Künstlerlegenden. Kritische Ansichten 3835334271, 9783835334274

Essays über die altmeisterliche Kunst Europas. Martin Warnke schrieb für ein größeres Publikum über vier Jahrzehnte Ess

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German Pages 204 [104] Year 2019

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Künstlerlegenden. Kritische Ansichten
 3835334271, 9783835334274

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Table of contents :
Titelblatt
Inhalt
Einleitung
Horst Bredekamp: Martin Warnke – Lakonie der Kürze
»Schleier der Vorurteile« – Martin Warnke im Gespräch
Nach fünfzig Jahren – Erinnerungen eines Kunsthistorikers
PIONIERE DER RENAISSANCE
Robert Campin – Wegbereiter im Norden
Die Handschrift des Künstlers – Andrea Mantegna
Dürers doppelte Böden
Kunstgeschichte in Zeitlupe – Baldung und Dürer
Melancholie eines Genies – Albrecht Dürer
Benvenuto Cellini – Künstler und Verbrecher
Chronist aller Errungenschaften – Giorgio Vasari
MEISTER IM BAROCK
Im Anfang war Caravaggio – Die Erschaffung der Natur
»Ich bin ein friedfertiger Mensch…« – Erinnerungen an Rubens
Rubens im Lichte der Öffentlichkeit
Vom Himmel auf die Erde – Holländische Kunst
Gipfel des Barock – Rembrandt und Rubens
Rembrandt – Stratege oder Genie?
Der Maler als Model – Rembrandts Selbstbildnisse
Ans Licht gebracht – Landschaften bei Jacob van Ruisdael
SPANISCHE HOFMALER UND IHRE NACHFOLGER
Inszenierte Freiheit – Velázquez als Hofmaler
Goya – Vernunft und Unvernunft
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle – Goyas Modernität
Nach Guernica – »Picasso gehört heute zur guten alten Zeit«
Salvador Dalí – Das Schauspiel der Kunst
Nachweise

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Martin Warnke

Künstlerlegenden Kritische Ansichten Mit einem Essay von Horst Bredekamp Herausgegeben von Matthias Bormuth

WALLSTEIN VERL AG

Inhalt

Einleitung . . . .

7

Horst Bredekamp Martin Warnke - Lakonie der Kürze »Schleier der Vorurteile« Martin Warnke im Gespräch

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Nach fünfzig Jahren Erinnerungen eines Kunsthistorikers

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Pioniere der Rennaissance

Robert Campin - Wegbereiter im Norden Die Handschrift des Künstlers Andrea Mantegna Leonardo-Legenden Dürers doppelte Böden Kunstgeschichte in Zeitlupe Baldung und Dürer . . . . . . . . . . Melancholie eines Genies - Albrecht Dürer. Benvenuto Cellini - Künstler und Verbrecher Chronist aller Errungenschaften Giorgio V asari . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Meister im Barock

Im Anfang war Caravaggio Die Erschaffung der Natur . . . . . . . . . . I O I »Ich bin ein friedfertiger Mensch ... « Erinnerungen an Rubens . . . . 112 Rubens im Lichte der Öffentlichkeit . 124 Vom Himmel auf die Erde Holländische Kunst 130 Gipfel des Barock Rembrandt und Rubens 137 Rembrandt - Stratege oder Genie? 144 Der Maler als Model Rembrandts Selbstbildnisse . . · · · · · · I 53 Ans Licht gebracht Landschaften bei Jacob von Ruisdael . . . . . . 157 Spanische Hofmaler und ihre Nachfolger

Inszenierte Freiheit - Velazquez als Hofmaler Goya - Vernunft und Unvernunft Vom Himmel durch die Welt zur Hölle Goyas Modernität . . . . . . . . . Nach Guernica »Picasso gehört heute zur guten alten Zeit.« Salvador Dali - Das Schauspiel der Kunst Nachweise

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Schon früh begann Martin W arnke, für große Tages- und Wochenzeitungen über Alte Meister zu schreiben. Der junge Kunsthistoriker nahm Ausstellungen, Bücher oder Jubiläen zum willkommenen Anlass, um die von Kollegen und Kuratoren dargebotenen Ansichten kritisch gegen den Strich zu bürsten. Auch als die Pflichten des Ordinarius in Marburg und Hamburg zunahmen, schätzte W arnke die gelegentlichen Ausflüge in den Essay. Neben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde besonders Die Zeit in Hamburg ein Forum, auf dem er verschiedenste Künstlerlegenden mit feiner Ironie entzauberte. Der bleibende Genuss beim Lesen seiner Essays liegt nicht nur an Warnkes schmucklos schönem Stil. Auch wirkt der skeptische Zugriff klassisch anregend, mit dem er eigene und fremde Sehgewohnheiten in Frage stellt. Warnke lüftet vielfache »Schleier der Vorurteile«, ohne im Gegenzug zu beanspruchen, es gäbe einen Blick auf die Künstler und ihr Schaffen, der selbst vorurteilsfrei und in wissenschaftlicher Objektivität gänzlich aufgehoben wäre. Seine Essays sind im persönlichen Sinne haftbar, wie Martin Warnke zuletzt im Gespräch unterstrich: »Dass man sich selbst in der Sprache äußert, diese Fähigkeit übt und nicht als Subjektivismus herabsetzt, scheint mir wichtig. «' Die Handschrift eines Aufklärers verdankt sich nicht zuletzt den Anregungen Theodor W. Adornos, dessen Prismen Warnke als junger Stipendiat im spätfrankistischen Spanien als Antidot gegen das ideologische Klima las. 7

Damals gingen ihm auch die Augen dafür auf, wie Künstler unter solchen Umständen versuchen, ihre Kritik an den herrschenden Zuständen implizit anzudeuten. Man kann seine Essays als solche Kunstwerke lesen, die gute Leser benötigen, um die Zeitkritik darin zu erkennen. Hatte Warnke anfangs noch deutlich im Jargon der Kritischen Theorie davon gesprochen, wie ein »System von Werturteilen die freie und mündige Rezeption von Kultur«2 verhindere, verblasste die aufgeklärte Selbstgewissheit mit den Marburger Jahren. Mit skeptischer Vorsicht, die den Zweifel als Tugend heiligt, bekannte Warnke nach der Relektüre seiner Essays jüngst im Gespräch: »Vielleicht ist der Unwillen, ein Bekenntnis abzulegen, auch schlicht dem geschuldet, dass man keinen festen Glauben hat. Die fragende Haltung gegenüber der Kunst, die zum Sprechen gebracht werden soll, muss sich genügen.«3 II.

Die Essays sind thematisch um Renaissance, Barock und Hofkunst in Spanien gruppiert. Aber zu allen Zeiten ist Warnke von der Frage nach der besonderen Stellung des Hofkünstlers geleitet. Manche Essays können als Vorwegnahmen oder Zuspitzungen der berühmten Studie gelesen werden, die r 98 5 erschien. Anders als es das geläufige Vorurteil des bürgerlichen Publikums will, hat die künstlerische Freiheit demnach im höfischen und kirchlichen Europa grade dann aufblühen können, wenn die Künstler es wagten, in sublimen und provokativen Werken weltlicher Macht und religiösem Dogma Paroli zu bieten. Mit Andrea Mantegna formuliert Warnke deshalb das Paradox, dass die höfische Welt dem Künstler nicht selten zum letzten Refugium werden konnte, während demokratischere Regulierungen solche Freiräume oft nahmen: »Künstlerische 8

Freiheit und herrschaftliche Souveränität waren anemandergekettet. «4 Auch wenn die Entstehungsbedingungen großer Kunst fragwürdig erscheinen können, schaden ihrem großartigen Eigensinn die reglementierten Zeiten in ihrer aufgeklärten Korrektheit. Vor allem Jacob Burckhardt ist für Warnke in diesem Sinne inmitten der konservativen und progressiven Kunstwelt um r 900 der subversive Apologet solch widerborstiger Kunst, die alle Chancen nutzt und immer für Überraschungen gut ist. Dass in der Affirmation eines solchen Künstlerlebens zugleich seine Kritik steckt, ist die unauflösbare Spannung, die Burckhardts Ansichten so fruchtbar halten, wenn sie von Warnke ins rechte Licht gerückt werden. Sein Cellini-Essay schließt mit einem Zitat aus der Kultur der Renaissance: »Er ist ein Mensch, der alles kann, alles wagt und sein Maß in sich selber trägt. Ob wir es gerne hören oder nicht, es lebt in dieser Gestalt ein ganz kenntliches Vorbild des modernen Menschen. «5 Auch geht Warnke schon früh die beliebte Künstlerlegende an, die Leonardo als Ausnahmekünstler jenseits aller historischen und biographischen Bedingtheiten zum Universalgenie stilisierte: »Diejenige Eigenschaft also, welche die Nachwelt am meisten an Leonardo bewundert hat, seine unbegrenzte Universalität, ist zunächst ein Erfordernis seines Hofamtes, und seine Erfindungen sind, wie eh und je, das Nebenprodukt von staatlichen Rüstungsanstrengungen. «6 Aber auch moderne Mythen geht Warnke in feiner Polemik an, wenn er die Autorität psychoanalytischer Deutungen ironisch ins Reich fiktiven Denkens verbannt. So spricht er angesichts eines Bandes zu Dürers Druckgraphik von einem »kleinen literarischen Meisterwerk« und führt im nächsten Satz erläuternd aus: »Man entfernt sich von den nüchternen Katalogtexten früherer Zeiten, wo man nie von einem ,an einem phallisch erigierten Ast gebundenen Pferd, 9

gesprochen hätte. «7 Auf der anderen Seite missfällt ihm deutlich, wenn die berechtigte Kritik an Marktstrategien die Anerkennung der künstlerischen Leistung gänzlich zu überlagern scheint, so dass aus dem »exzentrischen Genie « Rembrandt nur mehr der »Zeitgenosse« wird. Die Rembrandt-Forschung ist es auch, an der Warnke das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen geistesund naturwissenschaftlichen Zugängen in der Kunstgeschichte anschaulich machen kann. Angesichts des spektakulären Projekts, .das mit bildgebenden Mitteln die fragwürdige Authentizität vieler Spitzengemälde, so des Berliner Mannes mit dem Goldhelm, entlarvte, fragt er, was dies für das Verhältnis der beiden Wissenschaftskulturen bedeute. Zweifelsohne gehört Warnke nicht zu jenen, die dem seit einem Vierteljahrhundert grassierenden Wahn anhängen, die Natur- und Lebenswissenschaften seien die einzig solide Grundlage, um relevantes Wissen vom Menschen zu erlangen. Seine Essays sind beredte Apologien für das »kunstwissenschaftliche Geschmacksurteil«, das die »apparativen Beweisurteile« gelassen als Ergänzung betrachtet, ohne selbst die hermeneutische Kunst des umfänglichen Sehens zu lassen. Das großartige Erbe der ikonographischen Methode Aby Warburgs, die Erwin Panofsky in Princeton zur vollen Blüte gebracht hatte, ist Warnke hierbei mit ihrer Nüchternheit und Genauigkeit ein Angeld darauf, dass die Geisteswissenschaften nicht zwangsläufig der Versuchung erliegen müssen, alles kritische Herangehen in vagen und holistischen Gestimmtheiten verschwimmen zu lassen. Es bedeute demnach einen ungeheuren Verlust, in Bildern nicht mehr die tradierten Bedeutungsschichten des religiösen und kulturellen Lebens erkennen zu können, die für die Künstler und ihr Publikum mit symbolisch und allegorisch sinnträchtigen Aufladungen gerade in der niederländischen Kunst des IO

Barock verknüpft waren. Dass der bürgerliche Realitätssinn sich zunehmend vom religiösen Deutungsrahmen befreite und es deshalb auch fragwürdig scheint, die grandiose Landschaftsmalerei von Jacob von Ruisdael ikonographisch als christliche Allegorese zu lesen, ist für W arnke ein Zeichen unserer Modernität. Zugleich schildert er die innere Ambivalenz des aufgeklärten Künstlers gegenüber den religiösen Ursprüngen, die ihm selbst biographisch vertraut war: »Ruisdael war Mennonit und musste als solcher gewiss seine Ästhetik vor seinem Gewissen rechtfertigen, und sei es nur durch den Eifer, in Bildern die Wunderwerke Gottes in seinem freien Vaterland vorzuzeigen.« 8 Die Säkularisierung religiöser Welt- und Lebensdeutungen in der Kunst ist deshalb ein beständiges Thema für Warnke. Dies zeigt sich auch, wenn er sich dem Phänomen der Selbsterforschung in der Malerei Rembrandts nähert, wie sie eine große Ausstellung mit den vielfachen Selbstporträts eindrucksvoll zeigt. Umso mehr wundert sich der Essayist, dass die moderne Perspektive die innere Dynamik immer stärker zugunsten von strategischen Motiven in den Hintergrund drängt, als sei das Interesse an der eigenen Person lediglich ein Spiegel des Sozialen. Polemisch heißt es: »Das Rembrandt'sche Selbstbildnis darf nicht mehr aus einem Interesse an der eigenen Psyche oder als Ausdrucksund Stimmungsträger gedeutet werden.« Gegen diese fachliche Einengung des Blickes führt W arnke die »spontane Faszination der Menschen« an, »die sich nicht an berufsgeschichtlichen Nutzanwendungen oder kunsttheoretischen Erwägungen entzündet, sondern doch wohl eher an der tragenden, gegen alle zeitgeschichtlichen Bezüge in Form gebrachte, deshalb nachvollziehbare Selbstentfaltung eines Künstlers. «9

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III. Die vielfachen Paradoxien des Künstlers, der seine Freiheit nur am Hof erlangen kann, zeigen sich Warnke vor allem in Spanien, wo Velazquez zuerst als Hofkünstler seine realistische Könnerschaft auf einsame Höhen treibt. Sein Beispiel demonstriert zugleich, welche Demütigungen mit diesem Weg verbunden waren, wenn ein Bürgerlicher das Handwerk der Kunst adeln wollte, so dass sein Werk als Ausdruck der freien, unbezahlbaren und mühelosen Muse erscheint, aber zugleich mit vielfachen Abhängigkeiten verbunden ist. Während Michel Foucault das berühmte Gemälde Meninas nutzte, um als erfolgreicher Theoretiker seine »spekulative Energie« dem Unsichtbaren zuzuwenden, bescheidet sich W arnke im polemischen Kontrast mit der Rolle des Historikers, dem das Sichtbare genug ist. Das einzige Selbstporträt des VeLizquez, der sich in einer höfischen Szene um die kommende Infantin abbildet, versteht er als malerische Repräsentation des institutionell Verlangten: »Der Maler, der das Kreuz des Santiago-Ordens auf der Brust trägt, der von der Leinwand zurücktritt, als müsse sein Ingenium sich erholen, malt als adeliger Mann und bringt seine Pinselstriche frei an. Sie werden virtuos, in souveräner Entscheidung, ohne Mühe, ohne Atelier, ohne Arbeitskittel, ohne Gehilfen, inspiriert gesetzt, zum eigenen und des Königs Vergnügen. «' 0 Warnke wendet den historischen Blick zugleich ins Aktuelle, wenn er die heute herrschende Illusion andeutet, der sich die Nachfahren der Hofkünstler als würdig erweisen müssen: »V elazquez veranschaulichte damit eine Etappe auf dem Wege zu unseren Vorstellungen von einer autonomen Kunst. « 1 ' Knapp zwei Jahrhunderte später verdichtet sich noch einmal in Goya die innere Dramatik des Hofkünstlers, angesichts des Zeitalters der Aufklärung allerdings in weitaus 12

spannungs- und wandlungsreicheren Verhältnissen. Erst die genaue Kenntnis der politischen Geschichte erlaubt mit Warnke zu sehen, in welchen Widersprüchen Goyas Malerei sich dabei verstricken muss. Als Aufklärer begrüßte er die napoleonische Okkupation, die einen starken Volksaufstand entfachte. Warnke kommentiert entsprechend das Bild 3 de mayo: »Aus den Läufen der grausam kalt aufgereihten Bajonettgewehre dringen die letzten Funken einer aufgeklärten Humanität, der sich Goya zeitlebens verpflichtet fühlte; und in den entsetzlich zugerichteten Opfern bäumt sich die irrationale Macht des Traditionalismus auf, die Goya zeitlebens bekämpfte. « 1 2 Aus diesen Zeilen klingt noch das starke Vorurteil des strengen Fortschrittsdenkens an, das erlaubt, von »finsteren reaktionären Kräften« auf der Gegenseite zu sprechen. Aber der zwei Jahrzehnte später geschriebene V ersuch über Goya, der sich an Werner Hofmanns großem Porträt entzündet hatte, ist fern von allem Optimismus, die Aufklärung könne geschichtlich eindeutig bestimmt werden. Mit großer Sympathie stellt Warnke die Desillusionierung Goyas heraus, dem nur geblieben sei, sein Heil in der bildlichen Bannung der erschreckenden Realitäten zu suchen. Der Essay schließt bekenntnishaft mit der rhetorischen Frage, »ob nicht seine Werke bezeugen, dass in Wirklichkeit Unvernunft das Normale, Herrschende, Maßgebende war, und ob nicht er selbst es den wenigen Strahlen einer aus England und Frankreich nach Spanien hineinflackernden Vernunft verdankte, dass er existieren konnte. «'3 Die essayistischen Ausblicke auf die Modeme zeigen, wie wenig Picasso und Dali ihren großen Vorgängern noch das Wasser reichen können. Ganz mit sich selbst beschäftigt, erscheint der erste als angenehme Kunstfigur, dessen Retrospektive Die Zeit nach Guernica den Besucher recht bald in eine »unbeschwerte Welt der Selbstverarbeitung« 13

entlasse. Hatte der frühe Picasso noch ganz aus den Provokationen gelebt, genügt sich der späte, so Warnke, in milder Ironie, seine Lebensleistungen zu inventarisieren: »Der alte Picasso aber, der ist eine schöne Erinnerung, nicht mehr das beunruhigende Symptom einer unerfüllten Zeit. «1 4 Seine Energien erscheinen erloschen, als ob sich kein neuer Funke mehr aus dem Betrachten seiner Bilder schlagen lassen: »Picasso gehört heute zur guten alten Zeit. « Die polemische Note gegenüber einer gefälligen Kunst steigert sich noch, wenn Warnke die selbstverliebte Attitüde beschreibt, mit der Salvador Dali sich zum mythischen Nachfolger des Velazquez stilisieren will. Scharf kritisiert er den öffentlich zelebrierten Kult vom Künstler: »Ein Heer von Kunstschriftstellern, ein internationaler Kunstbetrieb sichern den Künstlern ihren begnadeten Status und führen ihnen die gläubigen Bewunderer und Kunden zu. «1 5 Dali, der sich in die monarchische Höhenluft zurücksehne und seine »Vorliebe für herrschaftliche Strukturen« in Sympathiebekundungen für Franco ausgelebt habe, steht als erschreckendes Beispiel für eine Inszenierungswut, die mit einem Wort Nietzsches getroffen wird: »Man greift es mit Händen: der große Erfolg, der Massenerfolg, ist nicht mehr auf Seiten der Echten, man muß Schauspieler sein, ihn zu haben.« 16 Den Hintergrund solch höfischen Gebarens bilde, so Warnkes Analyse, die Sehnsucht nach Autorität, Dalis »Wunsch nach einem monokephalen, auch gewaltsam aufrechterhaltenen Ordnungsmodell«. ' 7 Dass der Surrealist sich auf Velazquez beruft, wirkt insofern fehl am Platze, als dieser in den Paradoxien des Hofes seine Freiheiten erkämpfte und erlitt, während der moderne Künstler, bar der inneren Größe, sich an monströse Mächte bindet. Aber es geht Warnke nicht darum, Dali stellvertretend für den modernen Künstler zu stigmatisieren. Vielmehr richtet er zuletzt den Blick auf das Publikum, das solchem Rollen-

spiel so viel abgewinne: »Nicht der Künstlertyp, den Dali beispielhaft verkörperte, ist das problematische oder erklärungsbedürftige Phänomen, sondern die Gesellschaft, die ihn offenbar nötig hat.« 18

IV. Die Essays tragen die Handschrift eines Kunsthistorikers, der das fachliche Handwerk nicht als Grenze des eigenen Tuns empfindet und sein Publikum durch implizit angebrachte Werturteile herauszufordert, seine eigenen zu überdenken. Im Zentrum steht Burckhardts Überzeugung, dass die Kunst im öffentlichen Leben eine »Macht und Kraft für sich« sei, deren Deutung auch nach Jahrhunderten Funken schlagen kann. Höflich lässt er innerhalb der wissenschaftlichen Zunft kaum erkennen, wie sehr sein Wirken in der einsamen Unabhängigkeit ruht, die seine hohe Sympathie mit den Hofkünstlern speist. In dieser Lage war ihm Burckhardt seit den Erinnerungen aus Rubens ein Vorbild. In der Maske des harmlosen Professors wies dieser undogmatisch auf die Kunst als kritische Potenz hin, die nicht den Vorurteilen der Zeit auszuliefern sei, sondern helfen könne, diese zu revidieren. Dass klassische Kunstwerke gerade auch die aufgeklärten Gewissheiten irritieren können, ist eine Pointe, die Martin W arnke immer stärker betonte. In diesem Sinne zeugen seine Essays über die Alten Meister von dem, was er als Kunsthistoriker fünfzig Jahre nach der akademischen Weihung an der Freien Universität in Berlin im Horizont Burckhardts mit bescheidener Deutlichkeit bekannte, »dass ich die Bewegungen der Kunst, ihre unentwegten Aufbrüche und Ausbrüche, ein wenig auch in unsere geregelte Wissenschaft hineinzutragen versucht habe. «' 9 Matthias Bormuth

Oldenburg, im Februar 2019

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In diesem Band, S. 30.

2 In diesem Band, S. 112. 3 In diesem Band, S. 30. 4 In diesem Band, S. 5 r.

Horst Bredekamp Martin Warnke - Lakonie der Kürze

5 In diesem Band, S. 92. 6 In diesem Band, S. 6r. 7 In diesem Band, S. 77. 8 In diesem Band, S. 16r. 9 In diesem Band, S. 156. 10 In diesem Band, S. 172. l l

In diesem Band, ebd.

12 In diesem Band, S. 180. 13

In diesem Band, S. 177.

14 In diesem Band, S. 184. T5 In diesem Band, S. 180. 16 In diesem Band, S. 189. 17 In diesem Band, S. 195. 18 In diesem Band, S. 199. 19 In diesem Band, S. 40.

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An Martin Warnkes Artikel über den Auschwitz-Prozess aus dem Jahr 1964 für die Stuttgarter Zeitung, der kürzlich abermals in einer separaten Publikation erschien, 1 beeindruckte neben den Ereignissen der neusachliche Stil, von dem die Berichterstattung bestimmt war. An sich hätte dieser die bundesrepublikanische Gesellschaft erschütternde Prozess jede Gelegenheit zu einer emotiven Aufrüstung gegeben. Die Sprache durchzog jedoch ein Abstand, der das dargestellte Geschehen aus sich heraus jenen Schrecken erzeugen ließ, den andere Journalisten mit ihren Kommentaren zu evozieren versuchten. Es ist diese aus der Distanz entstehende Bindung, die umso stärker wirkt, je unmittelbarer sich eine unverstellte Nähe anbietet. Sie wird auch in dem Vortrag sichtbar, den Martin Warnke anlässlich des 50. Jubiläums seiner Promotionsprüfung an der Freien Universität Berlin im Jahr 2013 hielt. Im vorliegenden Sammelband vorangestellt, besticht diese Rede durch das Unprätentiöse der zusammengestellten Ereignisse, die eher wie Anekdoten aneinandergeperlt sind, als dass sie der Gefahr erläge, dass der Jubilar, überwältigt von dem halben Jahrhundert, das hinter ihm liegt, in das Pathos der Selbstfeier verfiele. Auch hier wirken die Aussagen durch die Lakonie ihrer gehaltvollen Kürze. Zwischen den Äußerungen über den Frankfurter Prozess und der Selbstsicht über den Bildungsgang bis zur Promotion liegen 50 Jahre, aber der Stil ist sich ähnlich geblieben, unterschieden höchstens dadurch, dass die Verknappung noch eine Spur kompakter geworden ist, um in dieser Kompres17

sion einen hintergründigen Witz und unausgesprochene Überlegungen vorblitzen zu lassen. Vom selben Spiel ist auch das eindrucksvolle Gespräch geprägt, dass der Ideenhistoriker Matthias Bormuth mit Martin Warnke geführt hat. Es ist durchweg das Understatement, das die Aussagen desto gewichtiger erscheinen lässt. Die Beiträge dieses Sammelbandes, die zumeist auf Rezensionen zurückgehen, durchziehen eine gleichsam treffend gebremste Urteilskraft, die sich bei ablehnenden Urteilen, bevor diese auftreffen, zurücknehmen, ironisch abbremsen, um dann umso wirkungsvoller ihre nachdenkliche Wirkung zu entfalten. Selbst wo die Ablehnung gravierend erscheint, äußert sich kein Dröhnen, sondern vielmehr eine sarkastische Distanzierung, ein leicht vergiftetes Lob oder eine behutsam alternative Deutung. Vor allem beeindruckt, wie sich die eigenen Forschungsthemen und Überzeugungen in der Diskussion anderer Positionen realisieren. Hierzu gehört, was Martin Warnke in Anlehnung an Max]. Friedländer die »Krise der Kennerschaft« nennt.2 Die aus heutiger Sicht höchst problematischen Zu- und Abschreibungen von Werken zu einzelnen Künstlern oder Werkstattzusammenhängen, die sich paradoxerweise zumeist einer feinsinnigen Formbetrachtung verdanken, die aber aufgrund ihrer theoretischen Einkleidung teils klamoros in die Irre geführt haben, werden in Warnkes Texten selbst bei kompletter Ablehnung keinesfalls verdammt, sondern in ihrer kennerschaftlichen Qualität gewürdigt, um dann umso plausibler in ihrem Irr-Lauf bestimmt zu werden. Immer wieder taucht das Thema der Hofkunst auf, das weit über die Fachwelt hinaus eine veritable Umwälzung der historischen Epochenbestimmung vollzogen hat. Bis zu W arnkes »Hofkunst«3 galt ein Aufstiegsdenken, das die Abfolge vom Feudalismus über die vom Bürgertum erkämpfte 18

Position bis hin zum - aus marxistischer Perspektive - notwendigen Sozialismus als gegeben annahm. Warnkes durch zahllose Beispiele grundierte Alternative, dass, wenn das Kriterium der »Freiheit« an die geschichtliche Entwicklung angelegt werde, die Hofkunst einen weitaus größeren Spielraum für die jeweiligen Künstler erlaubte, als ihn die in Zünften gebundenen Handwerker realisieren konnten, bedeutete einen Bruch in der Mechanik dieses Aufstiegsdenkens. Sie hat sich durchgesetzt. In mehreren der gesammelten Artikel wird dieses Problem, unter welchen Umständen und in welch weiter Rahmenstellung Künstlern die von ihnen beanspruchte Freiheit der Fantasie und des Ausdruckes am ehesten gewährt war, in seiner Komplexität multifokal komprimiert. Der Leonardo gewidmete Artikel, der im Erscheinungsjahr dieses Bandes das Jubiläum seines fünfhundertjährigen Todestages erfährt, ist das Muster einer Künstlervita, bei der durch jede Zeile die Vielschichtigkeit der Künstlerautonomie durchschlägt. Hier wird mit dem fragilen Charakter auch die Kehrseite sichtbar, mit dem diese Freiheitssphäre der oftmals geadelten Hofkünstler verbunden war. Die vorliegenden Essays zeugen davon, dass Martin Warnke die Zwiesprache mit dem nicht fachspezifischen Publikum immer als einen Teil seiner eigenen Forschungsund Vermittlungstätigkeit empfunden hat. Ich erinnere mich, wie er dem Kreis der Marburger Doktoranden empfahl, sich von den hochgezogenen Augenbrauen der Fachkollegen nicht davon abhalten zu lassen, auch das journalistische Metier zu betreiben. Es sei nicht nur eine Frage der Vermittlung der Wissenschaft, sondern auch für einen selbst ein besonderes Exerzitium, die Sprache so weit zu schulen, dass sie einem großen Publikum zugänglich sei, ohne den Inhalt zu versimpeln. Was Martin W arnke in diesem Metier vorführte, hat uns seinerzeit einen Maßstab vorgegeben,

und dieser wird in der vorliegenden Publikation gebündelt sichtbar. Ein Kaleidoskop dieses Anspruches sind insbesondere die Darstellungen Salvador Dalis, der als Inkarnation des modernen Künstlers die Maßstäbe der Hofkunst auslebt, und die Würdigung von Werner Hofmanns Auseinandersetzung mit den »Schwarzen Gemälden« Francisco Goyas. Die Sprache gewordene Leidenschaft, mit der sich Hofmann den Abgründen Goyas stellte, wird zum Auslöser eines Wettstreites mit Warnkes sprachlicher Ausdruckskunst. Hierin entsteht ein Denkmal des ingeniösen WienHamburger Museumsmannes ebenso wie auch eine Fassung von Warnkes eigenen Ansprüchen, die, wie es die Berichte über die Auschwitz-Prozesse bedeuteten, in einer gorgonenhaft schreckenstreibenden Geschichte Momente einer »hineinflackernden Vernunft« erzeugen. Berlin, im Februar 2019

Martin Warnke: Zeitgenossenschaft. Zum Auschwitz-Prozess 1964, vorgestellt von Pablo Schneider und Barbara Welzel, Zürich 2014. 2 Martin Warnke : Künstler, Kunsthistoriker, Museen. Beiträge zu einer kritischen Kunstgeschichte, Luzern und Frankfurt a. M. 1979, S. r 08- 11 o, in Anlehnung an die Überlegungen von Max J. Friedländer, die in dem Sammelband: Von Kunst und Kennerschaft, Leipzig 1992, zusammengefasst wurden. 3 Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985. 1

»Schleier der Vorurteile« Martin Warnke im Gespräch

Lieber Herr Warnke, Sie schrieben über Jahrzehnte für große Tages- und Wochenzeitungen Essays zu Alten Meistern, die an große Ausstellungen, Kataloge und Monographien anknüpften. An einer Stelle heißt es, es gehe darum, »Schleier der Vorurteile« zu lüften. Und zugleich geben Sie zu erkennen, dass dieser Versuch selbst nicht ohne neue Einseitigkeiten auskomme. BORMUTH

Wenn ich behauptete, meine Deutung eines Künstlers und seines Werkes sei die Wahrheit, dann wäre das ein Fauxpas. Ich sollte vielmehr sagen, ich hätte gerne die letztgültige Ansicht von einem Künstler oder eine geltende Lesart seiner Kunst in Frage gestellt. Nicht selten allerdings haben auch Künstler selbst zu solchen Lesarten beigetragen.

WARNKE

Es taucht in Ihren Essays öfter der Begriff »Dogma« dort auf, wo herrschende Ansichten in der Kunstgeschichte befragt werden. Nach den religiösen oder höfischen Dogmen, die im Rückblick immer gegeißelt werden, richten Sie auch den Blick auf die Dogmata der bürgerlichen Welt, die einseitigen Erstarrungen ihres Blickens auf die Künstler.

BORMUTH

Dabei haben die Künstler selbst nicht selten zu solchen festen Bildern beigetragen.

WARNKE

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BORMUTH Sie beschreiben, wie das Aufkommen der Druckgraphik den Künstlern erlaubte, ihre Ansichten populär zu machen. Denn damit waren die Bilder nicht mehr allein an exklusiven Orten wie Höfen, Kirchen oder Palazzi zu sehen, sondern wurden in der massenhaften Verbreitung größeren Bevölkerungsteilen zugänglich.

Sie rufen die ikonographische Deutung gerade dort in Erinnerung, wo die Ausstellungen zu wenig auf die historischen Bedingtheiten zurückkommen, wie dies etwa in der Ansicht der Landschaftsszenen Jacob van Ruisdaels der Fall war. BORMUTH

Ich kann, was Ruisdael angeht, an eine Erfahrung mit Hans Sedlmayr anknüpfen. Ich hatte bei ihm als Student eine Ruisdael-Landschaft zu analysieren, in der ein Weg gezeigt wird, der sich einen Hügel hochbewegt und von dort als Kurve in einer Wolke fortgesetzt wird. Als ich selbst dies einfach so beschrieb, schritt Sedlmayr ein und hob auf eine Transzendenz als Bedeutungshintergrund ab, womit er möglicherweise recht hatte. In der Ausstellung, die ich besprach, kommen diese Horizonte gar nicht vor. Man bleibt bei der Natur stehen und übersieht, dass sie lange Zeit auch symbolisch oder allegorisch für etwas anderes stand. In meinem Buch über Die politische Landschaft habe ich das ausführlich behandelt.

WARNKE

Andrea Mantegna war der erste, dem in der Renaissance bewusst wurde, dass er mit seiner Kunst am Hof eingeschlossen war und deshalb seine Bilder in Form von Stichen umsetzte. Im Hofkünstler habe ich beschrieben, wie - bei Mantegna angefangen - die Künstler versuchten, die Hürden der höfischen Verhältnisse durch die kleinen Formen zu nehmen und sich neue Öffentlichkeiten zu schaffen.

WARNKE

Ist nicht auch die Form des kunstgeschichtlichen Essays, der sich an ein größeres Publikum wendet, eine Form, die im akademischen Raum, gerade in Deutschland, mit großer Skepsis betrachtet wurde, gerade weil sie die ständischen Grenzen unterlief? BORMUTH

Manche Kollegen rümpften die Nase, weil es sich angeblich nicht gehört, die fachlich strengere wissenschaftliche Form zu verlassen und ein größeres Publikum anzusprechen. Die Deutung des Kunstwerks hält sich nicht an solche Grenzen, und ich habe den Eindruck, dass dies auch im Fach heute so gesehen wird. Das Publikum hat ein Recht, kritischen Ansichten zu begegnen und von Deutungstraditionen zu erfahren, die den zeitgemäßen widersprechen und manchmal vergessen waren. Ich bin stolz darauf, dass manche meiner Schüler bedeutende Journalisten geworden sind.

WARNKE

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BORMUTH Und auf der anderen Seite weisen Sie auch auf die künstlerische Fähigkeit hin, so bei Caravaggio, erhabene Ikonographien realistisch zu unterlaufen.

Caravaggio ist ein Wirklichkeitsfanatiker, so heißt es. Und gerade dieser Realismus machte ihn für seine kirchlichen Auftraggeber auch interessant. Er brach die Gewohnheiten des Sehens auf und wies auf seine Art auf die realistischen und emotiven Ursprünge der Religion hin.

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BORMUTH Ein früher Essay über die Rubens-Rezeption im kulturellen Leben unserer Zeit stellt heraus, wie solch ein großartiger Künstler zum Klischee und zur Schablone werden kann, wenn sich die Vorstellungen über seine

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Kunst verselbständigen. Rubens ist, so könnte man sagen, gleichsam zum Opfer der Vorurteile geworden, die mit der Popularisierung seiner Bilder entstanden. Sehr deutlich ist das in der jüngeren Zeit bei Salvador Dali zu sehen, der sich wie wenige zur Schau stellte und das Bild des exzentrischen Künstlers vorführte. Seine Selbstinszenierung folgte den Maximen: Du musst exzentrisch sein, du musst als Künstler anders sein. Dali demonstrierte sein oft banales und exzentrisches Gehabe überall. Die Käufer, der Handel folgten ihm. Er wusste die Mechanismen des Marktes, die ich selbst nicht durchschaue, zu handhaben.

WARNKE

In Ihrem Hofkünstler rückt die bürgerliche Gesellschaft unverhofft in den Blick. In der aufgeklärten Moderne betrachtete diese die Kirchen und Höfe als Orte des verengten Sehens. Sie deuten an, dass sie vielleicht größere Zwänge auf den Künstler ausübt als die tradierten Größen, die ihm mehr Freiheiten ließen.

Gary Schwanz, dessen Ansicht ich da bespreche, ist ein sehr ernsthafter Forscher. Er hat in Rembrandts Bildern immer wieder eine Antipathie gegen Juden entdeckt. Auch Erwin Panofsky hat einen Aufsatz über »Rembrandt und die Juden « verfasst, den erst seine Witwe veröffentlicht hat. Da werden die Zusammenhänge mit Blick auf die Nazi-Zeit deutlich problematisiert. Ich selbst wies auf den historischen Umstand hin, dass die aus Portugal geflohenen Juden im Amsterdam Rembrandts eher Perspektiven des portugiesischen Weltvolkes verkörpert haben könnten. Unsere heutige Erfahrung allein verfremdet die historische Wahrnehmung. Jede Generation muss ihren Blick neu bestimmen und die geschichtliche Perspektive für sich neu erarbeiten. WARNKE

BORMUTH

Mir scheinen Ihre Essays eme Apologie des historischen Blicks zu sein. Dieser kann in der Konfrontation mit aktuellen Deutungsvorgaben zu Revisionen führen, die in Ihrem Sinne kritische Ansichten bieten.

BORMUTH

Wir müssen immer fragen, wie es wirklich gewesen sein könnte. Diese Maxime darf aber nicht zum Glauben führen, dies ein für allemal erfassen zu können.

WARNKE

Ich verzichte aber auf das einseitige Argument, das lange in der avancierten Kunstgeschichte geläufig war: Alles ginge vom Markt aus, der die Künstler und ihre Werke mit seinen Strategien vollkommen manipuliere.

WARNKE

Diese Einstellung spürt man auch in den Essays zu Rembrandt, dem von der Forschung oft vorgeworfen wird, er sei ein genialer Marktstratege gewesen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf Rembrandt, der mit seinem Werk malerisch die Selbsterkundung und Selbstentfaltung vorantreibt, nicht selten in Auseinandersetzung mit der religiösen und moralischen Tradition der Zeit.

BORMUTH

Das heißt: Auch das Vergegenwärtigen historischer Bedingungsgefüge findet unter bestimmten Interessenlagen statt.

BORMUTH

Richtig. Mit dem Bewusstsein, dass man rue sagen kann, wie es wirklich gewesen ist, verzichtet man scheinbar auf strenge Wissenschaft, in Wirklichkeit ist man ihr damit jedoch näher als mit suggerierter Aktualität.

WARNKE

Dagegen wäre Ihr Argument: Alles historische Forschen steht unter bestimmten leitenden Vorurteilen, die nicht zu umgehen sind, auch wenn man sie anhand neuer Erkenntnisse revidieren kann. Eine Kunstgeschichte, die das Problem der leitenden Vorurteile ausblendet und sich als objektivierende Geschichtsschreibung versteht, wird demnach fragwürdig. BORMUTH

Ja, das ist genau der Punkt. Als ich in meinen jungen Jahren den polemischen Vorstoß gegen die Ideologisierung in der Kunstgeschichtsschreibung machte, die gerade in populärwissenschaftlichen Schriften ersichtlich war, habe ich heftige Widerstände erfahren. Man wollte nicht hören, dass man eigene Erwartungen, Bedürfnisse, Schemata, Ideologien in die Geschichte projiziert, bis in die Sprache hinein, gerade weil es Kontinuitäten zu den Jahren des Nationalsozialismus gab. Deshalb ereilten mich unvorbereitet die heftigen Reaktionen nach dem Kölner Kongress von 1970.

Obwohl die Art des Fragens über die Zeit in Ihren Essays gleich bleibt, ändern sich doch die Interessenlagen immer wieder. Die ikonographische Perspektive oder das religiöse Interesse sind nicht immer stark ausgebildet. Die Ideologiekritik, die in manchen Termini an die Frankfurter Sozialtheorie Adornos und Habermas' erinnert, herrscht vor allem in den Anfängen, so in Ihrem Essay zur Rubens-Rezeption, vor. BORMUTH

WARNK E

Aber das offensichtliche Interesse an Aufklärung unterscheidet Sie deutlich vom Positivisten. Könnte man sagen, dass Sie eine hermeneutischer Kunstgeschichte vertreten, die von Fragen kultureller wie sozialer Art geprägt ist, um die Bilder in ihrer Zeit und in ihrer Bedeutung für uns verstehen zu können? BORMUTH

Man sieht in all dem, wie kompliziert die Dinge liegen und wie hart die Zugänge zu Bildern aufeinander prallen können. Ein schönes Beispiel ist die Geschichte von Rembrandts Gemälde Der Mann mit dem Goldhelm. Als die Forschung - auch mit naturwissenschaftlichen Techniken - festgestellt hatte, es könne nicht von ihm gemalt worden sein, war es plötzlich eine Fälschung. Das Problem ist meines Erachtens vor allem: Wie geht man damit um, dass eine über lange Zeit entwickelte Deutungskultur, die auf unsere Kennerschaft und Empathie setzt, plötzlich vollkommen obsolet wird, d. h. eine objektivierende Methode den subjektiven Blick völlig auszulöschen scheint?

WARNKE

Man kommt ins Fragen: Worauf basierte der Blick, den man vorher so sicher vertrat, wenn er so rasch ins Gegenteil zu verkehren ist? BORMUTH

Und warum sagt man nicht: Auch wenn Der Mann mit dem Goldhelm von einem Imitator stammt,

WARNKE

Natürlich habe ich meme eigenen Ideen und Interessen, die mich leiten. Aber ich möchte selbst kein Wahrheitsapostel sein, der andere kritisiert und seine eigenen Projektionen dafür in Geltung bringt. Ich gucke mir jedoch die Werke der Künstler, ihre Interpretationen und Präsentationen an, habe meine Freude an ihnen oder erlaube mir, geläufige Urteile zu hinterfragen.

WARNKE

hat das Gemälde doch jahrzehntelang auf Menschen einen tiefen Eindruck gemacht. Von dieser Aura soll plötzlich nichts mehr gelten? Früher war das Werk ein Heiligtum der Berliner Sammlung.

In den Essays bezeichnen Sie die Naturwissenschaften manchmal mit dem Begriff »kalt«. Mir scheint, dass Sie damit vor einer positivistischen Vereinseitigung der Kunstwissenschaft warnen wollten. Und zugleich lese ich heraus, dass die Kunstwissenschaft sich nicht auf das allzu begrenzte Terrain naturwissenschaftlicher Tatsächlichkeit zurückziehen, sondern ihre hermeneutische Aufgabe weiter wahrnehmen solle.

BORMUTH

Es handelt sich um starke ideologische Aufladungen in gegenläufige Richtungen. So wie die kunsthistorische Linke ehemals die Kritik an überkommenen Positionen beanspruchte, ist es heute die ganz von Fakten beseelte Wissenschaft, die etwas vollmundig reklamiert: »Jetzt zerstören wir die ideologischen Gebäude und befreien die Bilder.«

WARNKE

So wäre Kunstgeschichte eine Geschichte von Deutungstraditionen, die sich gegenseitig aufheben, ablösen, manchmal verknüpfen und die allesamt in einem Wandel begriffen sind, ohne je festen Boden zu bieten. Und die Kunst selbst bliebe, wenn ich das richtig verstehe, selbst immer noch im Sinne Burckhardts eine autonome Größe. BORMUTH

Eine Kraft für sich, so sagt Burckhardt, die auch wechselnde Deutungen überlebt und neue herausfordert.

Die Deutung geht also über das Erfassen des historischen Bedingungsgefüges hinaus, indem sie versucht, etwas zu erfassen, was der Künstler in seinem Werk an kultureller Herausforderung gesetzt hat.

BORMUTH

Es geht um eine künstlerische Leistung oder eine Fähigkeit, die unser Interesse an einem handwerklich erstellten Objekt möglich macht. Dass mich das historische Kunstwerk beschäftigt oder überhaupt noch tangiert, zeigt, dass ich auch aus meiner Zeit irgendwie aussteigen kann und auf der Suche nach einem Maßstab bin, der nicht in ihr allein aufgeht.

WARNKE

Ihre Essays ironisieren immer wieder Zeitgernäßheit und Zeitgeist in stiller Form. Dies nicht zuletzt auch in ausdrücklicher Nähe zu Jacob Burckhardt, der polemisch vom »Pöbel« oder von den »Schablonen der Zeit« sprach.

BORMUTH

Mir ist oft vorgehalten worden, dass Burckhardt ein »konservativer Historist« sei. Ich habe da einen anderen Zugang. Seine stille Subversion in seiner Zeit gibt sich nicht unbedingt gleich zu erkennen.

WARNKE

WARNKE

Und der Kunsthistoriker versucht in einer relativ großen Beweglichkeit, die verschiedenen Interessenlagen bewusst zu halten und zudem selbst das Kunstwerk zu deuten.

BORMUTH

Sein Verstehen hat ein Element von Aktualisierung, das auch eine Stellungnahme zur eigenen Zeit implizieren kann. Er muss sie transzendieren.

Dass Sie in Burckhardt einen Kunsthistoriker schätzen, bei dem es eines genauen Lesens bedarf, um die subversive Note seines Schreibens zu erkennen, scheint mir nicht zufällig zu sein. Man spürt auch in Ihren Essays eine gewisse ironische Grundspannung, die sich oft erst in pointierenden Schlusssätzen löst, welche die beschriebenen Sachverhalte sublim in Frage stellen.

BORMUTH

WARNKE

Ich würde nie ein direktes Bekenntnis ablegen. Das verbindet mich mit Burckhardt.

WARNKE

BORMUTH

Vielleicht ist der Unwillen, ein Bekenntnis abzulegen, auch schlicht dem geschuldet, dass man keinen festen Glauben hat. Die fragende Haltung gegenüber der Kunst, die zum Sprechen gebracht werden will, muss sich genügen.

Nach fünfzig Jahren Erinnerungen eines Kunsthistorikers

Es gibt meines Erachtens nicht die Hoffnung auf eine aufklärerische Perspektive, die alles lösen würde. - Dies könnte man schon als ein kleines Credo bezeichnen.

Ein Universitätsseminar hat ohne weiteres das Recht, von seinen Absolventen eine Antwort auf die Frage zu verlangen: »Wir haben Dir vor 50 Jahren einen Titel verliehen, der Dir den Zugang zur akademischen Welt ermöglicht hat - was hast Du daraus gemacht, wie bist Du damit umgegangen?« Ich war zum Wintersemester I 9 58 / 59, nach einer politischen Überprüfung, an die Freie Universität zugelassen worden. Ich hatte drei Semester in München Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte studiert; hier wechselte ich von der Archäologie zur Germanistik. Ich hatte bei Hans Sedlmayr gehört1 und in einem seiner Seminare ein Referat über eine selbst gewählte Stelle aus Isidor von Sevilla gehalten, die für die Geschichte des Zeitalters ergiebig ist. Ich bemerkte bald, dass Sedlmayr die Neigung hatte, Proselyten zu machen. Aber auch nichtfachliche Gründe trieben mich im Sommersemester 1959 nach Berlin. Werner Grass, mit dessen Seminar ich noch eine Gartenexkursion in Franken erlebte, hatte mir zum Abschied gesagt, dass Hans Kauff mann in Berlin, von dem ich bis dahin nichts wusste, ein »sehr strenger Lehrer« sei. Eben dieser Hans Kauffmann bot in meinem ersten Berliner Semester ein Seminar über Rubens an. Ich übernahm ein Referat über den Medicizyklus, aus dem ich das Mittelbild herausgriff und von seiner Genesis her interpretierte: Ich verfolgte, wie Rubens von der ersten Skizze aus Leningrad über die zweite Skizze in München bis zur Endfassung in Paris die Person der Herrscherin immer deutlicher übergeordneten Form-

WARNKE

Zu dieser Einstellung gehört auch der Anspruch an die Sprache, den Sie besonders im Blick auf Werner Hofmann und seinen Goya-Essay betonen. BORMUTH

Dass man sich selbst in der Sprache äußert, diese Fähigkeit übt und nicht als Subjektivismus herabsetzt, scheint mir wichtig zu sein. WARNKE

So gilt auch für den Kunsthistoriker, was Sie in dem Mantegna-Essay schreiben, er habe zuerst eine eigene Handschrift entwickelt. BOR MUTH

Mit Werner Hofmann war ich mir immer einig, dass es zu unserem Verständnis von Kunstgeschichte gehört, sich auch selbst in den Texten zu exponieren. Er war da sehr konsequent. Wenn ich an historische Beispiele denke, würde ich dies vor allem für Burckhardts Schriften und ebenso von Goethes Italienischer Reise sagen.

WARNKE

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und Sinnbezügen unterordnete. Darin sah ich impliziert, dass Rubens die personale Herrschaft gegenüber objektiven Strukturen neutralisierte. Diese Kritik an der persönlichen Herrschaft versuchte ich durch briefliche Äußerungen und durch politologische Traktate, die Rubens kannte, zu begründen. Es war sozusagen die Geburtsstunde meiner »kritischen Kunstgeschichte. « In den folgenden Semestern habe ich vor allem in der Kunstbibliothek die sechs Bände des Codex diplomaticus Rubenianus in Verfolg meiner Annahmen durchgearbeitet. Wie knifflig ikonographische Fragen werden können, habe ich damals nach einem Vortrag von Percy Ernst Schramm in Berlin erfahren können. Ich hatte sein Buch über Sphaira, Globus, Reichsapfel2 gelesen, in dem er darlegte, dass die französische Staatskunst den Einsatz des Reichsapfels, der Sphaira und der Kugel, nicht kenne. Nun hatte ich im Medicizyklus, also in einem Hauptwerk französischer Staatskunst, mindestens drei demonstrative Darbietungen der Kugel. So ging ich mit den drei Bildpostkarten nach dem Vortrag zu dem bedeutenden Historiker, zeigte ihm meine Beispiele und fragte ihn, wie sich deuten lasse, dass hier so deutlich Kugeln eine Rolle spielten. Der Professor griff die Postkarten, und sagte schließlich: »Junger Mann, da bleibt nur eins : Der Rubens hat mein Buch nicht gelesen. « Bei Kauffmann habe ich nur noch ein Referat gehalten, über Burckhardts Cicerone; Burckhardt sollte mich immer wieder beschäftigen - ich freue mich auch, dass ich mit Kollegen und Schülerinnen drei Bände der Kritischen Gesamtausgabe erarbeiten konnte. Nie hat mir Kauffmann ein Wort gesagt, wie er denn fände, was ich die beiden Male präsentiert hatte. Aber eines Tages ließ er mich in sein Büro rufen und schob mir ein gelbes Heft über seinen Schreibtisch: Gucken Sie sich das mal an. Ich sah, dass es sich

um Stipendienangebote des DAAD handelte, woraufhin ich sagte: »Ich würde gerne nach Spanien gehen. « Er meinte, Holland wäre doch auch ganz schön. Ich blieb bei meinem Wunsch und erhielt das Stipendium. Eineinhalb Jahre, r960/i96r, war ich in Spanien, in Madrid vormittags ein oder zwei Stunden im Prado, und bekam im Übrigen in der Biblioteca Nacional alle Bücher gereicht, die Rubens in seinen Briefen genannt hatte. Zwischendurch w ar ich einige Wochen im Archivo Nacional in Simancas wegen der diplomatischen Aktivitäten des Künstlers.3 Ganz unverhofft teilten mir eines Tages Kommilitonen in Madrid mit, Hans Kauffmann komme zu einem Vortrag im Archäologischen Institut nach Madrid. Sie beschworen mich, ich müsse ihn am Flughafen abholen. Ich zögerte: Das sei in Berlin nicht üblich, er kenne mich ja gar nicht; ließ mich aber doch überreden. Auf dem Flughafen kam er mit seiner Frau am Arm heran, ich ging auf sie zu, stellte mich vor und bot meine Hilfe für Madrid an. Daraufhin Kauffmann, indem er auf seine Frau wies: »Ach, wissen Sie, ich habe mit meiner Frau Last genug. « Auch mich empfand er wohl als Last, und so ging ich auch nicht in seinen Vortrag.4 Dies alles beließ mir die Freiheit, die ich wohl kaum irgendwo sonst so gewährt bekommen hätte. Ich zitiere mal einen Passus aus einer einzigen autobiographischen Notiz, die ich einmal in Druck gegeben habe: Im spät-frankistischen Spanien hatte ich das Bedürfnis, mich auch theoretisch >aufzurüstenErsatzhandlung< zu verstehen ist«. Wenn eine Kerze noch raucht, dann war es der Heilige Geist, der sie ausgeblasen hat, oder wo ein Madonnenbild im Hintergrund ein Städtebild aufweist, in dem man auf einem Ziegeldach einen winzigen Dachdecker werkeln sieht, dann »erscheint dies wie ein ironischer Kommentar zu den Bemühungen der Menschen, sich auf die Höhe der Muttergottes begeben zu wollen«. Dass hinter dem die Madonna malenden Lukas das Zimmer in die Tiefe fluchtet, wird mit dem hübschen Gedanken bedacht, dass damit »der Prozess des Maiens dynamisch, nämlich als Hinüberführen der himmlischen Welt in die profane Lebenswelt gedeutet« wird. Man fragt sich vor solchen Assoziationen, ob man sich nicht doch besser theologischen Texten anvertrauen sollte, die uns über die religiösen Bedürfnisse der damaligen Menschen Auskunft geben. Im Übrigen aber wird der Leser, der sich vielleicht gelegentlich irritieren lässt, durch aufschlussreiche Passagen und Kapitel über italienische Motive bei Campin oder über die bedeutende Ausstrahlung der Werke des Campin vor allem nach Deutschland hin entschädigt. Dem hervorragend ausgestatteten Band mit dem grundsoliden Werkkatalog sieht man nicht an, dass er so viel kunsthistorischen Sprengstoff enthält.

Die Handschrift des Künstlers Andrea Mantegna

Es genügt heute nicht, daß ein Künstler das fünfhundertste Geburtstagsjubiläum feiert, er muß just zu diesem Jubiläum auch besonders zeitgemäß, besonders »notwendig« und vor allem besonders modern sein. Die Aktualisierungsrhetorik hat uns mittlerweile eine ganze Galerie modisch zurechtfrisierter Künstler beschert. Bei der Mantegna-Ausstellung in London ist auf alle Rechtfertigungen verzichtet worden; die Geschichte behält ihr eigenes Recht. Es gibt ein sehr altes, letztlich antikes Kriterium für die Größe und Geltung einer historischen Leistung im Bereich der Wissenschaft und der Künste, das in der Neuzeit ausschlaggebend geworden ist. Es lautet, daß eine Leistung erinnerungswert sei, wenn durch sie etwas Neues, etwas zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt hat. Giorgio Vasari hat das Kriterium als Leitmotiv in seine Künstlerviten (15 50) übernommen und ein für allemal der Kunstgeschichte eingeprägt. Nie versäumt er hervorzuheben, daß dieser oder jener Künstler seinerzeit »der erste war«, der dies oder jenes leistete: Cimabue war der erste, der ein Bildnis nach der Natur malte, Quercia benutzte als erster ein Tonmodell, Rossellino polierte als erster Marmorskulpturen ringsum durch, V errocchio ist der erste, der Verstorbenen Gipsmasken abnimmt, Sebastiano de! Piombo der erste, der auf Schiefer malt. Die Kunstgeschichte ist die Summe verdienstvoller Erfindungen einzelner. Die Wissenschaft hat das Kriterium übernommen, Forscher suchen unablässig nach dem Ersten, es wetteifern die Nationen und Regionen um solche Inventionen. Die nicht minder interessante Frage, 47

wie und warum Themen oder Paradigmen aussterben, hat keine Chance gegenüber der Frage nach dem Ersten. Mantegna bietet das Beispiel eines Künstlers, den man immer wieder dabei ertappt hat, daß er »der erste gewesen« ist. Er ist der erste Künstler der Renaissance, von dem wir wissen, daß er ein Bewußtsein davon hatte, daß sein künstlerisches Vermögen eine ganz eigene Ausdrucksmöglichkeit biete und auch ein ganz eigenes Recht habe. Von anderen, von Masaccio, Donatello oder Uccello, können wir es vermuten, aber Mantegna ist der erste, der in die Zwangslage kam, es zu behaupten und gerichtlich zu rechtfertigen. Es war im Jahre 1457, als der Sechsundzwanzigjährige nachweisen sollte, welches sein Anteil an den - im letzten Weltkrieg weitgehend zerstörten - Fresken der Ovetarikapelle in der Eremitanikirche zu Padua sei. Durch den Tod seines Kompagnons mußte gerichtlich geklärt werden, was ihm zu zahlen sei. In dem Prozeß, den die Bestellerin der Fresken anstrengte, sagt ein Malerkollege, Pietro da Milano, gemäß dem Protokoll zugunsten von Mantegna aus : »Der Zeuge habe auch an den Malereien gesehen, daß sie von der Hand des Meisters Andrea stammten. Er sagte auch, er wisse darüber Bescheid, weil er die Malereien von der Hand des Meisters Andrea gut kenne. Obwohl der Zeuge nicht gesehen hat, wie Andrea selbst sie gemalt hat, behauptet er, daß er aufgrund der langen Erfahrung, die er in der Kunst der Malerei besitze, erkenne, daß jene Gemälde von der Hand des Andrea stammten, denn unter Malern erkenne man immer, von wessen Hand ein Gemälde sei, insbesondere wenn es sich um die Hand eines hervorragenden Meisters handle. « Noch keine Kunsttheorie der anbrechenden Renaissance hatte bis dahin den unverwechselbaren Individualstil beschrieben. Es war offenbar bekannt, aber noch unausgesprochen, daß das Werk eines Künstlers an seiner »Handschrift« identifizierbar sei.

Im Falle des Mantegna hat dieser individuelle Äußerungsanspruch noch einen weiteren Konflikt heraufbeschworen: Die Bestellerin stellte fest, daß Mantegna bei dem Fresko der Himmelfahrt Mariä hinter dem Altar statt zwölf Apostel nur acht gemalt hatte. Zur Rechtfertigung dieser ungehörigen Freiheit sagt der Zeuge Pietro da Milano, »daß nach seiner Ansicht nicht gut alle zwölf Apostel in ganzer Figur hätten gemalt werden können, einmal wegen der Enge des Platzes auf der Wand und zum anderen, weil besagte Figuren mit großer Kunst gemacht worden seien. Es sei zwar wahr, daß hinter den Rücken jener Figuren noch die Gesichter weiterer Apostel hätten gemalt werden können, doch nach dem Urteil des Zeugen würden sie nach Maßgabe der Perspektivkunst nicht würdig ausgesehen haben. Nochmals befragt, sagte der Zeuge, daß Meister Andrea um der acht ausgezeichneten und mit guten Gebärden versehenen Figuren willen so viel verdient habe, als wie wenn er zwölf nicht volle Figuren gemalt hätte. « Hier wird der Primat der Form gegenüber dem Inhalt, der Vorrang des subjektiven künstlerischen Formwillens gegenüber kirchlichen, biblischen Vorgaben behauptet. Gegen diese Zumutung setzt ein anderer Zeuge unzweideutig, was allenthalben und noch lange die Regel war: »Nach dem Urteil dieses Zeugen hätten die Figuren der zwölf Apostel gemalt werden können. Sie müßten dann jedoch von kleinerer Statur sein, als sie es jetzt sind. « Wenn das Thema es erfordert, muß die Form sich ihm anbequemen; sie ist die Magd des Gegenstandes. Auch hier hatten die bekannten Kunsttheorien noch keine Vorarbeit geleistet. Wenn Cennini um r 400 formuliert, wie dem Dichter sei auch dem »Maler die Freiheit gegeben, eine Figur aufrecht oder sitzend zu geben oder halb Mensch, halb Pferd, so wie es ihm gefällt, gemäß seiner Phantasie«, dann beansprucht er eine literarische Freiheit, die er sogleich durch seine Rezepte außer Kraft setzt. Wenn 49

Verträge es dem Maler überlassen, ein Thema auszuführen, »wie es ihm gut erscheint«, dann ist damit selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Künstler sich an den vorgegebenen Rahmen hält. Ihm ist noch lange nicht die Lizenz gewährt, gegen die thematischen Vorgaben zu verstoßen, wie dies Mantegna getan hat. Selbst Alberti hatte in seinem Malereitraktat (um 1430) eine Zusammenstimmung von Inhalt und Form verlangt. Mantegna jedoch läßt seinen Zeugen erklären, die acht Figuren seien so gut gelungen, daß sie so viel wert seien wie zwölf. Vielleicht ist es nur der Zufall der Überlieferung, der uns hier den ersten einer Kette von Konflikten aufzeigt, die mit der Geburt eines individuellen ästhetischen Formbewußtseins einsetzen mußten. Jacob Burckhardt hat eine merkwürdige Verwandtschaft und Abhängigkeit zwischen der beginnenden geistigen sowie künstlerischen Emanzipation und den allenthalben in der Renaissance aufstrebenden Tyrannen und Gewaltherrschern festgestellt. Sie treffen sich in dem riskanten Bestreben, gegen die politischen, kirchlichen und moralischen Konventionen ihre subjektiven Interessen durchzusetzen: »Die Illegitimität, von dauernden Gefahren umschwebt, vereinsamt den Herrscher; das ehrenvollste Bündnis, welches er nur irgend schließen kann, ist das mit der höheren geistigen Begabung, ohne Rücksicht auf die Herkunft.« So merkwürdig es klingen mag, aber die Folgerung ist unausweichlich: Daß Mantegna seine künstlerische Form, die Perspektivkunst, seine freie künstlerische Entfaltung für wichtiger hielt als die biblischen, ikonographischen Vorgaben, verwies ihn auf einen Mäzen, der seine Kapricen zu schätzen wußte. Sein künstlerisches Freiheitsbedürfnis trieb Mantegna zwangsläufig in die Arme eines Fürsten. Mantegna war aus ärmsten Verhältnissen und aus einem kleinen Dorf zu seinem Bruder nach Padua gegangen. Er wurde in die Lehre bei dem Maler Squarcione gegeben, bei

dem er wohl viel über die Antike lernen konnte und der ihn auf die neuen florentinischen Künstlerpioniere hinwies, von denen Donatello und Uccello gerade in Padua wichtige Werke schufen. Aber Squarcione mußte ihn zugleich adoptieren, um ihn als Lehrling legal ausbeuten zu können, wogegen Mantegna sich bald in einem Prozeß wehren wird. Als er gerade den erwähnten Prozeß wegen der Ovetarikapelle zu führen hat, erreichte ihn 1457 die Anfrage, ob er Hofmaler des Markgrafen Ludovico Gonzaga in Mantua werden wolle. Drei Jahre lang hat Mantegna den Gonzaga warten lassen, bevor er sein Hab und Gut in das Schiffchen lud, das der Fürst ihm zugeschickt hatte, und nach Mantua umsiedelte - »gegen den Rat vieler Freunde«, wie er dem Gonzaga mitteilt. Obwohl er freien Tisch, freie Wohnung, freie Kleidung und ein festes Jahresgehalt hat, gesteht er seinem Brotherrn schon drei Jahre später, daß er in einer Falle saß: »Ich habe keinen anderen Weg, mich auszuzeichnen, und keine andere Hoffnung mehr als nur Euer Gnaden.« Künstlerische Freiheit und herrschaftliche Souveränität waren aneinandergekettet.

Triumphzug des Kupferstichs Die ersten Jahre in Mantua verbrachte Mantegna damit, irgendwo im weitläufigen Palast der Gonzaga eine kleine Privatkapelle der Markgrafen mit Szenen aus dem Leben Mariä und Christi auszumalen. Wahrscheinlich geht eine Reihe erhaltener, sehr origineller religiöser Bilder auf dieses Vorhaben zurück, so die Anbetung der Könige in Florenz, auf konvex ausgewölbtem Holz gemalt, und die in London ausgestellte Darstellung des Marientodes im Prado. Diese versteckte Kapelle war möglicherweise der Ausgangspunkt für eine der folgenreichsten Neuerungen des fünfzehnten Jahrhunderts. p

Kurz vor seinem Übertritt nach Mantua hatte Mantegna für San Zeno in Verona einen Hochaltar gemalt, der an einem bedeutenden öffentlichen Platz künstlerisch ein christliches Thema ganz antikisch intonierte. Der Maler dieses Werkes verschwand nun hinter den Zinnenmauern des Mantuaner Kastells und malte dort für eine intime, abgelegene Kapelle. In dieser Lage muß Mantegna mit besonderem Interesse jene nordischen Bildimporte zur Kenntnis genommen haben, die unter den Deutschen in Padua oder Venedig oder auch am Hofe in Mantua, wo ja die Markgräfin eine Hohenzollern aus Brandenburg war, kursierten. Die Erzeugnisse deutscher Stecherkunst, die oft Gnadenbilder oder Heiligenbilder reproduzierten, könnten Mantegna angeregt haben, sie für die Verbreitung seiner Kompositionen einzusetzen und damit den Kupferstich als Mittel der Vervielfältigung bildlicher Inventionen zu entdecken. Vasari hat in der Erstauflage seiner Viten die Bedeutung dieses Vorganges beschrieben, wenn er zwei Leistungen des Mantegna besonders hervorhebt: »Er ermöglichte der Malerei die Verkürzung der Figuren in Untersicht (al di sotto in su): eine schwierige und geistreiche Erfindung; und auch die Fähigkeit, Figuren in Stichen wiederzugeben, eine wahrhaft einzigartige Annehmlichkeit, durch welche die Welt nicht nur die Werke dieses Mantegna, sondern ebenso die Malweise aller früheren Künstler zu Gesicht bekommen konnte. « An anderer Stelle lobt Vasari die Stecherkunst, denn sie habe »zahlreiche Historien und Werke vorzüglicher Meister bekannt gemacht und die Möglichkeit geboten, die Inventionen und Stile der Maler auch denjenigen Menschen zu vermitteln, die nicht dorthin reisen können, wo sich diese Hauptwerke selbst befinden, so daß vor allem die Leute jenseits der Alpen vieles zu sehen bekamen, was sie nicht kannten«. Mantegna hat als erster Großkünstler der Renaissance die Technik des Kupferstiches systematisch als ein künstleri52

sches Medium begriffen. Dadurch ist seine Formensprache Pacher, Dürer oder Holbein geläufig geworden und sind die ersten Ansätze einer Renaissancekunst nördlich der Alpen angeregt worden. Der damals - anders als der Holzschnitt noch junge Kupferstich wurde ausschließlich für die Volksfrömmigkeit, das W allfahrtswesen, für Kartenspiele oder das kunsthandwerkliche Mustersortiment verwendet. Mantegna transformiert und nobilitiert das Medium, wenn er es für die Verbreitung und Wirkung hoher Kunst einsetzt. Zugleich aber popularisiert er seine esoterische Hofkunst mit Hilfe des neuen Reproduktionsverfahrens. Schon die großen Formate der Blätter zeigen den Bedeutungswandel an, der sich hier vollzieht. Das Ergebnis eingehender Forschungen hat für die Londoner Ausstellung die Sicherheit erbracht, daß Mantegna eigenhändig wenigstens ein Blatt auch gestochen hat. In späteren Jahren hat er eigens Spezialisten engagiert, die nach seinen Vorlagen arbeiteten. Ein ähnlich gelagertes, wenn auch nicht so folgenreiches Medienexperiment hat sich Mantegna mit der Aufwertung der Schwarzweißmalerei erlaubt, der Grisaille, die man in Deutschland »Totfarbe« oder »Steinfarbe« nennen wird und die in Italien bis dahin eigentlich nur für Rahmen, Winkel, Sockel oder Rückseiten Verwendung gefunden hatte. Mantegna malt in dieser Technik Historienbilder, alttestamentliche und antike Themen. Die Londoner Ausstellung macht deutlich, daß mit der monochromen Technik die Malerei sich nicht nur mit der Skulptur messen, sondern daß die künstlerische Form ihren Gegenständen ganz eigene Aussagemöglichkeiten vermitteln kann. Bei der Beurteilung jener Apostel, die mehr der Kunst als der Bibel gehorchten, wurde als Kriterium genannt, daß die Figuren, wenn sie zu klein seien, »arte prospective non con- . digne stetissent«, daß sie dann »nicht der Perspektivkunst gemäß seien«. Offenbar ist in den Augen des Zeugen die 53

richtige Perspektive ein unabweisbares Qualitätsmerkmal. Im Jahre 1493 erscheint auf dem Grabmal des Papstes Innozenz VIII. neben der personifizierten Architektur, Skulptur und Malerei auch die »perspectiva«, die soviel wie Optik bedeutet und die mehr und mehr in die Zuständigkeit der Maler geraten war. Vasari lobt an Mantegna, daß er besonders in der Darstellung perspektivischer Verkürzung innovativ gewesen sei. In einem Festungsturm des Mantuaner Kastells hat Mantegna ein Zimmergewölbe so in Fresko ausgemalt, daß man aus dem dunklen Verlies einen Durchblick in den blauen Himmel zu haben glaubte - ein perspektivisches Meisterstück, das immer wieder nachgemacht worden ist. Es demonstriert besonders deutlich, wie das individuelle Können beschränkende Gegebenheiten fiktiv überwinden kann. In Mantegnas Nachlaß fand man ein Leinwandbild, das sein Sohn dem Dienstherrn, dem Markgrafen Francesco, als Cristo in scurto anbot. Seither ist das Bild oft kopiert und bis in die Gegenwart hinein immer wieder paraphrasiert worden. Denn hier war die Perspektive als ein neues Wahrnehmungsmittel, als eine »symbolische Form«, die ein neues Verhältnis zur Welt bezeichnete, auf einen alten christlichen Glaubensinhalt gerichtet worden. Der Betrachter blickt wie in eine Gruft, in die der Leichnam Christi hineingeschoben ist. Der Leichnam, in äußerster Verkürzung gegeben, zeigt dem Betrachter zuerst die Fußsohlen mit den Wundmalen und den kartoffelförmigen Zehen. Die Wundmale kehren auch auf den kunstvoll hingelegten Händen wieder. Der Körper Christi liegt schwer auf einer Marmorplatte. Über die Beine und Hüften ist ein Tuch gebreitet, dessen Falten sich quer zum perspektivischen Tiefenzug zwischen den Beinen wie zu einer Kaskade zurückstufen, so daß der Blick zu dem hochgewölbten Oberkörper in der Bildtiefe durchklettern muß. Die Arme sind wie ausgekugelt zu seiten des Körpers gelegt, während das Haupt Christi auf einem 54

hochgestellten Kissen leicht nach rechts geneigt ist. Links sind Johannes, Maria und Magdalena hinzugetreten, auf Hände und Gesichter, also auf Klageformeln reduziert. Das Ergebnis der radikalen Anwendung der Perspektivkunst auf das alte Thema der Beweinung Christi ist eine radikale Verdiesseitigung. Der Betrachter sieht Christus in einer Lage, die immer denkbar, aber nie zeigbar war. Gottes Sohn als toter Mensch Hans Jantzen hat deshalb von einer »Entgöttlichung der Heilandgestalt« gesprochen, denn »eine Gestalt, der ich auf die Fußsohlen, unter das Kinn und in die Nasenlöcher sehe, muß schlechterdings ihre Würde einbüßen«. Andere haben gemeint, es handle sich um ein Musterstück oder um ein künstlerisches Experiment, das Mantegna in seiner Werkstatt als Vorlage bereithielt. Doch ist auch bemerkt worden, daß die Perspektive nicht strikt und gnadenlos angewandt worden ist: Der Körper Christi wird zur Bildtiefe hin nicht, wie die Perspektivregeln es erfordern, kleiner, sondern immer größer, so daß der von einem Heiligenschein umgebene, dem Seitenlicht entgegengewandte Kopf unausweichlich in den Blick des Betrachters gerückt ist. Mit Hilfe des künstlerischen Verfahrens der Perspektive ist der Gegenstand des Glaubens radikal abgerückt und dabei doch das menschliche Mitgefühl geweckt. Baldassare Castiglione hat in seinem Buch vom Hofmann ( I p 8) von der Fähigkeit gesprochen, mittels der Perspektive Körperteile verkürzt darzustellen, durch Farbabstufungen Nähe und Ferne einer Mauer zu zeigen, »wie es dem Maler gefällt« (come gli piace). Hier ist wieder der Eigenwille des Malers in den Vordergrund gerückt, wie es Mantegnas Partei schon in jenem Prozeß in Padua getan hatte, als es darum ging, gegen die Vorschriften der Dogmen den selbstbestimmten Gestaltungswillen zu behaupten. 55

Leonardo-Legenden

Es gibt nicht viele Künstler, mit deren Namen die Nachwelt so einmütig und selbstverständlich den Begriff des Genies erfüllt sah wie mit dem Namen Leonardo da Vincis. Es erschiene als ein Sakrileg, wollte man an der Berechtigung dieser Übereinstimmung zweifeln. Denn sie erst macht den Witz aus, wenn Pop-Artisten die Mona Lisa seriell verballhornen oder wenn findige Werbefachleute ihr genüßlich Karamellen in den Mund schieben. Solch eine plakative Verwendung entspringt nicht einem Mißverständnis, sondern einem allzu guten Verständnis; es wird dabei vorausgesetzt, daß die allgemeine Meinung über Leonardo so unumstößlich einmütig ist, wie man sich dies nur noch für einen Markenartikel wünschen kann. Es kann sich bei einer sogenannten Würdigung Leonardos nicht mehr darum handeln, den Konsens einer unbefragten Bildungstradition gegen aktuelle Anfechtungen beschwörend zu tabuisieren, sondern allenfalls darum, Hindernisse zu errichten, an denen sich ein Urteil wieder selbständig herstellen und bestimmen müßte. Die allgemeine Meinung über Leonardo hat sich nicht beim unablässigen Defilee vor den berühmten Gemälden, sondern eher bei der Lektüre des historischen Romans gebildet, den Mereschkowski unter dem Beifall auch von Thomas Mann geschrieben hatte. So ist die poetische Phantasie an der Entstehung unseres Urteils über Leonardo stets stärker beteiligt gewesen als die historische Erkenntnis. Schon Stendhal und Goethe haben mit ihren LeonardoAbhandlungen die Kompetenz der Dichter angemeldet. Diese wuchs sich dann in den Händen minder Befugter zu

einer Art Geheimniskunde aus . Gautier nannte Leonardo »den Maler des Mysteriums par excellence«; nach Taine »gibt es kein anderes Beispiel eines Genies auf dieser Erde, das so sehnsüchtig nach Unendlichkeit gewesen wäre«; Malraux erkannte in ihm den stets »entgrenzenden Magier«. Für Kunsthistoriker wie Venturi ist Leonardo ein »Träum er vom Mysterium des Schattens«; für Gantner »umfängt uns vor Leonardo jene Atmosphäre des Schwebens, Schwankens und Schweifens«. Da Leonardo auch laut Spengler mit seiner »Seele weit in die Zukunft verloren war«, weil er stets »zur Anbetung des ewigen Raumes vordringen« wollte, blieb er noch für Hermann Göring ein Mann, dessen »Ursprünglichkeit« und dessen »gewaltiges, Ehrfurcht und Bewunderung heischendes Werk« jeder Raumachse die Weihe liefern konnte. Leonardo erscheint demnach als ein Wesen, das, von Geheimnis umwittert, aller Geschichtlichkeit bar, in Form einer Theophanie das Erdenleben streifte. Als uneheliches Kind wurde er von einem niederen Landmädchen in einem abgelegenen Haus vor dem toskanischen Bergnest Vinci geboren. Diese fast namen- und ortlose Herkunft war so recht das Medium, aus dem ein Genie an das Licht der Welt zu treten hatte. Doch Leonardos Vater w ar ein angesehener Jurist aus Florenz, und er wußte es besser als das verschleiernde Gedächtnis der Nachwelt, was die uneheliche Geburt damals bedeutete. Acht Jahre vorher hatte ein anderer Heros der Florentiner Kunstgeschichte, Lorenzo Ghiberti, einen demütigenden Prozeß führen müssen, um seine legitime Kindschaft nachzuweisen. Denn als er ein öffentliches Amt antreten wollte, wiesen ehrsame Mitbürger auf die uneheliche Geburt des Anwärters hin, durch die das Ansehen der Stadt zu Schaden kommen könnte. Das Findelhaus Brunelleschis, heute eine Inkunabel der Renaissancearchitektur, repräsentierte damals das schlechte 57

Gewissen einer Gesellschaft, die den Kindern die eigenen Makel aufstempelte. Manche Zünfte verweigerten unehelichen Kindern die Mitgliedschaft, und bekanntlich gehört noch heute die eheliche Geburt zu den Konditionen, ohne die die katholische Kirche keine Bischofsweihe vornimmt. Sigmund Freud hätte bei seinem Versuch, Leonardos Traumaufzeichnungen einer Analy se seines Seelenlebens zugrunde zu legen, das individualpsychologische Material leicht vom geschichtlichen Rahmen her erhellen können (oder auch umgekehrt). Obwohl Leonardos Vater den unehelichen Sohn später in seine eigene Familie aufnahm, muß doch jener ihm angeborene »defectus « so wirksam geblieben sein, daß der schon weltberühmte Künstler den Tod des Vaters mit einer standesamtlichen Kälte registriert hat: »Am Mittwoch, dem 9. Juli 1 504, um sieben Uhr, starb Ser Piero da Vinci, Notar am Palazzo del Podesta, mein Vater: er war achtzig Jahre alt, hinterließ zehn Söhne und zwei Töchter. « Dieser Vater hatte jedoch richtig kalkuliert, als er den Fünfzehnjährigen dem weitbekannten Maler und Plastiker Andrea Verrocchio in die Lehre gab. Dort lernte er nicht allein ein solides Handwerk, sondern er trat auch in einen Berufsstand ein, der wie keine andere handwerkliche Fertigkeit die Chancen des sozialen Aufstiegs enthielt, sofern es gelang, den »Ruhm«, den Leonardo »für das Wichtigste im Leben hielt«, auf sich zu ziehen. Nach der sechsjährigen Lehrzeit 1472 als Meister in die Malergilde aufgenommen, hat Leonardo viel Fleiß aufgewendet, um jener unentbehrlichen »Fama« teilhaftig zu werden. Von den insgesamt neun erhaltenen Gemälden, die Leonardo mit einiger Sicherheit zugeschrieben werden können, sind fünf in diesen frühen Florentiner Jahren entstanden: die beiden Verkündigungen im Louvre und in den Uffizien; das Bildnis der Ginevra de' Benci, an dessen Verkaufserlös das Fürstentum Liechtenstein sich vor einigen Jahren sanieren konnte; der

unvollendete Hieronymus der vatikanischen Museen und die unvollendete Anbetung der Könige in den Uffizien. Aus der Tatsache daß Leonardo manches seiner Werke unfertig liegen ließ, daß er überhaupt nur wenig Fertiges zustande gebracht hat, schließt man gerne auf eine saturnische Genialität, die sich hemmend vor jeden Abschluß legte, weil sie stets zu neuen Zielen gedrängt habe. Doch diese Mystifikation des unvollendbaren »Non-Finito «, an der sich ganze wissenschaftliche Kongresse beteiligt haben, läßt sich im Falle Leonardos zumeist durch biographische Umstände auflösen. Man weiß heute, daß das Florenz Lorenzo Medicis des »Prächtigen« nicht das unwiderstehliche Kunstmekka der Renaissance gewesen ist, als welches es später von den Propagandisten der toskanischen Großherzöge hingestellt wurde. Wirtschaftliche und politische Nöte banden Lorenzo die Hände und sein eher subalterner Geschmack erklärt, daß er kaum einen der großen zeitgenössischen Florentiner Künstler in der Stadt zu halten vermochte. Ein deutliches Indiz hierfür ist auch, daß Leonardo im Jahre 1482 ein Schreiben aufsetzte, worin er sich beim Herzog von Mailand, Ludovico Sforza, um die Stelle eines Hofarchitekten und -malers bewarb, indem er seine Kenntnis der Militärtechnik und nur nebenbei auch seine malerischen Fähigkeiten anbot. Um dieses Bewerbungsschreiben richtig zu beurteilen, muß man wissen, daß sich damals selbstbewußte Künstler nicht um ein Hofamt zu bewerben pflegten, sondern daß sie sich umwerben ließen. Der junge Mantegna hatte den Fürsten von Mantua drei Jahre warten lassen, bevor er sich entschloß, das Amt eines Hofmalers anzunehmen. Raffael, Michelangelo und Tizian haben sich immer geweigert, sich an einem Hof fest zu engagieren. Der gleiche Sforza, dem Leonardo devot seine Dienste anbot, hat 1493 überall seine Botschafter angewiesen, nach Bramante zu suchen, um ihn zu bewegen, an seinen Hof zurückzukehren. So stellt sich 59

Leonardos Bewerbungsschreiben dar als das Dokument eines Ausbruchversuches aus einer gesellschaftlichen Sphäre, die ihn sozial diskriminierte und künstlerisch beschränkte. Die Affinität zum Hofe, in den er seit 148 3 fest integriert ist, ergab sich für Leonardo aus der gemeinsamen Nähe zur Illegitimität; sie wurde den herrschenden italienischen Kondottieri von ihren Kritikern immer wieder vorgehalten. Zur Abwehr dieses Makels hatte sich an jenen Höfen der propagandistische Grundsatz entwickelt, daß es allein die persönliche Tüchtigkeit, die Virtu, ist, die eine politische und gesellschaftliche Rangstellung legitimieren kann. Der Leonardo wohlbekannte Machiavelli hat diese Grundsätze damals auf den Begriff gebracht. Die Kondottieri zögerten auch nicht, ihre Untertanen und Diener entsprechend zu behandeln. Mantegna, ein Tischlersohn, trug zu dem Zeitpunkt, da Leonardo nach Mailand ging, schon zehn Jahre den stolzen Titel eines Pfalzgrafen. Ein Bastard der Este war als Maler ausgezogen, um an verschiedenen Höfen zu reüssieren, wobei er auch Leonardo begegnete; und er wurde schließlich mit Hilfe höchster Empfehlungen in Ferrara rehabilitiert. Zahlreichen Humanisten wurden damals höchste Ordensmäntel umgelegt. Wie die Humanisten, so dienten die Hofkünstler den Fürsten vornehmlich dadurch, daß sie jenen Tugendanspruch unablässig der Öffentlichkeit vortrugen. Das kolossale, nie fertig gewordene Reiterdenkmal des Francesco Sforza, das Leonardo in Mailand entwarf, wäre eine der monumentalsten Demonstrationen in dieser Richtung geworden. Die zahlreichen Dekorationen und Arrangements, die Leonardo in Mailand zu fürstlichen Hochzeiten, Empfängen, Festen und Geburtstagen inszenieren mußte, gehörten zu den typischen Aufgaben, die der Hofmaler zur Selbstbestätigung des Herrscherhauses zu vollbringen hatte. Demgegenüber gehörte die Herstellung des Abendmahlsfreskos oder der Felsgrottenmadonna zu 60

den nebensächlichen Aufträgen, mit denen Sforza Leonardo bedachte, zumal es auch zu seinen Amtspflichten gehörte, Kriegsmaschinen herzustellen, Befestigungsarbeiten zu organisieren oder topographische Aufnahmen des Kriegsgeländes anzufertigen. Dieses anspruchsvolle Amt, zu dem eine allseitige Begabung und Verwendbarkeit gefordert war, erklärt zum großen Teil das Geheimnis von Leonardos Universalität. Selbst in Dresden forderte man damals von einem Hofkünstler, »er solle sich zu allerlei Kunstarbeit, mit Bildhauen, Malen und Conterfeyen, Steinentisch, Credentz von Alabaster, Ordinantz von Gebäuden, Inventionen von Triumphen, Mummereien und dergleichen gebrauchen lassen«. Diejenige Eigenschaft also, welche die Nachwelt am meisten an Leonardo bewundert hat, seine unbegrenzte Universalität, ist zunächst ein Erfordernis seines Hofamtes, und seine Erfindungen sind, wie eh und je, das Nebenprodukt von staatlichen Rüstungsanstrengungen. Gerade der jüngst aufgetauchte Madrider Kodex, der Leonardo nun auch zum Erfinder des Fahrrades gemacht hat, verweist die Forschung wieder auf eine Quelle, die schon seit langem als das Grundbuch und Stimulans von Leonardos technischer Findigkeit erkannt ist: auf das kürzlich erst in vollem Umfang publizierte Werk des Francesco di Giorgio aus Siena, in dem dieser die Summe seiner immensen technischen, architektonischen, skulpturalen und malerischen Erfahrung niedergelegt hat. Um Francesco di Giorgio rissen sich die italienischen Höfe; er war auch zur Beratung nach Mailand gekommen, wo er mit Leonardo ein Gutachten abzugeben hatte. Für Leonardo muß er das Idealbild eines Künstlersouveräns gewesen sein, der durch die universale Entfaltung des ganzen Volumens künstlerischer und technischer Aktivitäten eine gesamtitalienische Figur geworden war, ohne sich an einen Hof zu binden, wenngleich die Höfe die 6r

einzige Basis für die unabhängige Position des Künstlers bildeten. Denn in den Kommunen versuchten die Zünfte eifersüchtig, einen jeden in seinem Metier zu halten; Taxen und Materialien, Gehilfenschar und Lehrbefähigung - alles war dort nach quantitativen Richtlinien reguliert. Demgegenüber war der Hofkünstler zunft- und steuerfrei, bezog ein festes Jahresgehalt, das in eine lebenslängliche Pension verwandelt werden konnte, bekam jede Leistung extra vergütet; geschenkte Ländereien, Pferde und Kleider hoben ihn weit über die Sphäre der zünftigen Kollegen. Auch Leonardo bezog in Mailand feste Provision, und ein ihm verliehenes Regal auf einen Wasserzoll zeigt ihn auf dem Wege zu jener aristokratischen Unabhängigkeit, zu der nur Hofbeziehungen verhelfen konnten. Sein Kontakt mit dem Fürsten wird als freundschaftlich geschildert, er soll sich ganz wie ein ausgebildeter Hofmann betragen haben, obwohl die Unbefangenheit kaum die oft geschilderte, geradezu parvenühafte Selbstgefälligkeit erreicht haben wird; sein Nachlaß enthält jene Papiere, auf denen Leonardo zu Briefen an Fürsten und hohe Instanzen immer wieder neu, bis zu siebenmal, ansetzt, verwirft und wiederholt - ein merkwürdig beklemmender Vorgang bei einem Mann, den man sich so erhaben wünschte. Im Jahre 1499 wurde Leonardos Hofkarriere jäh unterbrochen, als die Franzosen Mailand eroberten und Ludovico Sforza in die Gefangenschaft schleppten. Während Leonardo die Flucht gelang, wurde sein Freund und Mitt rbeiter Giacomo Andrea am I 2 . Mai 1 500 von den Franzosen öffentlich hingerichtet. Über Mantua und Venedig gelangt Leonardo nach Florenz, wo er ohne Auftrag das Gemälde der Anna Selbdritt (Louvre) beginnt. Im Jahre I 502 verdingte er sich dem bedrohlichsten Feind der Stadt, Cesare Borgia, als dessen »Oberster Festungsinspizient und Kriegsingenieur«. Er war schon berühmt genug, um nach

der Entmachtung Borgias I 503 nach Florenz zurückkehren zu können, ja der Stadtrat überträgt ihm die Ausmalung des großen Rathaussaales mit der Anghiarischlacht, durch die republikanisches Gedankengut aufgefrischt werden sollte. Doch daß er das Fresko in Konkurrenz mit Michelangelo malen sollte, muß Leonardo nach zwanzigjährigem Hofdienst als ein Rückfall in bürgerliches Wettbewerbsdenken erschienen sein. Sein Ruhm war zu fest begründet (und durch das jetzt entstehende Bildnis der Mona Lisa gab er ihm Nachdruck), als daß er auf subjektive Souveränitätsrechte hätte verzichten müssen. Der Stadtrat erfuhr davon, als König Franz I., der sich weniger undifferenziert als sein Vorgänger in Mailand durchzusetzen versuchte, offiziell um die Entsendung Leonardos bat. Seit 1506 steht Leonardo im Dienste eines der mächtigsten Potentaten Europas; auf einer Reise nach Rom, wo er eine Wohnung im päpstlichen Palast angeboten bekam, konnte er den Prestigegewinn auskosten. In Mailand beschäftigten ihn wieder hydraulische und militärtechnische Projekte; ein Reitermonument für Trivulzio, den Besieger seines einstigen Gönners, soll jetzt das Werk werden, »womit ich denen, die da kommen werden, zeigen könnte, wer ich gewesen bin«. In kunsttheoretischen Studien untermauert er die Vorstellung von einer freien Kunst, die nicht nach quantitativen, handwerklichen Maßstäben beurteilt werden kann, denn »sie hat nichts mit Schweiß zu tun«: Noch immer bohrt in ihm der Affekt gegen die Fesseln, die ihn ersticken wollten. Im Jahre rp6 aber berief ihn König Franz I.I nach Frankreich. Unter dem Titel eines »prernier peintre du Roy« wird er in den glanzvollen Hofstaat aufgenommen. Wie alle Hofbeamten des Königs bekommt er freie Wohnung zugewiesen, festes Gehalt, ein neues Kleid jährlich und Pensionsberechtigung. Wie jeder Hofmaler hatte er das Recht, die königliche Apotheke und die königlichen

Ärzte in Anspruch zu nehmen. Dieses Recht ist der Kern jener Legende, wonach Leonardos Tod sich fast in einer Art Apotheose abspielte: Der König, tiefbesorgt um das Leben des Meisters, habe seine Leibärzte nach ihm gesandt und habe sich dann, als am 2. Mai r 519 die Stunde des Todes nahte, selbst an das Krankenlager begeben. Der allergrößte Künstler sei dann in den Armen der Allerchristlichsten Majestät gestorben. In der Phantasie der Nachgeborenen verband sich dieses glorreiche Ende mit dem Dunkel seines Anfangs zu einem geheimnisvollen Schicksal; alle Prosa des Lebens schien aufgelöst in der Erhabenheit, mit der ein begnadetes Genie dieses Weltental durchschritt. Es ist, als hätte sich einmal wenigstens zeigen sollen, daß hier einer geworden ist, was er werden mußte und sollte, nicht aber wie sonst die Sterblichen, nur das, was er nach Lage der gesellschaftlichen Umstände werden konnte. Hat man versucht, die Grundmotive, die unser Bild von Leonardo bestimmen, auf geschichtliche Bedingtheiten zurückzubeziehen, darf man neu die Frage stellen, inwiefern Leonardo denn auch ein Künstler gewesen ist. Das Nebulose seiner Biographie hat auch seine Gemälde eingehüllt; es ist in allen Bildbeschreibungen präsent. Hat man es weggewischt, dürfte allein noch Leonardos Form, seine künstlerische Relevanz, ein Urteil konstituieren. Das aber ist weitaus schwieriger, als es die professionellen Exegeten und die Ciceroni in Florenz, London und Paris mit ihrem unerschöpflichen Anekdotenschatz suggerieren wollen. Es könnte vielleicht nicht banal genug angefangen werden. Man könnte etwa vor der Anbetung der Könige in den Uffizien eine Bemerkung Burckhardts aufgreifen, wonach es sich um eines der ganz wenigen quadratischen Bilder der Kunstgeschichte handelt. Dabei könnte mitgedacht werden, daß das quadratische Bildformat erst mit Mondrian wieder

ein Grundthema geworden und daß es bei Josef Albers r 967 zu der Serie der Homages to the Square gekommen ist. Diese Äußerlichkeit könnte vor dem Mailänder Abendmahl, bevor man sich wieder und wieder in den psychischen Handlungsablauf verliert, die stumme Präsenz des kahlen, rational kalten Kastenraumes sichtbar werden lassen. Wer hier die Relationen bestimmt hat, würde vielleicht von dem leidigen Lächeln der M ona Lisa abstrahieren können, um das stringente Formsystem aufzufassen, mit dem in diesem Bilde Nähe und Feme in ein Verhältnis gebracht sind. »Nah« und »Fern« sind die stets wiederkehrenden, nach allen Richtungen hin ausgeleuchteten Kategorien in Leonardos kunsttheoretischen Schriften; es ist das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft. Das wäre auch noch an den zahllosen technischen und anatomischen Zeichnungen zu verifizieren. Ein Betrachter, den die Zeichnungen nicht so sehr als wissenschaftliches Lehrmittel interessieren, könnte wahrnehmen, in welchem Maße sich Strich und Schraffur gegen die Macht der bezeichneten Sachen ihrer Freiheit versichern. Ebenso rettet sich die Vernunft in den Visions- und W eltuntergangszeichnungen allein noch in den graphischen Duktus. Wenn Leonardo prophezeit: »Die Menschen werden das, was die Ursache ihres Lebens ist, hart schlagen«, so äußert sich darin seine persönliche psychische Biographie, die nicht dadurch relevanter wird, daß man sie für die Psyche eines großen Menschen erklärt, sondern allein dadurch, daß sie durch die künstlerische Form zu einem objektiven Tatbestand geworden ist. Man braucht auch vor Leonardos Bildern nicht den Rationalisten Leonardo hinauszukatapultieren. Vernunft ist ihm theoretisch so nah, wie sie ihm praktisch fern schien. In einem Gleichnis hat er sich diese w eltbewegende Vergeblichkeit vorgestellt: »Die Erde wird schon durch das Gewicht eines Vögelchens, das sich auf ihr niederläßt, aus ihrer Lage gebracht. «

Dürers doppelte Böden

Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Säureattentat auf drei Gemälde von Albrecht Dürer in der Alten Pinakothek werden diese Bilder jetzt wieder gezeigt - zusammengeführt mit den zehn unversehrt gebliebenen der Bayerischen Staatsgemäldesammlung, in einer ebenso gehaltvollen wie lehrreichen Ausstellung. Es wird nicht nur die Wiederherstellung gefeiert, die die Schäden, jedenfalls für den Augenblick, unsichtbar macht, sondern auch eine neue Wahrnehmung der Bilder. Die notwendigen Eingriffe wurden dazu genutzt, mit allen Möglichkeiten moderner Technik die Zustände und Arbeitsphasen zutage zu bringen, die unter den Farbschichten der Bilder verborgen sind. Das Münchner Doerner-Institut hat eine altbewährte Führungsstellung in der technischen Durchleuchtung und Bearbeitung von Gemälden, und was das Publikum jetzt zu sehen bekommt, stellt auch wissenschaftlich wieder eine Pionierleistung dar. Die Röntgen- und vor allem die Infrarotaufnahmen können ganz neue Einblicke in Dürers künstlerisches Vorgehen und in die Entstehungsbedingungen der Bilder offenlegen. Die Infrarotreflektographien, die durch Digitalisierung der Videosignale ermöglicht werden, sind in der Ausstellung in originalgroßen Photos den restaurierten Gemälden gegenübergestellt. Sie erlauben einen ganz neuen Blick auf den altbekannten Tatbestand, daß nämlich Ölmalereien über Vorzeichnungen angelegt sind, die der Maler auf den vorbereiteten Bildgrund mit Pinsel oder Feder und in schwarzer Farbe aufträgt, damit er selbst oder die Werkstattgehilfen die Farben formgerecht auftragen können. 66

Nie hat man diese Vorzeichnungen so komplett und klar sehen können wie jetzt auf den ausgestellten Infrarotaufnahmen. Es stellt sich heraus, daß die gezeichneten Vorlagen unterschiedlich angelegt werden konnten: In Dürers früher Madonna von 1495 bis 1498 (die noch nicht restauriert, sondern als säurebeschädigtes, schockierendes Memento ausgestellt ist) ist die Vorzeichnung dicht, mit tief verschatteten Falten angelegt, für den Paumgartner Altar von 1498 ist sie in großen Umrissen und in den Schattenbereichen aufgelockert schraffiert, und bei dem Bildnis des Oswolt Krel kommt Dürer fast ganz ohne sie aus. In der Spätzeit, so 1526 bei den Vier Aposteln, wird fast nur noch schematisch in klaren und sicheren Umrissen und einer nur andeutenden Binnenschraffur vorgezeichnet, so als habe sich die Selbstverständigung des Malers auf sparsamste Zeichen reduziert. Im allgemeinen folgt die Malerei gehorsam den vorgezeichneten Formen. Alles, was Komposition, Proportion, Umriß und Bewegung ist, ist von der Zeichnung her bestimmt, ist schwarzweiß vorgedacht. Was leistet dann die Farbe?

Als Graphiker »reißt« er die Kunst aus der Natur Tatsächlich drängt sich wieder die alte Frage auf, ob denn Dürer nicht eher ein Graphiker war, der zuerst alles von der Linie her dachte. Die Zeichnung ist eine eigentümliche Leistung der Hand, der begabten oder »gelehrten Hand«, wie Dürer gelegentlich sagte, der freien Stiftführung, die spontan, gekonnt, inspiriert sein muß. Demgegenüber sind Farben nach damaligen Ansprüchen glatt aufgetragen, die Lasuren des Farbauftrages technisch aufwendig und brillant, mühsam und zeitraubend. Die Farben kommen in einem nachgängigen, schmückenden Arbeitsgang hinzu. Der Strich bezeichnet, benennt, hält fest, während die Farbe verschönt, überhöht, idealisiert.

Sein berühmtes Selbstbildnis vom Jahre 1500, in dem Dürer sich en face zeigt, hat, wie jetzt zutage tritt, eine außergewöhnlich detailreiche Unterzeichnung. In der Ausstellung wird erklärt, daß in der Unterzeichnung das Gesicht, etwa die Nase, so klobig ist, wie sie wohl in Wirklichkeit war, während sie erst durch die Farbgebung jene schöne, feine Gestalt bekommt und das Gesicht jene Abgeklärtheit, die es der Lebensprosa entrückt. Die Inschrift, in der uns Dürer versichert, er habe sich »propriis coloribus« gemalt, wurde lange so übersetzt, als habe Dürer mitteilen wollen, er habe sich »mit eigenen Farben« gemalt, dann glaubte man übersetzen zu können, Dürer habe sich »mit dauerhaften Farben« gemalt wissen wollen, jetzt bevorzugt man die Version, daß Dürer sich »mit angemessenen Farben« gemalt sehen wollte. Erst durch die Farben wird das Gesicht dem Idealtypus eines Christusgesichtes angenähert, ihm »angemessen«. In diese Christusähnlichkeit wird im Katalog seitenlang alles hineinprojiziert, was das vorige Jahrhundert vom gottgleichen Künstler phantasiert hat. Im 16. Jahrhundert kann diese Analogie etwas ganz anderes sagen als in der Romantik oder als im Neuhumanismus dieses Jahrhunderts. Erst die Farben jedenfalls leisten die Entrückung, während die Unterzeichnung, die die Augenhöhlen, die Nasenflügel und Wangen verschattet, das gegenwärtige, verzeitlichte Gesicht gezeigt hatte. Die Staatliche Graphische Sammlung hat der Ausstellung ihre schönsten Druckgraphiken beigegeben. Hier sieht man, in den Holzschnitten des Marienlebens oder in den Meisterstichen, wie Dürer zeichnend gemalt hat, denn man vermißt keine Farbe mehr. Dürer hat selbst geschrieben, daß die Kunst in der Natur stecke, »und wer sie heraus kann reißen, der hat sie«. Das »Reißen«, also das Zeichnen, die schwarzweiße Linienkunst kennzeichnet nach ihm eine wahrhaftige Kunst - mehr als die auch durch die reformatorischen Angriffe kompromittierten glanzvollen Farben. 68

Die Dürer-Bilder der Pinakothek sind also gut gerüstet für die Wiedereröffnung des alten Hauses. Der Besucher wird dort auch den Katalog vorfinden, der ihm diese Bilder neu erschließen will und der auch für die jetzige Ausstellung schon gute Dienste leistet. Allerdings handelt es sich um einen Katalogtypus, der, wenn er sich durchsetzt, den wissenschaftlichen Museumskatalog des vorigen Jahrhunderts endgültig verabschieden wird. Dieser enthielt in komprimierter Form das verbindlich mitteilbare, gesicherte Wissen, das man zu einem vertieften Verständnis vor Ort, beim Bilde brauchte. Der jetzige Katalog wendet für die vierzehn Bilder Dürers genau 600 Seiten auf. Er bringt einleitend große Aufsätze, vor allem zu technischen Problemen, aber auch einen bebilderten Überblick zu Leben und Werk. Er bildet Vorzeichnungen und Nachzeichnungen, Vergleichsbeispiele und Vorbilder, Details auch der Infrarotaufnahmen und Kopien selbst aus diesem Jahrhundert ab. Die eigentlichen Katalogtexte bieten nicht nur einen Forschungsbericht, sondern wachsen zu regelrechten Abhandlungen aus. Man hat sich das Corpus der Rembrandt-Gemälde zum Vorbild genommen und es wohl noch übertroffen. Es ist erfreulich, daß dem Besucher so viel wissenschaftliche Neugier zugetraut wird, und man möchte wünschen, daß die Initiatoren damit recht haben. Gerechtfertigt ist diese Überanstrengung, wenn sie beweist und bezeugt, daß die Museen auch Forschungsanstalten sind, die die ihnen anvertrauten Bilder und Skulpturen auch wissenschaftlich zu betreuen und zu bearbeiten haben, wenn dadurch gegen einen mächtigen Trend sichtbar wird, daß die Kunstwerke in den Museen nicht nur für einträgliche Shops und Shows verfügbar und verwertbar gehalten werden sollen.

Kunstgeschichte in Zeitlupe Baldung und Dürer

Unter den zahlreichen Besuchern, die 1959 in Karlsruhe der Baldung-Grien-Ausstellung oder 1961 in Nürnberg der Ausstellung »Meister um Dürer« zuströmten, oder unter denen, die im Freiburger Dom erfuhren, der Schöpfer des Hochaltars sei in jungen Jahren ein Schüler Dürers gewesen, unter denen schließlich, die in der altdeutschen Malerei nicht mehr nur frömmelnde Naivität, sondern intensive Spannungen am Werke sehen, mag sich manch einem die Frage aufgedrängt haben, wie sich der Prozeß der Eigenprägung Baldungs in Dürers Werkstatt zu Nürnberg wohl angebahnt, wie sich dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis im einzelnen gestaltet und entwickelt habe. Je stärker Baldung neben Dürer, Grünewald, Cranach und Altdorfer in das Feld allgemeinen Interesses rückte, desto dringender mußte der Kunstwissenschaft dieses Thema sich anbieten. Es ist nunmehr aufgegriffen in einem Buch, für das vor allem dem Verlag Dank gebührt, daß er es so prächtig mit Fotografien und mit erstaunlich guten Farbtafeln ausgestattet hat. Zwei bewährte Kenner haben den Text verfaßt, diesem einen reichen Anmerkungsapparat und einen nützlichen Katalogteil hinzugefügt. Der Erlanger Ordinarius für Kunstgeschichte Karl Oettinger schildert die Stilentwicklung Baldungs während seiner Tätigkeit in der Dürer-Werkstatt. Da hier erstmals angenommen wird, Baldung sei auch noch während Dürers zweiter Italienreise in dessen Nürnberger Werkstatt tätig gewesen, erstreckt sich die Untersuchung auf die vier Jahre von 1503 bis 1507. Karl-Adolf Knappe verbindet mit der Behandlung von Baldungs Beiträgen zur Glasmalerei im

gleichen Zeitabschnitt eine allgemeine Rehabilitierung der oft unterschätzten und mißverstandenen Glasmalerei. Sonst aber bleibt der Blick scharf und intensiv gerichtet auf die künstlerischen Vorgänge innerhalb der vorgenommenen zeitlichen und räumlichen Eingrenzung. Jedes in Frage kommende Blatt und Gemälde wird einer der im Laufe der Jahre, Monate, ja Wochen wahrgenommenen Entwicklungsphasen zugeordnet. Denn mit ihrer Untersuchung wollen die Verfasser beitragen zum Problem des Zeitstils und seines Wandels, indem »die persönlichen Wandlungen der einzelnen Genialen im ,Zeitlupenverfahren< aufgenommen werden«. In dieser Sicht durchlaufen Baldung und Dürer die stilistischen Stationen vom Ernst-Straffen zum Organischen und Bewegten; von plastischer Wucht und statuarischer Ruhe zum Ästhetisch-Dekorativen; von natürlicher Leiblichkeit zum Schlank-Aufgipfelnden; vom Klassischen zum Dämonischen und extremer Spiritualisierung. Sachkenner, deren die Baldungforschung vorzügliche besitzt, werden prüfen müssen, ob die Umdatierungen und Umgruppierungen, die im Sinne dieser Phasenfolgen vorgenommen werden, sich bewähren und halten lassen; sie werden allerdings bei solcher Prüfung auch die kunstphilosophischen Grundsätze berücksichtigen, welche dem Ansatz zugrundeliegen und die Ergebnisse der Arbeit mitbestimmen. Es läßt sich fragen, ob eine so dicht gesetzte Folge von Phasen noch die Vorstellung von Entwicklung im gewöhnlichen Sinn aufrecht erhalten kann. Wenn Spür- und Scharfsinn gar in ein und demselben Kunstwerk verschiedene Stilphasen verwirklicht sieht, so erweist dies nicht die Stärke der Stilkritik, sondern eher, daß ein nicht genügend differenzierter Entwicklungsbegriff die künstlerische Spontaneität gleichsam zu usurpieren droht. Die Verdünnung der künstlerischen Möglichkeiten zu einem Leitfaden der fortsc hreitenden Entwicklung verarmt auch die Skala der

Möglichkeiten, die in Baldungs Verhältnis zu Dürer beschlossen liegen, zu einem monotonen Gleichschritt: Friedlich, Hand in Hand, gleichen Geistes auch dann noch, wenn sie die Alpen trennen, sollen Dürer und Baldung, in dessen Nachlaß sich eine Locke des Meisters fand, rhythmisch gependelt sein von den Phasen der konvexen zu solchen der hageren Form, von der massigen zur schlanken und dynamischen Figur, von der Figur vor dem Raum zum Raum mit Figur. Dieser Gleichklang, der bis in das »Lebensgefühl, bis in die Zone der >Gestimmtheit«< reichen soll, wird psychologisch begründet: Dürer soll eben dem Wesen nach jung und spätreif, Baldung altklug und frühreif gewesen sein. Angesichts solch matter philosophischer Grundlegung wird man fragen müssen, ob nicht die stilistische und seelische Zusammenstimmung zwischen Dürer und Baldung allein durch die wissenschaftliche Akribie bewerkstelligt ist. Man findet denn auch, vor allem in dem Beitrag von Knappe, aber auch in Oettingers Schlussbemerkungen über Baldungs Persönlichkeit, wo der Gänsemarsch der Phasen den Gedankengang nicht mehr zwängt, Charakteristika angegeben, welche die Vermutung nahelegen, es ließe sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis ebenso antinomisch als Reibung und Gegensätzlichkeit beschreiben: Da heißt es, Baldung habe im Unterschied zu Dürer »stets das Rationale - selbst noch im Elementaren« angestrebt; Baldungs Figuren seien untereinander isoliert, verschlössen sich auch gegenüber dem Betrachter, zeigten sich »kaltsinnlich« oder mit einem »Blick ohne Innerlichkeit«; während Dürer die Figuren von Innen her, organisch gestalte, gehe Baldung vom Äußeren, von der Fassade an die Dinge heran und bestimme alles Organisch-Lebendige geometrisch und formal abstrakt; Baldung denke dualistisch, Dürer dagegen hierarchisch. Es wird auch gelegentlich vermerkt, Baldung unterscheide sich von Dürer durch sein »höfisch betontes Frauenideal«, 72

durch eine feinnervige Vornehmheit, durch emen »höfischen Klang«. Bedenkt man hierbei den Milieuunterschied zwischen beiden Künstlern - Dürer war Goldschmiedsohn, Baldung stammt aus einer Gelehrtenfamilie-, so mag damit angedeutet sein, daß die Differenzen zwischen den beiden eigenwilligen Persönlichkeiten nicht mehr mit bloßer Stilkritik begreifbar sind. Die Vorteile der mikroskopischen Sicht sind evident: Der anvisierte Gegenstand läßt sich nicht nur intensiver betrachten, sondern in seinen Sinnbezügen erweitern. Knappe versucht es zuweilen, aber die Perspektive erreicht kaum einmal die Biographie. Man erfährt mit keinem Wort, was in den Jahren r 503 bis 1 507 in Nürnberg geistig, politisch und wirtschaftlich sich abspielte: aus welcher Atmosphäre die künstlerischen Aufträge also stammten, mit welchen Forderungen, Bedingungen und Wünschen sie im voraus beladen waren. Daß aber Dürer und Baldung wie unversehrbare Wesen, nur aus sich selbst und ihrem Kunstwollen leben konnten, ist ebensowenig wahrscheinlich wie wünschbar. In diesem Sinne bleibt das Thema ihrer Beziehungen weiterhin gestellt.

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Melancholie eines Genies Albrecht Dürer

Freunde und Verehrer Albrecht Dürers können in einen Streit über die Frage geraten, ob dieser deutsche Großmeister ein besserer Maler oder ein besserer Grafiker gewesen sei. Von der Wissenschaft schien die Frage entschieden, denn seine etwa siebzig Gemälde sind hervorragend bearbeitet: Der Katalog von Fedja Anzelewski hat 1991 seine zweite Auflage erlebt. Und die Alte Pinakothek in München hat für die vierzehn Gemälde aus ihrem Besitz einen eigenen Katalog von 600 Seiten herausgebracht. Über Dürers Farbe gibt es Habilitationen. Das Selbstbildnis vom Jahre 1500 ist zum Schlüssel einer ganzen Epoche aufgerückt. Gegen die bevorzugten Gemälde schienen nur die etwa neunhundert Zeichnungen anzukommen, die Friedrich Winkler von 1936 bis 1939 in vier Bänden, wie es scheint, endgültig und mustergültig, katalogisiert und kommentiert hat. Selten hat ein Künstler seine Zeichnungen, die er ja allesamt nur für die Schublade geschaffen hat, so sorgfältig und gründlich wissenschaftlich aufgearbeitet bekommen wie Dürer. Demgegenüber blieb das druckgrafische Werk Dürers vernachlässigt. Schon früh aufgelistet und verzeichnet, blieb es bei einer Sicherung der Fakten, der Wasserzeichen und Druckzustände, die vor allem für Sammler wichtig war. Es scheint, dass das wissenschaftliche Interesse an den Werken sich nach dem Ausmaß persönlicher Authentizität richtete: Die Gemälde sind Unikate, sie weisen eine Reihe unvergleichlicher Selbstbildnisse auf, und die Zeichnungen, oft Vorzeichnungen für die Gemälde, sind im Übrigen aber 74

freier, subjektiver Ausdruck semer Fantasie. Auch die Schriften Dürers, die ja an Luthers Sprachkraft herankommen und eine deutsche Wissenschaftssprache begründen halfen, haben durch die Ausgabe des Germanisten Hans Rupprich in drei Bänden (1956-1969) eine angemessene Beachtung erfahren. Die rund rno Kupferstiche und 3 50 Holzschnitte, die man Dürer zuschreiben kann, sind nicht in gleichem Maße erschlossen worden, vielleicht weil sie unter dem Verdacht standen, sich eher nach allgemeinen als nach persönlichen Bedürfnissen zu richten; sie seien nicht einer inneren, sondern einer äußeren Notwendigkeit verdankt. Im Jahre 1991 jedoch erschien ein zweibändiges Werk aus der Feder des jetzigen Generaldirektors der Berliner Museen, Peter-Klaus Schuster, über einen einzigen Kupferstich, der 23,7x 18,7cm misst, über Dürers Melencolia I von 1514. Eine so umfassende Bemühung um ein gedrucktes Bild ist wohl nur möglich vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels, nach dem nicht mehr das Persönlichste, sondern das Öffentlichste an einem Werk von Bedeutung ist, und in dieser Hinsicht hat Dürer mit dem Kupferstich und dem Holzschnitt ein erstes bildliches Massenmedium entscheidend weiterzuentwickeln geholfen.

Das Firmenzeichen Man muss diese Überlegungen vorausschicken, um zu erklären, warum es erst jetzt dazu gekommen ist, dass Dürers druckgrafisches Werk mit aller wissenschaftlichen Akribie bearbeitet wird. Der erste von drei geplanten Bänden dieser säkularen Veröffentlichung liegt nun vor. Er enthält alle Kupferstiche Dürers, seine sechs Experimente mit der Eisenradierung und die Kaltnadelradierungen, insgesamt rn2 gesicherte Stiche. 75

Oft genug sind die Kupferstiche Dürers als Bilder in Büchern abgebildet worden - in diesem Band jedoch dominiert Text; Vergleichsabbildungen sind hilfreich, aber unauffällig beigegeben. Die Druckerzeugnisse werden in strikt chronologischer Reihenfolge vorgestellt, gelegentlich auch nach Themen. Es irritiert ein wenig, dass der Leser in einen thematischen Zusammenhang »Portrait« eingeführt wird, der mit dem »kleinen Kardinal« Albrecht von Brandenburg einsetzt, dann aber aus chronologischen Gründen von Aposteln, Marienbildern, Heiligen und einer Kreuzigung unterbrochen wird, bevor man den »großen Kardinal«, Friedrich den Weisen und schließlich den Erasmus vorgestellt bekommt; man hätte vielleicht von der »Zeit der Portraits« sprechen können. Das Interesse Dürers an der Grafikherstellung wird in diesem Band, wie könnte es in einer ökonomisch orientierten Zeit anders sein, gerne unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen. Man erfährt, dass Dürer um r 500 schon »über ein stattliches Sortiment von ca. 60 Blättern« verfügte, und belegt den Vertrieb mit statistischen Kurven. Seine neuen italianisierenden Themen waren, wie die zahlreichen Kopien erweisen, »offenbar sehr erfolgreich auf dem Graphikmarkt«; sein erstmals unverwechselbar gemachtes Programm wird zu einem Firmenzeichen. Sodann waren die Formate »ein wichtiger Faktor bei der marktgerechten Diversifizierung des Graphiksortiments «, da sie zugleich Preiskategorien waren. »Sicherlich waren es auch marktstrategische Überlegungen«, die Dürer dazu veranlassten, die kleine Kupferstichpassion als Folge herauszubringen. Auch bei der Wahl seiner Themen »scheint Dürer flexibel auf veränderte Marktsituationen reagiert zu haben«. Die tiefgestochenen Linien mit dem Grabstichel wollen nicht einen bestimmten ästhetischen Eindruck vermitteln, sondern »vermutlich höhere Auflagen ermöglichen«. Kein »Dürer als Führer« mehr, keine Mission mehr, nur noch Profitdenken.

Die Gestaltung der Einträge zu den einzelnen Blättern bringt oft kleine literarische Meisterwerke hervor. Man entfernt sich von den nüchternen Katalogtexten früherer Zeiten, wo man nie von einem »an einen phallisch erigierten Ast gebundenen Pferd« gesprochen hätte. Die drei Autoren haben sich auf ein überzeugendes Schema geeinigt: Sie benennen eingangs die wesentliche Leistung des Blattes, die Forschungsprobleme, die es bietet. Jedes Blatt wird knapp und treffend beschrieben. Auffällig eindringlich werden thematische und ikonografische Fragen behandelt; wohl erstmals in der deutschen Dürerforschung sind die methodischen und sachlichen Ergebnisse, die Erwin Panofsky schon r 94 3 in der Emigration zu Dürer vorgelegt hat, in vollem Umfang rezipiert. Es werden aber auch sonst die Stellungnahmen der Forschung sorgfältig aufgearbeitet, Spekulationen wie die astrologische Aufladung mancher Stiche zurückgewiesen, die neuerlichen Tendenzen, Blätter zu Zyklen zusammenzustellen, zurückhaltend beurteilt oder die kürzlich in Umlauf gebrachten spitzfindigen Übersetzungen der Inschriften unter den Bildnissen ignoriert. Die Stilmittel und ihre Entwicklungsphasen werden an jedem einzelnen Blatt erläutert, w obei die Möglichkeit des bewussten Stileinsatzes berücksichtigt wird. Am Schluss wird kurz über die Kopien und Rezeptionsschicksale der Komposition Auskunft gegeben. All die vertrauten Stiche werden fast in jedem Fall vom aktuellsten Forschungsstand aus neu in den Blick genommen. Manchmal werden ganz neue Gesichtspunkte an Dürer herangetragen. Diese zeigen jedenfalls, dass der Markt fü r Dürer nicht immer maßgeblich war. So sind kaum je zuvor Begriffe wie »Medien«, »Mediengeschichte« oder gar »Medienrevolution« in der Dürerliteratur verwendet worden, doch vermitteln sie für Dürer plausible Einsichten. O ft wird auch mit Klischees, die Dürerwerken angehängt 77

wurden, aufgeräumt. So verlieren Dürers Bildwelten alle Merkmale der Gemütlichkeit: Der Stich mit dem verlorenen Sohn in einem Bauernhof zeigt nicht mehr ein romantisches bäuerliches Ambiente, sondern »eine prosaische Beschreibung des Elends« damaliger bäuerlicher Betriebe.

Der unheimlich nordische Wald Besonders eindringlich wird ein Klischee über den Stich mit dem Hieronymus, dessen »Gehäus « uns als Inbegriff deutscher Gemütlichkeit vertraut ist, in Frage gestellt: Jetzt gewinnt das Interieur etwas »Klaustrophobes «, die Kissen sind wie »quallige Lebewesen«, die Pantoffeln stehen unordentlich, die Bücher falsch herum; überall lauert Tod und Brüchigkeit, wo der erasmianisch gestimmte Heilige seinen Forschungen nachgeht. Der Herkules in dem großen Stich der Eifersucht ist nicht mehr der Tugendheld, sondern »ein Maulheld«, der sich zwischen Tugend und Laster nicht zu entscheiden weiß. Am Adam und Eva-Stich, der wohlproportionierte Figuren vor einen unheimlich nordischen Wald stellt, verfolgt Dürer eine affektmodellierende Strategie, da sich der »klassizistische, entindividualisierte Figurenkanon als Instrument der ,Reinigung