine Einmaleins unserer Kultur. Man sollte es im Schlaf können und bereits im Kindergarten üben. Ohne das Einüben von Respekt gibt es keine Demokratie und erst recht keine Nächstenliebe. 6

Integration ist ein Marathonlauf, der gerade erst begonnen hat

Integration geht uns alle an. Integration beginnt im Kopf und im Herzen. Integration beginnt mit dem ersten Tag. Und: Integration ist ein Marathonlauf, der gerade erst begonnen hat. Was es bedeutet, einen Marathon zu laufen, können wir derzeit in vielen Städten erleben. Die Marathonsaison hat wieder begonnen. Nicht nur in Deutschland treffen sich in den kommenden Monaten landauf, landab Läuferinnen und Läufer, die lange trainiert haben, um die gewaltige Strecke laufen zu können. Alte, Junge, Männer, Frauen, Sportliche und solche, die es einfach wissen wollen. Auch Rollstuhlfahrer_innen sind dabei. Es ist die schiere Lust an der Größe der Aufgabe, die viele motiviert. Das wünsche ich uns auch auf dem Integrationsmarathon, den wir alle in Deutschland gerade miteinander beginnen. Wir alle. Nicht nur die Zuflucht- und Zukunftsuchenden. Unsere Motivation dabei ist: Wir laufen nicht allein, sondern mit anderen, deren Wille zur Mitarbeit eben keineswegs erschöpft oder verbraucht ist. Wenn es gut läuft, gehen wir dieses anspruchsvolle Rennen als eine Art Staffellauf an. „Something fantastic“ heißt das Berliner Architekturbüro, das den Deutschen Pavillon in Venedig aufgebrochen hat. Es braucht auch Sinn für Fantastisches, um neue Wege zu gehen. Es gibt nur eine Möglichkeit, mit der Unvorhersehbarkeit der Zukunft umzugehen, nämlich ein Versprechen zu geben und sich schlicht daran zu halten,

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hat Hannah Arendt einmal in schwierigen und unübersichtlichen Zeiten gesagt. „Wir schaffen das!“ – Halten wir uns daran! Die Wände des Deutschen Pavillons werden – im Sinne des Denkmalschutzes – am Ende der Biennale wieder sorgfältig geschlossen werden. Für Deutschland, für Europa wünsche ich mir etwas anderes: Offene Gesellschaften, die Bestand haben. Dafür stellen wir die Weichen jetzt. Literatur Deutscher Bundestag, Entwurf eines Integrationsgesetzes, Drucksache 18/8829, 2016, online: http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/18/088/1808829.pdf (Zugriff 28.6.2016). Deutsches Architekturmuseum, Making Heimat. Germany, Arrival Country. 28.5.–27.11.2016, 2016, online: http://www.making heimat.de/ (Zugriff 4.7.2016). Gesellschaft für deutsche Sprache e. V., Wort des Jahres, 2015, online: http://www.gfds.de/wort–des–jahres–2015 (Zugriff 28.6.2016). Lobenstein, Caterina, Bürgermeister, übernehmen Sie, in: Die Zeit, 19.5.2016, 21. Markmeyer, Bettina, Flüchtlinge werden Renten der Babyboomer zahlen, in: Die Welt, 12.3.2016, online: http://www.welt.de/ wirtschaft/ (Zugriff 11.7.2016). Weissmüller, Laura, Frontbericht, in: Süddeutsche Zeitung, 28. / 29.5.2016, 18.

Heribert Prantl

Das neue Buch Exodus Überlegungen zu einer verantwortlichen europäischen Flüchtlingspolitik

Der Schriftsteller Milan Kundera („Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“) hat einmal gesagt: „Ein Europäer ist derjenige, der Sehnsucht nach Europa hat.“ Wenn das stimmt, dann sind womöglich die Flüchtlinge, die auf der Suche nach dem europäischen Traum nach Europa kommen, europäischer als die vielen Bewohner Europas, die an den europäischen Traum nicht mehr glauben. Europa ist in Europa zu einem geschundenen Wort geworden, zu einem Synonym für Krise: Es gibt so viele Krisen, die alle mit „Europa“ eingeleitet werden, die Flüchtlingskrise vor allem. Aus dem Traum Europa ist, so scheint es, ein Alptraum geworden, etwas Zähes und Schweres, etwas Graues und Gallertiges. Viel Tristesse, wenig Begeisterung. Ich selber habe in meinen Leitartikeln im Spätsommer und Herbst 2015, als der Streit der EU-Staaten über die Flüchtlinge begann, Sätze bitterer Enttäuschung über die fehlende europäische Solidarität formuliert. Das klang so: „Die Europäische Union ist eine Union von 510 Millionen Menschen. Dieses Europa erstickt nicht, wenn es Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Dieses Europa erstickt“, so habe ich geschrieben, „wenn es sie nicht aufnimmt: Es erstickt dann an seinem Geiz, an seinen nationalen Egomanien und an seiner Heuchelei.“1 Das war, das ist ein scharfes Urteil. Ich war, ich gebe es zu, verzweifelt, ich bin es immer noch. „Jetzt muss sich zeigen“, habe ich geschrieben, „was die europäischen Grundrechte und Grundwerte wirklich wert sind. Jetzt muss sich zeigen, was es wirklich auf sich hat mit dem Motto vom ‚Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit‘. Jetzt muss sich zeigen, ob all das mehr ist als 1

Prantl, Das Europa der Heuchler.

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H. Prantl

ein Wasserfall voll Phrasen. Jetzt muss sich zeigen, ob die Konventionen, die man unterschrieben hat, mehr sind als ein paar Fetzen Papier. Wenn europäische Kernländer wie Ungarn oder Polen Menschen in höchster Not nicht aufnehmen wollen, weil sie den falschen Glauben haben, dann ist das ein Hochverrat an den Werten, derentwegen die Europäische Union gegründet wurde. Es kann und darf nicht sein, dass Teile Europas hinter den Westfälischen Frieden zurückfallen. Europa lebt nicht nur vom Euro; es lebt von seinen Werten, von der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Person, der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und der Freizügigkeit. Europa lebt davon, dass es die Menschenwürde schützt.“2

Das war meine große, das war meine bittere Klage. Und sie mündete in dem bitteren Satz: „Wenn ihm diese Werte nichts mehr wert sind, ist Europa das Überleben nicht wert.“3 Es waren dies, es sind dies Sätze der bitter enttäuschten Liebe. Gewiss, ich weiß ja: Solidarität kann man nicht erzwingen. Amanda Michalopoulou, die griechische Schriftstellerin, hat zu Recht geschrieben, dass das auch nicht plötzlich unter extremen Bedingungen geht, „nicht unter dem Lärm der Massenmedien, die einmal Mitleid und einmal Angst heraufbeschwören“4. Das stimmt. Und trotzdem: Wir sollten die Hoffnung auf Solidarität nicht aufgeben. Das Wort „Exodus“ gehört zu den uralten Worten der Menschheit. Exodus: So heißen das zweite Buch der Tora und das zweite Buch des Alten Testaments. Es geht in diesem Buch um den Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Es wird die Geschichte erzählt, wie die Israeliten, verfolgt vom Heer des Pharao, zum Meer ziehen – und wie sich dieses Meer für die Fliehenden öffnet und sie trockenen Fußes durchs Meer ziehen. Die Verfolger aber ertrinken in den wieder einfallenden Wassermassen. Dieser Exodus, dieses Wunder im Meer, wird bis heute auch in der christlichen Osternacht besungen. Beim Exodus von heute gibt es nichts zu besingen. Das Meer öffnet sich nicht für die Fliehenden. Im Gegenteil: Zigtausende von Flüchtlingen sind bei ihrer Flucht übers Mittelmeer ertrunken. Es gibt kein Wunder beim Exodus von heute – allenfalls, wenn man es so nennen mag, das kleine Merkel-Wunder vom 4. / 5. September 2015, das die CSU und viele andere aber zum Merkelschen Sündenfall erklärt haben. Es wäre gut, wenn die bayerische, wenn die deutsche, wenn die europäische Politik auf den Exodus von heute nicht mit einem 2 3 4

Prantl, Das Europa der Heuchler. Ebd. Michalopoulou, Europa: Eine Liebesgeschichte.

Ein neues Buch Exodus

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Exodus der Menschlichkeit antworten und mit Haft und mit Transitzonen drohen würde. Beim Exodus der Israeliten dereinst öffnete sich das Meer. Beim Exodus von heute öffneten sich immerhin erst einmal die Hauptbahnhöfe. Es gibt also schon bestimmte Verbindungen zwischen dem Exodus von damals und dem von heute – der Exodus von heute ist freilich viel, viel größer. Er ist nicht der Exodus eines einzelnen Volkes; er ist der Exodus von Verzweifelten und Gepeinigten vieler Völker. 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Stellen wir uns vor, es gäbe ein großes Flüchtlingsbuch; darin verzeichnet alle Schicksale, alles Leid, alles Elend, alle Hoffnung, alle Zuversicht. Stellen wir uns vor, es gäbe in diesem großen Flüchtlingsbuch eine Seite für jeden Flüchtling, eine Seite für jeden Vertriebenen, eine Seite für jeden, der seine Heimat verlassen und anderswo Schutz suchen musste. Eine Seite nur für Jeden; für alle Sehnsucht, für alle Enttäuschung, für alle Ängste, für das Leben und für das Sterben und für alles dazwischen. Stellen wir uns vor, wie ein solches großes Buch aussähe: Die aktuelle Ausgabe hätte sechzig Millionen Seiten. So viele Flüchtlinge gibt es derzeit auf der Welt. Die Flüchtlinge, die über den Balkan und Österreich nach Deutschland kommen, sind ein kleiner Bruchteil der gigantischen Gesamtflüchtlingszahl. Sie alle, all diese Flüchtlinge wären notiert in diesem Buch: diejenigen, die vor dem Krieg in Syrien fliehen; diejenigen, die dem Terror des „Islamischen Staates“ mit knapper Not entkommen sind; diejenigen, die es nach Europa schaffen und dort von Land zu Land geschickt werden; diejenigen, die im Mittelmeer ertrunken sind; diejenigen, die durch die Wüsten Afrikas gelaufen sind und dann an der Grenze zu Europa vor einem Stacheldrahtzaun stehen; diejenigen, die zu Millionen in ihrem Nachbarland in Notlagern darauf warten, dass die Zustände im Heimatland besser werden; diejenigen auch, die nach dem Verlassen ihrer Heimat verhungert und verdurstet sind, die verkommen sind in der Fremde; die Kinder wären genauso verzeichnet in diesem Buch wie ihre Mütter und Väter, die Kinder also, für die es keinen Hort und keine Schule gibt. Es stünden in diesem Flüchtlingsbuch auch diejenigen Menschen, die aufgenommen worden sind in einer neuen Heimat – und wie sie es geschafft haben, keine Flüchtlinge mehr zu sein. Es wäre dies nicht nur ein einzelnes Buch; es wäre ein Buch, bestehend aus vielen Bänden. Wenn jeder dieser Bände fünfhundert Seiten hätte – das Flüchtlingsbuch bestünde aus insgesamt 120.000 Bänden.

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Es wäre dies eine ziemlich große Bibliothek. Wenn man die Bände stapelt, wäre der Bücherturm höher als der höchste Berg der Erde. Es gibt dieses Buch nicht. Es gibt die Menschen, die der Inhalt dieses Buches wären: Flüchtlinge nennen wir sie. Nennen wir sie Menschen; es sind entwurzelte, entheimatete Menschen. Das Fluchtproblem ist das Problem des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Problem, das viel größere Anstrengungen erfordern wird als die Stabilisierung des Euro. Es ist ein Problem, das nur dann gut angepackt werden kann, wenn es möglichst viel Einigkeit gibt, Einigkeit in Deutschland, Einigkeit in Europa, Einigkeit in der Weltgemeinschaft. Es geht hier nicht um das Überleben einer Währung, es geht um das Überleben von Millionen von Menschen. Man wird das 21. Jahrhundert, man wird Europa einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, was es getan hat, um Staaten im Chaos wieder zu entchaotisieren. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen ihre Heimat wiederzugeben. Das ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Gesellschaft ein gewaltiges Umdenken verlangt. Das Elend der Flüchtlinge war uns so nahe gerückt im Spätsommer und Herbst 2015 – und es hat so viele Menschen hierzulande zunächst einmal ans Herz gefasst. Die Hilfsbereitschaft war überwältigend. Es wuchs dann die Sorge, dass die Angst die Oberhand gewinnt und sich Luft macht in Abwehr und Ausschreitung. Das war dann auch so und ist immer noch so. Wenn Stimmungen nur Stimmungen sind und keine Überzeugungen, dann schlagen sie schnell um. Mit den Ausschreitungen der Silvesternacht in Köln ist die Stimmung dann gekippt. Was soll man dazu sagen? Mit einem Gezeitenspiel von Emotionen, im Wechsel von Hui und Pfui, lässt sich verlässliche Flüchtlingspolitik nicht gut machen, eine gute Sozialpolitik auch nicht. Die Gesellschaft braucht stabile Werte, nicht schwankende Stimmungen, sie braucht ein Wertebewusstsein. Dieses Wertebewusstsein stabilisiert eine Gesellschaft. Das Bewusstsein über den Wert von Europa ist verloren gegangen. Je länger die Flüchtlingskrise andauert, umso heftiger flüchten sich die europäischen Staaten in einen neuen Nationalismus; sie versuchen sich so zu retten. Die Staaten auf der Balkanroute, Ungarn zuvorderst, verstecken sich hinter Stacheldraht und Volksabstimmung. In Griechenland stauen sich die Flüchtlinge zurück, sie stauen sich zu einer großen humanitären Katastrophe, es ist womöglich eine der

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größten seit dem 2. Weltkrieg. Mit Mauern und Stacheldraht-Zäunen sind noch nie Probleme gelöst worden. „Bring den Hungrigen Dein Brot, und die im Elend sind, führ in Dein Haus!“ (Jes 58,7) Wie ist es, wenn wir unser europäisches Handeln an diesem Satz des Propheten Jesaja messen? Wie ist es, wenn wir an die Ergebnisse des Gipfels in Brüssel das Lineal des Jesaja anlegen? Die Bibel ist ein Flüchtlingsbuch, die Aufnahme von Flüchtlingen ist tief in biblischen Erfahrungen verwurzelt. Aber gerade diejenigen, die am meisten und lautesten vom christlichen Abendland reden, wollen am wenigsten davon wissen, sie wollen Mauern und Zäune und Abgrenzung und Abschottung. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat vor Jahrzehnten ein Drama geschrieben, das „Die chinesische Mauer“ heißt. Der Kaiser von China verkündet an einem Festtag „zur Friedenssicherung“, wie er sagt, den Bau der chinesischen Mauer. Die soll, wie er sagt, den Zweck erfüllen, „die Zeit aufzuhalten“ und die Zukunft zu verhindern. Es ist schon komisch, dass dieser Kaiser noch heute in Europa – in Polen, in Ungarn, in Tschechien vor allem – seine Kommissare hat. Die Alternative zum Einmauern ist das Teilen. Und beim Teilen denken viele an den Sankt Martin, der seinen Mantel geteilt hat. Wir erinnern uns an die anrührende Schlüsselszene, als der römische Soldat und spätere Bischof Martin seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilt. Dazu muss man wissen, dass den römischen Soldaten nur die Hälfte des Mantels gehört, die andere gehörte der Armee. Martin hat also kein Fitzelchen hergegeben, er hat alles gegeben, worüber er verfügen konnte. Der Mensch braucht zumindest so viel Mantel, dass er Mensch sein kann. Der Flüchtling muss Mensch sein können. Europa muss gemeinsam handeln und dabei die Menschenrechte achten. Eine EU, die in der Flüchtlingskrise nicht gemeinsam handelt, wird bald gar nicht mehr handeln. Ein Europa, das Stacheldraht ausrollt und seine nationalen Parzellen wieder einzäunt, so wie dies erst Ungarn und dann auch Österreich getan haben, zerlegt sich selbst. Europa muss nach innen offen bleiben und darf sich nach außen nicht völlig abriegeln. Je mehr sich eine Zivilisation einmauert, umso weniger hat sie am Ende zu verteidigen. Das „Lob der Grenzen“, das neuerdings wie eine Erlösungshymne gesungen wird, ist das Requiem für Europa. Was ist die Aufgabe der Kirchen in dieser Situation? Wozu ist Kirche da? Welche Aufgabe haben die Jünger des Herrn? Ihre Aufgabe ist es nicht (nachzulesen bei Mk 10, 35–45), die linke und die rechte Hand

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der Herrschenden zu sein; ihre Aufgabe ist es nicht, die herrschenden Hierarchien zu stärken und zu stützen. Aufgabe der Kirche ist es nicht, dafür zu sorgen, dass diejenigen oben bleiben, die oben sind, und diejenigen unten bleiben, die unten sind. Es geht nicht darum, überkommene Ordnungen zu stabilisieren und Plätze zuzuweisen. Mir fällt da die Madame de Meuron ein, die 1980 gestorbene „letzte Patrizierin von Bern“, die sagte einem Bauern, der sich in der Kirche auf ihren Stuhl verirrt hatte: „Im Himmel sind wir dann alle gleich, aber hier unten muss Ordnung herrschen“. Ist das die Ordnung, die wir uns vorstellen? So viele biblische Texte, so viele Evangelien fordern die Christen auf zum Dienen. Dienen heißt hier aber nicht buckeln und kriechen, dieses Dienen ist ein selbstbewusstes Dienen, ein Dienen, wie es etwa Papst Franziskus von den Christen in seinen Predigten immer wieder verlangt. Dienen heißt nicht nur diakonische Wohltätigkeit, dienen heißt viel mehr. Denn Wohltätigkeit ist, so hat Pestalozzi einst gesagt, „das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade“. Dienen besteht daher darin, den Armen und den Ärmsten Recht zu schaffen – das ist auch der Name eines der Sonntage vor Ostern: „Judica“ heißt dieser Sonntag, benannt nach dem Beginn des Psalm-Verses: „Judica me deus“ – „Verschaffe mir Recht, oh Gott“ (Ps 26,1). Ist es Recht, Zäune aus Stacheldraht zu ziehen, auf dass der Wohlstand in den EU-Landen bleibe und die Armut draußen? Ist es Recht, wenn wir in Europa unsere Kleidung unter erbärmlichen Umständen in Asien herstellen lassen? Ist es Recht, wenn die in Asien billigst hergestellte Kleidung dann später als second-hand-Spende nach Afrika geht, wo dann deswegen die dortige Textilindustrie den Bach heruntergeht? Ist es Recht, wenn schwimmende Fischfabriken aus Europa und aus den USA vor den Küsten Afrikas alles wegfangen, was zappelt? Ist es Recht, wenn, dank der EU-Subventionen, europäisches Geflügel und europäische Butter in Afrika billiger sind als die einheimischen Produkte? Ist es Recht, wenn Deutschland nach wie vor zu den größten Waffenproduzenten und Waffenexporteuren der Welt zählt? „Die als Herrscher gelten“, sagt Jesus im genannten Markus-Evangelium, „halten ihre Völker nieder und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an“. Und dann fordert er seine Jünger auf: „So ist es bei Euch nicht. Wer groß sein will, der soll aller Diener sein“ (Mk 10,42–43) . Wer dem Herrn folgt, heißt das, der bewegt sich nicht im ewigen Triumphzug, der sitzt nicht auf einem Thron – sondern der dient. Er hilft dabei, den Armen Recht zu verschaffen. Judica me deus. Es geht

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nicht nur um Almosen, nicht nur um ein paar Krümel vom Tisch des Reichtums. Es geht um Recht, Menschenrecht. Der schon zitierte St. Martin ist ein Heiliger unserer Tage nicht nur wegen seines Beispiels für eine Barmherzigkeit, die sich von der Not des frierenden Bettlers anrühren lässt. Das wäre ja schon viel, auch für unsere Zeit und unsere Tage. Denn wir leben in einem Land, in dem Woche für Woche Tausende auf die Straße gehen, die sich nicht anrühren lassen von fremdem Leid; wir leben in einem Land, in dem Häuser brennen, die für Flüchtlinge hergerichtet wurden. Wir können aber auch froh darüber sein, dass es viele Tausende in unserem Land sind, die zupacken und Flüchtlingen zur Seite stehen. Wir haben ein Ausmaß an Hilfsbereitschaft gesehen, das viele nicht erwartet hätten. Wir erlebten Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingshass, wir erlebten und erleben auch eine hohe Zeit, eine Hochzeit der Bürgertugend. Es gibt eine zweite wunderbare St. Martin-Geschichte, die viel weniger bekannt ist als die von der Teilung des Mantels – die aber in unseren Zeiten Mut machen kann. Sie steht im „Goldenen Legendenbuch“ und sie geht wie folgt: Es gab damals, zu St. Martins Zeit, bereits einen christlichen Kaiser, Theodosius. Er hatte das Christentum zur Staatsreligion gemacht und die Kirche reichlich mit Privilegien ausgestattet. Die Gegenleistung: Die Kirche sollte Stütze des Reiches und seiner Herrschaft sein. Doch nicht mit Martin. Er war zum Bischof von Tours gewählt worden – und er nahm seinen Bischofstitel ernst: „Vater der Armen“. Also wollte er sich beim Kaiser für die Armen einsetzen. Aber der Kaiser wollte nicht hören und nicht helfen. Er hielt die Tore seines Palastes fest verschlossen. Ein zweites und ein drittes Mal kam Martin zum Kaiser, vergebens. Danach streute er Asche auf sein Haupt und fastete und betete eine Woche lang. Dann ging er auf eines Engels Geheiß noch einmal zum Palast und kam tatsächlich, durch verschlossene Tore, bis vor den Kaiser. Der blieb trotzig auf seinem Stuhl sitzen. Im „Goldenen Legendenbuch“ heißt es dann wörtlich: „Da bedeckte plötzlich Feuer den königlichen Thron und brannte den Kaiser an seinem hinteren Teil, dass er voll Zorn musste aufstehen. Und der Kaiser bekannte, dass er Gottes Macht hatte gespürt. Er umarmte den Heiligen und bewilligte ihm alles, noch ehe er darum bat.“ Diese wunderbare Geschichte hat ihre eigene Wahrheit und Poesie. Denn sie erinnert an eine wichtige Tradition der Nächstenliebe und der Solidarität. Martin handelte nicht nur barmherzig; er drang auch darauf, dass die Armen zu ihrem Recht kommen. Die Legende sagt

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uns: Solchen Machthabern, solchen Politikern soll die Zivilgesellschaft Feuer unter dem Hintern machen. Daher ist es gut, dass die Zahl der Kirchengemeinden, die Flüchtlingen Asyl in Kirchenräumen gewähren, rapide steigt. Und wenn es Konflikte mit dem Staat gibt? Man muss die Konflikte nicht provozieren, man darf sie aber auch nicht scheuen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, selbst evangelischer Christ, hat den katholischen Bischöfen in ungewöhnlich harscher und harter Form erklärt, dass er als Verfassungsminister das Kirchenasyl „prinzipiell und fundamental“ ablehne. Dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, dem bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, hat er bei dessen Antrittsbesuch im Ministerium Ähnliches bedeutet. Kurz: Die Kirchen mögen dem Staat doch bitte nicht ins Handwerk pfuschen. Das Staatshandwerk, um das es geht, ist die Abschiebung von Flüchtlingen aus Deutschland. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist bei der Prüfung der Einzelfälle offensichtlich überfordert; man kann den Eindruck haben, diese Überforderung ist auch politisch gewollt: Vorgelegte Gutachten und Eingaben werden ignoriert, mit allen Mitteln werden Abschiebungen juristisch durchgesetzt. Es gibt so viele Abschiebungen ohne Prüfung und Rücksichtnahme – gerechtfertigt allein durch die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind. Das wollen immer mehr Kirchengemeinden verhindern: Sie wollen den Flüchtlingen geben, was der Staat des Grundgesetzes ihnen verweigert: Schutz und Hilfe in bedrohlicher Situation. Das Kirchenasyl – die Gewährung von Schutz in kirchlichen Räumen – gilt als „ultima ratio“, als „letztes Mittel“. Die Kirchengemeinden wollen dieses Mittel nicht als kalkulierten Bruch des Rechts betrachten – sondern als dringlichen Appell an die Behörden, als eine lebendige Petition im Sinn des Artikels 17 Grundgesetz. Die Kirchenasyl-Bewegung ist die lebendigste Basisbewegung, die es derzeit in den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gibt. Seit über drei Jahrzehnten gibt es ein Kirchenasyl in Deutschland, vor über zwei Jahrzehnten wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ von evangelischen und katholischen Christen gegründet. In kaum einer anderen Frage sind Kirchengemeinden so engagiert, in keiner anderen Frage funktioniert Ökumene, die Zusammenarbeit zwischen evangelischen und katholischen Pfarreien, so gut. Das ist wunderbar. Das, um einmal nicht die Bibel, sondern Erich Kästner zu zitieren, ist die Realisierung des Satzes: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Kirchenasyl ist für sie die Übersetzung des Evangeliums

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in die Gegenwart. Da steht im Matthäus-Evangelium das Jesus-Wort: „Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt. Ich war verfolgt, und ihr habt mir Schutz gewährt“ (Mt 25,35). Im Übrigen – ein gutes Argument der Kirchengemeinden sind nicht nur Bibelzitate. Sondern auch Erfolgsraten: So viele Flüchtlinge, die ins Kirchenasyl genommen wurden, kamen sodann ins ordentliche Asylverfahren; und fast neunzig Prozent durften letztendlich in Deutschland bleiben. Es gibt einen eigenen Psalm für das Kirchenasyl, es ist der Psalm 23. Psalm 23 ist der Schlager unter den Psalmen, der Text vom guten Hirten. So beliebt er ist, so sehr ist er auch verkitscht worden in biedermeierlich individueller Frömmigkeit. In der Volksfrömmigkeit ist er seines sozialkritischen Inhalts beraubt worden. Das ist schade. Denn man sollte ihn als Gebet eines Flüchtlings verstehen. Psalm 23. Einheitsübersetzung: 1 2 3 4 5 6

Der Herr ist mein Hirte, / nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen / und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; / er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, / ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, / dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch / vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, / du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang / und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.

Hier beschreibt jemand einen Weg, der über grüne Auen und gute Straßen führt, der ihn, und das ist nicht zufällig der Vers genau in der Mitte des Textes, ins finstere Tal abstürzen lässt. Todschattenschlucht heißt es in manchen Übersetzungen. Im Zentrum steht das Erlebnis der Todesnot. Unter dem sich durchziehenden Ton des Vertrauens grollt die Erfahrung der tödlichen Bedrohung und Verfolgung. Der Psalm endet mit dem Vers: Ich werde bleiben in Gottes Haus alle Zeit, oder wie es bei Luther heißt: Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. Es geht hier nicht um den Besuch eines schönen Gottesdienstes oder den Genuss eines imposanten Baudenkmals. Im Hintergrund dieses Verses steht das alte Asylrecht in seinen Ursprüngen. Das Haus Gottes, also der Tempel, war eine Stätte der Zuflucht und des Asyls. Wer das Haus des Herrn erreichte, der war an Leib und Leben vor Verfolgern und Blutrache geschützt. Asyl heißt

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unberaubt. Der Verfolgte konnte hier nicht mehr seiner Existenz beraubt werden. Es gibt in manchen biblischen Texten die befremdliche Rede von den Hörnern des Altars. Das bezieht sich auf die Form von Altären, die an den Ecken mit Hörnern versehen waren. Wenn ein Schutzsuchender diese erreichte und sich an ihnen festhielt, so war er tabu, also unbedingt geschützt. Psalm 23 ist also ein Kirchenasylpsalm. Was heute als bukolische Kulisse erscheint, das Bild vom Hirten mit seinen Schafen, ist handfeste Herrschaftskritik. Die Metapher hat ihren Platz in der Königsideologie der alten Völker, auch in Israel. Der Hirt ist gängige Metapher für den König. Man sieht das besonders deutlich in der deftigen Königskritik beim Propheten Ezechiel. Ezechiel prangert die perverse Herrschaft an und beschreibt drastisch ihre Folgen. „So spricht Gott: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden. Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht, das Starke tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet“ (Ez 34,2–6).

Man hat beim Lesen dieses Textes unmittelbar die Bilder von umherirrenden Flüchtlingen, Bilder aus den Chaosstaaten vor Augen. Der Psalm vom guten Hirten ist die Kritik und das visionäre Gegenprogramm zu solcher Herrschaftsausübung. Hier erlebt der Schwache und Schutzsuchende, dass es einen guten Hirten für ihn gibt, der ihn nichts mangeln lässt; der ihm die rechten Wege zeigt, statt ihn aufs Mittelmeer zu treiben, der ihn nicht verlässt in den finsteren Tälern und Abgründen, statt Instrumente zum Ausgrenzen zu finden; der ihm den Tisch deckt und alle Rituale der Gastfreundschaft ihm pflegt, die Salbung das Füllen des Bechers, statt Abschreckungsmaßnahmen zu finden. Judica me deus: Die Armen, die Flüchtlinge sollen zu ihrem Recht kommen. Man wird uns Christen daran messen, was wir dafür getan haben. Und wer wird uns messen? Es tut dies das göttliche Weltgericht, von dem der Apostel Matthäus in seinem berühmten Evangelium spricht:

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„Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 31–40).

„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ – das ist der zentrale Satz der christlichen Botschaft. Das ist der zentrale Satz des christlichen Abendlandes. Das ist der zentrale Satz einer christlichen Flüchtlingspolitik. Er ist eine Realvision. Es soll mehr real sein denn Vision. Alles zu christlich, zu biblisch, zu idealistisch? Vielleicht. Aber die Perspektiven einer europäischen Flüchtlingspolitik in Zeiten eines politisch so uneinigen Europa hängen auch ganz wesentlich vom Engagement der Kirchen und der Christen ab. Sie können, sollen, müssen die Wegweiser setzen – für eine humane Flüchtlingspolitik. Migration darf nicht zu andauernder Entwurzelung führen, nicht zur Heimatlosigkeit. Das Bedürfnis nach Beheimatung, nach Sesshaftigkeit, nach Kontinuität darf nicht vergessen werden. Anders gesagt: Europa sollte kein Kontinent von Flachwurzlern werden. Flexibilität und Mobilität, Werte, die von der Wirtschaft so gepriesen werden, sind nicht Selbstzweck. Greencards und Bluecards können wichtig sein; der Abbau von bürokratischen Hürden, die die Migration erschweren, ist wichtig. Die unkomplizierte Anerkennung von ausländischen Berufsqualifikationen ist auch wichtig. Aber: Lebens„lauf“ sollte nicht zum Synonym für ein neues Nomadentum werden. Der Mensch braucht Heimat auch in flüchtigen Zeiten. Das ist der Sinn und das Ziel von Integration. Hauptaufgabe der Sozialisation in einem Einwanderungsland Deutschland und in einer Einwanderungs-

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union EU wird es sein müssen, Heterogenität als Normalität nicht nur zu ertragen, sondern zu akzeptieren und zu respektieren. Es geht nicht nur um Toleranz, es geht um Respekt voreinander. Ob man das Multikulturalität oder Buntheit oder sonst wie nennt, ist mir gleichgültig. Wichtig ist nicht das Wort, sondern die Haltung, mit der man den Menschen begegnet. „Ein Europäer ist derjenige, der Sehnsucht nach Europa hat.“ Leisten wir uns, gönnen wir uns diese Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach der Heimat in globalen Zeiten. Literatur Michalopoulou, Amanda, Europa: Eine Liebesgeschichte – Essay, Aus Politik und Zeitgeschichte 52 (2015), online: http://www. bpb.de/apuz/217300/europa-eine-liebesgeschichte? p=all (Zugriff 30.8.2016). Prantl, Heribert, Das Europa der Heuchler, Süddeutsche Zeitung 6.9.2015, online: http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingedas-europa-der-heuchler-1.2636158 (Zugriff 30.8.2016).

Johannes Brandstäter

Die neue Gesellschaft – migrantisch und postmigrantisch: Welche Baustellen entstehen daraus für die Diakonie?

Bevor 2015 die Bevölkerung u.a. durch die vorübergehende Öffnung der Fluchtwege um mehr als eine Million zunahm, lebten in Deutschland bereits elf Millionen seit 1950 Eingewanderte. Mit ihrer Herkunft aus einer Vielzahl von Ländern und ihren unterschiedlichsten Traditionen und Glaubensrichtungen tragen diese Menschen zu einer außerordentlichen Vielfalt der Gesellschaft bei. Deutschland entwickelte sich im Zuge von Arbeitnehmerzuwanderung, Spätaussiedlung, Flüchtlingsaufnahme und europäischer Freizügigkeit – ohne sich je als eine solche zu erklären – in den letzten Jahrzehnten zu einer Einwanderungsgesellschaft. 1

Vom „Migrationshintergrund“ zu „PoC“

Zu den „Menschen mit Migrationshintergrund“ zählen zusätzlich weitere fünf Millionen Menschen, die Kinder von wenigstens einem eingewanderten Elternteil sind, aber keine eigene Migrationsbiografie besitzen. Der oft als Distanz schaffend wahrgenommene Ausdruck Migrationshintergrund wird von den so beschriebenen Menschen nicht immer gerne angenommen. Sie wollen ihre Identität nicht auf bestimmte Lebenseinschnitte von sich oder ihren Vorfahren verengt wissen. Über Jahrzehnte ist durch Einbürgerung, umfassende Integrationsprozesse und das Heranwachsen von Nachkommen eine „postmigrantische Gesellschaft“ mit sichtbaren und unsichtbaren Minderheiten entstanden. Einige Minderheiten, wie jüdische Menschen und Roma, sind allerdings schon in der autochthonen Bevölkerung vertreten. Erste Untersuchungen geben Anhaltspunkte dafür, wie sich unter den

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Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft die nationale Identität der Republik zu verändern begonnen hat.1 In den letzten Jahren haben postmigrantische Initiativen begonnen, sich selbst als People of Color (PoC) zu bezeichnen. „Als Begriff bezieht sich ,People of Color‘ auf alle rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, arabische, jüdische, indigene oder pazifische Herkünfte oder Hintergründe verfügen. Er verbindet diejenigen, die durch die weiße Dominanzkultur marginalisiert sowie durch die Gewalt kolonialer Tradierungen und Präsenzen kollektiv abgewertet werden.“2 Der Begriff kommt aus Nordamerika; Martin Luther King verwendete bereits 1963 den Begriff citizens of color. Im Februar 2016 trafen sich in Berlin achtzig postmigrantische Organisationen und Initiativen zum Zweiten Kongress der Neuen Deutschen Organisationen. Unter dem Hinweis „Auch wir sind das Volk“ wurde in der Abschlusserklärung gefordert: „Wir wollen keine Integrationspolitik, sondern eine Gesellschaftspolitik, die sich an alle Bevölkerungsgruppen richtet.“3 2

Was sind „Majority-Minority-Cities“?

Die fortgesetzte Einwanderung wirkt sich auf die Struktur der Bevölkerung aus. Zum Beispiel bremst sie, was oft zu ihrer „Entschuldigung“ angeführt wird, die Alterung der Bevölkerung. Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt. In Zukunft werden die autochthonen Deutschen nicht mehr an jedem Ort die Mehrheit darstellen. New York, London, Brüssel und Genf sind schon heute solche „Majority-Minority-Cities“, in denen die Minderheiten insgesamt eine Mehrheit bilden oder die bisherige Mehrheit zur stattlichen Minderheit wird. In Deutschland stehen u.a. Frankfurt am Main, Augsburg und Stuttgart an der Schwelle dazu – in Frankfurt am Main haben etwa 70 Prozent der bis zu Fünfjährigen einen Migrationshintergrund. Veränderungen sind auch bei den familiären Lebensentwürfen zu beobachten, für die es kein vorherrschendes Modell mehr gibt: Wir leben als Singles, als kinderlose Paare gleichen oder verschiedenen Geschlechts, als Familien mit ein oder zwei Elternteilen usw.

1 2 3

Vgl. Foroutan u.a., Deutschland postmigrantisch. Kien Nghi Ha, ‚People of Color’, 4. Neue Deutsche Organisationen, Forderungen.

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Frankfurt – Majority-Minority-City4 In Frankfurt am Main verfügen etwa 40 Prozent der Stadtbevölkerung über einen Migrationshintergrund, mit Herkünften aus weit über 100 Ländern und zahlreichen Religionszugehörigkeiten. Dieser Anteil wird in den nächsten Jahren stark ansteigen, wie ein Blick auf die unter sechsjährigen Kinder erwarten lässt: Unter sechsjährige Kinder in Frankfurt am Main 2014 Ausländische Kind Deutsche Kinder mit Migrationshintergrund Ohne Migrationshintergrund Alle unter sechsjährigen Kinder

6.086 24.026 13.493 43.605

Auch bei der Religionszugehörigkeit und Weltanschauung ist Vielfalt zunehmend die Regel. In vielen Großstädten oder Teilen Ostdeutschlands leben Evangelische und Katholische in der Diaspora, als Minderheiten. Hinzu kommt: Die Art, wie Menschen auch innerhalb derselben Konfession ihren Glauben leben, Rituale pflegen, Feste feiern usw. ist sehr komplex. In der sich herausbildenden Vielfaltsgesellschaft wird die Orientierungsmarke, die bisher mit „normal“ oder mit dem Ausdruck der Mehrheitsgesellschaft umschrieben wurde, zunehmend unpassend, um einen Standardtypus auszumachen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat auf den Trend zu mehr Vielfalt mit einem grundsätzlichen Ja reagiert. In einem von der Kammer für Theologie erarbeiteten Positionspapier grenzt sie sich ab von Vielfalt ablehnenden und Homogenität befürwortenden partikularistischen, antidemokratischen und rassistischen Ansätzen. Die EKD bekennt sich insbesondere zu religiöser Vielfalt: „Als Christinnen und Christen bejahen wir, dass anderen Religionen die gleichen Rechte der Glaubensfreiheit zukommen.“5 Die Konferenz für Diakonie und Entwicklung nahm 2015 eine ähnliche Position ein. „Für uns ist religiöse Vielfalt ein Ausdruck gesellschaftlichen Reichtums. Dabei ist das Bekenntnis zum christlichen Glauben kein Widerspruch zum interreligiösen Dialog“, sagte Angelika Weigt-Blätgen, Vorsitzende der Konferenz.6

4 5 6

Stadt Frankfurt a.M. (Hg.), Materialien zur Stadtbeobachtung, 16. Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube, 15f. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Religiöse Vielfalt.

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Empowerment

Wer Teilhabe und Chancengleichheit glaubwürdig als Ziel verfolgen will, muss die Frage von Empowerment der in dieser Gesellschaft Benachteiligten stellen. Empowerment bedeutet Stärkung, Ermächtigung. Für die Etablierten einschließlich der zivilgesellschaftlichen Organisationen heißt das, Macht zu teilen und Macht abzugeben. Zum einen benötigen Organisationen und Netzwerke, die Geflüchtete oder rassistisch Diskriminierte vertreten, sichtbare Anerkennung, Unterstützung bei der Selbstorganisation und Ressourcen. Es braucht einen gesellschaftlichen Raum, in dem sich gemeinsame Identitäten bilden und entwickeln können, auch um eine gemeinsame Verarbeitung von kollektiven Erfahrungen von Diskriminierung zu ermöglichen. Zum anderen, und diese Baustelle ist wohl viel größer, besteht die Herausforderung an die Gemeinwesen und die etablierten Einrichtungen, sich für die gleichberechtigte Eingliederung dieser Menschen zu öffnen. Die Gesellschaft als Ganze wird sich dabei nachhaltig verändern, und auch ihr Blick auf sich selbst. Die nationale Identität muss sich erweitern, um den Minderheiten einen eigenen Platz innerhalb der Nation zu sichern. Farhad Dilmaghani und Johannes Eichenhofer von der postmigrantischen Initiative Deutsch Plus e.V. setzen sich aus dieser Überlegung heraus für die Aufnahme eines Staatsziels „Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe“ ins Grundgesetz ein.7 Macht zu teilen, muss nicht Verlust bedeuten. Mehr arbeitende Menschen bedeutet mehr Wertschöpfung. Und partizipieren Menschen aus allen Communities an den Einrichtungen, auch Wohlfahrtsverbänden, kann das deren Legitimation nützen. Die Schulen und Hochschulen haben längst eine neue Schicht von postmigrantischen Bildungsinländer_innen produziert, die den etablierten, bislang von Autochthonen dominierten Einrichtungen bestens helfen können, die neue gesellschaftliche Wirklichkeit der Vielfalt abzubilden. Schon die amerikanische Bürgerrechtsbewegung hat in diesem Sinne Diversity-Konzepte propagiert und forderte eine „affirmative action“-Politik der positiven Fördermaßnahmen.

7

Dilmaghani / Eichenhofer, Eine Einwanderungsverfassung, 24f.

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Vielfalt gesellschaftspolitisch absichern

Teilhabe entsteht nicht allein aus Eingliederungsleistungen der Geflüchteten, flankiert von staatlichen Förderleistungen wie Deutschkursen und Angeboten zur Arbeitsmarktintegration. Die postmigrantische Gesellschaft der Vielfalt bedarf vielmehr eines eigenen Instrumentariums zum Diskriminierungsschutz, wie zum Beispiel einer breit verankerten rassismuskritischen Bildungsarbeit. Das ist auch aus historischen Gründen notwendig. Geflüchtete und Eingewanderte treffen auf eine Gesellschaft voller Altlasten rassistischer und kolonialistischer Traditionen. Das Instrumentarium muss ergänzt werden um Antidiskriminierungsstellen, Beschwerdemechanismen, Gleichstellungsbeauftragte. Das kann durchaus Spannungen verursachen. Der Umgang mit Sorgen und Feindseligkeiten der übrigen Bevölkerung benötigt nicht nur politisches Geschick und Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen, sondern ebenfalls eine Grundhaltung der Zuwendung. 5

Von Integrationspolitik zu Diversity Management

In den Gemeinwesen und Kommunen sind alle Einrichtungen gefordert, mit der Dynamik einer aus der für Einwanderung offenen Gesellschaft herrührenden Vielfalt umzugehen. Es geht dabei um mehr als „Integration“, zumal wenn diese als Einbahnstraße der Assimilation von Eingewanderten und Geflüchteten an die bestehende Gesellschaft verstanden wird. „Bei der kommunalen Integrations- und Gleichstellungspolitik ist ein langsamer Paradigmenwechsel von Integration zu Diversity zu beobachten.“8 Vorreiter dieses Trends waren nordamerikanische Städte wie Toronto und San José, die eine besonders vielfältige Bevölkerung aufweisen. Europäische Städte haben sich angeschlossen. Herkömmliche Ansätze für Integration stellen sich oft mehr oder minder in sich geschlossene, homogene ethnische Gruppen vor, für die entsprechende Einzelprogramme aufgelegt wurden, zum Beispiel für Ausgesiedelte oder Türkischstämmige. Vielfaltspolitik ist mehr oder anders als Sonderprogramme, zum Beispiel für syrische Geflüchtete. Sie sollte Gender, Behinderung und andere Diskriminierungsmerkmale einbeziehen.

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Merx, Von Integration zu Vielfalt, 3.

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Auswirkungen der langfristigen Einwanderung auf die Diakonie

So viele neue Bevölkerungsteile, neue Themen auf der Agenda, neue Interessengruppen fordern die Diakonie Deutschland in ihren vielfältigen Handlungsfeldern auch und gerade als konfessionell geprägtes evangelisches Werk heraus. Was passieren wird, hängt vor allem von der Diakonie und ihren Trägern und Einrichtungen selbst ab. Zu den vielen bestimmenden Faktoren gehört dabei das evangelische Selbstverständnis – wofür mit den oben angesprochenen Grundsatzpositionen von 2015 eine gute Basis gelegt wurde – und im Zusammenhang damit die konfessionellen Realitäten der Einwanderungsgesellschaft. Im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen zurzeit die Muslime. Einer Studie des Bundesinnenministeriums zufolge leben vier Millionen Muslime in Deutschland, mit verschiedenen Glaubensrichtungen. Die Bundesregierung wünscht den Aufbau einer islamischen Wohlfahrtspflege und eines entsprechenden Verbands. Die Dynamik, die die von ihr initiierte Deutsche Islamkonferenz ausgelöst hat, kann helfen, die Herausbildung der Identität eines „deutschen“ Islams zu fördern. Von der Einwanderung zahlenmäßig am meisten profitiert haben dürfte bislang die katholische Kirche. Die Katholische Bischofskonferenz schätzt das Volumen auf vier bis fünf Millionen Menschen katholischer Zugehörigkeit oder Herkunft. Bemerkenswert ist aber auch die einwanderungsbedingte Entwicklung von anderen christlichen Denominationen, darunter 1,5 Millionen orthodoxe Christen: griechisch-, russisch-, ukrainisch-, rumänisch-, neuerdings auch syrischorthodoxe und andere. Zudem kamen etwa ebenso viele Charismatische und Pfingstkirchliche mit afrikanischer und anderer Herkunft zur Bevölkerung hinzu. Sie und die Orthodoxen, zusammen also etwa drei Millionen einer christlichen Kirche oder Gemeinde zumindest kulturell Angehörende, verfügen über keine eigenen Wohlfahrtsverbände, die die Identität als Glaubensgemeinschaft stärken könnten. Allerdings dürften örtlich eine Reihe von Angeboten unter dem Dach der Diakonie bereits existieren. Unter den Eingewanderten sind außerdem etwa zwei Millionen Evangelische, vornehmlich Spätausgesiedelte. Die Konsequenzen, die sich aus der zunehmenden Vielfalt christlicher Denominationen für Verfasstheit und Organisation von Wohlfahrtsangeboten ergeben, sind bislang kaum im Blick. Die Diakonie könnte langfristig davon profitieren, indem sie Zugänge und Bindungen zu den neuen Bevölkerungsgruppen entwickelt. Bereits heute ist die Diakonie Deutschland nicht nur das Werk der Evangelischen

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Kirche, sondern auch der Freikirchen, die dem Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung angeschlossen sind. In der Einwanderungsbevölkerung gibt es zwar auch Säkularisierungstendenzen, doch für Teile hat die mitgebrachte – auch christliche – Religion besondere Bedeutung: etwa indem sie Ankerpunkte für die Bildung postmigrantischer Identitäten bietet. Wenn also die Entwicklung der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung für das zukünftige Gewicht der Diakonie eine Rolle spielen sollte, dann dürfte die Einwanderung zumindest einen weniger negativen Effekt als die Säkularisierung haben, wenn nicht sogar einen positiven. Die Frage ist nun, in welcher Weise etwa Menschen orthodoxer und pfingstlerischer Glaubensrichtungen beim Ankommen in der neuen Gesellschaft wahrgenommen und ggf. unterstützt werden, zumal wenn sie sich als Opfer religiöser Verfolgung in Deutschland aufhalten wie zum Beispiel syrische Christen. Wie werden sich ihre Kirchen- und Gemeindestrukturen in der neuen Gesellschaft verorten, welche Identitäten werden sie fördern? Wird es neben einem deutschen Islam auch deutsch-russische oder deutsch-syrische Orthodoxien geben? Wie werden sich die mehrere hundert internationalen evangelikal und pfingstlerisch geprägten Gemeinden entwickeln, die zur Buntheit der „Majority-Minority-Cities“ beitragen? Da kann gesellschaftspolitischer Diskussionsbedarf oder sogar Sprengstoff entstehen. Die Herausforderung, Freiheitsrechte, Gleichstellung von Frauen und Demokratie als Werte zu vermitteln, stellt sich für alle Teile der Gesellschaft unabhängig von der Herkunft, bei Alteingesessenen, Muslimen wie auch bei Eingewanderten mit christlichem Hintergrund. Vielleicht müssen aber jeweils eigene Wege der Ansprache gefunden werden, um die Menschen tatsächlich zu erreichen. 7

Worin bestehen aktuelle Herausforderungen für die Diakonie? Eine Baustellenbesichtigung

Evangelische Kirche und ihre Werke müssen Identität und Selbstverortung in der neuen migrantisch und postmigrantisch geprägten Gesellschaft neu definieren. Wollen sie gut eingespielte Strukturen der autochthonen Bevölkerung bleiben oder verstehen sie sich als Einrichtungen des gesamten Gemeinwesens? Das muss bei der Beantwortung der aktuellen Frage dieser Tage, wie aus kirchlicher Sicht langfristig nachhaltig Niederlassungsperspektiven für Geflüchtete geschaffen werden können, mit geklärt werden. Klärungs- und Handlungsbedarf bestehen nach innen wie nach außen. Im Folgenden wird

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ein exemplarischer Schnelldurchgang über die organisationspolitischen sowie die allgemein gesellschaftspolitischen Baustellen versucht. 8

Diakonie für Andere, Diakonie mit Anderen, Diversity Management

Diakonie beansprucht, für alle da zu sein. Niemand wird in ihren Einrichtungen aufgrund der Herkunft, Hautfarbe, Religion oder Weltanschauung abgewiesen. Organisationen und Unternehmen können sich professionell durch Prozesse interkultureller Öffnung oder Diversity Management auf die wachsende Vielfalt der Nutzerinnen und Nutzer einstellen. Multikulturelle Teams können dabei die betriebliche Effizienz verbessern. Mehrsprachige Informationsangebote, die Bereitstellung von Dolmetscherpools, barrierefreie und mehrsprachige Websites, niedrigschwellige mehrsprachige Infohotlines, die Beschilderung in Gebäuden durch Farbleitsysteme oder Piktogramme sind Beispiele weiterer Maßnahmen. Leitbildprozesse können die Initiierung von Diversity Management unterstützen. Ansporn kann darüber hinaus die Zeichnung der „Charta der Vielfalt“9 geben. Selbstverpflichtungen einzugehen hilft, gesellschaftliche und soziale Verantwortung auszudrücken. 9

Personalgewinnung und Gremienbesetzung

Von der Idee, dass Leitungsgremien einen Mindestanteil von PoC aufweisen, sind wir noch weit entfernt, geschweige denn von dafür geeigneten Gleichstellungsmaßnahmen. Macht es für den Anfang Sinn, dass wenigstens die Gremien und Kommissionen, die mit flüchtlingspolitischen und Einwanderungsfragen zu tun haben, zur Hälfte mit Eingewanderten besetzt werden? Sofort tauchen Fragen zu den Details auf: Welche Kriterien soll es geben? Würden sich Türkischoder Arabischstämmige durch Ausgesiedelte vertreten fühlen? Wie sind Schwarze Menschen oder Unionsangehörige, die schon seit Generationen hier leben, zu berücksichtigen? Sind starre Quoten der richtige Weg? Im Bereich der Geschlechterparität sind solche Ansätze jedenfalls nicht gänzlich unbekannt oder es haben sich infor9

Die Charta der Vielfalt ist eine Initiative zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen und Institutionen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel als Schirmherrin. Mehr als 2.250 Unternehmen und öffentliche Einrichtungen haben die Charta bereits unterzeichnet.

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melle Übereinkünfte durchgesetzt. Immerhin: Es reichen Antworten auf Zeit. Denn schon allein, weil die Einwanderungsgesellschaft ständigem Wandel unterliegt, werden immer wieder neue Aushandlungsprozesse nötig sein. Im Personalbereich können Betriebs- oder Dienstvereinbarungen für Chancengleichheit und Vielfalt Verbindlichkeit schaffen. 10

Gleichstellungsdaten erheben

Eine wichtige Voraussetzung für passgerechte Gleichstellungsmaßnahmen sind Instrumente des Monitorings für regelmäßige Bestandsaufnahmen und Fortschrittsanzeigen. Auch Wohlfahrtsorganisationen werden zunehmend gefragt werden, wie sie die Einwanderungsgesellschaft und postmigrantische Gesellschaft in ihrem Personalspiegel abbilden. Das Empowerment Eingewanderter ist in zahlreichen Förderrichtlinien und Projektanträgen als Ziel enthalten. Nun ist es Zeit, Bilanz zu ziehen, wie viel für die Teilhabe und Chancengleichheit tatsächlich erreicht wurde. Dafür bedarf es einer verbesserten Datengrundlage: Gleichstellungsund Partizipationsdaten sind erforderlich. Wie die Frauenbewegung für die Gleichstellung der Geschlechter, so fordern heute auch PoC die Erhebung von solchen Daten. Noch schwieriger als konsensuale Geschlechterkategorien sind allerdings auf Einwanderung bezogene Kategorien. Der öffentliche Dienst stellt in Umsetzung des „Nationalen Aktionsplans Integration“ von 2012 zunehmend Daten zum Migrationsstatus seiner Beschäftigten zur Verfügung. Die „Menschen mit Migrationshintergrund“ sind jedoch eine absolut inhomogene Gruppe mit äußerst verschiedenen Anteilen an gesellschaftlicher Partizipation, die auch keine Anzeichen gemeinsamer Identität aufweist. PoC fordern daher gruppenspezifische Bestandsaufnahmen von Diskriminierung.10 Mangels ausentwickelter Alternativen stehen zurzeit nur die Kategorien „deutsch / ausländisch“ und „Migrationshintergrund ja / nein“ zur Verfügung. „Treffsicherere“ Kategorien müssen daher entwickelt werden, unter Einbeziehung der Betroffenen. Da es bei Bevölkerungsdaten immer auch um Verfügungsmacht und Deutungshoheiten geht, liegt es im Interesse der Betroffenen, gruppenspezifische Daten nur auf Basis von Freiwilligkeit und Selbstidentifikation zu erheben. 10

Vgl. Netzwerk Deutsche Menschenrechtsorganisationen, Diskriminierung, 10 f.

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Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch ein innerbetriebliches formelles Beschwerdemanagement, da aus ihm besonders solche Gleichstellungsdaten gewonnen werden können, auf die es in der Praxis ankommt. Zu ergänzen wäre es durch überbetriebliche Beschwerdestellen für Geflüchtete und für alle anderen, die Opfer rassistischer Taten wurden. 11

Gemeinwesendiakonie

Teilhabegerechtigkeit entscheidet sich im kommunalen Bereich. Staat und Wohlfahrtsorganisationen reagieren auf die Problemmeldungen mit Konzepten der Stadtentwicklung, der Sozialraumorientierung, des Quartiersmanagements oder der „Sozialen Stadt“. Für die Diakonie ist der Ansatzpunkt die „Gemeinwesendiakonie“11. Sie macht sich darin zum Partner, zum Teil eines Netzwerks sozialer Beziehungen im Quartier. Mit dem aktuellen Jahresthema unter der Überschrift „Wir sind Nachbarn. Alle“ wirbt der Bundesverband für ein Miteinander im Gemeinwesen. Dort ist auch der Ort, Beziehungsnetze zu migrantischen und postmigrantischen Organisationen aufzubauen, mit dem Ziel, „eine Selbst-Repräsentation marginalisierter Communities“12 zu ermöglichen und sie in die kommunalen Aushandlungsprozesse einzubeziehen. 12

Rassismuskritische Bildungsarbeit und inklusive Narrative

Damit das Zusammenleben im örtlichen Gemeinwesen gut funktioniert, müssen oft unerkannt lauernde Barrieren überwunden werden, die aus den oben angesprochenen Altlasten von Kolonialismus und Rassismus stammen. Dabei kann rassismuskritische Bildungsarbeit helfen, die auch innerbetrieblich sinnvoll ist. Darunter sind Workshops zu verstehen, die unbewusste Vorurteile und Denkmuster zum Vorschein bringen. Die Diakonie Württemberg hat auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet.13 Ebenso zu nennen ist die Duisburger Organisation Phoenix, die sich besonders das Empowerment Benachteiligter zur Aufgabe gemacht hat.14 11

Vgl. Diakonisches Werk der EKD, Handlungsoption, sowie Borck / Giebel / Homann, Wechselwirkungen. 12 Kien Nghi Ha, ‚People of Coulor‘, 6. 13 Vgl. Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg, Woher komme ich? 14 Phoenix e.V. bietet Anti-Rassismus-Trainings und Empowerment-Trainings an; vgl. http://www.phoenix-ev.org/.

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Es reicht nicht, das Schuldbesetzte und Trennende ins Bewusstsein zu bringen. Es gilt auch, Verbindendes zu schaffen. Ein von Naika Foroutan und anderen bekannt gemachter Ansatz ist, „gemeinsame Narrative“15 zu pflegen und weiterzugeben. Die gemeinsame Bewältigung des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten nach der Wende war eine solche verbindende Geschichte, die die Türkisch-Deutschen und anderen Neuen Deutschen einbezog. 2006 geriet der Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft zu einem „Sommermärchen“, in dem die ursprünglich aus der Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts stammenden Schwarz-Rot-Gold-Farben herkunftsübergreifend zum Einsatz kamen. In jüngster Zeit könnten, trotz Einschränkungen, auch die Willkommensinitiativen für Geflüchtete herkunftsübergreifend als ein gemeinsames nationales Erlebnis gefeiert werden. Theologisch weist die Idee von gemeinsamen Narrativen übrigens auch auf die Rede von der gemeinsamen Stadt, die in der Apokalypse als Leitbild auftaucht (Offb. 21,2). Die stets Ende September ausgerichtete Interkulturelle Woche besitzt das Potenzial, verbindende Geschichtenerzählung massenhaft auf kommunaler Ebene zu pflegen. Literatur Borck, Sebastian / Giebel, Astrid / Homann, Anke, Wechselwirkungen im Gemeinwesen. Kirchlich-diakonische Diskurse in Norddeutschland, Berlin 2016. Daimler / BP Europa SE / Deutsche Bank / Deutsche Telekom, Charta der Vielfalt, 2006, online: http://www.charta-der-vielfalt.de/ startseite.html (Zugriff: 11.7.2016). Diakonisches Werk der EKD, Handlungsoption Gemeinwesendiakonie, Diakonie Texte 12, Stuttgart 2007. Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V. (Hg.), Woher komme ich? Reflexive und methodische Anregungen für eine rassismuskritische Bildungsarbeit, Stuttgart 2014, online: http://www.diakonie-wuerttemberg.de/fileadmin/Medien/Pdf/ Mg_Rassismuskritische_Broschuere_vollstaendig.pdf (Zugriff 11.7.2016). Dilmaghani, Farhad / Eichenhofer, Johannes, Eine Einwanderungsverfassung für die Einwanderungsgesellschaft, Materialheft zur Interkulturellen Woche 2016, Frankfurt a.M. 2016, 24–25, online: http://www.interkulturellewoche.de/heft/2016 (Zugriff 11.7.2016). 15

Foroutan u.a., Deutschland postmigrantisch, 48.

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Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Religiöse Vielfalt als gesellschaftlicher Reichtum, Berlin 2015, online: https:// www.diakonie-katastrophenhilfe.de/pressemeldung/2015religioese-vielfalt-als-gesellschaftlicher-reichtum.html (Zugriff 16.7.2016). Foroutan, Naika / Canan, Coşkun / Arnold, Sina / Schwarze, Benjamin / Beigang, Steffen / Kalkum, Dorina, Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität. Erste Ergebnisse, hg. von der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2014, online: https://www.projekte.hu-berlin.de/de/junited/deutschlandpostmigrantisch-1/ (Zugriff 11.7.2016). Kien Nghi Ha, ‚People of Color‘ als Diversity-Ansatz in der antirassistischen Selbstbenennungs- und Identitätspolitik, online: https://heimatkunde.boell.de/2009/11/01/people-color-alsdiversity-ansatz-der-antirassistischen-selbstbenennungs-und (Zugriff 11.7.2016). Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive, Hannover 2015. Merx, Andreas, Von Integration zu Vielfalt. Kommunale Diversitätspolitik in der Praxis. Dokumentation, FES Fritz-Erler-Forum Baden Württemberg, Stuttgart 2013. Netzwerk Deutsche Menschenrechtsorganisationen (Hg.), Diskriminierung in Deutschland, Parallelbericht an den UN-Antirassismusausschuss, Berlin 2015, online: www.rassismusbericht.de (Zugriff 25.8.2016). Neue Deutsche Organisationen (Hg.), Forderungen der Neuen Deutschen Organisationen vom Bundeskongress „Deutschland – weiter gedacht“, Februar 2016, online: http://neue-deutsche-organi sationen.de/de/positionen/ (Zugriff 11.7.2016). Stadt Frankfurt a.M. – Der Magistrat – Bürgeramt (Hg.), Materialien zur Stadtbeobachtung, Heft 20, Frankfurt a.M. 2015, online: http://frankfurt.de/sixcms/media.php/678/02_Bevoelkerung.24303 95.pdf (Zugriff 25.8.2016).  

Interview mit Cornelia Füllkrug-Weitzel

Flucht- und Migrationsursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge – was können wir tun?

Welche Ursachen gibt es für Flucht und Migration weltweit? Migrationsbewegungen sind in der Menschheitsgeschichte ein Normalfall. Die Gründe für Migration sind vielfältig – bessere Einkommensmöglichkeiten sind ein wesentliches Motiv. Längst nicht jeder Migrant ist ein Flüchtling. Zur Zeit haben wir es aber häufig mit Menschen zu tun, denen keine andere Wahl bleibt, als aus ihrem Heimatland zu fliehen. Aber die Not weltweit ist komplex, und darum sind es auch die Ursachen. Einerseits gibt es die Gründe, die in der Genfer Flüchtlingskonvention für einen offiziellen Flüchtlingsstatus anerkannt werden: Allein im vergangenen Jahr wurden 12,4 Millionen Menschen durch Konflikt oder Verfolgung vertrieben. Andererseits sind es Armut und Perspektivlosigkeit, die Männer, Frauen und ihre Kinder durch Migration zu überwinden suchen – wie unsere Vorfahren, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nach Brasilien oder in die USA ausgewandert sind. Migrant_innen unterliegen jedoch anderen völkerrechtlichen Bestimmungen als Flüchtlinge. Auch die extremer werdenden Folgen des Klimawandels machen die Heimat von immer mehr Menschen unbewohnbar, ohne dass diese Menschen offiziell als Flüchtlinge anerkannt werden. Das liegt auch daran, dass sie bisher in der Mehrzahl als Vertriebene im eigenen Land kaum international beachtet werden. Gemeinsam ist allen genannten Gruppen, dass sie mit der Entscheidung zu Flucht und Migration einen extrem schweren Weg antreten. Kein Mensch begibt sich ohne Not freiwillig auf die Flucht. Wer ist „schuld“ daran und hat deshalb Einfluss auf die Ursachen? Fluchtursachen liegen oft in schlechter Regierungsführung: Systematische Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierung, fehlender

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Minderheitenschutz, mangelnde Chancen zur politischen und ökonomischen Teilhabe sind individuelle oder gruppenbezogene Fluchtgründe, die von den jeweiligen Regierungen zu verantworten sind. Auch die gegenwärtigen großen Fluchtbewegungen sind zumeist von den Regierungen und Akteuren vor Ort ausgelöst. Sie sind bedingt durch gewaltsame Konflikte, Kriege und Vertreibung religiöser oder ethnischer Gruppen. Freilich sind Ausmaß und Entwicklung keines der gegenwärtigen großen Kriege ohne massive Interessen und mehr oder weniger direkte Einflussnahmen fremder Regierungen zu verstehen. Geostrategische Interessen spielen eine so große Rolle, dass man getrost von Stellvertreterkriegen sprechen kann. Im Mittleren und Nahen Osten geht es um die Vormachtstellung zwischen SaudiArabien und Iran, oder anders formuliert, zwischen Sunniten und Schiiten und ihren jeweiligen Verbündeten. Aber auch russische, amerikanische und europäische geostrategische und Wirtschaftsinteressen spielen hier eine Rolle. Chronische Armut und Hunger als Migrationsursachen sind zu einem nicht geringen Teil Folgen schlechter Regierungsführung. Zugleich werden sie aber auch durch Entwicklungen begünstigt, auf die die jeweilige Regierung wenig Einfluss hat. Dazu zählen ungerechte internationale Handelsbedingungen sowie aggressive Strategien global agierender Konzerne und fremder Regierungen zur Rohstoff- und Ressourcensicherung. Ein Beispiel dafür ist die jüngste Form des internationalen „landgrabbing“, das einheimischen Bauern ihres Landes – im nicht-juristischen Sinne – „enteignet“ und damit der Region die Einkommens- und Nahrungsgrundlage entzieht. In diesem Zusammenhang wäre der Begriff „Wirtschaftsflüchtlinge“ passend – und zwar in dem Sinne, dass diese Menschen durch die aggressive und unfaire Durchsetzung – z.B. europäischer, aber auch amerikanischer oder chinesischer – Wirtschaftsinteressen ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden. Konflikte entstehen aber auch im Zuge der Konkurrenz um rarer werdende natürliche Ressourcen wie Land und Wasser, die durch den Klimawandel verstärkt wird. Weil die Ressource Land immer knapper wird, zugleich aber immer mehr Flächen für den Anbau von Biosprit-Pflanzen belegt werden, kommt es zu Konflikten, die gewaltsam eskalieren können. Kleinbäuerliche Familien, die in ihrer Region seit Jahrzehnten ein Stück Land bewirtschaften, haben das Nachsehen. Oft ist ihr Land in keinem Bodenkataster verzeichnet, da es dergleichen in den meisten Ländern nicht gibt.

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Klimaflüchtlinge sind ansonsten Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr in ihrer Heimat leben können. Es sind Menschen, die an Flussmündungen oder auf kleinen Inseln leben, die durch Taifune und den ansteigenden Meeresspiegel ihr Land verlieren. Oder ihr angestammtes Land wird durch ganz ausbleibende oder zu geringe und unregelmäßige Regenfälle kaum mehr bebaubar. Die Folgen des Klimawandels bekommen Menschen, die in Entwicklungs- und Schwellenländern leben, am meisten zu spüren – vor allem die besonders Armen unter ihnen. Lassen sich Angaben zur Zahl der „Klimaflüchtlinge“ machen? Über die Zahl gegenwärtiger und erwarteter „Klimaflüchtlinge / -migranten“ gibt es bisher kaum valide Zahlen. Schätzungen aus den Jahren 2006 bis 2009 gingen davon aus, dass sich die Zahl der „Klimaflüchtlinge“ im Jahr 2050 aufsummiert haben wird auf 200 bis 300 Millionen. Seit 2008 wurden im Schnitt jedes Jahr 26,4 Millionen Menschen durch umwelt- und klimabedingte Katastrophen vertrieben – mehr als durch Gewaltkonflikte. Was bedeutet es, Flüchtling oder Binnenflüchtling zu sein, und wo kommen die Flüchtlinge unter? Flucht bedeutet einen totalen Bruch mit dem Leben, wie es vorher war. Auf einmal werden Menschen nicht mehr als Individuen mit Würde, Potenzialen und Rechten, sondern als Teil einer Masse Schutzsuchender, Hilfsempfänger, Bettler oder als unerwünschte Last wahrgenommen. Was es bedeutet, auf der Flucht zu sein, haben wir in den letzten Monaten mit drastischen Bildern von Ertrunkenen und Erstickten vor Augen geführt bekommen. Wir haben verstanden, dass Flucht lebensgefährlich sein kann: Flüchtlinge riskieren ihr Leben und müssen krasseste Entbehrungen ertragen. Wie sehr sie auf der Flucht und an den Orten, an denen sie unterkommen, auch ihre Würde und ihre seelische und körperliche Unversehrtheit inklusive schwerer Traumatisierung riskieren, davon wissen wir meistens nichts. Und dass das nicht nur kurze Zeit dauert, ist wohl auch vielen von uns nicht bewusst: Fluchtsituationen halten immer Jahre, oft Jahrzehnte an, weil die Ursachen fortbestehen. Häufig ist Rückkehr ausgeschlossen. Gleichzeitig wird aber das Ankommen oft verwehrt oder zumindest schwer gemacht.

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Wie stellt sich die Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten weltweit dar? Ende 2015 zählte der UNHCR mehr als 65,3 Millionen Menschen, die sich vor Kriegen, Konflikten und Verfolgung auf die Flucht begeben haben. Die Flüchtlingsaufnahme ist global extrem ungleich aufgeteilt: 2015 wurden neun von zehn Flüchtlingen – also 86 Prozent – in Entwicklungsländern, meist in Nachbarländern, aufgenommen. Weit mehr als die Hälfte von ihnen, nämlich 41 Millionen, sind innerhalb des eigenen Landes als sogenannte „Intern Vertriebene“ (Internally Displaced People) unterwegs. Insgesamt ein Viertel der Flüchtlinge hat sogar in den allerärmsten Ländern der Welt Aufnahme gefunden – in Ländern also, deren Bevölkerung selbst das Allernötigste fehlt! Für Syrien- und Irakflüchtlinge ist die Türkei das größte Aufnahmeland vor dem Libanon und Jordanien. Während in der Türkei im Jahr 2015 mindestens 2,5 Millionen Flüchtlinge Aufnahme fanden, in Pakistan 1,6 Millionen, in Libanon 1,1 Millionen und in Iran 979.400, haben in der gesamten Europäischen Union im vergangenen Jahr lediglich 1,26 Millionen Menschen Asyl gesucht. Global finden die wenigsten Flüchtlinge Aufnahme in Flüchtlingscamps. Weit über 80 Prozent sind auf Gebäuderuinen, leer stehende Lagergebäude, Garagen, Erdhöhlen oder Gastfamilien angewiesen. Und wir erleben eine ungeheure Steigerungsrate. 2015 flohen im Durchschnitt pro Tag 34.000 Menschen. Gleichzeitig konnten im Jahr 2015 nur 201.400 Flüchtlinge in ihre Heimat zurück – die meisten von ihnen nach Afghanistan, Sudan, Somalia oder die Zentralafrikanische Republik – alles Staaten, die weiterhin von Gewalt und Konflikt gezeichnet sind. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit kam aus nur drei Staaten: Syrien, Afghanistan und Somalia. Wie sieht die Versorgungslage für Menschen auf der Flucht aus? Flucht bedeutet permanente Unterversorgung mit Nahrung, medizinischen Mitteln, Bildungsmöglichkeiten. Die große Mehrheit der Flüchtlinge lebt außerhalb von Flüchtlingscamps und wird von niemandem versorgt, falls nicht Gastfamilien und andere Gemeinschaften mit ihnen freiwillig teilen. Häufig haben diese selbst kaum genug zum Leben. Ausreichend versorgt werden selbst Menschen in Flüchtlingslagern immer seltener, weil dem UNHCR und dem Welternährungsprogramm von den Geberländern nicht genug Mittel zugesagt und noch viel weniger dann auch wirklich zur Verfügung gestellt werden. Bei-

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de UN-Organisationen sind nicht ausreichend mit Mitteln ausgestattet, um die Versorgung der Schutzsuchenden zu gewährleisten. Die Finanzen zu sichern, wäre z.B. im Fall der Nachbarländer Syriens das Minimum, um den Schutzsuchenden vor Ort ein Überleben zu ermöglichen, ohne dass sie gezwungen sind, eine erneute Flucht nach Europa zu riskieren. Dennoch tut sich die Staatengemeinschaft schwer. Welche Rechte auf Versorgung und Schutz haben Menschen auf der Flucht? Solange Flüchtlinge nicht registriert sind, sieht sich kaum ein Staat in der Verantwortung, ihre Rechte, Versorgung und Schutz zu garantieren. Und auch die UN-Hilfsorganisationen erreichen sie nicht. Das macht sie „vogelfrei“ – zu Opfern von Schlepperbanden und jeder anderen Form der Schattenwirtschaft im Zusammenhang mit Zwangsprostitution, Sklavenarbeit, Organhandel, Zwangsadoption oder verheiratung. Frauen und Kinder, die global die absolute Mehrheit der Flüchtlinge stellen, sind – zumal wenn unbegleitet – extremen Gefährdungen auf der Flucht ausgesetzt. Zugleich gilt „kein Recht auf nichts“: Sie können keine Ansprüche auf Versorgung oder Zugang zu sozialen und medizinischen Diensten geltend machen. Die schlechten Bedingungen erhöhen die Sterblichkeit von Gebärenden und Säuglingen sowie den Ausbruch von Seuchen. Starke Mangelund Unterernährung führen zu Entwicklungsschäden. Kinder, Jugendliche und Studierende fallen für Jahre aus jedwedem Bildungssystem heraus, die meisten endgültig. Einkommensmöglichkeiten existieren in den armen Aufnahmeländern schon für die einheimische Bevölkerung kaum. In den reichen Aufnahmeländern ist den Flüchtlingen häufig der legale Zugang zu den offiziellen Arbeitsmärkten verwehrt. Das lässt ihnen den „Markt der Schattenwirtschaft“ oft als einzigen Ausweg erscheinen. Wie kann und muss Flucht- und Migrationsursachen entgegenwirkt werden? Die Bekämpfung der Flucht- und Migrationsursachen darf nicht mit Abwehrpolitik und der Auslagerung von Flucht- und Migrationskontrolle an Drittstaaten verwechselt werden, wie es häufig in der politischen Rhetorik geschieht. Eine von Brot für die Welt schon im Dezember 2013 mitveröffentlichte Studie „Im Schatten der Zitadelle. Der Einfluss des europäischen Migrationsregimes auf Drittstaaten“ zeigt mit exemplarischen

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Fallstudien, wie fatal sich die europäische Flucht- und Migrationspolitik auf Schutzsuchende auswirkt. Und sie zeigt, wie sie die Gesellschaften und die politische Entwicklung in den Transit- und Herkunftsländern negativ beeinflusst, den sozialen Zusammenhalt in den betroffenen Gesellschaften gefährdet, nachhaltige Entwicklungspotenziale dort zerstört und so neue Unsicherheit – und mithin auch neue Fluchtgründe – schafft. Der Teufel wird mit dem Beelzebub ausgetrieben. Sicher, um Flucht und erzwungener Migration vorzubeugen, braucht es mehr Entwicklungszusammenarbeit, die gute Lebensbedingungen schafft. Und dennoch muss klar werden, dass dies nicht nachhaltig gelingen kann, wenn bzw. solange der Entwicklung eines Landes von außen permanent die Basis entzogen wird. Entwicklungshilfe allein wird nicht ausreichen. Vielmehr muss Fluchtursachen in allen politischen Handlungsfeldern (z.B. in der Außenwirtschafts-, Handels-, Klima-, Waffenexport- und Menschenrechtspolitik) entgegengewirkt werden, die strukturelle Rahmenbedingungen beeinflussen. Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um gewaltsame Konflikte zu verhindern oder zu beenden? Vor allem sollte in den Frieden und nicht in den Krieg investiert werden! Mit der Zunahme von militärischen Interventionen wächst die Vorstellung, dass Frieden „von oben“ hergestellt werden kann. Es gibt aber bisher keinerlei Nachweis effektiver nachhaltiger Konfliktbewältigung in den neueren Kriegen dieses Jahrtausends durch militärische Interventionen. Wohl aber konnten 2014 40 Prozent aller Konflikte, die schon gewaltsame Züge angenommen hatten, mit gewaltfreien Maßnahmen deeskaliert und schließlich politisch gelöst werden. Militärische Interventionen können niemals von sich aus Frieden herstellen. Sie können bestenfalls die Waffen zum Schweigen bringen. Die mühsame Aufgabe des gerechten Interessenausgleichs, des Abbaus extremer sozialer Ungleichheit, der Versöhnung, der Schaffung friedensfähiger politischer und gesellschaftlicher Strukturen und nachhaltiger Entwicklung ist jedoch nur politisch zu lösen. Sie muss im Wesentlichen von der betroffenen Gesellschaft und Regierung selbst geleistet werden. Frieden muss „von innen“ wachsen, kann aber von außen durch politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Frieden, Menschenrechte und Entwicklung begünstigen und nicht weitere Gewaltmotive und -mittel exportieren, und durch

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aktive Diplomatie, finanzielle und personelle Unterstützung der lokalen / nationalen Akteure verstärkt werden. Welchen Beitrag kann die deutsche Politik in diesem Zusammenhang leisten? Deutschland sollte mit seinen wissenschaftlichen Instituten zur Politikberatung mehr Kapazität aufbauen, um Konflikttrends frühzeitig zu antizipieren und dann – in einer Art systematisierter Chancenanalyse – in der jeweiligen gegebenen Konfliktkonstellation konstruktive Prozesse, Akteure und Strukturen in Zivilgesellschaft und Politik in der betroffenen Region zu identifizieren. Im bereits eingetretenen Krisenfall wäre aktive Diplomatie ohne ideologische Scheuklappen unumgänglich. Leider galt seit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon im September 2001 mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“ ein von den USA vorgegebenes Dialogverbot mit sogenannten Islamisten. Das führte zu einer langen Ausgrenzung islamischer Akteure aus den Friedensbemühungen in vielen Ländern. Verpasst wurden so viele Möglichkeiten, die zu einem frühzeitigen, noch aussichtsreichen Zeitpunkt zur Konfliktschlichtung beigetragen hätten – z.B. in Somalia oder in Afghanistan. In der Deklaration zur neuen globalen UN-Entwicklungsagenda wird hervorgehoben, „die Anstrengungen in Konfliktprävention und Friedenskonsolidierung zu verdoppeln“. Im nationalen Umsetzungsplan der Sustainable Development Goals sollte die Bundesregierung sich verpflichten, mindestens ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Frieden und Entwicklung zu investieren – plus zusätzlicher Klimafinanzierung. Krisenprävention und Friedensförderung gehören ins Zentrum deutscher Politik. Dafür wäre es hilfreich, endlich ein Leitbild zur Friedenspolitik zu erarbeiten, Ressourcen für konfliktsensible Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen, flexiblere Finanzierungsinstrumente für Friedensförderung zu stärken und für den Gesamtbereich deutlich mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Deutschland sollte die beiden internationalen Verträge, die den Waffenhandel begrenzen sollen, Non Proliferation Treaty (NPT) und Arms Trade Treaty (ATT), aktiv umsetzen und endlich eine deutlich striktere Rüstungsexportpraxis walten lassen. Es braucht klare Regelungen für eine schrittweise Verringerung von Ausfuhren aller Exportländer. Und es braucht eine effektive Endverbleibs-Kontrolle von deutschen Rüstungsexporten. Deutsche Waffen – nach Saudi-Arabien geliefert – tragen in Libyen und Mali gerade dazu bei, dass neue Flüchtlingsbewegungen entstehen.

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Eine besonders dringende Aufgabe ist die massive Einschränkung der Verbreitung von Kleinwaffen. Am besten wäre ein generelles ExportVerbot. Deutschland ist einer der fünf größten Kleinwaffenexporteure der Welt. Dringend notwendig sind internationale Verhandlungen, die zum Ziel haben, internationale Finanzströme (SDG 16.4) durch globale Regelungen zu unterbinden, um damit die Finanzierung gewaltsamer Konflikte einzudämmen. Wie beurteilen Sie die Situation in Syrien? Die Zahl der Flüchtlinge wird sich nicht verringern, solange keine erfolgversprechenden politischen Bemühungen in Sicht sind, den Bürgerkrieg zu beenden. Humanitäre Korridore – so dringend sie benötigt werden – geben den Menschen keine Perspektive. Die Zahl der Flüchtlinge aus der Region wird weiter steigen, solange die Nachbarländer Syriens so gnadenlos mit den Flüchtlingen alleine gelassen und überfordert sind. Das heißt zum einen: Der Krieg in Syrien muss endlich beendet werden mithilfe eines international vermittelten Abkommens. Dieses muss nicht nur die wichtigen syrischen Akteure einbeziehen, sondern auch die großen Mächte, die auf syrischem Boden einen Stellvertreterkrieg austragen oder ihre eigenen politischen Interessen dort verfolgen. Dazu bedarf es umfangreicher internationaler diplomatischer Bemühungen und erheblichen Drucks. Das heißt zum anderen, sich international solidarisch mit den Nachbarländern Syriens zu zeigen, um die humanitäre Krise kurz- und mittelfristig zu bewältigen und die Flüchtlinge in das Sozial- und Bildungssystem und den Arbeitsmarkt (wo möglich) zu integrieren. Schließlich muss das internationale humanitäre Hilfssystem ausreichend finanziert werden. Noch einmal das Stichwort „Klimaflüchtlinge“ – was sind die wichtigsten Aufgaben? Ein wesentlicher Lösungsansatz zur Ursachenbekämpfung von Flucht liegt im Klimaschutz! Wer dazu beitragen will, die Zahl der potentiellen „Klimaflüchtlinge“ weltweit in Grenzen zu halten, sollte den Kampf gegen den Klimawandel und das Eintreten für ausreichend Finanzmittel für Präventions- und Anpassungsmaßnahmen und für Kompensation sehr ernst nehmen und so für Klimagerechtigkeit eintreten.

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Folgen des Klimawandels machen Flucht und Migration für immer mehr Menschen notwendiger und wahrscheinlicher. Diese Tatsache ist international zu lange ignoriert worden. Und „Klimaflucht“ ist im Völkerrecht noch kein anerkannter Fluchtgrund. Wir spüren vom Klimaflucht / -migrations-Phänomen noch wenig, weil die meisten klimabedingten Migrant_innen aufgrund mangelnder Ressourcen im eigenen Land oder in ihrer Region geblieben sind, statt weite Reisen auf sich zu nehmen. Geplante und gut organisierte Migration und auf Rechten basierte Umsiedlungsprozesse – in der Regel im eigenen Land oder in der Region – können den Betroffenen helfen, eine neue, längerfristige Perspektive aufzubauen. Die Kosten dafür können die meisten betroffenen Länder / Regionen aber aus eigener Kraft nicht tragen. Humanitäre Hilfe als kurz- und mittelfristiges Instrument zum Überleben akuter Krisen- und Notlagen im betroffenen Land und der umgebenden Region muss ausreichend und dauerhaft sein, um die Menschen auch in der – zumeist sehr langwierigen – Wiederaufbauphase zu unterstützen. Welche Rolle spielt bei den Klimaverhandlungen und den Klimaschutzplänen die Unterstützung armer Länder und Regionen? Wie schätzen Sie das Abkommen von Paris ein? Angemessene finanzielle Unterstützung der armen, vom Klimawandel am meisten betroffenen Länder bei Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel werden seit langem bei internationalen Klimaverhandlungen gefordert. Auf der Klimakonferenz in Paris blieben die Hauptverursacher des Klimawandels, die Industrienationen, aber völlig unverbindlich mit ihren Zusagen – keine Basis für Entwicklungsländer, beherzte Maßnahmen anzupacken! Nun hängt alles an ehrgeizigen Nationalen Klimaschutzplänen. Sonst werden Menschen zunehmend auf eigene Faust in anderen Gegenden der Welt ihre Zukunft suchen müssen. Der im Sommer öffentlich gewordene Entwurf für den Klimaschutzplan 2050 in Deutschland ist noch zu schwach, um einen ernsthaften Beitrag zu der Pariser Verpflichtung darzustellen, die globale Erwärmung auf mindestens unter 2 Grad zu begrenzen. Noch immer bekennt sich Deutschland z.B. nicht zum Ausstieg aus der Kohle. Was kann Deutschland insgesamt dafür tun, dass Menschen nicht aus ihrer Heimat flüchten müssen? Deutschland ist mit den Auswirkungen seiner Agrar-, Außenwirtschafts-, Handels-, Rohstoff-, Energie- und Klimapolitik wie mit sei-

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nen Waffenexporten an der Entstehung von Fluchtursachen beteiligt. Die Bundesregierung kann mit einer fairen Gestaltung der eigenen und der europäischen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und mit einem entschiedenen Eintreten die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass weniger Menschen ihre Heimat unfreiwillig verlassen müssen. Notwendig ist eine kohärente Ausrichtung aller außenwirksamen Politik Deutschlands darauf, dass sie in anderen Teilen der Welt nicht die Menschenrechte verletzen, nicht Gewalt anheizen, nicht die wirtschaftliche und soziale Entwicklung untergraben. Das aber würde ein anderes als rein neoliberales Paradigma globalen Wirtschaftens bedeuten. Eine solche Kohärenzforderung bezüglich der Auswirkungen allen Regierungshandelns auf die Menschenrechts- und Armutslage fordern die Kirchen und ihre Werke in Deutschland schon lange. Sie ist auch im EU-Lissabon-Vertrag verankert. Das Ziel, die Fluchtgründe zu beseitigen, verschafft der Forderung neue Dringlichkeit. Welche politischen Weichen müssten Ihrer Auffassung nach im Einzelnen noch gestellt werden? Unsere heutigen politischen Entscheidungen stellen die Weichen für zukünftige Entwicklung. Um Fluchtursachen beizukommen, könnten z.B. verbindliche nationale Umsetzungspläne für die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte helfen sowie der Einsatz für eine verpflichtende Zertifizierung von Mineralien und Rohstoffen aus Konfliktgebieten. Diese könnte entlang der gesamten Lieferkette sicherstellen, dass Schürfung und Handel nicht mit Menschenrechtsverletzungen und Gewalt einhergehen. So könnte der Flucht vor fatalen Auswirkungen der eigensüchtigen machtvollen Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen anderer Länder oder global agierender Konzerne in Entwicklungsländern wirklich wirkungsvoll entgegengetreten werden – nicht mit Sperranlagen und Zuschauen beim „Schiffe versenken“ internationaler Schieber. Freilich tut sich die Bundesregierung damit bei der gegenwärtigen Debatte um den diesbezüglichen Nationalen Aktionsplan extrem schwer. Der Lobbydruck der Wirtschaft, speziell des Bundesverbands der Deutschen Industrie, gegen jedwede Form von Verbindlichkeit ist gewaltig. Schließlich sollte Deutschland auch mit seinem Engagement auf UNEbene für eine menschenrechtsbasierte nachhaltige globale Entwicklung – wie sie die UN-2030-Agenda vorsieht – und mit einem ehrgeizigen eigenen Umsetzungsplan der globalen Nachhaltigkeitsziele langfristig zur Fluchtursachenbekämpfung beitragen. Ebenso wäre eine der Wirtschaftskraft und dem Verursacherprinzip angemessene

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Beteiligung an der internationalen Entwicklungs- und Klimafinanzierung ein wichtiger Beitrag, um Menschen in ihrem eigenen Land Existenzperspektiven zu erhalten oder neu zu eröffnen. Deutschland ist noch weit davon entfernt, 0,7 Prozent des Bruttonationalproduktes in Entwicklung zu investieren. Derzeit sind es nur 0,4 Prozent. Und das, obwohl die Kanzlerin immer wieder öffentlich beschwört, wie wichtig dieses Ziel sei. Die Regierung sagt nicht, wann das Ziel erreicht sein soll, und setzt außerdem noch auf private Investitionen statt auf öffentliche Mittel. Das Interview führten die Herausgeber_innen.

8 Dokumente

World Council of Churches, UNICEF, UNFPA, UNHCR

Europas Reaktion auf die Flüchtlings- und Migrantenkrise, von den Ursprungsorten über die Durchgangsstationen bis zur Aufnahme und Zuflucht: ein Aufruf zu gemeinsamer Verantwortung und koordiniertem Handeln

Am 18. und 19. Januar 2016 kamen Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen, UN-Organisationen und zivilgesellschaftlichen Bewegungen, darunter auch Kirchen und glaubensgestützte Organisationen, in Genf, Schweiz, zu einer hochrangigen Tagung über die Flüchtlings- und Migrantenkrise in Europa zusammen, organisiert durch den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und mitgetragen von UNICEF, UNFPA und UNHCR. Ziel der Konferenz war die Förderung grundlegender, auf Menschenrechten basierender koordinierter Antworten auf das Flüchtlings- und Migrantenproblem in Europa und die eigentlichen Ursachen der Vertreibung. Für die teilnehmenden glaubensgestützten Organisationen bot die Tagung Gelegenheit, Glaubensgrundsätze praktisch anzuwenden (insbesondere die Überzeugung, dass jeder Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist), indem sie die Menschenwürde und die Rechte aller Betroffenen ins Herz der Reaktionen rückten. Im Jahr 2015 kamen über eine Million Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten auf dem Land- oder Seeweg nach Europa, unter ihnen Menschen, die vor vielen gefährlichen und verzweifelten Situationen, insbesondere im Nahen Osten, in Asien und Afrika, geflohen waren. Die Flüchtlings- und Migrantenkrise wurde schon bald zu einer Krise der Kinder; diese machen gegenwärtig ein Drittel aller in Europa ankommenden Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten aus. Alle Kinder, unabhängig davon, wo sie sich befinden oder woher sie kommen, ob sie Flüchtlinge oder Migranten sind, haben ein Recht auf

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WCC / UNICEF / UNFPA / UNHCR

Fürsorge und Schutz ihrer Würde, ihrer Rechte und ihres Wohlergehens. Die Konferenz befasste sich mit Antworten auf die Krisen, in erster Linie in Europa, aber auch im umfassenden Kontext der weltweit 60 Millionen vertriebenen Menschen. Sie untersuchte die Fluchtwege als Ganzes, vom Ursprung über die Durchgangsstationen bis zum Ankunftsort, und erkannte die Herausforderungen an, mit denen die europäischen Regierungen und Gesellschaften konfrontiert sind, wenn sie ihre gesetzlichen Verpflichtungen nach dem internationalen Flüchtlingsrecht, den internationalen Menschenrechtsnormen und dem humanitären Völkerrecht einzuhalten suchen und gleichzeitig politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Anliegen berücksichtigen müssen. Die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer rufen die internationale Gemeinschaft zu einem stärkeren kollektiven Engagement zugunsten politscher Lösungen für Konflikte, Gewalt, Ungleichheit und Ausgrenzung auf, denn diese Ursachen liegen der heutigen, noch nie dagewesenen weltweiten Krise der Vertriebenen zugrunde. Insbesondere all jene, die in der Lage sind, etwas zur Beendigung der Kämpfe und zur Linderung des untragbaren Leides in Syrien zu tun, rufen wir auf, ihre politischen Differenzen zurückzustellen und sich den gemeinsamen Bemühungen um unverzüglichen Frieden anzuschließen. Der Schutz von Frauen und Mädchen vor sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt und Ausbeutung sowie ihr Zugang zu lebensrettenden Dienstleistungen im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit sind wesentliche Bestandteile einer humanitären Antwort auf die Krise und entscheidende Investitionen in die zukünftige Erholung und Resilienz. Die benachbarten Länder der Konflikte, vor denen die Flüchtlinge fliehen, tragen eine überproportional schwere Last durch die Aufnahme der Mehrheit der Flüchtlinge; ihre Rolle muss gewürdigt und diese Länder [müssen, G.S.] besser unterstützt werden. Die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer sind sich darin einig, dass die Linderung des Leides vertriebener Menschen eine gemeinsame Verantwortung ist, nicht nur in Europa, sondern auch anderswo. Dazu ist es unerlässlich, dass Regierungen, die Zivilgesellschaft, internationale Organisationen und andere konsequent und koordiniert zusammenarbeiten, um ein sicheres und menschliches Umfeld für Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten zu schaffen, um die unmittelbaren Bedürfnisse von Menschen abzudecken, die vor Krieg, verbreiteter Gewalt und Unterdrückung geflohen sind, und länger-

Ein Aufruf zu gemeinsamer Verantwortung

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fristig um ihre gesellschaftliche Einbeziehung und Integration zu fördern. Die Erweiterung und Förderung sicherer und legaler Wege für Flüchtlinge, die nach Europa kommen, ist dringend und von äußerster Wichtigkeit. Eine Schließung der nationalen Grenzen für Flüchtlinge bietet keine Lösung, weil dadurch die Verantwortung bloß an das nächste Land weitergereicht wird. Die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer rufen zu einer besseren Koordinierung und Zusammenarbeit Europas in seiner Antwort auf die Flüchtlings- und Migrantenkrise auf. Das gemeinsame EUAsylsystem muss dringend umgesetzt, gestärkt und verbessert werden. Eine koordinierte europäische Antwort ist erforderlich, um die Bedürfnisse der Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten zu erfüllen, einschließlich Schutz vor sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, Bildung für Kinder und Jugendliche sowie die spezifischen Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Frauen, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung und Schutz. Vor dem Hintergrund der Krise ist es wesentlich, die Grundsätze des Völkerrechts aufrechtzuerhalten. Alle Menschen, die vor Konflikten und Verfolgung fliehen, sind nach dem internationalen Flüchtlingsrecht berechtigt, Schutz suchen. Der Zugang zu einem fairen Asylverfahren darf nicht aufgrund von Staatsangehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Gesundheitszustand oder irgendeinem anderen Kriterium als der Notlage eingeschränkt werden. Eine Zusammenarbeit ist zudem dringend nötig, um sich fremdenfeindlichen, rassistischen und islamfeindlichen Erklärungen und Handlungen und der politischen Ausnutzung der Krise entgegenzustellen. Schließlich ist es wesentlich, dass unverzüglich Maßnahmen eingeleitet werden, um den Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten zu helfen, sich in ihre neuen Gesellschaften zu integrieren. Neben der Erwägung der gesetzlichen Verpflichtungen und der moralischen Prinzipien, die eine anteilnehmende und einladende Reaktion angesichts bedürftiger Menschen verlangen, ist hervorzuheben, dass die Beiträge, die Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten durch ihre Arbeit, ihre Kompetenzen und kreativen Kapazitäten leisten, für ihre Gastgebergemeinschaften von großem Wert sein können. Der Zivilgesellschaft, darunter auch glaubensgeschützte Organisationen, kommt in der Reaktion auf humanitäre Krisen eine einzigartige und substantielle Rolle zu. Eine bessere Abstimmung ihres Handelns auf die Initiativen von Regierungen und internationalen Organisationen und überdies eine verstärkte interreligiöse Zusammenarbeit, die die Stimmen und Fähigkeiten anderer Glaubensrichtungen einbringt,

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WCC / UNICEF / UNFPA / UNHCR

sind unverzichtbar, um die Bemühungen zur Sicherung des Überlebens, der Rechte und der Würde von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten zu maximieren. Wir fordern, dass diese Absichten in die Tat umgesetzt werden und dass die Stimmen und Ansichten der Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten angehört und so weit wie möglich berücksichtigt werden. Dies wird dazu führen, dass Rollen und Verantwortlichkeiten festgelegt, Informationen und Wissen, Ressourcen und Aktivitäten ausgetauscht werden und dabei auf den gegenseitigen Stärken und Vorteilen aufgebaut wird und man einander zur Rechenschaft zieht. Dafür sind konkrete Mechanismen für die strategische Planung, Umsetzung und Rechenschaftspflicht erforderlich ebenso wie ein Aktionsplan, der spezifische, messbare, erreichbare und zeitgebundene Ziele festlegt. Zu diesem Zweck rufen die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer die mittragenden Organisationen auf, sich gemeinsam für eine umfassendere Beteiligung und einen größeren Beitrag glaubensgestützter Organisationen an den Antworten auf die Flüchtlings- und Migrantenkrise auf Länder- und Regionsebene einzusetzen, aufbauend auf bereits eingeleiteten Initiativen, sowie vierteljährlich die Fortschritte bei der Bewältigung der auf dieser Konferenz angesprochenen Anliegen zu evaluieren und die Ergebnisse untereinander auszutauschen. Quelle: World Council of Churches / UNICEF / UNFPA / UNHCR (2016): Europas Reaktion auf die Flüchtlings- und Migrantenkrise, von den Ursprungsorten über die Durchgangsstationen bis zur Aufnahme und Zuflucht: ein Aufruf zu gemeinsamer Verantwortung und koordiniertem Handeln. 20. Januar 2016, online: http://www.oikoumene.org/de/resources/documents/ programmes/umer/mission-from-the-margins/migration/europes-response-to-the-refuge-crisis (Zugriff: 25.7.2016).

Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat – gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt

Aufruf: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Deutschland ist ein demokratisches und weltoffenes Land, eingebettet in die Europäische Union als Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft, den universellen Menschenrechten verpflichtet. In Deutschland leben seit Jahrzehnten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion zusammen. Der im Grundgesetz verankerte Schutz der Menschenwürde gilt für alle Menschen, gleich ob sie seit Generationen hier leben, zugewandert oder als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Wer in seiner Heimat aufgrund von Krieg und Verfolgung um Leib und Leben fürchten muss, hat Anspruch auf Schutz in Europa. Wir treten dafür ein, dass Deutschland auch weiterhin seine humanitären Verpflichtungen erfüllt. Zugleich steht außer Frage, dass wir unbedingt eine gemeinsame europäische Lösung brauchen, um Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen und den Anliegen der vielen schutzsuchenden Menschen gerecht zu werden. Kein Mitgliedstaat der Europäischen Union darf sich der gemeinsamen Verantwortung entziehen. Die Aufnahme und Integration der vielen Flüchtlinge sind verbunden mit großen gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen. Tausende von Bürgerinnen und Bürgern sowie die hauptund ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Behörden, Polizei, Hilfs- und Wohlfahrtsorganisationen leisten Beeindruckendes. Dieses Engagement steht für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die ungebrochene Hilfsbereitschaft zeugt davon, dass Solidarität und Mitmenschlichkeit zu den prägenden Werten unserer Gesellschaft gehören. Deutschland braucht erheblich mehr Investitionen in seine Zukunftsfähigkeit. Dies zeichnet sich bereits seit Langem ab, wird angesichts der hohen Flüchtlingszahlen aber immer dringlicher. Wir benötigen

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Allianz für Weltoffenheit

Investitionen in Bildung, Ausbildung und Beschäftigung, ausreichenden bezahlbaren Wohnraum, eine funktionierende öffentliche Infrastruktur sowie Sicherheit vor Gewalt. Menschen, die von Armut, Arbeitslosigkeit oder fehlender sozialer Absicherung betroffen sind, dürfen bei der Lösung der gegenwärtigen Herausforderungen nicht vernachlässigt werden. Alle müssen die gleiche Chance bekommen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen, ihre Integration und die Verhinderung von sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Spaltung sind eine Gemeinschaftsaufgabe. Bund, Länder und Kommunen, Wirtschaft und Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Organisationen der Wohlfahrtspflege sowie die gesamte Zivilgesellschaft müssen auch weiterhin Verantwortung tragen. Wir sind überzeugt, dass wir die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, gemeinsam bewältigen können. Ein friedliches Miteinander und die Integration in die deutsche Gesellschaft gelingen nur dann, wenn die Werte des Grundgesetzes und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens von allen akzeptiert werden. Dies bedeutet etwa, dass das Recht auf freie Ausübung der Religion ohne Unterschied anerkannt werden muss. Es bedeutet etwa, dass niemand die eigene kulturelle oder religiöse Prägung als Deckmantel missbrauchen darf, um die Grundrechte der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der Gleichberechtigung von Mann und Frau in Frage zu stellen oder Minderheiten zu diskriminieren. Dort, wo das Gewaltmonopol des Staates missachtet oder Straftaten begangen werden, müssen die Täter strafrechtlich verfolgt werden. Straftäter mit ausländischer Staatsangehörigkeit müssen gegebenenfalls mit der Beendigung ihres Aufenthalts in Deutschland rechnen. Viele Flüchtlinge werden für lange Zeit oder dauerhaft bei uns bleiben. Jeder Einzelne von ihnen muss als Mensch mit seinem Schicksal und seinen leidvollen Erfahrungen wahrgenommen werden. Ein nachhaltiger Integrationserfolg setzt ausreichende Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe sowie die Bereitschaft zur Integration voraus. Deutsch lernen ist dabei genauso wichtig wie ein möglichst früher Zugang zu Integrationsmaßnahmen, Bildung, Kultur, Arbeit und Sport. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige Integration von Flüchtlingen. Dafür sind möglichst betriebsnahe Maßnahmen, die den Einstieg in eine qualifizierte Berufsausbildung und deren erfolgreichen Abschluss ermög-

Aufruf: Die Würde des Menschen ist unantastbar

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lichen, genauso wichtig wie Qualifizierungsmaßnahmen zur Aufnahme einer Beschäftigung. Die Maßnahmen und Programme müssen zu einer Gesamtstrategie für die Schaffung ökonomischer und gesellschaftlicher Teilhabechancen zusammengeführt werden. Wir wollen Demokratie und Rechtsstaat stärken. Wir stehen für Solidarität und Weltoffenheit. Wir sind davon überzeugt: Jeder, der in unserem Land Schutz sucht, muss Anspruch haben auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren. Auch denjenigen, die wegen wirtschaftlicher Not und Elend nach Deutschland kommen und als Ergebnis eines rechtsstaatlichen Verfahrens keine Bleibeperspektive haben und deshalb in ihre Heimat zurückkehren müssen, ist mir Empathie und Respekt zu begegnen. Mit großer Sorge erfüllt uns die Tatsache, dass rechtpopulistische und rechtsextreme Gruppierungen das Thema Flucht und Migration derzeit dazu nutzen, Feindseligkeit zu schüren und unsere freiheitlich-demokratische Ordnung in Frage zu stellen. Jeder Form von Hass, Rassismus, Beleidigung oder Gewalt treten wir mit Entschiedenheit entgegen. Wir rufen dazu auf, – die Flüchtlings- und Einwanderungsdebatte sachlich und lösungsorientiert zu führen statt öffentlich Ressentiments zu schüren oder parteitaktische Interessen zu verfolgen, – menschenfeindlichen Äußerungen und Handlungen, gleich woher sie kommen und gegen welche Gruppe sie sich richten, entgegenzutreten, – rechtsextreme, menschenverachtende Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte, auf Polizistinnen und Polizisten, auf Vertreterinnen und Vertreter der Presse sowie Helferinnen und Helfer strafrechtlich konsequent zu verfolgen. Wir treten ein für – die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, – einen Dialog über kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede und die Schaffung von Räumen der Begegnung, – eine solidarische und nachhaltige Politik, die allen in Deutschland lebenden Menschen gerechte Teilhabechancen eröffnet, – ein verbessertes Bildungsangebot als Schlüssel für eine erfolgreiche gesellschaftliche Integration, – eine Flüchtlingspolitik, die im Einklang mit unseren humanitären und menschenrechtlichen Verpflichtungen steht und faire Asylverfahren garantiert,

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Allianz für Weltoffenheit

– den Schutz der Grundrechte, zu denen die Glaubens- und Gewissensfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit ebenso zählt wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau und das Diskriminierungsverbot, – den Schutz aller Menschen vor Gewalt, Menschenfeindlichkeit und Fremdenhass, – eine ausreichende finanzielle Vorsorge, damit die bestehenden und durch die Aufnahme von Flüchtlingen zusätzlichen Aufgaben von Bund, Ländern und Kommunen im Sinne einer nachhaltigen Integration erfüllt werden können, – die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols bei der Bekämpfung von Kriminalität und ein friedliches Miteinander ohne Gewalt, – ein Europa, dass die Menschenwürde schützt und Perspektiven für ein friedliches Zusammenleben schafft. Gerade in Krisenzeiten dürfen wir die rechtsstaatlichen, sozialen und humanitären Errungenschaften unserer Gesellschaft nicht aufgeben. Die Würde des Menschen zu schützen, ist unser Ziel. Deshalb engagieren wir uns mit vereinten Kräften für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtstaatlichkeit in Deutschland und Europa. Quelle: Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat – gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt (2016): Aufruf: Die Würde des Menschen ist unantastbar. 11. Februar 2016, online: http://www.allianz-fuer-weltoffenheit.de/ (Zugriff: 25.7.2016).

Gemeinsame Erklärung der Vertreterinnen und Vertreter der Städte und Kreise sowie die Superintendentinnen und Superintendenten im Ruhrgebiet

Zur Flüchtlingssituation im Ruhrgebiet

Unsere Gesellschaft ist derzeit besonders herausgefordert: Viele Menschen suchen in unserem Land Schutz vor Terror, Krieg und Verfolgung. Wir sind überaus dankbar für die vielfältige Hilfsbereitschaft – auch im Ruhrgebiet! Wir danken allen Bürgerinnen und Bürgern, allen Mitgliedern unserer Gemeinden für ihren beispiellosen Einsatz bei der Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen. Dieses beeindruckende Engagement braucht Förderung und Unterstützung von Politik, Wirtschaft und Kirche. Es ist ein Gebot der Humanität und der christlichen Verantwortung, Flüchtlinge aufzunehmen und unsere Gesellschaft gemeinsam mit ihnen weiter zu entwickeln. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass Flüchtlinge in unseren Städten und Gemeinden menschenwürdig untergebracht werden und ihnen Zugänge zum Arbeitsmarkt und den örtlichen Regeldiensten eröffnet werden. Die Kommunen erbringen erhebliche Leistungen bei der Unterbringung der Schutz suchenden Menschen. Sie kommen damit an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. So sind in NRW Land und Kommunen in einem intensiven Austausch darüber, wie die auskömmliche Finanzierung der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge gesichert werden kann. Aus unserer Sicht kommt es vor allem darauf an, dass die Kommunen in die Lage versetzt werden, den Herausforderungen angemessen begegnen zu können. Es darf keine Einschränkung kommunaler Leistungen geben. Vielmehr müssen die Kommunen gestärkt werden –

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Städte und Kirchenkreise im Ruhrgebiet

damit sie die Aufgaben Unterbringung und vor allem Integration auch bewältigen können. Dazu müssen Bund und Land die Kommunen umfassender unterstützen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass Asylverfahren fair, schneller und konsequenter durchgeführt werden. Flüchtlinge brauchen möglichst schnell Klarheit über ihre Perspektiven in Deutschland. Die derzeit langen Wartezeiten und rechtlichen Hürden verhindern, dass Flüchtlinge frühzeitig Sprachkurse und eine Ausbildung absolvieren sowie einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Schutzsuchenden eine qualifizierte und zuverlässige Begleitung und Förderung erhalten. Mit dieser Begleitung und Förderung können und sollen die Geflüchteten die Möglichkeit erlangen, ihren Alltag selbstständig zu gestalten und am Gemeinwesen teilzuhaben. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass in unserer Gesellschaft eine sachgerechte und am Wohl aller Menschen orientierte Auseinandersetzung stattfindet. Sorgen und Angst vor Überforderung müssen von Staat und Gesellschaft ernst genommen werden, dürfen aber nicht für menschenfeindliche Stimmungen missbraucht werden. Wir erwarten, dass diejenigen, die zu uns kommen, gesetzliche und gesellschaftlich vereinbarte Ordnungen und die grundlegenden Orientierungen in unserem Land respektieren. Dazu zählt für uns die Akzeptanz der Gleichstellung von Frauen und Männern sowie der Religionsfreiheit. Mit großer Entschiedenheit aber wenden wir uns gegen Fremdenfeindlichkeit, Hass und Rassismus gegenüber den Schutz suchenden Menschen. Essen, 8. März 2016 Quelle: Zur Flüchtlingssituation im Ruhrgebiet. Gemeinsame Erklärung der Vertreterinnen und Vertreter der Städte und Kreise sowie der Superintendentinnen und Superintendenten im Ruhrgebiet. 8. März 2016, Essen, online: http://www.kircheundgesellschaft.de/fileadmin/ Dateien/ Das_Institut/Aktuell/08.03._Fluechtlingserklaerung_und_PM.pdf (Zugriff 25.7.2016).

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Erklärung der Regionalen und Kreiskirchlichen Diakonischen Werke in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Die Aufgaben des Gemeinwesens vor den Herausforderungen von Flucht und Zuwanderung

Weltweite Kriege und Krisen verursachen enorme Veränderungen auch in der deutschen Gesellschaft. Aktuell stellen wir fest, dass nicht nur Bund und Länder, sondern in erster Linie die Städte und Kreise vor enormen Herausforderungen stehen. Denn es ist überaus anspruchsvoll, der Zuwanderung der neuen Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden, die aus den Krisengebieten dieser Welt zu uns kommen. Wir wissen, dass die Verantwortlichen – insbesondere in den Sozialverwaltungen der Gebietskörperschaften – Großes leisten. Unter schwierigsten Umständen tun sie alles, um Zugewanderten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Gleichzeitig stoßen diese Anstrengungen auf Grenzen: Nirgendwo finden wir ausreichende Rahmenbedingungen, um Menschen schnell und gut in unsere Gesellschaft zu integrieren. Die vorhandene Infrastruktur genügt nicht. Mitarbeiter und Verwaltungen bewegen sich ständig im Krisenmodus. Dies führt dazu, dass mittel- oder langfristige Planungen nicht vorgenommen werden und Zukunftsperspektiven verschwommen bleiben. Wir fordern deshalb die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik auf, umgehend eine mittelfristige strategische Planung vorzunehmen. Sie sollte alle Lebensbereiche der Alt- und Neubürger des Gemeinwesens mit einschließen. Dazu gehören: – eine angepasste Fortschreibung der Kindergartenbedarfs- und der Schulentwicklungspläne,

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Diakonie RWL

– eine Planung für die Wohnraumentwicklung, einschließlich eines Ausbaus der öffentlich geförderten Wohnungswirtschaft (einschließlich einer Mietpreisbindung), – eine Fortentwicklung der Angebote für die Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen sowie Überlegungen, das kulturelle Angebot so aufzustellen, dass es der Neuzusammensetzung unserer Gesellschaft gerecht wird, – die Ermöglichung politischer Teilhabe (mindestens) auf kommunaler Ebene – und vor allem die Integration der Neubürgerinnen und Neubürger in den Arbeitsmarkt. Die letztgenannte Herausforderung ist von besonderem Gewicht. Vor allem die Jobcenter, aber auch die Agenturen für Arbeit werden künftig deutlich mehr Kunden haben. Sie brauchen daher mehr und andere finanzielle Ressourcen als bisher. In den letzten Jahren ist der Eingliederungstitel bundesweit um über die Hälfte gekürzt worden. Dies hat zur Folge, dass viele Eingliederungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für arbeitslose Jugendliche und Langzeitarbeitslose weggefallen sind. Dabei verändert sich die Gesellschaft massiv durch die vielen neuen Bürgerinnen und Bürger. Sie wird bunter. Vor dem Hintergrund gekürzter Haushalte können auf keinen Fall immer mehr zusätzliche Aufgaben organisiert und lediglich durch Verschiebungen innerhalb eines jetzt schon nicht ausreichenden Etats umgesetzt werden. Die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Integration lässt sich durchaus in bestehende Programme einbinden. Dafür aber müssen diese akzentuiert und finanziell deutlich besser ausgestattet werden. Um des sozialen Friedens willen ist es von entscheidender Bedeutung, Personengruppen nicht gegeneinander auszuspielen. Alle sollen zu ihrem Recht auf Integration in den Arbeitsmarkt, auf Bildung und Teilhabe an wichtigen gesellschaftlichen Bereichen kommen. Dazu gehört auch, die politische Diskussion auf jeder Ebene diszipliniert zu führen und jedwede Form von billigem Populismus zu vermeiden. Alles andere ist Wasser auf die Mühlen von Menschen, die sich Fremdenfeindlichkeit auf die Fahnen geschrieben haben. Die Zuwanderung, die wir derzeit erleben, ist eine zusätzliche Herausforderung zu den großen sozialen Aufgaben, die unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten schon zu bewältigen hat: Diese bleiben weiter bestehen und dürfen nicht durch den Hinweis auf eine angebliche oder tatsächliche „Krise“ unter den Tisch fallen.

Die Aufgaben des Gemeinwesens

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Ein soziales Gemeinwesen heißt, dass alle Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht kommen. In der Gemeinde gelingt oder misslingt die erfolgreiche gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens. Daher müssen die Städte und Kreise in die Lage versetzt werden, ihre Infrastruktur so auf- und auszubauen, dass sie lebenswert bleiben und werden – und zwar für alle, die hier sind und die noch kommen. Wir fordern deshalb, politische und finanzielle Planungen und Strategien verstärkt und gezielt an den Sozialräumen zu orientieren. Nur so besteht die Chance, einen Stadtteil gemeinsam mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen zu gestalten und alle Möglichkeiten, die er bietet, auch zu nutzen. Es kann nur um eins gehen: konsequent das inklusive Ziel zu verfolgen, dass tatsächlich „alle dazu gehören“. Wir fordern deshalb die demokratischen Parteien auf, dieses Denken zu fördern und deutlich zu machen, dass es dazu keine Alternative gibt. Dabei sind wir als Diakonie vor Ort in den evangelischen Kirchenkreisen zur Mitwirkung bereit. Wir weisen in diesem Zusammenhang mit Nachdruck darauf hin, dass die Herausforderungen von Flucht und Migration weiter auf die Tagesordnung gehören. Der Zuzug von geflüchteten Menschen ist aktuell nur vorübergehend und keineswegs nachhaltig politisch geklärt. Die Ursachen und Gründe von Flucht und Vertreibung sind nach wie vor gegenwärtig: Terror, Bürgerkrieg und Perspektivlosigkeit sind als Fluchtursachen aus humanitärer Verantwortung nicht zu hinterfragende Motive. Deshalb darf aus unserer Sicht der Fokus nicht ausschließlich auf die Integration der bereits zugezogenen Flüchtlinge gelegt werden. Solange Opfer von Gewalt und Terror an den Grenzzäunen mit Waffengewalt abgewehrt werden und Menschen im Mittelmeer auf ihrer Fluchtroute ertrinken, wird die Not vieler Menschen derzeit schlichtweg nur an den EU-Außengrenzen geparkt. Dafür gilt es, schnellstmöglich Lösungen wie zum Beispiel durch ein Einwanderungsgesetz zu erarbeiten! Quelle: Heine-Göttelmann, Christian / Oelkers, Thomas (2016): Die Aufgaben des Gemeinwesens vor den Herausforderungen von Flucht und Zuwanderung. Erklärung der Regionalen und Kreiskirchlichen Diakonischen Werke in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. 9. Juni 2016, online: http://www.diakonie-rwl.de/sites/default/files/aktuelles/2016-06-09-erklaerungflucht-zuwander-dws.pdf (Zugriff 25.7.2016).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Arends, Dietmar, Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche, Landeskirchenamt, Leopoldstr. 27, 32756 Detmold, [email protected] Bartels, Elke, Dr. jur., Polizeipräsidentin, Düsseldorfer Landstr. 176, 47053 Duisburg, [email protected] Bauer, Thomas K., Dr. oec. publ., Professor für Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum und Vizepräsident des RWI Essen, Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (RWI Essen), Postfach 103054, 45030 Essen, [email protected] Bedford-Strohm, Heinrich, Dr. theol. habil., Pfarrer, Professor, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, Katharina-von-Bora-Str. 713, 80333 München, [email protected] Brandstäter, Johannes, Dipl. Pol., Migrationspolitischer Grundsatzreferent, Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Caroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin, [email protected] Breitenbach, Eva, Dr. phil., Professorin für Pädagogik / Erziehungswissenschaft, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, ImmanuelKant-Str. 18-20, 44803 Bochum, [email protected] Deterding, Joachim, Pfarrer, Superintendent des Kirchenkreises Oberhausen, Ko-Moderator der Konferenz der Ruhrgebietssuperintendenten, Kempkenstr. 43, 46147 Oberhausen, [email protected] Döhling, Jan-Dirk, Dr. theol, Pfarrer und Alttestamentler, persönlicher Referent der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Altstädter Kirchplatz 5, 33602 Bielefeld, [email protected] Dohmen, Stefanie, Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe der Evangelischen Kirchengemeinde Königshardt-Schmachtendorf, Forststr. 71, 46147 Oberhausen, [email protected] Drothler, Thomas, Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe der Evangelischen Kirchengemeinde Königshardt-Schmachtendorf, Forststr. 71, 46147 Oberhausen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Dürrwang, Ralf, Vice President der Corporate-Citizenship-Aktivitäten von Deutsche Post DHL Group, DHL Charles-de-Gaulle-Str. 20, 53113 Bonn, [email protected] Eberl, Klaus, Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche im Rheinland, Vizepräses der EKD-Synode, In den Benden 27, 41849 Wassenberg, [email protected] Füllkrug-Weitzel, Cornelia, Pfarrerin, Präsidentin von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst und Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung, Caroline-Michalis-Str. 1, 10115 Berlin, [email protected] Ghaderi, Cinur, Dr. phil., Professorin für Psychologie, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Giebel, Astrid, Dr. theol., Pastorin, Diplomdiakoniewissenschaftlerin, Theologin im Vorstandsbüro der Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband, Caroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin, [email protected] Gödecke, Carina, Präsidentin des Landtages NRW, Platz des Landtags 1, 4002 Düsseldorf, [email protected] Graf, Jan, Diplom-Geograph, DiverCity: Migration und Integration in der modernen Stadtgesellschaft, Endenicher Allee 4, 53115 Bonn, [email protected] Graumann, Sigrid, Dr. rer. nat., Dr. phil., Professorin für Ethik, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Hamburger, Martin, Dr. theol., Pfarrer, Direktor der Diakonie Wuppertal, Deweerthstr. 117, 42107 Wuppertal, [email protected] Handwerk, Daniela, Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe der Evangelischen Kirchengemeinde Königshardt-Schmachtendorf, Forststr. 71, 46147 Oberhausen, [email protected] Hebenstreit, Sigurd, Dr. phil. habil., Professor für Erziehungswissenschaften, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Ardeystr. 155, 58453 Witten, [email protected]

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Heine-Göttelmann, Christian, Pfarrer, Theologischer Vorstand der Diakonie RWL, Lenaustr. 41, 40470 Düsseldorf, [email protected] Huber, Antje, Dr. rer. pol., Leiterin für die Abteilung Strategie Betrieb von Deutsche Post DHL Group, DHL Charles-de-Gaulle-Str. 20, 53113 Bonn, [email protected] Janssen, Wibke, Dr. theol., Pfarrerin an der Liebfrauenschule Bonn in Trägerschaft des Erzbistums Köln, Graurheindorfer Str. 27, 53111 Bonn, [email protected] Just, Wolf-Dieter, Dr. theol., Professor für Sozialethik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Ehrenvorsitzender der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, Immanuel-Kant-Straße 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Kiepe-Fahrenholz, Stephan, Pastor, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Duisburg, 47167 Duisburg, Eberhardstr. 24, [email protected] Kolb, Holger, Dr. phil., Stellvertreter der Geschäftsführung und Leiter des Arbeitsbereichs Jahresgutachten des Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH, Neue Promenade 6, 10178 Berlin, [email protected] Kotthaus, Udo, Oberstudiendirektor i.K., Leiter des Dietrich-BonhoefferGymnasiums Hilden in Trägerschaft der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bireneichen 3, 42285 Wuppertal, [email protected] Kraft, Hannelore, Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Staatskanzlei NRW, Stadttor 1, 40219 Düsseldorf, [email protected] Kurschus, Annette, Pfarrerin, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Landeskirchenamt, Altstädter Kirchplatz 5, 33602 Bielefeld,

[email protected] Lilie, Ulrich, Pfarrer, Präsident des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung, Caroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin, [email protected]

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Lindemeyer, Sabine, Pfarrerin, Dozentin für Schulseelsorge am Pädagogisch-Theologischen Institut der Evangelischen Kirche im Rheinland, Mandelbaumweg 2, 53177 Bonn, [email protected] Mentes, Yasemin, Master of European Studies and Integration, Evangelische Jugendhilfe Godesheim, Vennerstr. 20, 53177 Bonn, [email protected] Mertins, Michael, Pfarrer der Evangelischen Christus-Kirchengemeinde Dortmund, Synodalbeauftrager für Flüchtlingsarbeit des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund, Westricher Str. 15, 44388 Dortmund, [email protected] Mogge-Grotjahn, Hildegard, Prof. Dr. rer. soc., Professorin für Soziologie, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Montag, Barbara, Pastorin, Diplomdiakoniewissenschaftlerin, Stabsstellenleitung für Grundsatzfragen und Theologie in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Lenaustr. 41, 40470 Düsseldorf, [email protected] Muhr-Nelson, Annette, Pfarrerin, Leiterin des Amtes für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen (MÖWe), Olpe 35, 44135 Dortmund, [email protected] Prantl, Heribert, Dr. jur., Dr. theol. h.c., Prof., Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und dort Leiter des Ressorts Innenpolitik, Hultschinerstraße 8, 81677 München, [email protected] Pries, Ludger, Dr. rer. pol. habil., Professor für Soziologie, Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum, [email protected] Rekowski, Manfred, Pfarrer, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Landeskirchenamt, Hans-Böckler-Str. 7, 40476 Düsseldorf, [email protected] Roth, Michael, Dr. theol. habil., Univ.-Prof., Lehrstuhl für Systematische Theologie und Sozialethik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Evangelisch-Theologische Fakultät, Saarstraße 21, 55099 Mainz, [email protected]

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Sadowski, Sandra, Religionswissenschaftlerin, M.A., Sozialpädagogin / Sozialarbeiterin, B.A., Mitarbeiterin der Fachgruppe Unbegleitete Minderjährige des Jugendamtes der Stadt Essen, Zum Spielpark 7, 58239 Schwerte, [email protected] Schäfer, Gerhard K., Dr. theol. habil., Professor für Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe, Rektor der EvH RWL, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Schlüter, Ulf, Pfarrer, Superintendent, Kirchenkreis Dortmund, Jägerstr. 5, 44145 Dortmund, [email protected] Skladny, Helene, Dr. phil., Professorin für Soziale Arbeit / Künstlerische Bildung, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, [email protected] Spankeren, Reinhard van, M.A., Historiker und Soziologe, Leiter der Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der Diakonie RheinlandWestfalen-Lippe, Münster / Düsseldorf, Friesenring 32–34, 48147 Münster, [email protected] Spielmann, Heike, Diakonin und Sozialarbeiterin, Leiterin der Zuwanderungsberatung der Diakonie Mark-Ruhr, Bergstr. 121, 58095 Hagen, [email protected] Stuckert, Thomas, Diplom-Pädagoge, NEUE ARBEIT der Diakonie Essen gGmbH, Fachbereichsleitung Qualifizierung und KomET, Königgrätzstr. 12, 45134 Essen, [email protected] Thie, Johanna, Diplom-Haushaltsökonomin, Hilfen für Frauen im Zentrum Familie, Bildung und Engagement, Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Caroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin, [email protected] Trelenberg, Katharina. F., Gemeindepädagogin (B.A.) und Sozialarbeiterin (B.A.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Evangelische Hochschule RWL, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Weiß, Helmut, Pfarrer i.R.; Lehrsupervisor (DGfP); Vorsitzender der Gesellschaft für interkulturelle Seelsorge und Beratung – Society for Intercultural Pastoral Care and Counselling – SIPCC, Friederike-Fliedner-Weg 72, 40489 Düsseldorf, [email protected]