Bildung und Wissensgesellschaft 354029516X, 9783540295167

Umfassend und interdisziplinär: Der vorliegende Band reflektiert die Begriffe "Bildung und Wissensgesellschaft"

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Bildung und Wissensgesellschaft
 354029516X, 9783540295167

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heidelberger jahrbücher

2005 49 Herausgegeben von der Gesellschaft der Freunde Universität Heidelberg e.V.

klaus kempter peter meusburger (Herausgeber)

Bildung und Wissensgesellschaft Mit Beitr¨agen von Rose Boenicke · Stefan B¨uttner · Hermann Engesser Werner Gamerith · Otfried H¨offe · Heike J¨ons · Klaus Kempter Dieter Langewiesche · Volker Lenhart · Peter Meusburger Michael Rogowski · Christiane Schiersmann · Ingrid Schoberth J¨urgen Paul Schwindt · Nico Stehr · Dieter Teichert Hartmut Titze

im auftrag der gesellschaft der freunde universität heidelberg e.v. und des rektors der ruprecht-karls-universität herausgegeben von Prof. Dr. Helmuth Kiesel

wissenschaftlicher beirat Martin Bopp · Hans Gebhardt · Helmuth Kiesel · Stefan M. Maul · Reinhard Mußgnug Veit Probst · Arnold Rothe · Volker Storch · Friedrich Vogel · Michael Wink

redaktion Dr. Klaus Kempter (Schriftleitung) Friederike Reents Universit¨at Heidelberg, Germanistisches Seminar Hauptstraße 207–209, 69117 Heidelberg

bandherausgeber Dr. Klaus Kempter Universit¨at Heidelberg, Neuphilologische Fakult¨at Voßstraße 2, Geb¨aude 37, 69115 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. Peter Meusburger Universit¨at Heidelberg, Geographisches Institut Berliner Straße 48, 69120 Heidelberg [email protected]

Mit 39 Abbildungen, davon 16 in Farbe Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-540-29516-x Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006 Printed in Germany Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Satz und Umbruch durch PublicationService Gisela Koch, Wiesenbach mit einem modifizierten Springer-LATEX-Makropaket Gedruckt auf säurefreiem Papier 543210

Vorwort ¨ Uber Bildung und Wissensgesellschaft wird in den vergangenen Jahren intensiver nachgedacht, als es lange Zeit der Fall war. F¨ur solches Nachdenken gibt es Grund genug. Nicht nur durch die Ergebnisse der PISA-Studien, die fu¨ r Deutschland ern¨uchternd und besorgniserregend sind, wird es nahe gelegt; auch die Zukunft unseres Landes, dessen wichtigste Ressource Bildung und Wissen sind, verlangt ein solches Nachdenken. Hinzu treten die derzeitigen weltpolitischen Spannungen und Konfrontationen, die eine Kl¨arung unseres kulturellen Selbstverst¨andnisses und unserer geistigen Basis als geboten erscheinen lassen. Der vorliegende Band reflektiert das Thema „Bildung und Wissensgesellschaft“ auf eine umfassende und interdisziplin¨are Weise. Leitfragen sind dabei: Was heißt „Bildung“? Wodurch wurde unser Begriff von Bildung gepr¨agt? Was sind die unentbehrlichen Komponenten unserer Vorstellung von Bildung? Welche Modifikationen des u¨ berkommenen Bildungsbegriffs sind n¨otig? Welche praktischen Maßnahmen zur Sicherung wie zur Modifikation unserer Bildung sind angezeigt? Was bedeutet demgegen¨uber der in j¨ungster Zeit zu beobachtende Aufstieg des Begriffs „Wissensgesellschaft“? Sind wir tats¨achlich in eine neue, wissensdominierte Epoche gesellschaftlicher Selbstorganisation eingetreten? Reproduzieren sich Gesellschaft und Wirtschaft heute anders als fr¨uher? Welche speziellen Arten von Wissen und Wissensvermittlung werden daf u¨ r gebraucht? Wie verh¨alt sich dieses „Wissen“ zur „Bildung“? Die Schwerpunkte des Bandes liegen auf den Gebieten der Bildungsgeschichte, der P¨adagogik sowie der Bildungs- und Kulturgeographie. Von die¨ sen Zentren ausgehend werden auch die Zusammenh¨ange mit Okonomie und Gesellschaft, mit aktueller Politik und Medien diskutiert. Klaus Kempter referiert am Beispiel einiger prominenter Werke der letzten Jahre die thematischen Schwerpunkte der Debatte um die „Bildung“, wie sie sich auch in den Massenmedien niedergeschlagen hat. Volker Lenhart kn¨upft an „den“ Klassiker der Bildungsidee an. Er befragt Humboldts Bildungsidee, seine Schul- und Universit¨atspl¨ane auf ihre m¨ogliche Relevanz f u¨ r die aktuelle globale Wissensgesellschaft und kommt zu dem Schluss, dass sie fu¨ r die heutigen Zwecke sehr wohl taugen, freilich mit Einschr¨ankungen: Anders als Humboldt k¨onnen heutige Bildungstheoretiker von der Berufsbildung schlechterdings nicht mehr absehen.

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Vorwort

Stefan B¨uttner stellt anhand der „Gymnasialreden“ des Schulpraktikers, Lehrers und Rektors Hegel diesen als Bildungs- und Schultheoretiker vor und diskutiert seine m¨ogliche Aktualit¨at. Besonders arbeitet er heraus, inwiefern Hegel aus systemphilosophisch-spekulativen Gr¨unden das System „Schule“ als notwendigen Mittler und Transformator zwischen den Systemen „Familie“ einerseits und „Gesellschaft“ andererseits generiert. Otfried H¨offe unternimmt eine Wanderung durch drei Jahrtausende Kulturgeschichte, um die (Grund-)Werte aufzufinden, die den heutigen Gesellschaften angemessen sein k¨onnten. Er erl¨autert, warum er es fu¨ r die zentrale Aufgabe der Bildungsinstitutionen h¨alt, den B¨urgern der modernen Demokratien sowohl die Kenntnis dieser Werte als auch die Kompetenzen zu vermitteln, ihr Leben entsprechend zu fu¨ hren. Ingrid Schoberth legt dar, welche Rolle christlich-religi¨oser Bildung in der postmodernen Gesellschaft, und damit in Zeiten weltanschaulicher Un¨ubersichtlichkeit zukommen kann. Sie benennt als zentrale Aufgabe, Orientierung dar¨uber zu vermitteln, „wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann“. Dieter Teichert beleuchtet die zahlreichen Vorurteile, die dem wissenschaftlichen Kernbereich der traditionellen Bildung, den Geisteswissenschaften, entgegengebracht werden, und diskutiert die m¨oglichen gesellschaftlichen Funktionen dieses angeblich „nutzlosen“ Sektors. J¨urgen Paul Schwindt beschreibt am Beispiel eines Textes, der vielen Generationen von Lateinsch¨ulern in nicht immer freudvoller Erinnerung geblieben ist, welche Aufgaben die Zentraldisziplin des einstigen bildungsb¨urgerlichen Kanons, die Altphilologie, heute erfu¨ llen kann. In Auseinandersetzung mit Caesars De bello gallico pl¨adiert er fu¨ r eine Neudefinition des Fachs als „Radikalphilologie“. Hartmut Titze untersucht Entstehung und Entwicklung des modernen Bil¨ dungswesens in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Uber einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten beobachtet er die Wechselwirkungen zwischen den Bildungsprozessen und -konjunkturen auf der einen, dem gesellschaftlichen und politischen Wandel auf der anderen Seite. Dabei verortet er beispielsweise den Nationalsozialismus in den langen Wellen dieser Bildungsgeschichte. Hermann Engesser beleuchtet den Wandel, dem die Gestalt des Wissens im Zeitalter der elektronischen Medien und des Internets unterworfen ist. Die Archivierung des Wissens – Grundvoraussetzung fu¨ r den Fortschritt des Wissenserwerbs – wird zunehmend in ganz anderen als den jahrhundertelang u¨ blichen Formen stattfinden. Neue Darstellungsweisen, Interaktivit¨at, zuneh¨ mende Fl¨uchtigkeit von Information, Uberflutung sind einige der Stichworte, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden.

Vorwort

VII

Rose Boenicke mustert die Programmatik der „emanzipatorischen“ oder „kritischen“ P¨adagogik der 1960er und 1970er Jahre. Sie versucht zu kl¨aren, woran deren hohe Anspr¨uche auf Gesellschaftsver¨anderung gescheitert sind und wie sie dieses Scheitern verarbeitet hat. Dabei wird deutlich, wie sehr diese lange vorherrschende Str¨omung des Bildungsdenkens den vermutlich obsoleten Subjektivit¨atsvorstellungen des deutschen Idealismus verhaftet war. Christiane Schiersmann stellt die Ergebnisse einer breiten empirischen Untersuchung zum Weiterbildungsverhalten der deutschen Bev¨olkerung vor und er¨ortert davon ausgehend, was das viel beschworene „Lebenslange Lernen“ heute realiter bedeutet. Peter Meusburger er¨ortert aus bildungsgeographischer Sicht die Tatsache, dass Generierung,Verbreitung, Erwerb und Anwendung von Wissen kontextabh¨angig sind. Wissenschaftliche Praxis wird als r¨aumlich situiert und wissenschaftliches Wissen als lokal konstruiert charakterisiert. Er begr¨undet, warum ein r¨aumlich differenzierender Ansatz auch beim Thema Wissen neue Erkenntnisse bringen kann und worin die Bedeutung des r¨aumlichen Kontextes bei der Produktion und Anwendung von Wissen liegt. Werner Gamerith zeigt, welche Bedeutung die Ethnizit¨at fu¨ r das Bildungsverhalten in den USA hat. F¨ur viele u¨ berraschend erweist sich die ethnische Zugeh¨origkeit der Bildungsteilnehmer immer noch als einer der wichtigsten Einflussfaktoren f u¨ r die Entstehung von sozialen und regionalen Disparit¨aten des Bildungsverhaltens. Heike J¨ons stellt eine umfangreiche Studie zur zirkul¨aren Mobilit¨at von Wissenschaftlern und zur transnationalen Kooperation innerhalb der Wissenschaften vor.Am Beispiel von US-amerikanischen Wissenschaftlern, die l¨angere Zeit in Deutschland geforscht haben, diskutiert sie sowohl die Voraussetzungen als auch die Auswirkungen der zirkul¨aren Mobilit¨at von Wissenschaftlern. Nico Stehr f u¨ hrt in seinem Beitrag u¨ ber den Zusammenhang von Bildung, Ar¨ beit und Wirtschaft die Entstehung der „wissensbasierten Okonomie“ anders als gemeinhin u¨ blich nicht auf ver¨anderte Qualifikationsanforderungen des Besch¨aftigungssystems zur¨uck, sondern auf das s¨akulare Wachstum des Angebots an gut ausgebildeten Arbeitskr¨aften, an „Wissensarbeitern“. Lernen und die Produktion von Wissen seien daher m¨oglicherweise die entscheidenden Triebkr¨afte der heutigen Gesellschaften, und die (Bildungs-)Politik sollte dieser Entwicklung Rechnung tragen. Michael Rogowski pl¨adiert – ausgehend von der These, dass Wissen und Bildung f u¨ r die Zukunft des Wohlstands in Deutschland von herausragender Bedeutung sind – fu¨ r „Freiheit in der Wissensgesellschaft“. Er versteht darunter die weitgehende Entstaatlichung des Bildungswesens, die Privatisierung von Bildungseinrichtungen und die Reorganisation des Bildungssektors nach marktwirtschaftlichen Prinzipien.

VIII

Vorwort

Dieter Langewiesche beleuchtet den radikalen Umbau, dem eine der zentralen Bildungsinstitutionen, die Universit¨at, derzeit ausgesetzt ist. Einer intensiven Kritik dieses Umbaus und der ihn begleitenden Verh¨ullungsrhetorik f u¨ gt er einen eigenen Reformvorschlag f u¨ r die Neustrukturierung des Personalaufbaus an den Hochschulen an.

klaus kempter peter meusburger

Inhaltsverzeichnis klaus kempter Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon Ein Literaturbericht 1

volker lenhart Humboldt heute – Das klassische Bildungsprogramm und die gegenw¨artigen Bildungsaufgaben 33

stefan buttner ¨ Hegels Bildungstheorie dargestellt anhand seiner N¨urnberger Gymnasialreden nebst einer Reflexion auf die Situation der Bildung in der heutigen Weltgesellschaft 59

otfried h¨offe Werte fu¨ r ein demokratisches Bildungswesen

83

ingrid schoberth „Wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann“ Der Beitrag religi¨oser Bildung in der Postmoderne 97

dieter teichert Zwischen Vorurteilen und Missverst¨andnissen – Zur Situation der Geisteswissenschaften 127

jurgen ¨ paul schwindt „Radikalphilologie“ Die Bedeutung der Altertumswissenschaften fu¨ r die heutige Bildung

hartmut titze Bildungskrisen und Selbstorganisation der Kultur Zur Eigendynamik von Bildungsprozessen in der Moderne

163

hermann engesser Bildung und Wissen im Zeitalter der elektronischen Medien und des Internets

209

151

X

Inhaltsverzeichnis

rose boenicke Bildung als kritisches Korrektiv der Gesellschaft ¨ Uber die Wechself¨alle eines großen Anspruchs 225

christiane schiersmann Lebenslanges Lernen: Erfahrungen und Einstellungen der deutschen Bev¨olkerung Ergebnisse einer repr¨asentativen Erhebung 247

peter meusburger Wissen und Raum – ein subtiles Beziehungsgeflecht

269

werner gamerith Ethnizit¨at und Bildungsverhalten Ein kritisches Pl¨adoyer f u¨ r eine „Neue“ Kulturgeographie

heike j¨ons Grenzenlos mobil? Anmerkungen zur Bedeutung und Strukturierung zirkul¨arer Mobilit¨at in den Wissenschaften 333

nico stehr Aktuelle Probleme der Wissensgesellschaft: Bildung, Arbeit und Wirtschaft 363

michael rogowski Freiheit in der Wissensgesellschaft

379

dieter langewiesche Universit¨at im Umbau Heutige Universit¨atspolitik in historischer Sicht und Vorschlag f u¨ r eine neue Personalstruktur 389

309

Autorenverzeichnis Prof. Dr. phil. rose boenicke Erziehungswissenschaftliches Seminar, Universit¨at Heidelberg Akademiestraße 3, 69117 Heidelberg [email protected]

¨ PD Dr. phil. stefan buttner An der Stammbahn 131, 14532 Kleinmachnow [email protected] hermann engesser Springer-Verlag, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. phil. werner gamerith Geographisches Institut, Universit¨at Passau, Innstraße 40, 94032 Passau [email protected] Prof. Dr. phil. Dr. h.c. otfried h¨ offe Philosophisches Seminar, Universit¨at T¨ubingen Bursagasse 1, 72074 T¨ubingen [email protected]

ons Dr. phil. heike j¨ School of Geography, University of Nottingham, University Park Nottingham NG7 2RD, United Kingdom [email protected] Dr. phil. klaus kempter Neuphilologische Fakult¨at, Universit¨at Heidelberg Voßstraße 2, Geb¨aude 37, 69115 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. phil. dieter langewiesche Historisches Seminar, Universit¨at T¨ubingen Wilhelmstraße 36, 72074 T¨ubingen [email protected]

XII

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. phil. volker lenhart Erziehungswissenschaftliches Seminar, Universität Heidelberg Akademiestraße 3, 69117 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. phil. peter meusburger Universit¨at Heidelberg, Geographisches Institut Berliner Straße 48, 69120 Heidelberg [email protected] Dr. rer. pol. michael rogowski Bundesverband der Deutschen Industrie, 11053 Berlin [email protected] Prof. Dr. phil. christiane schiersmann Erziehungswissenschaftliches Seminar, Universit¨at Heidelberg Akademiestraße 3, 69117 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. theol. ingrid schoberth Praktisch-Theologisches Seminar, Universit¨at Heidelberg Karlstraße 16, 69117 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. phil. jurgen ¨ paul schwindt Seminar f u¨ r Klassische Philologie, Universit¨at Heidelberg Marstallhof 2–4, 69117 Heidelberg [email protected] Prof. nico stehr, PhD Zeppelin University, Fallenbrunnen 2, 88045 Friedrichshafen [email protected] Prof. Dr. phil. dieter teichert Fachbereich Philosophie, Universit¨at Konstanz, 78457 Konstanz [email protected] Prof. Dr. phil. hartmut titze Institut f u¨ r P¨adagogik, Universit¨at L¨uneburg Scharnhorststraße 1, 21335 Lüneburg [email protected]

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon Ein Literaturbericht klaus kempter

Im Jahr 1999 erzielte der Hamburger Literaturprofessor Dietrich Schwanitz einen großen Publikumserfolg mit einem Buch, das unter dem vollt¨onenden ¨ Titel „Bildung“ einen Uberblick zu geben versprach u¨ ber „Alles, was man wissen muss“. Schwanitz, einige Jahre zuvor schon mit dem ebenfalls a¨ ußerst popul¨aren Unterhaltungsroman „Der Campus“ als Kritiker der real existierenden deutschen Universit¨at hervorgetreten, ging in seinen beiden wenig konventionell-akademischen B¨uchern von einer Diagnose aus, die in der zweiten H¨alfte der neunziger Jahre nicht mehr ganz neu war, in den Massenmedien aber – und ebenso beim breiten „gebildeten“ Publikum – auf ein großes und u¨ berwiegend zustimmendes Echo traf. Diese Diagnose lautete etwa so: Die Kulturrevolution von „1968“ und die sozialdemokratisch gefu¨ hrten Bundesund Landesregierungen h¨atten das, was vom u¨ berkommenen klassischen Bildungskanon die Wechself¨alle des 20. Jahrhunderts und sogar den Untergang des Bildungsb¨urgertums alter Schule u¨ berstanden hatte, mit einer „emanzipatorisch“ inspirierten Politik der Nivellierung und Gleichmacherei zerst¨ort.

I Die Wiederentdeckung der Bildung Ausgangspunkte der neueren Bildungsdebatte Seit Ende der neunziger Jahre also wogt eine breite Diskussion u¨ ber „Bildung“ hin und her, die erste seit der Debatte der sechziger und siebziger Jahre, welche ausgehend von den B¨uchern Georg Pichts und Ralf Dahrendorfs die Initialz¨undung gab f u¨ r die Bildungsreform und Bildungsexpansion der Großen und der nachfolgenden sozialliberalen Koalition, die viele u¨ berkommene Strukturen und Inhalte ins Wanken brachte. Zwar hatten schon vor Schwanitz andere ins gleiche Horn gestoßen. Die Zahl der Leitartikel, Brosch¨uren, B¨ucher etc., die den Verlust der Bildung, aber auch des guten Benehmens, von Sitte,Anstand und Moral beklagten, wuchs seit der „Tendenzwende“ der siebziger Jahre, seit dem Stocken des wirtschaftlichen

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Klaus Kempter

Nachkriegsbooms, dem Ende des „Goldenen Zeitalters“ (Eric J. Hobsbawm), best¨andig an. Konservative Publizisten erhoben mahnende Zeigefinger ob des Verlusts an kulturellem Wissen, an Sittlichkeit und Anstand. Und auch Helmut Kohls „Wende“, die 1982 eingeleitete oder zumindest angek¨undigte „geistigmoralische Erneuerung“, speiste ihre Legitimation in der Bev¨olkerung nicht zuletzt aus dem Gefu¨ hl, es sei des Guten (respektive des Schlechten) in Sachen „Emanzipation“ auch im Bildungsbereich zu viel getan worden. Kohl ¨ selbst hatte des Ofteren gegen die von ihm so genannte „Konflikt-P¨adagogik“ polemisiert und sich den Appellen angeschlossen,die „Mut zur Erziehung“ verlangten. Zu einem breiten Debattenstrom liefen die unterschiedlichen Klagen u¨ ber kulturelle Modernisierungsverluste jedoch erst seit Ende der neunziger Jahre zusammen. Dabei waren und sind die Argumente des konservativen Lagers, anders als es lange Zeit von seinen Gegenspielern dargestellt wurde, nicht bloß Ideologie. Die gesellschaftliche Praxis, jedenfalls die Nachrichten dar¨uber, scheinen die Warner zunehmend zu best¨atigen: Unternehmer klagen immer h¨orbarer u¨ ber die mangelnden Kenntnisse derjenigen, die sich bei ihnen um eine Ausbildung bewerben, die erste PISA-Studie 1 von 2001 bescheinigte den deutschen Sch¨ulern im internationalen Durchschnitt weniger als mittelm¨aßige F¨ahigkeiten im Hinblick unter anderem auf Lesekompetenz und Textverst¨andnis, 2 Universit¨atsprofessoren raufen sich angesichts der Wissensl¨ucken ihrer Studenten die Haare und fordern Prop¨adeutische Jahre, und vergleichende Bewertungen der internationalen Hochschullandschaft erweisen die Mittelm¨aßigkeit der deutschen Universit¨aten. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Krisenstimmung, die sich wesentlich aus den Wirtschaftsdaten – Arbeitslosigkeit, geringes Wachstum, Finanznot der Sozialversicherungssysteme und ¨ der o¨ ffentlichen Haushalte –, der offenbaren Uberforderung der politischen Elite und dem Alarmismus der Medien ableitet, steht das gesamte deutsche Bildungssystem mehr und mehr unter o¨ ffentlicher Beobachtung: Es scheint Konsens zu sein, dass einer der wenigen Standortvorteile der – rohstoffarmen – deutschen Volkswirtschaft bislang der hohe Bildungs-, besser gesagt: Qualifikationsstand seiner erwerbst¨atigen Bev¨olkerung war, und dass nun auch dieser Wettbewerbsvorteil im Schwinden begriffen ist. Die j¨ungeren politischen Bildungsdebatten finden unter den genannten Auspizien statt: Eliteuniversit¨aten, Studiengeb¨uhren, Einf u¨ hrung von Bachelor- und Masterstudieng¨angen, achtj¨ahriges Gymnasium, Ganztagsschulen,Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Englischunterricht in der Grundschule und F¨orderung von Kleinkindern im Vorschulalter – in Anlehnung an die franz¨osischen Ecoles Maternelles beispielsweise oder durch Einfu¨ hrung von Pflichtkindergarten1 2

„PISA“: Programme for International Students Assessment. Die Studie wird allerdings von verschiedenen Seiten als fehlerhaft und wenig aussagekr¨aftig kritisiert. Siehe zuletzt Kraus 2005.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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jahren – sind die Stichworte, an denen sie sich entz¨unden. Und neben den erw¨ahnten Kulturpessimisten des konservativ-abendl¨andischen Spektrums hat sich im Angesicht dieser Malaisen eine zweite kritische Partei etabliert: diejenige der wirtschaftsnahen Modernisierer, die sich vor allem um das „Humankapital“, den Produktionsfaktor Wissen, die Qualifikation der (k¨unftigen) Produzenten Sorgen machen. Die Bildungsparole f u¨ hrt auch diese Partei im Mund, sie meint damit aber etwas durchaus anderes als die konservativen Anh¨anger einer kanonischen Bildung, n¨amlich beruflich unmittelbar verwertbare (Schl¨ussel-)Kompetenzen. Ist das Lamento u¨ ber mangelnde Bildung oder vielmehr u¨ ber mangelhafte kognitive Leistungen vor allem der Jugend also allenthalben zu h¨oren, so sollte dies nicht dazu verfu¨ hren, die Klagenden u¨ ber einen Leisten zu schla¨ gen. Zwar gibt es a¨ hnliche Argumente, Ubereinstimmungen in der Diagnose und vor allem ein gemeinsames Feindbild: die „Achtundsechziger“ mit ihren Emanzipations- und Demokratisierungsparolen. 3 Doch in anderen zentralen Fragen ist man sich durchaus uneins. Verlangen die einen danach, die Aus-Bildung der Jugend zielbewusst an kommenden „Herausforderungen“ im Wirtschaftsleben auszurichten und sie „fit“ zu machen f u¨ r das Berufs- und Erwerbsleben in einer mobilen, flexiblen, sich st¨andig in rasender Geschwindigkeit transformierenden Welt, 4 pl¨adieren die anderen gerade fu¨ r eine Abkehr von dieser Art von N¨utzlichkeitsdenken und wollen der „Bildung“ um ihrer selbst willen zu ihrem guten alten Recht verhelfen. Insofern sind diese Denkschulen geradezu Antipoden. Die Anh¨anger des „Kanons“ sehen in den Modernisierern fast ebenso schlimme Feinde der Bildung wie einstmals in ¨ den 68ern. Und umgekehrt d¨urften f u¨ r die liberalen Okonomisten die Konservativen Tr¨aumer sein – nicht so l¨astige und gef¨ahrliche wie die Linken von einst, aber auf dem Weg in eine gl¨anzende Zukunft des Standorts Deutschland ebenfalls recht unbrauchbar. Im Mittelpunkt der folgenden Ausfu¨ hrungen stehen freilich nicht die Wort¨ meldungen dieser Okonomisten, sondern diejenigen der Anh¨anger eines mehr oder minder klassischen Bildungskanons. Dabei ist durchaus unklar, wie groß der Einfluss dieses Lagers auf politische Programme und Entscheidungen ist. In der o¨ ffentlichen Debatte spielen die „Kanonisten“ jedoch un¨ubersehbar eine große Rolle. Sie u¨ ben einen erheblichen Einfluss auf das „gebildete“ Publikum aus, und sie werden immer wieder als Kronzeugen fu¨ r allerlei bildungspolitische Appelle in Anspruch genommen.

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Zu den Positionen der so genannten „emanzipatorischen“ oder „kritischen“ P¨adagogik mit ihren gesellschaftsver¨andernden Anspr¨uchen vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Rose Boenicke. Siehe hierzu, neben den meisten Beitr¨agen der Sammelb¨ande Alfred-Herrhausen-Stiftung 2001 und Fahrholz et al. 2002, im vorliegenden Band den Beitrag von Michael Rogowski.

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Klaus Kempter

II Dietrich Schwanitz und die Re-Kanonisierung der Bildung Ohne Zweifel ist Dietrich Schwanitz’ Buch „Bildung – Alles, was man wissen muss“ aus dem Jahr 1999 sowohl ein symptomatisches Zeugnis als auch einer der fr¨uhen H¨ohepunkte der j¨ungeren Bildungsdebatte. Schwanitz legte mit ironischem Augenzwinkern ein Kompendium vor, das zum einen eine Beschreibung und Diagnose der aktuellen Bildungsmisere, zum anderen eine entsprechende Therapie und deren Medikamente bot. Dabei bem¨uhten Beschreibung und Diagnose die bekannten Topoi des konservativ-kulturpessimistischen Diskurses. Schwanitz’ Gesichtspunkte waren die folgenden: Die Bildungsinstitutionen h¨atten nach der 68er Kulturrevolution, deren liberalisierende Wirkungen ein Ironiker wie Schwanitz durchaus anerkennen konnte, auf die Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem verzichtet: „Die Schule ist zum Prinzip des Tauschhandels zur¨uckgekehrt. Deutsch kann durch Sport ausgeglichen werden, Mathematik durch Religion.“ 5 Verunsicherung, Un¨ubersichtlichkeit und Beliebigkeit seien die Hauptmerkmale des reformierten Bildungswesens. Der Versuch, Chancengleichheit herzustellen und mit den Mitteln des Bildungssystems Klassengegens¨atze zu bek¨ampfen, habe zur inflation¨aren Vermehrung von h¨oheren Bildungsabschl¨ussen und von guten Noten gef u¨ hrt; „inflation¨ar“ im buchst¨ablichen Sinn, denn der Wert der Abschl¨usse und Zensuren sank stetig. Modischer didaktischer Firlefanz wie f¨acher¨ubergreifender Projektunterricht,aber auch dem Demokratisierungspathos der (Post-)Achtundsechziger geschuldete Strukturexperimente wie neue Schulverfassungen und allerhand Mitbestimmungsmodelle h¨atten die Schulen in die Krise getrieben. Und schließlich seien aufgrund einer weitgehenden Erziehungsabstinenz der Elternh¨auser den Sch¨ulern die Maßst¨abe des guten Benehmens vorenthalten worden, so dass die Lehrer an deren Erziehung fast zwangsl¨aufig scheitern m¨ussten. Am bedenklichsten fand Schwanitz aber die Zerst¨orung des alten „Bildungskanons“. Weil er „verengt und u¨ berholt erscheint, hat man Normen u¨ berhaupt aufgegeben.“ 6 Schwanitz blieb nun nicht bei dieser Klage stehen, sondern er bot seine Mithilfe bei der (Re-)konstruktion eines solchen Kanons an, ja, er f¨acherte ihn in seiner ganzen Breite aus und legte so dar, was man heutzutage wissen muss, um als gebildet zu gelten. Dieser Kanon st¨utzte sich auf zwei tragende Haupts¨aulen, die Geschichte und die Literatur, und einige etwas d¨unnere Pfeiler, namentlich Kunst und Musik sowie die großen philosophischen, ideologischen oder wissenschaftlichen Weltbilder. Schwanitz’ Katalog ist somit ganz und gar historisch, und mehr als das: chronologisch orientiert – schließlich sah er sich selbst in erster Linie als Kulturhistoriker und dokumentierte dies mit einer groß angelegten „Englischen Kulturgeschichte“ 7 . Deutsche und europ¨aische Bildung 5 6 7

Schwanitz 1999, 24. Ebd., 27. Schwanitz 1995b.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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¨ muss, dies ist die Quintessenz seiner Uberlegungen, aufruhen auf der Kenntnis der beiden geistigen Str¨omungen, aus denen sich die Kultur des Abendlandes speist: der griechischen Antike und der j¨udisch-christlichen Offenbarung. Alles, was sonst noch zum Wissenskanon z¨ahlt – von den Barock-Oratorien bis zum Dekonstruktivismus –, leitet sich aus diesem Traditionsstr¨omen her. Eine notwendige Erg¨anzung findet das „Wissen“ bei Schwanitz im „K¨onnen“, kulturellen Fertigkeiten, die sich mit dem Wissen zur Bildung addieren. Hierzu geh¨oren zum Beispiel Sprachgef u¨ hl und Fremdsprachenkenntnisse, Umgangsformen und die F¨ahigkeit, sich in Angeh¨orige anderer Kulturen einzufu¨ hlen.

Abb. 1. Dietrich Schwanitz (1940–2004). Foto: H. Schr¨oder, Eichborn AG

Zugleich aber zog Schwanitz in dem von ihm erbauten Haus des Wissens eine Trennwand ein: „Was man nicht wissen sollte“ heißt eines der vergn¨uglichsten Kapitel in seinem durchweg unterhaltsamen Buch. Da Bildung bei Schwanitz immer auch ein soziales Spiel ist, dessen Regeln er Anf¨angern und Fortgeschritteneren mitteilt, weist er auch auf die Patzer hin, die einen in diesem Spiel disqualifizieren k¨onnen. So benennt er Wissensgebiete, in die man besser nicht tiefer eindringen oder deren Kenntnis man tunlichst verheimlichen sollte. Aktuelle Kabalen in europ¨aischen Adels- und K¨onigsh¨ausern sind mit einem solchen Tabu belegt, ebenso aber auch l¨angere Referate u¨ ber Autos, Motoren und sonstige technische Apparate. Gerade bei diesen Ausfu¨ hrungen fragt sich der Leser allerdings, ob Schwanitz’ Bildungsbegriff wirklich auf den ¨ Kern der kulturellen Uberlieferung zielt oder ob er nicht vielmehr bloß an der Erhaltung einer Form des „kulturellen Kapitals“ (Pierre Bourdieu) interessiert ist, die als Erkennungszeichen zwischen (Halb-)Gebildeten fungieren kann. Und so k¨onnte man schließlich, mit Schwanitz gegen Schwanitz, feststellen: Sein Buch „Bildung“ zu kennen, sollte man in „gebildeten“ Kreisen vielleicht besser nicht zugeben. Es k¨onnte als Zeichen von mangelnder Bildung gedeutet werden.

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Klaus Kempter

III Arzneien gegen die PISA-Krankheit: Konrad Adam und die R¨uckkehr zu Humboldt Einige Jahre nach Schwanitz legte der Journalist Konrad Adam ein Buch vor, das wie das Schwanitzsche in der Tradition der konservativen Kulturkritik stand, anders als jenes jedoch den Schwerpunkt auf die Krise der Bildung, deren Ursachen sowie Vorschl¨age zur Behebung legte, den Lesern aber nicht gleich all das an Inhalten bieten wollte, was ihnen die Bildungsinstitutionen vom Elternhaus bis zur Universit¨at nicht mehr vermitteln k¨onnen. Den Anlass fu¨ r seine Publikation bot ein Ereignis, das Schwanitz in seine Darstellung noch nicht hatte einbeziehen k¨onnen: die Ver¨offentlichung des ersten so genannten PISA-Berichts im Jahr 2001. Zwar hatte sich Konrad Adam schon seit Jahren mit der „deutschen Bildungsmisere“ befasst – und unter anderem einen Sammelband zu den „Bildungsl¨ucken“ 8 der Deutschen herausgegeben –, doch die Ergebnisse der international vergleichenden PISA-Studie verliehen seiner Argumentation neue Sch¨arfe. Den damit nachgewiesenen Verlust von „Basiskompetenzen“ und elementarem Wissen – von Bildung gar nicht zu reden – f u¨ hrte Adam wie viele der Abendl¨andisch-Konservativen mit ihrer „etwas altfr¨ankischen Vorstellung von Bildung und Erziehung“ 9 auf die Modernisierungsbestrebungen der sechziger Jahre, vor allem aber auf die hedonistischegoistische Revolte der Achtundsechziger zur¨uck. Die Ver¨achtlichmachung von „Leistung“ und die Verwerfung von Leistungsmessung (Notengebung), die Ablehnung von „Disziplin“, die Aversion der progressiven P¨adagogik gegen jede Art von Anforderungen und gegen „Erziehung“, die massenhafte Weigerung, Verantwortung zu u¨ bernehmen, eine Familie zu gr¨unden und Kinder zu erziehen, der Versuch, Bildungspolitik als ein Mittel der kompensatorischen Sozialpolitik zu nutzen: all das habe bei den Sch¨ulern eine br¨uchige Einstellung zur Arbeit,mangelndesVerantwortungsbewusstsein,geringe Belastbarkeit und einen Abbau des Konzentrationsverm¨ogens zum Ergebnis gehabt. So habe die so genannte „Bildungsreform“, oberfl¨achlich betrachtet, zwar große quantitative Erfolge erzielt: Die Zahl der Abiturienten hat sich zwischen dem Beginn der siebziger Jahre und dem Jahrtausendwechsel vervierfacht, die Studentenzahl verdreifacht; doch diese Expansion sei mit der Herausbildung der Massenuniversit¨at und dem Sinken des Bildungsniveaus in Gymnasien, von anderen Schulen wie der Gesamtschule zu schweigen, teuer erkauft worden. Als Heilmittel, jedenfalls f u¨ r die allgemeinbildenden Schulen, preist Konrad Adam die Konzentration aufs Klassische und Exemplarische und konkret die Pflege eines Kerncurriculums an, das die Vermittlung der von Wilhelm von Humboldt unterschiedenen vier Arten der Welterfahrung zum Inhalt haben sollte: 10 die historische,die mathematische,die a¨sthetische und die sprachliche. 8

Adam 1997. Adam 2002, 10. 10 Vgl. den Beitrag von Volker Lenhart im vorliegenden Band. 9

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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Dem absehbaren fragenden Einwand, ob dies nicht reichlich traditionalistisch gedacht sei und ob es nicht Wichtigeres, weil praktisch besser Verwertbares gebe, begegnet er mit einer klaren Zur¨uckweisung: Kultur – und damit Bildung – habe nun einmal mit Tradition zu tun, und gerade wo Wissen so schnell veraltet, sei es notwendig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Das hieße dann: Kultursprachen statt Programmiersprachen, Biologie statt Gesundheitslehre“ 11 . Die F¨acher, f u¨ r die sich Adam besonders ins Zeug legt, sind Geschichte und Biologie, Musik und Griechisch. Indem Adam die Biologie stellvertretend f u¨ r alle Naturwissenschaften in den Kanon der Bildungsf¨acher aufnimmt, macht er deutlich, dass er einen engen Bezug von „Bildung“ bloß auf die klassischen Kulturdisziplinen ablehnt. Dies unterscheidet ihn sowohl von Schwanitz als auch von Manfred Fuhrmann, der etwa gleichzeitig seine wichtigsten Schriften zum Bildungsthema publizierte. 12 Die Biologie ist bei ihm jedoch nicht allein Repr¨asentantin der „zweiten Kultur“ 13 ,vielmehr nimmt er mit einer Mehrzahl der journalistischen Gegenwartsdiagnostiker an, dass sie die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts sein wird. „Die Biowissenschaften sind dabei, nicht nur den Anfang und das Ende des Lebens zu manipulieren, sondern auch alles, was dazwischen liegt, einschließlich der Vorstellung, die sich die Menschen von sich selber bilden.“ 14 Wer u¨ ber keinerlei lebenswissenschaftliche Kenntnisse verfu¨ gt, wird in den Grundfragen der menschlichen Existenz in Zukunft nicht mehr mitreden k¨onnen. Bildung ohne solche Kenntnisse – aber auch ohne Wissen u¨ ber o¨ kologische Zusammenh¨ange und ohne konkrete Naturerfahrungen – ist fu¨ r Adam schlechterdings unvorstellbar. Sein Pl¨adoyer fu¨ r Musik als Kernbestandteil des schulischen F¨acherkanons verfolgt keine derart aufs Aktuelle, Gesellschaftliche und N¨utzliche bezogene Argumentationslinie. Musik, wie andere Formen der Kunst, hilft zur Kultivierung der eigenen Gef u¨ hle, sie kann dazu beitragen, den Menschen vollst¨andig zu machen, ihn nicht seinen Affekten ungesch¨utzt auszuliefern, ihn nicht in die Aggression zu treiben. 15 „N¨utzlich“ im Sinne einer unmittelbaren Verwertbarkeit sind auch Griechisch-Kenntnisse nicht. Doch allzu lange, so karikiert Konrad Adam den Unterricht der post-68er Lehrer, wurden deutsche Sch¨uler mit Werbe- und Nachrichtentexten, Zeitungsartikeln und Kreuzwortr¨atseln traktiert.Wenn das Wittgensteinsche Diktum von den „Grenzen meiner Sprache“, die „die Grenzen meiner Welt“ seien, stimme, dann wurden zahlreiche Sch¨ulerjahrg¨ange in enge K¨afige gesperrt. Als Gegenmittel sei das Griechische geeignet wie nichts sonst: wegen des Ausdrucksreichtums der Sprache, ihrer nicht zu u¨ bertreffenden 11

Adam 2002, 13. Siehe dazu unten, Kapitel IV. 13 Siehe unten, Kap.V. 14 Adam 2002, 93. 15 Ebd., 112. 12

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M¨oglichkeiten, Gedanken und Gef u¨ hlen differenzierten Ausdruck zu verleihen, aber auch wegen des Geistes der Freiheit und der Humanit¨at, der in den klassischen Schriften wehe. Anders als Dietrich Schwanitz oder Manfred Fuhrmann gibt Adam u¨ ber die Skizzierung eines m¨oglichen Kanons der wichtigen F¨acher und Inhalte hinaus auch Empfehlungen, welche die Struktur des Bildungssystems betreffen. Dazu geh¨ort in erster Linie, die F¨orderung der kognitiven F¨ahigkeiten so fr¨uh wie m¨oglich zu beginnen, also in Elternhaus und Grundschule; verbunden damit die Abkehr von „Verw¨ohnp¨adagogik“ von „allerlei Wunderheilern“, 16 von „Kuschel-“ und „Unterschichtenp¨adagogik“, die Kindern aus bildungsfernen Schichten ganz wohlmeinend das vorenth¨alt, was sie am n¨otigsten brauchen, n¨amlich Anleitung und Ermutigung zum Erwerb von Wissen und Manieren. 17 Zum zweiten empfiehlt Adam, die Erziehungswissenschaft m¨oglichst weitgehend aus der konkreten Bildungspraxis zu verbannen, da sie keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern lediglich Dogmen, Alltagsweisheiten und progressive Marotten zu bieten habe, und die Erziehungs- und Bildungspraxis kein wissenschaftlich zu durchdringendes Gebiet sei. Seine weiteren Rezepte, etwa das in dem Slogan „Weniger Staat, mehr Freiheit“ (im Bildungswesen) zusammengefasste, die Betonung des Elternrechts, aber auch der Elternpflicht zur Erziehung (gegen die mehr oder minder gutgemeinte Ganztagsbetreuung) oder der Aufruf zu „kinderfreundlicher“ Politik („Mut zum Kind“) 18 sind weniger instruktiv. Mit dieser Mischung aus neoliberalen Bauernregeln und altbackenen Ressentiments verl¨asst er auch den eigentlichen Gegenstand seiner Schrift, die Bildung, um en passant einige der Lieblingsthemen des heute aus allen Medien quellenden eint¨onigen Reformdiskurses mit abzuhandeln: die angeblich erstickende Wirkung jeglicher Staatst¨atigkeit, den Egoismus der Kinderlosen, den „demographischen Wandel“ und a¨ hnliche politische Kannegießereien.

IV Systematische Grundlegung der europ¨aischen Bildung: Manfred Fuhrmann und der doppelte Kanon Noch vor Konrad Adam, zur gleichen Zeit wie Dietrich Schwanitz, n¨aherte sich der Konstanzer Altphilologe Manfred Fuhrmann mit einem klaren normativen Fokus der auch fu¨ r ihn bedr¨angend relevanten Bildungsfrage. Im Zentrum ¨ seiner Uberlegungen stand „Europa“; der Kanon war f u¨ r Fuhrmann ein gesamteurop¨aischer, und er beschrieb eindrucksvoll die Entwicklungsgeschichte dieser europ¨aischen Bildung, ihrer Voraussetzungen und Institutionen. Der ¨ „Pr¨agestock der Bildung“ – so eine eindr¨uckliche Ubersetzung des aus dem Semitischen stammenden griechischen kanÅn – habe bis zum Beginn des 16 17 18

Ebd., 133. Ebd., 141. Ebd., 183.

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20. Jahrhunderts das gesamte B¨urgertum Europas geformt: „Engl¨ander, Fran¨ zosen und Deutsche, Konservative, Liberale und Sozialisten, Pfarrer, Arzte und 19 Ingenieure“. Worin aber bestand diese gesamteurop¨aische Bildung? Welche Kenntnisse waren verbindlich, musterg¨ultig f u¨ r das jeweilige Bildungsb¨urgertum der großen europ¨aischen Nationen? Was macht(e) „Europas kulturelle Identit¨at“ – so der Untertitel einer Fuhrmannschen Bildungsschrift 20 – aus? Zun¨achst einmal das (eben nicht allein deutsche) Ideal der Allgemeinbildung – statt der bloßen Berufsbildung –, der Traum von der vollen Entfaltung der Pers¨onlichkeit; im Inhaltlichen vor allem die Orientierung an der Alten Welt, an der sp¨ater „christlich gewordene[n] griechisch-r¨omische[n] Kultur“ der Antike. 21 Europa wird aus zwei großen Str¨omen gespeist: dem Christentum und dem antikisierenden Humanismus; Jerusalem und Athen sind deren Quellgebiete. Aus diesen Traditionen – und eben nicht aus aktuellen Anforderungen etwa des Besch¨aftigungssystems, den vielbesprochenen „Kompetenzen“ und „Schl¨usselqualifikationen“ – leitet sich fu¨ r Fuhrmann alles ab, was „Bildung“ war und heute noch sein k¨onnte. Die zu Bildenden sollten in den Zeiten, als der Bildungskanon galt, „ihr Leben im Hinblick auf Werte und Ideale einrichten, die vorgegeben waren, die nicht der jeweiligen Wirklichkeit entstammten.“ 22 Auf diese Grundlage, die in den Schwellenzeiten von karolingischer Renaissance, Humanismus, Reformation und Weimarer Klassik galt, auf die europ¨aische Tradition mithin ist, Fuhrmann folgend, zur¨uckzukommen – sofern dies noch m¨oglich ist: Da die „nivellierte Massengesellschaft der Gegenwart“ die Tr¨agergruppe der Bildung, das B¨urgertum, „in sich aufgesogen und zum Verschwinden gebracht hat“ 23 und sich zudem „der wichtigsten Voraussetzung des Zugangs zum einstigen Kanon ent¨außert“ 24 habe, des humanistischen Gymnasiums n¨amlich, d¨urfte sich diese R¨uckkehr schwierig gestalten. Denn die Fundamente der europ¨aischen Kultur wurden im humanistischen Gymnasium, im Griechisch- und Lateinunterricht vermittelt. Nicht nur Grammatik und Sprachgefu¨ hl – n¨utzlich auch in den modernen Sprachen – wurden im altsprachlichen Unterricht ge¨ubt, viele antike Realien hatten dort ebenfalls ihren Platz: Historische und mythische Stoffe, Epik, Lyrik und Dramatik, die Institutionen der griechischen Polis und der r¨omischen Republik, rhetorische Figuren und philosophische Probleme nahmen die Sch¨uler wie nebenbei auf oder hatten zumindest die Gelegenheit dazu. Heute fließen solche aus der Antike u¨ berkommene Bildungsg¨uter bloß noch als ebenso schmales wie seichtes Rinnsal u¨ ber die Kulturinstitutionen des terti¨aren oder quart¨aren Sektors – 19

Fuhrmann 1999. Die Zitation folgt der erweiterten Neuausgabe 2004, hier 37. Fuhrmann 2002. 21 Fuhrmann 2004, 48. 22 Fuhrmann 2002, 12. 23 Fuhrmann 2004, 206. 24 Fuhrmann 2002, 66. Vgl. Fuhrmann 2004, 207ff. 20

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Museen, Theater, Literaturverfilmungen, History-TV – oder u¨ ber die FreizeitIndustrie in das zeitgen¨ossische Bewusstsein ein. ¨ Noch ein wenig verzweifelter war Fuhrmann u¨ ber die weiteren Uberlebensm¨oglichkeiten des anderen Kanons, des christlichen. Die Bibel nannte er „ein gef¨ahrdetes Element unserer Kultur“ und beklagte damit nicht nur den Verlust der „Christlichkeit“, sondern auch der „kognitiven Voraussetzungen dafu¨ r“. 25 Biblische Stoffe, Namen, Geschichten kommen, so beobachtete er als emeritierter Hochschullehrer, bei den heute Studierenden, angehenden Lehrern etwa, mehr und mehr abhanden; von Heiligenlegenden und M¨artyrergeschichten, die u¨ ber Jahrhunderte zum allgemeinen und volkst¨umlichen Bildungsgut geh¨ort hatten, ganz zu schweigen. Damit fehlt aber nicht bloß der Zugang zu einem f u¨ r den s¨akularen Alltagsverstand tats¨achlich entbehrlichen Wissensbereich – auch weite Teile der europ¨aischen Hochkultur in Musik, bildender Kunst und Literatur macht diese Entwicklung unzug¨anglich. Fuhrmanns Befunde klingen pessimistisch; ob er selbst an die M¨oglichkeit einer Tendenzwende glaubte,ist durchaus fraglich.Gleichwohl bem¨uhte er sich, Wege aus der Misere zu weisen, ohne einfach die R¨uckkehr zu alten, besseren Zust¨anden zu propagieren – wissend, dass diese nicht wiederkommen. Einen Kernbestand von „Bildung“, einen Kanon, zu vermitteln – und zwar nachdr¨ucklicher als in den letzten Jahrzehnten und in allen Schulformen – statt „Kompetenzen“ und „Qualifikationen“ zu f¨ordern, schien ihm unumg¨anglich. Die Inhalte des Unterrichts ins Zentrum k¨unftiger Bildungsbem¨uhungen zu stellen und von „Lernzielen“, Methoden und Organisationsformen, den Lieblingsthemen der P¨adagogik, vorerst abzusehen, galt ihm als Conditio sine qua non des Erfolgs. Und den Ort dieses Minimal-Kanons sah er im Deutsch- und im Geschichtsunterricht. Hier k¨onnten auch in Zukunft Sch¨uler an Wissensbest¨ande herangef u¨ hrt werden, die im Zentrum der europ¨aischen Kultur beheimatet sind; hier k¨onne „Bildung um des Fortbestandes der Kultur willen“, aber auch „Bildung als Selbstzweck, als Wesensmerkmal des Menschen, das keines a¨ ußeren Anstoßes bed¨urftig ist“ gepflegt werden. 26

V Der literarische Kanon: Harold Bloom, Marcel Reich-Ranicki und andere Das Schulfach Deutsch und seine Inhalte – vor allem die große Literatur – stehen bei allen Autoren, die einem emphatischen Begriff von Bildung anh¨angen, im Mittelpunkt der Betrachtungen. Literatur ist in der zweiten H¨alfte des 20. Jahrhunderts, nach dem Abschied von den alten Sprachen, zur vielleicht letzten Bastion der „Bildung“ geworden.Allerdings ist auch ihr Stellenwert seit einigen Jahrzehnten umk¨ampft – in der Schule sowohl wie im gesellschaftlichen Leben 25 26

Fuhrmann 2002, 91. Fuhrmann 2004, 240.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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u¨ berhaupt.Wem es in erster Linie um die „Wettbewerbsf¨ahigkeit des Standorts Deutschland“ zu tun ist, der k¨ummert sich meist nicht so sehr um Kulturg¨uter, die sich allenfalls als Ornament ums o¨ konomische Kalk¨ul ranken.Anderen sind diese wenigstens „Kompensation“ fu¨ r die F¨ahrnisse des modernen Lebens, f u¨ r die Entzauberung der Welt. Und den vielbeschimpften Achtundsechzigern, die unterdessen jedoch von der politischen und gesellschaftlichen B¨uhne abtreten, galten sie als reaktion¨arer Tand,der das Entstehen von Klassenbewusstsein und emanzipatorischen Erkenntnisinteressen verhinderte („Schlagt die blaue Blume tot, f¨arbt die Germanistik rot!“). Doch zweifellos findet gleichzeitig mit der j¨ungeren Bildungsdebatte eine Renaissance der vermeintlich oder tats¨achlich kanonischen Literatur statt. Den Auftakt setzte auch in dieser Diskussion – wenigstens in Deutschland – Dietrich Schwanitz, der nicht die deutsche Literatur ins Zentrum r¨uckte, da der fr¨uhere Kanon 1968 endg¨ultig untergegangen sei: „Man sah ihm seine nationalp¨adagogische Herkunft an. Zu ihm kann man also nicht zur¨uck.“ Stattdessen ergriff Schwanitz Partei fu¨ r die Welt-, oder besser: Westliteratur, denn „die neuen Maßst¨abe“ seien „an der Verwestlichung Deutschlands zu gewinnen“ – zumal die westlichen Nachbarn aus historischen Gr¨unden den eigenen Kanon, anders als die Deutschen, nicht zertr¨ummert h¨atten. 27 Schwanitz bot einen „Lekt¨urekanon, der sich an dem orientiert, was auch bei unseren Nachbarn zum kulturellen Wissen geh¨ort“: 28 Dante, Petrarca, Boccaccio, dann Cervantes, Shakespeare, Moli`ere, Defoe, Swift. Auch Richardsons Romane z¨ahlte der Anglist Schwanitz zu diesen kanonischen Werken, um sich erst dann der bedeutenden deutschen Literatur zuzuwenden, die nach den jeweiligen Goldenen Zeitaltern der großen s¨ud- und westeurop¨aischen Nationen entstand. Als Vorl¨aufer l¨asst er Grimmelshausen gelten, dann aber z¨ahlen nur Goethe (erst Werther, dann Faust), Lessing, Schiller und Kleist. Die große Zeit des Romans, das 19. Jahrhundert, fand bekanntlich wieder weitgehend ohne die Deutschen statt; die Fixsterne fu¨ r Schwanitz sind Stendhal, Dickens, die Bront¨es, Flaubert, Tolstoj und Dostojewski. Erst dann, nach der vorletzten Jahrhundertwende, kam mit den Buddenbrooks der erste deutsche Roman, der in Schwanitz’ Weltliga mitspielen darf; ein zweiter ist Musils Mann ohne Eigenschaften. Auch im 20. Jahrhundert gibt es jedoch erdr¨uckende ausl¨andische Konkurrenz: Tabellenf u¨ hrer bei den Modernen sind Joyce und Proust. 29 Der Kanon kann nicht mehr national sein, er muss vielmehr gesamt„westlich“ sein. Das hatte nicht Schwanitz entdeckt – ebenso wenig wie die Tatsache, dass es einen Schriftsteller gab, „der n¨achst Gott von der Welt am meisten geschaffen hat“ 30 ,William Shakespeare.Beides sind Steckenpferde,die 27

Schwanitz 2002, 17. Schwanitz 1999, 28, 31. 29 Den Schwanitzschen Kanon weiterentwickelt hat Christiane Zschirnt in ihrem Buch „B¨ucher. Alles, was man lesen muss“, zu dem Schwanitz ein Vorwort beisteuerte. 30 Schwanitz 1999, 223. 28

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schon der Yale-Literaturprofessor Harold Bloom geritten hatte. In einem monumentalen, 1994 erschienenen Werk breitete er aus, was er f u¨ r den „westlichen Kanon“ hielt. Dies geschah in Frontstellung gegen m¨achtige Erscheinungen des internationalen, vor allem des amerikanischen Geisteslebens, die Bloom boshaft unter dem Etikett „School of Resentment“ zusammenfasst: politisch korrekte Multikulturalisten, Antirassisten, Anti-Ethnozentriker, Bef u¨ rworter von Afro-American Studies, Feministinnen, Marxisten, Foucaultianer, New Historicists etc. pp. All diesen Parteiungen, soweit sie sich mit Literatur befassten, wirft Bloom vor, a¨sthetische Anspr¨uche zugunsten von außerk¨unstlerischen – politischen, sozialen, ethischen – u¨ ber Bord geworfen zu haben. Was den deutschen Streitern fu¨ r die „Bildung“ die Achtundsechziger sind, sind Bloom diese Vertreter der Schule des Ressentiments – die Verantwortlichen f u¨ r den Niedergang der alten Qualit¨atsstandards. Deren Polemik gegen „dead white european males“, ihrer Proklamation des „death of the author“ – der Aufl¨osung etwa der Genialit¨at Shakespeares in das Teamwork einer Schreibwerkstatt – und ihren Pl¨adoyers fu¨ r den Abschied von der herrschenden Hochkultur, die eine Kultur der Herrschenden sei, h¨alt Bloom entgegen, dass es in der Kunst nicht auf moralische Werte, edle Gesinnung, politische Fortschrittlichkeit ankomme, sondern auf a¨sthetische Qualit¨at. Diese sei zu erkennen an der Fremdheit der Texte, einer Art von inkommensurabler Originalit¨at und am Einfluss, den sie auf andere K¨unstler aus¨uben. Literatur ist f u¨ r Bloom keine Waffe im politischen Kampf, kein Argument in der Debatte u¨ ber sozialen Fortschritt, ja, sie ist ganz jenseits des gesellschaftlichen Feldes angesiedelt. Der Kampf des Schriftstellers geht allein ums eigene Werk und um seine pers¨onliche Individuation. Und hier liegt auch der einzige Nutzen, den die Literatur u¨ ber Unterhaltung und Vergn¨ugen hinaus dem Leser bieten kann: „to augment one’s own growing inner self“. Insofern tr¨agt diese Art literarischer Bildung zur Bereicherung der Pers¨onlichkeit bei. „All that the Western Canon can bring one is the proper use of one’s own solitude, that solitude whose final form is one’s confrontation with one’s own mortality.“ 31 Wozu aber u¨ berhaupt eine kanonische Auswahl großer Literatur? Das hat unter anderem ganz praktische Gr¨unde. Man sollte sich – Bloom zufolge – mit Literatur befassen, deren a¨ sthetischer Wert so groß ist, dass sie in gerade beschriebenen Sinn von Nutzen sein kann. Und da das Leben kurz ist und die Literatur zahlreich, sollte man sich auf wertvolle Werke konzentrieren. Der von Bloom vorgeschlagene Kanon ist eine „list of survivors“ einer 3000-j¨ahrigen Geschichte des Westens, die dabei ist, zu Ende zu gehen. Das Zentrum des westlichen Kanons, das einzige universelle, weltumspannende Werk der Literatur, sozusagen eine s¨akularisierte Heilige Schrift, 32 bildet

31 32

Bloom 1994, 30. Bloom 1994, 24.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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¨ Shakespeares Oeuvre. 33 Auf dieses Zentrum ordnet Bloom alles Ubrige hin: Dante, Chaucer, Cervantes, Montaigne, Moli`ere, Milton, Samuel Johnson – der „kanonische Kritiker“ – und Goethe als Vertreter des von Bloom so genannten „aristokratischen“ Zeitalters; dann Wordsworth, Jane Austen, Whitman, Emily Dickinson, Dickens, George Eliot, Tolstoj und Ibsen, die das „demokratische“ 19. Jahrhundert repr¨asentieren; schließlich die Heroen des darauf folgenden „chaotischen“ Zeitalters: Sigmund Freud als Essayist, Proust, Joyce, Virginia Woolf, Kafka, das iberisch-lateinamerikanische Trio Jorge Luis Borges, Pablo ¨ Neruda und Fernando Pessoa sowie Samuel Beckett. Das Ubergewicht englischsprachiger Autoren ist evident; darin mag Bloom ein wenig provinziell erscheinen. Doch er konzediert, dass abgesehen vom sakrosankten Shakespeare u¨ ber manches Urteil geredet werden k¨onnte. Anders als Schwanitz hatte sich Harold Bloom nicht zum Ziel gesetzt, mit einem Kanon das Bildungsquantum seiner Zeitgenossen zu erh¨ohen. Aus seinen Einlassungen spricht vielmehr der Literaturenthusiast, der nicht anders kann als lesen, als sich die Welt lesend anzueignen. Der bekannteste neuere Versuch, in Deutschland einen Kanon aufzustellen – derjenige von Marcel Reich-Ranicki –, entspringt noch weniger der Bildungsdebatte, wenn es auch nicht eben zuf¨allig ist, dass er sich in deren zeitlicher Nachbarschaft bewegt. Reich-Ranicki wehrt sich geradezu dagegen, die Literatur der Bildung unterzuordnen: „F¨ur Belehrung und Erbauung sind, dachte ich mir, doch viele andere B¨ucher da – wissenschaftliche, philosophische, religi¨ose.“ Die Zwecke der sch¨onen Literatur aber seien andere: „Unterhaltung, Spaß, Vergn¨ugen, Freude, Entz¨ucken, Begeisterung, Wonne, Gl¨uck.“ 34 Gleichwohl: Reich-Ranickis stark ausged¨unnter Kanon erf u¨ llt die Aufgabe, aus der heraus fr¨uhere Lekt¨urelisten, aber auch die Kodifikation des Lesepensums der gymnasialen Oberstufe entstanden: Er bietet Orientierung in der Un¨ubersichtlichkeit, er bietet Herausragendes und Exemplarisches dar, er stellt eine Auswahl dessen vor, was man kennen muss, wenn man gebildet sein will. Allerdings handelt es sich – anders als die Aufstellungen von Bloom und Schwanitz – um eine „eiserne Ration“ der deutschen Nationalliteratur, nicht um einen universellen Kanon. Reich-Ranicki beginnt seine Auswahl in der Abteilung „Romane“ – sp¨ater folgten Erz¨ahlungen und Dramen – wie selbstverst¨andlich mit Goethes Werther; die großen realistischen Romanciers Fontane,Thomas und Heinrich Mann sind vertreten, ebenso Kafka, dann auch – wie zu erwarten – G¨unter Grass, Thomas Bernhard und Max Frisch. Auch die u¨ brigen Nennungen bieten kei¨ ne Uberraschungen: Dass nur eine Frau vertreten ist, verwundert nicht, und dass es sich dabei um Anna Seghers mit ihrem Siebten Kreuz handelt und nicht etwa um den Malina-Roman von Ingeborg Bachmann, entspricht den lange gepflegten Zu- und Abneigungen des Anthologen. Das alles wirkt we33 34

Vgl. Bloom 2000. Reich-Ranicki 2003.

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nig originell – allerdings muss ein Kanon nun wirklich nicht originell sein –, trotzdem aber auch ein wenig beliebig. Der bisweilen ge¨außerte Verdacht, es handle sich bei Reich-Ranickis Kanon-Anthologien um wenig anderes als eine Verkaufsf¨orderungsaktion einiger Verlage, liegt nahe. Ohnehin w¨are eine Auseinandersetzung u¨ ber die Auswahlkriterien der Kanon-Bastler interessant. Was geh¨ort warum zum Kernbestand der Weltoder auch nur der deutschen Literatur? Und was davon sollte unbedingt gelesen werden? Woran erkennt man Texte, die zum Bildungsgut geh¨oren? Ist das ¨ Uberleben ihres Rufes u¨ ber die Zeiten hinweg ein hinreichendes Indiz? Und w¨are dann alles, was irgendwann vergessen wurde, per definitionem nichtkanonisch? Wie viele Revisionen muss ein Text u¨ berstanden haben, um kanonisch zu werden? Es ist schließlich nicht zu u¨ bersehen, dass es selbst f u¨ r scheinbar unumstrittene „Klassiker“ Konjunkturen gibt.Vieles einst Hochgesch¨atzte verschwindet, manches taucht wieder auf, ger¨at abermals in Vergessenheit, wird dann vielleicht wieder aus der Mottenkiste geholt. Manche „kanonischen“ Texte erfuhren, als sie zuerst erschienen, keinerlei Wertsch¨atzung und mussten erst von Nachgeborenen entdeckt werden. Andere werden entdeckt und dann von den Entdeckern als bedeutend gepriesen, ohne dass sie allgemeine Anerkennung finden.F¨ur die deutsche Literatur hat der Stuttgarter Germanist Heinz Schlaffer vor einigen Jahren in einem aufsehenerregenden Pamphlet zu zeigen versucht, wie manche Rezeptionsgeschichten verliefen: „Die Kenntnis althochdeutscher Dichtung geht nach 1150 verloren, die der mittelhochdeutschen nach 1450, die der fr¨uhen Neuzeit nach 1770.“ 35 Die in der Romantik entstandene Germanistik hat versucht, den deutschen Volksgeist zu erkunden und zu beleben, indem sie nach den verlorenen Sch¨atzen sch¨urfte, allein: „Die Ausgrabungen der Germanisten sind lediglich Umbettungen: von den Bibliotheken, in denen die Handschriften und halbverschollenen Drucke schlummerten, gelangen sie u¨ ber Edition, Kommentar und Interpretation wieder zur¨uck in die ewige Ruhe der Bibliotheken – unter Umgehung der Leser, fu¨ r die doch, so m¨ochte man annehmen, der m¨uhselige und kostspielige Aufwand gedacht war.“ 36 Doch diese Bemerkungen zur Subjektivit¨at und Zeitgeistabh¨angigkeit eines Literaturkanons m¨ogen hier gen¨ugen. Das zweite große Feld der „Bildung“, wie sie von den genannten konservativ-abendl¨andisch impr¨agnierten Autoren definiert wird, die Geschichte, bietet, was seine Inhalte angeht, vielleicht keine gleich vielf¨altigen Wahlm¨oglichkeiten. Aber auch hier steht die Schwerpunktsetzung permanent in Frage.

35 36

Schlaffer 2002, 19. Ebd., 17f.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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VI Der zweite Kernbestandteil: Welche Geschichte sollen wir lernen? In Schwanitz’ Bildungsbuch nimmt die Geschichte, zumal ja auch seine Abhandlungen u¨ ber Literatur, Kunst, Musik historisch angelegt sind, den breitesten Raum ein.Das gesamte „Ger¨ust“ der europ¨aischen Bildung ist fu¨ r Schwanitz im Kern historisch, das Wissen sinnvoll zu begreifen nur mittels der Chronologie. Ohne dieses Ordnungsschema ist alles Weitere nicht zu haben. Aber auch inhaltlich steht die Geschichte neben der Literatur im Zentrum der Bildung: Sie bildet n¨amlich die Grundlage f u¨ r die Identit¨at einer Kultur,f u¨ r den Zusammenhalt und die Legitimation einer Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung. In Deutschland ist freilich die Nationalgeschichte, welche die Demokratie st¨utzen soll, mit einer besonderen Problematik behaftet. Die Großverbrechen des Nationalsozialismus stehen hier im Zentrum des historischen Interesses, und sie stehen eben auch im Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts wie der u¨ brigen, etwa medialen, Geschichtsvermittlung. „Diese Epoche wirkt wie ein implodierter Stern, der sich in ein schwarzes Loch verwandelt hat und alles Licht in seiner Dunkelheit begr¨abt.“ Da eine positive Identifikation mit dem heutigen demokratischen Gemeinwesen nicht zu erreichen sei, wenn der Fokus auf diesem „historischen Trauma“ verharre, m¨usse die Geschichte Europas in ihrer G¨anze gelehrt werden, eben vor allem mit den produktiven Traditionen, auf denen seine Zivilisation aufruht – als „große Erz¨ahlung“ von 3000 Jahren Abendland von den Anf¨angen in „Jerusalem“ und „Athen“ u¨ ber die Geschichte des Christentums und die Entstehung Europas im Mittelalter, u¨ ber Renaissance und Reformation bis zur Aufkl¨arung und zu unserem Zeitalter der permanenten Modernisierungen und Revolutionen. 37 Manfred Fuhrmann h¨alt ebenfalls Geschichte neben Deutsch fu¨ r das zentrale Bildungsfach in den Schulen, und auch er argumentiert mit der Notwendigkeit einer positiven Identit¨atsbildung. „F¨ur das berufliche Fortkommen des Einzelnen mag das Fach von geringer Bedeutung sein, f u¨ r das Wohl und Wehe der Gesamtheit hat es desto gr¨oßeres Gewicht.“ Es diene der „Aufrechterhaltung einer stabilen Staatsgesinnung“, der Festigung der Demokratie, die ja keine neuzeitliche und schon gar keine deutsche Erfindung sei, sondern ihre Vorbilder in der Antike habe. 38 Konrad Adam schließt sich der Forderung nach einer umfassenden Darstellung der Geschichte an, dies bei gleichzeitiger scharfer Polemik gegen die Fokussierung auf den Nationalsozialismus und eine angeblich von Adorno inspirierte „Therapie an der Seele der Deutschen“ 39 , die eine positive Identifikation mit dem Land verhindere. Es m¨usse das ungeteilte Erbe der deut37

Schwanitz 1999, 29. Fuhrmann 2004, 238. 39 Adam 2002, 76ff., mit Bezug auf Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: Adorno 1971. 38

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Abb. 2. Universit¨at Heidelberg, Bibliothek des Seminars f u¨ r Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit. Foto: T. Licht

schen Geschichte „in seiner ganzen Ambivalenz und Widerspr¨uchlichkeit“ angenommen werden. An „Auschwitz“ lasse sich nichts verstehen, die Konfrontation mit dem V¨olkermord k¨onne keine Lernerfolge zeitigen; vielmehr zerst¨ore die Verk¨urzung der deutschen Geschichte auf die zw¨olf Nazi-Jahre und das im Grunde inhaltsleere Postulat des „Nie wieder!“ die Erinnerung an die fr¨uhere Vergangenheit und den „Trost“, den die Ankn¨upfung an die Best¨ande der a¨ lteren Tradition bieten k¨onne. Identit¨at, Zuversicht, Zukunftszugewandtheit ließen sich nur durch die Besch¨aftigung mit den hellen Traditionen der deutschen und europ¨aischen Geschichte wiedergewinnen. Die Menschen- und B¨urgerrechte, die Verfassungsentwicklung, auch die Frankfurter Paulskirche sind f u¨ r Adam exemplarisch sinnstiftende Bezugspunkte; „Auschwitz“ nach seiner „Historisierung“ ist eben nur ein (kleiner) Teil der deutschen Geschichte. 40 Zudem habe die „Moralisierung“ und „P¨adagogisierung der Zeitgeschichte“ eine „Großmannssucht“ beg¨unstigt, „der es nur schlecht gelang, ihren Anspruch, definitiv ausgelernt zu haben, hinter einer Maske von Demut und Bescheidenheit zu verbergen. Nachdem die Deutschen s¨amtliche Lektionen der Geschichte hinter sich gebracht hatten,durften,nein: mussten sie hingehen und allen V¨olkern der Erde vormachen, was Lernen aus der Geschichte bedeutet.“ Die Partei der „Gr¨unen“ etwa habe aus der daraus abgeleiteten „Friedensrhetorik“ die „Grundmelodie ihres verlogenen Parteiprogramms gemacht.“ 41 40 41

Adam 2002, 87. Ebd., 83.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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Aus solcherlei, nicht zum geringsten von Ressentiments inspirierten Diagnosen des deutschen Geschichtsdiskurses leitete k¨urzlich Werner Fuld eine weitergehende Folgerung ab: Es sah nicht in der Vermittlung der ganzen, ungeteilten Geschichte das probate Mittel, zu neuer nationaler Selbstgewissheit zu finden, er pl¨adierte stattdessen fu¨ r eine Reduktion. Deutschland leide nicht an einem Zuwenig an Geschichte, sondern an einem Zuviel. Das Land sei voller Denkm¨aler, Museen und Gedenktafeln. „Die Deutschen sind Meister im Erinnern, Rekonstruieren und Archivieren. Sie haben dar¨uber die Zukunft vergessen.“ 42 Debatten u¨ ber die M¨oglichkeiten und Risiken zum Beispiel der Gentechnik w¨urden beherrscht von vergangenheitsverhafteten Argumenten. Wegen der Erinnerung an die NS-Rassenhygiene verbauten sich die Deutschen ihre Zukunft als Wirtschaftsnation. Fuld spricht sich daher fu¨ r einen „Urlaub von Auschwitz“ aus.„F¨ur die Jugend [...] und f u¨ r die Zukunft m¨ussen wir die alten Bindungen, so weit wir es verm¨ogen, hinter uns lassen“. Er schl¨agt vor, „das Fach Geschichte abzuschaffen. Nicht vollst¨andig, aber zum u¨ berwiegenden Teil.“ Als eigenes Lehrfach l¨asst er nur noch die Zeitgeschichte nach 1945 gelten, alle u¨ brigen wichtigen historischen Inhalte sollten in die jeweiligen Sachf¨acher integriert werden. 43 Fuld spielt freilich in diesem Disput, wie in der Bildungsdebatte u¨ berhaupt, 44 die Rolle des Provokateurs,des – allerdings gut informierten – Hofnarren. Dass das Fach wesentlich bleibt f u¨ r die Anh¨anger des Kanons, steht außer Frage. Was an Geschichte und wozu sie dann studiert werden soll, bleibt umstritten. Dass sie zur Integration und Legitimation unserer komplexen, (post-) modernen, demokratisch organisierten Gesellschaften beitragen soll, diese Auffassung findet sich vielerorts. Daraus ergibt sich, dass Geschichte und Geschichtsunterricht Identifikationsangebote machen m¨ussen, etwa durch eine diachrone Beleuchtung der Entwicklung des demokratischen Gedankens. Wie sehr die Geschichtsvermittlung nationalhistorisch orientiert sein soll, ist da¨ gegen schon unklar. In den Außerungen etwa von Konrad Adam sp¨urt man den Wunsch, Stolz auf die eigene, deutsche Nationalgeschichte a¨hnlich dem der Franzosen, Engl¨ander, Amerikaner empfinden zu d¨urfen. Schwanitz und Fuhrmann dagegen betonen sehr viel st¨arker die Einbettung der deutschen Geschichte in der gesamteurop¨aischen. Hier scheint sich, und die derzeitige Geschichtswissenschaft folgt diesem Trend, ein neuer Gr¨undungsmythos herauszubilden, a¨ hnlich dem kleindeutsch-borussischen nach der Reichsgr¨undung von 1871. Europa – statt des deutschen Nationalstaats – als Sinn und Ziel der Geschichte; die Deutschen aufgehoben in einem unbefleckten gr¨oßeren Zusammenhang (und erl¨ost von den D¨amonen ihrer ureigenen Geschichte)?

42

Fuld 2004, 7. Ebd., 267. 44 Siehe dazu weiter unten, Kap. IX. 43

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Ob solcherlei Entlastungs- und Sinnstiftungsversuche dauerhaft tragf¨ahig sind, wird sich zeigen. Dass das Fach Geschichte seine Aufgabe vornehmlich darin finden soll, h¨atte ein Großteil der akademischen Historikerzunft lange Zeit verneint. Nicht „Identit¨at“ oder „Tradition“ waren u¨ ber Jahrzehnte die Leitbegriffe der Geschichtswissenschaft, sondern „Aufkl¨arung“ oder „Kritik“, eben: „Wissenschaft“. Die „Bielefelder Schule“ der „Historischen Sozialwissenschaft“ versuchte sich gerade nicht an (nationaler) Sinnstiftung, sie bem¨uhte sich vielmehr um die Aufkl¨arung der Bedingungen, welche den „deutschen Sonderweg“ bis zu seinem Endpunkt in Auschwitz gef u¨ hrt hatten. Auch die Identifikationsangebote einer naiven „Alltagsgeschichte“ oder zum Beispiel der „neuen Frauengeschichte“ kommentierte sie mit Skepsis. Welche Bedeutung, welchen Nutzen Geschichtskenntnisse fu¨ r die aktuelle gesellschaftliche Existenz haben k¨onnen, steht ohnehin seit eh und je in Frage. Dass sich aus ihnen unmittelbare Handlungsanleitungen f u¨ r die Gegenwart herauslesen lassen k¨onnten, wird ein ernstzunehmender Historiker – anders als Politiker oder Journalisten, die regelm¨aßig irgendwo auf der Welt ein „neues Auschwitz“ oder in Deutschland „Weimarer Verh¨altnisse“ verhindern wollen – heutzutage nicht mehr behaupten. Allenfalls kann die Besch¨aftigung mit Geschichte das Problembewusstsein erweitern oder das Urteilsverm¨ogen sch¨arfen, und das daraus gewonnene Orientierungswissen kann eine Grundlage bilden f u¨ r ein skeptisches, realit¨atsnahes Verst¨andnis aktueller Probleme. 45 Und schließlich – so muss man gegen Sinnstifter wie Konrad Adam einwenden – wird die deutsche Gesellschaft auch in Zukunft nur um den Preis der Verleugnung darum herumkommen, den „Holocaust“ als ein zentrales Ereignis ihrer Geschichte, wie der Weltgeschichte u¨ berhaupt, zu betrachten. Mag sein, dass man aus Auschwitz nichts Produktives, Zukunftsweisendes lernen kann. Aber die nationalsozialistische Vernichtungspolitik hat das Bild von der Welt und von den Menschen auf immer ver¨andert. Nach Auschwitz sieht alles anders aus. 46 Dies nicht zur Kenntnis zu nehmen, hat mit Bildung nicht viel zu tun.

VII Eine notwendige Erg¨anzung? Ernst Peter Fischer und das naturwissenschaftliche Wissen Ungeachtet der Unterschiede im Einzelnen gibt es bei allen Autoren, die sich mit dem Bildungskanon befassen, kaum einen Zweifel dar¨uber, dass literarisches und historisches Wissen ebenso wie Kenntnisse der bildenden Kunst und der Musik zum Bestand der Bildung z¨ahlen und dass die Zugeh¨origkeit aller u¨ brigen Wissensgebiete zumindest nicht so fraglos ist. Zwar wird man sich dar¨uber verst¨andigen k¨onnen, dass beispielsweise die Beherrschung von 45 46

Wehler 1988, 13f. Siehe, mit weiteren Verweisen, neuerdings Zimmermann 2005.

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Umgangsformen ebenfalls Bildungswissen darstellt 47 – wenn auch, da es mehr mit zus¨atzlichen Nutzen¨uberlegungen einhergeht, vielleicht kein so zentrales wie solches u¨ ber die oben genannten Felder –, auch Fremdsprachenkenntnisse geh¨oren sicherlich zum Konsens u¨ ber Bildung. Anders verh¨alt es sich aber mit einem riesigen Bezirk des Wissens, dem an den Universit¨aten, den traditionellen Zentralinstituten der Bildung, das Gros der zur Verfu¨ gung stehenden materiellen Ressourcen gewidmet ist: den Naturwissenschaften. Weist etwa Konrad Adam unter R¨uckgriff auf das Humboldtsche Programm der Biologie einen wichtigen Platz im F¨acherkanon zu,so sind die Naturwissenschaften von vornherein im „doppelten“ – antik-humanistischen und christlichen – Kanon Manfred Fuhrmanns nicht vorgesehen, und Dietrich Schwanitz’ lapidare Stellungnahme zu diesem Thema lautete folgendermaßen: „So bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse m¨ussen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung geh¨oren sie nicht.“ Warum ist das so? Solche Kenntnisse „werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verst¨andnis der Natur, aber“ – und dies ist f u¨ r Schwanitz und viele andere das entscheidende Kriterium bei der Abgrenzung von Bildungs- gegen¨uber anderem Wissen – „wenig zum Verst¨andnis der Kultur bei.“ 48 Gegen diese stiefm¨utterliche Behandlung der Naturwissenschaft,die in „gebildeten“ Kreisen, vor allem in Deutschland, traditionell vorherrscht, wandte sich 2001 der Konstanzer Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, der seit Jahren bestrebt ist, naturwissenschaftliche Kenntnisse in popul¨arer Form an interessierte Laien zu vermitteln. 49 In seinem Buch „Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte“, entwirft er das Bild einer vollst¨andigen, aus zwei Komponenten zusammengesetzten Bildung: Die „zwei Kulturen“, die Charles P. Snow 1959 beschrieben hat, also diejenige der „literarischen Intelligenz“ und der „Scientists“ (Naturwissenschaftler und Ingenieure), die idiographischen und die nomothetischen Wissenschaften verhalten sich fu¨ r Fischer komplement¨ar zueinander. 50 Er illustriert diese Auffassung mit einer Weiterfu¨ hrung der Snowschen Beobachtung u¨ ber den unterschiedlichen Stellenwert, den zum einen Shakespeares Sonette, zum andern der zweite Hauptsatz der Thermodynamik beim gebildeten Publikum h¨atten. Fischer zufolge haben diese beiden ganz verschiedenen kulturellen Hervorbringungen zumindest ein Thema gemeinsam: „die Zeit und unser Verst¨andnis f u¨ r diese Dimension.“ 51 47

Nicht zuf¨allig erschien der Bestseller „Manieren“ von Asfa-Wossen Asserate 2003 im Eichborn-Verlag, der auch Schwanitz verlegte, und argumentierte auf der Linie der traditionalistischen Bildungs-Propagandisten. 48 Schwanitz 1999, 482 (Hervorhebung K. K.). 49 Fischer 1995; 1996; Vgl. Fischer 1998. 50 Fischer 2001, 31, 41. 51 Ebd., 42.

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Was ihn besonders a¨rgert, ist die absch¨atzige Haltung, welche die im Schwanitzschen Sinne Gebildeten den Naturwissenschaften entgegenbringen – so, als ob auf deren Gebiet keine wirklichen intellektuellen Erfahrungen zu sammeln w¨aren. H¨aufig spreche man den Naturwissenschaften die „geistigen Qualit¨aten“ ab. Doch sie k¨onnten sehr wohl die „Freude am Denken“ erfahrbar machen, k¨onnen Phantasie und Kreativit¨at in hohem Maße anregen; auch hier, wie in den Geisteswissenschaften, gelte: „Gl¨uck empfindet, wer etwas erkennt.“ 52 Die Arroganz der „literarischen Intelligenz“ ist aber nicht bloß unbegr¨undet und entlarvt mangelndes Wissen, sie sch¨adigt langfristig auch die modernen Demokratien, die ja unter anderem nach einem Modell aus der humanistischen Bildungstradition, der griechischen Polis, geformt sind. „Im antiken Verst¨andnis konnte sich nur der gebildete B¨urger an der Demokratie beteiligen. Aktive Teilhabe an Kultur und Gesellschaft verlangen heute mehr denn je st¨andiges Lernen und kritische Reflexion. Mit dem Festhalten an Traditionen und der Bewahrung von vorhandenem Wissen ist es nicht getan. Entscheidend ist es daher, Bildung als unabschließbaren Prozess zu begreifen und nicht als Zustand, als T¨atigkeit von Menschen, die in einer Kultur leben, die ohne Wissenschaft nicht zu denken ist.“ 53 So unternimmt es Fischer in seinem Buch, deutlich zu machen, dass die Welt, in der wir leben, nicht nur die Natur also, sondern auch unsere Kultur, und ebenso die Vorstellungen, die wir uns von dieser Welt machen, ganz wesentlich von der modernen, in Renaissance und Aufkl¨arung entstandenen Naturwissenschaft gepr¨agt sind. Kein ernst zu nehmendes Bildungsprogramm kann davon absehen. Und ein Zeitgenosse, der gar nichts von Atomphysik, biologischer Evolutionstheorie oder Genetik versteht, kann u¨ ber zentrale Fragen des menschlichen Zusammenlebens nicht mehr mitdiskutieren.Er geh¨ort eben deswegen, so l¨asst sich Fischer interpretieren, im strengen Sinne nicht mehr zu den Gebildeten – auch wenn er Calder´on gelesen und die letzte VermeerAusstellung gesehen haben sollte. ¨ Ahnlich wie zum Beispiel Schwanitz legt sodann Fischer einen komplement¨aren Kanon seiner „anderen Bildung“ vor, sozusagen das Minimum dessen, was jeder gebildete Mensch von der Naturwissenschaft kennen sollte. Dazu geh¨oren unter anderem die heroische Fr¨uhgeschichte der modernen Wissenschaft seit Kopernikus, Kepler, Galilei, Bacon, aber auch ein Blick auf die Vorund Gegengeschichte: die Alchemie und die Astrologie; die modernen Vorstellungen von Zeit und Raum – seit Einstein –, die Welt der Atome, die wissenschaftlichen Ideen vom Leben, die biologische Evolutionstheorie und der evolution¨are Gedanke in seinen Weiterentwicklungen sowie die wissenschaftlichen Revolutionen und ihre Reflexion.

52 53

Ebd., 27f. Ebd., 47.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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Man sieht: Fischer reduziert das notwendige Wissen auf das Minimalmaß, wie es sich aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers oder eines von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Faszinierten darstellt.Er weist selbst darauf hin, dass er in seiner Auswahl nur die „¨außere Wissenschaft“ ber¨ucksichtigt hat.Die „innere Wissenschaft“, welche „immer spannender“ werde, bringt er bei seinen „ersten Schritten zu einer anderen Bildung“ (noch) nicht zur Sprache 54 – obschon ihre Gegenst¨ande, die Wahrnehmungen und Gef u¨ hle der Menschen, ihre seelischen und geistigen Regungen, die Erlebnisf¨ahigkeit, das Bewusstsein und das Unbewusste f u¨ r das Verst¨andnis der menschlichen Kultur ebenfalls zentral ¨ sind. Unter anderem an diesen Gegenst¨anden erweist sich im Ubrigen, wie sehr naturwissenschaftliche Erkenntnisse inzwischen in den Kernbereich der Bildung hineindr¨angen. Die hohen Auflagen etwa der B¨ucher des amerikanischen Neurowissenschaftlers Antonio Damasio oder die Pr¨asenz von Gehirnforschern wie Wolf Singer und Manfred Spitzer in den Feuilletons der großen bildungsb¨urgerlichen Bl¨atter sprechen jedenfalls daf u¨ r, dass so manche Naturwissenschaft die gemeinkulturelle Randst¨andigkeit ihrer Existenz zumindest tempor¨ar hinter sich lassen kann. Einer der prominentesten deutschen Historiker, der Frankfurter Medi¨avist Johannes Fried, geht sogar so weit, aus den Erkenntnissen der Hirnforschung einen Paradigmenwechsel in seiner Disziplin abzuleiten. 55 Doch auch im Hinblick auf die von Fischer genannten Felder der „¨außeren Wissenschaft“ zeigen sich andere Trends als die von ihm beklagten. Gen- und Nanotechnik sind mittlerweile feuilletontauglich geworden, die ¨ Atomphysik war es wenigstens partiell in den Hoch-Zeiten der Oko-Bewegung. Dabei ist freilich deutlich, dass es Abstufungen in der o¨ ffentlichen Wahr¨ nehmung – also in der Wahrnehmung der „gebildeten“ Offentlichkeit – gibt. Zweifellos hat Ulf von Rauchhaupt Recht, wenn er behauptet, dass der Erwerb von Bildungswissen vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass er (mehr oder weniger „zweckfreie“) Freude bereitet. Und „diese Freude, dieses interessenlose Interesse kommt bei den meisten Menschen sehr viel leichter auf, wenn das Bildungsgut mit der Sph¨are des Menschlichen zu tun hat.“ 56 Je n¨aher sich die Naturwissenschaften an dieser Sph¨are des Menschlichen bewegen, desto mehr haben sie mit Bildung zu tun. Wo das Publikum von Naturwissenschaft Auskunft erlangen kann u¨ ber die Frage „was ist der Mensch?“ (oder auch: „was sind die zentralen Probleme menschlicher Gesellschaften und wo k¨onnten sich L¨osungen finden?“), dort st¨oßt sie – wenigstens, wenn sie sich um Allgemeinverst¨andlichkeit bem¨uht – auf das Interesse, den Bildungshunger der (literarisch-geisteswissenschaftlich) „Gebildeten“. Auf der anderen Seite haben die Naturwissenschaften, wo sie Teil des allgemeinen Bildungswissens werden wollen, mit harter Konkurrenz um die knap54

Ebd., 18. Fried 2004. 56 Rauchhaupt 2005, 47. 55

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pen Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen des Publikums zu k¨ampfen. So, wie es kaum m¨oglich ist, sich neben den Klassikern der Welt- und der Nationalliteratur dem Studium der u¨ brigen K¨unste und der Geschichte in einem ausgewogenen Maß zu widmen – um von den Aufgaben der u¨ brigen, meist sehr viel elementareren Lebensbezirke zu schweigen –, wird es h¨aufig geschehen, dass die fraglos h¨ochst relevanten Erkenntnisse moderner Naturwissenschaften der notgedrungen strengen Wahrnehmungs- und Verarbeitungs¨okonomie noch der gebildetsten Individuen zum Opfer fallen. Und auch das Vor-Urteil, dass es sich bei diesen Wissenschaften um Arkan-Bereiche handelt, die von Nicht-Spezialisten ohnehin nicht durchdrungen werden k¨onnen, wird so leicht nicht auszur¨aumen sein.

VIII Ein Kanon schon fu¨ r kleine Kinder: Donata Elschenbroich und das „Weltwissen“ „Politische Erwartungen an Bildung in Deutschland [setzen] nach wie vor zuallererst an der Universit¨at an, um dann abw¨arts auf immer kleinerer Flamme herunterdefiniert zu werden u¨ bers Gymnasium bis allenfalls zur Grundschule. F¨ur die fr¨uhen Jahre bleibt nichts u¨ brig.“ So lautet die Diagnose, von der aus die Bildungsforscherin Donata Elschenbroich ihren Versuch startet, einen „Bildungskanon f u¨ r die fr¨uhen Jahre“ zu entwerfen. 57 Zwar gibt es kaum einen Gemeinplatz, auf den sich alle – Experten wie Laien – so schnell verst¨andigen k¨onnen, wie den, dass in Bildungsdingen, in Fragen der kognitiven Kompetenz, die entscheidenden Weichen im Leben des Einzelmenschen ganz fr¨uh gestellt werden; allein: diese Einsicht zieht nach Donata Elschenbroichs Urteil keinerlei praktisch-politische Konsequenzen nach sich. Selbst in der heutigen ¨ Schwellenzeit, im „Ubergang zur Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ 58 , scheren sich Bildungspolitik, empirische Erziehungswissenschaft und im Allgemeinen auch die gesellschaftliche Bildungsdebatte nicht darum, wenigstens nicht in Deutschland. Anders als etwa in den USA oder in Großbritannien gibt hier es keine intensiveren Forschungen auf diesem Feld, anders als in Japan oder Ungarn genießen Erzieher oder Kinderg¨artnerinnen hierzulande nur ein geringes Sozialprestige. Elschenbroichs Buch „Weltwissen der Siebenj¨ahrigen“ ist ein Versuch, diese Leerstelle zu f u¨ llen. Es resultierte aus einem Projekt des Bundesministeriums f u¨ r Bildung und Forschung, in dem zwischen 1996 und 1999 zahlreiche Experten aus dem Bildungsbereich, aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kirche, aber auch Erzieher, Kinder und Eltern gefragt wurden, welches Wissen sie f u¨ r Siebenj¨ahrige fu¨ r unerl¨asslich, wichtig oder w¨unschenswert halten. Dabei kam schließlich eine Liste heraus, ein Kanon, der manches Beliebige 57 58

Elschenbroich 2001, 26, 24. Ebd., 34.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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an sich haben mochte, in seiner Vielfalt und in seinen Schwerpunkten vielerorts aber f u¨ r durchaus bedenkenswert gehalten wurde. Vorbild dieses Kanons ist der Orbis Sensualium Pictus von Johann Amos Comenius aus dem Jahr 1658, und a¨hnlich wie dieser versucht die Elschenbroichsche Liste praktische und soziale Kenntnisse mit vor allem naturwissenschaftlichem und technischem Wissen und mit der Entwicklung des kindlichen Selbstbewusstseins zu verkn¨upfen. So finden sich im „Weltwissen“-Vorschlag Forderungen wie „einen Nagel einschlagen, eine Schraube eindrehen, eine Batterie auswechseln k¨onnen“, „gewinnen wollen und verlieren k¨onnen“, „in einen Bach gefallen sein“, „die Adern des Blattes und die Adern der eigenen Hand studieren“ und „Stolz empfunden haben, ,ein Kind‘ zu sein.“ 59 Großen Wert legt Elschenbroich zum Beispiel auf die Entwicklung des motorischen Verm¨ogens der Kinder, auch weil sie die kognitiven F¨ahigkeiten anregt. Schwimmen etwa, eine der wichtigsten K¨orpererfahrungen, sei besonders f¨orderlich. Ebenso notwendig auch f u¨ r kleine Kinder ist die Heranfu¨ hrung an – experimentell vorgehende – Naturwissenschaften: „Chemie im Vorschulunterricht“ lautet demnach eines der Postulate. Das fr¨uhe, vorschulische Schreiben geh¨ort dazu, ebenso eine fundamentale musikalische Alphabetisierung, eine „Musikalisierung“, und zwar eine ernsthafte, nicht das, was heute an „Schaben und Rasseln“, „Hopsen und „Fahrradklingeln“ unter dem Titel „musikalische Fr¨uherziehung“ g¨angig ist. 60 Fremdsprachen k¨onnen ebenfalls fr¨uh erworben werden, und schließlich sollte auch der Umgang mit dem Computer zum Bildungskanon der bis zu Siebenj¨ahrigen geh¨oren. Donata ElschenbroichsVorschl¨age sind mit großer Zustimmung aufgenommen worden – besonders der Wochenzeitung „Die Zeit“ war es ein Herzensanliegen, die Botschaften des Buches unter die Leute zu bringen. Es gab jedoch auch ablehnende Stimmen, die im Geist der „Beruhigungsp¨adagogik“ der siebziger und achtziger Jahre die offenbare Leistungsorientierung mit Missfallen kommentierten. Ein chinesisches Schriftzeichen malen k¨onnen? Das k¨onnen ja Erwachsene auch nicht. PC-Kenntnisse? Vor der Grundschule ist es daf u¨ r viel zu fr¨uh. Gleichwohl: Ausgehend von der Erkenntnis neuerer Forschungen, dass „die geistige Entwicklung mehr mit Wissenserwerb zu tun hat als mit den allgemeinen Denkstrukturen, wie [der Klassiker der Entwicklungspsychologie Jean] Piaget es beschrieben hat“ 61 , pl¨adiert Elschenbroich f u¨ r einen Kanon an Wissen und Erfahrungen und passt sich damit gut ein in die oben skizzierte, auf Inhalte statt auf abstrakte Kompetenzen gerichtete neuere Bildungsdiskussion.

59 60 61

Ebd., 28-32. Ebd., 210-214. Rolf Oerter, zit. n. Elschenbroich 2001, 65.

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IX Eine radikale Kritik: Werner Fuld gegen die „Bildung“ Inwieweit ein Bildungskanon, ja, ob das „Wissen“ bestimmter Inhalte u¨ berhaupt sinnvoll und notwendig ist, diskutiert – am Beispiel von natur- wie geisteswissenschaftlichen Wissensgebieten – die provozierende Schrift von Werner ¨ Fuld,die es unter der Uberschrift „Die Bildungsl¨uge“ im Jahre 2004 unternahm, die neuere Debatte u¨ ber Bildung und Kanon einer Generalkritik zu unterziehen. Fuld ist zwar begeistert von Donata Elschenbroichs Anleitungen fu¨ r die Eltern und Erzieher von Kleinkindern, 62 weil sie auf Erfahrung und Anschauung, auf Brauchbares und Praktisches orientiert sind und damit vom Kanongedanken stark abweichen. Die Apologeten des klassischen Kanons kommen jedoch nicht so gut weg. ¨ Uber die typischen Bildungsgegenst¨ande macht Fuld sich lustig: Thukydides, Platon, die alten Griechen u¨ berhaupt samt ihrer Sprache erkl¨art er fu¨ r u¨ berholt und die Besch¨aftigung damit f u¨ r nutzlos, die antike Ideenlehre, die philosophischen Abhandlungen dazu von Aristoteles bis Kant fu¨ r „Scheinprobleme, die uns heute nicht mehr zu besch¨aftigen brauchen“ 63 , Dantes Divina Comedia nennt Fuld, im Gefolge Arno Schmidts, eine „ebenso eitle wie b¨osartige Rachedichtung“ 64 , die deutsche Literatur vom Barock bis zur Nachkriegszeit kann uns „nicht wirklich bewegen“ 65 , Goethes Faust, angeblich das Drama der deutschen Literatur, ist primitiv im Aufbau und reaktion¨ar in der Aussage, insgesamt ein grotesk u¨ bersch¨atztes St¨uck, das man nicht mehr lesen muss. 66 Doch auch an Mathematik und Naturwissenschaften l¨asst Fuld kein gutes Haar. Die „moderne Physik [. . . ], die zu einem nicht unerheblichen Teil Kosmologie betreibt, [. . . ] hat mittlerweile zu einer durch gigantische Steuermittel finanzierten Wissenschaftsindustrie gef u¨ hrt, deren Produkte jedoch praktisch wertlos sind, von niemandem gebraucht werden und deren Erkenntniswert ungef¨ahr so groß ist wie jener der griechischen Mythologie.“ 67 Die Physik rede von „dunkler Energie“ und „dunkler Materie“, ohne zu wissen, was das sein soll, sie arbeite mit der Theorie eines „Urknalls“, der reine Spekulation sei, und so vermag es nicht zu verwundern, dass etwa der Nachwuchsphysiker J.H. Sch¨on die gesamte Scientific Community u¨ ber Jahre hinweg mit fingierten Forschungsergebnissen beeindrucken konnte – handelt es sich doch, laut Fuld, bei der modernen Physik mehr um ein Glaubenssystem als einen Wissenschaftszweig. 62

Fuld 2004, 176ff. Ebd., 40. 64 Ebd., 91. 65 Ebd., 35. 66 Ebd., 17ff. 67 Ebd., 135. 63

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Anderer Art, aber nicht weniger entschieden, ist Fulds Kritik an der Mathematik und am schulischen Mathematik-Unterricht. Die Mathematik erscheint ihm als ein Tummelplatz f u¨ r schr¨age V¨ogel, die, da lebensunt¨uchtig, sich mit selbstgestellten, den Realien enthobenen Problemen besch¨aftigen, deren L¨osung v¨ollig unerheblich sei; ein typisches Beispiel ist „Fermats Problem“. Der Schulunterricht in diesem Fach bel¨astigt Sch¨uler mit Theoremen, Axiomen und „Gesetzen“, deren Kenntnis unn¨otig ist und die nach Beendigung des Schulbesuchs sofort wieder vergessen werden. Und auch das zentrale formale Argument, dass Mathematik der Schulung des allgemeinen Denkverm¨ogens dienlich sei, l¨asst Fuld nicht gelten. Er erz¨ahlt ausf u¨ hrlich von dem ber¨uhmten franz¨osischen Mathematiker Michel Chasles (1793–1880), der sich von einem F¨alscher 27.320 Briefe historischer Pers¨onlichkeiten, darunter zahlreiche von Galilei, aber auch solche von Kleopatra an Caesar verkaufen ließ, und es nie merkw¨urdig fand, dass alle diese Personen in sch¨onstem Franz¨osisch schrieben. „Der gesamte mathematische Unterricht der Oberstufe“, so lautet Fulds harsches Urteil, „ist nur unn¨otiger Ballast. Man sollte dieses Fach so fr¨uh als m¨oglich abw¨ahlen k¨onnen“. 68 Die Argumentation der teilweise a¨ußerst vergn¨uglich zu lesenden „Bildungsl¨uge“ l¨auft auf einen zentralen Punkt zu: Nicht das Humboldtsche Ideal eines allgemeinen,umfassenden,aber eben auch abstrakten,traditionellen und a priori festgeschriebenen Bildungskanons k¨onne in der heutigen Zeit die Leitvorstellung in Erziehungsdingen sein, sondern allein die N¨utzlichkeit der zu erwerbenden Kenntnisse.Welchen Nutzen kann das Altgriechische f u¨ r heutige Lerner noch haben? Warum soll man die Sprache einer untergegangenen Großmacht, n¨amlich Frankreichs lernen, wo doch in Zukunft aus dem Bereich der Romania allenfalls das Spanische noch eine Bedeutung in der Weltgesellschaft entfalten kann? Wieso werden in Deutschland Kleinsprachen wie das Sorbische, in der Schweiz die verschiedensten unverst¨andlichen Dialekte gepflegt, statt schon in fr¨uhester Kindheit mit dem Unterricht in der Lingua franca des globalisierten digitalen Kommunikationsgesellschaft, dem Englischen, einzusetzen? Der Sinn von Unterricht ist f u¨ r Fuld einzig und allein, Sch¨uler und Studenten an die Aufgaben der Gegenwart, vor allem aber der Zukunft heranzuf u¨ hren. Dabei ist Ballast abzuwerfen; erforderlich ist die Konzentration auf das zum Leben in der Wissensgesellschaft Notwendige. Hierzu geh¨oren neben dem eben Genannten: Wirtschaftskenntnisse, am besten beglaubigt mit einem Abschluss als Master of Business Administration, Stilsicherheit und a¨ sthetisches Urteilsverm¨ogen, H¨oflichkeit und gute Manieren, mit denen man andere fu¨ r sich gewinnen kann, emotionale Intelligenz, darunter etwa die F¨ahigkeit, die Perspektive des Gegen¨ubers einnehmen zu k¨onnen, Internationalit¨at – am richtigen Ort studieren heißt: eher die London School of Economics als die Universit¨at G¨ottingen – sowie Vertrautheit 68

Ebd., 116.

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mit Computer und Internet. Man k¨onnte Werner Fuld vielleicht als einen Vertreter des westlichen, angels¨achsischen Pragmatismus sehen, als Ironiker und Anh¨anger einer vern¨unftigen Zivilisation, der in der deutschen „Bildung“ die romantische, tiefsinnige deutsche „Kultur“ bek¨ampft. Die Inhalte des alten Kanons ganz verdr¨angen will Fuld nicht, aber sie kr¨aftig ausd¨unnen. Literarische Klassiker etwa sind meistens zu lang, und da die verfu¨ gbare Zeit f u¨ rs Lernen knapp ist,pl¨adiert er fu¨ r gek¨urzte und gut kommentierte Klassikerausgaben, die in anderen L¨andern u¨ blich sind, in Deutschland hingegen die bekannten Klagen u¨ ber den Untergang des Abendlandes heraufbeschw¨oren. Wenn etwa Jugendliche Texte nur in Ausz¨ugen lesen wollen, so wie Erwachsene nicht dreist¨undige Opern-CDs h¨oren, wenn sie bloß Lust auf ein paar Arien haben, kann das durchaus ein Zeichen f u¨ r die gew¨unschte Medienkompetenz sein.Und „keinen Roman von Balzac zu kennen ist schade,aber die Benutzung des Internets nicht zu lernen ist ruin¨os.“ 69 Mindestens ebenso wichtig wie die Lekt¨ure literarischer Klassiker sei die Ann¨aherung an aktuelle, an den heutigen Erfahrungen ankn¨upfende Slam-Poeten; von der Kenntnis von Filmen, u¨ ber die sich die Zeitgenossen sehr viel leichter verst¨andigen k¨onnen als u¨ ber Schiller-Zitate, zu schweigen. Ungebildet ist heute nicht, findet Fuld, wer „Faust“ nicht gelesen hat, sondern wer „Leoparden k¨usst man nicht“ oder „My own private Idaho“ nicht gesehen hat. Die heutigen Sch¨uler, Auszubildenden und Studenten lernen also nicht zu wenig; die ern¨uchternden Ergebnisse des PISA-Tests werden falsch interpretiert. Sie lernen, findet Werner Fuld, das Falsche: Relikte aus vergangenen Zeiten, traditionelle Elemente des schulischen Unterrichts, die bewusstlos weitergeschleppt werden; unbrauchbare Kenntnisse, die sie nicht auf ihr heutiges und morgiges Leben vorbereiten. Dieser ganze Bildungswust, den Schulen und Universit¨aten vermitteln, geh¨orte l¨angst auf die „M¨ullhalde“. Wir brauchen, proklamiert Fuld, „eine radikale Neubewertung und Ver¨anderung unserer Bildungsstandards. Sonst findet die Zukunft ohne uns statt.“ 70

X R¨uckkehr zum Kanon oder „Ankerwissen“ ? Die Zukunft der Bildung Werner Fuld vertritt in der Bildungsdebatte alles andere als den Mainstream. Mit seiner Ablehnung dessen,was der Begriff „Bildung“ wenigstens in Deutschland traditionell impliziert, mit seiner Aversion gegen den Kanon ist er ein Außenseiter. Dabei ließe sich u¨ ber vieles sicher auch mit den „Kanonisten“ nicht ¨ nur trefflich streiten, sondern auch Ubereinstimmung herbeif u¨ hren. Ob das, was in der Regel an Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet wird, tats¨achlich das ist, was Sch¨uler lernen sollten, steht doch sehr in Frage. Was sollen uns Sinus, Kosinus und Algorithmen, solange wir die Gesetze der viel 69 70

Ebd., 245. Ebd., 8.

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lebensn¨aheren Stochastik nicht kennen? Und wird nicht der Physik- oder der Chemie-Unterricht auch deswegen als so langweilig empfunden, weil er h¨aufig lediglich wie das Prop¨adeutikum zu einem sp¨ateren Studium daherkommt, also lediglich Pr¨aliminarien zu den Problemen bietet, die eigentlich interessant w¨aren? 71 Dass Filme heute kanonisches Bildungsgut sein k¨onnen, w¨urden die wenigsten bestreiten. Auch die Frage, ob Computer und Internet heute wichtige Lerninhalte sein k¨onnen, kann man als Frage nicht nach der Existenz, sondern nach dem Inhalt eines Kanons stellen – und wird dabei vielleicht, wie der Satiriker Max Goldt, der Parole den Vorzug geben: „Schulen nicht unbedingt ans Netz!“, denn f u¨ r so einen Unterricht ist die knapp bemessene Zeit in der Schule doch zu schade. 72 Gleichwohl: Mit dem Pl¨adoyer f u¨ r „N¨utzlichkeit“ stellt sich Fuld gegen die Tendenz der vorhin erw¨ahnten Publikationen. Diese Tendenz – neben anderen – hat un¨ubersehbar Einfluss auf das Publikum wie auch auf die Bildungspolitik. So wird etwa die von Dietrich Schwanitz beklagte Beliebigkeit in j¨ungerer Zeit zur¨uckgedr¨angt: Die F¨acherwahl in der gymnasialen Oberstufe ist in einigen Bundesl¨andern beschr¨ankt worden; die Auswahl des Lesestoffs im Deutsch-Unterricht folgt st¨arker als es jahrzehntelang der Fall war, den „kanonischen“ Prinzipien; deutlich mehr Sch¨uler w¨ahlen wieder die klassischen Sprachen. Aber auch abseits des Bildungswesens lassen sich bestimmte Trends hin zu einer st¨arker traditionellen Auffassung von Bildung beobachten. Die Wertsch¨atzung fu¨ r Bildungsquiz-Sendungen im Fernsehen, die Konjunktur fu¨ r Literatur-Kanones wie die „S¨uddeutsche-ZeitungBibliothek“, der Erfolg auch von Benimm-Ratgebern weist in diese Richtung. Auch der Leistungsbegriff hat seit l¨angerem nichts Anr¨uchiges mehr, im Gegensatz zu dem der „Kuschelp¨adagogik“, mit dem auch heute noch Landtagswahlk¨ampfe bestritten werden k¨onnen. Im Gegenteil: Es ist so etwas wie eine neue Leistungsbesessenheit ausgebrochen. Die Universit¨aten wollen wieder „Eliten“ bilden, die Bildungspolitik sorgt sich um das Schicksal der Hochbegabten, das Fernsehpublikum sucht die „besten Deutschen“ und findet sie unter anderem in Bildungsheroen wie Einstein oder Gutenberg. Dies alles, die Hinwendung zur Tradition und zum Kanon wie auch die Ranking-Gesinnung der ganzen Gesellschaft, hat sicherlich komplexe Hintergr¨unde. Ohne Zweifel aber handelt es sich dabei um Symptome nicht nur einer materiellen Krise der realen Bildungsinstitutionen, sondern auch einer mentalen Krise. Es scheint, dass sich in den vergangenen Jahren große Orientierungslosigkeit breit gemacht hat. Unsicherheiten u¨ ber die o¨ konomischsoziale Zukunft mischen sich mit einer Un¨ubersichtlichkeit in Werte-Fragen; ¨ ¨ ein Ubermaß an Information wird gesteigert von der Uberforderung durch ¨ ein Uberangebot an Lebensmodellen, zwischen denen es sich zu entscheiden 71 72

Rauchhaupt 2005, 214ff., 217ff. Goldt 2003.

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g¨alte; Beschleunigung, Internationalisierung, Globalisierung sind anscheinend allgegenw¨artige Ph¨anomene des gesellschaftlichen Lebens geworden, denen gegen¨uber man mit der Suche nach Halt und Verankerung reagiert – individuell wie gesellschaftlich. Aber wie w¨are darauf zu antworten? Ist die R¨uckkehr zu einem Kanon der richtige Weg? Oder dessen Neu-Erfindung? Wie geht man mit der Knappheit der Ressourcen um? Wie viel Zeit soll man in der Schule auf Faust verwenden, wie viel aufs Programmieren? Wie viele Anglisten brauchen wir, wie viele Business Administrators? Muss man ein Schulfach „Wirtschaft“ einfu¨ hren oder doch wieder Griechisch st¨arken? Sollen die Universit¨aten weiterhin „allgemein“ bilden – da, wo sie es rudiment¨ar noch tun – oder sich besser zu berufsausbildenden Fachhochschulen wandeln? Vermutlich wird man um das „N¨utzliche“ jedenfalls nicht herumkommen: Dass in Zukunft an den Schulen Spanisch eine wachsende, Franz¨osisch eine schrumpfende Position einnehmen wird, scheint sicher; dass Englisch zur allgemeinen Zweitsprache in vielen Lebensbereichen, nicht zuletzt den wissenschaftlichen wird, ist unbezweifelbar – und damit auch die Notwendigkeit, es fr¨uh, allgemein und intensiv zu unterrichten. Der Stellenwert des Latein wird dagegen nie mehr in einen Status der Unbestreitbarkeit aufr¨ucken. Andererseits macht sich der Preis einer bloßen Aktualit¨ats- und Marktorientierung immer deutlicher bemerkbar, und die Frage, ob es sich eine Gesellschaft leisten kann, ihr u¨ ber viele Jahrhunderte pr¨agendes kulturelles Erbe einfach zu ignorieren, ist nicht einfach abzutun. Was gibt man auf, wenn Kinder nicht mehr lernen, wer Jahwe, Jesus oder Odysseus sind? Ist kultureller Analphabetismus, die Unf¨ahigkeit etwa, das Bildprogramm von Kirchen oder auch nur ein einzelnes Altarbild zu lesen, unproblematisch? Und schließlich, wieder vom Standpunkt des N¨utzlichen aus gefragt: K¨onnte es sein, dass ein Geisteswissenschaftler sich eher in neue Probleme eindenken kann als ein Ingenieur, ein EDV-Fachmann oder ein MBA-Absolvent? Eben weil seine Bildung breiter, vielgestaltiger ist? Weil er daher flexibler denken kann? Und ist es in den beschleunigten Zeiten unserer Wissensgesellschaft, wo gerade technisches Wissen schnell veraltet, vielleicht sogar o¨ konomisch sinnvoller, das zu lernen, was von der b¨urgerlichen Tradition als wertvoll angesehen wurde statt Innovationen hinterherzulaufen, die m¨oglicherweise morgen schon wieder verschwunden sind? Die Auswahl des Wissenswerten, des zu Lehrenden und zu Lernenden, ist jedenfalls mit dem Wachstum des Wissens sehr viel schwieriger geworden. Einen Ausweg zwischen klassischem Kanon auf der einen, an o¨ konomischem Nutzen orientiertem „Leistungswissen“ auf der anderen Seite k¨onnte wom¨oglich das bieten, was der Wissenschaftspublizist Ulf von Rauchhaupt in einem lesenswerten Buch unl¨angst „Ankerwissen“ genannt hat. Von Rauchhaupt schl¨agt vor, vom Kanon bewusst Abschied zu nehmen, ohne in Beliebigkeit zu verfallen oder bloß noch inhaltsleere Schl¨usselkompetenzen zu vermitteln. Angesichts

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Abb. 3. Universit¨at Heidelberg, Portal der Neuen Universit¨at. Foto: A. Heisel

der Informationsfluten seien „Metawissen“ und „Rasterwissen“ notwendig, aber nicht ausreichend, denn: „Wissen beginnt fu¨ r das Individuum mit Einzelwissen, und es bedarf zun¨achst eines ganzen Schatzes zusammenh¨angenden Einzelwissens, bevor man beginnen kann, Wissen h¨oherer Ordnung aufzubauen.“ 73 Jedes „Mitglied der Wissensgesellschaft“ brauche einzelne „Kenntnisparzellen“, auf denen es wirklich Bescheid wisse. Diese Parzellen k¨onnten als Anker auf „dem Meer allen Wissens“ fungieren. Dass solches Ankerwissen aber nicht in erster Linie aus intimen Kenntnissen u¨ ber das Privatleben von 73

Rauchhaupt 2005, 222. Zum Folgenden vgl. ebd., 223ff.

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Klaus Kempter

Celebrities besteht, daf u¨ r habe das Bildungssystem zu sorgen. Es muss „Sachthemen erster Ordnung“ und „damit Ansatzpunkte fu¨ r hochwertiges Ankerwissen“ bieten. Hier h¨atten denn auch die alten klassischen, ehemals kanonischen Bildungsinhalte ihren Platz. Ein Kanon kann sich f u¨ r von Rauchhaupt daraus nicht mehr ergeben, denn das Ankerwissen ist „grunds¨atzlich etwas Individuelles“. Deshalb ist es auch „nicht dazu geeignet, Nationen oder gesellschaftlichen Schichten Identit¨at zu verleihen“, wohl aber, Kommunikation und sozialen Austausch zu f¨ordern. Die neue Basis der Wissensgesellschaft „w¨are dann kein monolithischer Bildungskanon mehr, sondern ein weit verzweigtes polyzentrisches und sich st¨andig a¨ nderndes Geflecht familien¨ahnlicher Wissensinhalte, die sich gleichwohl in vielen F¨allen um die historisch gewachsenen Bildungskerne [das heißt die Kultur der griechischen und r¨omischen Antike, aber auch die Naturwissenschaften, K. K.] gruppieren w¨urden.“ 74 M¨oglicherweise wird ein auf diese Weise dezentrierter Kanon in der o¨ ffentlichen wie in der politischen Diskussion in Zukunft als neues Leitbild dienen k¨onnen; sicher ist das nicht.Vielleicht werden – anders als es die Prominenz der Publikationen erwarten l¨asst, die sich f u¨ r eine Re-Kanonisierung einsetzen – die „historisch gewachsenen Bildungskerne“ weiter reduziert. Maßnahmen wie die Verk¨urzung der Schulzeit, die Einfu¨ hrung von Studiengeb¨uhren und die Umstellung auf konsekutive Bachelor- und Masterstudieng¨ange – um nur einige wenige Stichworte aus der derzeitigen bildungspolitischen Debatte aufzugreifen – d¨urften jedenfalls kaum geeignet sein, ein weiteres Fortschreiten der Bildungsschwindsucht aufzuhalten.

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Ebd., 226f.

Anmerkungen zur j¨ungeren Debatte u¨ ber Bildung und Kanon

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Humboldt heute – das klassische Bildungsprogramm und die gegenw¨artigen Bildungsaufgaben volker lenhart

1 Die Problemstellung Wilhelm von Humboldt hat einen Platz in der deutschen Bildungsgeschichte der Moderne wie kaum ein Zweiter. Das ist – was die praktische Wirksamkeit angeht – begr¨undet in seiner noch nicht einmal zweij¨ahrigen Amtszeit als Chef der Sektion des Kultus und Unterrichts im preußischen Innenministerium 1809/1810. Dabei hat neuere bildungshistorische Forschung durchaus das Humboldt-Bild,wie es zum Beispiel von seinem ersten kongenialen Interpreten im 20. Jahrhundert Eduard Spranger (1909; 1910) gezeichnet worden war, als Mythos destruiert, dadurch dass zum Beispiel auf die Leistungen seiner Mitarbeiter, wie S¨uvern, oder Nachfolger, wie des ersten Preußischen Kultusministers Altenstein verwiesen wurde. 1 Auch wenn Humboldt nur ein Initiator zur rechten Zeit am rechten Ort war, dessen bildungstheoretische, -politische und -planerische Impulse oft genug unter der Perspektive des Scheiterns gedeutet worden sind, 2 hat er doch ein Programm vorgelegt, das in den letzten 200 Jahren immer wieder als Bezugsrahmen fu¨ r die Bearbeitung von Bildungsfragen herangezogen worden ist. Hier geht es nicht um eine historisch-narrative Herangehensweise an die Folgen des Programms, also weder um die ideenbezogene Rezeptionsgeschichte, 3 innerhalb derer neben fundierter Kritik 4 und abw¨agender Aufnahme 5 es auch missbr¨auchliche Vereinnahmung gegeben hat, besonders in der Nazi-Deutung Humboldts als eines „v¨olkischen“ Bildungsdenkers, noch um eine Wirkungsgeschichte, bei der die Verflechtung Humboldtscher Impulse mit der institutionellen Entwicklung des Bildungswesens thematisiert wird. 6 In gegenwartsbezogener bildungstheoretischer Perspektive soll das Programm Humboldts vielmehr darauf befragt werden, was es zur 1 2 3 4

5 6

Wehler 1987, 474f. Z. B. Menze 1975, 337–407. Z. B. H¨ubner 1983, 11–22. Z. B. Horkheimer 1952/1953, zit. nach Wicke 1997, 19, mit Hinweis auf die Abgr¨unde der „Barbarisierung der Menschheit“. Z. B. schon Paulsen 1919–1921, Neudruck 1960. Z. B. Tenorth 2000 oder Jeismann 1987.

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L¨osung aktueller Bildungsreformaufgaben einschließlich des Aufstellens von Warntafeln vor Fehlentwicklungen beitragen kann. Zugleich soll aber auch deutlich gemacht werden, in welchen Hinsichten sich Humboldts Problemstellungen und Probleml¨osungen nicht mehr auf eine Situation beziehen lassen, die durch die Stichworte „Bildung in der Weltgesellschaft“ und „Bildung in der Wissensgesellschaft“ zu kennzeichnen ist.

2 Das Programm 2.1 Die Bildungsidee Der junge Humboldt deutet die Bestimmung des Menschen unter der Bildungskategorie. „Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unver¨anderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die h¨ochste und proportionirlichste Bildung seiner Kr¨afte zu einem Ganzen.Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste,und unerlassliche Bedingung.Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kr¨afte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen.“ 7 Der Tenor dieser Formel bleibt bei dem preußischen Reformer u¨ ber alle sp¨ateren Nuancierungen des Bildungsbegriffes hinweg erhalten. Bildung also ist Zweck, nicht Mittel zur Erreichung anderer Ziele. Sie ist Selbstzweck im transzendentalen Sinne. Damit ist zugleich eine der Wurzeln des Humboldtschen Bildungsbegriffes aufgedeckt: die Kantsche Erkenntnistheorie und Moralphilosophie. Bildung bezieht sich auf die Kr¨afte des einzelnen Menschen. Daneben kennt der Bildungsphilosoph Kr¨afte sowohl in der unbelebten und belebten außermenschlichen Natur als auch in der Geschichte. Humboldts Kraftbegriff nimmt nur wenige Impulse von der statisch-mechanistischen Kraftvorstellung der Newton- und Descartes-Tradition auf,bei der Kraft mathematisch berechenbar ist. Er steht n¨aher bei dem dynamischen Naturverstehen in der Entwicklungslinie von Shaftesbury und Herder. Da wurde Natur als sch¨opferische, lebensvolle, organische Kr¨aftegesamtheit beschrieben. Aber auch in dieser Sicht von Kr¨aften, die sich dann in der Romantik und der Naturphilosophie Schellings fortsetzte, geht Humboldts Kraftvorstellung nicht auf. Sie gewinnt ihre besonderen Konturen vielmehr durch den R¨uckgriff auf die dynamische Physik von Leibniz. Die unterscheidet unter anderem zwischen einer urspr¨unglichen Kraft, die die von Gott in die Welt hineingegebene Energie schlechthin ist, und einer abgeleiteten Kraft, die im Gegensatz zur ersteren durch ein gewisses Quantum gekennzeichnet ist, sowie zwischen einzeln wirkenden Kr¨aften und solchen, die eine Entit¨at zusammenhalten. 8 Humboldt nimmt besonders die Annahme einer Grundkraft sowie die einer ein Ganzes zusammenschließen7 8

Humboldt, Werke I, 1960, 64. Vgl. Neuser 1997.

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¨ den Kraft auf. Uber beide gewinnt er Anschluss an die Leibnizsche Monadenlehre. Menschliche Bildung geschieht als t¨atige Selbstbestimmung der Kr¨afte an der widerst¨andigen Welt. Diese Auffassung von der monadischen, in sich erfu¨ llten Konstitution des Menschen h¨alt er konsequent durch. 9 Bildung der Kr¨afte soll proportionierlich sein. Proportioniertheit ist zun¨achst eine a¨sthetische Kategorie,die auf die Bedeutung des Sch¨onheitsbegriffs fu¨ r die Bildungstheorie verweist. Dann aber wird Proportionalit¨at als anthropologische Formgestaltung verstanden. Die Ausformungen der menschlichen Grundverm¨ogen, wie Vernunft, Einbildungskraft, Sinnlichkeit, stimmen bei gelingender Bildung zusammen. Ein Exempel der proportionierlichen Entwicklung ist fu¨ r Humboldt die Geisteshaltung seines Freundes Friedrich Schiller. „Der Endpunkt, an den er Alles kn¨upfte, war die Herstellung der Totalit¨at in der menschlichen Natur durch das Zusammenstimmen ihrer geschiedenen Kr¨afte in ihrer absoluten Freiheit. Beide dem Ich, das nur Eins und ein Untheilbares seyn kann, angeh¨orend, aber die eine Mannigfaltigkeit und Stoff, die andre Einheit und Form suchend, sollten sie durch ihre freiwillige Harmonie schon hier auf einen u¨ ber alle Endlichkeit hinaus liegenden Ursprung hindeuten. Die Vernunft, unbedingt herrschend in der Erkenntnis und Willensbestimmung, sollte die Anschauung und Empfindung mit schonender Achtung behandeln und nirgends in ihr Gebiet u¨ bergreifen, dagegen sollten diese sich aus ihrem eigenth¨umlichen Wesen, und auf ihrer selbstgew¨ahlten Bahn zu einer Gestalt emporbilden, in welcher jene, bei aller Verschiedenheit des Princips, sich der Form nach wiederf¨ande.“ 10 Die Entwicklung der Kr¨afte soll h¨ochstm¨oglich vorangetrieben werden. Sie hat zwar ein Ziel, aber das ist weder eine metaphysische Konstante noch ein operationalisierter Sollwert. Das Regulativ des Bildungsprozesses fasst Humboldt als „Idee“ des jeweiligen Menschen. Die aber ist kein der Individualit¨at vorgegebenes, sondern ein im konkreten Lebensvollzug st¨andig neu entworfenes (und damit nie ganz einholbares) Leitbild. Erste Bedingung der Bildung ist die Freiheit. Das heißt zun¨achst Freiheit von obsoletem Zwang. Humboldt kennt ja nicht nur die Unrechtsinstitution der Sklaverei in der Antike, sondern auch in seinem Preußen gab es bis zum Einsetzen der Agrarreformen ab 1807 fu¨ r weite Bev¨olkerungsteile die Erbuntert¨anigkeit. Humboldt aber will letztendlich die moderne Staatsb¨urgergesellschaft statt der st¨andischen hierarchischen Sozialordnung. In der Tradition Kants wird die negative Freiheit, die M¨oglichkeit der Selbstbestimmung, mit der positiven autonomen Selbstgesetzgebung, die eine Selbstbegrenzung impliziert, zusammengeschlossen. So wird der eigene Freiheitsanspruch mit den Freiheitsaspirationen aller anderen vereinbar gemacht. 11 9 10 11

Menze 1965, 101. Humboldt, Werke II, 1961, 366f. Bienfait 1999, 14.

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Zweite Bedingung der Bildung ist die Mannigfaltigkeit der Lebenserfahrungen. Hier ist Humboldt, der u¨ ber viele Jahre seines Lebens hinweg das Projekt der Ausarbeitung einer vergleichenden Anthropologie auf empirischspekulativer Grundlage verfolgt, durchaus unkantianisch. Es geht ihm nicht um die M¨oglichkeit von Erkenntnis a priori, sondern um Erfahrungswissen. Wissen ist im Bildungsvorgang aber nur eine Komponente. Sie geht ein in den weiteren Begriff der (Selbst-)T¨atigkeit und Wirksamkeit. „Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Th¨atigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kr¨afte seiner Natur st¨arken und erh¨ohen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich u¨ ben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin auspr¨agend, fortdauern k¨onne, so bedarf auch der Mensch einer Welt ausser sich.“ 12 Mit der Selbstt¨atigkeit h¨angt auch der Begriff des Genusses zusammen, der in Humboldts Werk immer wieder auftaucht. Genuss ist nicht in erster Linie die Empfindung physischen Wohlbehagens, etwa in der Erotik, die der Tegeler Aristokrat durchaus pflegte. Genuss meint, aus der situativen Lebenswelt das zur eigenen Selbstvervollkommnung Dienliche auszulesen und sich zu Eigen zu machen. Gedacht ist nicht an passive, sondern aktive Anteilnahme. Das gilt besonders f u¨ r a¨ sthetische Kulturwerte. Das Gegen¨uber, mit dem in Austausch der Mensch sich bildet, bestimmt Humboldt als „Welt“. Dabei interessiert ihn weniger die a¨ ußere Natur, die physische Welt. Ihm geht es um die soziale und vor allem die kulturelle (Mit-)Menschenwelt. So sind fu¨ r ihn Familie, Gemeinschaft und Nation ebenso wie Wissenschaft, Kunst, Geschichte, Griechentum, Zeitgeist, Pers¨onlichkeitsbilder und Sprache bildende Welt. 13 Bildung erf u¨ llt sich in einem Ganzen. Der Ganzheitsbegriff Humboldts ist im Gegensatz zu dem aktuellen der Ganzheitlichkeit un¨okologisch. Die unbelebte,ja auch außermenschliche belebte Natur r¨uckt nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit.Das Ganze der zu vollendenden Menschenbildung wird vielmehr gefasst als Ineinander ausgepr¨agter Pers¨onlichkeit, Individualit¨at, profilierten Charakters mit dem „Geist der Menschheit“, der Humanitas als den Vervollkommnungspotenzen und -aktualisierungen der menschlichen Existenz. „Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl w¨ahrend der Zeit unsres Lebens, als auch noch u¨ ber dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zur¨ucklassen, einen so grossen Inhalt, als m¨oglich, zu verschaffen, diese Aufgabe l¨ost sich allein durch die Verkn¨upfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“ 14

12 13 14

Humboldt, Werke I, 1960, 235. Menze 1965, 140. Humboldt, Werke I, 1960, 235f.

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2.2 Die Schule Humboldts Bildungsbegriff ist offenkundig nicht prim¨ar p¨adagogisch. Er ist vom erwachsenen, voll handlungsf¨ahigen Subjekt her entworfen. Die Welt, an der in t¨atiger Selbstbestimmung der Einzelne sich bildet, ist viel mannigfaltiger als das Curriculum von Erziehungsinstitutionen. Der Bildungstheoretiker schließt aber nicht aus, dass sich Bildung auch in Schulen ereignen kann. Freilich ist der junge Humboldt gegen¨uber einem staatlich organisierten Schulwesen sehr skeptisch. Er deklariert „¨offentliche Erziehung“ als außerhalb der Grenzen staatlicher Wirksamkeit liegendes T¨atigkeitsfeld und setzt ganz auf private Institutionalisierung der Bildung. 15 In modernen Begriffen: Bildungsangebote sind Aufgabe von Initiativen der B¨urgergesellschaft, nicht des Staates. Die schulreformerischen Vorschl¨age und schulpolitischen Impulse, die von dem Schulverwaltungsbeamten Humboldt ausgehen, entspringen der Einsicht, dass diese privatistische Haltung nach dem Zusammenbruch des alten Preußen nicht mehr gen¨ugt. Bildung geh¨orte zu den inneren Kr¨aften, an denen nach einem dem K¨onig zugeschriebenen Wort der Staat gewinnen m¨usse, was er an a¨ ußeren Ressourcen verloren habe. Humboldt w¨ahlt also f u¨ r die Bildung die wohlfahrtsstaatliche Variante des Liberalismus, 16 nicht die v¨ollig individualistische Englands, einer Gesellschaft, in der Bildung erst durch den Education act von 1870 zur Staatsangelegenheit wurde. Humboldt wollte nicht die Restauration, gewiss auch nicht die Revolution, sondern den reformerischen Umbau Preußens zu einer Staatsb¨urgergesellschaft der Freien und prinzipiell Gleichen, im Rahmen freilich einer monarchischen Staatsverfassung. Bildung r¨uckte so in die Regelungshoheit des Staates. Die Schul- (und Universit¨ats-)pl¨ane des Reformers sind der Versuch, die Bildungsidee des vollen Menschentums unter den Bedingungen staatlich normierter Bildungsinstitutionen zu realisieren. Die erste, von ihm immer wieder hervorgehobene Bedingung dafu¨ r ist die strikte Trennung von allgemeinbildenden und Spezialschulen, die er sich als Berufsfachschulen vorstellt. Er tritt durchaus dafu¨ r ein, dass es deren viele gebe „und kein bedeutendes Gewerbe des b¨urgerlichen Lebens eine entbehre“. 17 Aber nicht diesen auf Qualifizierung und praktische Anwendung der Qualifikation gerichteten Einrichtungen gilt seine bildungsplanerische Aufmerksamkeit, sondern der Stufenfolge der allgemeinbildenden Schulen. „Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat fu¨ r diese annimmt, m¨ussen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. Was das Bed¨urfnis des Lebens oder eines einzelnes seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinem Unterricht erworben werden“. 18 Dem Eintritt in eine Spezialschule geht allemal der Besuch einer 15 16 17 18

Ebd., 103–109. Ebd., 210–240. Humboldt, Werke IV, 1964, 175. Ebd., 188.

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allgemeinbildenden voraus. Selbst¨andige B¨urger- oder Realschulen, die auf die Elementarbildung – wie Humboldt die Grundbildung nennt – aufbauen, verwischen diese Trennung und sind aufzuheben oder nicht einzurichten. Klar muss herausgestellt werden: Humboldt wollte im allgemeinbildenden Bereich nicht parallel laufende (Sekundar-)Schularten, sondern einen horizontal gestuften Schulaufbau. Er wollte damit auch nicht das sp¨ater mit seinem Namen verbundene Gymnasium – wenigstens nicht als eine Schulart neben anderen. „Es gibt, philosophisch genommen, nur drei Stadien des Unterrichts: Elementarunterricht, Schulunterricht, Universit¨atsunterricht“. 19 Im zweiten Stadium eingerichtete parallele Schultypen machen die Bildung „unrein“. 20 Das Curriculum, „die Lehrgegenst¨ande“ 21 der beiden Stufen unterhalb der Universit¨at deuten des Bildungsphilosophen L¨osung f u¨ r das Problem an, wie proportionierliche Emporbildung der Kr¨afte im Schulkontext inhaltlich umgesetzt werden kann. Im Elementarunterricht geht es um die Verbegrifflichung der Anschauung und die Kodierung und Dekodierung der die Begriffe ausdr¨uckenden Zeichen. Gewiss will Humboldt die durchgehende Alphabetisierung der Bev¨olkerung (von der am Anfang des 19. Jahrhunderts wohl noch die H¨alfte des Lesens und Schreibens unkundig war), er will allgemeine grundlegende Rechenf¨ahigkeit, aber es ist nicht der praktische Verwendungszusammenhang der Kulturtechniken, sondern ihr Beitrag zur Kr¨afteentwicklung, der im bildungstheoretischen Fokus steht. „Der Elementarunterricht soll bloss in Stand setzen, Gedanken zu vernehmen, auszusagen, zu fixiren, fixirt zu entziffern, und nur die Schwierigkeit zu u¨ berwinden, welche die Bezeichnung in allen ihren Hauptarten entgegenstellt. Er ist noch nicht sowohl Unterricht, als er zum Unterricht vorbereitet,und ihn erst m¨oglich macht.Er hat es also eigentlich nur mit Sprach-, Zahl- und Mass-Verh¨altnissen zu thun, und bleibt, da ihm die Art des Bezeichneten gleichg¨ultig ist, bei der Muttersprache stehen.“ Mehr als, wenngleich nicht unwillige, Konzession an Alltagsbed¨urfnisse setzt Humboldt hinzu: „Wenn man, und mit Recht, noch andern Unterricht geographischen, geschichtlichen, naturhistorischen hinzufu¨ gt, so geschieht es theils um die durch den Elementarunterricht entwickelten, und zu ihm selbst n¨othigen Kr¨afte durch mannigfaltigere Anwendung mehr zu u¨ ben, theils weil man f u¨ r diejenigen, welche aus diesen Schulen unmittelbar ins Leben u¨ bergehen, den blossen Elementar-Unterricht u¨ berschreiten muss.“ 22 Der Unterricht auf der Sekundarstufe, der „Schule“, ist durch das Miteinander von kognitivem Methodenlernen und Inhaltsaneignung, Lernen des Lernens und Lernen als Wissenserwerb, formaler und materialer Bildung gekennzeichnet. „Der Zweck des Schulunterrichts ist die Uebung der F¨ahigkeiten,und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unm¨oglich 19

Ebd., 169. Ebd., 188. 21 Ebd., 168. 22 Ebd., 169. 20

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ist. Beide sollen durch ihn vorbereitet; der junge Mensch soll in Stand gesetzt werden, den Stoff, an welchen sich alles eigne Schaffen immer anschliessen muss, theils schon jetzt wirklich zu sammeln, theils k¨unftig nach Gefallen sammeln zu k¨onnen, und die intellectuell-mechanischen Kr¨afte auszubilden. Er ist also auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens besch¨aftigt. Aber alle seine Functionen sind nur relativ, immer einem H¨oheren untergeordnet, nur Sammeln,Vergleichen, Ordnen, Pr¨uften u.s.f. Das Absolute wird nur angeregt, wo es, wie es gar nicht fehlen kann, selbst in einem Subjecte zur Sprache kommt.“ 23 Die Lehr-Lerninhalte gliedern sich in drei Hauptbereiche: den linguistischliterarischen, den historischen und den mathematischen. 24 Mit dem linguistischen Programm ist Unterricht in Deutsch, dann aber vor allem gem¨aß alteurop¨aischer Tradition in Latein und Griechisch gemeint. Humboldt denkt dabei freilich gerade nicht mehr an die althumanistische Imitatio, die im Grunde die antike Literatur fortsetzen sollte.Von seinem G¨ottinger Universit¨atslehrer Heyne, einem der Begr¨under des philologischen Neuhumanismus, hatte er gelernt, an altsprachliche Texte verstehend-interpretierend in bildender Absicht heranzugehen, freilich bei Aufrechterhaltung des Postulats weitgehender aktiver Sprachbeherrschung. F¨ur die Schule geht es auch um das Verst¨andnis antiker Autoren. In einigen Arbeiten ist Humboldt ja geradezu ein Musterbeispiel der „Griechenreligion der Goethezeit“. 25 Zentral aber geht es um das formale Verst¨andnis der Struktur der Sprache als des wichtigsten Mediums menschlicher Ausdrucksf¨ahigkeit. „Von dem Grundsatz ausgehend, einmal dass die Form einer Sprache, als Form, sichtbar werden muss, und dies besser an einer todten, schon durch ihre Fremdheit frappirenden, als an der lebendigen Muttersprache geschieht, dann dass Griechisch und Lateinisch sich beide gegenseitig unterst¨utzen m¨ussen, w¨urde ich festsetzen: dass alle Sch¨uler, ohne Ausnahme, beide in der untersten Classe jede schlechterdings lernen m¨ussten [. . . ].“ 26 Der komparative Linguist Humboldt, der selbst Studien u¨ ber das Baskische oder eine s¨udostasiatische Sprache trieb, m¨ochte in der Sprachbetrachtung den Sch¨uler dahin bringen, „sich in jede gegebene Sprache, nach seiner allgemeinen Kenntnis vom Sprachbau u¨ berhaupt, leicht und schnell hinein zu studieren“. 27 Mit den historischen Schuldisziplinen sind offenbar die sachkundlichen F¨acher gemeint, wobei die auf einzelne Personen, Gesellschaften und Kulturen bezogene Historie dem Sprachunterricht, die Naturgeschichte, also die in jener Zeit sich ausdifferenzierenden Naturwissenschaften, dem Mathematik23

Ebd., 169f. Ebd., 169; in der Formulierung abweichend, der Sache nach gleich, freilich noch erg¨anzt um den gymnastischen und a¨ sthetischen Aufgabenbereich ebd., 177. 25 Rehm 1936. 26 Humboldt, Werke IV, 1964, 176. 27 Ebd., 177. 24

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unterricht n¨aher steht. Dieser bezieht sich auf den Entwicklungsstand der zeitgen¨ossischen reinen Mathematik. Ihr geb¨uhrt gegen¨uber der angewandten der Vorrang, wie u¨ berhaupt der Mathematik gegen¨uber den Erfahrungswissenschaften Physik und Chemie. 28 Kein Sch¨uler kann einen der curricularen Bereiche ganz vernachl¨assigen, aber er kann Schwerpunkte setzen. Die Binnenorganisation des Sekundarunterrichts ist als Kombination des Jahrgangs- und des Fachklassensystems angelegt. Beim Fortschreiten in der Klassenfolge ist insofern fachspezifische Flexibilit¨at zu wahren. Humboldt war kein Didaktiker, wie etwa ihm zeitgen¨ossisch Herbart. Zwar hat sich der Schulverwaltungsbeamte neugierig und skeptisch zugleich Gedanken u¨ ber die breite Einfu¨ hrung der Pestalozzischen Methode fu¨ r den Elementarunterricht gemacht, aber eine solche Universalmethode war nicht seine Sache. Er pl¨adiert f u¨ r eine gegenstandsnahe, fachdidaktische Vorgehensweise. Der verstehend-erkl¨arend erschlossene Gegenstand soll sich in das „Gem¨uth“ des Lernenden einpr¨agen. Der Schule der allgemeinen Menschenbildung liegt ein „auf den Menschen u¨ berhaupt“ 29 bezogenes Gleichheitsprogramm zu Grunde. „Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagel¨ohner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gem¨uth urspr¨unglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenw¨urde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chim¨arisch, und verschroben sein soll [...]. Auch Griechisch gelernt zu haben k¨onnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unn¨utz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“ 30 Der Bildungsplaner ist kein Utopist. Er kennt den Zusammenhang von sozialer Herkunft, Bildungszugang und -verlauf sowie Stellung im Erwachsenenleben, und er weiß, dass in seiner Gesellschaft das erste die am meisten wirksame Determinante ist. Indem aber ein prinzipiell einheitlicher Bildungsweg ge¨offnet wird, auf dem der Einzelne Freiheitsspielr¨aume zur Festlegung seiner „Bestimmung“ bekommt, soll sich der Gleichheitsgrundsatz auch in der sozialen Positionshierarchie niederschlagen. „Der ganz Arme schulte seine Kinder in die wohlfeilsten, oder unentgeldlichen Elementarschulen; der weniger Arme in die besseren, oder wenigstens theureren. Wer noch mehr anwenden k¨onnte, besuchte die gelehrten Schulen, bliebe bis zu den h¨oheren Classen, oder schiede fr¨uher aus, triebe mehr Sprachunterricht oder mehr gemeinhin realen genannten. Auf diesen Schulunterricht folgten die Universit¨at, eine Spezialschule oder der Eintritt in das b¨urgerliche Leben selbst. Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollst¨andige Menschenbildung, jeder u¨ berhaupt eine vollst¨andige, nur da, wo sie noch zu weiterer Entwicklung fortschreiten k¨onnte, verschieden begr¨anzte Bildung, jede intellectuelle Indi28

Benner 1990, 197. Humboldt, Werke IV, 1964, 188. 30 Ebd., 189. 29

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vidualit¨at f¨ande ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung fr¨uher als in seiner allm¨aligen Entwicklung selbst zu suchen, die meisten endlich h¨atten, auch indem sie die Schule verliessen, noch einen Uebergang vom blossen Unterricht zu der Ausfu¨ hrung in den SpecialAnstalten.“ 31 2.3 Die Universit¨at Obwohl auf partielle Vorbilder wie die Aufkl¨arungsuniversit¨at G¨ottingen oder die idealistische Universit¨at Jena hingewiesen werden kann, stellt die klassische Universit¨atsidee der Jahre nach 1800 eine Neubestimmung nicht nur in dem Sinne dar, dass es sich bei der ersten in diesem Geiste errichteten Institution, der Universit¨at zu Berlin, tats¨achlich um eine Neugr¨undung handelte. Humboldt war durchaus daf u¨ r, fu¨ r die h¨ochste Stufe des Bildungssystems den traditionellen Namen Universit¨at beizubehalten – was in dieser Umbruchzeit angesichts des Zustandes der meisten Universit¨aten am Ende des alten Heiligen R¨omischen Reiches deutscher Nation keineswegs selbstverst¨andlich war – aber er wollte nur die Bezeichnung kontinuieren. Die neue sollte sich von der alten Universit¨at grundlegend unterscheiden. Darin traf er sich mit den Verfassern anderer Entw¨urfe fu¨ r die Berliner Neugr¨undung – etwa Fichte oder Schleiermacher. 32 Die Universit¨at ist die Hauptinstitution unter den „h¨oheren wissenschaftlichen Anstalten“, neben der Humboldt noch die Akademie der Wissenschaften und die „leblosen Institute [. . . ], wie das Anatomische und zootomische Theater“ im Blick hat. Insbesondere fu¨ r die Universit¨at gilt also die Bestimmung: „Der Begriff der h¨oheren wissenschaftlichen Anstalten, als des Gipfels, in dem alles, was unmittelbar fu¨ r die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt, beruht darauf, dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckm¨assig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben.“ 33 In dem Programmsatz ist die erste der Einheitsformeln, auf die man die Humboldtsche Universit¨atsidee gebracht hat,deutlich herausgestellt: die von Wissenschaft und Bildung. Die Beziehung zwischen beiden Komponenten der Einheit ist freilich nicht v¨ollig symmetrisch. Die voranzubringende, nicht eigens didaktisierte, in sich verst¨andlich gemachte Wissenschaft ist zwar der „Stoff“ der Bildung, bleibt aber auch außerhalb dieser Funktion „der Hauptgesichtspunkt“. Bei der Bildung denkt Humboldt, wie der Kontext zeigt, zun¨achst an den Studenten. Aber im Sinne der umfassenden Kr¨afteentwicklung ist auch die Bildung des Lehrenden und Forschers nicht ausgeschlossen. Er bildet sich, indem er Wissenschaft produziert. Viele Belege lassen sich bei Humboldt daf u¨ r finden, dass er Wissenschaft und die mit ihr verbundene Bildung nicht um einer unmittel31 32 33

Ebd., 175f. Anrich 1956; R¨ohrs 1987. Humboldt, Werke IV, 1964, 255.

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baren a¨ ußeren Abzweckung Willen in der Universit¨at institutionalisieren will. Freilich ist die Universit¨at nicht v¨ollig selbstzwecklich. Auch sie ist eine zur „moralischen Cultur“ der Gesellschaft errichtete Institution. Nur Wissenschaft in moralischerVerantwortung steht unter der „reinen Idee der Wissenschaft“. 34 Humboldt spricht h¨aufiger von der Wissenschaft als den einzelnen Wissenschaften. Darin kommt schon sprachlich die zweite „Einheit“, die der Wissenschaften, zum Ausdruck. Die Einheit stellt sich dadurch her, dass er alle Disziplinen in „philosophischer“, Schleiermacher redete von „spekulativer“, heute w¨urde man sagen: theorieorientierter Weise betrieben wissen will. „Sobald man aufh¨ort, eigentlich Wissenschaft zu suchen, oder sich einbildet, sie brauche nicht aus der Tiefe des Geistes heraus geschaffen, sondern k¨onne durch Sammeln extensiv aneinandergereiht werden, so ist Alles unwiederbringlich und auf ewig verloren; verloren f u¨ r die Wissenschaft, die, wenn dies lange fortgesetzt wird, dergestalt entflieht, dass sie selbst die Sprache wie eine leere H¨ulse zur¨uckl¨asst, und verloren fu¨ r den Staat. Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und in’s Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um, und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu thun.“ 35 Humboldts wissenschaftstheoretische Auffassung liegt vor der im sp¨ateren 19. Jahrhundert entwickelten Unterscheidung in verstehend und erkl¨arend vorgehende (Dilthey), in idiographische und nomothetische (Windelband) Wissenschaften. Heute ergibt sich daraus zum Beispiel f u¨ r die Sozialwissenschaften die Gegen¨uberstellung von qualitativ- interpretativen und quantitativanalytischen Methoden. Seine Warnung vor dem bloßen „Sammeln“ ist deshalb nicht als Zur¨uckweisung quantitativ empirischer Datengenerierung zu verstehen. Gerade der Akademie der Wissenschaften, die dafu¨ r gegen¨uber der Universit¨at die besser geeignete Infrastruktur hat, weist er die Aufgabe l¨angerfristiger empirischer Forschungsprojekte zu, die zu Erkenntnissen „durch Beobachtung und Versuche [. . . ], welche sie in systematischer Reihe anstellt“, hinf u¨ hren. 36 Sammeln heißt vielmehr additive, nicht in theoretische Zusammenh¨ange, unter „Principien“ 37 eingeordnete Faktenanh¨aufung. Mit der fu¨ r alle Disziplinen postulierten philosophischen Vorgehensweise verl¨asst die Philosophische Fakult¨at nicht nur die prop¨adeutischen Aufgaben ihrer historischen Vorg¨angerinstitution, der Artistenfakult¨at, sondern u¨ bernimmt auch f u¨ r die Berufsfakult¨aten (Theologie, Medizin, Jura) eine gewisse Leitfunktion. Im Gegensatz zur Schule,in der fertige wissenschaftliche Ergebnisse Inhalte des Bildungsprozesses werden, gilt fu¨ r die Universit¨at, „dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz abgeschlossenes Problem“ betrachtet. Damit 34

Ebd., 255. Ebd., 257f. 36 Ebd., 265. 37 Ebd., 258. 35

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ist die Forschung („daher immer im Forschen bleiben“ 38 ) als zentrale Universit¨atsaufgabe formuliert. Welchen Vorsprung das wissenschaftsgeschichtlich bedeutet, kann man daran ermessen, dass der Begriff des „research“ und die damit gemeinte Sache erst am Anfang des 20. Jahrhunderts sich an amerikanischen Hochschulen eingeb¨urgert hat. 39 Am wissenschaftlichen Forschen sind Dozenten und Studenten gleichberechtigt, wenngleich nicht immer gleichgewichtig beteiligt. Damit ist die dritte „Einheit“ angesprochen: die von Lehrenden und Lernenden, der als vierte die von Forschung und Lehre korrespondiert. Der Lehrende braucht zur Vervollkommnung seiner wissenschaftlichen Erkenntnis das studentische Gegen¨uber. „Das Verh¨altnis zwischen Lehrer und Sch¨uler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht f u¨ r die letzteren, beide sind f u¨ r die Wissenschaft da; sein Gesch¨aft h¨angt mit an ihrer Gegenwart und w¨urde, ohne sie, nicht gleich gl¨ucklich von Statten gehen; er w¨urde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele n¨aher zu kommen durch die Verbindung der ge¨ubten, aber eben darum auch leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft mit der schw¨acheren und noch parteiloser nach allen Richtungen muthig hinstrebenden.“ 40 Studentische Wissenschaftsbeteiligung heißt grunds¨atzlich: selbst forschen. „Darum ist auch der Universit¨atslehrer nicht mehr Lehrer, der Studirende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterst¨utzt ihn darin. Denn der Universit¨atsunterricht setzt nun in Stand, die Einheit der Wissenschaft zu begreifen, und hervorzubringen, und nimmt daher die schaffenden Kr¨afte in Anspruch. Denn auch das Einsehen der Wissenschaft als solcher ist ein, wenn gleich untergeordnetes Schaffen. Daher hat der Universit¨atsunterricht keine Gr¨anze nach seinem Endpunkt zu, und f u¨ r die Studirenden ist, streng genommen, kein Kennzeichen der Reife zu bestimmen. Ob, wie lange, und in welcher Art derjenige, der einmal im Besitze t¨uchtiger Schulkenntnisse ist, noch m¨undlicher Anleitung bedarf? H¨angt allein vom Subject ab. Das Collegienh¨oren selbst ist eigentlich nur zuf¨allig; das wesentlich Nothwendige ist, dass der junge Mann zwischen der Schule und dem Eintritt ins Leben eine Anzahl von Jahren ausschliesend dem wissenschaftlichen Nachdenken an einem Orte widme, der Viele, Lehrer und Lernende in sich vereinigt.“ 41 Wohl wissend, dass in der Realit¨at viele Abstriche zu machen sind, beschreibt Humboldt den idealen Studenten und seine auf der vorhergehenden Schule zu entfaltende Reife unter anderem unter Anspielung auf das platonische H¨ohlengleichnis. Im Gelingensfalle bereitet die Schule den k¨unftigen Studenten so vor, „dass er physisch, sittlich und intellektuell der Freiheit und Selbstth¨atigkeit u¨ berlassen werden kann [. . . ] [und] eine Sehnsucht in sich 38

Ebd., 256. Fallon 1987, 33; R¨ohrs 1995. 40 Humboldt, Werke IV, 1964, 256. 41 Ebd., 170f. 39

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tragen wird, sich zur Wissenschaft zu erheben, die ihm bis dahin nur gleichsam von ferne gezeigt war. Ihr Weg, dahin zu gelangen, ist einfach und sicher. Sie muss nur auf harmonische Ausbildung aller F¨ahigkeiten in ihren Z¨oglingen sinnen; nur seine Kraft in einer m¨oglichst geringen Anzahl von Gegenst¨anden an, so viel m¨oglich, allen Seiten u¨ ben, und alle Kenntnisse dem Gem¨uth nur so einpflanzen, dass das Verstehen, Wissen und geistige Schaffen nicht durch a¨ ussere Umst¨ande, sondern durch seine innere Pr¨acision, Harmonie und Sch¨onheit Reiz gewinnt. Dazu und zur Vor¨ubung des Kopfes zur reinen Wissenschaft muss vorz¨uglich die Mathematik und zwar von den ersten Uebungen des Denkverm¨ogens an gebraucht werden.“ 42 Hervorzuheben ist, dass der Hochschulplaner als Bedingung der M¨oglichkeit f u¨ r die Einarbeitung in die Wissenschaft die Mathematik herausstellt. Dabei wird er aber auch vorausgesetzt haben, dass sein idealer Student m¨uhelos Latein und Griechisch beherrscht. Humboldt dachte sich die Universit¨at als eine professionelle Organisation, 43 freilich nur mit den unbedingt notwendigen strukturellen St¨utzen und Verfahrensregeln. „Da die Anstalten ihren Zweck indess nur erreichen k¨onnen, wenn jede, soviel als immer m¨oglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegen¨ubersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Th¨atigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, urspr¨ungliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken ¨ hervorbringen und unterhalten.“ 44 Ausformulierte, der Uberpr¨ ufung durch Verwaltungsgerichte f¨ahige Satzungen lagen dem Hochschulplaner g¨anzlich fern, ebenso ein strukturierendes oder sogar Lerninhalte vorschreibendes Curriculum fu¨ r das Studium. Eine Lehrverpflichtungsverordnung ist auch nicht in seinem Sinne. „Auch gibt es auf jeder großen Universit¨at immer M¨anner, die, indem sie wenig oder gar nicht lesen, nur einsam fu¨ r sich studieren und forschen.“ 45 Eine Hochschullehrerstelle ist freilich keine Sinekure. Es bleibt immer die Verpflichtung auf die Wissenschaft, von der angenommen wird, dass sie jeder als Universit¨atslehrer Berufene mit Ernst und hoher Motivation von sich aus einh¨alt. Die Universit¨at erwartet von Staat und Gesellschaft institutionelle Absicherung in wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht. Humboldt denkt in Bezug auf ersteres freilich nicht an Finanzierung aus dem Staatshaushalt, sondern aus den Ertr¨agen eines der Universit¨at u¨ bereigneten Verm¨ogens. 42

Ebd., 261. Schluchter 2005, 200. 44 Humboldt, Werke IV, 1964, 255f. 45 Ebd., 262. 43

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Im konkreten Berliner Fall sollten k¨onigliche Dom¨anen auf die Hochschule u¨ bertragen werden. 46 Im einmal gesetzten rechtlichen Rahmen soll die Universit¨at frei arbeiten; der Staat regiert in ihre inneren Abl¨aufe nicht hinein,auch nicht dadurch, dass er die Hochschule als Institution der Auftragsforschung gebraucht. In der Berufungsfrage freilich macht Humboldt den Staatseinfluss ganz stark. Bei einem Selbsterg¨anzungsrecht der Fakult¨aten fu¨ rchtet er um die wissenschaftliche Pluralit¨at durch Schulenbildung und Paradigmenbindung. „Die Ernennung der Universit¨atslehrer muss dem Staat ausschliesslich vorbehalten bleiben, und es ist gewiss keine gute Einrichtung, den Facult¨aten darauf mehr Einfluss zu verstatten, als ein verst¨andiges und billiges Curatorium von selbst thun wird. Denn auf der Universit¨at ist Antagonismus und Reibung heilsam und nothwendig, und die Collision, die zwischen den Lehrern durch ihr Gesch¨aft selbst entsteht, kann auch unwillk¨urlich ihren Gesichtspunkt verr¨ucken.“ 47 Vervollkommnung der nie abgeschlossenen Wissenschaft und Bildung sind Zwecke als solche. Eine schlichte Funktionalisierung der Universit¨at fu¨ r die L¨osung von Aufgaben in Staat und Gesellschaft ist nicht erw¨unscht. Freilich bleibt Humboldt bei seinem Prinzip, dass h¨ohere wissenschaftliche Anstalten die „Cultur der Nation“ zu f¨ordern haben. Die L¨osung findet er in einem indirekten Dienst der Hochschule fu¨ r den Staat. „Der Staat muss seine Universit¨aten weder als Gymnasien noch als Spezialschulen behandeln, und sich seiner Akademie nicht als einer technischen oder wissenschaftlichen Deputation bedienen. Er muss im Ganzen [. . . ] von ihnen nichts fordern, was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht, sondern die innere Ueberzeugung hegen, dass, wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von einem viel h¨oheren Gesichtspunkte aus erfu¨ llen, von einem, von dem sich viel mehr zusammenfassen l¨asst und ganz andere Kr¨afte und Hebel angebracht werden k¨onnen, als er in Bewegung zu setzen vermag.“ 48 Wie der indirekte Beitrag der universit¨aren Bildung konkret aussehen kann, l¨asst sich an der Funktionsbestimmung der unter der Amtszeit des Hochschulplaners konzipierten Staatspr¨ufung f u¨ r das h¨ohere Lehramt, des Examen pro facultate docendi ablesen. Dieses Examen ist nicht Studienabschluss- sondern Berufseintrittspr¨ufung. Das Studium ist nicht auf das Ziel beruflicher Qualifizierung gerichtet, sondern im Examen erweist sich die „T¨uchtigkeit“ des Kandidaten, seine wissenschaftliche Bildung fu¨ r berufliche Aufgaben aktivie-

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Die Gegenfinanzierung sollte durch S¨akularisierung katholischer Kircheng¨uter und einiger evangelischer Stiftungen in Schlesien und Westpreußen erfolgen. Damit w¨are im letzteren Falle besonders eine Schw¨achung polnischsprachiger Gemeinden verbunden gewesen, was Humboldt wohl nicht intendiert, aber auch nicht bedacht hat. 47 Humboldt, Werke IV, 1964, 264f. 48 Ebd., 260.

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ren zu k¨onnen. 49 Nur bei Beachtung dieser Differenz ist es sinnvoll, die f u¨ nfte Einheitsformel, die von Bildung und Ausbildung, zu pr¨agen.

3 Bildung unter gegenw¨artigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen 3.1 Die Weltgesellschaft Als Humboldt seine Bildungspl¨ane entwarf, konnte nur von kaum vernetzten Bildungsinstitutionen, aber nicht von einem nationalen Bildungssystem die Rede sein. „National“ bezieht sich bei ihm im bildungsplanerischen Kontext auf Preußen, er kennt freilich auch die „deutsche Nation“, wie zum Beispiel seine Verfassungsvorschl¨age f u¨ r den Deutschen Bund zeigen. Im Bildungsbereich registrierte er sehr sorgf¨altig die Unterschiede der preußischen Entwicklung zu der anderer deutscher Staaten, insbesondere Bayerns und Sachsens. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts haben sich dann nationalstaatliche Bildungssysteme herausgebildet,die auch heute noch das Grundmuster der Bildungsinstitutionalisierung darstellen. Freilich gibt es Indikatoren daf u¨ r, dass Bildung inzwischen die Ebene der Weltgesellschaft erreicht hat, dass das Bildungssystem also ein funktional ausdifferenziertes Teilsystem des Weltsystems neben anderen, zum Beispiel dem Weltwirtschaftssystem, geworden ist. Diese sind am Beispiel der Schule: – Bildung ist weltweit formal institutionalisiert. Seit Anfang der neunziger Jahre wurde auch in der deutschsprachigen Vergleichenden Erziehungswissenschaft von der „Universalisierung“ der Institution Schule ausgegangen. – Beim Schullehrplan ist ein weltweit g¨ultiges Muster erkennbar. Die Lernziele und inhalte der Primarschule haben sich weltweit so vereinheitlicht, dass von einem „Weltcurriculum“ gesprochen wurde. Bei der oberen Sekundarschule ergibt sich eine Typik unterschiedlich profilierter Curricula, die weltweit verbreitet ist, und Ver¨anderungen ergeben sich nur in der quantitativen Ausf u¨ llung der einzelnen Typen in verschiedenen Regionen. Neuerdings wirken sich auch die internationalen Schulleistungsvergleiche vereinheitlichend aus. Obwohl etwa die PISA-Studien bewusst curriculumsunabh¨angig angelegt sind, setzen die definierten Kompetenzen dennoch Standards, da Curricula auf ihr Erreichen hin umgeschrieben werden. – Eine weltweite Bildungssemantik, fast schon Bildungstheorie, setzt sich durch. Wir bekommen sie nicht nur zu fassen in den rund um den Globus zitierten „vier S¨aulen der Bildung“, welche die Delors-Kommission im Auftrag der UNESCO in ihrem Bericht „Learning – the Treasure within“ (1996) verk¨undete, Learning to know, also kognitive Lernziele und -inhalte, Learning to do, also arbeitsbezogene und o¨ konomische Lernziele und -inhalte, 49

Ebd., 241–244.

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Learning to live together, Learning to live with others, also sozial-moralische Lernziele und -inhalte, Learning to be, also pers¨onlichkeitsbezogene existenzielle Lernziele und -inhalte. Sie tritt auch zu Tage in der emphatischen Betonung des Menschenrechts auf Bildung, die im Bericht der Weltbildungskonferenz Dakar 2000, „Education for all 2000 Assessment“, festzustellen ist. – Ein weltweites Bildungsmonitoring ist eingerichtet. Seit 1991 wurden etwa im Zweijahresabstand die Weltbildungsberichte der UNESCO herausgebracht. Sie bieten nicht nur eine Beschreibung des Ist-Zustandes. Mit der Behandlung von Themen, wie Analphabetismus und Alphabetisierung, Bildung von Frauen und M¨adchen, Bildung f u¨ r Demokratie, Frieden und Menschenrechte, Bildungsfinanzierung setzen sie zugleich Standards, denen sich nationale Regierungen in ihrer Bildungspolitik nur schwer entziehen k¨onnen. Die Tendenz zurVerankerung des Bildungssystems auf weltgesellschaftlicher Ebene verhindert nicht, dass f u¨ r dieses Teilsystem des Weltsystems enorme regionale Unterschiede bestehen, die im Vergleich ein deutliches Gef¨alle aufzeigen.Wie bei der Wirtschaft gibt es offenbar auch bei der Globalisierung der Bildung Gewinner und Verlierer. 50 In der Folge der Etablierung von Bildung auf Weltsystemebene gewinnen neben Schule, Hochschule und Berufs- und Weiterbildungseinrichtungen immer schon zugeschriebenen Aufgaben neue Thematiken an Wichtigkeit (zum Beispiel in Programmen und Praxis internationaler Organisationen, wie der UNESCO): das globale Lernen 51 , die Menschenrechtsbildung 52 , das interkulturelle Lernen 53 , die Friedenserziehung 54 . Die als Beispiel herausgegriffene Menschenrechtsbildung verfolgt drei Lernziele,n¨amlich eigene Menschenrechte kennen und einfordern k¨onnen, die Menschenrechte der anderen kennen und f u¨ r ihre Wahrung eintreten, die Menschenrechte als Werte der eigenen Moral anerkennen und handlungsleitend werden lassen. 3.2 Die Wissensgesellschaft Die Gesellschaft, in der Humboldt plante, l¨asst sich – in einer Verbindung von ¨ politischen und wirtschaftlichen Kennzeichen – am besten als im Ubergang begriffen von der feudal-aristokratischen Agrargesellschaft zur b¨urgerlichliberalen Erwerbsgesellschaft beschreiben. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt sich aus dieser die Industriegesellschaft. W¨ahrend noch in den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts die Schultheorie sich auf Funktionen der Bildungsinstitutionen f u¨ r die „moderne Industriegesellschaft“ bezog, gewinnt nicht nur in der aktuellen bildungssoziologischen 50

W¨olfing/Lenhart 2003. Seitz 2002. 52 Lenhart 2003. 53 Auernheimer 1994. 54 R¨ohrs 1994. 51

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Debatte ein neuer Referenzrahmen an Bedeutung: der der Wissensgesellschaft. Das Stichwort wird sowohl von internationalen Organisationen, wie UNESCO oder OECD, als auch von nationalen Gremien, wie der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 2002, zur Markierung gesellschaftlichen Wandels stark gemacht. Umstritten ist freilich, ob die zu dem Begriff geb¨undelten Merkmale und Merkmalsbeschreibungen in der Sache einen tiefgreifenden sozialen Wandel und in der sozialwissenschaftlichen Theorie so etwas wie ein neues Paradigma bezeichnen, oder ob es nicht doch auf beiden Ebenen nur um sp¨urbare Bedeutungsverschiebungen ohne dramatischen Umbruch geht. Wissensgesellschaft beginnt dabei konkurrierende Kennzeichnungen des Wandels, wie Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, postmoderne Dienstleistungsgesellschaft oder postindustrielle Gesellschaft zu verdr¨angen. Unstrittig ist, dass der Ausl¨oser fu¨ r die breite Verwendung der neuen Begriffsstrategie 55 die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie ist.Zuweilen werden auch gegenw¨artig noch Informations- und Wissensgesellschaft synonym gebraucht. Mehrheitlich ist der Begriff Wissensgesellschaft aber aus der technizistischen Verengung gel¨ost. Wissen werde fu¨ r alle anderen gesellschaftlichen Bereiche in qualitativ neuer Weise bedeutsamer, „Wissen werde zum Organisations- und Integrationsprinzip und damit zur zentralen Problemquelle der Modernen Gesellschaft“ 56 . Die Merkmale der Wissensgesellschaft 57 , zum Beispiel – Wissen neben Kapital und Arbeit als zumindest gleichberechtigte Ressource der o¨ konomischen Produktion – Zunahme „wissensbasierter“ Berufe, die in immer mehr Bereiche sich ausbreiten – Anstieg der forschungsbezogenen und wissensintensiven G¨uter und Dienstleistungen – Ver¨anderung der Besch¨aftigtenstruktur zu Gunsten der h¨oher Qualifizierten, bei gleichzeitigem Abbau von Arbeitspl¨atzen f u¨ r gering oder gar nicht Qualifizierte – Umbau hierarchisch kontrollierender Organisationen hin zu „lernenden“ Organisationen sind vorrangig am o¨ konomisch-betrieblich-beruflichen Handlungsfeld abgelesen. Wissenschaftsgesellschaft scheint vor allem „knowledge economy“ mit ihren „knowledge workers“ zu sein. Wissen und Wissenschaft sind zumindest insofern nicht deckungsgleich, als nicht alles Wissen im Wissenschaftssystem erzeugt wird. Ein Gutteil der Forschung etwa ist heute betriebliche Forschung. Gleichwohl bleibt Wissenschaftsproduktion innerhalb des eigenen Systems zu55 56 57

Diese hat schon Vorl¨aufer seit den 60er Jahren, z. B. Drucker 1969; Bell 1973, 1985. Deutscher Bundestag 2002, 259, nach Stehr 2001. Heidenreich 2002; K¨ubler 2005.

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mindest hinsichtlich der Grundlagenforschung die wichtigste Quelle methodisch generierten Wissens. Die Debatte leidet an unzureichender Konzeptualisierung des Wissensbegriffs und an fehlenden empirischen Studien zur Bedeutung von verschiedenen Kategorien des Wissens. Gewiss ist im historischen Vergleich das verf u¨ gbare Wissen quantitativ enorm angestiegen und dramatisch ausdifferenziert worden. Gleichwohl ist zumindest zweifelhaft, ob gegenw¨artig ein gr¨oßerer ¨ Ausschnitt des gesamtgesellschaftlich verfu¨ gbaren Wissens f u¨ r die Okonomie ben¨otigt wird als in fr¨uheren Epochen. F¨ur die Herstellung eines Faustkeils musste der Steinzeitmensch wohl keinen geringeren Anteil seines kulturell gegebenen Wissens aktivieren, als der Elektronikingenieur f u¨ r die Produktion eines Mobiltelefons. Wenn es also nicht um die Relation zum Insgesamt des gesellschaftlich-kulturell verfu¨ gbaren Wissens geht, bleibt zu bestimmen, welchen Wissensformen in der Wissensgesellschaft der Bedeutungszuwachs zugeschrieben wird. Bei der Erstellung einer Wissenstypologie 58 kann man sich auch an Humboldts Griechen halten. Ein Blick in ein altgriechisches W¨orterbuch zeigt, dass diese zwischen vier philosophiehistorisch folgenreich gewordenen Wissensformen unterschieden: 59 – der Episteme, dem allgemeing¨ultigen Erkenntniswissen; – der Techne, dem strategisch-praktischen L¨osungswissen fu¨ r gestellte Aufgaben; – der Phronesis, dem moralisch-sozialen und politischen Handlungswissen; – der Metis, dem klugen, lebenspraktischen Scharfsinn oder auch der List (der „listenreiche Odysseus“ war „polymetes“). Bei der Begr¨undung fu¨ r den Paradigmenwechsel zur Wissensgesellschaft geht es offensichtlich prim¨ar um den Bedeutungszuwachs von Episteme und Techne. Episteme erwirbt man in formalen Bildungsinstitutionen, Techne dort und in nonformalen und informalen Bildungskontexten. Obwohl Wissen auch im Austausch gesellschaftlicher Teilbereiche unmittelbar kommuniziert wird, l¨auft doch der quantitativ und qualitativ wichtigste Verbindungsweg u¨ ber die Bildungsinstitutionen. Ein leistungsf¨ahiges Bildungssystem wird deshalb als unabdingbare Voraussetzung zum Auf- und Ausbau einer erfolgsorientierten Wissensgesellschaft angesehen. Das bezieht sich sowohl auf die Schulbildung und die universit¨are Bildung als auch die berufliche Aus- und Weiterbildung. Aus den bei den PISA-Studien erhobenen Hintergrundvariablen hat man die Merkmale der „erfolgreichen“ nationalen Schulsysteme abgelesen. Sie gelten zugleich als die der Schule der Wissensgesellschaft angemessenen und – in Grenzen und bei Kontroversen in einzelnen Elementen, zum Beispiel bei der Schulstruktur – als f u¨ r das deutsche Bildungssystem anvisierten Reformziele. 58 59

Z. B. K¨ubler 2005, 128–146. Vgl. Renzl 2004, 32.

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„Die Lehrer sind im Umgang mit sozialer, kultureller und kognitiver Heterogenit¨at besser geschult, sie beherrschen differenzierende und individualisierende Lehrmethoden. Entsprechend gibt es bis zum 8. Schuljahr eine nur sehr schwach ausgepr¨agte institutionelle Selektion. Alle diese L¨ander haben bis zum 8. oder 9. Schuljahr Gesamtschulsysteme, sortieren also erst zur Sekundarstufe II zwischen Sch¨ulern mit unterschiedlichen F¨ahigkeiten und Neigungen. Allerdings setzt dann und sp¨ater auch ¨ beim Ubergang zu Universit¨aten und Fachhochschulen eine stark leistungsorientierte Selektion ein (der man sich schließlich im Berufsleben auch kaum entziehen kann). Die Bedeutung der ersten Jahre wird viel st¨arker betont: LehrerInnen in Vorschulen haben eine akademische Ausbildung, es gibt kaum Statusunterschiede zwischen Lehrern verschiedener Jahrg¨ange und Schulen, es wird mehr Geld und mehr Personal in die ersten (Vor-)Schuljahre investiert und daf u¨ r weniger in die Sekundarstufe II. Es gibt mehr Unterst¨utzung fu¨ r MigrantInnen: Wichtig ist hier, dass man kulturelle Vielfalt als Chance und nicht als Last ansieht. Die Kinder werden – außer in Frankreich – auch in ihrer Muttersprache unterrichtet, um die kognitive Entwicklung besser unterst¨utzen zu k¨onnen. Ansonsten findet aber keine Aussonderung in spezielle Klassen oder Schulzweige statt. Man bem¨uht sich um eine starke Einbindung der Eltern, um so die soziale Integration der gesamten Familie zu unterst¨utzen. Es gibt mehr Ganztagsangebote und damit auch mehr F¨orderung f u¨ r schw¨achere Sch¨uler und f u¨ r Sch¨uler aus sozial benachteiligten Familien [. . . ]. Die Schulen haben eine recht weitgehende organisatorische Autonomie im Hinblick auf die Auslegung der Lehrpl¨ane und Stundenvorgaben, die Personalauswahl und die Haushaltsbewirtschaftung. Entsprechend gibt es auch deutliche Bem¨uhungen um ein professionelleres Schulmanagement. Die Schulen werden andererseits sch¨arfer u¨ ber zentrale Abschlusspr¨ufungen und Leistungstest kontrolliert. Die Evaluation der Lehrt¨atigkeit ist zur Selbstverst¨andlichkeit geworden und ruft bei den LehrerInnen keine Abwehr mehr hervor – sie soll zeigen, was besser gemacht werden kann und wo Beratung und Unterst¨utzung seitens der Schulaufsicht vonn¨oten sind. Es gibt ein professionelleres Profil des Lehrerberufs: So gibt es relativ strenge und berufsspezifische Auswahlverfahren, wer zum Lehramtsstudium zugelassen wird. Die Ausbildung erfolgt organisatorisch aus einer Hand, Fachwissen wird nicht als solches, sondern im Hinblick auf seine fachdidaktische Vermittlung gelehrt. Lehrerfortbildung erfolgt regelm¨aßig und ist systematisch in die Karriere der einzelnen Lehrerin und in die Schulentwicklung eingebunden.

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Wichtig ist aber auch die hohe Leistungserwartung in der Gesellschaft, die zum Ansehen und zur Unterst¨utzung der Schule und des schulischen Lernens beitr¨agt.“ 60 F¨ur die Universit¨at in der Wissensgesellschaft formuliert das Strategiepapier der Ruperto Carola beispielhaft: „Das Bild der aktiven Forschungsuniversit¨at Heidelberg wird durch die Vielfalt aus (auch und insbesondere drittmittelgef¨orderten) Projekten in lokalen, nationalen und internationalen Verb¨unden geformt. Heidelberg ist nicht zuletzt durch seine Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs im Vergleich der europ¨aischen Forschungsuniversit¨aten hervorragend ¨ platziert. Uber die F¨orderung der Mitarbeit in den etablierten Bereichen hinaus wird die Universit¨at jedoch k¨unftig noch gezielter Heidelberger Forscher als Vordenker f u¨ r neue Forschungsans¨atze unterst¨utzen. Insbesondere sollen herausragende junge Wissenschaftler in der Unabh¨angigkeit von ihren wissenschaftlichen Lehrern gef¨ordert und mit Risikokapital f u¨ r die Realisierung ihrer neuen Ideen ausgestattet werden. Interdisziplin¨are Forschung kennzeichnet die Universit¨at Heidelberg, muss jedoch noch intensiver ausgebaut werden [. . . ]. Der interdisziplin¨are Austausch schließt insbesondere den Austausch zwischen Natur-, Lebens- und Geisteswissenschaften ein [. . . ]. Verantwortlich ist die Universit¨at Heidelberg vor allem anderen fu¨ r ihre Studierenden: deren Auswahl, Ausbildung, Beratung und Betreuung, Pr¨ufung, fachliche F¨orderung und Weiterbildung. Die Einheit von Forschung und Lehre, die Sorge fu¨ r ein an dem jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft orientiertes Studium soll auch u¨ ber die anstehenden Reformen der Studieng¨ange hinaus oberstes Prinzip einer Ausbildung sein, die neben der Wissensvermittlung vor allem auf Probleml¨osekompetenz und Urteilsf¨ahigkeit ausgerichtet ist. Dar¨uber hinaus versteht sich die Universit¨at Heidelberg – auch k¨unftig unter der Maßgabe von Studienzeitverk¨urzungen und den st¨arker strukturierten Bachelor-/Master-Studieng¨angen – als ein Ort, an dem die Studierenden neben den gew¨ahlten Fachwissenschaften mit ihrem kulturellen, sozialen, sportlichen oder politischen Engagement zum Selbstverst¨andnis der Institution und zu ihrer Außenwirkung betr¨achtlich beitragen. Die Universit¨at Heidelberg bekennt sich zur eigenen Auswahl vielversprechender Studierender und wird deshalb so schnell wie m¨oglich das verf u¨ gbare Instrumentarium zur Eignungsfeststellung und zur Auswahl der Studierenden Schritt fu¨ r Schritt,aber dennoch z¨ugig u¨ ber alle Studieng¨ange hinweg nutzen [. . . ]. 60

Gill 2005, 269f.

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Besonderes Augenmerk wird die Universit¨at dar¨uber hinaus auf die Akzeptanz der Bachelor- und Master-Abschl¨usse auf dem Arbeitsmarkt richten. Der Bachelorabschluss soll k¨unftig zwar den ersten berufsbef¨ahigenden Abschluss darstellen. Die Universit¨at Heidelberg versteht ihn aber gleichzeitig vor allem als Einstieg in ein Konzept lebenslangen Lernens und damit als notwendige Voraussetzung fu¨ r den weiterfu¨ hrenden, st¨arker forschungsorientierten Studienabschnitt des Master und die daran anschließende Promotion.“ 61 F¨ur die Weiterbildungsinstitutionen in der Wissensgesellschaft werden am Beispiel der Beratung Gr¨unde und Entwicklungsaufgaben genannt: „An die Stelle normierter Berufs- und Fortbildungsverl¨aufe treten verst¨arkt individuell zugeschnittene Bildungs- und Berufsbiographien. Die Individuen stehen in zunehmendem Maße vor der Herausforderung, ihre Bildungs- und Berufsbiographie weitgehend in eigener Verantwortung zu gestalten bzw. zu ,konstruieren‘. Begriffe wie der der employability, d. h. die Verpflichtung, fu¨ r die eigene Besch¨aftigungsf¨ahigkeit zu sorgen, oder der Begriff des Arbeitskraftunternehmers charakterisieren diese Entwicklung. Es wird eine neue Lernkultur zum Leitbild erhoben, die die Selbststeuerung bzw. Selbstorganisation von Lernprozessen sowie die st¨arkere Beachtung non-formaler bzw. informeller Lernkontexte in den Mittelpunkt r¨uckt. Die Selbststeuerung setzt allerdings hohe kognitive bzw. metakognitive Kompetenzen voraus. Selbstgesteuertes Lernen f u¨ r alle Bev¨olkerungsgruppen wird sich daher nur dann erfolgreich realisieren lassen, wenn dazu maßgeschneiderte Unterst¨utzungsangebote im Sinne von Beratung bereit gestellt werden. Nicht nur die Individuen m¨ussen ihre Kenntnisse und F¨ahigkeiten st¨andig aktualisieren und erweitern.Auch Organisationen – Betriebe sowie Weiterbildungsinstitutionen – m¨ussen sich mit den neuen Anforderungen auseinandersetzen und zu lernenden Organisationen werden.Hierzu wird vielfach Beratung in Anspruch genommen.“ 62

4 Humboldt als Maßstab – Maßstab an Humboldt 4.1 Der Maßstab Humboldts Bildungsbegriff war zu seiner Zeit ein Glanzpunkt der idealistischen Hauptstr¨omung, aber er war nicht ohne zeitgen¨ossische und – dem Bildungsdenker bekannte – historische Alternativen. Der puritanisch- (und fu¨ r 61 62

Universit¨at Heidelberg, Rektorat 2004. Schiersmann 2005, 153f.

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Preußen) pietistische Geist, der die Berufsarbeit in den Mittelpunkt r¨uckte und von dem Max Weber im Hinblick auf die Genese des modernen Kapitalismus gesagt hatte: „Der Puritaner wollte (aus religi¨osen Motiven) Berufsmensch sein, wir m¨ussen es sein“ 63 , bildete ebenso einen Gegenpol wie der utilitaristische der Aufkl¨arung. 64 Bildung als Zweck an sich, als t¨atige Selbstentwicklung, als Wirksamkeit zur Entwicklung der eigenen Kr¨afte, als Darstellung des sch¨onen, vollen Menschentums in der sich selbst modellierenden Individualit¨at – blendete mit der religi¨osen Transzendenz der Pietisten auch deren Berufseifer, mit der Zur¨uckweisung des aufkl¨arerischen „`a quoi c’est il bon“ auch den unmittelbaren Verwendungszusammenhang von Wissen aus. Gewiss ist die Kritik, dass so jemand denkt, der sich nach dem R¨ucktritt aus dem Schulverwaltungsamt, nach der Entlassung als Minister auf ein Schl¨osschen nach Tegel zur¨uckziehen kann, allzu wohlfeil. Dem Marxschen Reden vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, hatte vorauseilend schon Humboldts Freund Goethe sein munteres: „Und dennoch spukts in Tegel“ entgegengesetzt. Aber ist nicht die Frage berechtigt, dass der idealistische Denker mit seinem Streben nach Bildung zum Ganzen gerade das Ganze halbierte und dass – wirkungsgeschichtlich betrachtet – mit der Konzeption gegen deren Intention die Mehrheit der Bev¨olkerung von umfassender Bildung ferngehalten wurde? Das Problem liegt in Humboldts Bestimmung des Verh¨altnisses von Mensch und B¨urger. Mag sein auf allgemeine Menschenbildung gerichtetes Programm den politischen B¨urger noch einbeziehen k¨onnen, die Bildung des arbeitenden, berufst¨atigen B¨urgers bleibt (wohl nicht nur zeitlich) nachgeordnet. Humboldt hat kein Berufsbildungskonzept. Dem stehen der Hinweis auf die Notwendigkeit der Spezialschulen und der im Verweis auf das „Leben“ enthaltene Blick auf die traditionelle Lehre nicht entgegen. Heute stellt sich die Problematik genau umgekehrt dar. Von zweckfreier Bildung ist kaum mehr die Rede. „Bildung wozu?“ lautet die Frage und die Antwort hart formuliert „zur St¨arkung des Wirtschaftsstandortes“.Die Bildung des politischen B¨urgers ist dabei wieder inkludiert. Ein auch unter Einbeziehung von Humboldt formuliertes aktuelles Bildungskonzept muss also eine Antwort auf die Frage geben, wie die Allgemeinbildung des Menschen mit der verwertbaren Fachbildung des wirtschaftlich T¨atigen verkn¨upft werden kann – und zwar unter den Bedingungen der Wissensgesellschaft und der Globalisierung der Bildung. Einen Weg hat im fr¨uhen 20. Jahrhundert fu¨ r die noch nicht v¨ollig globalisierte Industriegesellschaft schon Spranger angedeutet. Er hatte seine großen Humboldt-Studien hinter sich und war in die bildungstheoretische Begr¨undung der in den zwanziger Jahren neu eingerichteten deutschen (Teilzeit-)Berufsschule eingetreten. Sei63 64

Vgl. Lenhart 1998. Vgl.Valentin 1999.

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ne L¨osung war der Dreischritt von grundlegender, beruflicher und allgemeiner Bildung. Die grundlegende Bildung ist eine, die ganz im Humboldtschen Sinne, mit dem Lernen des Lernens zugleich die Kenntnisse und Einstellungen vermittelt, die nicht nur jeder Berufsausbildung vorausgehen m¨ussen, sondern die die Bedingung der M¨oglichkeit der Bew¨ahrung in außerberuflichen Lebensaufgaben sind. Die Berufsbildung vermittelt die Bef¨ahigung zum T¨atigwerden in der Arbeitswelt freilich unter Fortfu¨ hrung allgemein kultureller Interessen, und die Allgemeinbildung ist die in aktiver Teilnahme an den Interaktionen aller gesellschaftlichen Bereiche sich einstellende Pers¨onlichkeitsauspr¨agung. 65 Trotz einiger entgegenstehender Ph¨anomene, wie etwa der Erosion des festen lebenslangen Berufes, ist das Konzept des Dreischrittes noch tragf¨ahig. 4.2 Die „Messergebnisse“ Unter dieser Perspektive stellt Humboldt Warntafeln vor gegenw¨artigen Tendenzen auf bei der strikten o¨ konomischen Verzwecklichung der Bildung, der Verengung des Bedeutungsgehaltes des Wissensbegriffes und der zum Wissen f u¨ hrenden Aneignung auf Episteme (learning to know) und Techne (learning to do) unter Vernachl¨assigung der Phronesis (learning to live with others) und dessen, was der Delors-Report (mit Metis nicht bedeutungsgleich) Learning to be nennt; Vernachl¨assigung wenigstens dann, wenn es um mehr als Sozialkompetenz im Sinne innerbetrieblicher Teamf¨ahigkeit und um außerberufliche Existenzideale geht. Unter dem Leitbild kann man sich in folgenden aktuellen Bildungsreformund -ausbau-Anliegen auf Humboldt beziehen: – der weltweiten, fl¨achendeckenden Institutionalisierung von Grundbildung f u¨ r alle (Education for all) – der F¨orderung der Menschenrechtsbildung als eines Aspektes der Bildung zur Humanit¨at – der St¨arkung des globalen und interkulturellen Lernens, in dem die Einheit des „Menschengeschlechts“ in gleichberechtigter Differenz zum Ausdruck kommt (einen Ankn¨upfungspunkt fu¨ r Friedenserziehung muss man bei Humboldt, der seine Reformpl¨ane ja in einem milit¨arisch besetzten Land entwirft, freilich suchen) – dem Vorzug horizontal gestufter vor vertikal gegliederten Schulsystemen (und damit einer Zur¨uckdr¨angung der selektiven Schule) – der wissenschaftsgest¨utzten Wissensschule f u¨ r alle – der Individualisierung und Flexibilisierung des Unterrichts bei deutlicher Fixierung von Leistungsstandards – der Verst¨arkung der Forschungsanstrengungen, mit einzelnen Forschern als „Vordenkern“ 65

Spranger 1973 (Orig. 1923), 275–293.

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– – – – –

der Unabh¨angigkeit junger Wissenschaftler („in Einsamkeit und Freiheit“) dem interdisziplin¨aren Austausch („Einheit der Wissenschaft“) der Einheit von Forschung und Lehre der autonomen lernenden Organisation Universit¨at der F¨orderung lebenslangen Lernens (dem freilich kein lebensl¨angliches Belehrtwerden entspricht) – der Erm¨oglichung individuell zugeschnittener Bildungs- und Berufsbiographien – der (Weiter-)Bildungsgestaltung in eigener Verantwortung. Nicht folgen kann man Humboldt – bei seiner strikten Trennung von Allgemeinbildung und Spezialbildung (obwohl er die wohl fu¨ r eine Differenz ums Ganze gehalten hat) – der daraus folgenden de facto-Vernachl¨assigung der Berufsbildung – der v¨olligen curricularen Unstrukturiertheit des Hochschulstudiums Einen fruchtbaren und tragf¨ahigen Kompromiss mit Humboldt kann man schließen hinsichtlich – der curricularen Orientierung und des Bildungsziels der Schule: Hier bietet sich der in der neueren Curriculumdiskussion stark gemachte Begriff der Kompetenz an. 66 Der ist zwar als Messungen erlaubende Kategorie aus der psychologischen Novizen-Expertenforschung u¨ bertragen und unterliegt so der Gefahr, dass er einseitig im Sinne des instrumentellen Umgangs mit Strategien definiert wird. Das ist aber nicht notwendig gesetzt. Kompetenzen lassen sich beim wertrationalen und zweckrationalen (Weber), gelingensorientierten und erfolgsorientierten (Habermas) Handeln ermitteln. „Der Kompetenzbegriff [schließt] [. . . ] traditionelle Bildungsvorstellungen mit ihrer Betonung kultureller und pers¨onlicher Identit¨at [nicht aus]“ 67 . Insofern ist der diffuse und unpr¨azise Umgang mit dem Kompetenzbegriff in den neuen Baden-W¨urttembergischen Bildungsstandards (2004) als solcher zwar zu kritisieren, zugleich stellt er aber auch eine Chance zu ausgewogener Justierung der Kompetenzdefinition dar. – der Bildungs- und Ausbildungsfunktion der Hochschule: Wenn – zumindest in der Eingangsphase durchaus curricularisierte – Lehre mit striktem Forschungsbezug geschieht; wenn die Interdisziplinarit¨at auch nur mit einem Ausschnitt der Referenzdisziplinen fu¨ r das absehbare Berufsfeld gewahrt wird; wenn die ethische Dimension von Wissenschaft beachtet wird (deren Relevanz brach zum Beispiel in der Physik radikal auf, als sich die Einstein- und unmittelbar nachfolgende Generation der Physiker entscheiden musste, ob sie sich am Bau der Atombombe beteiligen 66 67

Klieme 2003. Boenicke 2004, 174.

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wollte, und ist heute hoch aktuell in den Life sciences); wenn die Bedeutung k¨unftiger Berufst¨atigkeit f u¨ r Wirtschaft, Politik, Gesellschaftliche Gemeinschaft und Kultur insgesamt, wenn auch nicht gleich gewichtig, erkennbar wird – dann kann durchaus am Ideal der Einheit von Bildung und Ausbildung festgehalten werden. Wie schwer die praktische Umsetzung sich in concreto darstellt, kann an einem Detail der aus den PISA-Studien gefolgerten Lehrerbildungsreform illustriert werden. Unter Beachtung der oben genannten Bedingungen darf sich das fachwissenschaftliche Studium der Lehrkr¨afte nicht – wie gefordert wird – auf das fu¨ r fachdidaktische Umsetzung Geeignete beschr¨anken. Forschungsbezug heißt, den Forschungsstand vor Augen zu haben und zu seiner Erweiterung potenziell beizutragen.Auch der k¨unftige Mathematiklehrer muss in Mathematik promoviert werden k¨onnen. Dasselbe gilt freilich f u¨ r die Lehramtsstudierenden, die fu¨ r sich die Erziehungswissenschaft oder die Fachdidaktik besonders akzentuieren. Diese F¨acher sind durchaus eigengewichtig und nicht nur disciplinae ancillae. Humboldt hatte es in seiner Zeit außer bei den Elementarschulen mit Bildungseinrichtungen nur f u¨ r die m¨annliche Jugend zu tun. Entsprechend ist sein Sprachgebrauch, an den hier angeschlossen wurde. In seinen Studien zu den Geschlechtercharakteren hat er zwar m¨annliche und weibliche Wesensart stark typisiert, aber doch keines der beiden Geschlechter dem anderen u¨ ber- oder untergeordnet. „Die Einheit der Gattung abgerechnet, welche sich in der m¨annlichen und weiblichen Bildung gemeinschaftlich ausdr¨uckt, stehen selbst die Geschlechtsverschiedenheiten beider in einer so vollkommenen Uebereinstimmung mit einander, dass sie dadurch zu einem Ganzen zusammenschmelzen. Man abstrahire nun entweder von dem Geschlechtscharakter oder man vereinige denselben, so erh¨alt man in beiden F¨allen ein Bild des Menschen in seiner allgemeinen Natur“. 68 Humboldt w¨urde unter heutigen Bedingungen alle Bildung auch M¨adchen und Frauen zug¨anglich machen. Nur um des historischen Sujets Willen wurde die m¨annliche Sprachvariante gew¨ahlt. Menschenbildung ist selbstverst¨andlich M¨adchen- und Jungen-, Frauen- und M¨annerbildung.

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Humboldt, Werke I, 1960, 296.

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Hegels Bildungstheorie dargestellt anhand seiner N¨urnberger Gymnasialreden nebst einer Reflexion auf die Situation der Bildung in der heutigen Weltgesellschaft ∗ stefan buttner ¨ Bildung ist so sehr Bildung des a¨ ußeren Ganzen, wie gerade damit Bildung seiner selbst. Max Horkheimer

Vorbemerkung: Die Situation der Bildung in der heutigen Weltgesellschaft „Wir sind, was die Bildung betrifft, in der Lage Robinsons. Wir haben Schiffbruch erlitten.“ Mit dieser lapidaren Feststellung und zutreffenden Charakterisierung der Situation unseres Bildungs- und Schulsystems beginnt der Anglist Dietrich Schwanitz sein popul¨ar gewordenes Buch Bildung. 1 Schiffbruch – so Schwanitz – haben wir in Deutschland mit der Bildung erlitten, weil eine soli¨ de Uberlegung u¨ ber Bildungsziele nirgendwo stattfindet, weil jeder Bildungsinhalt mit jedem anderen austauschbar erscheint, weil der Kanon klassischer Texte irrigerweise nur noch als bildungsb¨urgerliche H¨urde angesehen wird, die dazu diene, „den unteren Schichten den Zugang zu den Fleischt¨opfen des Bildungssystems zu verstellen.“ 2 Aber das Schiff ist in Deutschland bereits lange und weit vor der Universit¨at auf Grund gelaufen: In den Bereichen Lesekompetenz, mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Kompetenz liegen die deutschen 15-J¨ahrigen im internationalen Vergleich im unteren Mittelfeld, wie die PISA-Studie gezeigt hat. 3 Die Gr¨unde f u¨ r Niveauverlust und Un¨ubersichtlichkeit, f u¨ r Beliebigkeit und Verunsicherung in Sachen Bildung und Lernen sind vielf¨altig und liegen nicht ∗

1 2 3

Zur Zitierweise: Hegel wird zitiert nach: Werke in zwanzig B¨anden (Theorie Werkausgabe),zit. als TW mit Band- und Seitenzahl.In Ausnahmef¨allen wird auch nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert: Hegel, Gesammelte Werke, zit. als GW mit Band- und Seitenzahl. Vgl. den Beitrag von Klaus Kempter im vorliegenden Band. Schwanitz 1999, 31. Und gravierender: Deutschland weist die gr¨oßte Streuung der Schulleistungen auf, und sie bezieht sich auf die unteren Leistungsbereiche. D. h. wir erreichen viele Kinder mit unseren Bildungseinrichtungen gar nicht. Vgl. dazu auch Spitzer 2002, 387ff.

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immer offen zutage.Viele Faktoren – allerdings nicht nur in Deutschland wirksame – scheinen klar: Zerstreuung durch den Konsum ver¨andert die Rhythmen des Lernens und Erlebens; die Zeit fu¨ r ein vertiefendes Wiederholen, f u¨ r eine produktive Erinnerung wird angesichts immer neuer konsumtiver Sensationen knapp. Das Bewusstsein ist besetzt von Bildern und Informationen, von Musik und Krach, so dass Konzentration kaum m¨oglich ist; nur das leicht Eing¨angige kann noch wahrgenommen werden. Die Beschleunigung der Arbeits- und Lebensprozesse l¨asst Wissensinhalte zu auswechselbaren und damit scheinbar beliebigen Informationen werden. Mit den modernen Technologien sind andere Kulturtechniken verbunden; Internet und Computerspiele fordern neue F¨ahigkeiten und provozieren andere Potentiale als Lesen und Schreiben. Macht und Ausbreitung visueller Medien dr¨angen daher Schreib- und Lesekompetenzen so weit zur¨uck, dass in vielen F¨allen geradezu von einer sekund¨aren Analphabetisierung gesprochen werden kann. Die moderne Wirtschaftsform wirkt sich aus: Das o¨ konomische System funktioniert im raschen Wechsel von Geld und Eigentum; dies kann nicht ohne Einfluss auf Bildungsprozesse sein, die eine andere, l¨angerfristige Perspektive erfordern. 4 Dar¨uber hinaus haben die Wissens- und Bildungsinhalte selbst sich ver¨andert. Vielfach sind es andere Inhalte als die traditionellen, die in den Vordergrund getreten sind. Wir wissen nicht einfach weniger, wir wissen anderes. 5 Aber ist das, was wir anderes wissen, auch fu¨ r unsere Lebensgestaltung und Lebensfu¨ hrung hilfreich oder stehen wir, wenn es zu Krisen kommt, ohne Hilfe vonseiten unseres Wissens und unserer Bildung da? 6

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5

6

Vgl. dazu bereits die Diagnose bei Simmel 1989, 723 (Nachdruck der Selbstanzeige von 1901): „Indem alles dies (sc. Gesch¨afte und Betriebe, Kunstwerke und Sammlungen, Grundbesitz, Rechte und Positionen) immer k¨urzere Zeit in einer Hand bleibt, die Pers¨onlichkeit immer schneller und o¨ fter aus der spezifischen Bedingtheit solchen Besitzes heraustritt, wird freilich ein außerordentliches Gesamtmaß von Freiheit verwirklicht; allein weil nur das Geld mit seiner Unbestimmtheit und inneren Direktionslosigkeit die n¨achste Seite dieser Befreiungsvorg¨ange ist, so bleiben sie bei der Thatsache der Entwurzelung stehen und leiten oft genug zu keinem neuen Wurzelschlagen u¨ ber.“ Vgl. dazu auch die Schilderung der gegenw¨artigen Form des Kapitalismus – anhand einzelner Lebensgeschichten – bei Sennett 72000, 38: „Ich glaube, Rico weiß, daß er zugleich ein erfolgreicher und verwirrter Mann ist. Er hat Angst, daß jenes flexible Verhalten, das ihm seinen Erfolg gebracht hat, den eigenen Charakter in einer Weise schw¨acht, fu¨ r die es kein Gegenmittel gibt. Wenn er ein Jedermann unserer Zeit ist, dann aufgrund dieser Angst.“ (Hervorh. d. Vf.) Enzensberger 1991, 22: Enzensberger vergleicht den Bildungs- und Wissensstand Melanchthons mit demjenigen von Zizi und Bruno, einer Friseuse und ihres Freundes, und kommt zum Schluss: „Was sie wissen und was sie ignorieren, ist ebenso sonderbar und monstr¨os wie die Umgebung, in der sie lernen, was sie lernen, und vergessen, was sie vergessen. Sollten sich die Lebensbedingungen in der Bundesrepublik dergestalt a¨ndern, daß Zizi, Bruno und Helga mit einer soliden klassischen Bildung irgend etwas anfangen k¨onnen – an ihnen w¨urde es ganz gewiß nicht liegen.“ Vgl. dazu auch Schlechta 1969a, 100–108.

Hegels Bildungstheorie dargestellt anhand seiner N¨urnberger Gymnasialreden

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Die neuhumanistische Bildungskonzeption, die mit Hilfe kanonisch gewordener antiker Texte die Pers¨onlichkeit formen wollte, bietet hier keinen Ausweg mehr. 7 Faktisch wird sie nicht mehr realisiert und kann m. E. unter modernen Bedingungen auch nicht mehr realisiert werden. Das ist kein neuer Befund: Bereits vor mehr als 40 Jahren hat der Gr¨azist Uvo H¨olscher mit Blick auf das humanistische Gymnasium n¨uchtern die Grenzen, ja das Scheitern des neuhumanistischen Bildungskonzeptes – mit seiner Idee der sich steigernden Einheit von Leben und Bildung – festgestellt: „Auch ist durch die unfreie Mentalit¨at des Unterrichts der Erfolg der sogenannten klassischen Bildung bei den Z¨oglingen unserer Gymnasien selten eine große Sicherheit in den Maßst¨aben und im Verhalten, o¨ fter ein a¨ ngstliches H¨angen am Herk¨ommlichen und eine krittelnde Hilflosigkeit gegen¨uber dem Zeitgen¨ossischen. So ist eine Schule in humanistischem Geiste ein Traumbild geworden, und der Anspruch, durch altsprachlichen Unterricht humanistische Bildung zu bewirken, eine Donquichotterie.“ 8 Historische Reminiszenzen sowie Klagen u¨ ber den Verlust klassischer Bildung versprechen hier also keine L¨osung. Zumal die humanistische Bildung in Deutschland ihren „Praxistest“ nicht bestanden hat: Beim Bildungsb¨urgertum und den Eliten der Weimarer Republik hat sie – ihrem eigenen Anspruch entgegen – keine oder doch nur auf einzelne Personen beschr¨ankte Widerstandskraft gegen die nationalsozialistische Macht¨ubernahme und Verbrechen geweckt. 9 ¨ ¨ Auch aus diesem Grund ist von einer Uberdehnung und Uberfrachtung des Bildungsbegriffs Abstand zu nehmen, da er die Spezifikation der Bildungsinhalte und die Hervorbringung einer moralischen Bildung, 10 die er beansprucht, aus sich heraus nicht leisten kann. 11 7

Vgl.zum Begriff des Humanismus auch Heyse 1943,243.Der Humanismus – so Heyses Einsicht – greift zu kurz, weil er von einem verk¨urzten, isoliert gedachten Begriff des Menschen ausgeht, der als solcher – so der Humanismus – fu¨ r alle Epochen produktiv zu machen sei. Diese Sicht begreift aber nicht das (metaphysische) System, von dem aus der Begriff des Menschen jeweils gedacht wird. Und gerade hierin unterscheiden sich die Alten von den Modernen, so ¨ dass eine Ubertragung des sog. ,Menschenbildes‘ gerade nicht m¨oglich ist. Gegen die – bei klassischen Philologen beliebte – Behauptung einer Kontinuit¨at der Menschenw¨urde von der Antike bis heute erhebt zu Recht Einspruch K¨ohler 2000, 307: „Bei dem ,Vater des Humanismus‘ liest man nicht gern, daß der h¨ochste Begriff nicht der Mensch als solcher und auch nicht der freie Mensch, sondern der gebildete r¨omische Mann aus h¨ochstem Stand ist.“ 8 H¨olscher 1965, 57. 9 Vgl. dazu auch Schlechta 1969b, 93: „Kurz, man war sozialen und politischen Krisenzeiten in keiner Weise gewachsen.“ 10 Luhmann 2002, 192: „[. . . ] wie soll dann Moral eine lernbare Bildungskomponente sein? Doch wohl kaum als Bestand lernbarer Verhaltensregeln, die in der n¨achsten Situation nicht mehr passen.“ 11 Vgl. dazu Luhmann 2002, 191: „Um auf das ganze Erziehungssystem anwendbar zu sein, mußte der Begriff der Bildung daher von allen Inhalten entleert werden. Er wird seitdem nur noch floskelhaft und vor allem politisch gebraucht.“

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Was aber bleibt und muss bleiben von dem, was bisher Bildung genannt wurde, wenn Menschen weiterhin sich in der Welt orientieren wollen und m¨ussen? Wie soll das richtige Paradigma des lebenslangen Lernens realisiert werden, wenn das Lernen in der Schule nicht gelernt wurde? Wie will man exemplarisch lernen, wenn die Lernziele nicht klar sind, die am Exempel gelernt werden sollen? Und wie soll sich eine Gesellschaft, die sich immer st¨arker ausdifferenziert, auf Lernziele einigen? Und das betrifft nicht nur die theoretischen Inhalte, sondern auch die historischen und rechtlich-moralischen. Wie soll das Verh¨altnis zur eigenen Geschichte gelernt werden, wenn in einer multiethnischen Gesellschaft viele Geschichten erlebt worden sind? Ohne diese Fragen beantworten zu k¨onnen, gilt es zun¨achst, an die Prinzipien gelingenden Lernens zu erinnern und zu begreifen, dass auch Lernen und Bildung gesetzm¨aßigen Zusammenh¨angen gehorchen. Die Ein¨ubung geistiger und k¨orperlicher F¨ahigkeiten l¨asst sich nicht beliebig organisieren. Kontinuit¨at, Konzentration und Abfolge der Lern- und Bildungsprozesse unterliegen Gesetzen, die nicht missachtet werden k¨onnen, ohne das Misslingen der Bildung zu provozieren oder fahrl¨assig in Kauf zu nehmen. 12 Dazu bedarf es eines ad¨aquaten Begriffs des Lernens und Bildens, der weder prim¨ar an Bildungsinhalten, noch bloß an formellen oder sozialen Kompetenzen orientiert ist, der aber auch nicht an einem fiktiven Begriff des Menschen festh¨alt, der u¨ ber die Jahrtausende vorgeblich derselbe geblieben sei. 13

1 Hegels systemphilosophischer Begriff der Bildung Ein solcher Begriff der Bildung, der Funktion, Ort, Stoff und Form der Bildung in der Gesellschaft lokalisiert und reflektiert, ist vom Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel entwickelt worden. 14 Dessen systemphilosophischer Begriff der Bildung soll im folgenden als Ansatz m¨oglicher und weiterfu¨ hrender 12

Vgl. dazu insg. Spitzer 2002; insb. dessen Darstellung der Gesetzm¨aßigkeiten des Spracherwerbs, sowie seine Darlegungen zur – wissenschaftlich allerdings noch umstrittenen – Bedeutung von Schlaf und Traum fu¨ r die Konsolidierung des Gelernten. 13 Vgl. zu diesem fiktiven Bild des Menschen – klar und kompromisslos – Arendt 1975, 262. 14 Luhmann/Schorr 1999, 25f.: „Wenn man von Verzweiflungsvorschl¨agen in Richtung auf Abschaffung der Schulen einmal absieht, bleiben sehr wenige Versuche, das Problem durch Einordnung in eine umfassendere Gesellschaftstheorie aufzuheben. Hegels Gymnasialrede von 1811 ist ein solcher Ansatz.“ Das Problem, von dem Luhmann/Schorr sprechen, besteht darin, dass in der gesellschaftlichen Evolution Schule als autonomes System sich gebildet hat. Damit aber entsteht ein Teilsystem der Gesellschaft, das gerade kein repr¨asentativer Querschnitt der Gesellschaft ist. Denn Schule „sozialisiert nur schulisch, nicht gesellschaftlich. Daß der erste Kontakt mit außerfamilialer Gesellschaft gerade diese und keine andere Form erh¨alt – man denke nur an die Zusammenfassung Gleichaltriger in relativ großen Interaktionssystemen – muß tiefgreifende R¨uckwirkungen auf die kognitiven und motivationalen Ressourcen des gesellschaftlichen Lebens haben.“ (ebd.) Auf dieses Problem kann man in der Tat nur mit einer Gesellschaftstheorie im Stile Hegels eingehen. Die Autoren stellen aber auch fest, dass dieser Reflexionsanstoß vonseiten Hegels in der P¨adagogik nicht angekommen sei.

Hegels Bildungstheorie dargestellt anhand seiner N¨urnberger Gymnasialreden

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Antworten auf die Frage nach Funktion und Ort, nach Stoff und Form der Bildung und des schulischen Lernens im Gesellschaftssystem dienen.Drei Gr¨unde sprechen daf u¨ r: 1. Hegel hat seinen Bildungsbegriff in einer Zeit formuliert, in der die Gesellschaft bereits so weit funktional differenziert war, dass sie in den Grundformen mit der unsrigen vergleichbar ist. Wir befinden uns mit der Hegelschen Philosophie und Gesellschaftsanalyse nicht mehr in einer prim¨ar stratifikatorischen, st¨andischen Gesellschaft, sondern in einer eher funktional differenzierten Gesellschaft. So etabliert sich zu Hegels Zeiten die Schule als autonomes System in einer Weise – insbesondere was das Gymnasium betrifft –, die auch noch die Grundlage f u¨ r das heutige, uns bekannte Schulsystem bildet. 2. Bedeutsamer ist, dass Hegel aus systemphilosophisch zwingenden Gr¨unden Schule als eigenst¨andiges System begreift: Als autonomes System muss das System „Schule“ existieren. Es muss zwischen Familie und gesellschaftlicher Welt vermitteln und darum auch nach systemeigenen Operationen funktionieren. Als notwendige Mitte und Vermittlung zwischen dem System „Familie“ und dem System „b¨urgerliche Gesellschaft“ erm¨oglicht das ¨ System „Schule“ den Ubergang von einem System zum anderen, der fu¨ r das Individuum in modernen Gesellschaften nicht anders m¨oglich ist. Alle weiteren damit verbundenen Bestimmungen des Systems Schule werden von Hegel aus dieser Mittlerfunktion der Schule abgeleitet. 3. Bei Hegel liegt der seltene Fall vor, dass der Autor einer „Weltphilosophie“, wie Marx Hegels System genannt hat, eigene langj¨ahrige Erfahrungen als Gymnasiallehrer und dann als Rektor gemacht hat. Von 1808 bis 1816 war Hegel am N¨urnberger Gymnasium, seit 1813 dar¨uber hinaus auch als Schulrat t¨atig. In diesen Funktionen waren Unterricht sowie Organisation und Reflexion des Unterrichts Hegels t¨agliches Brot. Und Hegels Interesse fu¨ r Bildung reicht weiter zur¨uck: Bereits w¨ahrend seiner Gymnasialzeit exzerpiert Hegel einen Artikel aus Schl¨ozer’s Staats-Anzeigen, der das russische Schulwesen zum Gegenstand hat. 15 Und seine ersten eigenst¨andigen Entw¨urfe, wie die sog. ,Fragmente u¨ ber Volksreligion und Christentum‘, sind Fragen auch der religi¨osen Sozialisation und Bildung gewidmet. Der durchdringende Blick auf gesellschaftliche Systeme eignet Hegel also von fr¨uh an. Der Ertrag dieser Erfahrungen und Erkenntnisse zur Aufgabe und Funktion der Bildung liegt uns in einer Reihe von Reden vor, die Hegel in seiner Funktion 15

„Erziehung. Plan der Normal-Schulen in Russland 1785. 22.April“. In: Hegel GW 3: Fr¨uhe Exzerpte,hrsg.v.Nicolin F.Hamburg 1991,3–5.Rosenkranz 1977,247,kommentiert Hegels fr¨uhe p¨adagogische Neigung mit den Worten: „Außerdem war aber Hegel’s Stellung am Gymnasium gar nicht eine seiner Individualit¨at fremde. Schon in seinen Knabenjahren konnten wir einen p¨adagogischen Tic in ihm bemerken.“

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als Rektor zum jeweiligen Schuljahresabschluß gehalten hat. Es handelt sich um Reden aus den Jahren 1809, 1810, 1811, 1813 und 1815; dar¨uber hinaus gibt es noch verschiedene Gutachten Hegels zu schulpolitischen Fragen wie z. B. der Stellung des Gymnasiums zum Realgymnasium. 16 Diese Reden w¨aren freilich nur noch von historischem Interesse, w¨are in sie nicht Hegels systemphilosophische Theorie der Gesellschaft eingegangen. Aus diesem Grund enthalten diese Gelegenheitsreden eine differenzierte und komplexe Theorie der Schule, die f u¨ r die konkreten Anl¨asse nutzbar gemacht wurde, so dass Hegels Aussagen auch f u¨ r das heutige System Schule noch Geltung beanspruchen k¨onnen. Allerdings wird dem unbefangenen Leser die Tiefendimension der Gymnasialreden nicht unmittelbar deutlich, so dass es n¨otig ist, deren Kontext zu pr¨asentieren. Dazu soll im Folgenden auf Hegels Ausf u¨ hrungen zu Familie, Gesellschaft und Staat sowie zur Bildung in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts und in seiner Ph¨anomenologie des Geistes zur¨uckgegriffen werden. Vergegenw¨artigt man sich dar¨uber hinaus, dass Hegel Pl¨ane fu¨ r eine Staatsp¨adagogik 17 gehabt hat, dann ist es naheliegend, dessen verstreute Aussagen zu einer systematischen Erziehungs- und Bildungskonzeption zusammenzuf u¨ gen.

2 Die Funktion der Bildung: Bildung als das „Sich ins Allgemeine Hinaufarbeiten“ In der systematisch bedeutsamsten Gymnasialrede, derjenigen von 1811, definiert Hegel Bildung in folgender Weise: „Was durch die Schule zustande kommt, die Bildung der Einzelnen, ist die F¨ahigkeit derselben, dem o¨ ffentlichen Leben anzugeh¨oren.“ (TW 4, 352) Alle Kenntnisse und F¨ahigkeiten, die in der Schule vermittelt werden, haben also die Funktion, von gerade „diesen“ Kindern erworben zu werden, um damit dem o¨ ffentlichen Leben anzugeh¨oren. Bildung ist die F¨ahigkeit, am o¨ ffentlichen Leben teilzuhaben. Sie ist Kompetenz zur Partizipation. D. h. die nachwachsenden Generationen, „diese Kinder“, m¨ussen sich durch die Schule auf den Kenntnisstand ihrer Zeit bringen, um dann mit dem Gelernten ihren Weg im gesellschaftlichen Leben zu gehen. Dieser einfache Hegelsche Gedanke entfaltet seine weitere Dimension, wenn man die entsprechende Stelle aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts heranzieht. Bildung wird dort als eine Operation des objektiven Geistes verstanden. Unter „objektivem Geist“ versteht Hegel eine Sph¨are, in der das Handeln des Einzelnen, des subjektiven Geistes 18 , sich in objektiven Institutionen Gestalt 16

Vgl. zu den Gymnasialreden und zu Hegels P¨adagogik auch die knappe und pr¨azise Zusammenfassung von Nicolin 1977, 93–98. 17 Rosenkranz 1977, 247. 18 Hegel spricht vom subjektiven Geist, wenn er denjenigen meint, den wir umgangssprachlich und ohne terminologische Genauigkeit „Mensch“ nennen. Hegels Terminologie hat ein

Hegels Bildungstheorie dargestellt anhand seiner N¨urnberger Gymnasialreden

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gibt und dadurch Realit¨at gewinnt. Solche Institutionen sind u. a. das familiale System oder das Rechtssystem. In diesen Gestalten erkennt sich der subjektive Geist wieder, weil sie ihre Realit¨at, ihre Objektivit¨at nur seinem Wesen, n¨amlich Geist zu sein, und d. h. im Anderen bei sich selbst zu sein, verdanken. 19 Aufgrund dieser Bestimmung des Geistes sind die Institutionen des objektiven Geistes soziale Systeme, in denen und durch die die subjektiven Geister ihrer Freiheit,ihrer Geistigkeit,eine eigene und fu¨ r alle praktisch-reale,objektive Gestalt gegeben haben. Diese Institutionen des objektiven Geistes „¨ubersteigen“ die einzelnen subjektiven Geister, wiewohl sie deren angemessener objektiver Ausdruck sind und sein sollen. „Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet,erh¨alt die Form von Notwendigkeit,deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheitsbestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d. i. ihr Gelten im Bewußtsein ist.“ (TW 10, 303; § 484) Die subjektiven Geister, das heißt die psychischen Systeme, sind also von den Systemen des objektiven Geistes aus betrachtet deren Umwelt. Denn die sozialen Systeme, die Systeme des objektiven Geistes, operieren als autonome und geschlossene nach systemeigenen Regeln und Normen, so dass die subjektiven Geister an diesen objektiven Systemen nur teilhaben k¨onnen, wenn sie nach deren systemeigenen Operationen fungieren. Um diese Bestimmungen des objektiven Geistes nicht im Allgemeinen und Abstrakten zu belassen, seien diese anhand des sozialen Systems „Familie“ erl¨autert. Dieses System kann Hegel, wie alle anderen sozialen Systeme und Teilsysteme auch, als sittliches bezeichnen, weil in ihm Regeln, Normen und Verhaltensweisen gelebt werden und so auf eine bestimmte Weise realisiert sind. Die Regeln sind eingebettet und real nur in der jeweils einzelnen Familie, die als solche ein bestimmtes „Klima“ erzeugt und als solches, als diese bestimmte Familie, operiert und fungiert. Wir sind hier also auf der Stufe, auf der der subjektive Geist sich in permanenter Auseinandersetzung mit dem familialen System als seiner sozialen Umwelt konfrontiert sieht, auf die der subjektive Geist reagieren muss. Alle ¨ Außerungen, alle Verhaltensweisen, die der subjektive Geist, d. i. das einzelne Familienmitglied t¨atigt, findet seine Antwort im Verhalten und in der Kommunikation anderer Familienmitglieder. In dieser permanent stattfindenden Pendant in der soziologischen Theorie Luhmanns, der in dieser Hinsicht vom „psychischen System“ spricht, das f u¨ r das soziale System Umwelt ist und umgekehrt. Die N¨ahe zur Luhmannschen Systemtheorie wird im folgenden als Lizenz genommen, um die System-UmweltUnterscheidung zur Verdeutlichung der Hegelschen Systemphilosophie des objektiven Geistes heranzuziehen. 19 Auf diese Operativit¨at des Geistes kann hier, da es den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen w¨urde, nicht eingegangen werden. Es sei hier ohne n¨ahere Begr¨undung vorausgesetzt, dass der Geist ein t¨atiges System ist, das Objektivit¨at gewinnt, indem es sich eine soziale Sph¨are schafft, die als solche praktische, d. h. kommunikativ erzeugte Realit¨at ist.

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Kommunikation konstituiert sich das System Familie. In dieses System hat das Neugeborene sich zu integrieren. Es findet hier eine Sph¨are vor, die bereits objektiver Geist ist und in der es als subjektiver Geist erf¨ahrt, dass es sich in der Objektivit¨at, in seiner praktisch-realen Welt wiederfindet. F¨ur das heranwachsende Kind bedeutet das, dass es sich in seinem Verhalten an dem ausrichtet, was es als das Familiensystem versteht. Es lernt seine Operationen auszubilden, indem es auf die Antworten des schon vorhandenen familialen Systems reagiert. Es ,bildet‘ sich, indem es sich in das Familiensystem einlebt. Dieses Einleben im Kontext der Familie ist Sozialisation und Erziehung. 20 Die Operationsform Bildung tritt auf der n¨achsten Stufe des objektiven Geistes auf, bei der es um das Einleben ins gesellschaftliche Allgemeine geht. Dabei setzt Hegel zun¨achst seinen eigenen Begriff der Bildung von zwei unzul¨anglichen, weil einseitigen Vorstellungen von Bildung ab. Auf der einen Seite wird Bildung als ein Prozess missverstanden, der die Unschuld des Naturzustandes des Menschen verderbe. Auf der anderen Seite wird – ebenfalls unzul¨anglicherweise – Bildung auf ein Mittel zur Befriedung der nat¨urlichen Bed¨urfnisse reduziert (§ 187). Beide Vorstellungen zeigen – so Hegel – „die Unbekanntschaft mit der Natur des Geistes“ (§ 187). Denn zur Natur und der Operativit¨at des Geistes geh¨ort, sich in der Objektivit¨at zu realisieren. Objektivit¨at fu¨ r den Geist ist die Sph¨are der Natur, das heißt er muss in der Sph¨are der Natur und der nat¨urlichen Bed¨urfnisse objektiv werden. Dies bewerkstelligt der Geist nun nicht so, dass er zur Natur wird, was unm¨oglich ist, oder sich den nat¨urlichen Bed¨urfnissen u¨ berl¨asst, sondern dass der subjektive Geist die nat¨urlichen Bed¨urfnisse, seine nat¨urliche Seite gestaltet. Dieses Gestalten hat aber nun einen doppelten Aspekt: Indem der Geist die Objektivit¨at, die nat¨urliche Seite gestaltet und dadurch in ihr einheimisch wird, verwandelt er diese zugleich, indem er sie zur geistigen Allgemeinheit erhebt. Dadurch aber findet sich der subjektive Geist in der allgemeinen geistigen Welt einheimisch geworden. 21 Dieses Heimischwerden im Verwandeln der Welt nennt Hegel Bildung. ¨ „Auf diese Weise nur ist der Geist in dieser Außerlichkeit als solcher einheimisch und bei sich. Seine Freiheit hat so in derselben ein Dasein, und er wird in diesem, seiner Bestimmung zur Freiheit an sich fremden Elemente fu¨ r sich, hat 20

Vgl. dazu auch Spaemann 2001a, 506. Auf dessen bedenkenswerte Ausfu¨ hrungen zur Bildung als Lebenshaltung kann hier nur verwiesen werden: Spaemann 2001b. 21 In Hegels Gymnasialrede von 1811 tritt derselbe Gedanke in folgender Formulierung auf: „Die wissenschaftliche Bildung hat u¨ berhaupt die Wirkung auf den Geist, ihn von sich selbst zu trennen, aus seinem unmittelbaren nat¨urlichen Dasein, aus der unfreien Sph¨are des Gef u¨ hls und des Triebs herauszuheben und in den Gedanken zu stellen, wodurch er ein Bewußtsein u¨ ber die sonst nur notwendige, instinktartige R¨uckwirkung auf a¨ ußere Eindr¨ucke erlangt und durch diese Befreiung die Macht u¨ ber die unmittelbaren Vorstellungen und Empfindungen wird, welche Befreiung die formelle Grundlage der moralischen Handlungsweise u¨ berhaupt ausmacht.“ (TW 4, 348).

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es nur mit solchem zu tun, dem sein Siegel aufgedr¨uckt und von ihm produziert ist.“ (§ 187) F¨ur den subjektiven Geist bedeutet das: Durch das Heimischwerden im Objektiven wird dem subjektiven Geist das Objektive zu einer Allgemeinheit, durch die seine eigene, bloß subjektive Seite seinerseits von dieser durch ihn mitkonstituierten Allgemeinheit bestimmt und damit ge-bildet wird. Das psychische System entdeckt in seiner Umwelt ein soziales System, von dem aus betrachtet das psychische System Umwelt ist und als dessen Umwelt sich das psychische System begreift. Diese Umwendung der Umweltlichkeit und die Ausrichtung des psychischen Systems auf die Systemizit¨at der Gesellschaft ist Bildung. Sie ist die R¨uckwirkung des geistigen Allgemeinen, das durch das ¨ geistige Einzelne erst konstituiert wird, auf den Einzelnen und die Ubernahme 22 dieses Allgemeinen ins Einzelne. Damit ist bei Hegel von vornherein ein kommunikativer Begriff der Bildung etabliert. Denn die Allgemeinheit zu der und an der der subjektive Geist sich bildet, entsteht in der Kommunikation der subjektiven Geister, aber so dass sie von dieser Kommunikation bestimmt sind. Diese R¨uckwirkung des objektiven Systems, das einerseits durch die subjektiven Systeme konstituiert und andererseits aufgrund seiner kommunikativen Konstitution f u¨ r die subjektiven Systeme objektiv, „gegeben“, ist und als solches auf die subjektiven wirkt – in dieser R¨uckwirkung des objektiven Systems bildet sich das subjektive System. „Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivit¨at gewinnt, in der er seinerseits allein w¨urdig und f¨ahig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.“ (§ 187) Bildung ist die ,Abbildung‘ der Objektivit¨at des Geistes in mir, die durch mich zugleich erst objektiv in meiner Umwelt konstituiert wird. Dadurch befreit das subjektive System sich selbst f u¨ r wesentliche Dinge, f u¨ r das Allgemeine. „Ebenso macht zugleich diese Form der Allgemeinheit, zu der sich die Besonderheit verarbeitet und heraufgebildet hat, die Verst¨andigkeit, daß die Besonderheit zum wahrhaften F¨ursichsein der Einzelheit wird [. . . ].“ (§ 187) Bildung bedeutet darum nicht Anpassung des Einzelnen ans Allgemeine. Richtigerweise ist vielmehr davon zu sprechen, dass der einzelne Geist sich zum allgemeinen Geist hinaufbildet. Denn auch der allgemeine Geist ver¨andert sich im Bildungsakt des Einzelnen. Er wird reicher, komplexer dadurch, dass nun ein weiteres psychisches System als Umwelt des Gesellschaftssystems operiert. Die Vern¨unftigkeit bestehender Welt- und Selbstverh¨altnisse wird im Prozeß der Bildung anerkannt und affirmiert. Zugleich ist diese Affirmation die Voraussetzung fu¨ r ihre bewusste Gestaltung und,wenn n¨otig,auch f u¨ r ihre Umgestaltung. Der einzelne Geist bildet sich an den Besonderheiten der geistigen Welt und bildet sich so in deren Allgemeinheit hinein, um dann die Allgemein22

Vgl. dazu auch Horkheimer 1985, 415: „Gebildet wird man nicht durch das, was man aus sich selbst macht, sondern einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewußten Praxis.“

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heit wahrhaft im und durch den einzelnen Geist gestalten zu k¨onnen. „Dies ist der Standpunkt, der die Bildung als immanentes Moment des Absoluten, und ihren unendlichen Wert erweist.“ (§ 187) Zusatz: Bildung als geschichtsphilosophische Kategorie in Hegels Ph¨anomenologie des Geistes Neben diesem praktischen Kontext des objektiven Geistes, innerhalb dessen die Genese der Bildung des Einzelnen nach der Franz¨osischen Revolution und damit im modernen Staat abgehandelt wird, sei noch kurz der geschichtsphilosophische Kontext der Ph¨anomenologie des Geistes erw¨ahnt, in dem der Bildungsbegriff bei Hegel ebenfalls prominent auftritt. Hier operiert der Begriff Bildung in einer vorrevolution¨aren Epoche, in der die Gesellschaft grundlegend durch Entfremdung bestimmt ist. „Bildung“ tritt hier als geschichtsphilosophische Kategorie auf, mit deren Hilfe die nachgriechische Geschichte, d. i. der Gang der r¨omischen und der europ¨aischen Geschichte begriffen werden soll. W¨ahrend die Griechen Objektivationen des Geistes generieren,das heißt Institutionen und religi¨ose Verh¨altnisse, die dem subjektiven griechischen Geist nicht fremd sind, generiert die r¨omische Welt und dann die europ¨aische Welt Gesellschaftsformationen und religi¨ose und politische Institutionen, in denen der Geist noch fremd ist, sich nicht als Geist wiedererkennt und an denen der individuelle Geist sich erst zu bilden hat. Dieser Bildungsprozess endet mit der Franz¨osischen Revolution: Und „diese Revolution bringt die absolute Freiheit hervor, womit der vorher entfremdete Geist vollkommen in sich zur¨uckgegangen ist, dies Land der Bildung verl¨aßt und in ein anderes Land, in das Land des moralischen Bewußtseins u¨ bergeht.“ (TW 3, 362) F¨ur Bildung als geschichtsphilosophische Kategorie bedeutet das: Die Griechen bilden sich im Leben, weil ihnen das Absolute, die G¨otter, die Substanz ihres Lebens noch in der Welt pr¨asent erscheint. Sie leben in ihrer Welt wie in ihrem Element. Im Gegensatz zur griechischen Welt muss die nachgriechische Welt durch die Entfremdung der Transzendenz des Absoluten hindurchgehen und die Entfremdung durch ein neuartiges Hineinbilden des Absoluten in die Welt aufheben. Die r¨omisch-heidnische und dann die europ¨aisch-christliche Welt m¨ussen sich in diesem geschichtsphilosophischen Sinne bilden, weil erst sie durch die Trennung von Absolutem und Endlichem bestimmt ist. Das ist der bildungs-theoretische Sinn des Kapitels „Der sich entfremdete Geist. Die Bildung“ aus der Ph¨anomenologie des Geistes.

3 Bildung als theoretische Entfremdung: Aneignung durch Entfremdung und Ent¨außerung Bildung ist also die Formierung des psychischen Systems,so dass es im kommunikativen System operieren kann und dabei zu einer Selbststeigerung kommt,

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indem der subjektive Geist sich selbst als Ausdruck der allgemeinen, der objektivierten Freiheit versteht. Wie aber geht der Bildungs- und Lernprozeß vor sich, wie beginnt er? Hegel antwortet auf diese Frage mit einer Operativit¨at des psychischen Systems, des subjektiv-geistigen Systems oder der Seele, wie Hegel sagt, indem er von einem „Zentrifugaltrieb der Seele“ (Gymnasialrede 1809; TW 4, 321) spricht. Der Zentrifugaltrieb der Seele, den man auch den Trieb des Lernens nennen k¨onnte, bedeutet, dass das psychische System nur in einer fremden und fernen Umwelt sich suchen und bilden kann. Die Seele ist notwendig ausschreitend, auseinanderstrebend. 23 Das psychische System muss also in eine fremde Umwelt versetzt werden, um diejenigen Irritationen zu erfahren, die es bilden k¨onnen. Die Seele operiert so, sich m¨oglichst weit von normalen Irritationen zu entfernen und sie durch fremde, d. i. durch fremd empfundene Irritationen zu ersetzen. Dieser Zentrifugaltrieb gilt in besonderer Weise fu¨ r den sich entwickelnden subjektiven Geist, der noch keine gefestigten sozialen Identit¨aten ausgebildet hat und der daher neugierig und insofern der Bildung f¨ahig und bed¨urftig ist. „Die Jugend stellt es sich als ein Gl¨uck vor, aus dem Einheimischen wegzukommen und mit Robinson eine ferne Insel zu bewohnen“ (Gymnasialrede 1809; TW 4, 321). Generell steht also am Anfang jedes Bildungsprozesses die Entfremdung. Sie ist dessen Bedingung (ebd.). Diese Entfremdung ist theoretischer Natur. Denn die fremde Umwelt, die f u¨ r den subjektiven Geist, das psychische System, entstehen muss, wird fu¨ r dieses psychische System bloß in der Vorstellung erzeugt. Das sich bildende psychische System muss die fremde Umwelt nicht real erfahren, es muss nicht leibhaftig in sie versetzt werden. Es gen¨ugt, wenn es sich um eine theoretische Entfremdung handelt und so, wie Hegel sagt, um den „leichteren Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, einem Fremdartigen mit etwas der Erinnerung, dem Ged¨achtnisse und dem Denken Angeh¨origen zu besch¨aftigen.“ (Gymnasialrede 1809; TW 4, 321). Entscheidend ist, dass es sich bei der fremden Welt um ein soziales System handeln muss. Nur im fremden sozialen System erf¨ahrt sich der subjektive Geist als objektiv-werdender. Es gen¨ugt also nicht, naturwissenschaftliches Wissen oder historische Fakten als solche zum Bildungsinhalt zu machen.Vielmehr muss jeder Bildungsinhalt mit dem jeweiligen sozialen System, in dem er auftritt, Gegenstand des Unterrichts und der Bildung sei. In Weiterfu¨ hrung des Hegelschen Vorschlags w¨are es meines Erachtens fu¨ r viele Sch¨ulerinnen und Sch¨uler einfacher das Galileische Fallgesetz zu lernen, wenn ihnen damit zugleich – und sei es nur ansatzweise – die Differenz zur aristotelischen Auffassung von fallenden K¨orpern und die damit verbundene andere Weltauffassung 23

Hegel, TW 4, 321: „Diese Forderung der Trennung aber ist so notwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb in uns a¨ußert.“

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verdeutlicht w¨urde oder sie sich diese Differenz selbst erarbeiten k¨onnten, so dass ihnen Naturwissenschaft als Teilsystem sozialer Systeme zu Bewußtsein k¨ame. Denn das psychische System muss – soll Lernen und Bildung gelingen – in der fremden Umwelt Systeme des objektiven Geistes (Familien, Gesellschaften, Staaten) oder Manifeste des absoluten Geistes (Kunstwerke, religi¨ose, naturwissenschaftliche, philosophische Systeme) entdecken. In dieses fremde soziale System muss sich das psychische System – so Hegels Pointe – einleben. Erst wenn es eingearbeitet und eingelebt ist, ist die R¨uckkehr ins eigene System m¨oglich. Nur vom Boden der fremden Welt aus gelingt die R¨uckkehr zur eigenen, die aber dann als R¨uckkehr zu einer geistigen Welt bewerkstelligt werden kann. Denn erst in diesem Gang begreift der subjektive Geist seine eigene Welt als gesetzt aus der Operativit¨at und Freiheit des Geistes, selbst wenn er sie nicht durch eine beliebige andere real ersetzen kann. Geistig ist ihm diese seine Welt nun geworden, weil er sie nur als eine m¨ogliche unter anderen Welten, die es gab, begreift. Denn nur demjenigen, der die Erfahrung der Kontingenz des eigenen Systems durch die theoretische Versetzung in ein fremdes System gemacht hat, entsteht Reflexion und damit Freiheit. Das psychische System gewinnt erst dadurch eine Virtualit¨at, die dem psychischen System als Bildung zu Bewusstsein kommt (TW 4, 322). 24 Zusatz: Dieser Gedanke Hegels von der notwendigen theoretischen Entfremdung im Lernprozeß und der dadurch sich einstellenden R¨uckwirkung aufs eigene Leben wird durch eine Anekdote aus dem Leben des Regisseurs und Schauspielers Fritz Kortner treffend illustriert. In der Emigration lernt Kortner Englisch, mit großer M¨uhe und Hemmung, weil beruflich-emotional verwurzelt in der deutschen Sprache, aber mit wachsender Begeisterung und der akribischen Besessenheit des schwer Lernenden. Das Resultat zeitigt ein f u¨ r ihn selbst erstaunliches Resultat. Eines Tages sagte der Schriftsteller Leonhard Frank zu Kortner: „,Ihr Deutsch hat sich verbessert.’ Ich war verbl¨ufft. Aber Frank hatte recht. Das bewußte Befassen mit der neuen Sprache wirkte sich auch auf die aus, die ich als Kind unbewußt gelernt hatte.“ 25

4 Der Ort der Bildung: Schule als „Mittlerin“ zwischen Familie und Gesellschaft und die damit verbundene notwendige „Relativit¨at“ der Schule Der notwendige Gang in eine fremde und doch verwandte Welt hat Konsequenzen f u¨ r den Inhalt des Lernens, f u¨ r den Stoff der Bildung, die im n¨achsten 24

Vgl. dazu auch Horkheimer 1985, 415: „Mit dem Aneignen ist es nicht getan.Wer nicht aus sich herauszugehen, sich an ein Anderes, Objektives ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich erhalten kann, ist nicht gebildet, und der sogenannte Gebildete, der dazu unf¨ahig ist, wird stets Male einer Beschr¨anktheit und Befangenheit aufweisen, die seinen eigenen Anspruch auf Bildung L¨ugen strafen.“ 25 Kortner 1970, 275.

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Abschnitt n¨aher dargestellt werden. Zun¨achst aber und vor allem bedeutet es, dass Bildung und der Fortschritt der Bildung kein kontinuierlicher Prozess sind, bei dem sich ein Glied ans andere reiht. Bildung funktioniert vielmehr nur als verarbeitende R¨uckwendung zu vorigen Stufen der Bildung; sie „muß einen fr¨uheren Stoff und Gegenstand haben, u¨ ber den sie arbeitet, den sie ver¨andert und neu formiert.“ (TW 4, 320) F¨ur den Ort der Bildung heißt das: Die normale gesellschaftliche Kommunikation, insbesondere die Kommunikation im familialen System, reicht zu diesem Zweck nicht aus. Ein f u¨ hlbarer Bruch im Prozeß des Lernens und Bildens ist notwendig – so Hegels These und Begr¨undung fu¨ r eine systematisch herbeizufu¨ hrende Versetzung in eine fremde Welt, die dann auch nur durch eine eigene Institution geleistet werden kann. 26 Die dabei notwendige Z¨asur u¨ bernimmt das System „Schule“, das darum eine wesentliche Stufe in der Genese der sittlichen, der sozialen Systeme und bei der Transformation des subjektiven Geistes ist. Um dieses Mittler-System Schule und deren Notwendigkeit sowie die damit verbundenen Bestimmungen der Schule begreifen zu k¨onnen, sind zun¨achst die beiden Systeme „Familie“ und „Gesellschaft“ bzw. „wirkliche Welt“ – u¨ ber das im vorigen Abschnitt bereits Gesagte hinaus – noch n¨aher auszufu¨ hren und um weitere Bestimmungen anzureichern. a. Die Familie ist dasjenige System, das dem Operator Geist erst seine individuelle lebendige Existenz gibt. Familie realisiert dies, indem sie den Zeugungszusammenhang bildet, durch den die subjektiven Geister geboren und damit in die Existenz gebracht werden. 27 b. Die Familie ist eine praktische Realit¨at und ein sittliches System, weil in der Familie die Heranbildung der Einzelnen, der Kinder in die Gewohnheiten, Regeln und Normen der Gesellschaft und des Staates erfolgt. Alle Sitten, die bei Hegel Gewohnheiten, Konventionen, Gesetze, Regeln und Normen umfassen, werden dem Kind hier auf eine pers¨onliche Weise vermittelt. In der Familie ist es die unmittelbare Umgebung des Kindes und deren Inhalte und Formen, die das Kind bilden. Empfindung, Liebe, Zutrauen konstituieren das familiale System; „das Kind gilt hier darum, weil es das Kind ist; es erf¨ahrt ohne Verdienst die Liebe seiner Eltern, so wie es ihren Zorn, ohne ein Recht dagegen zu haben, zu ertragen hat.“ (Gymnasialrede 1811; TW 4, 349) c. Dieser Vorzug der Familie ist zugleich ihre Grenze. Das Kind lebt sich zun¨achst nur in diejenigen Sitten ein, die in der Familie, der es zugeh¨ort, praktiziert werden (Gymnasialrede 1811; TW 4, 349). Fremde Gegenst¨ande, die das Kind noch nicht kennt und vielleicht in der eigenen Familie u¨ ber26 27

Vgl. zur Autonomie des Erziehungssystems Luhmann/Schorr 1999, 79. Vgl. zur Bedeutung der Familie und der damit verbundenen Hegelschen Theorie der Bestattung als notwendigerweise spezifisch familiales Ritual vom Vf. 2005 (im Erscheinen).

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haupt nicht kennenlernen w¨urde und die zugleich allgemein sind, m¨ussen in einer allgemeinen Institution gelernt werden. Im Gegensatz zur Familie ist Gesellschaft von v¨ollig anderem Zuschnitt. Die Welt, die Gesellschaft, operiert nach Regeln der Allgemeinheit. Es kommt hier gerade nicht auf Liebe oder Zuneigung an. Hier wird der Einzelne an seiner Leistung und seiner Funktion fu¨ r die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme gemessen. Der Mensch hat in der Gesellschaft „den Wert nur, insofern er ihn verdient. Es wird ihm wenig aus Liebe und um der Liebe willen; hier gilt die Sache, nicht die Empfindung und die besondere Person“ (ebd.). Zwischen dem Zeugungs- und Reproduktionszusammenhang der Familie und ihren Besonderheiten und der Allgemeinheit der Gesellschaft und des Staates herrscht also ein tiefgreifender Unterschied. Darum kann es – in einer ¨ einigermaßen komplexen Gesellschaft – keinen unmittelbaren Ubergang von ¨ der Familie in die Gesellschaft geben.Vielmehr muss dieser Ubergang notwendigerweise durch ein eigenst¨andiges System vermittelt werden, 28 das zwischen Familie und Gesellschaft stehen und als Mittler zwischen beiden auch Funktionen und Bestimmungen beider Systeme, sowohl des familialen (a) als auch des gesellschaftlichen (b) Systems, in sich zur Darstellung bringen muss. Das familiale Moment (a), das in die Schule eingeht, ist das des Schutzes und der fraglosen Partizipation aller Sch¨uler. Dies wird durch die allgemeine Schulpflicht gew¨ahrleistet. Zugleich darf die Allgemeinheit der Gesellschaft, die den Heranwachsenden vermittelt werden soll, noch nicht der gesellschaftlichen Konkurrenz ausgeliefert sein. Noten und Beurteilungen in der Schule dienen nicht dazu, die Subsistenz der Sch¨uler zu garantieren. Ihren Lebensunterhalt verdienen sich die Sch¨uler nicht durch ihre Noten, sondern sie erhalten ihn – unabh¨angig von ihren Leistungen – weiterhin von ihren Familien. Das gesellschaftliche Moment (b) der Schule besteht darin, dass die allgemeinen Inhalte und entfamiliarisierten Interaktionen praktiziert werden. Das Kind hat in der Schule „im Sinne der Pflicht und eines Gesetzes sich zu betragen und um einer allgemeinen, bloß formellen Ordnung willen dies zu tun und anderes zu unterlassen, was sonst dem Einzelnen wohl gestattet werden k¨onnte.“ (TW 4, 349; Herv. d. Verf.) Schule ist also der versuchserm¨oglichende Mittler zwischen dem Spiel der Kindheit und dem Ernst des Lebens. Denn unter gesch¨utzten Bedingungen ist hier das Lernen der Gesetze der Allgemeinheit m¨oglich. In der Schule geh¨ort der Sch¨uler „jetzt zwei abgesonderten Kreisen an, deren jeder nur eine Seite seiner Existenz in Anspruch nimmt. Außer dem, was die Schule an ihn fordert, 28

Vgl. zur historischen Entwicklung auch Luhmann 2002, 61: „Sp¨atestens nach der Verbreitung des Buchdrucks und nach dem Sichtbarwerden des Umfangs und der Komplexit¨at des vorhandenen Wissens liegt auf der Hand, daß das Leben im Haus nicht ausreicht. Die V¨ater m¨ussen einen Schock bekommen haben. [. . . ] Entsprechend werden educatio und institutio unterschieden.“

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hat er eine von ihrem Gehorsam freie Seite, die teils noch dem h¨auslichen Verh¨altnisse, aber auch seiner eigenen Willk¨ur und Bestimmung u¨ berlassen ist, – so wie er damit zugleich eine durch das bloße Familienleben nicht mehr bestimmte Seite und eine Art von eigenem Dasein und besondere Pflichten erh¨alt.“ (TW 4, 350) Aus dieser Positionsbestimmung der Schule leitet Hegel zwei grundlegende Folgerungen f u¨ r die Bedeutung des Unterrichts in der Schule und fu¨ r die Beurteilung des Lernens ab, an die er eine kritische Reflexion u¨ ber den Zusammenhang von Schulnoten und gesellschaftlichen Karrieren anschließt: a. Die Sch¨uler u¨ ben an bereits fertigen Inhalten: „die Wissenschaft wird darin nicht fortgebildet, sondern nur das schon Vorhandene, und zwar erst nach seinem elementarischen Inhalte erlernt; und die Schulkenntnisse sind etwas, das andere l¨angst wissen“ (TW 4, 352f.). Weder Forschung noch Neugestaltung der Gesellschaft finden in der und durch die Schule statt, sondern das bereits an anderer Stelle Verwirklichte wird hier einge¨ubt und gelernt. In genau dieser Hinsicht besteht die Funktion der Schule darin, Vorbereitung und Vor¨ubung zu sein. b. Die Noten und Beurteilungen, die in der Schule vergeben werden, sind nur von „relativer Wichtigkeit“ und ihre vornehmste G¨ultigkeit haben sie – so Hegel – nur innerhalb der Sph¨are der Schule (TW 4, 353). Es sind Vor-Urteile – notwendig als Urteile, um den Sch¨ulern das gesellschaftliche Moment der Leistung zu vermitteln, aber vorl¨aufig, weil alle Bewertungen und Leistungen unter dem Vorbehalt der weiteren, m¨oglichen und erw¨unschten, Entwicklung der Sch¨ulerinnen und Sch¨uler stehen. 29 „Denn wie die Arbeit der Schule Vorübung und Vorbereitung ist, so ist auch ihr Urteil ein Vorurteil; eine so wichtige Präsumtion es gibt, so ist es nicht schon etwas Letztes. Das Urteil, das die Schule f¨allt, kann daher so wenig etwas Fertiges sein, als der Mensch in ihr fertig ist.“ (TW 4, 353) c. Hegel neigt aufgrund seiner Verortung der Schule als Mittler weder zu einer ¨ Untersch¨atzung noch zu einer Ubersch¨ atzung der Schule. Denn aufgrund seines systemphilosophischen Ansatzes reflektiert er u¨ ber die Einheit von Erziehung und Karriere bzw. Karriereselektion, indem Hegel die Vorl¨aufigkeit schulischer Beurteilung mit der weiteren Entwicklungsf¨ahigkeit der Sch¨uler verbindet. Zugleich nimmt er den Wechsel in der Beurteilung der einzelnen Sch¨uler in der schulischen Karriere deutlich wahr, so dass er die Unbest¨andigkeit geradezu als Kennzeichen dieser schulischen „Welt des Werdens“ herausstellt (TW 4, 354). Auf Hegel trifft also die Feststellung Luhmanns nicht zu, die P¨adagogen w¨urden die Einheit von Erziehung und 29

Vgl. auch: „Die Jugend ist in der Schule im Streben begriffen; wer in ihr zur¨uckbleibt, hat immer noch die allgemeine M¨oglichkeit der Besserung vor sich; die M¨oglichkeit, daß er seinen Standpunkt, sein eigentliches Interesse nur noch nicht gefunden hat, in welchem es mit ihm durchbricht.“ (TW 4, 353)

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Karriereselektion nicht hinreichend beachten und reflektieren. 30 Auch an ¨ dieser Offnung des Blicks u¨ ber das System Schule hinaus zeigt sich deutlich die St¨arke von Hegels gesellschaftstheoretischer Reflexion auf Funktion und Ort der Schule als Teilsystem der Gesellschaft.

Exkurs: Gymnasium und Realinstitut – die Schulsituation zu Hegels Zeit Hegels Verortung der Schule, insbesondere des Gymnasiums, als Teilsystem der modernen, nach-revolution¨aren Gesellschaft 31 bewegt sich historisch zwischen der Institution der Lateinschule und der Etablierung des humanistischen Gymnasiums. 32 Diese Entwicklung soll hier nur gestreift werden. Insbesondere auf die zeitgen¨ossischen Auseinandersetzungen um den Philanthropinismus und die Begr¨undung des humanistischen Gymnasiums soll hier nur insoweit eingegangen werden, als sie in Hegels Gymnasialreden direkt angesprochen werden. 33 Auch die Rolle und Bedeutung Niethammers, mit dem Hegel freundschaftlich verbunden ist und der – als bayrischer Zentralschulrat – seine Berufung ans N¨urnberger Gymnasium betrieben hat, f u¨ r die bayrische Schulreform soll hier ausgeklammert bleiben, ebenso wie m¨ogliche Bez¨uge auf Wilhelm von ¨ Humboldts Uberlegungen zum K¨onigsberger Schulplan und zum Litauischen Schulplan. 34 In der Rede von 1809 w¨urdigt Hegel die Neuorganisation des N¨urnberger ¨ Agidien-Gymnasiums gegen¨uber der alten Lateinschule. Denn die alte Lateinschule sei in der Tat – so Hegel – u¨ berlebt, weil sie sich auf den Spracherwerb beschr¨ankt und die griechisch-r¨omische Welt als ganze gerade nicht zum Zentrum des Unterrichts gemacht habe (TW 4, 314f.). 35 Aufgrund dieser Fest30

S. Luhmann 1999, 977f.: „Als P¨adagoge h¨alt der Lehrer sich nur f u¨ r Ausbildung und Erziehung zust¨andig,als Schulmann betreibt er mit dem Urteil,das er kommuniziert,Selektion.Die Form der Erziehung ist mit dem Bildungsbegriff gegen Selektion abgegrenzt, und eben deshalb bleibt die andere Seite der Form, die Beteiligung des P¨adagogen an der sozialen Selektion, unterreflektiert.“ 31 Hegel geht darauf in der Rede von 1809 ein, wo er – vermutlich in Anspielung auf die Franz¨osische Revolution und aber vor allem auf die daran anschließenden Napoleonischen Kriege – den neuen Ernst erw¨ahnt, durch den der vormals herrschende Leichtsinn abgel¨ost worden sei (4, 323). 32 Vgl. dazu Lef`evre 1979, 97–154. 33 Vgl. zu Hegels schulpolitischer T¨atigkeit auch Rosenkranz 1977, 246ff. 34 Zu den Schulreformen Friedrich Immanuel Niethammers vgl. auch die kenntnisreichen Kommentare zu den Briefen Nr. 88, 103, 119,144, 145, in Hoffmeister 1969; s. Hegels Brief (Nr. 103) an Niethammer vom 29. 8. 1807, ebd., Bd. 1, 184. 35 Hegel geht in seiner Ablehnung der alten Lateinschulen mit Niethammer konform bis in die Wortwahl hinein, so dass er dessen Schriften offensichtlich auch seinen Gymnasialreden zugrundegelegt hat. Vgl. dazu Niethammers Einsch¨atzung, dass die Lateinschulen den ganzen Unterricht in bloß mechanisches Erlernen der alten Sprachen verwandelt h¨atten. W¨ahrend doch in Wahrheit „das Studium der alten Sprachen nicht Zweck an und f u¨ r sich selbst, son-

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stellung bewertet Hegel die Neuorganisation des N¨urnberger Gymnasiums als echten Fortschritt, insofern dadurch einerseits die Vorz¨uge der Lateinschule bewahrt,andererseits durch Verbesserung (Hebung des Niveaus der Volksschulen) und Ausdifferenzierung des Schulsystems (in Realinstitut und Gymnasium) die Stellung des Gymnasiums den Erfordernissen der Zeit entsprechend eingerichtet worden sei. Insbesondere die Gr¨undung eines Realinstituts, das nicht auf dem Studium der Alten basiert, hat dem Gymnasium die M¨oglichkeit verschafft, sich zu spezialisieren. 36 Wobei Hegel dieser Ausdifferenzierung und Spezifikation ausdr¨ucklich das Wort redet; auch hier wieder von der Einsicht in die Vorz¨uge funktionaler Differenzierung der Gesellschaft getragen: „Nur was sich abgesondert in seinem Prinzip vollkommen macht, wird ein konsequentes Ganzes, d. h. es wird etwas; es gewinnt Tiefe und die kr¨aftige M¨oglichkeit ¨ der Vielseitigkeit. Die Besorgnis und Angstlichkeit u¨ ber Einseitigkeit pflegt zu h¨aufig der Schw¨ache anzugeh¨oren, die nur der vielseitigen konsequenten Oberfl¨achlichkeit f¨ahig ist.“ (TW 4, 317) Ein wichtiger und interessanter Punkt zur gesellschaftlichen Stellung des Gymnasiums, der nur in den Briefen an Niethammer zur Sprache kommt, bleibt noch hervorzuheben: Hegel thematisiert die Bedeutung des Gymnasiums und dessen Fortbestandes auch im Hinblick auf die konfessionellen Mentalit¨aten. Im Zusammenhang mit den Protesten der N¨urnberger Bev¨olkerung ¨ gegen die Uberlegungen der bayrischen Regierung, das dortige Gymnasium zu schließen, analysiert Hegel die geistesgeschichtlichen und religionspolitischen Wurzel dieser Proteste: „Sie wissen selbst, wie sehr die Protestanten auf gelehrte Bildungsanstalten halten; daß ihnen diese so teuer sind als die Kirchen, und gewiß sind sie so viel wert als diese; der Protestantismus besteht nicht so sehr in einer besonderen Konfession als im Geiste des Nachdenkens und h¨oherer, vern¨unftiger Bildung, nicht eines zu irgend diesen und jenen Brauchbarkeiten zweckm¨aßigen Dressierens. – Empfindlicher h¨atte man sie nicht angreifen k¨onnen als an ihren Studienanstalten.“ 37 Vergegenw¨artigt man sich diese Analyse, dann wird verst¨andlich, warum Hegel im Zusammenhang mit der klassischen Bildung auch von einer „profanen Taufe“ (TW 4, 317) sprechen kann. dern nur Vor¨ubung und Mittel seyn solle, die vollendetsten Meisterwerke der Cultur mit der Leichtigkeit, die der Genuß eines Kunstwerkes und die davon zu erlangende Bildung fordert, lesen und studiren zu k¨onnen“ (zit. nach Lef`evre 1979, 104). 36 Vgl. dazu auch Hegels Gutachten u¨ ber die Stellung des Realinstituts zu den u¨ brigen Studienanstalten: TW 4, 392: „Indem eine Gymnasialanstalt als eine Spezialschule der Vorbereitung zur h¨oheren wissenschaftlichen und geistigen Bildung anzusehen ist, so erh¨alt sie einen eigenen Ton fu¨ r alle ihre Lehrgegenst¨ande [. . . ].“ Mit dieser „Einheit des Tons“ begr¨undet Hegel, warum es keinen gemeinsamen Unterricht zwischen den Sch¨ulern des Gymnasiums und des Realinstituts (= Realgymnasiums), das Hegel nicht sch¨atzt, geben kann. 37 Hegel an Niethammer, 3. 11. 1810. In: Briefe von und an Hegel, hrsg. v. Johannes Hoffmeister. ¨ Hamburg 31969, Bd. 1, 337. Ahnliche und noch st¨arkere Formulierungen finden sich in weiteren Briefen Hegels an Niethammer. Ebd. Bd. 2, 89 u. Bd. 2, 141.

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Hegel hebt dabei zu Recht hervor, dass – neben der Rechtssprechung – die Schule, generell die Institution der Erziehung es sei, die die Gem¨uter der Staatsb¨urger am meisten errege; „denn von keinem u¨ bersieht und fu¨ hlt der Privatmann die Vorteile und Wirkungen so unmittelbar, nah und einzeln als von jenen Zweigen, deren der eine sein Privateigentum u¨ berhaupt, der andere aber sein liebstes Eigentum, seine Kinder, betrifft.“ (TW 4, 312)

5 Der Stoff der Bildung: Hegels Spezifikation des Bildungsbegriffs und die Frage nach den Lerninhalten Ausgehend vom Zentrifugaltrieb des Geistes wendet sich Hegel der Frage zu, welcher Stoff dem ausgreifenden Geist dargeboten werden soll. F¨ur Hegel ist dieser Stoff ohne Frage die Antike. Hinter dieser Favorisierung der Antike steht bei Hegel nicht oder doch nicht in erster Linie ein obsolet gewordener Klassizismus, sondern die schwierige Problematik, einen angemessenen Stoff der Bildung zu finden.Wenn denn konzediert wird,dass nicht jeder Stoff in gleicher Weise tauglich fu¨ r Lernen und Bilden ist, ja, dass es geradezu bereits wieder einer bereits sehr ausgepr¨agten Erfahrung und Bildung bedarf, um sich an jedem Stoff ,abarbeiten‘ zu k¨onnen. Hegel jedenfalls konstatiert: Allt¨agliche, sinnliche Dinge sind nicht f¨ahig, einen Bildungsstoff abzugeben (Gymnasialrede 1809; TW 4, 315). Vier Kriterien fu¨ r den richtigen Stoff lassen sich aus Hegels Ausfu¨ hrungen gewinnen. Diese vier Kriterien k¨onnen von denjenigen Vorschl¨agen unterschieden werden, die nach Hegels eigener Meinung diese Kriterien am besten erf u¨ llen und die daher eine historische Spezifikation seiner Kriterien sind: 1. Der beste Stoff der Bildung ist der, der eine eigene Welt, eine Geschlossenheit f u¨ r sich bildet. Diese Geschlossenheit und damit Ganzheit muss der moderne Mensch vor allem in der Bildung erfahren, denn die Menschen in der Moderne leben – anders als die Menschen in der Antike – in funktional differenzierten Systemen. „Um so wichtiger ist es f u¨ r uns, weil wir Menschen, weil wir vern¨unftige, auf den Grund des Unendlichen und Idealen erbaute Wesen sind, in uns die Vorstellung und den Begriff eines vollst¨andigen Lebens zu erschaffen und zu erhalten.“ (TW 4, 365) 2. Der Stoff der Bildung muss aus diesem Grund eine fremde Sprache sein, die das Medium einer anderen, gegenw¨artigen oder vergangenen, Kultur ist. Denn wenn Bildung notwendigerweise ein vollst¨andiges Leben und d. h. einen geschlossenen Gegenstand zur Bildung braucht, muss eine „Scheidewand“ zwischen meiner jetzigen Welt und der fremden Welt gelegen sein (TW 4, 321). Die beste Scheidewand aber ist eine andere Sprache, die die Grenze der jeweiligen Welt konstituiert.

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3. Der Stoff muss Regeln enthalten, die dann auch als solche gelernt werden sollen. Das heißt: Der Stoff muss uns dazu anleiten, vom K¨onnen zum Wissen dessen, was wir k¨onnen, fortzuschreiten. F¨ur Hegel heißt das in erster Linie, die Grammatik einer Sprache zu lernen und zu studieren. Denn die in der Grammatik objektiv gewordenen Verstandesbestimmungen machen den Anfang der logischen Bildung aus; in der Grammatik „f¨angt also der Verstand selbst an, gelernt zu werden“ (TW 4, 322). „Das strenge grammatische Studium ergibt sich also als eines der allgemeinsten und edelsten Bildungsmittel.“ (TW 4, 323) 4. Der Stoff muss in sich bedeutend sein.Weil Bildung auf die Selbstst¨andigkeit des Lernenden konstitutiv verwiesen ist, muss der Stoff der Bildung selbst unersch¨opflich sein. Er muss genug Anreiz bieten, im Lernenden weiterzuwirken. Und „nur der geistige Inhalt, welcher Wert und Interesse in und fu¨ r sich selbst hat, st¨arkt die Seele und verschafft diesen unabh¨angigen Halt, diese substantielle Innerlichkeit, welche die Mutter von Fassung, von Besonnenheit, von Gegenwart und Wachen des Geistes ist“ (TW 4, 319). Aber Hegel geht noch weiter: Der Stoff muss so gew¨ahlt sein, dass er zum Boden f u¨ r den Lernenden werden kann, in dem er wurzelt und w¨achst. F¨ur Hegel ist die Spezifikation dieser Kriterien klar: „Den edelsten Nahrungsstoff nun ¨ und in der edelsten Form, die goldenen Apfel in silbernen Schalen, enthalten die Werke der Alten, unvergleichbar mehr als jede anderen Werke irgendeiner Zeit und Nation.“ (TW 4, 319) Hegel entscheidet sich fu¨ r das Studium der Alten aber auch darum, weil unsere eigene Geschichte sich nur aus der geschichtlichen Entwicklung seit der griechisch-r¨omischen Welt verstehen l¨aßt. Denn die Griechen und R¨omer sind aller europ¨aischen Kunst und Wissenschaft Boden. Uvo H¨olscher hat diesen Gedanken auf die treffende Formel von der Welt der Griechen und R¨omern als dem „n¨achsten Fremden“ gebracht. 38 Zusatz 1: Bildung zur Sittlichkeit Hegel thematisiert das Verh¨altnis der Schule „zur sittlichen Bildung des Menschen u¨ berhaupt“ (345). Ein Thema, das im Augenblick unter dem problematischen Begriff der „Werteerziehung“ wieder in der Diskussion ist. Hegel hebt in seinen Ausf u¨ hrungen deutlich hervor, dass diese sittliche Bildung indirekt oder direkt sein kann. Eine direkte sittliche Bildung findet dadurch statt, dass im N¨urnberger Gymnasium, dessen Methoden und Inhalte Hegel ja immer vor Augen hat, 38

H¨olscher 1965, 81: „Eine solche Wirkung u¨ bt wiederum nicht das ganz Andere – China, Indien, so hoch ihre Kultur, so u¨ berlegen der griechischen ihre Weisheit ist: es f¨allt zu schwer, das Dortige auf uns zu beziehen; wie ja auch die abendl¨andische Kultur nicht bildend auf die o¨ stliche gewirkt hat. Rom und Griechenland sind uns das n¨achste Fremde, und das vorz¨uglich Bildende an ihnen ist nicht sowohl ihre Klassizit¨at und ,Normalit¨at’, sondern daß uns das Eigene dort in einer anderen M¨oglichkeit, ja u¨ berhaupt im Stande der M¨oglichkeiten begegnet.“

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moralische und rechtliche Grundbegriffe den Sch¨ulern im Unterricht beigebracht werden. Indirekt ist die moralische Erziehung, insofern Bildung als solche eine mittelbar sittliche Funktion hat (4, 345). Wobei Hegel in diesem Zusammenhang, wie auch in anderen Zusammenh¨angen, betont, dass es nicht unmittelbar auf ein Verstehen der Texte und Inhalte ankommen muss, sondern dass am Anfang der Bildung h¨aufig ein Umgang mit „unverstandenen Kenntnissen“ (4, 347) steht und stehen kann. Dass bei diesem unverstandenen Anfang nicht stehengeblieben werden soll, versteht sich von selbst, aber ohne dieses unverstandene Einleben und Ausprobieren kann sittliche Bildung keinesfalls gelingen. Darum ist es wichtig f u¨ r die P¨adagogik zu erkennen, dass „[. . . ] Grunds¨atze und Handlungsweisen nicht sowohl in bewußter Reflexion an den Geist gebracht werden, als wiefern sie ein substantielles Element sind, in welchem der Mensch lebt und wonach er seine geistige Organisation bequemt und richtet, inwiefern die Grunds¨atze mehr als Sitte an ihn kommen und Gewohnheiten werden“ (4, 345f.). 39 Zusatz 2: Philosophische Bildung Einen zweiten und fu¨ r Hegels Unterricht typischen Lehrstoff stellt die Philosophie dar, die er selbst u¨ ber etliche Jahre unterrichtet hat. Auf eine n¨ahere Analyse des Hegelschen Philosophiecurriculums, wie es uns vorliegt, m¨ussen wir hier verzichten. 40 Einzig Hegels allgemeine Vorgaben fu¨ r den schulischen Philosophieunterricht, wie er sie in einem Gutachten fu¨ r das preußische Unterrichtsministerium im Jahr 1822 formuliert hat, sollen kurz zusammengefasst werden. 41 Bei seiner Bestimmung des schulischen Philosophieunterrichts geht Hegel wiederum von der Mittelstellung der Schule aus.In diesem Fall fokussiert auf die Frage, wie und in welcher Weise das Gymnasium fu¨ r das universit¨are Studium der Philosophie vorbereiten solle. Hegel unterscheidet dabei zun¨achst zwei Weisen der Vorbereitung, die materiellere und die formellere. Zur materielleren Vorbereitung rechnet er – auf der einen Seite – das Studium der Antike als im Gymnasium zu leistende Vorarbeit f u¨ r das Philosophiestudium. Wobei er hier auf die Einarbeitung in die antike Welt zu Recht mehr Gewicht legt als auf die Verfeinerung der Sprachkenntnis, fu¨ r die erst das Philologiestudium selbst zust¨andig ist (TW 11, 34). Die andere Seite der materielleren Vorbereitung beinhaltet die dogmatischen In39

Vgl. dazu auch Hegels Gedanke von der Heranbildung sozialer Tugenden in der Schule: „In der Gemeinschaft mit vielen unterrichtet, lernt es (sc. das Kind), sich nach anderen richten, Zutrauen zu anderen, ihm zun¨achst fremden Menschen und Zutrauen zu sich selbst in Beziehung auf sie erwerben, und macht darin den Anfang der Bildung und Aus¨ubung sozialer Tugenden.“ (TW 4, 349f.) 40 Vgl. dazu Hegels Philosophische Prop¨adeutik sowie seine Berichte u¨ ber seine Unterrichtsgegenst¨ande in TW 4, 9–302. 41 ¨ Vgl. dazu das vom preußischen Unterrichtsministerium angeforderte Gutachten: Uber den Unterricht in der Philosophie auf Gymnasien (TW 11, 31ff.).

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halte der Religion, um anhand ihrer die Rezeptivit¨at der Sch¨uler f u¨ r spekulative Gehalte zu wecken und zu schulen. Als weitere – nun mehr formellere – Gegenst¨ande schl¨agt Hegel die empirische Psychologie vor, weil sie uns mit unseren Vorstellungen bewußt macht. Dazu kommen die Anfangsgr¨unde der Logik, die unseren Verstandesgebrauch unserer Reflexion zug¨anglich machen.Als einziges Thema aus dem Bereich der Metaphysik nimmt Hegel die Beweise vom Dasein Gottes in das Curriculum auf. Moral, Freiheit, Recht und Pflicht bilden – geradezu wegweisend – weitere Gegenst¨ande des Gymnasialunterrichts. 42

6 Die Form der Bildung Die genannten vier Kriterien fu¨ r den angemessenen Stoff der Bildung werden von Hegel durch zwei weitere, eher formale Aspekte und Ziele der schulischen Bildung erg¨anzt: 1. Wesentliches Ziel der Erziehung – auch in der Schule – ist Selbst¨andigkeit. Durch freies Lernen soll bei den Kindern Zutrauen in die eigene Bildung geweckt werden. Insofern verhilft sie ihnen auch zu einer L¨osung vom Elternhaus und dessen spezifischen Zw¨angen. 2. Bildung zur Selbst¨andigkeit fordert aber Interaktionsdisziplin statt Drill und Gehorsam um des Gehorsams willen (4, 350). Hegel stellt hier besonders heraus, dass in der Geschichte der Erziehung der richtige Gesichtspunkt, dass es wesentlich auf eine Unterst¨utzung und F¨orderung des bei den Kindern erwachenden Selbstgefu¨ hls ankomme und nicht auf dessen Niederdr¨uckung, immer mehr zum Tragen komme. 43 F¨ur das Verh¨altnis von Familie und Schule bedeutet dies, dass die auch die Eltern einbezogen werden m¨ussen. Die Disziplin hat die bereits in der Familie geschehene Sozialisation zur Voraussetzung. 44 Die Eltern k¨onnen also nicht Disziplinierungsaufgaben an die Schule abgeben bzw. von der Schule unberechtigterweise einfordern. ¨ Hinzu treten muss das Uben zu Hause; der Privatfleiß der Sch¨uler ist genauso notwendig wie der Unterricht selbst (4, 331). An die Schule richtet Hegel in diesem Zusammenhang die wichtige Forderung, bei der Abgabe schriftlicher Hausarbeiten auf strikte P¨unktlichkeit zu achten, „so daß das Aufgegebene 42

Unter heutigen Bedingungen fordert einen verst¨arkten Rechtskundeunterricht an den Schulen, der auch die St¨arkung des Rechtsbewusstseins einschließt, von Hasseln 2000. 43 Insb. die Gymnasialrede von 1815 reflektiert u¨ ber das rechte Maß in der Erziehung, u¨ ber die richtige Form der Liberalit¨at und die damit verbundene Aufgabe der Eltern. 44 Hegel mahnt: Die Eltern d¨urften nicht nur an die geringsten Kosten und allein an die berufliche Umsetzung des zu Lernenden bei der Bildung und Ausbildung ihrer Kinder denken (TW 4, 380).

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zur gesetzten Zeit zu liefern etwas so Unausbleibliches werden muß als das Wiederaufgehen der Sonne.“ (TW 4, 332) An die Eltern gerichtet stellt Hegel eine Maxime auf, die auch in unserer heutigen Situation richtig ist: Bei den Anforderungen, die gegenw¨artig an Studierende, wir w¨urden hinzufu¨ gen, an alle gestellt werden, ist wichtig, ja entscheidend „es mit dem Anfange des Unterrichts ja nicht zu lange anstehen zu lassen.“ (TW 4, 356)

Schlussbemerkung: Hegel als Lehrer Sein Selbstbild des Lehrers entwirft Hegel anl¨aßlich der Verabschiedung seines Amtsvorg¨angers im Rektorat, Leonhard Schenk, mit pathetischen Worten: „Dem Lehrstande ist der Schatz der Bildung, der Kenntnisse und Wahrheiten, an welchem alle verflossenen Zeitalter gearbeitet haben, anvertraut, ihn zu erhalten und der Nachwelt zu u¨ berliefern. Der Lehrer hat sich als den Bewahrer und Priester dieses heiligen Lichts zu betrachten, daß es nicht verl¨osche und die Menschheit nicht in die Nacht der alten Barbarei zur¨ucksinke.“ (TW 4, 307) Hegel scheint seine Forderungen, die er an Stoff und Form der Bildung sowie an das Selbstbild des Lehrers stellt, als Lehrer selbst in gelungener Weise umgesetzt zu haben, wie der Bericht eines seiner ehemaligen Sch¨uler eindrucksvoll bezeugt: „Zuv¨orderst zog Hegel die Naturwissenschaften, Geschichte, Kunst und die Literatur der Alten h¨aufig in seine Entwicklungen, um an ihnen gleichungsweise philosophische Theses zu erkl¨aren: dann diktierte er nur kurze S¨atze und ließ den Sinn derselben die Zuh¨orer selbst im Wechselgespr¨ach frei er¨ortern. Jeder konnte das Wort verlangen und eine Meinung gegen andere geltend zu machen suchen, der Rektor selbst trat nur hin und wieder belehrend dazwischen, um die Er¨orterung zu leiten. Auf solche Weise wurden den Sch¨ulern vielseitige Kenntnisse mitgeteilt, der Trieb zum Eindringen in das eigentlich Wissenschaftliche angeregt, und insbesondere der Scharfsinn gebildet. – Was aber noch wohlt¨atiger wirkte, und die Anstalt im hohen Grad auszeichnete, das war die Art, wie Hegel die Sch¨uler behandelte.Von der untern Gymnasialklasse an, wo man noch vier Jahresstufen bis zur Universit¨at hatte, redete er jeden Sch¨uler mit ,Herr‘ an, und bemaß hiernach auch seinen Tadel und seine Zurechtweisungen. Ein solches achtungsvolles Benehmen eines Mannes, dessen Ruf t¨aglich stieg, gegen junge Leute, erweckte in diesen ein ungemein hebendes Selbstgef u¨ hl [. . . ]“. 45 Das gr¨oßte Lob fu¨ r einen Philosophen spricht sich hier aus – das Lob zur Einheit von Reflexion und Leben, von Theorie und Praxis gekommen zu sein. 45

J. G.A.Wirth, Denkw¨urdigkeiten aus meinem Leben. Emmishofen 1844, 24; zit. nach Nicolin 1970, 115f.Vgl. dazu auch die Schilderungen bei Rosenkranz 1977, 250f.: „Die Abiturienten ließ er zu sich kommen, um ihnen privatim den Ernst ihres Schrittes an’s Herz zu legen und ihnen f u¨ r ihre F¨uhrung auf der Universit¨at Winke zu geben, die sich den Meisten bew¨ahrten.“

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Werte f u¨ r ein demokratisches Bildungswesen otfried h¨offe ¨ Uber Jahrhunderte befassten sich Ethik und Politische Philosophie auch mit der Erziehung beziehungsweise Bildung. Dass diese dort nicht mehr anzutreffen ist, folgt nicht wie bei der Ehre aus einem Bedeutungsverlust. Vielmehr hat man das Thema stillschweigend an eine andere Wissenschaft abgetreten, an die zun¨achst mit der Philosophie noch verbundene, seit l¨angerem aber von ihr „emanzipierte“ Spezialwissenschaft, die P¨adagogik. Die Frage nach der Leitaufgabe der Bildung hat aber einen normativen Anteil, so dass die Politische Ethik zust¨andig bleibt. Die Frage, welche Werte eine demokratische Gesellschaft sinnvollerweise zusammenhalten, daher von einem demokratischen Bildungswesen zu vermitteln sind, untersuchen wir in vier Teilen. Als erstes kl¨aren wir den Begriff des Wertes (I). Da eine philosophisch-deduktive Argumentation mit Skepsis, außerdem mit dem Einwand eines eurozentrischen Vorurteils zu rechnen hat, empfiehlt sich fu¨ r die substantielle Er¨orterung vielmehr ein induktiver und interkultureller Beginn. In R¨ucksicht auf den pluralistischen, sogar multikulturellen Charakter der heutigen Demokratien – in gewisser Weise leben sie sogar in mehreren Epochen, da auch Mitglieder von Nomadengesellschaften in ihnen weilen – durchwandern wie in Sieben-Meilen-Stiefeln verschiedene Epochen und Kulturen, machen bei sieben Gipfeln Halt und suchen dabei Werte auf, die sich f u¨ r ein demokratisches Bildungssystem empfehlen (II). Der durch die Geschichte erweiterte Horizont bereitet den n¨achsten Teil vor, den jetzt philosophisch-deduktiven Entwurf eines fu¨ nfdimensionalen Kosmos von Grundwerten. In ihm spielen die drei Dimensionen des zeitgen¨ossischen B¨urgers, also der Wirtschaftsb¨urger, der Staatsb¨urger und der Weltb¨urger, eine Rolle. 1 Aus den drei Dimensionen werden allerdings fu¨ nf, da einerseits beim Staatb¨urger zwei Aspekte zu unterscheiden sind, andererseits der Mensch mehr als bloß ein B¨urger ist (III). Methodisch verdankt sich der Entwurf eines Wertekosmos dem Zusammenspiel von drei Momenten. Ein Blick auf die ¨ Conditio humana verbindet sich mit genuin moralischen Uberlegungen und einem Blick auf Grundeigenschaften der heutigen Gesellschaft, also Anthro1

In diesem Kapitel b¨undelt sich ein Großteil der Ansichten und Argumente der 2004 erschienenen Studie, auf die auch der vorliegende Beitrag zurückgreift (bes. H¨offe 2004, 133–144).

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pologie plus Ethik plus Sach- und Zeitdiagnose. Der k¨urzere vierte Teil bezieht schließlich den Wertekosmos auf das demokratische Bildungswesen (IV).

I Grundwerte Die klassische philosophische Ethik beziehungsweise Moralphilosophie kennt den Ausdruck „Wert“ nicht. Sie spricht lieber von Gut (agathon, bonum), von Tugend (aret¯ e, virtus) und von Pflicht (kath¯ ekon, officium). Die Tugend, des n¨aheren die moralische Tugend, stellt das Ideal der Erziehung und Selbsterziehung zu einer menschlich vortrefflichen Pers¨onlichkeit dar.Und die moralische Pflicht bezeichnet das Gebotene im Blick auf ein unbedingtes moralisches Gesetz. Der Ausdruck „Wert“ stammt dagegen aus der Wirtschaftstheorie. Wo ihn die Ethik u¨ bernimmt, meint sie aber nicht etwas, das sich quantifizieren, deshalb sowohl intrapersonal als auch interpersonell vergleichen l¨asst. Keines¨ wegs erliegt die Ethik u¨ ber den Ausdruck des Wertes einer Okonomisierung. Der Ausdruck bedeutet bei ihr vielmehr einen Orientierungsstand oder eine Leitvorstellung, an der man sein Handeln ausrichtet, im Fall der deskriptiven Ethik de facto, im Fall der normativen Ethik zu Recht. L¨asst man die Konventionen beiseite: Tischsitten, Anredeformen und weitere Manieren, 2 so lassen sich im weiten Feld der Werte drei Hauptgruppen und zugleich Rangstufen unterscheiden. Die erste Stufe der instrumentalen beziehungsweise funktionalen Werte gilt nur unter Voraussetzung einer gewissen Absicht. Wer etwa reich werden will, braucht weit mehr Einnahmen als Ausgaben. Nicht identisch, aber damit verwandt ist die Tugend der Sparsamkeit. Andere funktionale Werte beziehungsweise Tugenden sind Konzentration und P¨unktlichkeit, Ordnungsliebe, Folgsamkeit und Fleiß. Wie der Ausdruck sagt, sind funktionale Werte nicht in sich gut; es kommt alles darauf an, wofu¨ r sie eingesetzt werden. Die zweite Stufe der pragmatischen Werte steht im Dienst des pragmati¨ schen Leitwertes, der minimal im „Uberleben“, optimal aber im „Gl¨uck“ oder „Wohlergehen“ besteht. Individualpragmatische Werte wie Besonnenheit dienen dem langfristigen Wohl eines Individuums, sozialpragmatische Werte wie die Rechtssicherheit dem Wohl eines Gemeinwesens, dem Gemeinwohl. Erst die dritte Stufe, die moralischen Werte, fordern zu Handlungen auf, die nicht wegen etwas anderem, sondern fu¨ r sich selbst gut und richtig sind. Als Grundlage aller anderen Werte haben sie den Rang moralischer Grundwerte. In der Regel nicht an Sonderbedingungen eines bestimmten Gemeinwesens gebunden,zeichnen sie sich durch allgemeinmenschliche G¨ultigkeit aus.Innerhalb der Moral kann man noch drei Modalit¨aten beziehungsweise Teilstufen unterscheiden: Verbote, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, etwa wie Verbote von Betrug, Diebstahl und Mord, entsprechend geschuldete 2

Zur vergn¨uglichen Belehrung: Asserate 2003.

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Gebote wie die Anerkennung von Eigentum und Leib und Leben, schließlich verdienstliche Mehrleistungen wie Mitleid und Wohlt¨atigkeit. Da die rangniederen Werte die Neigung haben, sich als h¨oherrangige Werte auszugeben, droht eine Verschiebungsgefahr. Bei aller Wertsch¨atzung etwa von Folgsamkeit und Fleiß oder von Effizienz darf man diese nicht auf die Stufe der Gerechtigkeit stellen.Nur wer sich den funktionalen Werten nicht sklavisch unterwirft, freilich auch nicht im Namen der Grundwerte die funktionalen Werte verachtet, wer statt dessen u¨ ber eine kritische Urteils- und Handlungsf¨ahigkeit verfu¨ gt, ist zu einem sinnerf u¨ llten und gegen seine Mitmenschen verantwortungsvollen Leben f¨ahig. Aus den Grundwerten lassen sich spezifische, mittlere Werte gewinnen, die von den jeweiligen Gesellschaftsverh¨altnissen und Handlungsoptionen, auch von wechselnden Bed¨urfnissen und Interessen abh¨angen, daher verschieden ausfallen und trotzdem nicht gegen gemeinsame Grundwerte sprechen. Auf der Grundebene gibt es sowohl empirisch als auch normativ gesehen fu¨ r die gesamte Menschheit, auf der mittleren Ebene teils f u¨ r Kulturen und Epochen, teils fu¨ r einzelne Gemeinwesen geteilte Werte. Wer dagegen die Differenz von Grundwerten und mittleren Werten u¨ bersieht, erliegt einem ethischen Relativismus, der gemeinsame Verbindlichkeiten zun¨achst empirisch, oft aber auch normativ bezweifelt. 3

II Ein Blick in die Weltgeschichte Die Frage,welche Werte eine Gesellschaft zusammenhalten,bewegt die Menschheit seit ihrer Fr¨uhzeit: Einen deutlichen Beleg bietet die lange Zeit vor der Philosophie, unser erster Gipfel: der Mythos. Um das u¨ berragende Gewicht der entscheidenden Werte sinnf¨allig zu machen, personifiziert der Mythos sie zu G¨ottern. Aufgekl¨arte Ohren halten den Mythos f u¨ r vorrational, folglich f u¨ r obsolet; eine aufgekl¨arte Aufkl¨arung sieht dagegen den sachlichen Kern, der bis heute u¨ berzeugt. In s¨akularer Sprache bedeutet die g¨ottliche Gestalt, dass die entsprechenden Werte sich durch eine u¨ berpositive, der Willk¨ur des Menschen entzogene G¨ultigkeit auszeichnen. Nach Ansicht der Griechen zeugt die h¨ochste Autorit¨at, Zeus, mit dem Gegengewicht von Macht, der G¨ottin von Sitte und Ordnung, Themis, drei T¨ochter, die Horen. Die erste, Dik¯ e, sorgt f u¨ r Sitte, Recht und (gerechte) Rechtssprechung, die zweite, Eir¯ en¯ e, fu¨ r einen Frieden, der das wirtschaftliche und kulturelle Wohlergehen einschließt; Eumonia schließlich bem¨uht sich sowohl um gute Gesetze als auch um deren pers¨onliche Anerkennung durch den Rechtssinn. Drei Momente dieses Mythos weisen u¨ ber seinen vormodernen und vordemokratischen Kontext weit hinaus: 1.Mit Dik¯ e und Eumonia zweifach vertreten, bildet der Inbegriff zwangsbefugter Regeln, das Recht, den u¨ berragenden Wert. 3

Zur knappen Kritik: H¨offe 2002a, Artikel Relativismus.

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Eine Gesellschaft ist prim¨ar eine Rechtsgemeinschaft. 2. Die doppelte Gestalt, in der das Recht auftritt, ist auch f u¨ r andere Werte zu erwarten. Als personaler Wert, als Rechtssinn, zeichnet das Recht Personen aus, als ein institutioneller Wert dagegen, als Rechtsordnung, die Institutionen, insbesondere die Institution zweiter Stufe, das Gemeinwesen. 3. Gem¨aß der mittleren G¨ottin Eir¯ en¯ e ist die Gesellschaft eine Kooperationsgemeinschaft, die das wirtschaftliche und kulturelle, heute auch das wissenschaftlich-technische Wohl sucht. Ein Zeitalter der Globalisierung entnimmt seine Werte nicht einer partikularen Kultur. Im Gegensatz zu dem oft bef u¨ rchteten Euro-, noch eher Americozentrismus l¨asst es sich auf eine die Kulturen teils vermittelnde, teils sie u¨ berpr¨ufende Rechtfertigung, also auf einen interkulturellen und transkulturellen Diskurs ein. 4 Seinetwegen wandern wir in die Ferne und werfen – ¨ zweiter Gipfel – einen Blick nach Indien und China, ins Alte Agypten und nach Alt-Israel. Im Vor¨ubergehen, auf dem Weg nach Indien und China, nehmen wir ein Gesetzbuch aus dem Alten Orient wahr, den Kodex Hammurapi, in dem wir die drei altgriechischen Werte wieder finden, hier als Recht, als Gerechtigkeit und als Sorge f u¨ r das Wohlergehen des Menschen. 5 In Indien und China selbst gehen wir einen sachlichen Schritt weiter und suchen einen Kern allen Rechts auf, der, allen kulturellen Unterschieden entzogen, zwischen den Kulturen unstrittig g¨ultig ist. Er findet sich im Grundsatz der Wechselseitigkeit, der Goldenen Regel. Im indischen Nationalepos Mahabharata (6. Jh. v. Chr.) lesen wir: „Was ein Mensch sich nicht von anderen angetan w¨unscht, das fu¨ ge er auch nicht anderen zu.“ 6 Etwa zur selben Zeit lehrt Konfuzius: „Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zuf u¨ gen.“ 7 Zwei Jahrhunderte sp¨ater heißt es in einem a¨ gyptischen Weisheitsbuch: „Tue niemandem etwas B¨oses an, / um nicht heraufzubeschw¨oren, dass ein anderer es dir antue.“ 8 Und das Neue Testament best¨atigt: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ 9 ¨ Israel k¨onnte von Agypten abh¨angen, Indien und China tun es zweifellos nicht. Damit zeichnet sich ein St¨uck interkultureller, sogar globaler Wertegemeinschaft ab: Schon weit vordemokratische Gesellschaften achten auf den Wert der Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit; die Goldene Regel geh¨ort zum gemeinsamen Erbe der Menschheit. Gemeinsam ist zwar zun¨achst nur die moralische Forderung („Behandle alle . . .“), w¨ahrend in der pers¨onlichen und sozialen, sogar der rechtlichen Praxis vielerorts sogar strenge Hierarchien als auch zum Teil eklatante Privilegierungen und Diskriminierungen vorherr¨ schen. Uberdies kann sich die Binnenmoral von der nach außen gepflegten Mo4 5 6 7 8 9

Vgl. H¨offe 1996, Kapitel 1, und H¨offe 1999. F¨ur Belege s. H¨offe 2002b, Nr. 14. Ebd., Nr. 27. Ebd., Nr. 30. Ebd., Nr. 8. Mt 7, 12.

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ral stark unterscheiden; noch heute werden Außenstehende, so genannte Minderheiten, oft signifikant benachteiligt. Trotzdem erkennen die verschiedenen Kulturen eine basale Gleichheit und Gleichberechtigung an, denn ausf u¨ hrlich lautet die Goldene Regel: Ob Mann oder Frau, arm oder reich, m¨achtig oder schwach – behandele alle Menschen gleich, und zwar so, wie auch du von ihnen behandelt sein m¨ochtest. Noch ein weiterer Wert, sogar Komplex von Werten findet sich in den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen: Mitleid, Hilfsbereitschaft und Wohlwol¨ len beziehungsweise N¨achstenliebe. In den Weisheitsb¨uchern Agyptens lesen wir (was unsere Lesart bekr¨aftigt, dass die Goldene Regel sich u¨ ber alle sozialen Unterschiede hinweg schlicht auf die Beziehung von Mensch zu Mensch richtet): „Hilf jedermann. / Befreie einen, wenn du ihn in Banden findest; / sei ein Besch¨utzer des Elenden.“ 10 Ein altbabylonischer Text greift sogar der Bergpredigt vor: „Dem, der dir B¨oses antut, vergilt mit Gutem! / Dem, der dir u¨ bel will, halte die Gerechtigkeit entgegen! Deinem Feind begegne dein Sinn strahlend (freundlich).“ 11 Das Mahabharata fordert: „An der u¨ berm¨aßigen F¨ulle soll man andere, die nichts besitzen, teilnehmen lassen.“ 12 Einer der Klassiker ¨ der chinesischen Philosophie, Mo zi, erkl¨art: „Alles Elend, Ubergriffe, Unzufriedenheit und Hass in der Welt haben ihren Ursprung in dem Mangel an gegenseitiger Liebe.“ 13 Und in der zweiten Sure des Koran heißt es: „Nicht besteht die Fr¨ommigkeit darin, dass ihr eure Angesichter gen Westen oder Osten kehret; vielmehr ist fromm, [. . . ] wer sein Geld aus Liebe zu ihm [Allah] ausgibt f u¨ r seine Angeh¨origen und Weisen und die Armen und den Sohn des Weges und die Bettler und die Gefangenen.“ 14 Von den Kirchenv¨atern der abendl¨andischen Philosophie greifen wir nur einen heraus, dritter Gipfel: Aristoteles. Dieser bekr¨aftigt die bisher gefundenen Werte, steigert ihren Gehalt und ver¨andert die Rangfolge. In der Einleitung zur Politik (I 2) hebt er fu¨ r die Konstitution der Polis zwei Faktoren, die Kooperation zu gegenseitigem Vorteil, mithin Wechselseitigkeit, und die Gemeinschaft von Recht und Unrecht (dikaion kai adikon) hervor. Der Hinweis, das Recht (dik¯ e) bilde die Ordnung (taxis), also Grammatik des Gemeinwesens, best¨atigt das herausragende Gewicht dieses Wertes. Die Nikomachische Ethik widmet von allen Tugenden allein der Gerechtigkeit (dikaiosyn¯ e) ein ganzes Buch, Buch V. Zudem wird ihr Gehalt von einer bloßen Befolgung des Rechts, einem schlichten Rechtssinn, zu einer freien Anerkennung um des Gerechten selbst willen gesteigert, womit Aristoteles, auf die Rechtspflichten bezogen, Kants Begriff der Moralit¨at nahe kommt. 10 11 12 13 14

H¨offe 2002b, Nr. 5. Ebd., Nr. 16. Ebd., Nr. 27. Ebd., Nr. 31. Ebd., Nr. 39.

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Aristoteles’ weitere Neuerung besteht in einer zur Gerechtigkeit korrektiven Tugend, der Billigkeit. In jenen Sonderf¨allen, in denen die Anwendung eines allgemeinen Gesetzes zu offensichtlich nicht gerechten Ergebnissen f u¨ hrt, fordert sie, vom Buchstaben des geltenden Rechts abzuweichen und den außergew¨ohnlichen Umst¨anden Rechnung zu tragen. W¨ahrend alle Kulturen Recht und Gerechtigkeit hoch sch¨atzen, spricht erstaunlicherweise der u¨ berragende Rechts- und Gerechtigkeitsphilosoph Aristoteles einem anderen Wert noch gr¨oßeres Gewicht zu, das u¨ brigens von Epikur und der Stoa u¨ ber das Mittelalter bis in die Neuzeit von vielen Denkern u¨ bernommen wird; es ist die Freundschaft (philia). Auch andernorts, etwa im indischen Mahabharata 15 wird die Freundschaft hoch gesch¨atzt. Aristoteles denkt keineswegs bloß an die romantische Seelenfreundschaft, vielmehr an alle Formen pers¨onlicher Beziehungen, sowohl an Jugendfreundschaft, Kameradschaft und Gastfreundschaft als auch an Reisebekanntschaften, Gesch¨aftsbeziehungen und das Vereinsleben, ferner an die Zugeh¨origkeit zu Familie und Nachbarschaft. Die Kr¨onung bildet freilich die Freundschaft, die man weder um des Nutzens noch der Lust, sondern um des Guten willen pflegt. Das gegen¨uber der Gerechtigkeit noch gr¨oßere Gewicht der Freundschaft erlaubt nicht etwa,in ihrem Namen „ein Auge zuzudr¨ucken“ und eine Freundesund Vetternwirtschaft zu betreiben. Das Recht bleibt die Grammatik des Sozialen und die Gerechtigkeit samt Billigkeit deren personale Entsprechung. Wie die Grammatik aber noch keine lebendige Sprache schafft, so braucht ein Gemeinwesen zus¨atzlich zu Recht und Gerechtigkeit, dass man sich einander nicht fremd, sondern Freund ist. Wo Freundschaft herrscht, kommt es weniger zu Streit und Gewalt oder gar zu B¨urgerkriegen; stattdessen pflegt man gr¨oßere Sorge fu¨ reinander. Die Freundschaft vertreibt nicht bloß die gr¨oßte Bedrohung eines Gemeinwesens, die Zwietracht (stasis), sondern stiftet als einen positiven Wert die Eintracht (homonoia). Der große politische Philosoph der Neuzeit, unser vierter Gipfel, Thomas Hobbes, betont zun¨achst einmal drei Faktoren, die das Gegenteil, den Krieg, hervorbringen: die Konkurrenz um knappe G¨uter, das Misstrauen in die Friedensbereitschaft der anderen und die Ruhmsucht, etwas formaler gesagt: den Kampf um gegenseitige Anerkennung. Trotzdem macht der „¨ubliche Hobbes“, der Krieg-aller-gegen-alle-Hobbes, nur die eine H¨alfte aus. Denn der dreidimensionalen Konfliktnatur steht eine ebenfalls dreidimensionale Friedensnatur gegen¨uber: die Angst vor einem gewaltsamen Tod, das Verlangen nach einem angenehmen Leben und die Hoffnung, die daf u¨ r erforderlichen Dinge durch Fleiß zu erreichen (Leviathan, Kapitel 13). Der Friede bleibt also ein u¨ berragender Wert; nur zu seiner Sicherung, also friedensfunktional, f u¨ hrt Hobbes den Wert des Rechts und subsidi¨ar die zwangsbefugte Staatsmacht ein. 15

Ebd., Nr. 26.

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Auf dem H¨ohe- und zugleich Wendepunkt der europ¨aischen Aufkl¨arung, unserem fu¨ nften Gipfel: Immanuel Kant, lernen wir drei Kernelemente moderner Gemeinwesen kennen. Erstens geb¨uhrt dem Recht der absolute Vorrang vor allen anderen Werten.Vorausgesetzt ist allerdings zweitens, dass das Recht sich einem normativen, moralischen Kriterium, der Gerechtigkeit, unterwirft. Ihr wiederum liegt als dritter Wert eine gesteigerte Form von Wechselseitigkeit und Gleichheit zu Grunde, der absolute Wert jedes einzelnen Menschen, der auch Menschenw¨urde genannt wird. Ihretwegen erh¨alt die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ein Recht, gibt ihren bisherigen Vorrang aber an die Frage ab, wie die Gesellschaft den Wert des Einzelnen sch¨utzt. Dazu kommt viertens, dass diese Werte nicht nur innerhalb von Staaten, sondern auch zwischen ihnen gelten, weshalb es einer globalen Rechts- und Friedensordnung bedarf. Kants Antwort auf die wichtiger gewordene Frage ist so u¨ berzeugend, dass der bedeutendste Gerechtigkeitstheoretiker der letzten Jahrzehnte, John Rawls, sie im Wesentlichen u¨ bernimmt. Sie besteht im Prinzip der allgemeinvertr¨aglichen Freiheit: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willk¨ur [sprich: Handlungsfreiheit] des einen mit der Willk¨ur des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Kant, Rechtslehre, § B). Weil auf diese Freiheit jeder Mensch einen unaufgebbaren Anspruch hat, verbindet sie sich mit der Befugnis zu zwingen und rechtfertigt, freilich erst u¨ ber einige Zusatzargumente, das Rechtsinstitut der staatlichen Kriminalstrafe. Bei der zu ihr geh¨orenden Liste von Delikten st¨oßt man u¨ brigens auf einen erstaunlichen Befund: Setzt man einmal die Feinbestimmungen beiseite,so findet man seit mehr als dreieinhalb Jahrtausenden, seit dem Kodex Hammurapi, weitgehend dieselben Rechtsg¨uter gesch¨utzt. Von T¨otungs-, Eigentums- und Ehrdelikten u¨ ber das Verbot an Maß-, Gewichts- und Urkunden(ver)f¨alschung bis zu Umweltdelikten erweist sich das Strafrecht zu einem bemerkenswert großen Teil als gemeinsames Erbe der Menschheit. Das Thema, das der Rechtsethiker Kant zur¨uckstuft, greift hundert Jahre sp¨ater der Gesellschaftstheoretiker Emile Durkheim auf, weshalb wir die einschl¨agige „Studie u¨ ber die Organisation h¨oherer Gesellschaften“ (De la division de travail social,1893),als sechsten Gipfel betrachten.Durkheim konstatiert hier zweierlei.Auf der sozialen Seite erkl¨art er die Solidarit¨at zu dem fu¨ r den Zusammenhalt einer Gesellschaft entscheidenden Wert. Auf der pers¨onlichen Seite stellt er dagegen eine zunehmende Individualisierung fest, die aber im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Pessimismus keineswegs jede Bindung untergrabe. Mit der Individualisierung gehe n¨amlich eine Teilung der gesellschaftlichen Arbeit einher, die eine immer dichtere Kooperation und funktionale Abh¨angigkeit mit dem Bewusstwerden der unverzichtbaren Einmaligkeit der Individualit¨at verbinde. Dabei wandle sich die urspr¨ungliche Gestalt, die „organische Solidarit¨at“ der einfachen Gesellschaften mit ihrer u¨ berschaubaren

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Lebenswelt, zu einer „mechanischen Solidarit¨at“. Diese entspricht nicht der ¨ von Aristoteles betonten Freundschaft, auch nicht modernen Aquivalenten, etwa dem dritten Prinzip der Franz¨osischen Revolution, der Br¨uderlichkeit, sondern dem Recht. Namentlich die (Straf-)Gerechtigkeit diene der Abschreckung abweichenden Verhaltens und ziehe im Fall der Verletzung quasi-mechanisch die Vergeltung, die Strafe, nach sich. Auf diese Weise behalten auch f u¨ r die Soziologie das Recht und die Gerechtigkeit ihren u¨ berragenden Rang. Auf dem siebenten und letzten Gipfel, einem Doppelgipfel, bekr¨aftigt John Rawls den Vorrang des moralischen Rechtsbegriffs, wenn er die entsprechende, nicht personale, sondern soziale Gerechtigkeit zur ersten Tugend der Gesellschaft erkl¨art. Im Unterschied zu Kant und Durkheim spielt er aber das Gewicht von Zwangsbefugnis und Strafe herunter und vertraut die Stabilit¨at einer (wohlgeordneten) Gesellschaft dem Gerechtigkeitssinn an, womit er mehr mit Aristoteles als mit Kant u¨ bereinstimmt: Haupts¨achlich baue eine Gesellschaft auf der Freundschaft und dem Vertrauen der B¨urger auf, ferner auf dem Wissen um gemeinsame Gerechtigkeitsgrunds¨atze und der zum Pers¨onlichkeitsmerkmal gewordenen Haltung,entsprechend zu leben. 16 Rawls’ sozialethischer Gegenspieler, der Kommunitarismus, betont dagegen den Wert kultureller Besonderheiten. Weil ohne sie und das darauf aufbauende Gefu¨ hl der Zugeh¨origkeit, das Wir-Gefu¨ hl, keine Gesellschaft die f u¨ r den Zusammenhalt notwendigen moralischen Ressourcen zu erneuern verm¨oge, brauche es u¨ berschaubare, auf gemeinsame Werte verpflichtete Einheiten. Nur in ihnen, nicht in anonymen, (¨uber-)pluralistischen Gesellschaften und am wenigsten in einer Weltgesellschaft sei ein solidarisches Zusammenleben m¨oglich.

III Werte liberaler Demokratien F¨ur liberale Demokratien dr¨angen sich f u¨ nf Dimensionen von Werten auf, die allesamt im Blick in die Geschichte schon aufgetaucht sind. Ohne Anspruch auf Vollst¨andigkeit skizzieren wir sie exemplarisch. Weil es auf die Bildung ankommt, heben wir vor allem auf die grundlegende Schicht, die Grundwerte, ab. Bei der ersten Dimension ist von den einleitend genannten drei methodischen Elementen, Anthropologie plus Ethik plus Zeitdiagnose, zun¨achst das erste Moment wichtig: Auch liberale Demokratien sind Gesellschaften, deren Mitglieder wie alle Menschen zun¨achst einmal u¨ berleben, u¨ berdies angenehm und sicher leben wollen; die erforderlichen G¨uter und Dienstleistungen fliegen ihnen aber nicht wie im Schlaraffenland die gebratenen Tauben fertig zu. Selbst dort, wo die erforderliche Arbeit nicht im sprichw¨ortlichen „Schweiße unseres Angesichts“ geschieht, erfolgt sie im Gegensatz zu einer „angeborenen“ Tr¨agheit, u¨ berdies angesichts knapper Ressourcen und in Konkurrenz mit anderen. Die entsprechende Wirtschafts- und Arbeitswelt begr¨undet daher die 16

Rawls 1971, §§ 69–77 und 88.

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erste, auch fu¨ r Demokratien unverzichtbare o¨ konomische Dimension von Werten. Hierhin geh¨oren Arbeitswille und Leistungsbereitschaft sowie vor allem heute – hier kommt ein zeitdiagnostisches Moment herein – funktional dazu P¨unktlichkeit, Ordnungsliebe und Fleiß, in der hoch arbeitsteiligen, zugleich hoch spezialisierten Arbeitswelt ein großes Maß an Kooperationsf¨ahigkeit, Sensibilit¨at und Kreativit¨at und vorab die Bereitschaft, eine (auf dem Arbeitsmarkt chancenreiche) Berufskompetenz sowohl zu erwerben als auch immer wieder fortzubilden. Nach einer pessimistischen Ansicht wird die moderne Gesellschaft „allein durch die sachlichen Voraussetzungen f u¨ r die Industriegesellschaft zusammengehalten: Leistung, technischer Fortschritt, optimale Rationalit¨at und h¨ochster Grad an Produktivit¨at“. 17 In Wahrheit ist schon das Spektrum der o¨ konomiefunktionalen Werte weit gr¨oßer. In dem durchaus kritischen Roman u¨ ber die globalisierte Wirtschaftswelt „Wenn wir sterben“ l¨asst Ernst-Wilhelm H¨andler das fu¨ r ein Joint-venture genannte „Raster mit w¨unschenswerten Eigenschaften“ nicht etwa mit einer Ellbogenmentalit¨at beginnen. Er nennt vielmehr „Lernbereitschaft, Konflikt- und Konsensf¨ahigkeit, innovatives Denken, kooperative F¨uhrungsf¨ahigkeit“ und erg¨anzt mit „Demut, Risikobereitschaft, Integrit¨at, Sensibilit¨at, Geduld und Neugier, außerdem noch interkultureller Kompetenz“. 18 Erkennt man zus¨atzlich den Wert der Gleichheit an, damit nicht Trittbrettfahrer des Wirtschaftens nur die anderen arbeiten lassen, so erh¨alt schon die erste, o¨ konomische Dimension einen Gerechtigkeitsrang. Und formal verstanden, als haush¨alterischer Umgang mit jeder Art von Ressourcen, ist das Wirtschaften u¨ berall gefragt, nicht zuletzt beim Umgang mit den eigenen Mitteln und Kr¨aften, womit es zus¨atzlich in die dritte Dimension hineinreicht. Zweite Dimension: Solange Menschen denselben Lebensraum miteinander teilen, sich dabei wechselseitig beeinflussen und dabei mangels verbindlicher Werte bloß dem eigenen Gut- und Rechtd¨unken folgen,also erneut rein anthropologischen Gr¨unden,sind weder Individuen oder Gruppen noch ganze V¨olker von Konflikten untereinander und Gewalttaten gegeneinander sicher. Weder Leib und Leben noch Hab und Gut, u¨ berhaupt kein Freiraum pers¨onlicher Lebensf u¨ hrung ist letztlich gesch¨utzt. Da ein solcher Zustand dem Selbstinteresse jedes Menschen widerspricht, erkennen alle Gesellschaften eine zweite, politisch-soziale Wertdimension an.Auch die wert- und normenpluralistischen, deshalb angeblich orientierungs- und legitimationsschwachen Demokratien brauchen Verbindlichkeiten, die den Frieden und die Gerechtigkeit sichern. Die Grundvoraussetzung besteht in einer politischen Ordnung, die – so das Moment der Ethik – die tendenziell unbegrenzte Willk¨ur aller Menschen einschr¨ankt und ihnen zugleich ein Recht auf Leben und einen Freiraum 17 18

D¨onhoff 1996, 43. H¨andler 2002, 395.

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pers¨onlichen Handelns garantiert. An die Stelle willk¨urlicher Konfliktl¨osung tritt ein Rechts- und Verfassungsstaat, der auf der wechselseitigen Anerkennung der Menschen als Personen gleicher W¨urde, folglich auf den Menschenrechten als den Prinzipien von Recht und politischer Gerechtigkeit gr¨undet. ¨ Uber die personale Entsprechung, die Gerechtigkeit als Tugend, verf u¨ gt, wer trotz gr¨oßerer Macht und Intelligenz andere nicht zu u¨ bervorteilen sucht und sein Tun – etwa als Gesetzgeber, Richter, Eltern, Lehrer, Mitb¨urger – auch dann an der Idee der politischen Gerechtigkeit ausrichtet, wenn das Recht L¨ucken und Ermessensspielr¨aume l¨asst oder die Durchsetzung h¨ochst unwahrscheinlich ist. Und jene Gruppen erweisen sich als gerecht, die teils aus kontingenten, teils aus strukturellen Gr¨unden in der pluralistischen Gesellschaft eine ¨ Ubermacht besitzen und sie trotzdem nicht stets ausnutzen. Ein weiterer Wert beim Gelten- und Gew¨ahrenlassen, besser noch: der Achtung andersartiger Anschauungen und Handlungsweisen, der Toleranz. Aus der Einsicht, dass kein Mensch schlechthin irrtums- und vorurteilsfrei ist, vor allem aber aus Anerkennung der anderen als freie und ebenb¨urtige Personen achtet man deren Recht, die eigenen Vorstellungen zu a¨ußern und nach ihnen zu handeln – vorausgesetzt, dass sie nicht dasselbe Recht der anderen beeintr¨achtigen. 19 Dritte Dimension: Gem¨aß den Menschenrechten sind die B¨urger nicht um des Gemeinwesens willen da, sondern haben einen Eigenwert und zugleich das Recht, wie die nordamerikanische Unabh¨angigkeitserkl¨arung sagt, nach eigenem Wunsch und Willen ihr Gl¨uck zu suchen. Diesem Zweck dienen die pragmatischen beziehungsweise eud¨amonistischen Werte.Dar¨uber hinaus dienen sie der Entfaltung einer moralischen Pers¨onlichkeit. Außer dem schon genannten haush¨alterischen Umgang mit knappen Ressourcen geh¨oren hierher die Besonnenheit, die sich nicht den jeweiligen Leidenschaften, und eine Kritikf¨ahigkeit, die sich nicht den vorherrschenden Ansichten und Moden unterwirft. Wegen der meist vielf¨altigen Wahlm¨oglichkeiten bedarf es auch der F¨ahigkeit, die jeweilige Lage im Licht des langfristigen Wohls zu beurteilen, also der Klugheit. Ebenso braucht man sie, um ganz neue Optionen, etwa seitens der Biomedizin, nach Maßgabe anerkannter Gesichtspunkte wie der Menschenrechte richtig einzusch¨atzen. Noch basaler sind aber Werte wie Weltund Selbstvertrauen, Selbst- und Fremdachtung und, durchaus funktional, Kooperationsf¨ahigkeit und Sozialkompetenz. Vierte Dimension: Eine konkrete Gesellschaft lebt aus Gemeinsamkeiten, die in der Regel mit der Sprache (oder einer wohldefinierten Mehrsprachigkeit) beginnen, in der die Rechtstexte formuliert und im Parlament sowie in ¨ der Offentlichkeit debattiert werden und in deren Hintergrund eine reiche philosophische, literarische, soziale und vor allem Rechtskultur steht. Mit der Wirtschaft verdient eine Gesellschaft ihren Lebensunterhalt, mit Recht, Men19

Vgl. H¨offe 2004, 103–119.

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schenrechten und Demokratie gen¨ugt sie dem Leitwert der Gerechtigkeit. Ihren Zusammenhalt findet sie aber u¨ ber die Sprache, u¨ ber Wissenschaft und Philosophie, nicht zuletzt u¨ ber Kunst, Musik und Architektur. 20 Selbst die Freundschaft verliert in pluralistischen Großgesellschaften nicht jeden Wert, auch wenn sie legitimatorisch gesehen der Gerechtigkeit den Vorrang l¨asst. Obwohl die heutigen Demokratien kaum noch die u¨ berschaubare Gr¨oße einer griechischen Stadtrepublik haben, leben sie doch aus einer vielf¨altigen Kooperation. Von Berufskontakten und Gesch¨aftsverbindungen, u¨ ber sportliche und soziale, kulturelle und wissenschaftliche Gemeinschaften, nicht zuletzt in Verwandtschaften und Nachbarschaften wird jene „Entscheidung, miteinander zu leben“ praktiziert, in der nach Aristoteles Freundschaft besteht (Politik III 9, 1280b 36–39). Und in einer B¨urgergesellschaft, die diesen Namen verdient, treten Momente der „civic friendship“ von (staats-)b¨urgerlicher Freundschaft, auch heute deutlich zu Tage. Das Zeitalter der Globalisierung verlangt, die Sorge um das eigene Gemeinwesen um eine f u¨ nfte und letzte Dimension, um kosmopolitische oder Weltb¨urger-Werte zu erg¨anzen. Auf der politischen Seite, im Verh¨altnis der Staaten zueinander, braucht es auf lange Sicht, was den Einzelstaaten l¨angst selbstverst¨andlich geworden ist, jene Verbindung von Recht, Menschenrechten, o¨ ffentlichen Gewalten, Gewaltenteilung und Demokratie, die die liberale Demokratie ausmachen. Die entsprechende globale Rechts- und Friedensordnung besteht in einer subsidi¨aren und f¨oderalen Weltrepublik. Ihr entsprechen auf der personalen Seite Weltb¨urgerwerte, die auf Huntingtons angeblichen Zivilisationskampf antworten und keineswegs unrealistisch oder gar utopisch sind. Denn t¨aglich erleben wir eine wirtschaftliche und politische, u¨ berdies kulturelle und wissenschaftliche Verflechtung. Vor allem im elektronischen Weltnetz ist uns ein Hauch von Weltb¨urgertum schon selbstverst¨andlich geworden. Greifen wir nur einen Gesichtspunkt, einen Weltgerechtigkeitssinn, heraus. Als Staatsb¨urgerwert erfu¨ llt der Gerechtigkeitssinn drei Aufgaben: Er dient sowohl der Errichtung einer rechtsstaatlichen Demokratie als auch ihrer Fortbildung, nicht zuletzt dem Handeln innerhalb der Institutionen und Gesetze. Alle drei Aufgaben finden sich auf der globalen Ebene wieder. Die sachlich erste Stufe, ein initiatorischer Weltgerechtigkeitssinn, hilft, eine Weltrechtsordnung auf den Weg zu bringen,in der alle Menschen und alle Staaten sich wechselseitig als gleichberechtigt anerkennen. Weder d¨urfen sie andere unterdr¨ucken oder ausbeuten noch f u¨ r sich selbst Privilegien beanspruchen. Damit eine globale Rechtsordnung nicht nur von der jeweiligen Machtverteilung abh¨angt, braucht es zweitens einen legislatorischen Weltgerechtigkeitssinn. Schließlich tritt ein applikativer Weltgerechtigkeitssinn dem Unrecht und der Unterdr¨uckung in aller Welt gleichermaßen entgegen. In seiner anspruchsvollen Gestalt wird der 20

Ebd., 86–89.

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Weltgerechtigkeitssinn zu jenem Gefu¨ hl der Billigkeit gegen andere Nationen, das Johann Gottfried Herder (1744–1803) in den „Briefen zur Bef¨orderung der Humanit¨at“ verlangt (119. Brief: Werke VII, 723): dass jede Nation „sich an ¨ die Stelle jeder anderen fu¨ hle“ und „den frechen Ubertreter fremder Rechte“ ebenso „hasse“ wie „den kecken Beleidiger fremder Sitten und Meinungen, den prahlenden Aufdringer seiner eigenen Vorz¨uge an V¨olker, die diese nicht begehren.“

IV Demokratische Bildungsinstitutionen Der Kern der Bildungseinrichtungen liegt in den Schulen und Hochschulen sowie deren Verwaltung, dabei nicht nur den o¨ ffentlichen, auch den privaten Schulen und Hochschulen. Selbst f u¨ r religi¨ose Schulen wie etwa Koranschulen haben daher liberale Demokratien eine gewisse Zust¨andigkeit. Selbstverst¨andlich greifen sie nicht in die Religion selbst, zumal ihre dogmatische und spirituelle Seite, ein. Religion darf sogar die Demokratie wie die gesamte „diesseitige Welt“ relativieren, sie aber keineswegs opponieren. Stattdessen muss sie „auf dem Boden der Verfassung“ stehen und sowohl ihren Lehr¨außerungen als auch in der Art des Umgangs die Grundwerte einer liberalen Demokratie anerkennen. Wegen neuerer Gef¨ahrdungen seitens mancher Einwanderer muss man es betonen: Dazu geh¨ort die Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber nicht notwendigerweise geh¨oren auch gleiche Rechte ¨ in gottesdienstlichen und a¨ hnlichen Amtern dazu. Die Entscheidung, ob auch Frauen Rabbiner, Priester oder Koranvorbeter werden d¨urfen, liegt allein bei den Religionsgemeinschaften. Die Frage, warum Religionsgemeinschaften sich den Grundwerten einer liberalen Demokratie unterwerfen sollen, l¨asst sich mit drei Argumentationsstrategien beantworten. Die erste Strategie beruft sich auf das legitime Eigeninteresse des Gemeinwesens, auf Selbsterhaltung; auch liberale Demokratien sind auf die Anerkennung durch nachwachsende B¨urger angewiesen. Die erg¨anzende zweite Strategie betont die nicht kulturspezifische, sondern universale G¨ultigkeit der demokratischen Grundwerte. Und im Vor¨ubergehen beantwortet sie auch die Frage, warum die Erziehung von Kindern und Jugendlichen der liberalen Demokratie dienen soll. Die Antwort: Weil im Mittelpunkt der Werte liberaler Demokratie der einzelne, aber nicht der vereinzelte Mensch steht, bel¨auft sich die entsprechende Erziehung nicht auf eine Instrumentalisierung fu¨ r das Gemeinwesen, im Gegenteil dient dieses prim¨ar seinen B¨urgern. Die dritte, erneut komplement¨are Strategie erinnert an die kultur¨ubergreifende G¨ultigkeit der Goldenen Regel: Wie die religi¨osen Bildungseinrichtungen vonseiten des Gemeinwesens Religionsfreiheit und Religionssicherheit erwarten und mit ihnen nur wegen der demokratisch-liberalen Verfassung rechnen k¨onnen, so m¨ussen sie ihrerseits die Grundwerte liberaler Demokratie anerkennen. Andernfalls werden sie zu deren Trittbrettfahrern, was jeder Gerechtigkeit widerspricht.

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Nach diesen Vorbemerkungen kann man sich relativ kurz fassen: Offensichtlich sind Schulen und Hochschulen samt deren Verwaltung auf alle fu¨ nf Dimensionen von Grundwerten verpflichtet: auf die o¨ konomischen Werte, namentlich die Bereitschaft, aber auch F¨ahigkeit, den Lebensunterhalt sich selbst zu verdienen; auf die allgemeinen Werte jeder liberalen Demokratie, also Recht, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Toleranz; auf die (nicht nur) eud¨amonistischen Werte wie Besonnenheit, Selbstvertrauen und Kritikf¨ahigkeit, denn auch gute Demokratie kann mit t¨orichten B¨urgern keine klugen Entscheidungen treffen; auf die besonderen Werte der eigenen Demokratie, etwa ihre Sprache(n) und Kultur; schließlich die weltb¨urgerlichen Rechte. Die Frage, wie ein Bildungswesen diesen Verpflichtungen sachgerecht nachkomme, dabei auch mit Langeweile, Desinteresse und Entt¨auschung rechne, beantwortet die P¨adagogik. Die Ethik erinnert an eine Einsicht aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik (I 1 und X 10): Im entsprechenden Alter d¨urfen die Werte zum direkten Gegenstand werden und beispielsweise in einem EthikUnterricht oder auch einem Philosophie-Unterricht mit Schwerpunkt Ethik und Politischer Philosophie unterrichtet werden. Methodisch gesehen geh¨oren die Werte aber nicht zum Know-that, zum Wissen um Sachverhalte, sondern zum Handeln und dessen zugeh¨origer F¨ahigkeit und Bereitschaft, zum Knowhow. Deshalb d¨urfen die Werte nicht bloß verbal bleiben, sondern m¨ussen auch zu einem Pers¨onlichkeitsmerkmal werden, was voraussetzt, dass man sie ein¨ubt. Gerecht oder tolerant wird man nicht durch einen Unterricht u¨ ber Gerechtigkeit und Toleranz, sondern nur durch gerechtes und tolerantes Handeln. Auch ein Unterrichtsfach „Politische Bildung“ beziehungsweise „Gemeinschaftskunde“ begn¨ugt sich weitgehend mit dem Wissensanteil. Es macht mit der politischen Verfassung und Kultur der eigenen Demokratie vertraut. Es legt Wert auf Selbst¨andigkeit der Person und ihr Recht, im großz¨ugigen Rahmen einer konstitutionellen Demokratie eigene Wert- und Lebensmaßst¨abe zu entwickeln. Es betont die Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit und die Sozialstaatlichkeit. Es stellt die einschl¨agigen Institutionen, das Gewicht von Parteien, Verb¨anden und Medien und deren Kampf um knappe G¨uter wie Einfluss und Geld, nicht zuletzt das Gewicht von Verfahren heraus. Das Leitziel, der viel zitierte „m¨undige B¨urger“, muss aber dreierlei zu verbinden verstehen, von dem ein Unterrichtsfach prim¨ar nur den einen Teil, Kenntnisse, vermittelt, aber nur sehr begrenzt die beiden anderen Teile, die demokratische Grundhaltung und die Urteilskompetenz. Zweifellos kann die Schule das wertgem¨aße Handeln nur in Grenzen einu¨ ben. Denn die Sch¨uler bringen schon Pr¨agungen mit, u¨ brigens in der Regel einen Großteil elementarer Moral; die empirische Forschung st¨utzt die anders lautende Skepsis nicht. 21 Die Sch¨uler werden außerdem durch ihre au21

So z. B. Nunner-Winkler 1998.

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ßerschulischen Aktivit¨aten oder Passivit¨aten weiter gepr¨agt. Allf¨allige Defizite nur den Schulen anzulasten, verkennt deren vielfache Grenzen. Zu den bleibenden M¨oglichkeiten geh¨ort aber außer und vor dem kognitiven Unterricht ein bunter Strauß didaktischer Mittel wie Geschichten, H¨orspiele und Filme, wie Rollenspiele, auch der Einsatz und die vorangehende Ausbildung von Sch¨ulern zu Streitschlichtern (Mediatoren). Vor allem bei j¨ungeren Sch¨ulern ist das implizite Lernen wichtiger als das explizite, weshalb es selbst bei so „formalen“ F¨achern wie Mathematik und Physik auf die Art und Weise des Unterrichts ankommt. Wichtig sind auch die Organisations- und Machtstrukturen, das soziale Klima und das Verhalten des Lehrers zwischen den Unterrichtsstunden: Geht er mit den Sch¨ulern gerecht und fair um? Nimmt er sie ernst? Ist er sensibel und couragiert genug, um gegebenenfalls gegen das Ausgrenzen oder sogar Dem¨utigen gewisser Sch¨uler einzuschreiten? Der Unterrichtsstil und das Vorbild des Lehrers, nicht zuletzt die Art der Schulleitung und Schulverwaltung sind hier mitentscheidend. Trotz der (notwendigen) Asymmetrie von Lehrer und Sch¨uler beziehungsweise Hochschullehrer und Student k¨onnen sich Schulen und Hochschulen zu liberalen Demokratien im Kleinmaßstab entwickeln.

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

„Wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann“ Der Beitrag religi¨oser Bildung in der Postmoderne ingrid schoberth

1 Bildung als Herausforderung In einem engagierten Pl¨adoyer stellt der P¨adagoge Hartmut von Hentig die Bildung als eine der zentralen Aufgaben angesichts der mannigfaltigen Herausforderungen der Gegenwart heraus: „Die Antwort auf unsere behauptete oder tats¨achliche Orientierungslosigkeit ist Bildung – nicht Wissenschaft, nicht Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht moralische Aufr¨ustung, nicht der Ordnungsstaat.“ 1 Indem Hentig dabei dezidiert die Bildungsaufgabe von Wissenschaft und Information unterscheidet,deutet sich bereits an, dass unsere g¨angigen Reaktionen auf Globalisierung und PISA-Studie zu kurz greifen, wenn sie die Verbesserung der Ausbildung an die Stelle von Bildung setzen. Bildung hat es wesentlich damit zu tun, dass nicht nur zus¨atzlich Wissen vermittelt wird, sondern Menschen allererst bef¨ahigt werden, in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen sich selbst und andere wahrzunehmen und so erst das zu tun in der Lage sind, was erforderlich ist. „Es muss sich um das handeln, was den Menschen zu einer Person macht – einer Person, die das versteht, kann und will, wonach hier gefragt wird und was hier gesagt wird; die vor allem pr¨uft, was wir immer schon tun und nur darum fu¨ r das Gute halten; und die, was sie als notwendig erkennt, zu tun wagt.“ 2 Bildung ist notwendig, damit die sich ver¨andernde Welt ein menschliches Antlitz beh¨alt. 3 Die Wahrnehmung des anderen ist darum auch fu¨ r den Philosophen Robert Spaemann Kern der Bildungsaufgabe: „Etwas ,aufnehmen, wie es gegeben wird‘, setzt voraus, dass wir wissen: es gibt außer uns noch andere Mittelpunkte der Welt und andere Perspektiven auf sie. Andere sind nicht nur Teil meiner Welt, 1 2 3

Hentig 1999, 13. Ebd., 34. Im Auftrag des Bildungsrates f u¨ r Baden-W¨urttemberg hat Hartmut von Hentig (2004, 7) die Ausrichtung des neuen Bildungsplanes fu¨ r Baden-W¨urttemberg konkretisiert: „In den Schulen werde die Menschheitserfahrungen und die in ihnen erworbenen Maßst¨abe f u¨ r das ,gute Leben‘ weitergegeben – an den Schulen werden zugleich Instrumente f u¨ r eine noch unbestimmte Zukunft bereitgestellt. Es geht in ihnen immer um eine Balance zwischen Verantwortung und Unvoreingenommenheit, von Bewahrung und Bew¨ahrung.“

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ich bin auch Teil der ihren. Gebildet ist, wen es interessiert, wie die Welt aus anderen Augen aussieht, und wer gelernt hat, das eigene Blickfeld auf diese Weise zu erweitern.“ 4 Zu dieser Aufgabe leistet religi¨ose Bildung einen unverzichtbaren Beitrag, indem sie die Vielfalt von Wertorientierungen und Lebensentw¨urfen mit ihrer Bestimmung zur Humanit¨at konfrontiert. In theologischer Perspektive ist darin aber zugleich auch noch mehr enthalten, denn es versteht sich nicht von selbst, dass Menschen aus sich heraus wissen, „wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann“. 5 Christlicher Glaube jedenfalls stellt das in Frage und setzt gegen die Selbstgewissheit das Wissen um die Fragilit¨at der Humanit¨at sowohl in Hinsicht auf das eigene Leben wie auch in Hinsicht auf gemeinsames Leben und Handeln. Er tr¨agt zu einer, wie Micha Brumlik betont, „geregelten Auseinandersetzung u¨ ber unterschiedliche Lebensentw¨urfe“ 6 bei, indem er zugleich eigene Perspektiven in diese Auseinandersetzung einbringt und so teilnimmt wie teilgewinnen l¨asst an der notwendigen und grundlegenden Frage nach der humanen Gestalt menschlichen Lebens: Wie kann man in der Welt menschlich sein und bleiben?

Diese Praxis gemeinsamen Lebens und Handelns in und fu¨ r diese Welt ist fragil und n¨ahrt sich aus der je neuen Reflexion und Gestaltung dieser Praxis, in der vielf¨altige Bez¨uge zur Disposition stehen. Insofern spielt f u¨ r eine zureichende Erforschung der soziokulturellen Wirklichkeit und ihrer Gestaltung 4 5 6

Spaemann 2001 c, 513. Lehmann 1995, 332. Vgl. dazu Brumlik 1994, 22.

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als einer Praxis gemeinsamen Lebens die Wahrnehmung der religi¨osen Dimensionen in Bildungsprozessen eine tragende Rolle. Sowohl das Verst¨andnis der weltpolitischen Ver¨anderungen wie auch das Verst¨andnis der eigenen kulturellen Basis erfordert die kritische Erforschung der religi¨osen Gehalte, zu denen die Theologie in ihrer Ausrichtung auf die religi¨ose Gegenwartslage einen wesentlichen Beitrag liefert. Die Bedeutung christlicher Religion ist in diesem Zusammenhang nur unzureichend erfasst, wenn man diese allein auf die bloße Faktizit¨at der christlichen Pr¨agung der abendl¨andischen Kultur in der Geschichte bezieht. Denn die religi¨ose Tradition ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil unserer kulturellen Tradition, sondern auch der Gegenwart demokratischen Kultur, wie J¨urgen Habermas seit langem betont und in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eindr¨ucklich wiederholte. 7 Habermas formuliert pointiert: Er glaube nicht, „daß wir als Europ¨aer Begriffe wie Moralit¨at und Sittlichkeit, Person und Individualit¨at, Freiheit und Emanzipation – die uns vielleicht noch n¨aher am Herzen liegen als der um die kathartische Anschauung von Ideen kreisende Begriffsschatz des platonischen Ordnungsdenkens – ernstlich verstehen k¨onnen, ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens j¨udisch-christlicher Herkunft anzueignen.“ 8 Damit ist die anstehende Bildungsaufgabe benannt, die auch Folgen f u¨ r die Kontur religi¨oser Bildungsprozesse haben muss: Welche Bedingungen m¨ussen gegeben sein, um das f u¨ r die demokratische Kultur unverzichtbare semantische Potential der religi¨osen Traditionen zu erschließen? Und weiter ist mit Habermas zu fragen: Wie kann gemeinsames und demokratisch ausgerichtetes Leben funktionieren, damit „nicht noch der Rest des intersubjektiv geteilten Selbstverst¨andnisses, welches einen humanen Umgang miteinander erm¨oglicht, zerfallen soll. Jeder muss in allem, was Menschenantlitz tr¨agt, sich wiedererkennen k¨onnen.“ 9 Ist mit der Benennung ihrer kulturbildenden und fu¨ r demokratische Gesellschaften konstitutiven Bedeutung gleichsam nur die Außenseite des christlichen Glaubens benannt, so verweist sie doch auch auf sein Zentrum, dass Glaube sich in den o¨ ffentlichen Diskurs hineinbegeben kann und will und sich so im Kontext der Suche nach dem gemeinsamen und guten Leben erkennbar machen kann. Der Religionsp¨adagoge Dietrich Zilleßen bringt das pr¨agnant zum Ausdruck: „Gott sei Dank sind Gott und die Welt ineinander verwickelt.“ 10 Die Debatte um die Grundlagen unserer Kultur macht christliche Religion in o¨ ffentlicher Perspektive erkennbar; das Christentum setzt sich der Welt kritisch aus und bringt die sie tragenden Optionen kritisch in das Gespr¨ach um die Ausgestaltung sozialer Wirklichkeit ein. 7 8 9 10

Die Rede ist abgedruckt in Habermas 2001. Habermas 1988a, 23. Ebd. Zilleßen/Gerber 2001, 15.

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Dietrich Bonhoeffer hat eben dies in seinen Briefen aus der Gefangenschaft als „nicht-religi¨ose Interpretation“ der biblischen Tradition bezeichnet, was sich gerade nicht gegen Religion als gelebte Gestalt christlichen Glau¨ bens richtet, sondern gegen die religi¨ose Uberh¨ ohung der Welt, die gleichzeitig den Glauben zur individuellen Moral und Vertr¨ostung verharmlost. Gott ist aber eben kein „ ,L¨uckenb¨ußer unserer unvollkommenen Erkenntnis‘ [. . . ], den man aufmarschieren l¨asst, ,entweder zur Scheinl¨osung unl¨osbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer in Ausnutzung menschlicher Schw¨ache beziehungsweise an den menschlichen Grenzen‘.“ 11 Angesichts nicht nur religi¨oser Orientierungslosigkeit, die nur allzu oft in Fundamentalismen umschl¨agt, geht es religi¨oser Bildung um die Begegnung mit dem Gott, der nicht nur an den Grenzen des menschlichen Lebens zu finden ist. 12 Damit legt Bonhoeffer das Christentum an seinem Ort in der Welt aus und ironisiert all diejenigen Versuche, die christlichen Glauben nur an den Grenzen des Lebens f u¨ r bedeutsam erachten und ihn sonst an den Rand dr¨angen oder privatisieren. Gerade um dieser unerl¨asslichen Auseinandersetzung u¨ ber die Grundlagen von Kultur und Gesellschaft willen wird auch Religionskritik nicht nur von außen an das Christentum herangetragen; sie ist vielmehr ein genuines Moment christlichen Glaubens selbst. 13 Die missbr¨auchliche Inanspruchnahme der Religion fu¨ r bestimmte politische Zwecke ist keineswegs auf den Islam beschr¨ankt; sie ist vielmehr in letzter Zeit zunehmend auch im Christentum zu beobachten, wie sich nicht zuletzt an der „religi¨osen Rechten“ in den USA zeigt. In solchem Gebrauch kommt der Glaube zu kurz und wird zur bloßen ¨ subjektiven Uberzeugtheit und letztlich zur Ideologie, in deren Kritik das demokratische und o¨ ffentliche Interesse mit dem theologischen u¨ bereinkommt. Christliche Bildung dient in der Kritik einer politischen Religion, die auch da erscheinen kann, wo an der Oberfl¨ache keine religi¨osen Begriffe gebraucht werden, einer fundamentalen Bildungsaufgabe in einer demokratischen und pluralen Gesellschaft und leitet zugleich zur Begegnung mit der christlichen Tradition an. Der Respekt gegen¨uber anderen religi¨osen und weltanschaulichen Orientierungen ist theologisch die R¨uckseite der Erfahrung des Gottes, der menschliche Ideale und Ideologien nicht u¨ berh¨oht,sondern heilsam durchbricht. Religi¨ose Bildung in evangelischer Perspektive muss daher sowohl die Offenheit fu¨ r eine plurale Wirklichkeit ein¨uben wie auch die Einfu¨ hrung in die Tradition des biblisch begr¨undeten Glaubens, der sich einer Identifikation mit einer Weltanschauung widersetzt. Martin Hailer spricht pointiert von der Weltfremdheit des Christen, die auf spannungsvolle Weise Glauben und Welt beieinander h¨alt und doch unterscheidet: „Welt ist nicht so Heimat, wie sie uns 11 12 13

Godsey 1990, 142. Vgl. Bonhoeffer 1985, 307. Link 1999, 100: „Religionskritik also steht im Dienst der theologischen Aufgabe, der Welt die Augen fu¨ r den Weg der Wahrheit zu o¨ ffnen, der durch ihre eigene Mitte hindurchfu¨ hrt.“

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vor Augen liegt, weil ihre Zukunft und Vollendung noch aussteht. Gleichwohl ist die Weltfremdheit eines Christenmenschen nicht gleichzusetzen mit der Flucht aus ihr. Vielmehr ist die Welt als die, der die Zuneigung Gottes gilt, Ort der illusionslosen Zuwendung und so Ort des Menschen, ja Ort Gottes selbst in der Sendung des Sohnes und der Gegenwart des Heiligen Geistes.“ 14 In der Wahrnehmung der Wirklichkeit, auf die sich christlicher Glaube bezieht, in der er sich bewegt, sich o¨ ffentlich macht und doch heimatlos ist, zeigt sich die eigent¨umliche Spannung christlicher Religion, die sich im Streit um die ¨ Wirklichkeit einmischt und dabei „der Uberh¨ ohung des Faktischen als aus sich heraus gut genauso widersprechen [wird] wie dem Wahn, das Heil in der Abwendung zu suchen.“ 15

2 Religi¨ose Bildung und Gegenwartskultur Diese dem christlichen Glauben eigent¨umliche Spannung findet ihre Bew¨ahrung in der „theologische[n] Entscheidung, den Zugang zur Kirche von außen her durch einen von der Kirche selbst veranstalteten Unterricht offenzuhalten“: 16 Indem das Christentum seit Anbeginn die Notwendigkeit der religi¨osen Bildung f u¨ r das Leben des Glaubens herausgestellt hat, ist es zugleich die Ver¨ pflichtung eingegangen,sich der Offentlichkeit auszusetzen und also sich selbst mitten in der religi¨osen Gegenwartskultur zu positionieren.

Dies setzt aber zun¨achst die genaue Wahrnehmung voraus; darum ist die Arbeit der analytischen Religionsforschung f u¨ r die Theologie nicht nur unverzichtbar; hier stellt sich auch eine eminent theologische Aufgabe, die Trans14 15 16

Hailer 2005, 135. Ebd., 148. Bizer 1988, 703.

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formationen religi¨osen Sprechens und Lebens wahrzunehmen und die Ver¨ schiebungen und Ver¨anderungen in Differenz und Ubereinstimmung mit den tragenden Formen gelebten Glaubens zu diskutieren. Der Theologie kommt dabei eine besondere und auch o¨ ffentliche Rolle zu, weil die Beschreibung der religi¨osen Transformationen nicht nur im distanzierten Beschreiben von Ph¨anomenen der religi¨osen Gegenwartskultur stehen bleiben kann, sondern immer auch notwendige Unterscheidungen formulieren muss. Ist es die Eigenart des Religi¨osen, dass es keinen Menschen unbeteiligt l¨asst, weil jeder Mensch elementare Urteile und Kriterien dar¨uber braucht und hat, wie seine Welt beschaffen ist und was seinem Leben Richtung gibt, so kann es bei aller notwendigen wissenschaftlichen Distanz auch keinen wertfreien Blick auf die religi¨ose Gegenwartskultur geben. Solche Elementarunterscheidungen werden wiederum in der Theologie thematisch, so dass sie durch die Offenlegung und Diskussion der normativen Dimensionen und Entscheidungen einen hilfreichen und weiterf u¨ hrenden Beitrag zu einer sensiblen und die religi¨osen Transformationen aufsp¨urenden Wahrnehmung der Gegenwart leisten kann. In der Formulierung gemeinsam geteilter Orientierungen wie in der Wahrnehmung von differenten Entw¨urfen tr¨agt die Theologie dazu bei, sowohl die eigenen Grundlagen o¨ ffentlich erkennbar zu halten, wie auch einen kritischen Diskurs zu unterst¨utzen und lebendig zu halten, der unabdingbar ist fu¨ r eine Praxis gemeinsamen Lebens in der Welt, die ein menschliches Antlitz haben und bewahren soll. Der Religionsunterricht an o¨ ffentlichen Schulen kann darum als ein exemplarisches Bew¨ahrungsfeld des christlichen Glaubens wahrgenommen werden. Gerade die Lebenswelt der Sch¨uler ist nicht zuletzt im Feld des Religi¨osen von Transformationen gekennzeichnet. Die klassische S¨akularisierungsthese, die ein fortschreitendes Absterben von Religion in der Moderne behauptet, hat sich allerdings l¨angst als unhaltbar erwiesen; die Bez¨uge und Kontexte, in denen sich Religion bewegt, haben sich jedoch ver¨andert. Dabei sind religi¨ose Ph¨anomene, auch wenn sie sich oft als unartikuliert oder diffus zeigen, keineswegs marginal fu¨ r die Wahrnehmung der Gegenwartskultur. Gerade in der Lebenswelt der Sch¨uler finden sich zahlreiche Momente, die nicht anders als religi¨os genannt werden k¨onnen: Hier ist etwa an ihren Umgang mit Musik zu denken, in der Sch¨uler ihre eigenen Bed¨urfnisse, ihre noch undeutlichen Erfahrungen und Sehns¨uchte kommunizieren. Dabei spielen nicht nur religi¨ose Anspielungen in den Texten der Songs eine Rolle, sondern die Musik schlechthin wird zum Ausdruck einer Empfindsamkeit, die den Jugendlichen hilft, ihre Gegenwart und ihren Alltag auf etwas Neues hin zu u¨ berschreiten. Dieses Aufsp¨uren einer Wirklichkeit jenseits des Vorfindlichen und Vertrauten kann als Kennzeichen der Jugendkultur u¨ berhaupt gelten, nicht nur im Blick auf die religi¨ose Bildungs- und Erziehungsaufgabe. Darum stehen auch die religi¨osen Bildungsprozesse vorrangig vor der Aufgabe, die Entwicklung der Jugendlichen zu begleiten, indem ihnen Hilfen zur

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Ausbildung der mannigfaltigen Kompetenzen gegeben wird, die sie zur Artikulation und Kritik in fundamentalen, existenziellen und damit auch ethischen Fragen bef¨ahigen. Dass daf u¨ r die Kooperation von p¨adagogischer, ethischer und soziologischer Theoriebildung und empirischer Forschung mit der spezifischen Perspektive der Religionsp¨adagogik gefordert ist, steht außer Zweifel. In den Bildungsprozessen der Gegenwart geht es darum, auf die mannigfaltige Pr¨asenz des Religi¨osen – zu der auch problematische und kl¨arungsbed¨urftige Gestalten geh¨oren k¨onnen – zu reagieren und um angemessene Lernwege, die darauf antworten. Mit der Wahrnehmung der religi¨osen Gegenwartskultur zeigt sich der notwendige und spezifische Beitrag des Christentums in den allgemeinen Bildungsprozessen, die ich dahingehend formulieren m¨ochte, dass christlicher Glaube herausgefordert ist, die „Fenster der Transzendenz“ offen zu halten und Lernwege so einzurichten, dass nicht nur eine diffuse religi¨ose Stimmung die Lernprozesse generiert, sondern Lernwege in den Blick kommen, die den Konflikt aufsp¨uren lassen zwischen beliebigen religi¨osen Gestimmtheiten und einer kritischen Praxis religi¨osen Lernens, fu¨ r die das Christentum mit seinen gelebten Formen steht. Die „Fenster der Transzendenz“ offen zu halten heißt dann, in Konfrontation wie in Kritik sowohl tragende Orientierungen christlichen Glaubens kennenzulernen, wie auch kritisch und konfrontativ sich anderen religi¨osen Optionen zuzuwenden. Damit Kinder und Jugendliche zu eigenen Urteilen und zu neuen Orientierungen gelangen, erproben sie in religi¨osen Bildungsprozessen die Tragf¨ahigkeit von Perspektiven, die ihnen in der christlichen Tradition begegnen, die aber gleichwohl nur in der kritischen Wahrnehmung der Sch¨uler und nicht an ihnen vorbei Geltung beanspruchen k¨onnen. Diese Wege der Wahrnehmung christlicher Religion sind in der religi¨osen Bildungsaufgabe selbst begr¨undet und nicht lediglich aus der Binnenperspektive des Glaubens gefordert. Die kulturell unabdingbare Kraft christlicher Religion erweist sich gerade daran, dass sie sich nicht nur um sich selbst dreht oder nur noch u¨ ber die eigene Sache redet. 17 Vielmehr stellt sie ihre Perspektiven humanen Lebens und Handelns vor und beteiligt sich damit am o¨ ffentlichen Diskurs und schreitet humane Lebensbedingungen aus. Die Fremdheit christlicher Religion, die fu¨ r die meisten der Sch¨uler heute gegeben ist, w¨are dabei religionsp¨adagogisch gerade nicht zu u¨ berspielen, sondern ist vielmehr eine Chance des Unterrichts in christlicher Religion. Mit dem Religionsunterricht werden und sind Rahmenbedingungen geschaffen, den Sch¨ulern Kriterien zuzuarbeiten, die sie selbst bef¨ahigen k¨onnen, in der Vielfalt „postmoderner“ Optionen einen eigenen Standpunkt und ein 17

Vgl. Zilleßen/Gerber 2001, 15: „Im Gegenteil, sie kann das Unbehagen u¨ ber die mangelnde Transparenz o¨ konomischer und politischer Strategien dadurch entlasten, indem sie den ¨ ¨ Uberschuss an Fragen, Hilflosigkeit und Angsten durch Sinnangebote ihres eigenen Hauses neutralisiert.“

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eigenes Urteil im Blick auf die eigenen religi¨osen Orientierungen auszubilden. Es ist also nicht nur der besondere Auftrag des Religionsunterrichts, dass er unerl¨asslich ist fu¨ r die Ein¨ubung der Religionsfreiheit, zu der Sch¨uler angeleitet werden m¨ussen, er ist auch nicht nur der in einer Demokratie notwendige Ort, Werte und Perspektiven auszubilden, die ein demokratischer Staat sich nicht selbst geben kann. Religi¨ose Bildungsprozesse an der Schule, vor allem im Religionsunterricht, w¨aren darum missverstanden, wollte man den Religionsunterricht als Privileg der Kirchen auffassen. Inmitten der religi¨osen Gegenwartslage bieten die religi¨osen Bildungsprozesse einen Kontext an, auf den sich Sch¨uler in ihrem eigenen Urteilen und im Durchtesten von religi¨osen Perspektiven und religi¨osen Optionen beziehen k¨onnen, ohne sie insgesamt teilen zu m¨ussen. Dieses Spiel mit religi¨osen Optionen dient damit als Voraussetzung, dass Sch¨uler sich selbst bewegen lernen in Kontexten, die undurchschaubar und un¨ubersichtlich geworden sind und in denen sie sich doch zurechtfinden m¨ussen. Menschen zur Bildung bef¨ahigen muss darum auch dem Kontext Rechnung tragen, in dem sich die Sch¨uler bewegen, und darin Wege er¨offnen, sich in diesem Kontext bewegen zu lernen.

3 Individualisierung und die Unverzichtbarkeit tragender Gewissheiten Die gegenw¨artig bestimmende Diagnose der Gegenwartskultur wird in dem Leitbegriff Individualisierung gefasst, wie er vor allem von Ulrich Beck 18 vertreten und beschrieben worden ist. Mit Individualisierung werden zwei Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung wahrgenommen: 1. die „Aufl¨osung vorgegebener sozialer Lebensformen wie etwa des traditionellen Modells der Familie, der Einbindung in eine bestimmte soziale Klasse oder der Bindung an eine bestimmte Nachbarschaft. [. . . ] Mit dieser Freisetzungsdimension eng verbunden ist ein Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen [. . . ]“. 19 2. Es muss mit Individualisierung auch der gegenl¨aufige Prozess der Reintegration wahrgenommen werden, der sich darin a¨ußert, dass in dem Zuwachs an Freiheit, der durch die Aufl¨osung erm¨oglicht wird, dem Einzelnen zugleich neue Abh¨angigkeiten zugemutet werden. 20 Insofern vollzieht sich im Prozess der Reintegration eine Einschr¨ankung von beliebigen Optionen, die der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung entgegensteht. Dabei ist zu beachten, dass aus dem soziologischen Befund einer „Individualisierung“ sich nicht schon die wachsende F¨ahigkeit zur Selbstbestimmung ableiten l¨asst. Mit der Vermehrung von Wahlm¨oglichkeiten und individuellen Lebensentw¨urfen ist 18

Vgl. Beck 1986. Bedford-Strom 1999, 113. 20 Ebd. 19

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vielmehr auch die Belastung gestiegen, mit diesem Mehr an Optionen umzugehen; wenn das nicht gelingt, dann ist das Resultat nicht ein Mehr an Freiheit, sondern umgekehrt eine um so gr¨oßere Abh¨angigkeit von Strukturen, die man nicht durchschaut. 21 Das f u¨ hrt in eine paradoxe Situation, der auch die Sch¨uler ausgesetzt sind. Sie wollen ihre Individualit¨at zeigen und tun das, indem sie die Markenkleidung tragen, die gerade angesagt ist; sie wollen sich selbst ausdr¨ucken, indem sie die Events aufsuchen, in denen sie sie selbst sein wollen, und sind dabei doch Konsumenten einer Erlebnisindustrie. Weil „Individualisierung“ noch nicht Individualit¨at ist, brauchen sie Hilfe; die Bildung der Individualit¨at – gerade auch der religi¨osen Individualit¨at – erweist sich als Aufgabe und ist keine schlichte Faktizit¨at. „Individualisierung“ heißt demnach zun¨achst nur, dass die traditionellen Institutionen an Bedeutung f u¨ r die Sozialisationsvorg¨ange verlieren. Dies betrifft alle Institutionen, zu deren Sinn Bindungen geh¨oren: Gewerkschaften, Parteien, Vereine und so offenkundig auch und gerade die Kirchen. Mit dem Bedeutungsverlust der Institutionen geht einher, dass tradierte Gewissheiten und Verbindlichkeiten sich aufl¨osen. Der Bedeutungsschwund der traditionellen Verbindlichkeiten l¨asst sich verschieden deuten: Man kann hier eine Befreiung von u¨ berkommenen Beengungen sehen, man kann aber auch den Verlust an der die Individualit¨at st¨utzenden und sichernden Funktionen beklagen. Beides geh¨ort zum sozialen Prozess der „Individualisierung“, der darum ambivalent bleibt.Es sind also,wie Beck und Beck-Gernsheim pr¨agnant formulieren, „riskante Freiheiten“ 22 , die sich hier auftun. Wenn Becks These zutrifft, dass die Gegenwart durch ein Reflexivwerden der Moderne gekennzeichnet ist, dann h¨angt alles davon ab, ob es den Individuen auch gelingt, die notwendigen Reflexionsleistungen zu erbringen. Der Prozess der „Individualisierung“ bedarf der starken Individuen, und es ist durchaus offen, woher sie kommen k¨onnen. Die objektive Zunahme von Wahlm¨oglichkeiten und die subjektive F¨ahigkeit entsprechen einander nicht; es gibt Hinweise darauf, dass die Optionen nur von wenigen tats¨achlich realisiert werden. 23 Die Dialektik,die zum Begriff der Individualit¨at geh¨ort,wird deutlich,wenn man die Voraussetzungen bedenkt, die schon in der Vorstellung von einer Wahl enthalten sind. Es bedarf nicht nur der Alternativen, die ich habe, sondern auch der Maßst¨abe, mit denen ich sie bewerte. Solche Maßst¨abe sind aber nicht durch ein isoliertes Individuum herzustellen, sondern entstehen in der Einbindung in soziale Zusammenh¨ange. Wenn das Autonomieideal mittlerweile zu einer generellen Reserve gegen alle institutionelle Bindungen gef u¨ hrt hat, dann gef¨ahrdet dies letztlich paradoxerweise gerade die Individualit¨at, weil 21

Vgl. Kr¨uggeler 1996, 217. Vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994a. 23 Vgl. Pollack 1995, 114–121. 22

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alles gleich g¨ultig und damit gleichg¨ultig zu werden droht. 24 Ralf Dahrendorf hat darum auf die Bedeutung der Koordinaten hingewiesen, innerhalb derer Optionen erst Sinn ergeben. 25 Um u¨ berhaupt w¨ahlen zu k¨onnen – und nicht zuf¨allig der erstbesten Verlockung zu erliegen – braucht es Kriterien. An solchen Kriterien aber mangelt es nach Dahrendorfs Analyse. Er sieht ein zentrales Dilemma der gegenw¨artigen Kultur darin, dass sie „manchen – vor allem jungen Menschen – immer mehr Wahlm¨oglichkeiten zu offerieren scheint, ohne ihnen doch Entscheidungshilfe zu geben bei der Frage, welche Bedeutung es denn h¨atte, diese und nicht jene Option zu w¨ahlen.“ 26 Sinnvoll mit den Optionen umgehen setzt voraus, was Dahrendorf „Ligaturen“ nennt: Verbindlichkeiten und Bindungen. Im Begriff „Ligaturen“ klingen „Obligationen“,Verpflichtungen an, aber auch „Religion“: Wenn Individualit¨at diese Bindungen braucht, woher k¨onnen sie unter den gegenw¨artigen Bedingungen kommen? Mir scheint offenkundig, dass dies nicht restaurativ und r¨uckw¨artsgewandt geschehen kann. Kann es aber solche Ligaturen geben, die jenseits aller Nostalgie und jenseits aller Bevormundung Identifikationen erm¨oglichen, die tragen k¨onnen und Halt geben? Dahrendorf erinnert nicht umsonst an die Bedeutung der Religion als eines der wichtigen Systeme, die die Sinndimensionen im Leben eines Menschen tragen. F¨ur die Gegenwartskultur ist bezeichnend, dass Religion durchaus akzeptiert ist; die Nachmoderne ist keineswegs religionsfeindlich. Ihre Toleranz oder gar Sympathie f u¨ r Religion basiert freilich darauf, dass man in einer gewissen Distanz bleiben will: Man ist durchaus bereit, sich auf religi¨ose Vorstellungen und Erfahrungen einzulassen, aber doch so, dass man sich auch jederzeit wieder herausziehen kann. Diese Distanz ist aber nicht identisch mit religi¨oser Freiheit, sondern nur ein Teil von ihr. Zum Sinn von Religion geh¨oren Verbindlichkeit und Gewissheit; sie sind Voraussetzung der Ausbildung einer starken Identit¨at, die untrennbar mit Individualit¨at verbunden ist. Darum bedarf es auch postmodern der Gewissheiten, die dem eigenen Leben und den eigenen Handlungen Sinn geben. 27 Die Entm¨achtigung der etablierten Institutionen und die Distanz zu religi¨osen Bindungen bedeutet nicht, dass ihre Funktion entbehrlich w¨are: Wenn die etablierten Institutionen diese Aufgabe nicht mehr

24

Das betont Stefan Weyer-Menkhoff (2004, 300) nachdr¨ucklich: „Sobald sich das Individuum u¨ ber die Aneignung definiert, sieht sich das Individuum seinerseits allseitiger Anpassung und Vereinnahmung preisgegeben. Wo das Gegen¨uber fehlt, wird der Verbrauch wechselnder Angebote zur Identit¨at. Wettlauf wird zum unab¨anderlichen Schicksal. Wo das Gegen¨uber fehlt, wird Mode zum unentrinnbaren Zwang.“ 25 Dahrendorf 1994, 423. 26 Ebd. 27 Es w¨are ein eigenes Thema, die Gewissheiten und Verbindlichkeiten, die dem postmodernen Wahrheitsbewusstsein zu Grunde liegen, und die starken Wertungen, die hinter der scheinbaren Wertepluralit¨at liegen, zu untersuchen.

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erf u¨ llen k¨onnen, woher stammen dann die Gewissheiten und Strukturen, auf denen Identit¨at und Individualit¨at basieren?

4 Die Suche nach dem eigenen Weg in der Vielfalt der Optionen Bevor diesem Gedanken der posttraditionalen Verbindlichkeiten weiter nachgegangen werden kann, soll noch ein Blick auf die Lebenswelt der Kinder und ¨ Jugendlichen geworfen werden, wie sie auf dieses Ubermaß an Individualisierung und Freiheit zur Wahl reagieren: K¨onnen diese Optionen, die sich ihnen in der Gegenwart auftun, von ihnen u¨ berhaupt ausgesch¨opft werden?

Kindern und Jugendlichen wird im Prozess der Individualisierung etwas zugemutet, dem sie nur schwer entsprechen k¨onnen. Die g¨angige Klage u¨ ber den Egoismus und Narzissmus der Jugendlichen macht es nicht nur schwer, u¨ berhaupt Kontakt zu ihrer Welt zu finden; es verstellt auch das Verst¨andnis ihrer Situation und ihrer Probleme. Keineswegs besitzen die Jugendlichen zu viel Selbstbewusstsein, das jedoch in den Individualisierungsprozessen gefordert w¨are. In Folge dieser zunehmenden Belastung, der sie sich ausgesetzt sehen und mit der sie kaum umzugehen wissen, werden Kinder und Jugendliche fu¨ r die Gestaltung ihres Alltags weitgehend selbst verantwortlich gemacht und sollen selbst daf u¨ r sorgen, dass aus ihrem Leben ein gelingendes wird. Diese Vereinzelung und die geforderte autonome Entwicklung von eigenen Zielen und auch W¨unschen macht sie zu Taktikern, die Strategien finden m¨ussen, um

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ihr bedrohtes Selbst zu stabilisieren. 28 Vorgaben von außen, durch die Familien oder sozial selbstverst¨andlich geteilte Werte, stehen ihnen immer weniger zur Verf u¨ gung. Die immer neu auflebende Diskussion um Werte und den angeblichen oder tats¨achlichen Wertverlust zeigt das gegenw¨artig deutlich: Die Vielfalt der Angebote zwingen Erwachsene wie Kinder zu einer Wahl der Lebensperspektiven und Orientierungen, die sie nicht mehr oder nur sporadisch zu leisten in der Lage sind. 29 Und das hat Konsequenzen bis dahin, dass die Erwachsenen allenfalls in ihren Kindern das Einzige erleben, was wirklich tr¨agt, was Bestand hat. Gerade darum ist Kindheit heute in starkem Maße betont. Diese Haltung der Eltern fu¨ hrt aber die Heranwachsenden eher in Abh¨angigkeiten, als dass sie ihre Individualit¨at f¨ordert. Der Zuwachs an Freiheit und Individualit¨at wird gegenw¨artig mehr durch Scheitern als durch Erfolg erkauft. Die Forderungen, selbst¨andig zu werden, die eigenen F¨ahigkeiten einzusetzen, die eigene Freiheit zu nutzen, das Besondere der eigenen Individualit¨at zu kultivieren und kreativ mit dem eigenen Leben umzugehen, gehen an die Grenze der Leistungsf¨ahigkeit der Jugendlichen. 30 Weil gleichzeitig die psychosozialen Anforderungen an die Jugendlichen wachsen und die traditionellen Institutionen immer weniger in der Lage sind, die unerl¨assliche Stabilisierung ihrer Identit¨at zu gew¨ahrleisten, wachsen auch der Schule Aufgaben zu, die sie jedoch kaum zu erfu¨ llen in der Lage ist. Die Sch¨uler, denen Lehrerinnen und Lehrer begegnen, sind ja keineswegs ohne Weiteres erfolgreich mit ihrer Taktik. Darum erleben viele Lehrer ihre Sch¨uler gerade nicht so, dass diese stabile Strategien f u¨ r ihre Identit¨at entwickelt haben; sie zeigen sich vielmehr als Suchende, die einf u¨ hlsame, zuverl¨assige und dauerhafte Unterst¨utzung brauchen. Das aber wiederum bringt viele Lehrer in ein Dilemma: Sie sehen, dass individuelle und einfu¨ hlende Begleitung der Sch¨uler n¨otig w¨are, und doch steht institutionell die Stoffvermittlung im Vordergrund. Der Einsatz der Lehrer ist enorm hoch und muss sie zunehmend u¨ berfordern, weil diesen Anforderungen in den gegenw¨artigen Strukturen des Schulsystems nicht zureichend entsprochen werden kann. Darum ist nach den R¨aumen zu suchen, sowohl der tats¨achlichen Orientierungslosigkeit zu begegnen wie auch Lernstrategien zu entwickeln, die Kindern und Jugendlichen helfen, zu einer Person zu werden, die in ihrem lebensweltlichen Kontext zu leben lernt. 28

Vgl. Hurrelmann 1999, 7–11. Vgl. Bertram 1997. 30 Beck/Beck-Gernsheim 1994b, 12f.: „F¨ur die neuen Vorgaben dagegen muß man etwas tun, sich aktiv bem¨uhen. Hier muß man erobern, in der Konkurrenz um begrenzte Ressourcen sich durchzusetzen verstehen – und dies nicht nur einmal, sondern tagt¨aglich. Die Normalbiographie wird damit zur ,Wahlbiographie‘, zur ,reflexiven Biographie‘, zur ,Bastelbiographie‘. Das muß nicht gewollt sein, und es muß nicht gelingen. [. . . ] Die Fassaden von Wohlstand, Konsum, Glimmer t¨auschen oft dar¨uber hinweg, wie nah der Absturz schon ist.“ 29

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5 Bildung und die W¨urde der Kinder und Jugendlichen In diesem Zusammenhang erscheint der Begriff der W¨urde, die den Lernenden in religi¨osen Lernprozessen zukommt, tragf¨ahiger und weitreichender fu¨ r die Beschreibung religi¨osen Lernens zu sein als ein Identit¨atsbegriff, der theologisch unzureichend reflektierte Perspektiven in das Lerngeschehen eintr¨agt. ¨ Hier sind die Uberlegungen von Wilhelm Schmid hilfreich, der versuchen will, die Identit¨at des Subjekts nicht zu denken. 31 Er kritisiert ein vorschnelles Reden von Identit¨at, weil es schwer f¨allt, „unter den Bedingungen der postmodernen Zeit, [. . . ] die Identit¨at des Subjekts aufrechtzuerhalten“. 32 Vielmehr erscheint das Subjekt „vielfach fragmentiert“ und „verschwunden in den Strukturen moderner Herrschaftsaus¨ubung, in den Strukturen der Informationstechnologie, ausgeliefert der selbstgeschaffenen Technik, bestimmt durch die vorgefundene Sprache und die schon bestehenden Strukturen der Existenz.“ 33 Als Therapie schl¨agt Schmid vor, eine Lebenskunst zu entwickeln, in der der Einzelne inmitten der Erfahrung von vielf¨altigen Ver¨anderungen lernt, Selbstsorge zu betreiben. Mit dem Konzept der „Koh¨arenz“ betont er die Sorge um die „Integration des Anderen“, die Integration all der Erfahrungen, die den Menschen in einer Vielfalt von Bez¨ugen wahrnehmen lassen und den Einzelnen darin ¨ zugleich in seiner Sorge um sich selbst behaften. Mit diesen Uberlegungen, die den Einzelnen in der Vielfalt seiner Bez¨uge aufsucht und ihn doch auf sein Personsein anspricht, spielen die Ver¨anderungen im Lebensprozess, die mit dem Identit¨atsbegriff nicht deutlich in den Blick kommen, eine f u¨ r das Personsein entscheidende Rolle. Koh¨arenz heißt, „daß wir nicht dieselben bleiben, aber uns als uns selbst empfinden“, und sie sorgt dafu¨ r, daß auch die Br¨uche und Unsicherheiten noch ein Bezugsfeld haben und weder ins Leere laufen noch zur Ausl¨oschung f u¨ hren m¨ussen.“ 34 Damit sich diese Lebenskunst realisieren kann, ist der Einzelne an die Eckpunkte „des Verhaltens, F¨uhlens und Denkens, die die ,Pers¨onlichkeit‘ eines Individuums ausmachen“ 35 , verwiesen, die ihn in besonderer Weise auch von anderen unterscheiden: Seine Biographie, die Geschichte seines Lebens, ist nicht nur gebildet aus „Fakten und Ereignissen und Eigenschaften, sondern auch aus Tr¨aumen, Phantasien und Imaginationen“, 36 seine Beziehungen zu Anderen usw. machen das Individuum unverwechselbar und tragen ihm eine besondere W¨urde zu, auf die sich religi¨ose Bildung beziehen muss. Schmids philosophische Reaktion auf die postmodernen Bedingungen muss freilich theologisch weitergef u¨ hrt werden in der Frage, woher die F¨a31

Schmid 1996, 370–379. Ebd., 370. 33 Ebd., 370. 34 Ebd., 372. 35 Ebd. 36 Ebd., 373. 32

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¨ higkeit zur Lebenskunst kommen soll. Ist hier nicht wieder eine Uberforderung der Individuen enthalten, wenn sie nun die Last der Bew¨altigung der vielf¨altigen Erfahrungen leisten sollen und fu¨ r die Koh¨arenz des Lebens sorgen m¨ussen? Die christliche Tradition h¨alt demgegen¨uber fest, dass nicht die Menschen allein und vorrangig die Autoren ihrer Lebensgeschichte sind. Die notwendige F¨ahigkeit zur Selbstsorge, zu der religi¨ose Bildung beitragen will, bedarf der Erg¨anzung durch die Selbstvergessenheit, 37 die darauf vertraut, dass nicht ich fu¨ r das Gelingen meines Lebens einstehen kann und muss, weil die Koh¨arenz des Lebens letztlich durch Gott ins Werk gesetzt ist. Darum wurzelt die W¨urde, die das Personsein des Menschen begr¨undet, in theologischer Hinsicht in der Gesch¨opflichkeit des Menschen; sie ist grundlegend f u¨ r die Ausrichtung religi¨oser Bildungsprozesse. Michael Welker betont in diesem Zusammenhang: „Die Achtung der W¨urde des Menschen soll in der Selbstbeziehung und im zwischenmenschlichen Umgang sicherstellen, daß der Mensch in allen Außenperspektiven auf ihn nicht nur als irgendeine statistische Gr¨oße, als Mittel zum Zweck, als irgendeine agierende Instanz in Rechnung zu stellen ist, sondern als private und o¨ ffentliche Person angesehen werden muß.“ 38 Die Bildungswege entsprechen dem, wenn sie helfen, „den Entwurf, den er [der Mensch] von sich und seinem Leben hat, mit den Außenperspektiven auf sich immer neu zu vermitteln.“ 39 Die Abstimmung der eigenen Perspektiven mit den Außenperspektiven erm¨oglicht es, dass Menschen bef¨ahigt werden, ein koh¨arentes Gef u¨ hl f u¨ r sich selbst ausbilden zu k¨onnen, um inmitten der je eigenen Lebenswelt und seiner Bez¨uge ein selbstbestimmtes Individuum zu bleiben. W¨urde ist ein Moment der gesch¨opflichen Bestimmung des Menschen, die gerade darum dem Menschen niemals aberkannt werden kann. Damit die Welt menschlich sein und bleiben kann ist die Pflege, Bewahrung und Achtung dieser W¨urde geboten, die Kindern und Jugendlichen sowohl einen selbstkritischen Bezug zum eigenen Leben er¨offnet, wie auch den Mut weckt, in die Welt und im Umgang mit anderen ihre Humanit¨at einzubringen.

6 Zur Praxis religi¨oser Bildungsprozesse Wie dieser religi¨osen Aufgabe entsprochen werden kann, soll nun im Blick auf die Praxis religi¨oser Bildungsprozesse beschrieben werden. Gelingende religi¨ose Bildungsprozesse setzen die analytische Wahrnehmung von Religion und religi¨osen Transformationen voraus, indem sie die Bedingungen gegenw¨artigen Lernens in der genauen Wahrnehmung der religi¨osen Gegenwartskultur ausschreiten, nach Lernwegen suchen, die dem entsprechen und zugleich eine Ahnung f u¨ r ein Leben aus dem Glauben anbahnen. Weil auch 37

Vgl. Maurer 1995. Welker 2001, 257. 39 Ebd. 38

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unter postmodernen Bedingungen Gewissheiten unverzichtbar sind, die einen Bezugsrahmen fu¨ r Kinder und Jugendlichen er¨offnen, in dem sie sich bewegen lernen, ist es eine zentrale Aufgabe religi¨oser Bildung, zu einem verantworteten Umgang mit ihnen anzuleiten. Religi¨ose Bildung kann nicht Werte und Orientierungen setzen oder vermitteln, was auf eine Indoktrinierung hinauslaufen m¨usste. Innerhalb religi¨oser Bildungsprozesse k¨onnen die Verbindlichkeiten und Gewissheiten, die zum Sinn von Religion geh¨oren, f u¨ r die Sch¨uler nur als ein offener Diskursrahmen fungieren, der sie zu probeweisen Identifikationen ¨ einl¨adt, ohne die Uberzeugungen teilen zu m¨ussen, die sie dabei kennenlernen. In einem so angelegten, diskursiven Lernen wird darum der notwendigen bildungspolitischen Umorientierung entsprochen, „die die Furcht vor Differenz und vor polykontextuellen und multisystemischen Konstellationen verliert und zugleich die Suche nach dem einen Schalter und der einen Formel, die auf alles paßt, nicht als die ideale L¨osung f u¨ r unsere Orientierungssuche ansieht.“ 40 Wenn hier die diskursive Ann¨aherung als Charakteristikum religi¨oser Bildung betont werden soll, dann ist damit festgehalten, dass sich die Eigenart religi¨osen Lernens nicht in der intellektuellen Auseinandersetzung ersch¨opft, auch wenn das unerl¨asslich ist. Vielmehr stellt sich f u¨ r die religi¨ose Bildung immer neu die Aufgabe, dar¨uber nachzudenken, wie ein Lehren und Lernen beschaffen sein kann, das dem Glauben entspricht und Lernwege er¨offnen kann, die das Spezifikum christlicher Religion zum Tragen bringen. Dazu geh¨ort, dass die religi¨osen Bildungsprozesse der Unverf u¨ gbarkeit des Glaubens auch p¨adagogisch Rechnung tragen m¨ussen, aber auch zugleich das Eigene und Eigent¨umliche des Glaubens auch wirklich sichtbar machen sollen.Sie kann nicht ¨ durch bloße Lernstoffe ersetzen werden, die nur Ubersichtsangebote sind, weil dabei die gelebte Tradition und Praxis christlicher Religion außer Acht bliebe. Susanne Heine fordert dieses Charakteristikum fu¨ r religi¨ose Lernprozesse pointiert ein: „Wo der Stoff in erster Linie informierend weitergegeben wird, fallen alle Inhalte auf die Ebene des Faktischen zur¨uck, ganz gleich, ob es sich um Geburts- oder Sterbedaten prominenter Personen in der Geschichte, die Einteilung der S¨augetiere [. . . ] oder den christlichen Auferstehungsglauben handelt.“ 41 In solchem Informieren kommt das Eigene religi¨oser Bildung zu kurz. Diesem Eigenen des christlichen Glaubens kann man, wie vorl¨aufig auch immer, gar nicht anders begegnen als in einer eigenen, pers¨onlichen Auseinandersetzung: Sowohl indem ich mich darauf einlasse als auch in der m¨oglichen Distanzierung. Diskursive religi¨ose Bildung u¨ bt darum das Hin- und Hergehen zwischen verschiedenen Interpretationen und Kontexten ein und er¨offnet 40 41

Welker 2005, 27f. Heine 2000, 117: Susanne Heine betont in diesem Zusammenhang: „Zwischen Fakten, politischen Ideen, Theorien, die in den K¨opfen der Menschen nisten, aber auch ethischen Grunds¨atzen und Glaubensaussagen wird dann nicht mehr unterschieden, alles wird in gleicher Weise abgehandelt und angelernt.“

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Wege der Zustimmung wie der Abgrenzung, der Kritik wie der Erprobung. Es geh¨ort zur „Sache“ religi¨oser Bildung, dass sie strittig ist; anders k¨onnte christliche Religion in ihrer orientierenden und eine Praxis er¨offnenden Bedeutung gar nicht wahrgenommen werden. Diese Diskursivit¨at religi¨oser Bildungsprozesse ist grundlegende Voraussetzung fu¨ r religi¨ose Lernwege und verweist auf eine Grundbewegung, die der Bekenntnisstruktur des christlichen Glaubens eigen ist: Denn Bekenntnis ist kein festes und unkritisch zu akzeptierendes Lehrgeb¨aude, sondern verweist auf die je neue Suche nach der Wahrheit. Die Orientierung am Bekenntnis ist f u¨ r die religi¨osen Bildungsprozesse unabdingbar in dem strikt theologischen Sinn, wie ihn Hans Joachim Iwand formulierte: „daß es hier um die Wahrheit geht, daß es nicht darum geht, alte Wahrheit im neuen Gewande zu bekommen, sondern daß es darum geht, die Wahrheit zu finden: tam antiqua quam nova.“ 42 Was im Bekenntnis zur Sprache kommt, ist immer neu; darum kann man die christliche Lehre nicht anders haben als in der gemeinsamen Bewegung in einem Raum, der durch das Bekenntnis abgesteckt ist. Es ist ganz treffend, dass schon in dem Ausdruck „christliche Lehre“ beides gemeint ist: Die T¨atigkeit des Lehrens wie sein Inhalt. Iwands Bestimmung des Dogmas ist darum der entschiedene Widerspruch gegen jeden Dogmatismus: „Das Dogma macht die Bewegung mit, die der Mensch vollzieht, gerade weil das Wort Gottes diese Bewegung nicht mitmacht, gerade weil das Wort Gottes stabil bleibt, weil es die Mitte ist, auf die hin alles bezogen ist.“ 43 Iwands Unterscheidung ist f u¨ r die Wahrnehmung religi¨oser Bildungsprozesse darum bedeutsam: Die Stabilit¨at geh¨ort auf die Seite des Wortes Gottes, das verl¨asslich ist; dieser Gewissheit entspricht aber auf der Seite der Menschen die Bewegung. Mit Iwand w¨are festzuhalten, dass erst da im eigentlichen Sinn vom Dogma gesprochen werden kann, wo es in meinem Leben ankommt, wo es durch meine Individualit¨at hindurch Gestalt gewinnt, also auch durch alle Vorbehalte und Brechungen hindurchgeht. Diese Bewegung bezeichnet die Aufgabe und die M¨oglichkeit religi¨oser Bildung: Es geht darum, die eigenen Wege so buchstabieren zu lernen, dass an ihnen die Freiheit sp¨urbar wird, die von Christus her auf den Menschen zukommt. In diesem Versuch einer neuen Wahrnehmung des eigenen Lebens kann das Bekenntnis den Raum bestimmen, in dem sich religi¨ose Bildung bewegt. Das kann zweifellos nur im experimentellen Umgang sein, im Ausprobieren der neuen Perspektiven, die das Bekenntnis er¨offnet. Weil dieser experimentelle Charakter nicht nur aus den schulischen Bedingungen resultiert, sondern zum Sinn des Bekenntnisses selbst geh¨ort, negiert es nicht die religi¨ose Individualit¨at, sondern fordert sie geradezu ein. Religi¨ose Individualit¨at lebt und bildet sich im Abarbeiten an Verbindlichkeiten und Gewißheiten, die sicher zun¨achst oft als sperrig und fremd erfahren werden. 42 43

Iwand 1966, 98. Ebd., 99.

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Dem religi¨osen Bildungsauftrag ist also darin zu entsprechen, dass sich christlicher Glauben als Ligatur der Freiheit zeigt, indem Wege seiner Wahrnehmung erm¨oglicht, zur Sprache gebracht und kritisch reflektiert werden. War bisher vom Bekenntnis im Sinne der Lehre christlicher Religion die Rede, so muss nun auch seine andere Bedeutung genannt werden: der Akt des Bekennens, freilich in spezifischer, der Situation des Unterrichts entsprechenden Gestalt. Damit ist eine Dimension im Blick, die noch einmal dar¨uber hinausgeht, dass das Bekenntnis ein Fremdes sein kann, an dem sich Sch¨uler erproben. Das Bekenntnis ist aber auch mehr als Ligatur; es impliziert eine Beteiligung der Person bis hin zur personalen Identifikation. Gerade das ist f u¨ r viele anst¨oßig, besonders auch im Kontext der Schule. Sie sehen im verpflichtenden Charakter des Bekenntnisses eine unertr¨agliche Zumutung fu¨ r die religi¨ose Individualit¨at der Sch¨uler, die heute so nicht mehr aufrechterhalten werden k¨onne. Sicher kann die Schule nicht der Ort des freim¨utigen Bekennens sein; der schulische Religionsunterricht bewegt sich vielmehr in einem Raum, in dem die pers¨onliche Verbindlichkeit des Bekenntnisses nicht eingel¨ost werden kann und soll. Der personale Sinn des Bekenntnisses darf gleichwohl nicht negiert werden; ich sehe hierin eine spezifische Chance religi¨oser Bildung, wenn deutlich bleibt, dass es sich allenfalls um versuchsweise Identifikation handeln kann, die nie gezwungen ist, die Distanz ganz aufzugeben.

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Im Hin- und Hergehen in den ersten Ber¨uhrungen und Entdeckungen gelebter Religion k¨onnen erste Spuren aufgenommen und ein eigener Blick auf christliche Religion entwickelt werden. Der Respekt vor der Distanz, die viele Sch¨uler gegen¨uber christlicher Religion mitbringen, ist fu¨ r einen solchen Lernweg konstitutiv. Dieser Respekt ist nicht nur p¨adagogisch geboten, sondern auch theologisch begr¨undet, denn es geh¨ort zum Wesen des Glaubens, dass er nicht erzwungen und auch nicht methodisch vermittelt oder hergestellt werden kann. Zum Diskurs geh¨ort aber auch ein klar abgesteckter Raum, in dem allein ein sinnvolles Gespr¨ach m¨oglich wird, damit es nicht in ein beliebiges Aneinandervorbeireden zerf¨allt. Die Spannung zwischen Offenheit und Deutlichkeit ist darum fu¨ r den Unterricht in christlicher Religion konstitutiv. Steht „Diskurs“ dafu¨ r, dass sich in religi¨osen Bildungsprozessen die christliche Religion der ¨ gesellschaftlichen Situation, der „Vielfalt von Diskursen und Uberzeugungen“ aussetzt und aussetzen kann, so akzentuiert „Bekenntnis“ die Bestimmtheit und Erkennbarkeit des christlichen Glaubens: Nur wenn der Diskurs konzentriert bleibt, ist er als Diskurs u¨ ber den Glauben und als Diskurs des Glaubens kenntlich. Zugespitzt formuliert: Religi¨ose Bildung zielt darauf, dass Sch¨uler sich probeweise einlassen auf die innere Wirklichkeit christlicher Religion, dass sie christliche Perspektiven versuchshalber f u¨ r sich gelten lassen, dass sie diesen Raum aber auch wieder verlassen k¨onnen. Religi¨ose Bildung, die auf eine diskursive und damit gemeinsame kommunikative Begegnung mit christlicher Religion ausgerichtet ist, tr¨agt damit der Grundbewegung christlichen Glaubens Rechnung und kann zugleich im Diskurs den religi¨osen Gestimmtheiten der Kinder und Jugendlichen einen Ort geben. 6.1 Die „fremde“ christliche Religion in religi¨osen Bildungsprozessen Unter den reflektierten Bedingungen religi¨oser Bildung wird ein Moment entscheidend: die wenigsten der Sch¨uler sind noch in christlicher Religion beheimatet. Man k¨onnte fast formulieren, dass die christliche Religion von vielen Sch¨ulern als Fremdreligion wahrgenommen wird. Sie werden im religi¨osen Bildungsprozess auf eine Religion hin angesprochen, die ihnen nicht oder nur fragmentarisch vertraut ist. Gleichwohl liegt ebendarin auch eine Chance religi¨oser Bildung, dass Kinder und Jugendliche von außen neue Perspektiven u¨ ber die Wahrnehmung christlicher Religion zuwachsen k¨onnen, die auf einen gelebten Kontext in der Kirche verweist. Diese Außenperspektive der Sch¨uler erschwert nicht den religi¨osen Bildungsprozess, sondern liefert vielmehr fu¨ r die didaktischen Reflexionen die genaue Kontur ihrer Aufgabe, n¨amlich den Kindern und Jugendlichen Zug¨ange zu erm¨oglichen zu einer gestalteten religi¨osen Lebensform. Fremdheit im Blick auf christliche Religion ist darum der Ausgangspunkt religi¨oser Bildungsprozesse, der das Lernen christlicher Religion konturiert.

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Auch wenn den Kindern und Jugendlichen christliche Religion zun¨achst als etwas Fremdes nahe kommt, so ist damit nicht gesagt, dass sie sich noch gar nicht im Kontext religi¨oser Sinnsuche und Orientierungen bewegen. Viel¨ mehr zeigen Uberlegungen zur Theologie von Kindern, dass sie sich im religi¨osen Ausprobieren u¨ ben, ohne das schon reflexiv wahrzunehmen. In ihrem Bed¨urfnis nach Sinnvergewisserung und Vertrauensfundierung teilen sie Fragen und Perspektiven mit, deren Beantwortung grundlegend ist fu¨ r die Wahrnehmung und das Reflexivwerden eigenen Lebens. „Kinder wollen die Welt entdecken und bis an die Grenzen gehen, sie sind gleichermaßen beunruhigt und fasziniert von allem Unheimlichen, Undurchschaubaren, Numinosen.“ 44 Dieser theologischen Kompetenz der Kinder kommt gegenw¨artig vermehrt Aufmerksamkeit zu, indem im Rahmen einer Theologie f u¨ r Kinder zunehmend die Welt- und Lebensentw¨urfe der Kinder wahrgenommen und reflektiert werden. Die subjektive Aneignung von Religion, die Kinder und Jugendliche auf vielf¨altige Weise vollziehen, darf aber nicht ins Leere gehen, sondern muss den Kindern darin M¨oglichkeiten er¨offnen, in einer Vielfalt von Entw¨urfen und Perspektiven auf tragende und verl¨assliche Antworten zu stoßen, die sie unterst¨utzen und tragen k¨onnen. Inmitten der Un¨ubersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit, der die Kinder und Jugendlichen ebenso wie die Erwachsenen ausgesetzt sind, werden die Ligaturen in ihrer Relevanz deutlich, posttraditio44

Fraas 2004, 25.

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nale Verbindlichkeiten, die freilich im religi¨osen Bildungsprozess mehr sind als dass sie nur ein Orientierungswissen den Kinder und Jugendlichen zutragen. Die religi¨ose Bildung vollzieht sich darum als W¨urdigung der religi¨osen Wege der Kinder und Jugendlichen und zugleich als eine Erprobung der Perspektiven, die christliche Religion fu¨ r die Wahrnehmung des eigenen Lebens wie auch fu¨ r eine gemeinsam geteilte Praxis menschlichen Lebens er¨offnet. Denn einher mit der gesellschaftlich dominanten Ausbildung eigener Individualit¨at sind Kinder „zu Orientierungsleistungen herausgefordert, die sie ohne Unterst¨utzung kaum erbringen k¨onnen.“ 45 Damit ist die elementare Bildungsaufgabe religi¨oser Lernprozesse beschrieben: Religi¨ose Bildung ist herausgefordert, Lernwege bereit zu stellen, die Kindern christliche Religion so er¨offnen, dass sie sich darin bewegen lernen, ein kritisches Gespr¨ach mit religi¨osen Optionen und auch den religi¨osen Traditionen fu¨ hren k¨onnen, eigene Urteile dazu ausbilden und vielleicht auch eine Heimat darin finden k¨onnen. 6.2 Religi¨ose Kompetenz als Bildungsziel Mit dem neuen Bildungsplan 2004 fu¨ r das Land Baden-W¨urttemberg sucht die Schule den gegenw¨artigen Bildungsaufgaben zu entsprechen, in deren Kontext der religi¨osen Bildung eine eigene, spezifische Aufgabe zukommt. Mit der Ausbildung religi¨oser Kompetenz tr¨agt der Religionsunterricht zu einem Profil der Bildung bei, der an der Schule durch andere F¨acher nicht abgedeckt ist. Die religi¨ose Kompetenz vertieft das Bildungsgeschehen durch die Ausbildung hermeneutischer, ethischer, kommunikativer und a¨ sthetischer Kompetenzen, die im Kontext religi¨oser Bildung anvisiert werden,und profiliert religi¨oses Lernen als Teil allgemeiner Bildung. Mit diesen Kompetenzen zeigt sich das Proprium religi¨oser Bildung an der Schule, die sachbezogen darum auch Lernwege anlegen muss, die Sch¨uler in diese F¨ahigkeiten einfu¨ hren. Mit dem Begriff Kompetenz leistet die bildungstheoretische Debatte um die Ausrichtung der Bildung auch f u¨ r die religi¨ose Bildung einen entscheidenden Beitrag: denn das Besondere des Lernens christlicher Religion liegt – wie bereits betont – nicht in der Aneignung von Wissen u¨ ber Religion und auch nicht in „Gesinnungspflege“ 46 , womit die Sache christlicher Religion nur reduziert wahrgenommen w¨urde. Mit der Betonung religi¨oser Bildung als Bef¨ahigung, „die Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit wahrzunehmen und theologisch zu reflektieren, christliche Deutungen mit anderen zu vergleichen, die Wahrheitsfrage zu stellen und eine eigene Position zu vertreten sowie sich in Freiheit auf religi¨ose Ausdrucksund Sprachformen [. . . ] einzulassen und sie mitzugestalten“, 47 sind zugleich die besonderen Lernwege religi¨osen Lernens im Blick, die von seiner Sache her geboten sind. Religi¨ose Bildung, die Lernen als ein Lernen „unter dem 45

Schweitzer 2004b, 20. Hentig 2004, 12. 47 Leitgedanken zum Kompetenzerwerb fu¨ r Evangelische Religionslehre (2004), 23. 46

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Zuspruch und Anspruch Gottes“ beschreibt, kann darum nicht umhin, ihr eigenes Bildungsprofil erkennbar zu machen. Es ist weder Gesinnungspflege, die hier das Christentum in religi¨osen Bildungsprozessen betreibt, noch bloß ein Lernen, das u¨ ber christlichen Glauben informiert.Vielmehr tr¨agt er ausgehend von seiner auf das christliche Bekenntnis ausgerichteten Gestalt dazu bei zu zeigen, wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann. 6.3 Zur Mitteilungsgestalt christlicher Religion Religi¨ose Lernprozesse haben die Aufgabe, in das Ph¨anomen Religion hineinzufu¨ hren und Sch¨uler zu bef¨ahigen, sich darin bewegen zu lernen. Diese Lernprozesse gehen nicht in der Vermittlung von Wissen auf, auch wenn den Sch¨ulern an den verschiedenen Lerngegenst¨anden immer wieder neues Wissen zukommt. Das Lernen christlicher Religion w¨are damit nicht zureichend wahrgenommen. Vielmehr hat das Lernen christlicher Religion die Gestalt der Mitteilung, was dem Unterricht eine eigene Kontur verleiht. 48 Was Menschen erfahren haben, welche neue Orientierungen ihnen zugewachsen sind, indem sie im Kontext christlicher Religion leben lernen und zu leben gelernt haben, ist darum mehr als nur eine subjektive Perspektive, sondern verweist auf eine gemeinsam geteilte Praxis, die von der Geschichte Gottes und des Menschen ihre Kontur gewinnt. Dem m¨ussen die Lernwege nachgehen, wenn sie eine erprobende Einf u¨ hrung und ein Austesten von Perspektiven christlicher Religion sein sollen. 1.Religi¨ose Lernwege christlicher Religion sind darum spezifisch ausgerichtet: Lernwege sind immer anf¨angliche Lernwege, wenn sie dem entsprechen sollen, dass man christliche Religion nicht lernen kann, wie man etwa eine mathematische Formel lernt; aber sie er¨offnet sich dem, der sich auf den Glauben zu bewegt, der, wenn auch erprobend, an seinen Lebensformen partizipieren lernt. Solche anf¨anglichen Lernwege religi¨oser Bildung beziehen sich auf die Ausdrucksqualit¨aten christlicher Religion, wenn u¨ ber emotionale Zug¨ange eine Sensibilit¨at f u¨ r das Atmosph¨arische christlicher Religion er¨offnet wird. Im Empfinden von Religion geht es um die Wahrnehmung, um das Aufsp¨uren und Aufst¨obern 49 von Qualit¨aten, die „keine Eigenschaften sind, die man einem bestimmten Etwas zuschreiben kann.“ 50 Dieser ph¨anomenologische Blick, auf den Bernhard Waldenfels aufmerksam gemacht hat, bestimmt die religi¨osen Bildungsprozesse, weil sie in die Wahrnehmung von Gestimmtheiten und Atmosph¨aren einfu¨ hren, die „noch nicht auf den Gegensatz zwischen ,etwas‘ und ,jemand‘ zur¨uckzuf u¨ hren sind.“ 51 Sie bewegen sich auf Gottes Wirklichkeit zu, 48

Schoberth 1998, 49–53. Dieter Schnebel (1993, 250f.) findet solche Lernwege auch im Komponieren Geistlicher Musik, die aufst¨obert und sich in eine Bewegung hineinziehen l¨asst, die wie die religi¨osen Bildungsprozesse insgesamt „gewissermaßen zum Medium des Geistes“ werden m¨ussen. 50 Waldenfels 2000, 97. 51 Ebd. 49

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die nicht in einem begrifflichen und definierenden Zugriff aufzusuchen ist, sondern sich immer nur in Spuren zeigt, die im Aufsp¨uren und Aufst¨obern begegnen. Das emotionale Zugehen auf christliche Religion, das das Empfinden in den Vordergrund stellt, ist im Kontext christlicher Religion nicht nur eine subjektive Angelegenheit. In der Wahrnehmung verschiedener Gegenst¨ande (biblische Texte, religi¨ose Kunst und so weiter) werden im religi¨osen Lernprozess Atmosph¨aren und Qualit¨aten aufgesucht, die u¨ ber die bloß subjektive Wahrnehmung hinausweisen und an denen sich Spuren christlicher Religion ablesen lassen, die dann im Unterricht im gemeinsamen Gespr¨ach (oder auch mit anderen methodischen Formen) weitergefu¨ hrt werden k¨onnen. 52 Solchen emotionalen Zug¨ange zu christlicher Religion ist darum der „Geruch des bloß Subjektiven zu nehmen“ 53 , weil sie ausgerichtet sind auf die Wahrnehmung einer Wirklichkeit, die eben nicht wie ein Gegenstand vor Augen ist und doch zugleich auf die Lebenspraxen christlicher Religion verweist. 2. Lernen christlicher Religion hat eine peregrinatorische Gestalt: man begibt sich auf einen Weg, ist unterwegs und macht Entdeckungen, die den Charakter des Unabgeschlossenen tragen. F¨ur die Schule heißt das, dass sich Lehrer und Sch¨uler gemeinsam, mit ihren je eigenen Kompetenzen, Kenntnissen und Orientierungen auf den Weg machen; da gibt es auch nicht den Experten und den Nicht-Kundigen. Sch¨uler und Lehrer bleiben gemeinsam auf dem Weg. Die Mitteilungsstruktur religi¨osen Lernens o¨ ffnet sich so dem kritischen Diskurs, an dem Sch¨uler und Lehrer gemeinsam beteiligt sind. Dem, was die Sch¨uler in den Unterricht einbringen, kommt dabei eine eigene W¨urde zu, wie auch dem, was die Lehrer mitteilen 54 und was sie von ihren eigenen Orientierungen und Perspektiven zu erkennen geben. Die peregrinatorische Gestalt der Mitteilung verweist sowohl auf die Unverf u¨ gbarkeit christlicher Religion, die eben nicht bloß gelernt werden kann und die man dann in Besitz habe, sondern sie kommt in Lernprozessen immer wieder anf¨anglich und auf je neuen Spuren ins Spiel und er¨offnet Ahnungen und Perspektiven von einer in Gott er¨offneten Wirklichkeit. Das peregrinatorische Moment verweist zugleich auf einen f u¨ r die christliche Religion wesentlichen Modus des Unterscheidens, das u¨ ber die Wahrnehmung christlicher Religion hinaus einzu¨uben ist. In Unterscheidungen fu¨ hrende religi¨ose Bildungsprozesse zielen auf die Ausbildung einer F¨ahigkeit zur Orientierung im Atmosph¨arischen, zur Orientierung in dem, was im anf¨anglichen Zugehen auf christliche Religion er¨offnet worden ist. Sie zielen zugleich darauf ab, den Lernenden im Blick auf ihre eigenen Orientierungen Kriterien zuzuspielen, die sie 52

Schoberth 2004. Waldenfels 2000, 95. 54 ¨ Vgl. dazu die Uberlegungen von Thomas Schlag (2004, 264), der f u¨ r das ethisch-theologische Bildungsgeschehen das einfordert, was fu¨ r das religi¨ose Bildungsgeschehen insgesamt gilt: „die eigene immer bruchst¨uckhafte Existenz in angemessener Weise im ethisch-theologischen Bildungsgeschehen zur Sprache zu bringen.“ 53

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auf diesem Weg mit christlicher Religion auskunftsf¨ahig machen,sie bef¨ahigen, andere Wirklichkeitsdeutungen kritisch zu reflektieren und zugleich einen eigenen Ort in der Vielfalt religi¨oser Angebote f u¨ r sich zu finden.Diese diskursive Offenheit religi¨oser Lernprozesse ist grundlegend f u¨ r den Vorgang religi¨oser Bildung. 3. Lernen christlicher Religion ist eingebunden in die eschatologische Perspektive des christlichen Glaubens. Damit kommt die Innenseite religi¨oser Bildungsprozesse in den Blick: die Ahnungen und Perspektiven, die die Lernprozesse zuspielen, sind gleichsam bestimmt von einer spezifischen Logik, die die Welt- und Selbstwahrnehmung neu ausrichtet. Leben aus Gottes Wirklichkeit, unter seinem Zuspruch und Anspruch, l¨asst von Welt und Selbst nur immer in einer spezifischen Hinsicht reden, indem etwa vom Menschen in seiner Gesch¨opflichkeit die Rede ist oder aber Welt als Sch¨opfung Gottes wahrgenommen wird. In diese spezifische Logik christlicher Religion f u¨ hren die religi¨osen Bildungsprozesse ein, indem sie ausgerichtet bleiben auf die Geschichte Gottes mit den Menschen, die der Welt- und Selbstwahrnehmung eine eigene Kontur verleiht und das relationale Geschehen zwischen Gott und den Menschen als Ausrichtung und Zielperspektive religi¨oser Lernprozesse bestimmt. In didaktischer Perspektive ist dieser Mitteilungsstruktur in der Anlage der Lernwege zu entsprechen, die eine Vielfalt an Lernm¨oglichkeiten er¨offnen, um Ahnungen dieser Geschichte Gottes und der Menschen den Sch¨ulern zuzuspielen, wie sie auch erprobend teilnehmen und teilgewinnen zu lassen an den Lebensformen und Lebenspraxen, die diese Geschichte hervorbringt und hervorgebracht hat. 6.4 Performative und a¨ sthetische Lernformen: Zwei Beispiele Religi¨ose Bildungsprozesse sind darauf angelegt, Kinder und Jugendliche dabei zu begleiten, Schwellen zu u¨ berschreiten: Weil diese nur noch wenig oder gar nicht im Kontext der christlichen Religion beheimatet sind und christliche Religion darum als Fremdreligion wahrnehmen, braucht es Lernwege, die ihnen den Zugang er¨offnen. Didaktisch gibt es vielf¨altige Formen, diese Zugangsm¨oglichkeiten im Unterricht zu inszenieren; einige solcher Formen sollen abschließend exemplarisch angedeutet werden. Dabei zeigt sich, dass solche Zugangsm¨oglichkeiten erste Wahrnehmungen christlicher Religion selbst er¨offnen, auch wenn dies nicht immer explizit christlich-religi¨ose Themen sein m¨ussen. In der Anbahnung der Zug¨ange zu christlicher Religion liegt darum gegenw¨artig auch das Hauptgewicht des Unterrichts christlicher Religion, der im Durchspielen eines solchen Zugangs Perspektiven christlicher Religion elementar und anf¨anglich zur Gestalt bringt. Ein solcher Lernweg zeigt sich etwa in dem Versuch, performativ das Lesen der Heiligen Schrift einzu¨uben. Hintergrund fu¨ r die unterrichtliche Performance ist die gottesdienstliche Lesung, die einen spezifischen Umgang mit der

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Bibel zeigt. In der Lesung nehmen Sch¨uler einen Text aus der Bibel wahr, indem sie im H¨oren der Lesung folgen. Die Bibel ist dann nicht mehr nur Text, sondern erschließt sich ihnen als geh¨orter Text und er¨offnet dabei M¨oglichkeiten vielf¨altiger Wahrnehmungen. Die Situation der Lesung braucht Vorbereitung, und es wird mit den Sch¨ulern der Klassenraum dafu¨ r arrangiert. Wenn man daf u¨ r ein Lesepult besorgen k¨onnte, so w¨are das ein guter Impuls. Bevor die Lesung im Klassenraum beginnt,erhalten die Sch¨uler noch Auftr¨age: sie brauchen nichts zu notieren, sondern k¨onnen sich angenehm auf ihren Platz einrichten und sollen lediglich der Lesung folgen, die ein Sch¨uler vortr¨agt – einen Text aus der Bibel, den er nicht vorbereitet hat. Die Lesemodi k¨onnen dann variiert werden: ein Sch¨uler geht nach vorne und versucht nach der ersten Lesung mit dem Geh¨orten der eigenen Lesung Akzente zu geben.

¨ Ein weiterer Sch¨uler versucht es ganz leise. Die Lesungs-Ubungen vom Pult aus werden vielleicht noch zweimal fortgesetzt,dann ist Zeit,die Eindr¨ucke und Erfahrungen auszutauschen. Es geht bei diesem Lesen noch nicht um den Text selbst; sondern das besondere Setting der Lesung er¨offnet Wahrnehmungen, die nun artikuliert werden sollen und Sch¨ulern darin eine Kompetenz zuspielen sollen, die das Bibelbuch als ein durch die Lesung von anderen B¨uchern

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unterscheidenes Buch wahrzunehmen aufgibt. So bleibt die Bibel nicht ein fremdes Buch, sondern wird als ein Buch erkennbar, das vom Zuh¨oren/H¨oren lebt. An diese Lesungs-Performance ließe sich nun anschließen, das Geh¨orte in Erinnerung zu rufen und an einzelnen Worten oder Texteindr¨ucken weiterzuarbeiten. Dieser elementare Lernweg er¨offnet in der Lesung u¨ ber das Geh¨orte Assoziationsfelder, in denen sich die Sch¨uler zu bewegen versuchen, um der Dynamik und Dramatik des Textes nachzugehen. Bekannte und unbekannte Worte tauchen auf und werden in das Gespr¨ach eingebracht, Perspektiven, die der Text der Bibel freisetzt, wahrgenommen und Stimmungen artikuliert, die im H¨oren wahrgenommen wurden. Dieser Modus des Lesens er¨offnet den Sch¨ulern erste Zug¨ange zur Bibel und hilft ihnen, elementar und anf¨anglich, mit ihr umzugehen. Ein in der Lesung inszenierter, offener Leseprozess vermag den Sch¨ulern Ahnungen von der Tiefendimension biblischer Texte zuzuspielen, damit die Bibel nicht ein fremdes Buch bleibt, deren Sprache sie nicht verstehen. In der assoziativen und intuitiven Wahrnehmung gewinnen Sch¨uler im H¨oren der Lesung einen ersten Zugang zu biblischen Texten, der sie ins Fragen f u¨ hren kann und der sie an der Lekt¨ure beteiligt sein l¨asst – fragmentarisch, vorl¨aufig und experimentell. Die Lesung ist eine m¨ogliche Form, in religi¨osen Lernprozessen den Sch¨ulern Zug¨ange zur Bibel zu er¨offnen und damit die Schwelle zu christlicher Religion zu senken.

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¨ Solches Uberschreiten und damit einen Zugang zu christlicher Religion zu er¨offnen, u¨ ben auch besonders a¨sthetische Lernformen ein, die das ¨ Uberschreiten und Austesten neuer Perspektiven selbst zum Thema machen. Dies k¨onnte sich mit der Arbeit an folgendem Kunstwerk er¨offnen. Die Wahrnehmungen, die Sch¨uler an diesem Kunstwerk von Wolfgang Pietschmann mit dem Titel „himmel-kron“ – ein a¨sthetisches Spiel mit dem Standort der Plastik in der oberfr¨ankischen Gemeinde Himmelkron – erm¨oglichen, u¨ ben in das spannungsvolle Geflecht von Sehen und Wahrnehmen ein. In der Konzentration auf den Durchblick kommt es zu einer verdichteten Seherfahrung, die auf den Weg dahinter konzentriert. Es kommt zu einem neuen Sehen der Wirklichkeit, die sich im Blick durch den kreisrunden Steinring verengt und dadurch ver¨andert.Damit ist ein a¨ sthetischer Lernweg er¨offnet,der zu ¨ neuen Perspektive bef¨ahigt – eine a¨sthetische Ubung an einem Kunstwerk, die als eine Metapher fungiert, indem sie einfu¨ hrt in christliche Religion, die einen neuen Blick er¨offnet auf Selbst und Welt.Welche neuen Perspektiven christliche Religion den Sch¨ulern erm¨oglicht, wird im Gespr¨ach von Sch¨ulern und Lehrern fortgef u¨ hrt: Etwa indem ein biblischer Spruch „dienet einander“ (1. Petr. 4,10) in die Konfrontation mit herrschenden Orientierungen – wie sie sich etwa im Satz „jeder ist sich selbst der N¨achste“ verdichtet – eingef u¨ hrt wird. Beide Perspektiven sind Anlass, die Sch¨uler in ein Gespr¨ach u¨ ber eigene Perspektiven zu f u¨ hren, die sich nicht von selbst verstehen und die im Durchgehen eigener und fremder Orientierung zur Sprache gebracht werden k¨onnen. Soll die Welt menschlich sein und bleiben, so sind die religi¨osen Bildungsprozesse auf die Ausbildung und differenzierte Wahrnehmung eigener Orientierungen anzulegen, und zugleich ist zu erproben, wie tragf¨ahig die Perspektiven christlicher Religion sich in diesem Zusammenhang erweisen k¨onnen. Die beiden Lernwege zeigen in aller K¨urze, wie in religi¨osen Bildungsprozessen gearbeitet werden kann, um Sch¨uler teilgewinnen zu lassen und teilzugeben an der Praxis christlicher Religion, die ihre Kontur aus dem Lesen/der Lesung der Heiligen Schrift gewinnt (performatives Beispiel) und die sich auf die Spurensuche der Wirklichkeit Gottes begibt, die im religi¨osen Lernprozess („himmel-kron“) a¨sthetisch zur Wahrnehmung kommt.

7 Religi¨ose Bildung, damit die Welt menschlich sein und bleiben kann In religi¨osen Bildungsprozessen kommt den Lernenden die W¨urde zu,ihre Welt und ihre eigenen Perspektiven entdeckend im Unterrichtsgeschehen wahrzunehmen und sie in ein andauerndes Gespr¨ach mit christlicher Religion einzubringen. Sie entdecken sich dabei selbst als Person, die lernt, an der Praxis gemeinsamen Lebens und Handelns in dieser und f u¨ r diese Welt beteiligt zu sein: Damit die Welt menschlich sein und bleiben kann, schreiten die Lernwege, die dem Glauben entsprechen wollen, mit Kindern und Jugendlichen Orientie-

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rungen christlicher Religion aus, die ihnen neue Perspektiven zuspielen und sie herausfordern, ob das, was sie hier erfahren, durchspielen und reflektieren, auch Geltung in ihrem je eigenen Leben beanspruchen kann. Sie bewegen sich dabei in einem offenen Diskurs, der sie selbst mit allem, was sie mitbringen, einbezieht und der sie zugleich mit der Verantwortung f u¨ r eine humane Welt bekannt macht. In vielen Lernschritten geben religi¨ose Bildungsprozesse damit Kindern und Jugendlichen die M¨oglichkeit, das Humanit¨atspotential christlicher Religion auszuschreiten in der Hoffnung, dass sich hier wider alle Orientierungslosigkeit befreiende Gewissheiten er¨offnen, in denen die religi¨osen Bildungsprozesse wurzeln und die den Kindern und Jugendlichen Ahnungen und einen selbstbewussten Blick dafu¨ r er¨offnen k¨onnen, wie die Welt menschlich sein und bleiben kann.

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„Wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann“

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Zwischen Vorurteilen und Missverst¨andnissen – Zur Situation der Geisteswissenschaften dieter teichert

I Vorurteile Vorurteil 1: Die Geisteswissenschaften sind unpr¨azise und vage Defizite an Pr¨azision und Vagheiten im schlechten Sinn gibt es in den Geisteswissenschaften ebenso wie in den Naturwissenschaften. Nicht jeder Geisteswissenschaftler ist ein guter Geisteswissenschaftler. F¨ur Naturwissenschaftler gilt dasselbe. Gute Geisteswissenschaftler artikulieren sich nicht im schlechten Sinn vage. Aber es ist wichtig, terminologische Pr¨azision und Strenge der Gedankenfu¨ hrung nicht zu verwechseln. Tats¨achlich haben Geisteswissenschaftler selbst eine Einsch¨atzung ihrer Disziplinen als nicht-pr¨azise Wissenschaften verbreitet. Jacob Grimm – vielleicht der fr¨uheste Beleg hierf u¨ r – spricht 1846 von „ungenauen“ Wissenschaften. 1 Bei Grimm und anderen bezieht sich diese Bezeichnung auf die Verfahrensweise der philologischen und historischen F¨acher. Dabei ist der Kontrast zu den exakten Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften motivierend. Man sagt: die Geisteswissenschaften arbeiten nicht mit pr¨azise quantifizierenden Verfahren wie die meisten Naturwissenschaften. Dabei handelt es sich nicht um ein Defizit, sondern um eine Eigenart. Prim¨ar in den philologischen und historischen F¨achern gilt dies u¨ ber große Strecken. Es w¨are unbedacht, die Etikettierung auch heute noch ohne weiteres anzuwenden. Drei Gr¨unde will ich hierf u¨ r nennen: 1. Die Geschichtswissenschaft ist ohne quantifizierende Methode, ohne Statistik nicht mehr denkbar.Beispiele sind die Wirtschaftsgeschichte oder Klimageschichte (Schule der „Annales“,Marc Bloch,Lucien Febvre,Fernand Braudel). F¨ur die Philologie und die Linguistik gilt derselbe Befund. 2. Die Vorstellung, alle Naturwissenschaften w¨aren durchg¨angig als exakte und pr¨azise Wissenschaften zu bestimmen, ist falsch. Das gilt in zweierlei 1

Grimm 1884, 563.

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Dieter Teichert

Hinsichten: Zun¨achst ist Pr¨azision in vielen theoretischen Zusammenh¨angen ein relativer Begriff: In allen Bereichen, in denen empirisches Wissen gebildet wird, k¨onnen Normen der Pr¨azision und Exaktheit nur hinsichtlich der konkreten Problemstellung bestimmt werden. Pr¨azision ist sinnvollerweise nur im Rahmen der M¨oglichkeiten der Messinstrumente und der Relevanz der Datenfeinheit fu¨ r die Fragestellung zu verlangen. Ein einfaches Beispiel illustriert diesen Punkt: die kartographische Darstellung der Uferlinie des Bodensees und die Berechnung der Uferl¨ange fallen je nach Wahl des Maßstabs unterschiedlich aus. Bekanntlich wird das Ufer des Bodensees immer l¨anger, je gr¨oßer die Aufl¨osung ist. Faktisch bestimmt eine an Zweckm¨aßigkeit und Brauchbarkeit orientierte Entscheidung, was als verbindlich und pr¨azise angesehen wird. Prinzipiell kann man sagen: die offiziellen Karten und Angaben der Grundbuch¨amter entsprechen nicht mit absoluter Pr¨azision den Tatsachen. 3. Exaktheit und Pr¨azision geh¨oren sicherlich zu den wissenschaftlichen Tugenden. In den formalen Disziplinen manifestieren sich diese Tugenden in blendendem Glanz. Aber mit Pr¨azision und Exaktheit allein kommen auch die exakten Wissenschaften nicht aus: „Es ist in der wissenschaftlichen Arbeit notwendig, f u¨ r die Grundbegriffe der jeweiligen Disziplin pr¨azise Explikationen anzugeben. [. . . ] Hinreichend fu¨ r erfolgreiche wissenschaftliche Forschung sind pr¨azise angegebene Grundbegriffe allerdings bei weitem nicht. F¨ur effektive wissenschaftliche Untersuchungen kommt es darauf an, dass Raum f u¨ r Phantasie und sch¨opferische Gedankeng¨ange bleibt.“ 2 Die exakten Wissenschaften sind nicht durchg¨angig exakt und pr¨azise. Und die Geisteswissenschaften verfahren zumindest partiell exakt und pr¨azise. Der Vorwurf des Pr¨azisionmangels und der Vagheit an die Adresse der Geisteswissenschaften ist entweder trivial oder falsch. Vorurteil 2: Die Geisteswissenschaften sind veraltet, sie geh¨oren ins Museum Die Geisteswissenschaften sind u¨ ber weite Strecken als historische Disziplinen zu verstehen. Als Wissenschaften von der Vergangenheit wird ihnen nachgesagt, sie seien r¨uckw¨artsgewandt, w¨urden die Vergangenheit konservieren und seien zukunftsfeindlich, weil sie an u¨ berlieferten Vorstellungen, Normen und Werten festhalten und eine kreative Entwicklung behindern. Plakativ formuliert lautet das Vorurteil: Geisteswissenschaften sind Profis f u¨ r Vergangenes, Veraltetes und als solche sind sie selbst bereits veraltet, antiquiert, pass´e. Die Geisteswissenschaften sehen alt aus. Den Naturwissenschaften geh¨ort die Zukunft. 2

Urchs 2002, 23.

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Der allgemeine Boom des Ged¨achtnis-Begriffs im Feld von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft (Stichworte: Historikerstreit, Vergangenheitsbew¨altigung,Mahnmal-Diskussion,Wehrmachtsausstellung,Reparationsforderungen der Vertriebenen) scheint dieses Vorurteil zu best¨atigen. Ich werde sp¨ater auf diesen Punkt unter dem Stichwort Geisteswissenschaften als Ged¨achtniswissenschaften zur¨uckkommen. Zun¨achst ist der einfache Befund zu formulieren, dass sowohl fu¨ r Individuen wie Kollektive gilt: wer die Vergangenheit nicht vergegenw¨artigt und sich nicht mit ihr auseinandersetzt, der l¨auft Gefahr, in historisch entstandenen Routinen h¨angen zu bleiben. Wer nicht zur¨uckschaut, der l¨asst sich oft in seinem Handeln von vergangenen Erfahrungen bestimmen. Erfahrungen, die dem Bewusstsein u¨ berhaupt nicht als solche zug¨anglich sind. Vorurteil 3: Die Geisteswissenschaften sind nutzlos Unausgesprochen steht hinter diesemVorurteil ein Luxus-Verdacht: wer keinen Nutzen seiner T¨atigkeit nachweisen kann, hat keinen Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. Die Lage ist ernst: jeder hat seinen Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu leisten. Wer den o¨ konomischen Imperativ ignoriert, der s¨agt am Ast, auf dem er sitzt. Der Ast, auf dem die Geisteswissenschaften sitzen, ist bald durchges¨agt. Dieses Vorurteil hat eine Grundlage in der Lage der Dinge: Die Arbeit der Geisteswissenschaften insgesamt hat keinen durchg¨angigen direkten Nutzen f u¨ r die Gesellschaft. Das heißt nicht, dass die Geisteswissenschaften nutzlos sind. Und vor allem heißt das nicht, dass sie wertlos sind. Dieses Vorurteil ist vor allem unspezifisch. Es trifft nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern s¨amtliche nicht direkt anwendungsbezogenen und marktf¨ahigen Institutionen, Produkte und Dienstleistungen. Der Luxus-Verdacht kann ebenso gut gegen die Grundlagenforschung in allen Naturwissenschaften gewendet werden. Und er kann gegen¨uber solchen Institutionen wie Theater, Museen, Sportst¨atten, Parkanlagen, Schwimmb¨ader und Kirchen erhoben werden. In allen diesen F¨allen ist es nicht m¨oglich, einen direkten Nutzen mit unumstrittenen, quantifizierbaren Effekten auszuweisen. Verteidiger m¨ogen den radikalen Nutzenkalkulierern und den rationalen Barbaren entgegnen, dass gleichwohl auf indirekte Weise ein Nutzen der jeweiligen Aktivit¨aten und Institutionen entsteht. Sch¨one Parkanlagen steigern die Attraktivit¨at der jeweiligen urbanen Zonen. Museen und Theater machen St¨adte zu beliebten Zielen des Tourismus. Sportstadien, die die Ausrichtung publikumswirksamer Wettk¨ampfe erlauben, tragen zur Steigerung der Ums¨atze und damit des Steueraufkommens in den jeweiligen Kommunen bei usw. usf. Wenn der Nutzen oft nicht pr¨azise zu quantifizieren ist, l¨asst sich in vielen F¨allen doch plausibel auf solche positiv eingesch¨atzen Konsequenzen vieler Institutionen hinweisen.

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Diesen Hinweis will ich aber u¨ berhaupt nicht stark gewichten. Denn ich rechne damit, dass der rationale Barbar in Sachen Geisteswissenschaften darauf hinweist, dass in anderen Bereichen mit vergleichbaren Investitionen h¨ohere Gewinne zu erzielen sind. Im Fall der Geisteswissenschaften kann man einen indirekten Nutzen erkennen, der demjenigen der anderen Beispielf¨alle eindeutig u¨ berlegen ist. Eine geisteswissenschaftliche Ausbildung verhilft in einem sp¨ater noch zu erl¨auternden Sinn zu einer Vorstellung dar¨uber, welche Strukturen und Normen die eigene Gesellschaft auszeichnen. Geisteswissenschaften bef¨ordern das Wissen u¨ ber die soziale und politische Gegenwartssituation, die historische Entstehungsgeschichte dieser Situation und die Differenzen zur Lage anderer Gesellschaften und Kulturen. In einer Demokratie ist die Gesamtheit der B¨urger der Souver¨an. Ein kluger Souver¨an ist besser als ein dummer Souver¨an. Eine gut ausgebildete Bev¨olkerung ist einer schlecht, oberfl¨achlich und einseitig ausgebildeten Bev¨olkerung vorzuziehen. Sie ist u¨ berlegen, weil sie sich von den politischen Repr¨asentanten nicht hinters Licht fu¨ hren l¨asst, oder – positiv gewendet –, weil die Politiker im Austausch mit einer kritischen und aufgekl¨arten Bev¨olkerung bessere Probleml¨osungen finden werden als in Verh¨altnissen, in denen das Wahlvolk oberfl¨achlichen Werbeslogans glaubt und die G¨ute von Argumenten nicht sachlich-kritisch abw¨agt. Ein kritisches Wahlvolk tr¨agt zu einer Steigerung der Qualit¨atsstandards seiner gew¨ahlten Vertreter bei. Die Vorstellung, dass ein gut ausgebildeter Souver¨an eine Notwendigkeit fu¨ r das Gedeihen des Gemeinwesens ist, findet sich seit jeher in der Literatur der Politikerberatung. Einschl¨agig ist beispielsweise die Maxime „Ein ungebildeter K¨onig ist ein gekr¨onter Esel“ (Rex illiteratus asinus coronatus), die aus dem 12. Jahrhundert u¨ berliefert ist. 3 Auch und gerade unter den Bedingungen der Demokratie, zumal in einer so genannten Informations- und Wissensgesellschaft, spricht alles daf u¨ r, dass eine gute Bildung, dass die F¨ahigkeit, Argumentationen kritisch zu pr¨ufen und komplexe Texte genau zu interpretieren, wesentliche Voraussetzungen dafu¨ r sind, dass die Beteiligten sachangemessene und kluge Entscheidungen treffen k¨onnen. Da in einer Demokratie alle B¨urger am politischen Geschehen teilhaben und durch ihre Wahlentscheidungen die Grundlinien der Politik mitbestimmen, ist es geboten, die Voraussetzungen f u¨ r eine kompetente Entscheidung des Souver¨ans zu schaffen.Von daher ergibt sich ein starkes Argument f u¨ r die Bedeutung der schulischen Ausbildung im Allgemeinen und f u¨ r die Geisteswissenschaften im Speziellen. Denn sie tragen gerade durch die Vermittlung von historischem Wissen und Bildungswissen zu einer gesch¨arften Wahrnehmung der eigenen Gegenwart und der Eigenart der eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit bei. Sie f¨ordern die F¨ahigkeiten zur Analyse rhetorischer Strategien, zur Bewertung der Stringenz von Argumentationen und zur Beurteilung 3

Malmesbury 1889, 467.

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der oftmals verdeckten Intentionen eines Redners/Autors. Die Ausbildungssysteme in einer demokratischen Gesellschaft sollten demnach nicht nur nach wirtschaftlichen Interessen („Welches Schulsystem bringt die h¨ochste Rendite f u¨ r das Wirtschaftswachstum? Welches Universit¨atssystem liefert die h¨ochste Quote an Patenten?“) beurteilt werden. Soweit einige Anmerkungen zu popul¨aren Vorurteilen u¨ ber die Geisteswissenschaften.Aus Vorurteilen gewinnt man keinen Aufschluss u¨ ber die Eigenart und Spezifik der Geisteswissenschaften.Ich wende mit jetzt der Frage zu: „Geisteswissenschaften: Was ist das?“ Dabei w¨ahle ich gut geisteswissenschaftlich einen historischen Einstieg.

II Geisteswissenschaften: Was ist das? Zu den zahlreichen Unklarheiten, die die Geisteswissenschaften umgeben, geh¨ort nicht nur die Frage, was sie von den anderen Wissenschaften unterscheidet. Bereits auf die simple historische Frage nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung findet man in der einschl¨agigen Literatur keine eindeutige und unkontroverse Antwort. Fest steht, dass der Ausdruck „Geisteswissenschaft(en)“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vereinzelt gebraucht wird. Dabei hat er allerdings noch im fr¨uhen 19. Jahrhundert eine andere Bedeutung als die sp¨ater maßgebliche: es handelt sich um ein Synonym zu „Philosophie“ oder zu einem Teilbereich der Metaphysik. 4 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Begriff der Geisteswissenschaften dann ein wichtiger Bestandteil der Theorie der Wissenschaften. 5 In vielen Aufs¨atzen und Handb¨uchern findet man immer noch die falsche Behauptung, die Verwendung des Terminus „Geisteswissenschaften“ sei auf ¨ die Ubersetzung von J. St. Mills „System of Logic, Ratiocinative and Inductive“ durch J. H. Schiel zur¨uckzuf u¨ hren. Das ist insofern unzutreffend, als die einschl¨agige Unterscheidung bereits zuvor formuliert worden war. 6 So schreibt A. L. Kym 1854: „In zwei H¨alften spaltet sich uns die Welt. Die eine bildet die Natur, die andere die Geschichte oder der Geist. Befasst sich [. . . ] das menschliche Denken mit der Natur, so entstehen die Naturwissenschaften; befasst es sich mit der Geschichte oder dem Geiste, so entstehen die Geisteswissenschaften.“ 7 Diese Formulierung enth¨alt mit der Opposition von Natur/Naturwissenschaft und Geist/Geisteswissenschaft einen Kontrast, der bis zu den Debatten der 4 5 6

7

Oken 1817, Innenseite des Umschlags. Vgl. Dierse 2003. ¨ K¨ohnke, 1986, 137. In der ersten Ubersetzung eines Teils der „Logik“ Mills durch Schiel wird nicht von Geisteswissenschaften, sondern von moralischen Wissenschaften gesprochen. Erst ¨ die zweite komplette Ubersetzung durch Schiel 1862/63 bringt „Geisteswissenschaften“. Kym 1854, 12.

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zweiten H¨alfte des 20. Jahrhunderts bestimmend bleibt. In diesen Diskussionen werden zwei Kulturen – die Welt der Naturwissenschaften und die der Geisteswissenschaften – einander gegen¨ubergestellt (C. P. Snow 8 ) oder die naturwissenschaftliche Methode des Erkl¨arens von der geisteswissenschaftlichen Methode des Verstehens unterschieden (H.-G. Gadamer 9 ). Kyms Bestimmung der Geisteswissenschaften als Besch¨aftigung mit „der Geschichte oder dem Geiste“ ist f u¨ r das 19. und 20. Jahrhundert insgesamt bezeichnend. Die These, dass die Formen sowohl des Lebens, Arbeitens und Handelns als auch des Denkens, Erkennens, Sprechens historisch ver¨anderlich sind, bildet die Grundlage der Geisteswissenschaften. Sie erforschen die Strukturen und Weisen dieses historischen Wandels. Dabei spielen der Sache nach die Hegelschen Konzeptionen des absoluten und objektiven Geistes eine Rolle, wobei der Kontrast beider nach dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus an Bedeutung verliert. Hegel teilt das Gebiet der Wissenschaft in Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes ein,wobei der Begriff des Geistes zwei Unterbegriffe kennt: der objektive Geist konstituiert Recht, Moralit¨at und Sittlichkeit (Familie, Gesellschaft, Staat); der absolute Geist umfasst Kunst, Religion und Philosophie. 10 Dem Begriff des objektiven Geistes entsprechen weitgehend diejenigen F¨acher, die normative Grundlagen und Orientierungen vermitteln und traditionell der Praktischen Philosophie oder den Moral sciences zugeordnet sind. Nach dem Geltungsverlust des Idealismus wird dieses Feld durch die Sozialwissenschaften und die Geschichtswissenschaft bearbeitet. Der Verlust eines die historische Entwicklung strukturierenden Gesamtrahmens, den die idealistische Metaphysik bereit stellte, wird entweder durch den Rekurs auf eine positivistische Wissenschaftskonzeption oder durch einen umfassenden Historismus beantwortet. F¨ur die Geisteswissenschaften als eine spezifisch deutschen Wissenschaftsformation stellen die Geschichte und die Philologie die maßgeblichen Paradigmen dar. Beide gelten als die geisteswissenschaftlichen Kerndisziplinen. Angesichts des festen Platzes beider F¨acher im heutigen Universit¨atssystem wird oft u¨ bersehen, dass keine dieser Disziplinen vor dem 19. Jahrhundert eine regelrechte Universit¨atswissenschaft war. II.1 Klassischer und neuzeitlicher Wissenschaftsbegriff Um diesen Umstand knapp zu erl¨autern, eine Erinnerung an den klassischen Wissenschaftsbegriff: Die Wissenschaftskonzeption des Aristoteles steht im Zusammenhang mit einer Unterscheidung von drei Formen des Wissens 8 9 10

Snow 1967 Gadamer 1990; Gadamer 1999. Hegel 1999, § 18; objektiver Geist: §§ 483–552; absoluter Geist: §§ 553–577.

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(1) theoretisches Wissen, (2) praktisches Wissen und (3) Herstellungswissen. In der bekannten Dichotomie von Theoretischer Philosophie und Praktischer Philosophie bilden das Herstellungswissen und das praktische Wissen die beiden Kategorien der Praktischen Philosophie. Philosophie und Wissenschaften werden als weitgehend identisch behandelt. Sie sind als Erkenntnis des Allgemeinen durch Gr¨unde und Ursachen charakterisiert. Nach Aristoteles sind die Gegenst¨ande der Wissenschaft (episteme) unver¨anderlich (EN VI, 2, 1139a6–8). Wissenschaftliches Wissen hat es mit Allgemeinem und Notwendigem zu tun, es basiert auf Gr¨unden und ist aus ersten Prinzipien hergeleitet. Die Wissenschaft nimmt nun zwar die ersten Prinzipien in Anspruch (EN VI, 6, 1140b31–35). Die Wissenschaft begr¨undet oder leitet diese aber nicht ihrerseits ab. Die Erfassung der ersten Prinzipien ist die Sache der Vernunft. Die Philosophie ist insofern die oberste Wissenschaft, als sie mit den allgemeinsten und grundlegenden Prinzipien befasst ist (Met. 982a2– 3, 982a19–982b7). Im Bereich der ver¨anderlichen Dinge sind demgegen¨uber das Herstellen (poiesis, techne) und das Handeln (praxis) zentrale Kategorien (EN II,4, 1140a1–3), in deren Fall auch von einem Wissen die Rede ist, das sich allerdings als praktisches Wissen von demjenigen der Theorie/Wissenschaft unterscheidet. Der Begriff des praktischen Wissens ist im Wesentlichen durch die Kenntnis von Regeln und Normen bestimmt, inklusive der ihre Anwendung erm¨oglichenden Urteilsf¨ahigkeit. Geschichte als Wissenschaft ist f u¨ r den Aristoteliker ein Unding: Empirisches Wissen im Sinn der Erfassung konkreter Einzeldinge geh¨ort nicht zur Philosophie/Wissenschaft. Die Befassung mit Individuellem als Individuellem stellt nach Aristoteles kein konstitutives Moment der Wissenschaft dar. Denn hier spielen kontingente Faktoren eine Rolle, fu¨ r die sich eine auf Allgemeines und Notwendiges ausgerichtete Wissenschaft nicht interessiert. Beschreibung und Kenntnis des Einzelnen ist die Dom¨ane der Historie. Dabei ist entgegen dem heutigen Sprachgebrauch Historie (von griech. „histor´ıa“) nicht ausschließlich auf diachrone Prozesse im Sinn des neuzeitlichen Geschichtsbegriffs bezogen, sondern ganz allgemein als Beobachtung, Beschreibung, Sammlung empirischer Kenntnisse von Einzeldingen konzipiert. 11 Exemplarisch hierfu¨ r ist der traditionelle Begriff der Naturgeschichte. Noch bei Kant umfasst historische Erkenntnis „Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik“ und alles, „was die Naturkunde von empirischer Erkenntniß darbietet“. 12 Nicht jedes Wissen und nicht jede Zusammenstellung von (Er-)Kenntnissen ist wissenschaftliches Wissen. 11 12

Kambartel 1976, 61–86. „Die philosophische Facult¨at enth¨alt nun zwei Departemente, das eine der historischen Erkenntniß (wozu Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik mit allem

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II.2 Geschichten und Geschichte In den klassischen Wissenschaftskonzeptionen haben die Geisteswissenschaften keinen Platz. Neben den Transformationen des Wissenschaftsbegriffs sind Entwicklungen von entscheidender Bedeutung, die außerhalb des Bereichs der Wissenschaften stattfinden. Zentral ist die Herausbildung einer neuen allgemeinen und politischen Konzeption von Geschichte. Seit dem 18. Jahrhundert bildet sich ein spezifisch modernes Konzept einer Welt- und Universalgeschichte. R. Koselleck spricht von der Geschichte als „Kollektivsingular“. Damit ist eine alle partikularen Zustands- und Ereignisfolgen umfassende Gesamtgeschichte gemeint. 13 An die Stelle einer Vielzahl von regional begrenzten Geschichtsmodellen tritt das Konzept einer umfassenden, totalen Geschichte. Man kann einwenden, dass die Konzeption einer umfassenden Weltgeschichte nichts Neues ist, da die christlichen Modelle einer Menschheitsgeschichte ebenfalls allumfassend sind: Sie beginnen etwa mit der Erschaffung Adams und Evas und enden mit dem J¨ungsten Gericht. Der spezifische Unterschied der modernen Geschichtskonzeption zu diesen a¨lteren Modellen besteht darin, dass die Geschichte als ein prinzipiell unabschließbarer, offener Prozess gedacht ist, dessen Dynamik wesentlich von den Menschen bestimmt ist. In traditionalen Kulturen sagen Mythos, Ged¨achtnis und ritualisierte Erinnerung den Menschen,was sie von der Zukunft zu erwarten haben.In der dynamischen Moderne ist diese Begrenzung des Erwartungshorizonts durch die Tradition getilgt. Die Zukunft ist prinzipiell offen, Gegenstand von Projekten, die u¨ ber das bislang M¨ogliche hinausgreifen. Die Geschlossenheit der Geschichte ist dahin. Diese Ver¨anderung, die oft mit der Revolution von 1789 in Verbindung gebracht wird, bildet die Voraussetzung fu¨ r eine immer zunehmende Beschleunigung des Wandels der Normen und Werte.Der neuzeitliche Geschichtsbegriff ist die Bedingung eines spezifisch modernen, historischen und politischen Bewusstseins und einer entsprechenden Praxis. Er ist die Grundlage einer genuin modernen Vorstellung von Zukunft und damit fu¨ r das planende Handeln. Weshalb sollten sich die Individuen der Moderne angesichts eines offenen Zukunftshorizonts aber noch um die vergangene Geschichte k¨ummern? – Ein wichtiges Motiv besteht darin, dass die Vergegenw¨artigung der Vergangenheit ein Gegengewicht zu einer zunehmenden Beschleunigung und Dynamik der Lebensverh¨altnisse darstellt. Sp¨atestens seit 1789 sind in Europa und Amerika ¨ traditionelle Uberzeugungen, Institutionen und Normen/Werte unabl¨assiger Ver¨anderung unterworfen. Zudem werden durch technische Neuerungen die Lebensverh¨altnisse grundlegend umgestaltet: Industrielle Produktion, Trans-

13

geh¨ort, was die Naturkunde von empirischem Kenntniß darbietet), das andere der reinen Vernunfterkenntnisse (reinen Mathematik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der Sitten) und beide Theile der Gelehrsamkeit in ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander.“ Kant 1968, 28. Koselleck, 1979.

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port und Kommunikation beschleunigen sich. Partielle Desorientierung und Destabilisierung sind das Resultat.Vielfach wird der Versuch gemacht, den Geltungsverlust der Tradition abzufedern, indem die Geschichte im Medium der Wissenschaften und der Kultur (Printmedien, Theater, bildende K¨unste) vergegenw¨artigt wird. In diesem Zusammenhang spielen die historischen Geisteswissenschaften eine wesentliche Rolle. Der Hinweis auf die Ver¨anderungen der Kultur erl¨autert die Entstehung der Geisteswissenschaften aus externer Perspektive. Die Geisteswissenschaften setzen aber voraus, dass das Wissen von Geschichte, Sprache, Kulturformen, Weisen des Arbeitens, Handelns und Lebens ein spezifisch wissenschaftliches Wissen ist. Dieses Wissen wird in einem Prozess wissenschaftlicher Forschung gewonnen und es ist in Theorieform darstellbar. Eine solche Konzeption geisteswissenschaftlichen Wissens existierte weder fu¨ r Aristoteles noch f u¨ r Kant. Das bedeutet nat¨urlich nicht, dass Aristoteles oder Kant behauptet h¨atten, es g¨abe kein historisches (oder literaturgeschichtliches etc.) Wissen. Historisches Wissen und Reflexion auf dieses in rudiment¨aren Formen ist ein elementares Element menschlicher Erkenntnisbildung. Das Aufkommen der Geschichte als eigenst¨andiger Universit¨atswissenschaft ist hingegen ein sp¨ates Ph¨anomen. Die Betonung des grundlegenden Wandels, den das Geschichtsverst¨andnis am Ende des 18. Jahrhunderts durchmacht, darf nicht missverstanden werden als Verweis auf kontingente externe Begleitumst¨ande der Konstitution der Geisteswissenschaften. Die sozialen und politischen Ver¨anderungen sind notwendige Bedingungen f u¨ r die Ausbildung eines neuen Begriffs historischen Wissens.Weder auf der Ebene der Methodologie noch auf der Ebene der Gegenstandsbestimmung der F¨acher lassen sich wirklich innovative Momente angeben, die hinreichend w¨aren, um von einer g¨anzlich neuartigen Wissenschaftsformation im 19. Jahrhundert zu sprechen. Hinsichtlich der Epistemologie und der Methodologie bestehen fundamentale Kontinuit¨aten zwischen der a¨lteren Historiographie und den historischen Geisteswissenschaften. Wenn man die historische Arbeit intern betrachtet, so erbringen das 17. und 18. Jahrhundert entscheidende Leistungen auf der Ebene der Methodologie und Epistemologie. Der hohe Stand der methodologischen Reflexion im 17. und 18. Jahrhundert wird oft ignoriert. Man unterstellt, das Novum der Geisteswissenschaften m¨usste durch Innovationen auf methodologischer Ebene oder Entdeckungen neuer Objekte bedingt sein. Das ist aber nicht der Fall. Um stichwortartig den Stand vor dem 19. Jahrhundert wenigstens anzudeuten, seien zumindest einige Titel genannt: Fran¸cois La Mothe le Vayer: Du peu de certitude qu’il y a dans l’histoire (1668) Jean Mabillon: De re diplomatici libri (1681)

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Louis-Jean Levesque de Pouilly: Dissertation sur l’incertitude de l’histoire des quatre premiers si`ecles de Rome (1729) Nicolas Fr´eret: R´eflexions sur l’´etude des anciennes histories et sur le degr´e de certitude de leurs preuves (1729) Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vern¨unftiger Reden und Schriften (1742); Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelehrsamkeit gelegt wird (1752) Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert sind die entscheidenden Orte der Reflexion und historischen Arbeit nicht prim¨ar die Universit¨aten,sondern kirchliche und staatliche Archive sowie die Akademien: Dabei kommt der 1663 gegr¨undeten Acad´emie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres besondere Bedeutung zu. II.3 Das Dilemma der Geisteswissenschaften Der Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften stellt ein Problem dar, das die gesamte Geschichte der Theoriediskussion begleitet. Das ist fr¨uh bei einem der prominentesten Wissenschaftstheoretiker der Geisteswissenschaften zu beobachten. Johann Gustav Droysen (1808–1884) schreibt: „Empirischer Art,wie sie [unsere Wissenschaft] ist,muß sie m¨oglichst exakt zu sein suchen, und exakt ist sie in dem Maße, als sie f u¨ r die einzelne Aufgabe [. . . ] aus dem kritisch verifizierten Material in m¨oglichst gesicherter Schlußfolgerung ihre Ergebnisse zieht.“ 14 Exaktheit und Verifizierung der Forschungsarbeit kennzeichnen die Historie als empirische Wissenschaft. Auf der Grundlage der tradierten Relikte und Quellen entwirft der Historiker ein zutreffendes Bild der Vergangenheit. L¨ucken in der Darstellung sind nicht als Fehler anzusehen: „Immer oder fast immer liegen nur Einzelheiten aus den einstigen Wirklichkeiten [. . . ] vor. Jedes historische Material ist l¨uckenhaft [. . . ]; die Sch¨arfe in der Bezeichnung der L¨ucken und der m¨oglichen Fehler ist das Maß f u¨ r die Sicherheit der Forschung.“ 15 „Forschung“ ist das entscheidende Stichwort. Die Auswertung der Quellen erfolgt mittels pr¨aziser quellenkritischer Verfahren. Der Historiker rekonstruiert nicht nur historische Gegenst¨ande im Sinn einer quellenkritisch abgesicherten Darstellung von aufeinander folgenden Handlungen und Ereignissen. Er interpretiert diese Handlungen und Ereignisse, indem er sie auf „sittliche M¨achte“ und Ideen bezieht. 16 Die wissenschaftliche Forschungsarbeit beinhaltet somit ein Verstehen und Interpretieren. Durch diese Faktoren gewinnt die His14 15 16

Droysen 1960, 185. Droysen 1960, 338. Droysen 1960, 180–187 und 202–264.

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torie erst ihren vollen Umfang, der die Erkl¨arung aufgrund der Triebkr¨afte geschichtlicher Ver¨anderung enth¨alt. 17 Bei diesen Stichworten „Verstehen“ und „Interpretieren“ legen in der Regel die Hermeneutik-Kritiker den Finger auf die Wunde: Sie verweisen auf die verungl¨uckte Gegen¨uberstellung kausaler Erkl¨arungen und geisteswissenschaftlicher Verstehensleistungen. Tats¨achlich ist die als Disjunktion aufgefasste Unterscheidung von „Erkl¨aren“ und „Verstehen“ ein folgenschwerer Unfall. Droysen selbst macht diesen Fehler nicht. Aber bei seinen Nachfolgern wird eine ungl¨uckliche Alternative von Verstehen und Erkl¨aren konstruiert. Tats¨achlich kann von einem „entweder-oder“ nicht die Rede sein. Die historischen, verstehenden Wissenschaften machen permanent Gebrauch von kausalen Erkl¨arungsmustern. So liefern etwa die Klimageschichte und die Wirtschaftsgeschichte in zahlreichen F¨allen kausale Erkl¨arungen oder zumindest die Elemente zu diesen. Beispiele hierfu¨ r bietet jedes historische Forschungsgebiet in F¨ulle. So ist etwa die Tatsache, dass es um 1000 n. Chr. herum zu einem Anstieg der Durchschnittstemperaturen in Europa kam, urs¨achlich verantwortlich f u¨ r die Steige¨ rung der Agrarproduktion. Die erzielten Ubersch¨ usse ver¨anderten die Bedingungen des Wirtschaftens. Es kam durch die gesteigerte Produktion zu einer Gr¨undung oder Vergr¨oßerung von Handelspl¨atzen mit den bekannten Folgen fu¨ r die Urbanisierung speziell Deutschlands (Neugr¨undung von St¨adten oder Wachstum der Stadtbev¨olkerung). In kleineren Zeitr¨aumen ergeben sich vergleichbare kausale Zusammenh¨ange am Ende der Regierungszeit Ludwig XIV. und vor Ausbruch der Revolution von 1789. Hier allerdings in umgekehrter Richtung: in beiden F¨allen f u¨ hren klimatisch bedingte Missernten – zumeist durch Trockenheit bedingt – zu einem R¨uckgang der Agrarproduktion. Die Folge sind Preissteigerungen fu¨ r Getreide und Brot. Beides f u¨ hrt zu Unruhen besonders innerhalb der stark betroffenen Stadtbev¨olkerung, speziell in der Metropole Paris. Auch die Technikgeschichte liefert in vielen F¨allen kausale Erkl¨arungen fu¨ r politische Ereignisse. Ein typischer Fall ist die u¨ berlegene Waffentechnik der britischen Bogensch¨utzen, die 1415 bei Azincourt (Pas-de-Calais) der ¨ franz¨osischen Kavallerie zum Verh¨angnis wurde. Die vierfache Ubermacht der Franzosen wird geschlagen und der franz¨osischen Adel dezimiert. Die Tatsache, dass dieses historische Ereignis heute meist nur noch Shakespeare-Lesern bekannt ist („Henry V.“), f u¨ hrt zu einem weiteren Aspekt der Geisteswissenschaften, der aber nicht mehr die kausale Erkl¨arung betrifft: die Vermittlung und Verarbeitung von historischen Erfahrungen im Medium der K¨unste. Dies ist eines der wichtigen Arbeitsfelder der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften.

17

Vgl. Droysen 1960, 183.

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Ich verweile zun¨achst kurz bei den Begriffen des Erkl¨arens und des Verstehens. Die Disjunktion ist ein Irrtum: mit Ideen allein versteht man die angesprochenen Zusammenh¨ange nicht. Aber – so k¨onnte man die Position Droysens zusammenfassen – man versteht auch nicht ohne Ideen. Denn die kausalen Elemente der Beschreibungen stehen in einem Zusammenhang mit dem intentionalen Verhalten der Individuen und den Normen und Regeln, welche das Funktionieren der Kollektive bestimmen. Und auf diesen Ebenen sind interpretative Vorg¨ange zentral: Etwa die Selbstbeschreibungen und das sowohl kollektive wie individuelle Selbstverst¨andnis der Akteure, die implizite oder explizite Bezugnahmen auf Werte und Normen. Hier wird es nun hermeneutisch: denn Droysen behauptet, dass in den Geisteswissenschaften keine objektive Darstellung dieser Verh¨altnisse, der Wert- und Normsysteme anzustreben ist. Der Historiker geht bei seiner Interpretation der Relikte und Quellen von seinem eigenen Werte- und Normenrepertoire aus. Droysen relativiert das Postulat wissenschaftlicher Unparteilichkeit zugunsten einer Auffassung, die die Standortgebundenheit des Historikers nicht als Hindernis, sondern als Bedingung historischer Erkenntnis begreift. Zwischen einer verwerflichen Parteilichkeit und unabdingbarer Perspektivenabh¨angigkeit soll unterschieden werden. 18 Der Historiker kann keinen Anspruch auf vollkommene Objektivit¨at erheben, weil er in dem umfassenden Wirkungszusammenhang der Geschichte steht und diesen nicht von außen betrachten kann: „Das, was war, interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewissem Sinn noch ist, indem es noch wirkt, weil es in dem ganzen Zusammenhang der Dinge steht, welche wir die geschichtliche, d. h. sittliche Welt [. . . ] nennen.“ 19 Der Standpunkt innerhalb dieses Wirkungszusammenhangs erm¨oglicht es dem Historiker, die Relevanz einzelner Gegenst¨ande zu erkennen. Droysen wendet sich gegen die Vorstellung einer im missverstandenen Sinn objektiven Geschichtswissenschaft. „Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger zu haben scheinen, als die relative Wahrheit meines Standpunktes [. . . ]“. 20 Die beiden Momente – Verwissenschaftlichung und Aktualit¨atsbezug – bilden die Elemente seiner bekannten Definition der historischen Methode: „Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen.“ 21 18

Die Analyse und Legitimierung der perspektivischen Brechung historischer Darstellungen geht zur¨uck auf: Chladenius 1742; vgl. auch Koselleck 1975, 696-698. 19 Droysen 1960, 275. 20 Droysen 1960, 287. 21 Droysen 1960, 328; Hervorh. im Original.

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Das Verstehen soll den Gegenwartsbezug der Historie verb¨urgen und diese als Moment gegenw¨artiger Praxis ausweisen. 22 Droysen ist u¨ berzeugt, dass die historische Forschung einer Orientierung in der jeweiligen Gegenwart dient und dass diese Aufgabe nur durch die Verbindung von positivem Tatsachenwissen und Verstehen/Interpretieren erreicht wird. Wie aber passen die „relative Wahrheit“ des eigenen Standpunkts und die u¨ berpr¨ufbare Wahrheit begr¨undeter wissenschaftlicher Aussagen zusammen? – Verwissenschaftlichung („Forschen“) und Gegenwartsbezug („Verstehen“) k¨onnen nicht ohne Schwierigkeiten zusammengebracht werden: als empirischer Wissenschaftler ist der Historiker an der Frage der Begr¨undbarkeit, an der Verifizierbarkeit/Falsifizierbarkeit von Aussagen, also an ihrem Wahrheitsgehalt interessiert. An diesem bemisst sich die Qualit¨at der Forschung und ihrer Ergebnisse. Die Relevanz der gegebenenfalls wahren Aussagen und ihre Interpretation ist von dem „positivistischen“ Aspekt der Historie zu unterscheiden.Das zeigt sich daran, dass Historiker, die im Hinblick auf das Faktenwissen u¨ bereinstimmen, hinsichtlich der Interpretation der Fakten kontroverse Standpunkte vertreten k¨onnen. Der bei Droysen festzustellende Doppelaspekt der Historie als empirische Wissenschaft einerseits und als Interpretation und aktualit¨atsbezogene Traditionsaneignung andererseits charakterisiert die Geisteswissenschaften bis heute. Die Versuche einer systematischen Begr¨undung (W.Windelband, H. Rickert, W. Dilthey, E. Rothacker, E. Cassirer, H.-G. Gadamer) m¨ussen als gescheitert gelten, wenn man von einer solchen Begr¨undung erwartet, dass sie nicht nur den Bereich der wahrheitsf¨ahigen Tatsachenbehauptungen, sondern auch die Dimension der standortabh¨angigen Relevanz und der Interpretation durch eine Logik der Forschung erfasst. 23 Eine tragf¨ahige wissenschaftstheoretische Begr¨undung der Geisteswissenschaften in diesem Sinn kann nicht gelingen. Trotz zahlreicher unbestrittener Leistungen der Geisteswissenschaften wurde bereits im 19. Jahrhundert energisch Kritik ge¨ubt. Die wohl bekannteste Polemik stammt von Nietzsche, der ein vernichtendes Urteil u¨ ber die historische Bildung und die historischen Wissenschaften gef¨allt hat: „[. . . ] es giebt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederk¨auen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur.“ 24 Nietzsches Kritik richtet sich weder auf die Methoden und Standards der historischen Forschung noch auf die Form der Darstellung der Forschungsresultate. Nietzsche hat prim¨ar nicht die Historie als Wissenschaft im engeren Sinn im Visier, sondern die historische Bildung und die Geschichtsauffassung einer Kultur insgesamt. Allerdings wird meist vergessen, dass Nietzsche sich selbst 22

R¨usen 1969, 110. Zu markanten Positionen der Theoriebildung vgl. Teichert 1991. 24 Nietzsche 1988, 250 (im Original gesperrt). 23

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durchaus als Historiker versteht. Er greift nicht das historische Denken als solches an, sondern die Oberfl¨achlichkeit des Geschichtsverst¨andnisses seiner Zeit. Nietzsche betont, dass das Historische fu¨ r eine Kultur notwendig ist. Aber er verwirft die historische Bildung seiner Zeit als die „historische Krankheit“ 25 einer „dekorativen Cultur“ 26 . Die Polemik Nietzsches, die dank ihrer aphoristischen Knappheit und unsystematischen Vehemenz große Wirkung entfaltete, r¨uckt die Frage nach der Funktion und Relevanz des historischen Wissens in den Mittelpunkt: Wozu braucht eine Gesellschaft historische Wissenschaften? Was ist die Funktion, die die Geisteswissenschaften erf u¨ llen? Bevor ich diese Fragen bearbeite, will ich einen kurzen Blick auf die aktuelle Situation der Geisteswissenschaften an den deutschen Hochschulen werfen.

III Pr¨azise Verwirrung: Fakten und Zahlen Angesichts verbreiteter negativer Einsch¨atzungen der Geisteswissenschaften wird oft auf den Gebrauch dieses Begriffs verzichtet. Man spricht von Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften, Humanwissenschaften, diagnostiziert einen Paradigmenwechsel zu den Medienwissenschaften oder spricht von der Konjunktur der Gender studies usw. Teilweise sind diese Konzeptionen mit ¨ methodologischen Uberlegungen verbunden, teilweise hat man es mit einer Fokussierung auf einen bestimmten Gegenstandsbereich zu tun. Aber selten wird in grunds¨atzlicher Form die Frage gestellt, inwiefern man einen Wissenschaftsbegriff ganz eigener Art im Sinn hat, wenn man etwa von Kulturwissenschaften oder von Sozialwissenschaften im Unterschied zu Geisteswissenschaften spricht. Dass die Verh¨altnisse tats¨achlich verwirrend und verworren sind, zeigt ein Blick auf die einschl¨agigen Dokumentationen. Ich beziehe mich auf die Angaben des Statistischen Bundesamtes, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Max-Planck-Gesellschaft und des Bundesministeriums fu¨ r Bildung [sic!] und Forschung. Sie lassen keine Einigkeit dar¨uber erkennen, ob es u¨ berhaupt Geisteswissenschaften gibt oder was man unter „Geisteswissenschaften“ versteht. 27 Das Statistische Bundesamt unterscheidet: (1) Sprach- und Kulturwissenschaften, (2) Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, (3) Kunst und Kunstwissenschaften. Die Geisteswissenschaften tauchen hier nicht auf. 25

Ebd., 329 (im Original gesperrt). Ebd., 334. 27 Die verwendeten Daten basieren auf den Angaben in den Homepages folgender Institutionen (Stand 5. 1. 2004): Statistisches Bundesamt: (www.destatis.de), Deutsche Forschungsgemeinschaft (www.dfg.de), der Max-Planck-Gesellschaft (www.mpg.de) und des Bundesministeriums fu¨ r Bildung und Forschung (www.bmbf.de). 26

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In einem weiten Sinn, der an die Hegelsche Konzeption des objektiven und absoluten Geistes ankn¨upft, bilden alle diese Disziplinen gemeinsam die Geisteswissenschaften. Die heutigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler werden dies als geschmacklose Zumutung empfinden und Wert darauf legen, dass sie nichts mit den idealismuskontaminierten Geisteswissenschaften zu tun haben. Die DFG verwendet den Terminus „Geisteswissenschaften“ als Titel eines Komplexes von Geistes- und Sozialwissenschaften. Diesen untergliedert sie in (a) Gesellschaftswissenschaften, (b) Geschichts- und Kunstwissenschaften, (c) Sprach- und Literaturwissenschaften, (d) Psychologie, P¨adagogik, Philosophie, Theologie. Es bleibt gewissermaßen dem individuellen Geschmack u¨ berlassen, ob man sich als Geistes- oder Sozialwissenschaftler bezeichnen will. Die Max-Planck-Gesellschaft hat eine Geisteswissenschaftliche Sektion, die sich in drei Abteilungen aufgliedert: (a) Kulturwissenschaften, (b) Rechtswissenschaften, (c) Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Selbst die Sozialwissenschaftler m¨ussen es sich gefallen lassen, als Geisteswissenschaftler gefu¨ hrt zu werden. Alle diese Klassifikationen k¨onnen keine tiefer gehenden Einsichten vermitteln. Sie best¨atigen, was man ohnedies vermutet: Geisteswissenschaften haben es mit Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Sprache und Literatur zu tun. Das ist nicht falsch, aber es ist auch nicht besonders erhellend. Erhellend sind zun¨achst einige Zahlen. In der Bundesrepublik hat sich die Anzahl der Studierenden seit Beginn der 1970er Jahre bekanntlich dramatisch erh¨oht: 1970/71 gab es in Deutschland 422 000 Studierende; 2002/03 waren es 1 939 233. Besonders auffallend sind in den Jahren 1992/93 bis 2002/03 die u¨ berdurchschnittlichen Steigerungsraten in den Sprach- und Literaturwissenschaften (19,2 Prozent) und den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (17,7 Prozent) im Vergleich zur Steigerung der Gesamtstudentenschaft (5,2 Prozent): ein deutlicher Indikator fu¨ r die besonders starke Belastung dieser Fachgruppe. Die Zahlen des Hochschulpersonals f u¨ r die Jahre 1998 und 2002 ergeben folgendes Bild:

Hochschulpersonal insgesamt davon im nichtwissenschaftlichen Bereich im wissenschaftlichen Bereich Professoren und Professorinnen

1993

1998

2002

538 917 = 100%

519 400 = 100%

540 500 = 100%

263 133 = 48,8%

266 100 = 51,2%

271 200 = 50,2%

239 410 = 44,4%

215 800 = 41,6%

231 400 = 42,8%

36 374 = 6,7%

37 500 = 7,2%

37 900 = 7,0%

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Der Anteil der Professoren und Professorinnen an den Hochschulen stellt mit etwa 6,7 Prozent (1993), 7,2 Prozent (1998) und 7,0 Prozent (2002) eine u¨ berraschend kleine Gr¨oße dar. Erstaunlich ist dieser geringe Anteil in Anbetracht der Tatsache, dass die Medien und die Hochschulpolitik mitunter den Eindruck erwecken, die aktuelle Misere sei allein den faulen Professoren und den Langzeitstudenten zu verdanken. Die markantesten Zahlen hinsichtlich der Steigerungsraten des Personals sind von 1993 auf 1998 der minimale Zuwachs im nichtwissenschaftlichen Personal (1,1 Prozent) und die Schrumpfung im wissenschaftlichen Bereich (–9,9 Prozent).F¨ur 1998–2002 sind Zuw¨achse in der Professorenschaft a¨ußerst gering (1,1 Prozent). Angesichts der absoluten Gr¨oßenverh¨altnisse beim Hochschulpersonal muss man sich dar¨uber wundern, wie es u¨ berhaupt m¨oglich ist, dass die Hochschulen bei den großen Anzahlen von Studierenden und den geringen Anzahlen von Professoren zumindest dem a¨ ußeren Anschein nach immer noch funktionieren. Die zentralen Aufgaben der Universit¨aten – Forschen und Lehren (inklusive Beraten, Korrigieren und Pr¨ufen) – werden durch die nicht habilitierten Wissenschaftler, die Privatdozenten und die Professoren wahrgenommen. Dabei haben die Professoren in einem fu¨ r Außenstehende kaum vorstellbaren Ausmaß Gremienarbeit zu leisten (die sog. akademische Selbstverwaltung), deren tieferer Sinn angesichts einer bloß noch scheinbaren Autonomie der Universit¨aten nicht mehr erkennbar ist. Die genannten Zahlen fu¨ r das Personal sind im Zusammenhang mit den großen Zuw¨achsen bei den Studierenden zu sehen (1992 bis 2002: 19,2 Prozent in den Sprach- und Literaturwissenschaften). Tats¨achlich ist es erstaunlich, dass das nichtwissenschaftliche Personal fast konstant umfangreicher ist als die Mitarbeiterzahlen im wissenschaftlichen Bereich. Gerade in Anbetracht des PC-bedingten Wegfalls eines Großteils klassischer Sekretariatsarbeiten ist dies eine Merkw¨urdigkeit. Die Hochschulpolitik greift zur L¨osung aktueller Probleme auf das Mittel der Erh¨ohung des Lehrdeputats der Professoren zur¨uck. Eine Maßnahme, die nichts anderes als eine schleichende Verringerung des Anteils der Professorenschaft am Hochschulpersonal darstellt. In Anbetracht der genannten Zahlen ist eine Erh¨ohung des Unterrichtsvolumens f u¨ r den einzelnen Hochschullehrer zwar eine Belastung, f u¨ r die Kohorten des in Warteschleifen auf Professuren wartenden Nachwuchses eine Existenzbedrohung, fu¨ r die durch die Haushaltskrisen zittrig gewordenen o¨ ffentlichen H¨ande aber kein wirksames Therapeutikum. Das Verh¨altnis zwischen der Anzahl von Studierenden und den Ausgaben f u¨ r die Geisteswissenschaften f¨allt erwartbar g¨unstig aus: die Geisteswissenschaften sind billig. Sie bilden u¨ ber die H¨alfte der Studierenden aus, ohne auch nur ann¨ahrend die H¨alfte der Finanzmittel zu beanspruchen.

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Hinsichtlich der von den Geisteswissenschaften bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeworbenen Mittel haben sich die Verh¨altnisse im Vergleich zu 1998 ver¨andert: die Geisteswissenschaften k¨ummern sich aktiver um ihre Finanzierung. Die DFG bewilligte 15,8 Prozent ihrer Forschungsmittel f u¨ r die Geisteswissenschaften. Die DFG f¨ordert die Forschungsarbeit in Form von Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegien und Forschergruppen. Bereits 1998 war der Anteil der Geisteswissenschaften an den Sonderforschungsbereichen schwach. Hier haben sich die Verh¨altnisse zun¨achst weiter r¨uckl¨aufig entwickelt. 1997 gab es insgesamt 256 Sonderforschungsbereiche, davon 27 in den Geisteswissenschaften (ca. 10,5 Prozent); 2002 gab es insgesamt 312 Sonderforschungsbereiche; von den Geisteswissenschaften wurden 39 betrieben (12,5 Prozent). Anders stellen sich die Verh¨altnisse bei den Graduiertenkollegien dar. Hier haben die Geisteswissenschaften eine starke Aktivit¨at entwickelt: 1997 gab es insgesamt 311 Graduiertenkollegien, 88 in den Geisteswissenschaften (ca. 28 Prozent). 2002 bestanden insgesamt 276 Graduiertenkollegien, davon entfielen 79 auf die Geisteswissenschaften (ca. 29 Prozent). In den Forschergruppen sind die Geisteswissenschaften wieder unter die 20-Prozent-Linie gefallen: 1997 insgesamt 83 Forschergruppen, davon 14 Geisteswissenschaften (ca.17 Prozent); 2002 insgesamt 160 Forschergruppen,davon 28 Geisteswissenschaften (17,5 Prozent). Das vergleichsweise aktive Profil der Geisteswissenschaften in der DFG bez¨uglich der Graduiertenkollegien und Forschergruppen wird bei der MaxPlanck-Gesellschaft allerdings nicht best¨atigt. Wie 1998 schneiden die Geisteswissenschaften schlecht ab. Sie bilden mit 18 Instituten die kleinste der drei Sektionen. Dabei ist zu beachten, dass die Geisteswissenschaftliche Sektion der MPG unterteilt ist in (a) Kulturwissenschaften, (b) Rechtswissenschaften sowie (c) Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Die Kulturwissenschaften entsprechen den im engeren Sinn geisteswissenschaftlichen F¨achern und auf diese entfallen tats¨achlich nur vier Institute: (1) Bibliotheca Hertziana – MPI fu¨ r Kunstgeschichte/Rom, (2) MPI f u¨ r Geschichte/G¨ottingen, (3) Kunsthistorisches Institut Florenz, (4) MPI fu¨ r Wissenschaftsgeschichte/Berlin. Auf der Ebene der Spitzeninstitutionen der Forschung sind die Geisteswissenschaften schwach repr¨asentiert.

IV Funktionsbestimmungen Unstrittig ist der Umstand, dass die Geisteswissenschaften keinen unmittelbar greifbaren Anwendungsbezug durch Produktion eines Verf u¨ gungswissens haben.Wo anders geredet wird, handelt es sich um Propaganda oder den Versuch, einem auf Anwendung geschrumpften Wissenschaftsverst¨andnis die Geisteswissenschaften trotz allem schmackhaft zu machen. Die Vermittlung eines Bildungswissens wird ihnen zwar zugebilligt, dieses erscheint den Kritikern

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jedoch in der modernen und postmodernen Welt weitgehend verzichtbar. Ich werde folgende Funktionen diskutieren: Kompensation, Reflexion/Aufkl¨arung, Orientierung, kulturelles Ged¨achtnis. (1) Kompensation: Die Kompensationstheorie behauptet, dass die Moderne durch die Liquidation der Tradition gepr¨agt ist (J. Ritter, H. L¨ubbe, O. Marquard). 28 Der Traditionsverlust und die mit ihm verbundene Dominanz eines an zweckrationalen Kalk¨ulen orientierten Denkens ist die Ursache einer sich mit zunehmender Geschwindigkeit ausbreitenden kulturellen Verarmung. Die post-traditionale Gesellschaft ist eine gesichtslose, nach technokratischen Prinzipien gestaltete W¨uste. Die Funktion der Geisteswissenschaften besteht nach der Kompensationsthese darin, den unvermeidbaren Traditionsverlust zu kompensieren. „Die Modernisierung wirkt als Desorientierung; sie wird – modern – kompensiert durch die Ermunterung von Traditionen, mit denen man sich identifizieren kann: also etwa der Tradition des Christentums, der Tradition des Humanismus, der Tradition der Aufkl¨arung usf.“ 29 Eine oft vorgebrachte Kritik an der Kompensationsthese besagt, dass die bloße Vergegenw¨artigung (beliebiger) Traditionen kein tragf¨ahiges Gegengewicht zu den als problematisch empfundenen Tendenzen der Gegenwart darstellt. (2) Reflexion und Aufkl¨arung: Vertreter einer Reflexions- und Aufkl¨arungsthese erkennen in der Arbeit der Geisteswissenschaften einen wesentlichen Beitrag zur Selbstverst¨andigung und Selbstaufkl¨arung moderner Gesellschaften. Sie leisten diesen Beitrag gerade nicht durch Kompensation eines Traditionsverlusts der eigenen Kultur. Als historische Wissenschaften wenden sich die Geisteswissenschaften grunds¨atzlich der Geschichte aller Kulturen zu, sie sind universalistisch, nicht partikularistisch. In der Konfrontation mit dem Fremden und nicht in der Vergegenw¨artigung des Eigenen sch¨arft sich das Bewusstsein f u¨ r die kulturelle Identit¨at: „[. . . ] die geisteswissenschaftliche Reflexion kann uns helfen, gegen¨uber Einstellungen, die uns entweder nicht bewußt waren oder uns selbstverst¨andlich schienen, Distanz zu gewinnen. Die geisteswissenschaftliche Reflexion fu¨ hrt also zu einem Gewinn an Freiheit.“ 30 Das ist der entscheidende Punkt fu¨ r ein angemessenes Verst¨andnis der Geisteswissenschaften und f u¨ r die in der Tat unersetzliche Funktion, die sie erfu¨ llen. Die Reflexionsleistung der Geisteswissenschaften ist nicht nur auf die Vergangenheit gerichtet. Sie ist gegenwarts- und zukunftsbezogen: Insofern die moderne Kultur einen Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Aktivit¨at auf die Produktion von Verfu¨ gungswissen legt, sind die Geisteswissenschaften gerade deshalb notwendig, weil sie eine Reflexion u¨ ber Ziele und Zwecke des Handelns einschließlich der Anwendung von Verfu¨ gungswissen durchfu¨ hren k¨onnen. 28

L¨ubbe 1978; Ritter 1974; Kompensation 1988. Marquard 1986, 106. 30 Tugendhat 1992, 460. 29

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„Die Geisteswissenschaften sind der ,Ort‘, an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen.“ 31 Die Geisteswissenschaften sind der Raum, in dem sich das Wissen der modernen Gesellschaften von sich selbst bildet. Wenn diese komplexen Gesellschaften sich nicht besinnungslos und blind den Abl¨aufen und Gesetzm¨aßigkeiten ihrer unterschiedlichen Bereiche ausliefern wollen, und wenn sie die Spannungen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen nicht zumindest partiell beherrschen wollen, dann brauchen sie die Geisteswissenschaften. Wenn man diese Bedeutung der Geisteswissenschaften erfasst hat, dann bedarf es keiner weiteren Begr¨undung. Die Frage, welche Methoden die Geisteswissenschaften verwenden, um dem hier formulierten Anspruch ge¨ recht zu werden, ist im Rahmen dieser Uberlegungen nicht mit hinreichender Gr¨undlichkeit zu beantworten. Aber ein entscheidender Punkt soll mit Blick auf Droysen zumindest genannt werden. Die Auffassung Droysens w¨are zu erweitern durch eine Konzeption des Verstehens und Interpretierens, die den semiotischen Bedingungen des Verstehens und Denkens Rechnung tr¨agt. Hierfu¨ r bedarf es keines Paradigmenwechsels, sondern einer in vielen Studien l¨angst vollzogenen Integration von Hermeneutik und Semiotik. Als leuchtendes Beispiel fu¨ r die angemessene Vermittlung beider kann immer noch die klassische Studie von C. Geertz „Person, Zeit und Umgangsformen auf Bali“ dienen. 32 (3) Orientierung: Eine Verst¨arkung der Reflexionsthese f u¨ hrt dazu, dass die Geisteswissenschaften als Orientierungswissenschaften bestimmt werden. Dies klingt insbesondere fu¨ r diejenigen verlockend, die nach einem Nachweis der N¨utzlichkeit der Geisteswissenschaften Ausschau halten. In Anbetracht der Tatsache, dass das in den Naturwissenschaften und Technologien bereitgestellte Verfu¨ gungswissen ein Wissen dar¨uber vermittelt, was der Fall ist und was man tun kann, nicht aber dar¨uber, was vern¨unftigerweise der Fall sein soll und wie man handeln soll, wird den Geisteswissenschaften die Funktion zugewiesen, das hier erforderte Orientierungswissen zu produzieren. Die Geisteswissenschaften als Orientierungswissenschaften beerben den idealistischen Bildungsgedanken und werden durch die Aufgabe bestimmt, eine Lenkungsfunktion in der modernen Gesellschaft zu u¨ bernehmen. Neben dem Bildungsaspekt k¨onnen auch traditionelle Konzeptionen wie die Aristotelische „Phronesis“, der Gemeinsinn („Sensus communis“) und die Urteilskraft als orientierungsvermittelnde F¨ahigkeiten angef u¨ hrt werden, was bereits die philosophische Hermeneutik Gadamers tut, wenn sie auch noch nicht den Terminus „Orientierung“ verwendet. Ich habe bereits deutlich gemacht, dass der zweiten Position „Aufkl¨arung/ Reflexion“ außerordentlich große Bedeutung zukommt. Tats¨achlich halte ich die Aufkl¨arungs- und Reflexionsfunktion der Geisteswissenschaften f u¨ r unent31 32

Mittelstraß 1991, 39. Geertz, 1987.

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behrlich und f u¨ r v¨ollig hinreichend, um die Relevanz dieser F¨achergruppe zu belegen. Sie ist es auch, die die zu Beginn im Zusammenhang der Kritik an den popul¨aren Vorurteilen genannte Funktion erfu¨ llt,die unm¨undigen Zuschauern des politischen Prozesses zu m¨undigen Mitspieler zu bilden. Wie steht es mit den beiden anderen Vorschl¨agen? – Weder die Konzeption der Geisteswissenschaften als Kompensationswissenschaften noch die der Orientierungswissenschaften u¨ berzeugen. J. Mittelstraß spricht von einer „ungl¨ucklichen Alternative“ 33 . Ungl¨ucklich ist die Alternative erstens, weil die Kompensationsthese die Geisteswissenschaften nicht mehr als Wissenschaften begreift. Die bloße Vergegenw¨artigung von Vergangenheit in einer zunehmend beschleunigten Gegenwart wird schließlich auch in anderen Bereichen als dem der Wissenschaften geleistet, und dort m¨oglicherweise effizienter. Zu denken w¨are dabei an historische Romane, TV-Dokumentationen, Spielfilme mit historischen Stoffen etc. Die Kompensationstheorie unterfordert die Geisteswissenschaften,und sie tr¨agt ihrem Wissenschaftscharakter nicht Rechnung. 34 Ungl¨ucklich ist die Alternative zweitens, weil die Geisteswissenschaften u¨ berfordert sind, wenn ihnen Orientierung als eine Funktion zugeschrieben wird, fu¨ r die sie gewissermaßen ein Monopol beanspruchen k¨onnten. Mittelstraß macht auf ein politisches Interesse aufmerksam, das h¨aufig hinter der Rede von den Geisteswissenschaften als Orientierungsspezialisten steht. 35 Zwar k¨onnen die Geisteswissenschaften einen Beitrag zur Orientierung der modernen Gesellschaften leisten, aber sie sind keine speziellen Orientierungswissenschaften. Unbestritten ist der Befund, dass die moderne Welt Orientierungsprobleme hat. Unbestritten ist zudem, dass Orientierungsprobleme nicht durch Produktion von Verfu¨ gungs- oder Faktenwissen gel¨ost werden. Unbestritten ist dar¨uber hinaus, dass die Wissenschaften einen Beitrag zur L¨osung dieser Probleme leisten k¨onnen, indem Orientierungswissen bereit gestellt wird. Orientierungswissen wird dabei verstanden als ein Wissen von gerechtfertigten Zielen, Zwecken des Handelns. Orientierungswissen beantwortet die Frage, was man tun soll, im Gegensatz zu der in den Bereich des Verf u¨ gungswissens fallenden Frage, was man (auch technikgest¨utzt) tun kann. Die Geisteswissenschaften k¨onnen Antworten auf Orientierungsfragen formulieren. Aber sie sind weder f u¨ r alle Orientierungsfragen zust¨andig, noch ist die Formulierung von Orientierungswissen die einzige Aufgabe der Geisteswissenschaften. Es handelt sich um einen partiellen Aspekt ihrer Arbeit, nicht um ihr Wesen. Einleuchtend ist das, wenn man an den Bereich von aktuellen Problemen denkt, der durch die Entwicklungen der Biowissenschaften entstanden ist. Die Biowissenschaften produzieren immer mehr Verfu¨ gungswissen. Der Bereich 33 34 35

Mittelstraß, 1997, 17. Schn¨adelbach (1988). Mittelstraß, 1997, 20.

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des M¨oglichen weitet sich aus, ohne dass die Antworten auf die Fragen danach, ob das M¨ogliche realisiert werden soll/darf mitgeliefert werden. Dass die Geisteswissenschaften hinsichtlich der tangierten Interessen, Normen und Werte (Menschenw¨urde, Personenstatus) etwas zu sagen haben, steht außer Frage. Aber eine Kompetenz zur L¨osung der Orientierungsprobleme gibt es nicht in arbeitsteiliger Form. Vielmehr bedarf es eines Zusammenwirkens der unterschiedlichen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Gruppen und eines argumentierenden Streits der Interessen, damit eine begr¨undete Antwort auf die Frage gegeben werden kann, ob technisch Machbares auch getan werde soll. Nicht nur f u¨ r die Produktion von Verf u¨ gungswissen sind Zeit und finanzielle Ressourcen aufzuwenden. Auch f u¨ r die Produktion des komplement¨aren Orientierungswissens gilt dies. Und hier¨uber besteht meist keine Klarheit, vielmehr dr¨angt eine effizienzfixierte o¨ ffentliche Meinung auf rasche Antworten. Begr¨undete und gute Antworten auf komplexe Fragen brauchen aber Zeit, Zeit zum Nachdenken. Hierf u¨ r hat die schnelllebige Moderne immer weniger Verst¨andnis. 36 Von den Geisteswissenschaften unter gegenw¨artigen Bedingungen die Aufhebung dieses Missverh¨altnisses zu erwarten, hieße, sie zu u¨ berfordern. Ich bin durchaus der Ansicht, dass die Geisteswissenschaften einen Beitrag zur Orientierung leisten k¨onnen. Aber die starke Version der Orientierungsthese – die Geisteswisssenschaften als Spezialisten fu¨ r die Orientierung – lehne ich ab. (4) Kulturelles Ged¨achtnis: Die Geisteswissenschaften vergegenw¨artigen Aspekte der Vergangenheit, die f u¨ r die Orientierungen in der Gegenwart wichtig sein k¨onnen. Ein Blick auf den aktuellen „Boom“ von Erinnerung und Ged¨achtnis konkretisiert die M¨oglichkeiten der historischen Geisteswissenschaften: ohne eine wissenschaftliche Bearbeitung und eine methodische Interpretation der Dokumente, Relikte und Spuren ist das Geschichtsged¨achtnis einer Kultur einseitigen ideologischen Zugriffen oder politischer Instrumentalisierung ausgeliefert. Dieses Argument ist von einer kaum zu u¨ bersch¨atzenden Bedeutung. Hierbei m¨ochte ich nochmals – wie bereits zu Beginn – den Zusammenhang zwischen den Geisteswissenschaften und dem Bereich des Politischen betonen. Dass das kollektive Ged¨achtnis nicht eine beliebige und m¨oglicherweise verzichtbare Bereicherung unseres Wissens darstellt, sondern mit elementaren Interessen an Wahrheit und Gerechtigkeit zusammenh¨angt, wird deutlich, wenn man an die Sicherungen von Massengr¨abern und die Identifizierung der Opfer politischer Gewalttaten in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte denkt. In vielen F¨allen ist die Beseitigung von Schweigen, Verleugnung oder die Widerlegung falscher Behauptungen durch die Formulierung begr¨undeter historischer Information ein fundamentaler Beitrag, um den Opfern der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diese Relevanz des historischen Ged¨achtnisses 36

Mittelstraß 2001, 22f.

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bezieht sich nicht nur auf die Zeitgeschichte, sondern sie erstreckt sich bis in weit zur¨uckliegende historische Tiefendimensionen. Ein weiterer Punkt, der bereits in der Aufkl¨arungs- und Reflexionsthese angesprochen wird, betrifft die von den Geisteswissenschaft geleistete Verfremdung des Eigenen und Aneignung des Fremden. Indem sie die Herkunftsgeschichte der eigenen kulturellen Welt beschreiben, machen sie Aspekte gegenw¨artiger Praxis verst¨andlich. Manche kontingente Faktoren der eigenen Lebensform sind nur historisch erkl¨arbar. Um zu verstehen, weshalb sich das Verh¨altnis von Kirche und Staat in Deutschland und Frankreich so unterschiedlich ausgepr¨agt hat, ben¨otigt man historisches Wissen. Man wird die Unterschiede nicht verstehen, wenn man nicht weiß, dass Deutschland keine Revolution wie Frankreich 1789 durchgemacht hat und durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 im Zug der Zerst¨orung der alten Reichsstrukturen das traditionelle Verh¨altnis von Staat und Kirche nicht einschneidend gel¨ost hat. Die Rede von den Geisteswissenschaften als Ged¨achtniswissenschaften hatte ich anfangs im Zusammenhang mit dem Vorurteil u¨ ber die Antiquiertheit der Geisteswissenschaften angefu¨ hrt. Diese Kritik sagt: Geisteswissenschaften sind selbst Vergangenheit, sie sind veraltet. Den Naturwissenschaften geh¨ort die Zukunft. Das greift zu kurz. Von manchen wird der Boom des Ged¨achtnisBegriffs im Feld von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft (Stichworte: Historikerstreit,Vergangenheitsbew¨altigung, Mahnmal-Diskussion, Wehrmachtsausstellung, Reparationsforderungen der Vertriebenen) als Beleg f u¨ r die Vitalit¨at und Notwendigkeit kultureller Erinnerung angesehen. Und von da aus wird dann auch die Arbeit der Geisteswissenschaften positiv gesehen. Denn die Geisteswissenschaften k¨onnen selbst als Teil des kulturellen Ged¨achtnisses aufgefasst werden. Die entgegengesetzte Option aber erkennt in allen Bem¨uhungen um eine Differenzierung des kulturellen Ged¨achtnisses kaum Sinn und keinen Nutzen. Verk¨urzt kommt diese Haltung in der Aussage von Betrachtern der Baustelle des Mahnmals fu¨ r die Opfer des Holocaust in Berlin zum Ausdruck „Wie schade um das viele Geld, man h¨atte doch auch etwas Sch¨ones machen k¨onnen“. ¨ Ahnlich reagieren manche angesichts der Resultate historischer Gelehrsamkeit „Wie schade um das viele Geld, man h¨atte doch auch etwas N¨utzliches machen k¨onnen“. Das ist eine m¨ogliche Option. Als Wissenschaften haben die Geisteswissenschaften hier keine weltanschaulichen Pl¨adoyers abzugeben. Sie k¨onnen aber darauf hinweisen, dass Wissen nicht durch Nutzen definiert ist. Man muss abw¨agen, was man will: den unmittelbaren Nutzen oder auch das nicht direkt verwertbare Wissen. Eine Vergegenw¨artigung der Genese der Gegenwartssituation und eine Wahrnehmung fremder kultureller Verh¨altnisse bereichert und vertieft das Verst¨andnis f u¨ r die Gegenwart. Dabei ist gerade nicht ausschließlich das reine Faktenwissen als solches ausschlaggebend, sondern die F¨ahigkeit zur Erfas-

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sung der historisch ver¨anderlichen Wahrnehmungsmuster und Handlungsformen der Individuen und Kollektive. Die Geisteswissenschaften verstehen den Menschen als ein Naturwesen, zu dessen Wesen es geh¨ort, sich in historischen Entwicklungen zu befinden. Die universalen Konstanten sind vermittelt durch partiell kontingente Momente und historisch variable Modellierungen. Indem man diese erforscht und erkennt, bildet man empirisches Wissen und man sch¨arft sein Selbstverst¨andnis.

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„Radikalphilologie“ Die Bedeutung der Altertumswissenschaften fu¨ r die heutige Bildung jurgen ¨ paul schwindt

Die Frage nach der „Bedeutung der Altertumswissenschaften fu¨ r die heutige Bildung“ ist gewiss geeignet, bei manchem Erforscher des Altertums Unbehagen, zumindest Ratlosigkeit oder Verlegenheit hervorzurufen. Begriff und Vorstellung der „Bildung“ sind in den heutigen Altertumswissenschaften problematisch geworden. Das schließt nat¨urlich nicht aus, dass die Wissenschaften vom Altertum nicht nach wie vor ihren Beitrag zur „heutigen Bildung“ zu leisten h¨atten. Ob, und wenn, wie sie dies heute noch tun k¨onnen, auf diese Frage wird in einem Essay niemand ernsthaft die Antwort suchen. Zumal Verfasser vorliegender Skizze, als Philologe, gleich fu¨ r drei methodische Voraussetzungen um Verst¨andnis werben muss: dass er 1) Philologie als privilegierte Methode der kontrollierten Gegenstands- und Gehaltsfeststellung (divinatio, inventio) betrachtet, folglich 2) auch u¨ ber Bildung nur philologisch sprechen kann, 3) u¨ ber Texte sprechen muss, Texte, versteht sich, die seinem „Gegenstandsbereich“ angeh¨oren. Vorbemerkung Auch der Begriff der „Altertumswissenschaften“ ist problematisch. Nicht nur ist unsicher, wie eng oder wie weit ein solcher Begriff heute zu fassen w¨are; er impliziert in jedem Falle ein bestimmtes historisches Konzept, das seine Bl¨utezeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebte. Entwickelt haben sich die Altertumswissenschaften im Anfang des 19. Jahrhunderts durch jenen Prozess der Ausdifferenzierung spezieller aus Generalwissenschaften, der auch in anderen Zweigen der Humanwissenschaft gleichzeitig zu beobachten ist. Leitwissenschaft war in der Anfangsphase die Klassische Philologie, aus der sich in der Mitte des Jahrhunderts die spezielleren Wissenschaften der Arch¨aologie, der Alten Geschichte, der Papyrologie, Epigraphik und Numismatik entwickelten. Die Ausfaltung der Einzeldisziplinen hat rasch zur Profilierung eigenst¨andiger Fachkulturen beigetragen, deren Kompatibilit¨at sich zunehmend zur Gegenstandsgemeinschaft verengte. Im ¨ Ubrigen wurden die philologischen Altertumswissenschaften philologischer,

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die historischen historischer. Der gleichzeitige Aufschwung philologischer und historischer Methodologien verfestigte die Fachgrenzen. Erneute fruchtbare Ann¨aherung der Disziplinen setzte wohl ein entwickeltes Bewusstsein von der konzeptionellen Labilit¨at „unserer“ Gegenst¨ande voraus. Gemeinsames Nachdenken u¨ ber Bildung h¨atte – aus philologischer Perspektive – dort anzusetzen, wo noch keine Gegenst¨andlichkeit den Blick auf das verstellt, was in den Texten geschieht.

Vorgeschichte oder Wie die Altertumswissenschaft die Bildung verloren hat Noch zu der Zeit, als die Klassische Philologie die K¨onigsdisziplin der alten Philosophischen Fakult¨aten war, gerieten bestimmte Konzepte von Bildung in Misskredit. Nicht nur pl¨adierte auch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff f u¨ r die Einfu¨ hrung des „Realgymnasiums“, er wandte sich pers¨onlich gegen die Herausforderungen, die erst Nietzsches, dann Georges antihistoristischvitalistische Kunstphilosophie f u¨ r die in den Altertumswissenschaften transportierten Bildungskonzepte bereithielt. Und doch kann man nicht eigentlich sagen, dass sich die Klassische Philologie freiwillig von ihren Bildungsanspr¨uchen verabschiedet hat. Zwei Weltkriege, die Ausmerzung der j¨udischen (und großb¨urgerlichen) Intellektualit¨at und Kosmopolitie und ein bald evolution¨ar, bald reformatorisch sich entwickelndes Bildungswesen haben die Alte Philologie auf die Dauer ihrer Anspr¨uche entw¨ohnt. Kurz gesagt, philologische paideia-Konzepte haben Katastrophen nationalen und internationalen Ausmaßes weder verhindert noch auch nur vorhergesehen, sondern wom¨oglich sogar bef¨ordert: Es ist nur scheinbar ein Paradox, dass der Bildungsbegriff, soweit philologisch bestimmt, auf dem H¨ohepunkt seiner konzeptionellen Virulenz, mit Werner Jaegers „Drittem Humanismus“, unterging. Er ist heute hoff¨ahig nur in der Sprache und Vorstellungswelt der Humanismusf¨orderungsgesellschaften. Neue Impulse hat er von den Altertumswissenschaften nicht erhalten noch solche in ihnen ausgel¨ost. Die Klassische Philologie glaubte ihren Beitrag zur Bildung die l¨angste Zeit darin erblicken zu k¨onnen, dass sie auf die f u¨ r zeitlos erachteten Werte, Gehalte und Inhalte der griechisch-r¨omischen Welt verwies.Seltener sprach sie von den Formatierungseffekten (formale Bildung), die die Arbeit an Formproblemen mit sich bringen kann. So gut wie nie erinnerte sie an die Voraussetzungen, die notwendig sind, das kulturelle „Erbe“ auf der H¨ohe seines je historischzeitgenossenschaftlich durchgesetzten und behaupteten k¨unstlerischen Bewusstseins zu adaptieren.

Gegenwart oder Die Leerstelle Wenn die Altertumswissenschaften auch heute noch bildend wirken k¨onnen, so tun sie dies f u¨ r gew¨ohnlich en passant, ihre Bildungseffekte sind kontingent.

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Die schulische Stellung der Alten Sprachen, lange gef¨ahrdet, hat sich leidlich gefestigt. Die Nachfrage an den Universit¨aten hat sich deutlich erh¨oht. Die Universit¨aten dagegen beeilen sich, im Zuge der Umgestaltung ihrer Studieng¨ange nach Griechisch jetzt auch Latein aus den Curricula zu verabschieden. Das Festhalten am Lateinischen wird manchenorts als Hemmschuh von Internationalisierung und „Globalisierung“ verstanden. Was in Bologna, Edinburgh und Uppsala nicht gewusst werden muss, soll auch in M¨unchen, G¨ottingen und Heidelberg nicht als Voraussetzung f u¨ r die h¨oheren Studien gelten d¨urfen. Die professionelle Gleichg¨ultigkeit gegen Humboldts Bildungselitengedanken bekommt vor allem das Kernfach der Alten Universit¨at, das Griechische, zu sp¨uren. Aber auch andere kosmopolitisch disponierte Disziplinen wie die Mittellateinische Philologie, Inbegriff der grenz¨uberschreitenden, philosophische, theologische, medizin- und rechtshistorische, natur- und kulturwissenschaftliche Diskurse zusammenbindenden disciplina magica, werden engmaschigen Denkmustern geopfert. Es ist wichtig darauf zu verweisen, dass es l¨angst nicht immer die vielbeschworenen h¨oheren Gegebenheiten, sei es in Ministerien, sei es in Schulbeh¨orden, sind, die f u¨ r die u¨ berrasche Abschmelzung des Bildungsberges verantwortlich sind. Die altertumswissenschaftlichen F¨acher selbst sind auf den institutionellen Ruin schlecht vorbereitet. In Zeiten des hochschulpolitischen Furors wird es wenig hilfreich sein, auf Konzepte zu verweisen, die schon in g¨unstigeren Zeiten als obsolet denunziert werden konnten. So ist die aufdringliche Programmatik fr¨uherer Bl¨utephasen vielerorts n¨uchterner Skepsis gegen¨uber allen Formationsanspr¨uchen gewichen. Das Selbstverst¨andnis der aktuellen Wissenschaften vom Altertum ist szientifisch, das Bestreben der Altertumswissenschaft auf Erfassung, Beschreibung und Auswertung der materialen Grundlagen gerichtet.

Zukunft oder Wie die Altertumswissenschaft die Bildung zur¨uckerlangen kann Wie kann Altertumswissenschaft bildend wirken, ohne atavistischen Bildungsvorstellungen nachzuh¨angen? Ich formuliere fu¨ nf Thesen; dahinter stehen Konzepte, die sich im philologischen Elementarunterricht bew¨ahrt haben. Selbstverst¨andlich k¨onnen sie weder Vollst¨andigkeit (im Sinne einer auch nur zureichenden Problembeschreibung) noch allgemeine G¨ultigkeit beanspruchen. These 1: Die Wissenschaft vom Altertum h¨ort auf, ihr Arbeitsgebiet nach der fortschreitenden Verfestigung solider Gegenwartsbestimmungen einzuteilen und zu benennen. „Altertumswissenschaft“ ist der Erforschung eines bestimmten Kulturkreises w¨ahrend einer bestimmten Phase seiner Entwicklung, also im hier interessierenden Falle der griechischen und r¨omischen Kultur in den eineinhalb Jahrtausenden zwischen Mykenes Untergang und

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der Eroberung Westroms, gewidmet. Dies schließt ihre unmittelbare Relevanz f u¨ r das Selbstverst¨andnis der Moderne als Moderne gerade nicht aus: Mit der gleichen Selbstverst¨andlichkeit, mit der sich die klassisch-romantischen und postromantischen Inauguratoren der Moderne bei ihren konzeptionel¨ len Uberlegungen immer direkt auf die Antike bezogen haben, sollte die Bedeutung der Altertumswissenschaften, als Arch¨aologie der Moderne, unstrittig sein. These 2: Sie ist modern nicht so sehr als Wissenschaft, die ihren Gegenstand „up to date“ bringt,ihr Wissen u¨ ber denselben nach allen Seiten vervollst¨andigt und dokumentiert. Vielmehr vermeidet die moderne Altertumswissenschaft die Ausweichbewegung weg von den Zentren der Traditionsbildung und bringt ¨ in den wirkungsm¨achtigen Uberlieferungsbestandteilen das Relief der Moderne zum Vorschein. ¨ These 3: Sie revidiert ihr seit langem gest¨ortes Verh¨altnis zum Asthetischen, ¨ indem sie sich bereit und in der Lage zeigt, dem Asthetischen auf der H¨ohe ¨ seiner gegenw¨artigen Verfassung zu begegnen. Die Asthetik als Wissenschaft ¨ von der Form (Diagnostik, Atiologie/Pathogenese) ist nicht zugleich mit der Mehrzahl der g¨angigen Bildungskonzepte obsolet geworden. These 4: Eine inhaltsfixierte Altertumswissenschaft wird sich schwertun, dem Teufelskreis von bl¨oder Spannung und kultivierter Langeweile zu entrinnen; vitale Wissenschaft vom Altertum bringt die Dinge bildend auf ihren reflexiven Begriff,weist ihnen ihre systematische Stelle im (kulturellen) Traditionszusammenhang zu. These 5: Noch weniger kann sie es sich leisten, auf Gehalte fixiert zu sein. Die Altertumswissenschaft bildet, indem sie u¨ ber Bildung nicht redet, sondern die Bildung der Moderne in der genealogischen Vertiefung auf ihre elementaren Konditionen hin durchsichtig macht – als Radikalphilologie. Weil, wie die Erfahrung lehrt, Konzepte eben nicht zeitlos sind, m¨ussen sie radikalisiert, das heißt ihrerseits zum Gegenstand philologischer Subversion werden. Wenn Altertumswissenschaft als nicht inhalts- noch gehaltsfixierte, a¨ sthetisch aufgekl¨arte, moderne Arch¨aologie der Moderne von Bildung nicht reden, sondern Bildung zeigen soll, dann kann ihr kein sch¨oneres Demonstrationsobjekt zufallen als jener Text, den nicht nur Laien nur zu oft f u¨ r den Inbegriff einer konservativ abgeschmackten Altertumswissenschaft genommen haben. Und wirklich: Wann haben wir zuletzt etwas Gutes u¨ ber den Anfang des Bellum Gallicum geh¨ort oder gelesen? Es w¨are eine lohnende Aufgabe, eine Phraseologie der negativen Beurteilungen des Caesartextes zu erstellen. Eine Philologie, die immer schon weiß, was in ihren Texten verhandelt wird, l¨auft Gefahr, Lekt¨uren auszugeben, die Common-sense-Bildungen erh¨arten, statt selbst bildend zu wirken.

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Vergessen wir, was wir uns u¨ ber diese vielleicht ber¨uhmteste Exposition der Literaturgeschichte zu h¨oren gew¨ohnt haben und fragen wir noch einmal: „Quid agitur?“. Es geht, soviel sei im Vorgriff zu sagen verstattet, um Bildung, genauer um die Figuration und Defiguration kultureller Einheiten durch Trennung (e-ruditio als Entfernung). Es ist von vorneherein bemerkenswert, dass noch bevor das, was Rom von den Galliern trennt, deutlich wird, die innergallische Differenz aufgemacht wird (Gallia est omnis divisa in partes tres) mit der tripartitio in Belger, Aquitaner und Kelten oder Gallier. Erst dann tritt die interkulturelle Differenz Rom/Gallien in den Blick (qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur). Die Feststellung des sprachlichen Unterschieds fu¨ hrt sogleich auf die sprachlich-gesellschaftliche Differenz der „gallischen“ V¨olker untereinander (hi omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt). Es folgen die geographischen Teilungsleistungen: Gallos ab Aquitanis Garunna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit. In einer Art Neuansatz wird die Teilungsbewegung vom Ganzen zum Einzelnen wiederholt (horum omnium fortissimi sunt Belgae). Das Alleinstellungsmerkmal der Tapferkeit kann nur in einem Kriegstatenbericht nicht verwundern; erstaunlich ist die Begr¨undung, die wiederum u¨ ber ein Alleinstellungsund Separationsverfahren verl¨auft (quod a [. . . ] longissime absunt minimeque [. . . ] saepe [. . . ]). Fortissimi sind sie, weil sie a cultu atque humanitate provinciae, „von Bildung und Gesittung der r¨omischen Provinz am weitesten entfernt“ leben. 1 Das ist eine Einsch¨atzung, die in einem Bericht u¨ ber die Neuordnung „Zentraleuropas“ durch Romanisierung u¨ berraschen muss. F¨ur die Einsch¨atzung der Tapferkeit des fremden Volkes wird die Herabsetzung vertrauter cultus- und humanitas-Begriffe in Kauf genommen. Die fortitudo steht außerhalb derselben und wird als indigene Gr¨oße gefasst. Der Faszination fremder Gr¨oße schildernd gerecht zu werden, darf sogar der cultus-Begriff gebrochen erscheinen. M¨oglicherweise muss sich der K¨ampfer auf r¨omischer Seite von den „provinziellen“ Werten entfernen, um auf der H¨ohe des Gegners zu sein. Der r¨aumlichen Ferne sekundiert die Seltenheit merkantiler Kontakte, des Imports von software (Gendergrenze): quae ad effeminandos animos pertinent. In starkem Kontrast zu den Entfernungsargumenten steht nun die Nachbarschaft zu den transrhenanischen Germanen, mit denen sie continenter bellum gerunt. Man darf das Beieinander von N¨ahe und kriegerischer Auseinandersetzung in einem Text, der so auf den Austrag bindender und trennender Verlaufslinien im Raum bedacht ist, oxymoral nennen. Unausgesetzter Kampf steht weit ab von cultus und humanitas der Provinz. In einem dritten Anlauf werden nun die Helvetier qua Alleinstellungsverfahren exponiert (Helvetii quoque reliquos Gallos virtute praecedunt) – mit 1

¨ Ubersetzung von C.Woyte, Stuttgart 1951.

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Wiederholung des zuletzt genannten Grundes, des tagt¨aglichen Kampfs mit den Germanen, die sie bald von ihrem Gebiet fernhalten, bald selbst in deren Gebiet bek¨ampfen m¨ussen. Die Bedachtnahme auf Grenzziehung und -wah¨ rung und ihre regelm¨aßige Uberschreitung treten als kapitale Moventien des Krieges hervor. In den Blick tritt zugleich die spatialpolitische Fundierung des gallischen Konflikts. Es geht um die Besetzung und vor allem Behauptung von R¨aumen, deren Abgrenzung durch mehrere Komponenten gew¨ahrleistet wird: a) geographische Trennlinien, b) sprachlich-institutionelle Diversit¨at, c) Distanz vom r¨omischen Einflussgebiet, d) N¨ahe zu germanischen V¨olkern. Alle genannten Faktoren sind kontingent. Fortitudo und virtus der gallischen V¨olker ergeben sich nach „Lage“ der Dinge und werden nach Romferne und Germanienn¨ahe bemessen. Wir stehen vor einem erstaunlichen Zeugnis: Implizit eingestanden wird, dass die in jener Zeit leidlich entwickelte humanitas-Idee gerade nicht dazu taugt, universalisiert zu werden. In der Kontamination mit indigenen Kulturen zerf¨allt sie wom¨oglich in ihr genaues Gegenteil: Bildung missr¨at zur effeminatio (anti-virtus). Grenz¨uberschreitung ist nat¨urlicher Kriegsgrund; wir d¨urfen vereinfachen: Krieg ist, wenn die Falschen zur falschen Zeit den falschen Ort besetzen. Das bellum Helveticum ist ein treffliches Exemplum fu¨ r die spatiallogische Kriegsbegr¨undung. Es ist wichtig zu sehen, dass unter- oder oberhalb der d¨urren Mitteilungen das Koordinatensystem der spatiallogischen Operationen verl¨auft. Das ganze bellum Gallicum ist ein Bewegungsspiel, in dem sich Kr¨afte mehr oder weniger geordnet im Raum bewegen. Differenzen sind nicht notwendig systemgef¨ahrdend, in der Exposition erscheinen sie systemstabilisierend. Der Eingriff in das Fremdsystem der gallischen Verh¨altnisse wird legitimiert durch das ber¨uhmte Iter Helveticum, den Eingriff in das Außen des innergallischen Systems. Es ist noch nicht bemerkt worden, wie sehr die Exposition an die subtilen Subdivisionsstrategien der r¨omischen Fachwissenschaften erinnert. Die Einteilungskunst z¨ahlt zu den prominenten Bezirken namentlich der Rhetorik; ich spreche noch nicht von der Spezialdisziplin der partitio, sondern dem distinguierenden, diskriminierenden Verfahren, welches das Ganze nach seinen Teilen und Unterteilen systematisch entfaltet und beschreibt. Aber es darf doch auch an die besondere Form der dispositio erinnert werden, die als Teil des Verfahrens der Redeverfertigung ihre systematische Stelle im n¨amlichen Redegeb¨aude hat, mit den Worten des anonymen auctor ad Herennium (1, 3):

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dispositio est ordo et distributio rerum, quae demonstrat, quid quibus locis sit collocandum. 2 „Die Anordnung des Stoffes ist das Ordnen und Verteilen der Einzelpunkte; sie macht kenntlich, was an welchem Platze anzuordnen ist.“ 3 Den Seitenblick zu tun sind wir berechtigt, weil Cicero selbst es ist, der zur selben Zeit (55 v. Chr.) in der Mitte seines rede- und bildungstheoretischen Hauptwerkes de oratore (2, 62) die Applikation rhetorischer Grunds¨atze auf historiographische Darstellung fu¨ r selbstverst¨andlich ansieht. 4 videtisne, quantum munus sit oratoris historia? Haud scio an flumine orationis et varietate maximum; neque eam reperio usquam separatim instructam rhetorum praeceptis; sita sunt enim ante oculos. „Seht ihr nicht, was f u¨ r eine schwierige Aufgabe die Geschichtsschreibung fu¨ r einen Redner ist? Vielleicht die schwerste, was den Fluss der Rede und die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks angeht. Und die finde ich bei den Rhetoren nirgends mit besonderen Vorschriften ausgestattet; sie liegen ja auch auf der Hand.“ 5 Gleich der Anfang der so geordneten „Rede“ soll die luziden Ordnungsprinzipien erkennen lassen (2, 315): Principia autem dicendi semper cum accurata et acuta et instructa sententiis, apta verbis, tum vero causarum propria esse debent; prima est enim quasi cognitio et commendatio orationis in principio, quaeque continuo eum, qui audit, permulcere atque allicere debet. „Beim Reden m¨ussen aber die einleitenden Partien stets nicht nur pr¨azise, treffend, reich an Gedanken und angemessen in der Formulierung sein, sie m¨ussen auch besonders zu der Eigenart der F¨alle passen. Die Einleitung ist es ja, in der sich die Rede zuerst empfiehlt und zu erkennen gibt, und das muss den Zuh¨orer sogleich einnehmen und gewinnen.“ Wir d¨urfen davon abstrahieren, dass sich diese Bestimmungen in den Bemerkungen u¨ ber Gerichtsreden finden; sie gelten auch f u¨ r die politischen und Lobreden. Fest steht auch, dass sich Caesar mit der Subgattung der commentarii nicht auf ein tradiertes Gef u¨ ge „literarischer“ Regeln berufen konnte. Aber F¨alle sind die Feldzugsberichte in aller Regel doch. Es hat nun den Anschein, 2

3 4

5

Knapper Cicero in der Fr¨uhschrift de inventione: dispositio est rerum inventarum in ordinem distributio (1, 9). Übersetzung von T. Nüsslein, München/Zürich 1994. Es tut nichts zur Sache, dass Cicero selbst im Brutus (§ 262) Caesars commentarii jeden rhetorischen Ornat abspricht. Wichtiger ist, dass er sie in seiner Rednergeschichte behandelt und ihren historiographischen Rang anerkennt: nihil est [. . . ] in historia pura et illustri brevitate dulcius. Die Übersetzungen aus de oratore von H. Merklin, Stuttgart 1976.

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dass sich die ersten Paragraphen de bello Gallico nicht in einen bestimmten Bereich des rhetorischen Regelsystems integrieren lassen. Es fehlen Anrede des Lesers wie u¨ berhaupt jede Form der Geneigtmachung desselben, es fehlt der Versuch, den schriftstellerischen Hintergrund des Autors in ein wie immer geartetes Verh¨altnis zu Entstehung und besonderer Artung des Textes zu set¨ zen. Wenigstens wollen sich die geostrategischen Uberlegungen nicht ohne weiteres in ein rhetorisches Schema fu¨ gen. Stattdessen wird das Objekt der milit¨arisch-strategischen Ann¨aherungsversuche umrissen, indem es nach geographischen und kulturell-gesellschaftlichen Gesichtspunkten eingeteilt wird. Die Teilungsapparatur schafft Grenzziehung, bildet K¨orperschaften und R¨aume unterschiedlicher Disposition. Wer wollte bestreiten, dass ein solcher Anfang, ein solcher Aufriss zum Anfang eines Werkes u¨ ber Teilungen, Zerlegungen, Bildungen passte? Und auch folgender Grundsatz ist berücksichtigt (2, 314): Ergo ut in oratore optimus quisque, sic in oratione firmissimum quodque sit primum. „So wie dort, wo es um den Redner geht, jeweils der beste an der Spitze stehen soll, so soll auch in der Rede jeweils das st¨arkste Argument am Anfang stehen.“ Das firmissimum, die Macht des Raumes, die Naturgesetzlichkeit der Spaltungsvorg¨ange und die Indifferenz vorhandener Formationen gegen exteriore Bildungskonzepte stehen am Anfang. Es versteht sich, dass auch jene „Regel“ beherzigt ist, wonach ein rechter Anfang erst am Schluss geschrieben wird (2, 315): hisce omnibus rebus consideratis tum denique id, quod primum est dicendum, postremum soleo cogitare, quo utar exordio. Nam si quando id primum invenire volui, nullum mihi occurrit nisi aut exile aut nugatorium aut vulgare aut commune. „Erst wenn ich alles das erwogen habe, u¨ berlege ich zuletzt gew¨ohnlich das, was ich an erster Stelle sagen muss, womit ich beginnen soll. Denn wenn ich das einmal zuerst ausfindig machen wollte, fiel mir nichts ein als d¨urftiges, nichtssagendes, gew¨ohnliches oder banales Zeug.“ All dies ist der Caesar-Anfang selbstredend nicht. Die Vergegenw¨artigung des ganzen Falles ist die unerl¨assliche Voraussetzung f u¨ r das Kondensat des principium (2, 318): Haec autem in dicendo non extrinsecus alicunde quaerenda, sed ex ipsis visceribus causae sumenda sunt; idcirco tota causa pertemptata atque perspecta, locis omnibus inventis atque instructis considerandum est quo principio sit utendum.

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„Das aber darf man sich beim Reden nicht von irgendwoher außerhalb besorgen, man muss es vielmehr aus dem eigentlichen Kern des Falles selbst entnehmen. Deswegen gilt es, wenn der ganze Fall gepr¨uft und untersucht ist, wenn s¨amtliche Gesichtspunkte aufgefunden und eingeordnet sind, zu u¨ berlegen, welcher Einleitung man sich bedienen muss.“ Es ist, als schriebe Cicero an gegen die Versuchung des tentativen, kontingenten, zuf¨alligen Anfangs; dagegen stellt er die visceralrhetorische Konzentration und „lokale“ Hierarchisierung der causa. [. . . ] et momenti aliquid adferent, cum erunt paene ex intima defensione deprompta, et apparebit ea non modo non esse communia nec in alias causas posse transferri, sed penitus ex ea causa, quae tum agatur, effloruisse. „Sie [sc. die in der Einleitung exponierten Hauptpunkte der Argumentation] werden [. . . ] einerseits einen bedeutungsvollen Beitrag leisten, wenn sie gewissermaßen dem Kern der Verteidigung entnommen sind, andererseits wird deutlich werden, dass sie nicht nur keine Banalit¨aten sind und sich auf keine anderen F¨alle u¨ bertragen lassen, sondern dass sie vielmehr zutiefst aus dem Fall, der gerade zur Verhandlung steht, erwachsen sind.“ (2, 319) „Intimit¨at“ sichert Bedeutung (momenti aliquid); nicht Gemeinpl¨atze, sondern Charakteristika, wie sie nur ex intima defensione stammen k¨onnen, sind gefragt. Das f u¨ hrt auf die semiotischen Weiterungen (2, 320): Omne autem principium aut rei totius, quae agetur, significationem habere debebit aut aditum ad causam et communitionem [õdopoÛhsiw] aut quoddam ornamentum et dignitatem. „Jeder Anfang muss aber entweder die Bedeutung des gesamten Gegenstandes der Verhandlung in sich tragen oder einen verl¨asslichen Zugang zu dem Fall er¨offnen oder ein gewisses Maß von Glanz und W¨urde mit sich bringen.“ Ich sagte es schon: Es ist schlechterdings undenkbar, dass sich jenseits der g¨angigen historiographischen Darstellungsformen Subbezirke wilder historiographischer Rede sollten gebildet haben, die nicht in konsistentem Zusammenhang mit jenen elementaren Regeln der Darstellung stehen,welche die Rhetorik bereitstellte. Die Beachtung der rhetorischen Regeln geht aber noch u¨ ber ihre schematische Anwendung hinaus. Die Einleitung fu¨ hrt uns eo ipso vor, was es bedeute, einen Text zu exponieren. Die Applikation des Regelwerks wird sichtbar in den elementaren textlichen Ordnungsleistungen, die sich mimetisch zum Ordnungswillen des Schreibers und rhetorischen Historikers verhalten. Oder ist es umgekehrt? Macht das schreibende Ordnen, dass sein Gegenstand, die Provincialisierung „Zentraleuropas“, allererst deutlich werde? Es geht um

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das Verh¨altnis von Kommentar und zu kommentierender causa: In jedem Falle erh¨alt der Rechenschaftsbericht (commentarii) seine tiefere Beglaubigung: als schreibender Nachvollzug einer vorg¨angigen Ordnungsleistung wie als zugleich retrospektiv und divinatorisch agierende Ordnungsmacht, welche die ratio des Verhandelten u¨ berhaupt zu Bewusstsein bringt. Es d¨urfte nach Vorstehendem schon deutlich geworden sein, dass in Caesars Exposition mehr als nur die hodopoietische Leistung (aditus ad causam et communitio) erbracht ist. Sie l¨asst sich als verschl¨usselte significatio des Werkes lesen. Eines Werkes u¨ ber Bildung. Eines Werkes u¨ ber Stil. Es scheint, dass Caesars Exposition changiere zwischen handfester geohistoriographischer Information, impliziter Mitteilung theoretischer Subdivisionsprinzipien und formativer Ambition. In dieser Annahme best¨arkt uns die hier in Anschlag gebrachte Folie der Bestimmungen de oratore: nur dass die dort ausgegebenen Maximen, wie f u¨ r den Anwendungsfall nat¨urlich, weitab von humanistisch gearteter Voreinstellung verhandelt werden. Im Gegenteil: Den Menschen und sein historisches Handeln zu beschreiben, braucht es Techniken, die nicht per se auf humanitas gegr¨undet sind. Die Rechenschaftslegung (Wissenschaft) dehumanisiert den Menschen, um ihn distant betrachten zu k¨onnen. Als das virtuelle Ergebnis diverser Abgrenzungsverfahren kommt Bildung zun¨achst nur als das Abfallprodukt eines Beschreibungs-, ergo Dehumanisierungsprozesses in Betracht. Der Mensch wird auf seine Intentionen hin durchsichtig gemacht. Reduziert wird er auf die Summe seines Wollens, sofern es sich im Durchschreiten von ¨ R¨aumen und Abstecken wie Uberschreiten von Grenzen zu erkennen gibt. Die semantische Problematik, die sich schon dem Sextaner in der unsicheren Handhabung des Wortes f u¨ r Raum und Grenze (finis, fines) entdeckt, mag hier ihren Ursprung haben. In Caesars Bildungstext vermischen sich dehumanisierte Perspektive und Beschreibung der geohistorischen Dinge. Das mag die eigenartige halb illusorisch-theatralische (Fokussierungseffekt), halb szientifische Ausstrahlung des Werkeingangs und wohl auch die Katastrophe seiner Rezeption erkl¨aren, die genau das inkriminieren zu m¨ussen meinte, was den Reichtum des Textes ausmacht: das Sinnf¨alligwerden der Theorie, id est n¨uchterner milit¨arisch-politischer wie basalliterarischer Strategie, als Stil. Der Konflikt von ahumaner Deskription und humanem Gehalt bleibt auch in Ciceros Generalversuch der humanistischen Rednerverfassung unaufgel¨ost, wenn die Bildungsgehalte in die Architektur eines rednerischen Systems transponiert werden. Dem Leser dieser Zeilen werden die h¨aufigen Rekurrenzen auf Spatialmetaphorik in Ciceros Bildungsbau schwerlich verborgen geblieben sein.Besonders die eigentlichen Bestimmungen u¨ ber die Bildung der Geschichte nehmen von tektonischen Bildern (fundamenta, exaedificatio, 2, 63) ihren Ausgang. Klar geworden sein d¨urfte auch, dass sich der ganze Bau nur dem erschließt, der sein Entschl¨usselungswerk nicht erst bei den Zinnen beginnt, sondern schon an den Fundamenten ansetzt. Es wird noch immer ein Bild sein, das er

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sich von der Bildung macht, ein Sprachbild zumal, aber das Bild sch¨utzt ihn vor der Illusion, er k¨onne anders als in Bildern der Sprache im Bilde sein. Was aber nun ist die Aufgabe der Philologie? Nur Gr¨oßenwahnsinn oder Naivit¨at k¨onnten zu der Annahme verfu¨ hren, es sei Aufgabe der Philologie, die Gedanken der Verfasser, Autoren, Schreiber unserer Texte noch einmal zu denken. Legionen von braven Universit¨ats- und Schulm¨annern m¨ussten u¨ ber dem Nachvollzug solcher Gedanken, als Nachdenker, vom Genius der „Vordenker“ ber¨uhrt,von der Muse gek¨usst worden sein.Der Niedergang der Alten Sprachen in der o¨ ffentlichen Reputation spricht eine andere Sprache. Der Philologe sieht nur, was der Text mit der konzeptionell aufgeladenen Rede gemacht hat. Und beschreibt die Operationen, deren Ineinandergreifen diesen Text zustande gebracht hat. Er sucht ihn an den Wurzeln zu fassen und kann ein St¨uck weit verfolgen, wie das Radikalmaterial u¨ ber den angestammten Bereich hinausschießt und sich mit anderem Wurzelwerk verbindet. Er sucht Zugang zum Getriebe des Textes, sucht in sein Geh¨ause zu kommen und wom¨oglich den generischen Code zu erschließen, der die ratio des Textes bestimmt. Solches Handwerk ist notwendig subversiv, weil es den Schnelldenkern ins Gehege kommt, die schon wissen, was Sache ist, noch bevor sie gelesen haben. Die Bildungsleistung der Philologie ist so elementar, dass sie leicht u¨ bersehen wird; sie legt die Bildungsleistung der Texte offen, indem sie durchsichtig zu machen sucht, was der Text wie woraus gebildet hat und was andere Texte wie mit diesem Text gemacht haben. Im Geh¨ause des Textes darf der Philologe am ehesten hoffen, jenen Punkt der Textverfertigung zu erhaschen, der am resistentesten gegen zeitliche Unbilden wie Umbildungen durch Zeit ist. Im Geh¨ause des alten Textes sitzt er also zugleich im R¨aderwerk der Moderne, deren zeitr¨aumliche Bildeverfahren, soweit wir sehen, u¨ ber die aus der Antike vertrauten nie hinausgekommen sind. Radikalphilologie h¨atte die Texte durchsichtig zu machen hin auf ihr elementares Ordnungssystem, ihre temporal-lokale Axiomatik zumal. Diese liefert die Matrix oder Wurzel fu¨ r ein Geschehen, das sich dann, um noch einmal auf Caesar zur¨uckzukommen, in konzeptionellen Begriffen als Konzept der Geschwindigkeit,der Besetzung und Entleerung von R¨aumen, der Kontrolle, der Organisation, der Verst¨andigung oder eben auch des Krieges fassen l¨asst. Altertumswissenschaft k¨onnte f u¨ r die heutige Bildung deshalb von Nutzen sein, weil sie gerade heute imstande sein sollte, die zeitlose Modernit¨at des Altertums auf einem Niveau zu vermitteln, das den zeitgen¨ossischen Diskurskontexten ad¨aquat ist. Wenn sie erkannt hat, dass das nostra res agitur der antiken Welt keine Sache der sporadischen Vergegenw¨artigung, sprich Aktualisierung, sondern ein constituens unseres Weltverhaltens ist. Der Bildungsprozess der Antikelekt¨ure bildet in der Lekt¨ure des alten Textes den modernen Menschen in uns.

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Ob die hier beschriebenen Ans¨atze zur Ausbildung eines neuen philologischen Paradigmas geeignet sind, neuerlich zu Tr¨agern u¨ bergeordneter Bildungskonzepte zu werden, ist fraglich. Unfraglich ist, dass sich jeder philologische Beitrag, wenn er zur Bildung beitragen soll, an der Radikalit¨at muss messen lassen, mit der sich die Moderne im Antiken zum Ausdruck bringt.

Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Bildungskrisen und Selbstorganisation der Kultur Zur Eigendynamik von Bildungsprozessen in der Moderne hartmut titze

Das Leben muss vorw¨arts gefu¨ hrt, es kann aber nur r¨uckw¨arts gedeutet werden.Dieser Gedanke des d¨anischen Philosophen S¨oren Kierkegaard (1813–1855) trifft die zentralen Einsichten, zu denen wir bei der Auswertung historischer Massendaten zum Bildungswesen seit Mitte der 1970er Jahre gelangt sind. Am Beginn unserer Forschungen stand das Interesse an einer aufgekl¨arten politischen Steuerung der damals wieder ins Blickfeld kommenden Lehrerarbeitslosigkeit in Deutschland. Durch dieses urspr¨ungliche Interesse („F¨ur die Einstellung aller Lehrer“) kam das langfristig angelegte Projekt auch zu seinem Namen (QUAKRI – historische Analyse von QUAlifikationsKRIsen in Preußen). Nach knapp drei Jahrzehnten systematischer Forschung k¨onnen wir formulieren, dass wir in Gestalt der periodischen Bildungskrisen einen in der Tiefenstruktur wirksamen Mechanismus der Kultur gefunden haben. Die Formulierung von Kierkegaard aufgreifend: Das gesellschaftliche Leben seit der Aufkl¨arung kann von uns r¨uckw¨arts als Bildungsprozess gedeutet werden.

1 Die Kultur der Aufkl¨arung Die moderne Gesellschaft bildete sich in ihren wesentlichen Strukturen im 18. und 19. Jahrhundert heraus. In der Aufkl¨arung kam sie in Bewegung. Um den sozialen Wandel seither zu begreifen, sollten wir Klarheit zu drei grundlegenden Fragen gewinnen: Was heißt Freisetzung? Was bedeutet die Verselbstst¨andigung des Lebenslaufs? Wie lernen die Generationen? Die b¨urgerlichen Schichten waren im Aufkl¨arungszeitalter die Tr¨ager des Aufbruchs und des Wandels. Die entscheidende gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung der Aufkl¨arungsbewegung lag darin, dass sie die reflektierende Haltung des Individuums gegen¨uber seinem Arbeitsgegenstand und seiner Umwelt zum Durchbruch brachte. Die u¨ ber viele Generationen schleichend wirksame Emanzipation von der st¨andischen Gebundenheit des gemeinschaftlichen Lebens bis zur modernen Flexibilit¨at des Individuums in der Weltgesellschaft ist am besten ¨ zu vergegenw¨artigen, indem man sich zun¨achst in einer ersten Uberlegung Aufkl¨arung als Freisetzung vor Augen fu¨ hrt. Der allm¨ahliche Strukturwandel

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Hartmut Titze

bei der Tradierung der Kultur auf die nachwachsenden Generationen kann in der Abfolge von drei idealtypischen Modellen deutlich gemacht werden, die den Nachwuchs fortschreitend zur Selbstbildung freisetzten. 1.1 Aufkl¨arung als Freisetzung Das erste Modell (Tradierung durch Mitahmung) finden wir am reinsten im b¨auerlichen Leben verwirklicht. In der u¨ ber Jahrhunderte hinweg kaum ver¨anderlichen, durch die H¨arte der k¨orperlichen Arbeit gepr¨agten Lebenswelt wuchsen die Kinder durch selbstverst¨andliche Teilnahme am Leben in Haus und Hof in ihren erwachsenen Status hinein. Der jeweiligen Reife und Leistungsf¨ahigkeit entsprechend wurden sie in die verschiedenen T¨atigkeiten der b¨auerlichen Hauswirtschaft von klein auf einbezogen und konnten sich durch konkreten Mitvollzug in ihr sp¨ateres Leben allm¨ahlich ein¨uben. Ausdr¨ucklich vorgemacht wurden ihnen die seit altersher gleichbleibenden Handgriffe nicht. Diese genuin traditionale Form der b¨auerlichen Erziehung ist reine funktionale Erziehung, eine ihrer selbst nicht bewusste Umgangserziehung. Die Erziehung ist noch vollst¨andig dem Leben eingelagert und vollzieht sich gleichsam von selbst. Im zweiten Modell (Tradierung durch Nachahmung) wird der Handwerker in einer regelrechten Lehre auf seinen Stand vorbereitet. In der Werkstatt geschieht die Erziehung weniger durch Mitahmung als durch Nachahmung: Der Lehrling schaut dem Meister zun¨achst zu, um das vorbildliche Werk dann selber nachmachen zu k¨onnen. Dieser Schritt vom reinen Mitvollzug zur Nachahmung ist p¨adagogisch sehr interessant, k¨undigt er doch in der Spanne zwischen Zusehen und Nachmachen die Herausbildung eines Freiheitsspielraums an, der sp¨ater eine individualisierte Aneignung der Tradition erst gestatten wird. Im Unterschied zum Mitvollzug, der die Tradition gleichsam organisch fortsetzt, trennt die Nachahmung in der Werkstatt durch den Hiatus zwischen ¨ Zusehen und Nachmachen die Uberlieferung und ihre Aneignung und impliziert damit ein Moment von Besonnenheit und Distanz zur Tradition. Das Leben tritt sozusagen aus der Praxis des Mit-Lebens heraus und wird – im Moment des Zusehens und der Besinnung – theoretisch. Um die sp¨atere Organisation des Lernens in der Schule voll zu verstehen, m¨ussen wir uns an diesem Modell der Nachahmung die Zeitspanne zwischen Zusehen und Nachmachen als allm¨ahlich immer mehr erweiterten und zeitlich gestreckten Lernraum vorstellen. Die moderne Schule ist der aus der Lebenspraxis ausgeklinkte Lernspielraum der jungen Generation zur Aneignung der Lebenspraxis. In der familialen Erziehung des gehobenen B¨urgertums ist das dritte Modell des reflektierten Aneignens der Kultur durch Lernen erstmals verwirklicht worden. Wir k¨onnen auch formulieren: Im ausgehenden 18. Jahrhundert wird das Verh¨altnis der Generationen als Lernprozess erstmals historisch bewusst. Die Sturm-und-Drang-Generation will anders leben als die Elterngeneration, nicht einfach durch Nachahmung die Tradition fortsetzen. Zwischen den

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Generationen muss also eine Differenz gedacht werden, ehe das Lernen der Generationen im historischen Prozess beginnen konnte. Deshalb hebt sich auch die um 1770 geborene Generation in den f u¨ hrenden St¨anden erstmals aus dem Kommen und Gehen der Generationen hervor. In pointierter Zuspitzung k¨onnte man formulieren: Im selben Maße, wie sich die Tradierung der Kultur von der Mitahmung allm¨ahlich zur reflektierten Aneignung der Vergangenheit verschob, wurde aus der Erziehung zum Handwerk in der Lehre die schulische Ausbildung der Kopfarbeit. Werkstatt und Schule k¨onnen idealtypisch als zwei unterschiedliche Modelle der Kultur¨ubertragung verstanden werden. 1.2 Der selbstgestaltete Lebenslauf ¨ Diesem Prozess der Freisetzung des Lebens korrespondiert – zweite Uberlegung – eine u¨ ber viele Generationen wirksame allm¨ahlicheVerselbstst¨andigung des Lebenslaufs 1 . In seiner grundlegenden Untersuchung der Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland unterscheidet Wilhelm Roessler die St¨ande in der traditionalen und modernen Welt in einer bemerkenswerten Begrifflichkeit. Im Hinblick auf den zugeschriebenen Status in der traditionalen Welt spricht er von Geburtsst¨anden, im Hinblick auf den durch die individualisierende Bildung erworbenen Status spricht er vom pers¨onlichen Stand. Diese Begriffe ber¨uhren sich mit unserem Ansatz, der die Rolle der Bildung in der Evolution thematisiert. In der traditionalen Gesellschaft (nat¨urliche Auslese) bleibt das nachfolgende Leben durch die Weitergabe der Kultur (Umgangserziehung) in den vorgegebenen st¨andischen Lebensschichten. Die funktionale Umgangserziehung ist eine Erziehung zum Gruppenselbst im Geburtsstand. In der modernen Gesellschaft (Bildungsselektion) baut sich die Person durch Bildungsprozesse zukunftsorientiert selbst auf. Lebens-, Erlebnis- und Erziehungswelt, verallgemeinert: Sozialisation und Erziehung, fallen auseinander. Der heranwachsende Mensch steht zur Tradition in einem distanzierten Verh¨altnis. Mit wachsenden Alter wird er selbstst¨andiger in der Auswahl der Orientierungen fu¨ r seine Lebenspraxis aus der Vielfalt der Traditionsangebote. Das strukturelle Gegenst¨uck zur fortgesetzten st¨andischen Lebensweise ist hier der verselbstst¨andigte und zunehmend selbstgestaltete Lebenslauf. In der traditionalen Sozialordnung waren die Entfaltungsm¨oglichkeiten des einzelnen Menschen auf st¨andisch geschlossene Lebenswelten beschr¨ankt, die durch Statusrecht normiert waren. Aus der Zugeh¨origkeit zu hierarchisch geordneten Verb¨anden ergaben sich fu¨ r den einzelnen abgestufte Entfaltungschancen nach sozial zugeschriebenen Kriterien (Rechtsf¨ahigkeit nach Stand, ¨ Recht als Privileg). Der soziale Wandel l¨asst sich idealtypisch als Ubergang vom Statusrecht zum Kontraktrecht (Vertragsrecht) beschreiben, durch den st¨andisch vermittelte Privilegien und Rechtsminderungen zu einer durchschnittlichen Vollrechtsf¨ahigkeit des einzelnen Menschen eingeebnet wur1

Vgl. Kohli 1985.

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den (formale Rechtsgleichheit). Das moderne Vertragsrecht als Grundfigur der b¨urgerlichen Gesellschaft er¨offnete dem einzelnen die M¨oglichkeit, seine Entfaltungschancen selbstverantwortlich durch privatautonomes Vertragshandeln zu gestalten. Auf der Ebene soziologischer Analyse l¨asst sich der ¨ Ubergang vom Status- zum Vertragsrecht als Freisetzung der liberalkapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft durch die Agrar- und Gewerbereformen seit Beginn des 19. Jahrhunderts beschreiben. Die Freisetzung aus den st¨andisch geschlossenen Lebenswelten in die vorstaatliche privatautonome Handlungssph¨are der b¨urgerlichen Gesellschaft manifestierte sich in der Ausgrenzung pers¨onlicher, o¨ konomischer und politischer Freiheitsrechte. Freiheit, Gleichheit und Br¨uderlichkeit waren die Programmbegriffe der b¨urgerlichen Aufbruchsbewegung. Mit ihrem universalistischen Gehalt sind sie auch heute noch verpflichtend. Vor diesem allgemeinen Hintergrund ist die spezifische Rolle der Jugend bei der Herausbildung der b¨urgerlichen Vergesellschaftung und der Modernisierung der Lebensweise zu sehen. Seit etwa 1770 l¨asst sich die Entdeckung der Jugend in der Anthropologie und die emphatische Aufwertung der Adoleszenz erkennen. Die neue Anthropologie beruhte wesentlich auf der Erfahrung und war diesseitig orientiert. Drei zentrale Strukturelemente sind im Zusammenhang zu betonen: (1) Der Mensch ist ein M¨angelwesen, das heißt hilfsbed¨urftig und deshalb notwendig auf Erziehung angewiesen. Dieser Gedanke ist von Johann Gottfried Herder (1744–1803) am besten herausgearbeitet worden. (2) Wegen seiner Mangelhaftigkeit ist der einzelne auf den Mitmenschen angewiesen und kann nur in Geselligkeit leben. Die Vergesellschaftung auf freiwilliger Basis fu¨ r die Lebensweise der Menschen wird grunds¨atzlich erkannt. Diese Bedeutung der Vergesellschaftung f u¨ r die h¨ochste Bildung des einzelnen Menschen ist besonders von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) betont worden, der als typischer Generationsvertreter der Reformer um 1800 aufgefasst werden kann. Humboldt schreibt: „Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren h¨ochsten Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung vieler nicht bloss um durch blosse Vermehrung der Kr¨afte gr¨ossere und dauerhaftere Werke hervorzubringen, sondern auch vorz¨uglich um durch gr¨ossere Mannigfaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren Reichthum und ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen. Ein Mensch ist nur f u¨ r Eine Form, fu¨ r Einen Charakter geschaffen, ebenso eine Classe der Menschen. Das Ideal der Menschheit aber stellt soviele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer mit einander vertr¨aglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalit¨at der Individuen erscheinen“. 2 Der pers¨onliche Stand entnimmt aus der Adelswelt die Geselligkeitskultur und aus dem Gelehrtenstand (Gelehrtenrepublik) die Erfahrung der Gleichberechtigung der Partner. (3) Aus der geselligen Verbindung der Menschen geht die Kultur hervor. Die Kultur wird von den Menschen, 2

Vgl. Humboldt 1960, Bd. I, 339.

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die auf der Ebene der Institutionen vereint zusammenwirken, selbst hervorgebracht.Sie ist eine Sch¨opfung des Menschen,w¨ahrend die Natur eine Sch¨opfung Gottes ist. „Die Einfu¨ hrung des Menschen in die Kultur heißt Erziehung“. 3 F¨ur unseren Ansatz wichtig ist nun eine weitere zentrale Einsicht der Aufkl¨arung, die den Zugang zum Begreifen des gesellschaftlichen Lernens o¨ ffnet. Beim Tier vervollkommnet sich nur das einzelne Exemplar, beim Menschen vervollkommnet sich die ganze Generation. Durch die Einsicht, dass jedes folgende Geschlecht auf dem vorangegangenen aufbaut, wurde der Bildungsprozess grunds¨atzlich bereits als ein Lernprozess der Generationen, als ein Aufbauph¨anomen im historischen Prozess gedeutet. Es lohnt sich, diesen Gedanken etwas weiter zu verfolgen. Wie setzen die Tiere ihre Lebensweise fort, wie die Menschen? In der Natur vererbt sich die Lebensweise vom alten auf das junge Tier. In der Kultur wird die von Menschen aufgebaute Welt von einer Generation zur n¨achsten im historischen Prozess durch Kommunikation weitergeben. An die Stelle der Vererbung der Lebensweise tritt beim Menschen die Kommunikation.An dieser Stelle m¨ochte ich nochmals an den eingangs formulierten Gedanken erinnern, der nun klar nachvollziehbar wird. Die Kommunikation zwischen den Generationen muss eine andere sein,ehe Wandel zustande kommen kann. Die Generationenfolge musste den Zeitgenossen erst als Differenzerfahrung zu Bewusstsein kommen, ehe ein Wandel in der Lebensweise als Lernen in der Geschichte zustande kommen konnte. Hier best¨atigt sich die sehr abstrakte, wichtige Einsicht: Wir lernen durch Differenzerfahrungen. Die aufsteigende Schicht der Gebildeten erkl¨arte das Ideal ihrer eigenen Gruppenidentit¨at in der Umbruchphase zum Modell f u¨ r die gesamte Nation. Die soziokulturelle Mobilisierung der Studenten aus den Geburtsjahrg¨angen um 1770 setzte sich in Nationalbewusstsein um. Die Befreiungskriege sind ein Ausdruck der Politisierung der Studentenschaft und der gebildeten Staatsdiener, durch deren Wirksamkeit die st¨andische Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Bewegung kam. 4 In dieser Phase vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die ersten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts wurde die Vergesellschaftung der nachwachsenden Generation in den fu¨ hrenden St¨anden auf den neuen Modus der Bildungsselektion umgestellt. 5 Die Reformgeneration stellte hier die Weichen f u¨ r den Entwicklungspfad der Modernisierung der Lebensweise, in der sich die Menschen durch Bildungsprozesse selbst aufbauen. Typische Repr¨asentanten dieser Reform-Generation waren Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Die Funktionselite im Staatsdienst, so wurde in einem Gutachten u¨ ber das aufzubauende Bildungswesens argumentiert, sollte sich die Bedeutung einer „Corporation“ zuschreiben, „zu der nur Geist und Bildung den Weg 3 4 5

Vgl. Roessler 1961, 167. Vgl. Hardtwig 1994, 108ff. Vgl. Herrlitz et al. 2001, 29ff.

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bahnen k¨onnen“. Die junge Generation, in der u¨ berall „ein lebendigerer Geist“ rege geworden sei, sollte den neuen strengen Pr¨ufungen im Bildungswesen unterworfen werden. 6 Die staatstragenden preußischen Richter in der ersten H¨alfte des 19. Jahrhunderts sind ein gutes Beispiel f u¨ r die neue Bildungselite, die einerseits auf den b¨urgerlichen Gleichheitsgrundsatz gegen die adligen Privilegien pochte (also nach „oben“ universalistisch argumentierte) und sich andererseits in ihrer Mentalit¨at gegen das Volk scharf abgrenzte, also nach „unten“ st¨andisch argumentierte. 7 In zahlreichen Staaten in Europa bildeten sich besonders im 18. Jahrhundert kleine Funktionseliten mit einem spezialisierten Leistungswissen heraus, die den Modernisierungsprozess des Lebenszusammenhangs vorantrieben. 8 Die moderne Bildungsselektion begann ihren Siegeszug auf einem bescheidenen Niveau. Zwischen 1788 und 1834 wurde die Bildungsselektion im Pionierstaat Preußen unter herrschaftlicher Kontrolle institutionalisiert. Betrachtet man alle deutschen Staaten, zog sich die Angleichung des Bildungswesens und die einheitliche Normierung der Bildungsprozesse bis ins Kaiserreich hin. F¨ur das o¨ ffentliche h¨ohere Knabenschulwesen Preußens waren die Systembildung und der funktionale Einbau in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. 9 Beim ¨ Ubergang zu diesem neuen Modus der Vergesellschaftung (Selbstverwirklichung durch Bildung) spielte die beginnende Leistungskonkurrenz zwischen adligen und b¨urgerlichen Amtsanw¨artern eine bedeutende Rolle. Im Selbstund Weltverst¨andnis der jugendlichen Bildungsschicht gingen zwei Normenkreise eine neuartige Verbindung ein. 10 Zeitgenossen berichten von schnellen Bef¨orderungen in richterlichen und Verwaltungs¨amtern nach 1806, ein sicheres Indiz fu¨ r Mangelbedingungen und Anstrengungsbereitschaft der jungen Generation in den f u¨ hrenden St¨anden. Die gesellschaftliche Umwelt bot der jungen Generation gr¨oßere Spielr¨aume f u¨ r Ver¨anderungen, und diese Chancen wurden genutzt. 1.3 Verschr¨ankung von Elitekultur und Volkskultur In der Aufkl¨arung fand die erste Bildungsrevolution statt, weil hier die beiden Wissenssysteme (Elitewissen und Volkswissen) programmatisch in Interaktion traten und in radikalen Reformkonzepten integriert wurden: das ist der tiefere Sinn des Begriffs der Allgemeinbildung. Die Elitekultur und die Volkskultur traten in einem spannungsvollen Prozess der wechselseitigen Beeinflussung und des Austausches. Dass die Diffusion der beiden Kulturen durch Bildungsprozesse auf die Dauer die hierarchische Ordnung unterh¨ohlen und 6

Vgl. Humboldt 1960, Bd. IV, 89. Vgl. Hodenberg 1996, 328. 8 Vgl. Wehler 1987, 1995, 2003. 9 Vgl. M¨uller 1981. 10 Vgl. Gaus 1998, 193ff. 7

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die herrschaftliche Steuerung der Kultur von oben aufheben w¨urde, war einzelnen weitblickenden Zeitgenossen schon bewusst. Nach der Franz¨osischen Revolution haben zahlreiche konservative Kritiker vor zu weitgehender Verstandesschulung des einfachen Volkes gewarnt. Zu viel Schulbildung w¨urde die einfachen Menschen „ihrem vorbestimmten sozialen Schicksal entfremden und darum st¨orrisch und unbrauchbar machen“. 11 Die Modernisierung des Bildungswesens durch die Reformen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war politisch heftig umstritten. 12 Um adlige Anspr¨uche auf Privilegien abzuwehren, wurde die Zulassung zu h¨oheren Positionen im o¨ ffentlichen Dienst an bestimmte Qualifikationsnormen gekn¨upft. So wurden in allen deutschen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts das h¨ohere Schulwesen und das Hochschulwesen reorganisiert und die Pr¨ufungsauslese versch¨arft. 1834 wurde in Preußen der Zugang in eine privilegierte akademische Berufslaufbahn vom Abitur und einem erfolgreich bestandenen Staatsexamen bzw.einer Studienabschlusspr¨ufung abh¨angig gemacht. Der Prozess der Abl¨osung der nat¨urlichen Auslese und der Umstellung der Vergesellschaftung auf den modernen Modus der Bildungsselektion vollzog sich unmerklich u¨ ber die Jahrhunderte hinweg in der Tiefenstruktur des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs. Nur wenige Zeitgenossen haben die revolution¨are Seite des tiefgr¨undigen Vordringens der Reifepr¨ufungen im historischen Prozess erkannt. Der weitsichtige Robert von Mohl (1799–1875) charakterisierte die Staatsdienstpr¨ufungen im Jahre 1841 als weltgeschichtliches Ereignis. F¨ur die herrschaftliche Schicht, die die Modernisierung in Gang brachte, lag der Reiz gerade in der Verkn¨upfung von universalistischen Normen mit der Sicherung ihrer Privilegien. Die Umstellung der Vergesellschaftung auf Bildungsselektion vollzog sich in zwei hierarchisch getrennten Lebenswelten (Bildungskreisl¨aufen), die durch Aufbau- und Wachstumsprozesse im generativen Zusammenhang vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart zunehmend zusammengewachsen sind. Unter den herrschaftlichen Bedingungen der Zeit konnte die langfristig revolution¨are Umstellung der Vergesellschaftung (Selbstverwirklichung durch Bildung) nur durch eine Institutionalisierung des Lernens in schroff getrennten Bildungskreisl¨aufen beginnen: der Erziehung und Unterrichtung im Gymnasium fu¨ r die f u¨ hrenden St¨ande und in der Volksschule f u¨ r die breite Masse. R¨uckschauend erkennen wir heute, dass damit die Modernisierung des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs in Gang gesetzt war. Nach zahlreichen neueren Untersuchungen kann es keinen Zweifel mehr an der These geben, dass sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erstmals nach der Freisetzung aus st¨andischen Bindungen das moderne Aufstiegsstreben manifestierte. Seit dieser Zeit konnten Bildungsprozesse wegen ihrer Doppelcharakters (fachliche Qualifikation und gesellschaftliche Berech11 12

Vgl. Leschinsky/Roeder 1976, 402. Vgl. Titze 1973, 89ff.

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tigung) nicht mehr „stillgestellt“ werden, sind Gesellschaften von ihrer inneren Dynamik her zu betrachten. 13 Die in der Sattelzeit um 1800 in der Zeitspanne von zwei Generationen aufgebaute Bildungsorganisation war in ihrem Kerngehalt zukunftsweisend und produktiv: Unter den Bedingungen der liberalen Freisetzung er¨offnete sie Freir¨aume fu¨ r eine kulturelle Mobilisierung der Gesellschaft. Die meritokratische Ausstrahlung der h¨oheren Schulen und die universalistische Moral motivierten zur Anstrengung. Die strenge Leistungsauslese in den formalisierten Bildungslaufbahnen in den deutschen Staaten (vor allem in Preußen) wurde zwischen 1840 und 1865 international zum Vorbild. 14 Die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Lohmann hat die Entwicklung einer spezifischen aufgekl¨arten Gespr¨achskultur untersucht, die als Voraussetzung dafu¨ r betrachtet werden kann, dass das gemeinsame Leben in Bewegung kam und sich wandelte. An Moses Mendelssohn (1729–1786) l¨asst sich zeigen, dass die moderne Individualit¨at mit der Herausbildung des Dialogs als der gemeinsamen Wahrheitssuche verbunden erscheint. Das lebendige Gespr¨ach zwischen den Generationen bewahrt den Text vor ein-eindeutiger Interpretation. 15 „Der Sch¨uler ist nicht der, der alles weiß, was der Lehrmeis¨ ter gesagt hat, sondern der, der in der Lage ist, u¨ ber das bereits Ubermittelte hinauszugehen. Es geht nicht um eine passive Rezeption der Tradition. Vielmehr ist jeder Einzelne immer auch der Ort einer Sch¨opfung und Erneuerung ¨ des Wissens. Die Versteinerung erworbenen Wissens ist keine Ubermittlung. Um dem Sch¨uler Platz zu machen, muß der Lehrmeister eine Haltung einnehmen, die nicht in Anspruch nimmt, Alles zu u¨ bermitteln: Man ben¨otigt Nicht-Gesagtes, damit Zuh¨oren Denken wird, damit die Wahrheit nicht die, die zuh¨oren, u¨ berw¨altigt. Durch das Nicht-Gesagte entsteht erst der Ort fu¨ r die Individualit¨at des Anderen, des Sch¨ulers.“ Kultur als Eigenleistung und interaktiv erzeugter Bedeutungs¨uberhang wird an diesem Beispiel klar. Hier liegen auch die Wurzeln des bildungstheoretischen Denkens von Wilhelm von Humboldt. Je entschiedener der Mensch seine Individualit¨at auspr¨agt, desto mehr n¨ahert er sich der Vollkommenheit an. Das Geschlecht, die Klasse, der Stand, der Beruf, dem er angeh¨ort, sind Stufen seiner Auslegung und Selbstauslegung; als Bedeutungen und Zuschreibungen ersch¨opfen sie ihn nicht. Auf die Bedeutung der Gespr¨achskultur f u¨ r die aufgekl¨arte Vergesellschaftung hat fr¨uh bereits Roessler hingewiesen. „Es l¨aßt sich eine innere Kontinuit¨at von der disputatio in der res publica literaria u¨ ber die arbeitende Geselligkeit bis zum Gespr¨ach der Gebildeten nachweisen. Das Gespr¨ach dieser Gruppen kennt keinen Rangunterschied zwischen den zu- und miteinander Sprechenden.“ 16 13

Vgl. Wehler 1987, 1995, 2003. Vgl. Jeismann 1996, 553ff. 15 Vgl. Lohmann 1992, 35ff. 16 Vgl. Roessler 1961, 219. 14

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Nat¨urlich galten diese hohen Anspr¨uche der Kommunikation im Umgang der Generationen zun¨achst nur f u¨ r die d¨unne Schicht der Gebildeten.

2 Die Umstellung der Lebensweise auf funktionale Integration Die Entwicklung von der st¨andischen Reproduktion in u¨ berschaubaren eher statischen Lebensverh¨altnissen zu eher dynamischen sozialen Beziehungen in einer verfachlichten komplexen Umwelt l¨asst sich grob in drei Teilprozesse zerlegen. Erstens wurde der Modus der Vergesellschaftung von der nat¨urlichen Auslese auf die Bildungsselektion umgestellt. (Streng genommen sind Bildungssysteme nie abgeschlossen, weil die Organisation von Bildungsprozessen immer weiter geht und Reflexionen nie stillgestellt werden k¨onnen.) Zweitens schlug die moderne Arbeitsteilung in der Lebensweise durch, indem das fachlich differenzierte Lernen in den Bildungseinrichtungen institutionalisiert wurde. Hier heben sich die Jahrzehnte von 1860 bis 1880 als beschleunigte Verfachlichung aus dem historischen Prozess heraus. 17 Vielleicht sollte man sagen: Nach diesen Jahrzehnten gab es hinsichtlich der Differenzierungsdynamik kein Halten mehr, waren die Weichen fu¨ r das moderne Fachmenschentum definitiv gestellt. Drittens schließlich verselbstst¨andigte sich das Bildungswesen soweit, dass es gegen¨uber den anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens seine relative Autonomie gewann und in seiner Eigendynamik von tiefblickenden Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Nachdem die Menschen durch die neuhumanistisch inspirierten Reformen aus st¨andischen Ordnungen freigesetzt waren, strebten sie Selbstverwirklichung in geselligen Verh¨altnissen jenseits der fr¨uheren Grenzen an. In den 1810/1820er Jahren registrieren wir in zahlreichen deutschen Regionen eine bedeutende Zustromwelle in die h¨oheren Schulen. Zahlreiche Belege lassen den Schluss zu, dass herrschaftliche Interessen das b¨urgerliche Streben nach Bildung und Aufstieg im Vorm¨arz zeitweilig gebremst haben. 18 Die periodi¨ sche Wiederkehr von Mangel- und Uberf u¨ llungserscheinungen bei der Besetzung beruflicher Stellungen in der akademischen F¨uhrungsschicht sorgte allerdings fu¨ r weitere soziale Bewegungen. In der vorm¨arzlichen Phase eines ¨ Uberangebots von qualifizierten Nachwuchskr¨aften setzte sich in den 1830er und 1840er Jahren eine sch¨arfere Abgrenzung der F¨acher in den h¨oheren Bildungseinrichtungen und den Berufsfeldern durch. Die Monopolisierung der Berufsrolle (beispielsweise die Abgrenzung der gelehrten Schulm¨anner von ¨ den Theologen, die Abgrenzung der Arzte von anderen Heilpersonen) fu¨ hrte auf l¨angere Sicht zu einer funktionalen Vergesellschaftung anstelle der hierarchischen Abschottung von st¨andischen Lebenswelten. Die fachliche Abgrenzung und Konzentration der Anstrengungen auf seinen eigenen Wirkungsbereich bef¨orderte wiederum in Gestalt des Leistungswissens das fachspezifische 17 18

Vgl. Seier 1997. Vgl. Vierhaus 1987.

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Lernen und trug den Wandel von der Privilegienhierarchie zur Kompetenzhierarchie weiter. Die fachliche Differenzierung in Phasen der Berufs¨uberfu¨ llung scheint ein in der Tiefenstruktur des gemeinsamen Lebens wirksamer kultureller Mechanismus zu sein, der vom fr¨uhen 19. bis zum sp¨aten 20. Jahrhun¨ dert besonders bei den Arzten zuverl¨assig nachgewiesen werden kann, denn ¨ ¨ das periodisch wiederkehrende Uberangebot von Arzten ist ein Jahrhundert19 thema. Nach der Freisetzung aus der Tradition und der Verselbstst¨andigung des Lebenslaufs wurde der Nachwuchs in den neu aufgebauten Bildungseinrichtungen f u¨ r zukunftsorientierte Bildungsprozesse „festgestellt“.Aus p¨adagogischer Sicht ist durch den historischen Aufbau eines Bildungssystems im Lebenslauf ein Freiraum fu¨ r das Reifen und Lernen der Kinder und Jugendlichen institutionalisiert worden. Die jeweils nachwachsende Generation soll im Bildungssystem fu¨ r sich selbst lernen, wie sie ihre Zukunft gestalten m¨ochte. Das auf die autonome Gestaltung der Person gerichtete Wissen l¨asst sich als Bildungswissen begreifen. Das Bildungssystem als Teilsystem der modernen Gesellschaft hat durch diese Freiheitsspielr¨aume die Steuerung des gemeinsamen Lebens durch die Tradition weitgehend abgel¨ost. Bei Langzeitvergleichen muss nachdr¨ucklich betont werden, dass die Erfolgsquote der Sch¨ulerInnen an h¨oheren Schulen einem Wachstumstrend von ca. 20–30 Prozent auf u¨ ber 80 Prozent folgt. Die Halte- oder Bindekraft der Institution h¨ohere Schule hat in den letzten zweihundert Jahren stark zugenommen. Die heranwachsenden Generationen hatten jeweils zunehmend mehr M¨oglichkeiten und Zeit, sich im Bildungssystem als eine Pers¨onlichkeit bis zur Reife aufzubauen, bevor sie ins Berufsleben eintraten. 20 Die Meritokratisierung der Vergesellschaftung hat dem Schulwesen und der r¨aumlichen Verteilung des Wissens zu einem großen Bedeutungsanstieg verholfen. 21 Historische Erfahrungen der Generationen k¨onnen als evolution¨ares Lernen aufgefasst werden, durch das sich die Kultur durch ihre Tr¨ager durch selbstbestimmte Bildungsprozesse von unten ¨ organisiert. Zu a¨ hnlich interessanten Uberlegungen f u¨ hrt die Thematisierung der Institutionenentwicklung in einer kulturanthropologischen Perspektive. 22 Mit der historischen Ausdifferenzierung der modernen Erfahrungswissenschaften in der zweiten H¨alfte des 19. Jahrhunderts, durch die sich die Lebenswelt zur problematischen Aufgabe wurde und selbstkritisch fu¨ r rationalisierende Interventionen bespiegelte, beginnt auf institutioneller Ebene die Selbstorganisation der Kultur von unten. Bis zur Abdankung und zum Abbau b¨urokratischer Kontrollsysteme am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfasste die Selbstorganisation der Kultur von unten alle Lebensbereiche. Die zwangsintegrierten nationalen Machtstaaten des vergangenen 19

Vgl. Vogt 1996, 892; Huerkamp 1985; Drees 1988. Vgl. Nath 2004, 172ff. 21 Vgl. Meusburger 1998. 22 Vgl. Klages 2003. 20

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Jahrhunderts sind geradezu die reinste Manifestation der Kultur von oben. Die Prozesse der eigendynamischen Steuerung sind in diesem Zusammenhang des Abbaus von a¨ußerer herrschaftlicher Kontrolle zu sehen. In diesem Prozess nimmt das seit der Aufkl¨arung aufgebaute moderne Bildungswesen eine immer bedeutungsvoller ins Zentrum r¨uckende Institution ein. Die in den Schulreformen des 19. und 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kommende Logik des Bildungswachstums f u¨ hrt plausibel zur Subjektivierung der Kultur und zum Abbau der b¨urokratischen Steuerung der Lebenszusammenh¨ange von oben. 23 Mit der verst¨arkten Bedeutung der Innenlenkung des Handelns ist eine Verschiebung der Grenze von Innen und Außen verbunden. Der vertraute Sprachgebrauch der Kultur von unten fu¨ hrt konsequent zur inneren Lebensfu¨ hrung und zum Aufbau innerer Bedeutungswelten, die mit dem modernen Bildungswachstums verbunden sind.Wir d¨urfen gespannt darauf sein, wann im Sprachgebrauch die Redeweise einer Kultur von innen auftauchen wird. Es bedarf keiner großen Fantasie, dass die Grenzen des Begriffs der Rolle in diesem Zusammenhang sch¨arfer gezogen werden d¨urften. Das Verh¨altnis von Selbstsein als Person in offenen sozialen Beziehungen und Rolle in versachlichten arbeitsteiligen Zusammenh¨angen bezieht sich auf die Differenzierung von Innen und Außen. Dabei orientieren wir uns nicht an einem die Rationalit¨at voraussetzenden Modellplatonismus (wie bei den Theorien rationaler Wahl) oder an abstrakten Fortschrittsidealen 24 , sondern am wirklich gelebten Alltag unserer Vorfahren. Die modernen Erfahrungswissenschaften erm¨oglichen die erfolgreiche Anpassung an die Umwelt. Das (Rollen-)Handeln in den Systemen spiegelt das Lernen der Generationen im historischen Prozess. Hier geht es um den geregelten Austausch von Leistungen. Die sozialen Beziehungen in diesem Kontext beruhen auf Leistungswissen. Auf dieser Ebene des Zusammenwirkens in Rollenbeziehungen m¨ussen wir in Jahrhunderten denken. F¨ur das Lernen der Gattung (hier spielen die einzelnen Menschen austauschbare Rollen) scheint die Zeit gleichsam unendlich zu sein, w¨ahrend der einzelne sich durch Bildungswissen im endlichen Lebenslauf als Person zu verwirklichen sucht. Das Prinzip der Rational choice reicht in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht aus, um dem konkreten Handeln gerecht zu werden, wie immer deutlicher wird. 25 Im Auftreten der stetigen gesellschaftlichen Trends (Take-off nach 1850/60) schlagen die neuen Erfahrungswissenschaften in den von den Zeitgenossen registrierten Massenerscheinungen in der Lebenswelt durch.

23

Vgl. Titze 1999a, 109ff.; Nath 2003, 20ff. Vgl. Richter 2001, 109ff. 25 Vgl. beispielsweise Meusburger 1998; Wahl 2000; Richter 2001. 24

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2.1 Strukturbruch in den Bildungsprozessen Die Verfachlichung der Bildung in der Moderne ist eine Konsequenz der fortschreitenden Arbeitsteilung und des Durchbruchs der Kommunikationsgesellschaft. Nach einer anschaulichen Formulierung Herders, im R¨uckblick auf die erste große Revolution in Frankreich, hat „die Zunge“, also die Kommunikation und nicht die Gewalt („das Schwert“) die Lebensweise der Menschen in Bewegung gebracht. Nach etwa zwei Generationen der Wirksamkeit offenerer Kommunikationsformen in den sozialen Beziehungen beschleunigte sich der Wandel der Lebensweise. In der neueren Forschung verdichten sich die Belege, dass sich in der Phase des Take-off ein fu¨ r das Lebensgef u¨ hl der Menschen ¨ wichtiger Ubergang vollzogen haben muss. Durch das Zusammenwirken auf der Handlungsebene verselbstst¨andigten sich immer mehr Lebensbereiche zu rationalisierten (versachlichten) Systemen, die ihrer eigenen Logik folgten. Das ist der Kern dessen, was wir Modernisierung nennen. Die Arbeitsteilung schritt seit den liberalen Reformen nat¨urlich dauernd fort, aber auf allen drei Ebenen (Volksschule, h¨ohere Schule, Universit¨at) l¨asst sich 1860–1880 eine beschleunigte Verfachlichung registrieren: (1) In der volkst¨umlichen Erziehung in den Volksschulen kristallisierte sich bis etwa 1860 ein an christlich-religi¨oser Bildung orientierter Lehrplan aus, der auf die elementaren Grundkenntnisse und Fertigkeiten konzentriert war. 1860–1870 o¨ ffnete sich die sittlich-religi¨ose Volksbildung f u¨ r ein fachlich orientiertes Unterrichtsangebot. 26 (2) Auf der Ebene der h¨oheren Schulbildung leiteten die akademisch gebildeten Lehrer ihr berufliches Selbstverst¨andnis sp¨atestens seit den 1860er Jahren aus der unterrichtlichen T¨atigkeit her, das heißt: der Vermittlung von Fachwissen und nicht aus der Erzeugung wie an den Universit¨aten. Die fortschreitende Fachdifferenzierung spiegelt sich in der organisationsstrukturellen Entwicklung derVersammlung deutscher Philologen und Schulm¨anner.Die zunehmende Ausdifferenzierung der Philologie und Verselbstst¨andigung der Einzelf¨acher schlug sich in der Einrichtung von Sektionen fu¨ r Germanisten, Romanisten, Orientalisten usw. nieder. Sp¨atestens seit 1868 war der Verlust einer eindeutigen Bezugswissenschaft f u¨ r die Schulm¨anner offensichtlich. 27 Bereits vier Jahre vorher (1864) war auf der Philologenversammlung in Hannover erstmals eine eigene Sektion der Mathematiklehrer zustande gekommen. 28 In diesem Zusammenhang ist gut nachvollziehbar, dass sich bei fortschreitender Differenzierung als intermedi¨are Instanzen lernende Organisationen herausbilden, die zwischen dem einzelnen Rollenspieler und dem allgemeinen Lebenszusammenhang vermitteln. 26

Vgl. Friedrich 1987, 135. Vgl. M¨uller-Rolli 1991, 39ff. 28 Vgl. Schubrig 1983, 195. 27

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(3) An den Universit¨aten schlug die zunehmende Fachorientierung bei der Personalrekrutierung durch. Die Kernphase des Berufungswandels als Durchsetzung eines freien Professorenmarkts in den geistes- und naturwissenschaftlichen F¨achern f¨allt in die Jahrzehnte von 1860 bis 1880. In diesem Prozess der Abl¨osung des umfassend gebildeten Gelehrten durch den spezialisierten Fachwissenschaftler nahmen die traditionellen F¨acher eindeutige Vorreiterrollen ein. 29 F¨ur einen Umbruch in dieser Phase lassen sich zahlreiche weitere Argumente nennen. Parallel zum Begriff „popul¨arwissenschaftlich“ etablierte sich seit den 1860er Jahren der Terminus „Fachwissenschaft“ in der Umgangssprache. Bereits um 1880 unterschied Ernst Haeckel in einer Auflistung seines Schrifttums zwischen wissenschaftlichen Publikationen und popul¨arwissenschaftlichen Schriften.Popularit¨at wurde nach 1850 generell alsVolksm¨aßigkeit, Gemeinfasslichkeit oder Gemeinverst¨andlichkeit aufgefasst. 30 Die Lebenserfahrungen sensibler Zeitgenossen sprechen ebenfalls dafu¨ r, dass die humanistische Allgemeinbildung zwischen 1860 und 1880 hinter die Spezialisierung der Lebensvollz¨uge zur¨ucktrat. Zwei zeitgen¨ossische Stimmen sollen hier als Beleg gen¨ugen. Nach Friedrich Meinecke (1862–1954) begannen sich die Lehrergenerationen ab den 1870er Jahren zu scheiden. 31 Auch Rudolf Eucken (1846– 1926) charakterisierte in seinen Lebenserinnerungen die 1870er Jahre als eine Z¨asur, in der sich die Lebensverh¨altnisse beschleunigt ver¨anderten. 32 Das Zur¨ucktreten der Allgemeinbildung (ganzheitliche Integration) hinter die reine Fachbildung (funktionale Differenzierung) l¨asst sich im kritischen Zeitraum neben den Lehrpersonen an h¨oheren Schulen und Universit¨aten ¨ auch bei anderen Akademikergruppen beobachten. In der Arzteausbildung beispielsweise wurde das Philosophicum 1861 durch das Physicum ersetzt. 33 Damit wurde Abschied genommen vom neuhumanistischen Reformanspruch, ¨ den angehenden Arzten als Voraussetzung ihrer fachspezifischen Ausbildung zun¨achst eine philosophisch fundierte Allgemeinbildung zu vermitteln. Die Grenzverschiebung von ganzheitlicher normativer Orientierung (Innen) zur distanzierter erfahrungswissenschaftlicher Perspektive (Außen) wird in die¨ sem Zusammenhang deutlich. In der Ausbildung der Arzte verlagerte sich mit dem Vordringen der fachlichen Abgrenzung und der naturwissenschaftlichen Zugriffe auf den K¨orper unmerklich die Perspektive auf die Außenseite der Kultur. Die Rekrutierungsverh¨altnisse der akademischen Karrieren im Deutschen Reich integrierten sich seit den 1880er Jahren zu einem einheitlichen Funktions-System. Das l¨asst sich aus dem einheitlichen Gleichtakt des Pulsierens 29

Vgl. Baumgarten 1997, 93ff. Vgl. Daum 1998, 33ff. 31 Vgl. Meinecke 1941, 66. 32 Vgl. H¨ubinger et al. 1997, 56. 33 Vgl. Huerkamp 1985. 30

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der studentischen Fachstr¨ome an den einzelnen deutschen Universit¨aten von Kiel bis M¨unchen und von Freiburg bis K¨onigsberg schließen. Die Studenten im gesamten Deutschen Reich (Dimension des Raumes) mussten ihr a¨ußeres Verhalten in der Institution Universit¨at also vollkommen synchronisiert haben (Dimension der Zeit). Die Umstellung auf funktionale Differenzierung und Integration l¨asst sich zuverl¨assig aus empirischen Daten herauslesen. 34 Auch der Beginn des historisch neuartigen Wachstums der Karrieren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts spricht fu¨ r einen Strukturbruch in dieser Phase. Die notwendige Ausweitung der Rekrutierung nach unten verst¨arkte die Orientierung am Markt, besonders fu¨ r die sozialen Aufsteiger. Es wird in diesem Kontext verst¨andlich, dass der hochabstrakte Begriff der Infrastruktur um 1875 erstmals im Sprachgebrauch auftrat. Bezeichnenderweise stammt dieser Begriff, der sich auf die Voraussetzungen des Leistungsaustausches der Menschen bezieht, aus dem Vokabular der Eisenbahner. 35 Als die physische Mobilit¨at der menschlichen K¨orper in der arbeitsteiligen Welt zunehmend selbstverst¨andlich wurde, bildete sich f u¨ r die Erfahrung der zunehmenden Verbindung der Menschen durch das moderne Verkehrsmittel und damit f u¨ r die von unsichtbaren o¨ ffentlichen H¨anden vorausgesetzen Vorleistungen in der Zwischenwelt der einzelnen auch dieser h¨ochst abstrakte Begriff (Infrastruktur) heraus, der eine hohe Distanzierungsf¨ahigkeit von der kon¨ kreten Situation (Hier und Jetzt) voraussetzt. Diese Uberlegung macht auch deutlich, dass die physische Beweglichkeit der Menschen im Raum eine Voraussetzung der sozialen und psychischen Beweglichkeit ist. 2.2 Durchbruch und Aufstieg der Massenkultur Aus der institutionalisierten wissenschaftlichen Selbstbeobachtung wurden f u¨ r die Alltagspraxis in der Regel auch Konsequenzen gezogen, indem sich die Lebensbereiche rationalisierten. So wurde in den fortgeschrittensten Gesellschaften auf der institutionellen Ebene allm¨ahlich und fortschreitend seit etwa 1850 die moderne Massenkultur aufgebaut, die sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in spektakul¨aren Massenereignissen manifestierte (zum Beispiel dem Pokalfinale im Fußball mit 120000 Zuschauern 1913 im Crystal Palace in England). Die Massenkultur fu¨ hrte zur Erfahrung von sozialer Gemeinsamkeit. „Es begann offensichtlich zu werden, daß auch Gruppen, die sich als ,etwas Besseres‘ fu¨ hlten und gaben, dem ,Massengeschmack‘ zuneigten.“ 36 Die Klassengesellschaft wurde durch die Erfahrung gemeinsamer Bed¨urfnisse u¨ berwunden. Hier wird die Dynamik sichtbar, die Bildungsprozesse entfalten, wenn sie erst einmal institutionalisiert sind. Man kann den Aufstieg der Massenkultur, die u¨ ber die Klassengesellschaft hinauswies, n¨amlich als R¨uckwirkung der Institu34

Vgl. Titze et al. 1987. Vgl. Laak 2001, 370. 36 Vgl. Maase 1997, 24. 35

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tionalisierung der modernen Erfahrungswissenschaften auf die praktische Alltagwelt begreifen. Das im historischen Prozess verankerte Rationalisierungsprogramm, das Lernen der Generationen aus gemeinsamen Erfahrungen, kam allen Schichten zugute. Mit dem Lebensstandard wuchs das Bed¨urfnis politischer Beteiligung. Es dauerte mehrere Generationen, bis sich die objektivierte Selbstbeobachtung des gesellschaftlichen Lebens bis zur kleinsten Deutungseinheit, der subjektiven Meinung des einzelnen Mitglieds im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang, durchgearbeitet hatte. Diese Demokratisierung der Kulturstatistik brach sich zuerst dort Bahn, wo sich die Vergesellschaftung traditionell von unten u¨ ber den Markt aufbaute: in den USA wurde erstmals 1935 die o¨ ffentliche Meinung in Gestalt der modernen Demoskopie erforscht. Massenkultur ist im Sinne einer fortschreitenden Demokratisierung aufzufassen und als strukturelles Gegenst¨uck zur u¨ berkommenen elit¨aren Hochkultur zu rekonstruieren. Wenn die Wissenschaft auf die Gestaltung der Lebenswelt vieler Menschen durchschl¨agt, beginnt der allm¨ahliche Aufbau der Massenkultur. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg hat sie sich in den fortgeschrittensten Gesellschaften als internationale Erscheinung endg¨ultig etabliert. Die erste moderne Massenkunst war der erz¨ahlende Film. In den sp¨aten 1960er Jahren erreichte der Aufstieg der Massenkultur mit der sozialen Anerkennung massenkultureller Ausdrucksformen sein Ziel. In Gestalt der Beatles setzte sich die internationale Rockmusik als Kern einer klassen¨ubergreifenden Jugendkultur durch und revolutionierte den Alltag. Interessanterweise mobilisierte die internationale Rockmusik auch die Jugend in der DDR, in der die Kultur noch von oben kontrolliert und oktroyiert wurde. Wichtig ist die Einsicht, dass die traditionelle Hochkultur durch die Ausweitung der Massenkultur nicht einfach verdr¨angt wurde, sondern ihre Reichweite in den letzten Jahrzehnten deutlich erweitern konnte. Bildung l¨ost sich immer mehr von Elite und Besitz und wird zu einem Lebensstil neben anderen. Nach der Kulturrevolution der 1960er Jahre sind auch die Intellektuellen „auf dem unsicheren Boden der kulturell pluralen, offenen Massendemokratie angekommen.“ 37 In der Massenkultur erkennen die Menschen, dass sie gemeinsame Bed¨urfnisse haben. Voraussetzung gemeinsamer Erfahrungen war die Anhebung des Lebensstandards f u¨ r die normalen Schichten des Volkes durch Rationalisierungsprozesse. In diesem Kontext war auch die Entstehung der Freizeit im Kaiserreich wichtig, denn sie brachte auch einen Gewinn an Freiheit. Die Lohnarbeiter waren in ihrer freien Zeit frei von st¨andischer Reglementierung ¨ und herrschaftlicher Kontrolle. Uber eigenes Geld konnten sie selbstbestimmt verfu¨ gen und massenkulturelle Unterhaltung verwirklichen. Die Tr¨ager der modernen Massenkultur waren vor allem junge, unverheiratete Arbeiter und Angestellte, M¨anner wie Frauen.

37

Vgl. Maase 1997, 269.

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Massenkultur ist nur im Bezugsrahmen der Einheit der Klassengesellschaft tiefer zu verstehen. Erst der Diskurs innerhalb der elit¨aren Hochkultur fu¨ hrte in allen europ¨aischen Staaten zur Typisierung einer minderwertigen „Massenkultur“ 38 . Das Bildungsb¨urgertum besaß mehr oder weniger die kulturelle Hegemonie, in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis etwa zur Kulturrevolution in den 1960er Jahren. Es verfu¨ gte u¨ ber die bis ins Alltagsleben hineinreichende Deutungsmacht: Im deutschen Kulturstaat sollten sich die Menschen durch eine hierarchisch geordnete Volkserziehung, asketische Tugenden (Pflichtbewusstsein, Sauberkeit, P¨unktlichkeit, Gehorsam, Anst¨andigkeit usw.) und klassische Bildung verwirklichen. Die Republik und demokratische Lebensformen wurden als Herrschaft der Masse diskreditiert und abgelehnt. Die elit¨aren F¨uhrungsschichten w¨ahnten sich im Besitz der eigentlichen Kultur und verkn¨upften die neuen Ausdrucksformen des kulturellen Lebens mit Minderwertigkeit und kulturellem Niedergang (Schmutz und Schund, Kitsch, Traumfabrik). Zwei f u¨ r das Lernen der Generationen wichtige Bedingungen sind mit dem Aufstieg der Massenkultur eng verbunden: Zum einen die vollst¨andige Alphabetisierung der Bev¨olkerung und zum anderen das s¨akulare Wachstum der Studentenstr¨ome an den Universit¨aten.Von den ersten Universit¨atsgr¨undungen im Mittelalter bis zum Beginn des modernen Wachstums schwankten die Studentenzahlen etwa fu¨ nf Jahrhunderte lang unterhalb eines Niveaus, das nach 1870 schnell und endg¨ultig u¨ berwunden wurde. Bis zur Aufkl¨arung war das in B¨uchern gesammelte Wissen nur einer d¨unnen Schicht von Gebildeten zug¨anglich. Um 1800 unterzog sich weit unter 1 Prozent der m¨annlichen Jugend einer schulischen Reifep¨ufung. Zwei Jahrhunderte sp¨ater legen in den fortgeschrittensten Gesellschaften große Anteile der jungen Generation (30 Prozent und mehr) ihre Reifepr¨ufung ab. Die Entwicklung von der Elitebildung zur modernen Massenbildung scheint unumkehrbar. Im Aufkl¨arungszeitalter hat sich die Struktur des Wissens offensichtlich ver¨andert. Die Revolution des Wissens bestand in der Verschr¨ankung der beiden Wissensmodelle der Elitekultur und der Volkskultur. 39 Durch die Konfrontation der beiden Modelle wurden produktive Konflikte ausgel¨ost, in denen die Gesellschaften im Generationswechsel lernten. Die Revolution der Kommunikation im 18. Jahrhundert l¨asst sich als soziokulturelle Mobilisierung der fortgeschrittensten europ¨aischen V¨olker in der Aufkl¨arungsbewegung deuten. Mit der Globalisierung setzt sich das europ¨aische Modell der Modernisierung der Lebensweise heute weltweit durch.

3 Die Eigendynamik des Bildungswesens Eigendynamik ist im Kontext von Freisetzung und Selbstbestimmung zu sehen. In sozialen Prozessen stellt Eigendynamik die Gegenbewegung zur b¨uro38 39

Vgl. Charle 1999, 387. Vgl. Schmale/Dodde 1991.

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kratischen Steuerung der Kultur von oben dar. Im Prozess der Selbstorganisation der Kultur gewinnt das moderne Bildungswesen eine immer gr¨oßere Bedeutung. Die in den vergangenen Jahrzehnten bei der Auswertung von historischen Massendaten erkannte Tiefenstruktur der Bildungsbeteiligung l¨asst die an der Oberfl¨ache der herk¨ommlichen Geschichtsschreibung registrierten politischen Systemwechsel in einem neuen Licht erscheinen und o¨ ffnet unsere Aufmerksamkeit f u¨ r andere als die u¨ blichen Periodisierungsschemata. Aus der Logik des sozialen Wandels l¨asst sich danach herauslesen, dass sich die Menschen durch Bildungswachstum in immer gr¨oßerer Zahl zu Individuen gebildet haben, die in der Außenwelt als Rollenspieler sinnvoll und produktiv kooperieren k¨onnen. Die Logik des Bildungswachstums fu¨ hrt plausibel zur Subjektivierung der Kultur und Verschiebung der Grenze von Innen und Außen. In der deutschen Bildungsgeschichte seit der Aufkl¨arung haben wir uns u¨ ber etwa acht Generationen hinweg zu dem gemacht, was wir heute sind. Die Strukturen sind als Ausdruck der Innenseite und der Außenseite der Kultur als Bildungsprozess anzueignen. Im QUAKRI-Projekt wurde dazu eine Abbildung von vier langen Wachstumswellen erarbeitet, die die in der Tiefe des gemeinsamen Lebens wirksamen Strukturen des Bildungswachstums seit 1800 veranschaulicht (Abb. 1).Was l¨asst sich aus dieser Abbildung herauslesen, wenn wir die Tiefenstruktur als Indikator fu¨ r Bildungsprozesse und die historisch ¨ ver¨anderliche Balance von Innen und Außen betrachten? Sieben Uberlegungen sollen in diesem Beitrag ausdr¨ucklich betont werden.

Abb. 1. Die langen Wellen des Bildungswachstums. J¨ahrliche Wachstumsraten (10j¨ahriger gleitender Durchschnitt) der h¨oheren Sch¨ulerquote (m¨annlich) in Prozent der 11–19j¨ahrigen m¨annlichen Bev¨olkerung in Preußen und der BRD (alt) 1810–2001

¨ 3.1 Die Offnung des Zeitfensters Das faszinierende zyklische Muster w¨urden wir gar nicht erkennen k¨onnen, wenn wir uns nur im Zeithorizont der Gegenwart bewegen oder vielleicht eini-

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ge Jahrzehnte zur¨uck schauen w¨urden. Unser Verst¨andnis f u¨ r das Zusammenleben wird aufgekl¨arter, der Begriff von Rationalit¨at umfassender, wenn wir das gemeinsame Leben im Sinne einer Generationengeschichte rekonstruieren und uns als das Endglied einer Kette von Generationen begreifen. Es gen¨ugt nicht, wenn wir nur den rasanten Wandel der Lebenszusammenh¨ange nach dem Zweiten Weltkrieg thematisieren. Bei diesem engen Zeithorizont bleiben wir mit unseren Einsichten an der Oberfl¨ache des Raumes und aufschlussreiche neue Erkenntnisse in der Dimension der Zeit bleiben uns verborgen. Das tiefere Muster des gemeinsamen Lebens wird erst sichtbar, wenn wir vom Hier und Jetzt Abstand gewinnen, uns distanzieren und das Zeitfenster f u¨ r zwei Jahrhunderte o¨ ffnen. Ein gutes Beispiel dafu¨ r, dass selbst akribisch aus Archivquellen gesch¨opfte wissenschaftliche Untersuchungen u¨ ber die Oberfl¨achenwahrnehmung nicht hinauskommen, bietet eine j¨ungere Studie zur Neuregelung der Volksschullehrerausbildung im Dritten Reich. 40 Da die Verfasserin die tieferen strukturel¨ len Zusammenh¨ange der funktionalen Eigendynamik von Uberf u¨ llungs- und Mangelerscheinungen im Lehramt nicht kennt, kommt sie zu Einsch¨atzungen der nationalsozialistischen Bildungspolitik, die am Zeitgeist der Quellen kleben. Wenn wir zeitnah am Dasein Sozialwissenschaft betreiben und uns nicht vom konkreten Dasein distanzieren, k¨onnen wir wissenschaftlich die „Wirklichkeit“ nur verdoppeln, statt sie zu begreifen. Ein Gegenbeispiel liefert die Untersuchung u¨ ber die evangelischen Pfarrer in Preußen von 1850 bis 1914, die das langfristige Pulsieren der Studentenstr¨ome beachtet. Bei der Interpretation der Daten zur sozialen Herkunft der Pfarrer ist diese Tiefenstruktur in ¨ Rechnung zu stellen, um den Fehler zu vermeiden, Offnungsund Schließungstendenzen der Karrieren falsch zu beurteilen. 41 Die Frage, ob die Bildungsungleichheit in der aufgekl¨arten Gesellschaft zunimmt oder abgebaut wird, l¨asst sich im engen Zeithorizont der Gegenwart kaum klar beantworten. Erst im Vergleich langer Zeitr¨aume l¨asst sich eine Abnahme der Bildungsungleichheit feststellen. 42 3.2 Individuelle Lernf¨ahigkeit und soziale Verwertung Die Abstimmung zwischen der individuellen Lernf¨ahigkeit und der sozialen Verwertung war ein alle Generationen besch¨aftigendes Dauerproblem, denn die Forschungen haben zweifelsfrei ergeben, dass sich die Mangel- und ¨ Uberf u¨ llungserscheinungen in der Bildungselite seit 1780 periodisch wiederholten. 43 Bei einer pr¨astabilisierten Harmonie h¨atten in der beobachtbaren Außenwelt (auf dem Arbeitsmarkt f u¨ r Akademiker) nicht immer wieder Phasen in Erscheinung treten k¨onnen, in denen das gesellschaftliche Leben mehr 40

Vgl. Gutzmann 2000. Vgl. Janz 1994, 89. 42 Vgl. Lundgree 2000, 163. 43 Vgl. Titze 1990, 30ff. 41

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qualifizierte Nachwuchskr¨afte hervorbrachte als jeweils gebraucht wurden. Mit den schwankenden a¨ ußeren Erwartungen (mal g¨unstige und mal schlechte Berufsaussichten) pulsierten auch die innerlich motivierten Reaktionen (mal Mobilisierung und mal D¨ampfung von Bildungsanstrengungen). Aus der Disharmonie kann eine Einsicht gezogen werden, die fu¨ r unser Verst¨andnis der Kultur eine grundlegende Bedeutung hat: Die Lernf¨ahigkeit des einzelnen Menschen ist offensichtlich gr¨oßer als die Verwertbarkeit seiner erworbenen Kompetenzen im vorgegebenen gemeinsamen Leben. Deshalb gibt es immer aktuelle soziale Bewegungen. Man denkt in diesem Zusammenhang auch an ¨ die Uberlegung eines soziologischen Vordenkers, dass das Individuum „f u¨ r Neuerungen bereitwilliger als der Staat“ ist. 44 Warum wollen die Menschen dazu lernen, u¨ ber sich hinaus wachsen und Spuren hinterlassen? Weil Generativit¨at,wie sie von dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1902–1994) beschrieben wurde, unerl¨asslich gegen die Stagnierung des Menschen in seiner Entwicklung ist. Als Stadium des Wachstums der gesunden Pers¨onlichkeit wird Generativit¨at als Bereicherung verstanden. Der Mensch kann seinen eigenen Lebenszyklus besser annehmen, wenn er weiß, dass er etwas geschaffen hat, was ihn selber u¨ berlebt. Den Lebenslauf in seiner Endlichkeit anzuerkennen bzw. zu akzeptieren und eine reife Sicht des eigenen Lebensverlaufs zu entwickeln, nennt Erikson den seelischen Zustand der Integrit¨at. Als der Lebenslauf sich gegen¨uber dem gemeinschaftsbezogenen Gruppenselbst verselbstst¨andigte, wurde die Endlichkeit des eigenen Lebens dringlicher zum Problem. Der Sinn des Daseins wurde vom einzelnen intensiver in Frage gestellt und reflektiert. Hier wird deutlich, dass „Kultur“ ganz abstrakt als ein von den historischen Generationen immer wieder erzeugter Bedeutungs¨uberhang zu verstehen ist. (Vielleicht ist auch Nietzsches vieldiskutierter „Wille zur Macht“ nichts anderes als dieser mit Bildung verbundene innere Antrieb, u¨ ber sich selbst hinaus wachsen zu wollen.) Dieses bei der Auswertung von historischen Massendaten aus der Bildungsgeschichte gefundene Ergebnis korrespondiert gut mit den Ergebnissen der neueren Gehirnforschung. Danach muss die Hirnentwicklung „als ein sich selbst organisierender, durch Interaktionen mit der a¨ ußeren Welt gelenkter Prozess verstanden werden.“ 45 3.3 Die funktionale Eigendynamik des Bildungswesens Aus den disharmonischen Spannungen unter den Zeitgenossen, die u¨ ber den ¨ Bedarf an Pfarrern, Rechtsanw¨alten, Arzten, Lehrern usw. uneins waren und seit der Aufkl¨arung o¨ ffentlich stritten, resultierte das funktionale Eigengeschehen der organisierten h¨oheren Bildung in der Tiefenstruktur des gesellschaftlichen Lebens (Außen), das als Leitfaden f u¨ r neue Einsichten dient. Als 44 45

Vgl. Durkheim 1972, 39. Vgl. H¨uther 2004, 65.

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Vergesellschaftungsform ist hier das moderne Vereinswesen zu nennen, welches die individuelle Einbildungskraft und die soziale Vernetzung der Individuen optimal organisierte. Die Gebildeten sorgten kraft ihres Selbstbewusstseins (Innen) immer fu¨ r soziale Bewegung im Gemeinwesen. Durch ihr intentionales Zusammenwirken erzeugten sie den funktionalen Mechanismus ¨ der Kultur (periodische Wiederkehr von Uberf u¨ llung und Mangel). Der Zusammenschluss der einzelnen in Vereinen, vom u¨ berschaubaren Gesangverein bis zur gr¨oßten Gruppe („der Gesellschaft“) war deshalb so dynamisch, weil jede durch eigene Anstrengung erworbene fachliche Kompetenz (Qualifikation) nach Verwertung und Anerkennung durch andere strebte (Berechtigungsaspekt). Die vereinsm¨aßige Organisation erlaubte es, f u¨ r die kulturellen Werthaltungen des B¨urgertums eine institutionelle Grundlage zu schaffen. Der Verein fu¨ hrte die B¨urger in freiwilligen Sozialbeziehungen zusammen. Im freien Austausch der Individuen manifestierte sich das Interesse an Geselligkeit und Selbstbest¨atigung. In dieser Form der Vergesellschaftung konnte Kultur als Eigenleistung realisiert und das prek¨are Gleichgewicht von zunehmend individueller Interessenfindung und neuer Gruppenidentit¨at immer wieder ausgehandelt werden. Die Vereinsbildung diente „als Individualisierung und Verb¨urgerlichung der Kultur“ 46 . In der eigensinnigen Dynamik des Bildungswesens wird eine tiefe Einsicht Schleiermachers durch die moderne Analyse historischer Massendaten best¨atigt: „Es ist u¨ berhaupt Unsinn und ein vergebliches Bem¨uhen, die geistige Entwicklung, wenn sie schon bis zu einem gewissen Punkt gediehen ist, noch hemmen zu wollen“. 47 Dass sich Bildungsprozesse ab einem bestimmten Niveau der herrschaftlichen Kontrolle entziehen und autonom werden, hat etwas Großartiges. Deshalb hat der Gedanke, dass Machtressourcen f u¨ r den Austausch gebildeter Menschen nur eine im Prozess selber verschwindende Bedeutung haben, ein empirisches Fundament. Was Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts fu¨ r das einzelne Kind registrierte, gilt wegen ihrer hohen Eigendynamik auch f u¨ r ganze Bildungssysteme in ihrer relativen Autonomie: Sie steuern sich ab einem bestimmten Entwicklungsstand weitgehend selbst. Am Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften kann man heute diese Eigendynamik in entwickelten Gesellschaften studieren. Die Revolution von 1989 war der erste friedliche Umsturz in Deutschland, weil das Bildungssystem in seiner funktionalen Eigendynamik unberechenbar war und gegen die Intention der Machthaber lernf¨ahige Menschen hervorbrachte, die das verlogene Herrschaftssystem schließlich von innen heraus friedlich absch¨uttelten. Mit „Erschrecken vor der eigenen Realit¨at“ 48 musste die unvereingenomme (und in der DDR nicht ver¨offentlichte) Forschung registrieren, dass eine zunehmend 46

Vgl. Nipperdey 1976, 181. Vgl. Schleiermacher 1957, 131. 48 Vgl. Tenorth 2000, 357. 47

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selbstst¨andige Generation mit Distanz zum eigenen Staat heranwuchs. Durch diese Eigendynamik wird vor allem die nachwachsende Generation zum Movens des sozialen Wandels. Wir erkennen auch die Nachteile dieser Eigendynamik: Bildungsprozesse k¨onnen andererseits zur Verquickung mit Machtressourcen fu¨ hren, weil Bildung in der Außenwelt auch Macht bedeutet und fu¨ r Interessen instrumentalisiert wird. 49 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Vereinswesen in diesem Sinne zunehmend funktionalisiert, auch die Gelehrten-Vereine blieben davon nicht unber¨uhrt. Diese Entwicklung l¨asst sich an der Popularisierung der Wissenschaft verfolgen. Sie kulminierte in den Weltanschauungsvereinen, die sich im Kampf um die Leitkultur seit den 1890er Jahren schroff gegen¨uber standen. 50 Zwischen der Generationengeschichte und der Systemgeschichte scheint es ein interessantes Zusammenspiel zu geben, das auch u¨ ber die Habitusformation der Lehrer vermittelt wird: Aufgrund ihrer Einstellungen und Reflexionen scheinen die Lehrergruppen das Bildungspotential ihrer Sch¨uler generationenspezifisch mal eher zu mobilisieren und mal eher zu d¨ampfen. Bei einer Differenzierung zwischen Volkschullehrern und Lehrern an h¨oheren Schulen wird deutlich, dass das Element der Reform vor allem von ersteren und das Element der Erhaltung des Status quo vor allem von letzteren vertreten wurde. Die Studienr¨ate waren u¨ ber ihren Status fest im System verankert und geringer innovationsorientiert, aber auch weniger anf¨allig f u¨ r Okkupationsversuche des politischen Systems. Sie waren strukturkonservativ in dem Sinne, dass ihr Selbstverst¨andnis durch ihre soziale Rolle im Bildungssystem tief gepr¨agt wurde. Die Lehrer im niederen System waren eher reformorientiert und schwangen mit dem politischen Zeitgeist st¨arker mit. 51 Dies ist ein wichtiger Fingerzeig zur k¨uhnen Hypothese, dass auch geistige Str¨omungen, Ideen und Gesellschaftbilder mit den langen Wellen des Bildungswachstums schwingen. Ganz abstrakt gesehen arbeitet die funktionale Eigendynamik des Bildungswesens die Vergesellschaftung in Jahrhunderten in der Weise um, dass aus der hierarchischen Integration nach sozialer Gruppenzugeh¨origkeit eine funktionale Integration nach der Verschiedenartigkeit der Individuen wird. 3.4 Der Akademikerzyklus – ein Preis der Freiheit Die Disharmonien zwischen individueller Lernf¨ahigkeit und sozialer Verwertung sind konstitutiv f u¨ r die kulturelle Evolution. Wo sie missachtet wurden und der Bildungsbedarf nur von der Außenseite der Kultur und vermeintlich rational gesellschaftlich bestimmt wurde, haben sich die Regeln fu¨ r den Austausch und Umgang der Menschen als nicht zukunftsf¨ahig erwiesen, wie 49 50 51

Vgl. Titze 1973, 219ff. Vgl. Daum 1998, 459ff. Nath et al. 2004, 558ff.

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der Zusammenbruch der geplanten (sozialistischen) Gesellschaften seit 1989 deutlich gemacht hat. Die zyklischen Muster sind in der Tiefenstruktur des akademischen Bildungswesens in sozialistischen Gesellschaften nicht aufgetreten. Weil die Zugelassenen sichere Verwertungschancen f u¨ r ihre Qualifikationen haben sollten, wurden beispielsweise die Hochschulzugangsberechtigungen ab 1971 in der DDR drastisch gesenkt. Das Niveau von maximal 46000 Zulassungen (1973) wurde auf eine Gr¨oßenordnung von rund 35000 ab 1975 gesenkt und eingefroren. Die vermeintlich rationale Bildungsplanung, die die Personen nur von außen als Rollenspieler gesellschaftlich verwertete, hat auch ¨ die f u¨ r das kulturelle Leben langfristig fruchtbaren geistigen Ubersch¨ usse mit wegrationalisiert. Mit Recht betonen Experten, dass die Bildungsplanung mit „Vorstellungen st¨andischen Charakters aufs Engste verbunden“ war. 52 „Trotz der Betonung der Selbst¨andigkeit“, stellte die Dekanin der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakult¨at der Humboldt-Universit¨at in einer kritischen Analyse kurz nach der Wende fest, „wurde ein bisher im deutschen Hochschulwesen einzigartiges Korsett f u¨ r Studierende und Lernende geschaffen, bis zur schriftlichen Verordnung jeder Vorlesungsstunde durch den Minister.“ 53 Aus dem Scheitern der sozialistischen Alternativen am Ende des 20. Jahrhunderts ergeben sich aus dieser Perspektive interessante Einsichten zur Wirksamkeit von Bildungsprozessen im gesellschaftlichen Leben. Die b¨urokratische Festlegung der Menschen im Lebenslauf f u¨ hrte zum Degagement im gemeinsamen Leben, zu einer relativ geringen o¨ konomischen Leistung und nach der Erfahrung von drei Generationen zum Abbruch der sozialistischen Entwicklungspfade. Die DDR ist 1989 implodiert. Aus dem Scheitern der DDR kann man lernen, dass jede moderne Kultur von unten wachsen und auf Eigenleistung beruhen muss. Pers¨onliche Freiheitsrechte sind deshalb gerade in diesem Bereich eine Voraussetzung jeder zuk¨unftigen Kultur. Zu dieser Einsicht sind einige vorausdenkende Kulturexperten schon hundert Jahre fr¨uher gekommen. Nach der unvoreingenommenen wissenschaftlichen Durcharbeitung der erstmals erhobenen Massendaten zum Studium formulierte ein Beamter der statistischen Zentralbeh¨orde Preußens 1890, der starke Zudrang zu den Hochschulen „kann und darf nicht abged¨ammt werden; das widerspr¨ache den Zielen der Kulturentwicklung“. Der durch fortschreitende Bildungsbeteiligung funktionierende Kulturprozess ließe sich „durch wohlfahrtspolizeiliche Maßnahmen“ auch sicherlich nicht unterdr¨ucken. 54 Die leitenden Politiker und viele andere Zeitgenossen brauchten zu dieser Einsicht etliche Jahre l¨anger. Bismarck versuchte in den 1880er Jahren das moderne Bildungswachstum im berechtigten Schulwesen und besonders auch im Volksschulwesen zu hemmen. In der Phase der herrschaftlichen Bremsung 52

Vgl. K¨ohler/Stock 2004, 65. Vgl. Baske 1998, 223. 54 Vgl. Preußische Statistik, Heft 102, 23. 53

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des Bildungswachstums (mindestens 1886/7–1895/6) wurden im Durchschnitt j¨ahrlich 208 Kandidaten im preußischen h¨oheren Schulwesen definitiv angestellt. Als die politischen Widerst¨ande u¨ berwunden waren und das h¨ohere Schulsystem ungebremst wuchs (1904/5–1913/4), wurden durchschnittlich 532 pro Jahr angestellt, also zweieinhalb mal so viele. Die eigent¨umliche Rhythmik des Bildungswachstums d¨urfte auch mit derartigen politischen Einflussnahmen auf die Systementwicklung zusammenh¨angen.Es spricht vieles dafu¨ r,dass in Phasen des starken Wachstums ein Teil des aufgestauten Bildungsbedarfs nachgeholt wird. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entzog sich die h¨ohere Bildung der traditionellen autorit¨aren Kontrolle und politischen Steuerung durch das traditionsbefangene administrative System, und die Eigendynamik des Bildungswesens wurde kritischen Zeitgenossen bewusst. 55 Der von der preußischen Ministerialb¨urokratie Ende der 1880er Jahre zur herrschaftskonformen Kontrolle des Elitestudiums vertraulich zu Rate gezogene G¨ottinger Professor Wilhelm Lexis a¨ußerte sich 1905 bemerkenswert skeptisch u¨ ber die Steuerungsm¨oglichkeiten auf diesem wichtigen Feld der Gesellschaftspolitik. Die Schwankungen bei den fachspezifischen Studentenstr¨omen tr¨aten „mit einer fast naturgesetzlichen Regelm¨aßigkeit“ auf. 56 Die Erfahrungen in der DDR von 1949 bis 1989 weisen in die gleiche Richtung: „Die Bew¨altigung der Abstimmungsprobleme zwischen Bildungs- und Besch¨aftigungssystem erwies sich letztlich als Illusion.“ 57 Aus der Geschichte k¨onnen wir in diesem Bereich zuverl¨assig lernen: Der Akademikerzyklus ist ein Preis der Freiheit. 3.5 Werte – geteilte Strukturen von Zeitgenossen Wenn wir verstehen wollen, was Werte sind, sollten wir von den Zeitgenossen geteilte Strukturen studieren und genetisch rekonstruieren, wie sich die Grenzen zwischen Innen und Außen in der Geschichte ver¨andert haben. Im Bezugsrahmen der Wechselwirkung von Akteuren und Umwelt lassen sich im Anschluss an Piaget die handlungsorientierenden Werte der Person als in der Innenwelt der Zeitgenossen evolution¨ar aufgebaute Strukturen auffassen (innere Bedeutungswelten). Der theoretische Ansatz der Tiefenstruktur des Bildungswachstums rekonstruiert Innen und Außen nicht als Gegensatz (Naturseite des Menschen versus Gesellschaftlichkeit), sondern im Sinne einer Koevolution von Natur und Kultur. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls an Eriksons Konzeption zu denken, nach der a¨ ußere K¨ampfe im gesellschaftlichen Leben auch im Inneren des einzelnen Menschen in dessen innerer Arena gefu¨ hrt werden. In diesem Bezugsrahmen kann man plausibel machen, dass sich erstens die Werte wandeln, an denen sich die Menschen orientieren, dass 55

Vgl. M¨uller-Benedict 1991, 11ff. Vgl. Lexis 1905, 35. 57 Vgl. K¨ohler/Stock 2004, 97. 56

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sie zweitens in der Orientierung an der Umwelt die Werte ver¨andern und selbst hervorbringen, dass drittens schließlich Person und Umwelt in ihrer Wechselwirkung konstruktivistisch aufzufassende Elemente eines Prozesses sind. Durch eine kritische Reflexion der Werte „Gleichheit“ und „Leistung“ soll diese Sicht von Person und Umwelt als Prozess in der Zeit erl¨autert werden. Bei der Untersuchung des Werts Gleichheit im historischen Prozess muss man sich zwei Bedeutungsfelder klarmachen. Einmal steht die Vorstellung im Vordergrund, dass der einzelne Mensch sich in seiner Leistung im gemeinsamen Leben voll entfalten und verwirklichen sollte, ungehindert durch a¨ußere soziale Bedingungen seines Handelns (wie Herkunft, Geschlecht, ethnische Zugeh¨origkeit usw.). Dann hat man als erstes Bedeutungsfeld beim Wert Gleichheit vor allem die Chancengleichheit vor Augen, die Ausgangsbedingungen des individuellen Handelns beim konkreten Mitmenschen. Zweitens verbindet sich mit dem Wert Gleichheit die Vorstellung, im gemeinsamen Leben der Menschen sollten die Unterschiede nicht zu krass sein. Dann haben wir vor allem die geregelte Zusammenarbeit auf der institutionellen Ebene vor Augen. Hier geht es um das zweite Bedeutungsfeld des Werts Gleichheit, um die nach einer gewissen Zeitspanne im Prozess der Vergesellschaftung festgestellte Ergebnisgleichheit. Wir k¨onnen diese unterschiedlichen Bedeutungsschichten des Werts Gleichheit auch danach unterscheiden, dass wir erstens die Ungleichheit zwischen Personen und dann den Wert der Chancengleichheit vor Augen haben, zweitens die Ungleichheit von sozialen Systemen und dann den Wert der Ergebnisgleichheit. Das heißt: Wir betrachten die Umwelt als in der Zeit aufgebaute institutionelle Welt, in der die geltenden Spielregeln im Austausch der Menschen in der vergangenen Zeit zum Ausdruck gelangen und objektiviert sind. Die den Einzelnen beeinflussende Umwelt wird als Wirkungsergebnis des Lernens der fr¨uheren Generationen aufgefasst. Im ersten Fall sind wir durchaus geneigt, die Ungleichheit von Personen zu rechtfertigen, wenn sie bei gleichen Chancen der Selbstentfaltung ungleiche Leistungen hervorbringen. In der Selbstentfaltung l¨ost sich der einzelne von allgemeinen Normen. Die Selbstentfaltung tritt in Widerspruch zur Gleichheit im Sinne der Ergebnisgleichheit. Im zweiten Fall sind wir geneigt, eine Gesellschaft kritisch zu sehen, die zuviel Ungleichheit als Ergebnis der Vergesellschaftung zul¨asst oder hervorbringt. Dahinter verbirgt sich eine „ungerechte“ Bewertung von Leistungsunterschieden: Wie auch immer die Austauschregeln im historischen Prozess sich entwickelt haben m¨ogen, einige ziehen daraus enorme Vorteile und sind die großen Gewinner der Spielregeln, andere zahlen dabei in ihrer Entfaltung drauf und sind die großen Verlierer. Es kommt also beim Wert der Gleichheit auf die historisch angemessene Balance an: Die eine Seite markiert die Chancengleichheit als Selbstentfaltung des einzelnen, die andere Seite die Systementwicklung, die nur innerhalb gewisser Grenzen tolerable Ergebnisungleichheit hervorbringen

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soll. 58 Milliardenverm¨ogen auf der einen Seite und bittere Armutslagen auf der anderen Seite m¨ussen nat¨urlich den Verdacht erregen, dass hier grunds¨atzlich die Regeln des Austausches der Menschen auf der Systemebene nicht (mehr) stimmen. Dass B¨ucher, die die unterschiedlichen Kompetenzen und die Bestimmung der Regeln fu¨ r den Austausch beleuchten, heute Bestseller werden („Emotionale Intelligenz“), zeigt uns vielleicht an, auf welche Weise eine Kultur f u¨ r diese Zusammenh¨ange sensibel wird. Die vereinfachte Protestformel „Die Reichen werden immer reicher – die Armen werden immer a¨rmer“ ist aus der Sicht der Historischen Bildungsforschung zu pr¨azisieren: Die Abst¨ande zwischen Reich und Arm werden immer gr¨oßer – zugleich werden aber alle reicher. 3.6 Zyklen und Zeitpr¨aferenzrate Die Vermutung liegt nahe, dass zwischen den Bildungszyklen und wellenf¨ormigen Ph¨anomenen in anderen Bereichen der Kultur eine Interdependenz besteht, weil in allen Erscheinungen gleichartige und h¨ochst abstrakte Einfl¨usse zum Ausdruck gelangen. Die Forschung steckt in diesen Bereichen noch ganz am Anfang. Eine weiterf u¨ hrende Erkl¨arung bietet vielleicht das Konzept der Zeitpr¨aferenzrate, die im Zinsniveau einer Volkswirtschaft empirisch fassbar zum Ausdruck kommt. Mit der Zeitpr¨aferenzrate wird das durch unsere Alltagserfahrung best¨atigte Ph¨anomen beschrieben, dass die Menschen den Konsum in der Gegenwart dem Konsum zu einem sp¨ateren Zeitpunkt vorziehen. Je h¨oher die Zeitpr¨aferenzrate, desto mehr Wert wird dem gegenw¨artigen Konsum zugeschrieben. Die Menschen sind nur bereit, auf den heutigen Konsum zu verzichten, wenn sie in der Zukunft einen noch gr¨oßeren Konsum als Gegenwert erhalten. Das bedeutet aber, dass sie einen hohen Zins fu¨ r ihren gegenw¨artigen Konsumverzicht (Sparen) verlangen. Die Zeitpr¨aferenzrate schwankt also immer wieder in Wechselwirkung mit der Kapitalbildung. „Je niedriger die Zeitpr¨aferenzrate ist, um so mehr Kapital wird gebildet, um so st¨arker nimmt der Wohlstand zu. Andererseits erh¨oht sich – im Generationswechsel – die Zeitpr¨aferenzrate mit steigendem Wohlstandsniveau. Dadurch verringert sich die Kapitalbildungsrate wieder, und das Wohlstandsniveau wird negativ beeinflusst. Das fu¨ hrt wieder zu einer Verringerung der Zeitpr¨aferenzrate und zu vermehrter Kapitalbildung.“ 59 Bildungsprozesse implizieren einen Aufschub unmittelbarer Bed¨urfnisbefriedigung. Gebildete Personen kleben nicht so stark am Hier und Jetzt („Gegenwartsvorliebe“), sondern k¨onnen abstrahieren und sich in einem weiten Zeithorizont zuk¨unftige Situationen vorstellen. Um die zyklischen Erscheinungen in der Kultur tiefer zu verstehen,m¨ussen wir die doppelte Zeitbindung von Bildungsprozessen verstehen (Anpassung an die Umwelt in der Gegenwart, Reflexion von Handlungen und Anpassungen in der Zukunft). Wir wissen aus eigenen Forschungen, dass 58 59

Vgl. Meulemann 1996, 274ff. Vgl. Neumann 1991, 7.

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sich das Selektionsklima im Generationswechsel in der Tiefenstruktur f u¨ r die Zeitgenossen unmerklich periodisch wandelt. Die Zyklen im Bildungswesen stellen sozusagen den empirischen Kern des kulturellen Mechanismus dar, der mit dem Wechsel der Generationen verbunden ist. Das langfristig schwankene Selektionsklima manifestiert vermutlich die schwankende Zeitpr¨aferenzrate im Generationswechsel. Der Markt als Selektionsmechanismus fu¨ r Bildungschancen (zwischen individueller Lernf¨ahigkeit und sozialer Verwertung) tendiert auf ein Gleichgewicht hin,das aber nur in der Theorie erreicht wird.Durch den Wertewandel und die Subjektivierung der Kultur seit der Aufkl¨arung ist die Steuerung der Handlungen mit dem langfristigen Bildungswachstum von oben und außen (herrschaftliche b¨urokratische Steuerung) in die K¨opfe der Subjekte gewandert. Die Antworten/Reaktionen auf die verinnerlichten Erwartungen als zun¨achst nur im Innern hervorgerufene symbolische Handlungsf u¨ hrungen treten nach Außen („Freiheit“) und erzeugen in der Interaktion soziale Bewegungen. Dieses flexible Zusammenspiel von Innen und Außen sollten wir im Prinzip vor Augen haben, wenn wir uns sozialen Wandel vorstellen. 3.7 Bildung als Balance zwischen Innen und Außen Eine angemessene Balance zwischen Innenwelt und Außenwelt zu halten, wird durch Bildungsprozesse gelernt. Wie gestaltet sich der Bildungsprozess in der Zeit? Die reflektierende Kraft des Individuums im Dienste der Selbsterhaltung ist der Anpassung an die jeweils gegebene Umwelt (hier m¨ussen wir unsere Rolle spielen) wegen der doppelten Zeitperspektive von Bildungsprozessen immer schon voraus. Durch Bildungsprozesse o¨ ffnet sich der Zeithorizont, wird die Fest-Stellung von Strukturen im sozialen Raum (das aktuelle Dasein) f u¨ r Ver¨anderungen in Bewegung gesetzt. Wir k¨onnen uns vom gegenw¨artigen Momentanismus (im Jetzt und Hier) distanzieren und in der Reflexion den Zeithorizont nach vorne und nach hinten o¨ ffnen und u¨ ber die Situation und u¨ ber unseren eigenen endlichen Lebenslauf hinausdenken. Was wird morgen sein, in einer Woche, einem Monat, einem Jahr? Wir k¨onnen uns in dieser Dimension des reflexiven Verhaltens f u¨ r Jahrhunderte und Jahrtausende zur¨uckund vorausdenken. Geschichten sind sinnhafte Gestalten in der Zeit. Der u¨ ber den eigenen Lebenslauf erzeugte „Sinn“ wird ein Moment im „objektiven Sinn“. Eine Kultur, die einen schroffen Gegensatz von Außen- und Innenwelt erzeugt und die Menschen dauerhaft zur Verstellung des Inneren zwingt, kann keine stabile Identit¨at der Individuen hervorbringen und macht ihre Mitglieder krank. Nur bei einer selbstveranworteten und ungezwungenen Balance von Innenwelt (Selbstdeutung) und a¨ ußerer Darstellung im Rollen-Handeln kann sich das Gef u¨ hl der Freiheit ausbilden. Am Grenzfall des Schicksals des j¨udischen Hitlerjungen Salomon l¨asst sich studieren, wie unertr¨aglich die Spannung von Innen und Außen und die Verstellung unter Herrschaftsbedin-

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gungen werden kann. 60 Der konstruktivistische Gedanke, dass sich die Menschen und ihre Umwelten wechselseitig beeinflussen, ver¨andern und aufbauen, muss mit dem Gedanken der Eigenleistung verbunden werden. Die neue Art der sozialen Einbindung muss als Eigenleistung der Individuen gedacht werden. Die neue Identit¨at kann sich nur im Maße ver¨anderter kommunikativer Strukturen bilden. 61 Dafu¨ r gen¨ugt nicht eine auf kognitive Anpassungsleistungen reduzierte Ich-Instanz, weil unsere Innenwelt und die Grenzziehung zur Außenwelt auch von energetischen Zust¨anden, Bed¨urfnissen und Gefu¨ hlen bestimmt wird. Wird die Differenz zwischen a¨ ußerer Handlungswelt und innerer Deutungswelt zu groß, zerbrechen wir an der erzwungenen Verstellung, werden krank oder ver¨andern St¨uck fu¨ r St¨uck gemeinsam mit anderen die Handlungswelt, indem wir mutig unsere Innenwelt offenbaren. Die „Spannung“ zwischen Innen und Außen bietet die Gew¨ahr f u¨ r den immer wieder vollzogenen Ausgleich im sozialen Wandel. Der Umbau fast aller sozialistischen Staaten zweihundert Jahre nach der Franz¨osischen Revolution ist ein Lehrst¨uck f u¨ r das Bildungswachstum und die damit verbundene Eigendynamik und Spontaneit¨at des Zusammenspiels von Innen und Außen. Die Friedensbewegung in der DDR beispielsweise, an der sich die Mechanismen eindringlich studieren lassen, war wegen ihrer phantasievollen und subtilen Protestformen kaum zu kontrollieren. Das innere Wissen wirkte als umgestaltendes, „nach aussen treibendes Motiv“ und blieb nicht mehr in „Innerlichkeit“ verborgen (Nietzsche). Die moderne Bildung wurde lebendig, aus dem Bildungs-Gedanken wurde bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989 und dem Dauerprotest in Kiew 2005 ein Bildungs-Entschluss. Derartige empirische Erscheinungen sollten wir bei der Selbstorganisation in sozialen Systemen studieren. 62 Im letzten Jahrzehnt hat sich als neue Form der Kommunikation das Internet z¨ugig verbreitet. Schon heute l¨asst sich feststellen, dass es zu einer fortschreitenden Differenzierung und sch¨arferen Abgrenzung von Innenwelt und ¨ Außenwelt f u¨ hren wird. In der Fern-Kommunikation (bei der Uberschreitung der Grenzen in Raum und Zeit) scheinen wir nur noch als ein Geistwesen unser Leben zu f u¨ hren, w¨ahrend wir in der unmittelbaren Lebenswelt immer noch einen K¨orper haben und ein K¨orper mit besonderen Bed¨urfnissen sind. Die entgrenzten Spielr¨aume der flexiblen Balance von Innen und Außen werden immer riskanter. Gleichwohl bleibt der Einzelne in der Lebenswelt der unmittelbaren Face-to-face-Kommunikation in wahrgenommenen Grenzen ein „ganzer“ Mensch. „Letztendlich ist das pers¨onliche Ged¨achtnis der Schl¨ussel zur wahren Identit¨at.“ 63 60

Vgl. Perel 1998. Vgl. Habermas 1994. 62 Vgl. M¨uller-Benedict 2000, 317ff. 63 Vgl. Manen/Levering 2000, 106. 61

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4 Wissensteilung – eine historisch sp¨ate Einsicht Dass es bei der Verteilung des Wissens keine Sieger und Verlierer geben muss, ist nach den Erfahrungen der Gewalt und der Zwangsintegration vieler Generationen vor uns eine historisch sp¨ate Einsicht. Grunds¨atzlich geht es hier um die Einsicht, dass es sich beim Wirken von Bildungsprozessen in der Kultur nicht um ein Nullsummenspiel (zwischen Gewinnern und Verlierern) handelt, sondern um einen inneren Steigerungszusammenhang. 64 Die vierte Welle in der Abbildung 1 zeigt, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg im Sinne des Steigerungszusammenhangs den Weg der Massenbildung beschritten haben, was bei der Vergegenw¨artigung der absoluten Zahlen deutlicher wird. Immer mehr Personen haben gelernt, ihr Wissen nicht im Konflikt zu instrumentalisieren, sondern kooperativ zu teilen. W¨ahrend die erste Welle auf einem Niveau von etwa 10000 bis 23000 Sch¨ulern schwang, bewegte sich die zweite Welle bereits auf einem Niveau bis 135000 (1890). Hinter der dritten Welle standen Anfang der 1930er Jahre schon rund 300000 Sch¨uler. Die vierte Welle in der westdeutschen Bundesrepublik erreichte 1980 ein Niveau von u¨ ber zwei Millionen, wenn man neben den Sch¨ulern nun auch die Sch¨ulerinnen an Gymnasien einschließt. W¨ahrend das kulturelle Klima die Bildungsanstrengungen von immer mehr Kindern und Jugendlichen beeinflusste, blieben die selektiven Mechanismen in der Tiefe des gemeinsamen Lebens u¨ ber zwei Jahrhunderte gleich. Die Abbildung ist ein Beleg daf u¨ r, dass diese Entwicklung nicht zuf¨allig war, dass wir die gemeinsame Geschichte vielmehr als Bildungsprozess auffassen k¨onnen. Im generativen Aufbauprozess von den Nachkommen der oberen Zehntausend zu den Millionen Kindern und Jugendlichen aus allen sozialen Schichten im gegenw¨artigen Schulwesen hat sich Bildung vom Privileg entkoppelt und als Teilnahmevoraussetzung an der Kultur einen eigenen Wert erlangt. Wenn wir die gemeinsame Bildungsgeschichte in Lichte dieser Forschungsergebnisse interpretieren, ergibt sich auch eine neue Deutung des Nationalsozialismus, der bislang eher verdr¨angt wurde. Er bleibt nicht l¨anger ein dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte, sondern verk¨orpert im Sinne einer Dialektik der Aufkl¨arung den Kampf gegen die Konsequenzen der Aufkl¨arung. 4.1 Nationalsozialismus und Modernisierung Der Nationalsozialismus war eine verh¨angnisvolle unreife Bewegung auffallend junger Menschen, die sich gr¨oßenwahnsinnig u¨ ber die Trends der Modernisierung hinwegsetzen wollten. Die Nazifu¨ hrer erkannten instinktiv, dass die mit dem Bildungswachstum verbundene Individualisierung der Lebensfu¨ hrung auf Dauer jeden Befehl von oben sozusagen leerlaufen ließ. Dass der Nationalsozialismus als modernit¨atsfeindliche und an der Realit¨at gescheiterte Bewegung klassifiziert werden kann, erkennt man an den weiterlaufen64

Vgl. Titze 1990, 487; Nath et al. 2004, 543.

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den historischen Trends und dem Scheitern der Strategie der herrschaftlichen Steuerung von Bildungsprozessen. Der Nationalsozialismus ist in der Tradition hierarchischer sozialer Beziehungen in den Gesellungsformen zu sehen. In einem vereinfachten Bild: Im „Dritten Reich“ hat sich die traditionelle Elitebildung noch einmal kurzsichtig behauptet und dabei die entstellte Fratze der ¨ „F¨uhrerauslese“ angenommen. Die Uberzeugungskraft dieser Deutung muss sich in der weiteren Forschung nat¨urlich empirisch bew¨ahren. 65 4.1.1 Die Ohnmacht des Nationalsozialismus gegen¨uber generativen Trends Die Ohnmacht des nationalsozialistischen Gr¨oßenwahnsinns gegen die Moderne zeigt sich zun¨achst in einem Lebensbereich, in dem man das am allerwenigsten erwarten w¨urde: im Geburtenr¨uckgang. Beim generativen Verhalten handelt es sich wie beim Bildungswachstum um ein in der Tiefenstruktur der Gesellschaft verankertes Ph¨anomen, das von der Politik kaum erreicht wird und seiner eigenen Dynamik folgt. Zwar war die Heiratsbereitschaft junger Leute in den ersten Jahren des Dritten Reichs außergew¨ohnlich hoch, aber alle politischen Bem¨uhungen scheiterten, den Trend zur Zwei-Kinder-Familie aufzuhalten oder gar umzukehren. In den 1920 geschlossenen Ehen kamen durchschnitttlich 2,3 Kinder zur Welt, in den 1930 und 1940 geschlossenen Ehen jedoch nur noch 2,2 bzw. 1,8 Kinder. 66 Damit die Generation der Kinder stabil bleibt und nicht schrumpft, m¨usste die Elterngeneration im Durchschnitt 2,1 Kinder bekommen. Wie die endg¨ultige mittlere Kinderzahl der 1930 bis 1965 geborenen Frauen zeigt, wurde diese Kinderzahl jedoch bereits von den in der zweiten H¨alfte der 1930er Jahre Geborenen nicht mehr erreicht. Gegen den Trend des Geburtenr¨uckgangs in individualisierten Gesellschaften konnten die Nationalsozialisten, trotz gegenteiliger Propaganda, im Grunde nichts ausrichten. Im Jahre 2000 lag die zusammengefasste Geburtsziffer bei rund 1,36 Kindern pro Frau. Das generative Verhalten seit 1840 ist mit dem modernen Bildungswachstum in einem engen Zusammenhang zu sehen. 67 Die aus dem modernen Geburtenr¨uckgang resultierenden nationalen Probleme sind grunds¨atzlich nur noch in einem internationalen Bezugsrahmen zu l¨osen. Das Scheitern an der gesellschaftlichen Realit¨at zeigt sich zweitens besonders bei den wachsenden Anspr¨uchen der Frauen auf gleichberechtigte Teilhabe an der h¨oheren Bildung. Schon im Neuhumanismus wurde der Anspruch auf allgemeine Menschenbildung zwar formuliert, aber faktisch war die H¨alfte der Menschheit noch lange Zeit ausgeschlossen. Die zunehmende Beteiligung der M¨adchen am Bildungswesen wurde in gesellschaftlichen K¨ampfen u¨ ber mehrere Generationen erstritten. 68 Im ersten Jahrzehnt des 65

Vgl. auch als Argumentationsskizze Titze 2001. Vgl. Frevert 1997, 226. 67 Vgl. Miegel/Wahl 1994, 35; Herter-Eschweiler 1998, 22; Birg 2001. 68 Vgl. Kleinau/Opitz 1996. 66

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20. Jahrhunderts wurde in Deutschland den Frauen der Zugang zum Studium ge¨offnet. 1923 erreichten die Reformkr¨afte mit der Gleichstellung der Lyceen als h¨ohere M¨adchenschulen ein wichtiges strategisches Ziel des Einbaus in das (m¨annliche) Berechtigungswesen. Mit der Modernisierung der Lebensweise drangen die Frauen im gesamten Schulsystem im 20. Jahrhundert vor. Die Relativierung des politischen Einflusses der Nationalsozialisten wird sichtbar, wenn man den weiblichen Anteil unter dem festangestellten (wissenschaftlichen) Personal an o¨ ffentlichen h¨oheren Jungenschulen in Preußen verfolgt. Er stieg stetig von 7,8 Prozent (1921) auf 12,4 Prozent im Jahre 1933. Dann zeigt sich ein leichter Abfall auf 11,7 Prozent (1937), ehe der Trend im Wert f u¨ r 1941 mit 13,4 Prozent wieder durchschlug. Der anhaltende Lehrermangel nach dem Zweiten Weltkrieg ließ den Frauenanteil weiter ansteigen. Die „Bildungskatastrophe“ der 1960er Jahre war fu¨ r die erfolgreiche Mobilisierung der weiblichen Bildungsreserve dann eine g¨unstige gesellschaftliche Rahmenbedingung, die den langfristigen Trend best¨atigte. In allen Bereichen des Bildungssystems erh¨ohten die Frauen von 1960 bis 1980 ihren Anteil am Lehrpersonal, abgestuft nach hierarchischer Differenzierung: im Volksschulwesen von 44,7 Prozent auf 63,9 Prozent, im mittleren Schulwesen von 42,8 Prozent auf 52,5 Prozent, im h¨oheren Schulwesen von 31,6 Prozent auf 36,4 Prozent.Auf lange Sicht zeigt die geringf u¨ gige Abweichung vom Trend, wie relativ gering man in diesem Kontext den politischen Einfluss der Nationalsozialisten einsch¨atzen sollte. 4.1.2 Der Konflikt zwischen Elitebildung und Massenbildung Der langfristige Modernisierungspfad der deutschen Gesellschaft unterstreicht die Gemeinsamkeiten mit anderen Gesellschaften. Aber in einem Bereich wird der vieldiskutierte deutsche Sonderweg,die Ausnahmestellung des Dritten Reiches, sofort deutlich: beim Bildungswachstum. Mit dem „Gesetz gegen die ¨ Uberf u¨ llung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 sollte das weitere Bildungswachstum begrenzt werden. In den westlichen Gesellschaften gab es nirgendwo ein Gesetz gegen Bildungswachstum. Allein dieser Umstand spricht f u¨ r den Ansatz, den Nationalsozialismus im Bezugsrahmen einer Dialektik der Aufkl¨arung begreifen zu wollen. Bei der Einsch¨atzung des Nationalsozialismus sollte diesem Gesetz eine systematische Bedeutung zukommen. Die ab 1941 in der systematischen Ermordung m¨undende Politik begann 1933 mit der Ausgrenzung der Juden im Bildungsbereich. Der deutsche Sonderweg wird sofort sichtbar, wenn wir den Blick auf die Tiefenstruktur des Bildungswachstums richten (Abb. 2). Im Vergleich zu seinen westlichen Nachbarn war das Bildungswachstum in Deutschland am st¨arksten. Es versch¨arfte mit seiner Dynamik seit den 1880er Jahren aber auch die ideologischen Konflikte und die Integrationsf¨ahigkeit des gesellschaftlichen Lebens. Das langfristig eingeschliffene Berechtigungswesen fesselte das Lernen der Generationen in der Zwischenkriegszeit und l¨ahmte die Anpassungsf¨ahigkeit des Staates an ver¨anderte komplexe Umwelten. Die nach

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Abb. 2. Bildungswachstum. Quote h¨oherer Sch¨ulerinnen in Prozent der 11- bis 19j¨ahrigen Bev¨olkerung in Preußen und der BRD (alt) 1800–2001

dem Weltkrieg vielbeschworene „Schrumpfung des Lebensraums“ der Akademiker schreckte vor allem die aufstiegsorientierten Schichten vom Besuch der Hochschulen ab. Das Dritte Reich ist als Ausdruck einer gesellschaftsweiten „geistigen W¨ahrungskrise“ aufzufassen. 69 Die Zahl der Studierenden an wissenschaftlichen Hochschulen sank von rund 138 000 (1931) auf rund 54 000 (1940). Die Nutznießer dieser dramatischen Schrumpfung waren vor allem die traditionellen akademischen Schichten, die bei zur¨uckgehendem Hochschulbesuch wie schon in den fr¨uheren Krisen um 1830 und 1880/90 ihre Kontingente zu Lasten der aufstiegsorientierten Schichten erh¨ohten. Durch die verborgenen Mechanismen des Akademikerzyklus wurden die oberen Sozialschichten im Dritten Reich von Statuskonkurrenz und Selektionsdruck entlastet. Dass im Dritten Reich die Lebenschancen der „kleinen Leute“ verbessert wurden, ist eine Oberfl¨achen-Wahrnehmung, die durch Einsichten in die Tiefenstruktur des Bildungswachstums widerlegt wird. Wenn man die relativ stabilen langfristigen Kontinuit¨atslinien der deutschen Schulgeschichte vergegenw¨artigt, 70 muss eine Merkw¨urdigkeit der Systementwicklung im Dritten Reich um so klarer ins Auge fallen: Im Gegensatz zum Trend seit der Jahrhundertwende wurde der obligatorische Lateinunter69

Im Auditorium Maximum der Universit¨at M¨unster fand am 4. September 1930 eine große ¨ Kundgebung gegen die Uberf u¨ llung des akademischen Arbeitsmarkts statt,auf der Dr.Ludwig Nissen,Ministerialrat im Reichsinnenministerium den Hauptvortrag hielt.Vgl.Schreiber 1923, XII. 70 Vgl. Herrlitz et al. 2001.

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richt 1936/38 wieder aufgewertet. Es scheint so, als ob im Dritten Reich diese besonders im 19. Jahrhundert wirksame und hochsymbolische Systemgrenze zwischen der gelehrten Bildung fu¨ r die F¨uhrer und der volkst¨umlichen Bildung f u¨ r die einfache Masse noch einmal kurz und zwanghaft zum Zuge kam. F¨ur die Planung der Bildungsorganisation durch die traditionsbefangene Kultusb¨urokratie er¨offneten sich nach 1933 „einzigartige Konstellationen“ 71 . Die Querverbindungen zwischen der h¨oheren Ministerialb¨urokratie und der SS m¨ussen in ihrer systematischen Bedeutung untersucht werden. Hier wird das B¨undnis zwischen Teilen der alten Elite und dem Mob (im Sinne Hannah Arendts) sichtbar, das bei der Erkl¨arung des Aufstiegs des Nationalsozialismus beachtet werden muss. In diesem Kontext der Befangenheit der alten Elite in kultureller Hegemonie ist beispielsweise interessant, dass der von oben gleichgeschaltete Rundfunk bis Ende 1934 unter der Parole „Ehret eure deutschen Meister!“ Zyklen mit klassischen Werken der b¨urgerlichen Hoch-Kultur (wie beispielsweise Beethoven, Schiller und Wagner) u¨ bertrug. 72 Die Verortung des Volksschullehramts im gesellschaftlichen Leben ist ein besonders aussagekr¨aftiger Indikator, wo eine Gesellschaft im Spektrum von demokratischer Teilhabe auf der einen Seite und Elitekultur auf der anderen Seite angesiedelt ist. F¨ur die nationalsozialistische Diktatur ist charakteristisch, dass dasVolksschullehramt bis Kriegsende sukzessive abgewertet und die Lehrerbildung auf ein unwissenschaftliches („volkst¨umliches“) Niveau abgesenkt wurde. Die durchschnittliche Klassenfrequenz in den beiden Systemen, ein anschaulicher Indikator fu¨ r die Kluft zwischen den Bildungskreisl¨aufen, stieg in den Volksschulen w¨ahrend der nationalsozialistischen Herrschaft wieder an und verringerte sich in den h¨oheren Schulen. 4.1.3 Die Aussch¨opfung der Bildungsreserven Die von den Nationalsozialisten verfolgte Strategie der Bildungsbegrenzung konnte nat¨urlich in einem Staat, der die Weltherrschaft erobern wollte, nicht durchgehalten werden. Das zeigt die vor dem Zweiten Weltkrieg in sozialpolitischen Expertenkreisen einsetzende Diskussion u¨ ber die Mobilisierung der Begabungsreserven der Gesellschaft. 73 Der schon ab 1934/35 sich ank¨undigende Kurswechsel ist fu¨ r die Historische Bildungsforschung besonders interessant. Im Jahre 1938 wurde von Biologen die Frage aufgeworfen, ob eine Verk¨urzung der Studiendauer zu einer fu¨ r das deutsche Volk nachteiligen geistigen Abr¨ustung f u¨ hre.Die seit Mitte der 1930er Jahre von denVerh¨altnissen immer dringlicher aufgezwungene Diskussion u¨ ber den Nachwuchsmangel manifestiert in der Tiefenstruktur, dass sich sogar schon im Dritten Reich – bezeich¨ der sozial-liberalen nenderweise im Kontext der Kriegsvorbereitung – die Ara 71

Vgl. Zymek 1989, 193. Vgl. Maase 1997, 222. 73 Vgl. Hesse 1986. 72

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Bildungsreformen in der sp¨ateren Bundesrepublik ank¨undigt.Die Strategie der Bildungsbegrenzung wirkte sich verheerend aus. Im M¨arz 1938 prognostizierte ein Ministerialrat des Reichserziehungsministeriums in einer Denkschrift f u¨ r das Jahr 1944 ein Defizit von 7500 Schulamtsbewerbern. Den 2.300 Absolventen standen 1940 insgesamt 7000 ben¨otigte Junglehrer gegen¨uber. 74 Die von nationalsozialistischen Experten in der Notlage des Nachwuchsmangels propagierte Aussch¨opfung der Bildungsreserven liegt in der Logik moderner Gesellschaften, die im Interesse des Wettbewerbs zwischen den V¨olkern, Systemen und Kulturen alle personellen Kr¨afte mobilisieren m¨ussen. Kein geringerer als der Sozialphilosoph Arnold Gehlen hat die archaischen und romantisierenden Unterstr¨omungen des Nationalsozialismus und den besorgniserregenden Leistungsr¨uckgang in den Schulen und Hochschulen fr¨uhzeitig registriert und scharf kritisiert: „Die Indirektheit der Lebensfristung ist im modernen Kultursystem zu einer ungeheuren Apparatur angewachsen, in der doch alle ihr Leben finden und in der jeder kleinste Baustein eine Tat der sachlichdisziplinierten Arbeit ist, so daß ein jedes Attentat auf die Grundlagen dieses Systems verhindert werden muß, und best¨ande es nur in der Senkung des Niveaus an sachhingegebenem Wissen und Forschen, von dem es lebt, durch romantisches Gerede.“ 75 Der Weltkrieg zwischen hochger¨usteten Industriestaaten war eben nicht eine Art abenteuerliches Indianerspiel im Großen, wie fanatisierte und verwirrte Hitlerjungen angesichts der Realit¨at bei Kriegsende erkennen mussten. Auch das bildungsfeindliche Dritte Reich, in dem sich die P¨adagogik vielerorts auf „Auslese“ und „Ausmerze“ reduzierte 76 , konnte sich diesem Trend fortgeschrittener Industriegesellschaften nicht ganz entziehen, wie neuere Forschungen belegen. Schon im Dritten Reich lassen sich von der Historischen Bildungsforschung allerdings auch Spuren der Modernit¨at erkennen, die u¨ ber den Nationalsozialismus hinausweisen. Die Swings der Kriegsjahre lassen sich als Vorl¨aufer eines modernen liberalen Gesellschaftsmodells verstehen, das in Europa durch den Nationalsozialismus historisch hinausgez¨ogert wurde. Aus dem Auftauchen der Swing-Jugend in einigen Metropolen (wie zum Beispiel Hamburg, Paris, London, Stockholm) kann man den Schluss ziehen, dass kleine Teile der großst¨adtischen jungen Generation bereits zu einem Zeitpunkt international empfanden und sich individuell anerkannten, als die a¨ lteren Generationen noch nationale Kriege f u¨ hrten. Mit dem Zusammenbruch des „Tausendj¨ahrigen Reichs“ nach zw¨olf Jahren ist die heroische und unreife Identifikationsgeste der jungen Generation gegenstandslos geworden. Das selbstlose Aufgehen des einzelnen Menschen in der totalen Volksgemeinschaft,die Identifikation ohne Selbstreflexion, ist nach den historischen Erfahrungen u¨ berholt. 74

Vgl. Gutzmann 2000, 119 und 290f. Vgl. Gehlen 1978, 355. 76 Vgl. Lingelbach 1987. 75

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Wo in den fortgeschrittenen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts das Wir dem Ich voranging („Du bist nichts, dein Volk ist alles“) beruhte die Vergesellschaftung auf Zwangsintegration (Volksgemeinschaft) und Ausgrenzung (Volksfremde), das heißt auf der tiefen Angst, wegen seiner Eigenart ausgeschlossen zu werden. Dass sich die Menschen bedingungs- und bedenkenlos einem Kollektiv verschrieben haben (Volk, Vaterland, Nation, Partei usw.), markiert ein Durchgangsstadium des modernen Individualismus. Unfreiwillig hat die modernit¨atsfeindliche nationalsozialistische Bewegung zur Modernisierung der deutschen Gesellschaft beigetragen, indem sie nach dem Scheitern an der Realit¨at den u¨ bernationalen Zusammenschl¨ussen der zweiten Jahrhunderth¨alfte in Europa den Weg freimachte. In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung des Weltb¨urgers Friedrich Nietzsche aus dem Jahre 1881 aufschlussreich und anregend, die diktatorischen Regimes des 20. Jahrhunderts als Durchgangsphasen zum modernen Individualismus zu deuten: „Im Allgemeinen ist die Richtung des Socialism wie die des Nationalismus eine Reaktion, gegen das Individuellwerden. Man hat seine Noth mit dem ego, dem halbreifen tollen ego: man will es wieder unter die Glocke stellen.“ 77 4.2 Akzeptanz als neuer Wert Im Anschluss an Max Webers Sicht der abendl¨andischen Modernisierung und Karl Mannheims Einsichten zum Generationsproblem lassen sich parallel zur Zivilisationsgeschichte lange Wellen der Jugendgestalten rekonstruieren, die die zunehmende Individualisierung zum Ausdruck bringen. Wenn man das emanzipatorische Moment der Jugendbewegung akzentuiert, kann man in ihr den ersten Individualisierungsschub der Moderne sehen. 78 Erstmals w¨ahlte die Jugend nicht Stand oder Klasse, sondern sich selbst als Bezugsgruppe: nicht die Erfahrungen fr¨uherer Generationen z¨ahlten, sondern das eigene Lebensgefu¨ hl, die eigene Erfahrung. In ihrem Autonomiebed¨urfnis suchte diese Jugendgeneration ein Gegenprogramm zum sich langsam aufl¨osenden kulturellen Normalentwurf der st¨andischen Gesellschaft zu verwirklichen. Die Erfahrung der nationalen Einheit und die Mobilisierung der Gemeinschaft im Krieg wurde das Zentralerlebnis einer ganzen Generation. Obwohl nur ein kleiner Teil der vorwiegend großst¨adtischen Gymnasialjugend an der Bewegung der Jugend teilhatte, wurde die deutsche Mentalit¨at vom Geist der Jugendbewegung bis in die 1960er Jahre tief beeinflusst. Das Doppelgesicht dieser Bewegung wird in ihrem aristokratischen Individualismus deutlich. Wenn man den elit¨aren F¨uhrungsanspruch akzentuiert, kann man sie als einen der vielen Wegbereiter des Nationalsozialismus auffassen. Was die Jugendbewegung radikal vom Nationalsozialismus trennte, war ihrer hoher Anspruch in der Anerkennung individueller Strebungen und die Behauptung von Einzigartigkeit. In dieser 77 78

Vgl. Nietzsche 1980, Bd. 9, 515. Vgl. Fend 1988; Plake 1991.

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Hinsicht l¨asst sich die Jugendbewegung als Vorl¨aufer des modernen Individualismus deuten. Die gebildete Jugend wurde mit dem Ausbau und dem Funktionszuwachs des Bildungssystems zunehmend zum Hoffnungstr¨ager. Das Leben und Leiden an der Front im Ersten Weltkrieg wurde fu¨ r diese Generation eine den gesamten Lebenslauf pr¨agende Erfahrung. 79 Etwa 70–80 Prozent der Studenten nahmen am Krieg teil. Die j¨ungere Generation im h¨oheren Bildungssystem, der die meisten Zeitgenossen ganz selbstverst¨andlich einen F¨uhrungsanspruch zubilligten, 80 zeigte sich besonders aufnahmebereit fu¨ r die im Zulauf erstarkende nationalsozialistische Bewegung. Der Nachwuchs an der Spitze des Bildungssystems (also die Studenten) war die erste soziale Gruppe in der deutschen Gesellschaft, die sich ab dem Wintersemester 1928/29 in o¨ ffentlich wirksamer Weise fu¨ r die nationalsozialistische Ideologie empf¨anglich zeigte. Dabei bildeten die Medizinstudenten die Hauptst¨utze des rechtsradikalen Lagers. 81 Von der j¨ungeren Generation als neuer Front im gesellschaftlichen Kampf ausgehend wurde vier Jahre sp¨ater im gesamten Staat von den Nationalsozialisten die Macht erobert. Der Nationalsozialismus setzte auf die unerfahrensten Mitglieder der Gesellschaft, um die Gesamtheit der Volksgenossen zu formieren. Man kann den Nationalsozialismus aus der Perspektive der Historischen Bildungsforschung geradezu als politischen Versuch betrachten, u¨ ber die Jugend die Macht zu erringen und im gesellschaftlichen Leben eine neue Wertordnung durchzusetzen. Der Nationalsozialismus als unreife Kulturbewegung manfestierte sich vor allem in der teilweisen Umkehrung der Generationenverh¨altnisse. Ein guter Zeitzeuge fu¨ r diese Sicht ist Theodor Litt (1880–1962). F¨ur nicht wenige, schrieb er nach dem Zweiten Weltkrieg aus Erfahrungen in der eigenen Familie,galt der Nationalsozialismus „zugleich als ein Sieg der S¨ohne u¨ ber die V¨ater“ 82 . Herman Nohl sah in der „Selbstorganisation der Jugend“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts im historischen Prozess bereits 1914 eine „neue Macht“ entstehen. 83 Im Nationalsozialismus, so unsere Deutung aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts, hat sich diese neue Macht der Jugend verh¨angnisvoll manifestiert. Mit der Bindung aller Bildungsprozesse an wissenschaftliche Begr¨undung und Legitimation im „Strukturplan fu¨ r das Bildungswesen“ von 1970 ist die jahrhundertealte tiefe Kluft zwischen wissenschaftlicher Elitebildung und volkst¨umlicher Elementarbildung prinzipiell u¨ berwunden worden. Damit haben wir den Weg der Massenkultur eingeschlagen, in der der einzelne Mensch in einem Universum von Deutungsangeboten seine Selbstverwirklichung an79

Vgl. Blessing 1994. Vgl. Spranger 1951; Groppe 1997. 81 Vgl. Gr¨uttner 1995; Brunck 1999. 82 Vgl. Litt 1947, 12. 83 Vgl. Nohl 1930, 111. 80

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strebt. Mit der Bindung aller Bildungsprozesse an die wissenschaftliche Erkenntnis wurde das alteVersprechen der Aufkl¨arung (Allgemeinbildung) durch die j¨ungste Kulturrevolution eingel¨ost, wie mit wachsenden Abstand immer deutlicher wird. Mit der Emanzipation des Lebenslaufs von pr¨agenden Sozialmilieus ist seit den 1960er Jahren das neue Muster der Orientierung an Selbstverwirklichung im eigenen Lebenslauf wirksam,das die traditionellen Grenzen sprengt. Die studentische Protestbewegung in der Reform¨ara bereitete diesem Wandel des Lebensstils die Bahn. Die neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren sind nicht denkbar ohne die Selbsterfahrungs-Experimente der 68er-Generation. Die Geburtsjahrg¨ange 1938 bis 1948 als haupts¨achliche Tr¨ager dieser Bewegung haben „eine Revision des vorherrschenden Lebenszuschnitts in den westlichen Gesellschaften“ bewirkt 84 , auch wenn zahlreiche Studenten in ihrem Selbstverst¨andnis den Sp¨atkapitalismus radikal in Frage stellten. F¨ur die j¨ungeren Generationen ist der Lauf der Welt in einer komplex differenzierten und pluralistisch organisierten Gesellschaft selbstverst¨andlich geworden. Als indirekte Best¨atigung f u¨ r diese moderne Haltung der Akzeptanz lassen sich biografische Reflexionen der heutigen Jugend auffassen. Die nach 1960 geborenen Zeitgenossen, als 30j¨ahrige ehemalige Gymnasiasten befragt, haben in der Reflexion ihrer eigenen Lebensgeschichte vor allem ihre private Lebensgeschichte positiv mit „Sinn“ besetzt, weniger ihre Berufskarriere, die eher als Integration in eine kaum zu beeinflussende Rollen-Umwelt erscheint. 85 Die in der Geschichte aufgebauten Systeme werden als historisches Erbe (als Ergebnis des kollektiven Lernens der fr¨uheren Generationen) grunds¨atzlich akzeptiert. F¨ur die gemeinsame Handlungswelt gibt es Freiheitsspielr¨aume „im Kontext“, nicht mehr im Ganzen, wie Arnold Gehlen bereits vor einen halben Jahrhundert feststellte, als er eine Kristallisation der Kultur diagnostizierte. 86 Im Bildungsprozess muss die Person milieuspezifische Grenzen von Innen und Außen anerkennen. „Mitdenken im Kontext“ ist in einer komplexen, un¨ubersichtlichen Welt als kritisches Korrektiv zu verstehen, u¨ ber das alle Personen in den Teilsystemen verfu¨ gen sollten. Wenn die Systementwicklungen auf der institutionellen Ebene sich immer mehr vom Einzelnen unabh¨angig gemacht haben, dann muss der Lebenssinn in der beeinflussbaren Umwelt gefunden werden. Dort will der Einzelne als autonome Person mitbestimmen. Wertanspr¨uche ergeben sich durch das moderne Bildungswachstum und die l¨angere Verweildauer in Schule und Hochschulen beim einzelnen. Sachzw¨ange ergeben sich in der Tiefenstruktur des gemeinsamen Lernens hinter dem R¨ucken der Menschen. Sie sind Ausdruck des kollektiven Lernens im Wechsel der Generationen. Hier ist der Leistungsaustausch der jeweiligen Zeit84

Vgl. Bude 1997, 18. Vgl. Meulemann/Birkelbach 1994, 456. 86 Vgl. Gehlen 1961. 85

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genossen auf der institutionellen Ebene funktional wirksam. Zwischen subjektiven Wertanspr¨uchen und kollektiven Sachzw¨angen k¨onnen sich Widerspr¨uche ergeben, f u¨ r die in der Kultur der Teilhabe ein Ausgleich durch Balance gefunden werden muss, ohne in einen voraufkl¨arerischen Fundamentalismus zur¨uckzufallen. Die interagierenden Lebensl¨aufe transformieren sich im Laufe der Generationen zu einer den gesamten Globus umspannenden Kultur der Teilhabe. Die Quelle der Kultur ist in diesem theoretischen Bezugsrahmen die individuelle Kreativit¨at. In der gemeinsamen Kultur sollen sich die individuellen Eigent¨umlichkeiten optimal entfalten und auf institutioneller Ebene im Gemeinsinn austauschen. Die gemeinsame Erzeugung von Wissen ist auf die kooperative Teilung von Wissen mit dem Ziel der optimalen individuellen Entfaltung angelegt. Das Konzept des nur an sich selbst interessierten homo oeconomicus ist nicht geeignet, allen Kompetenzen des Menschen und seinen Lernm¨oglichkeiten gerecht zu werden. Durch Lernprozesse passen wir uns an die gegenw¨artig bestehende Umwelt an, durch Bildungsprozesse werden wir aktive Mitgestalter der Umwelt und unseres Selbst im gemeinsamen Leben. Als Bedingung der Freiheit muss es immer gestattet sein, das Ganze zu bedenken. 87 Die gegenw¨artigen Erscheinungen der Individualisierung der Lebensweise lassen sich an der Leitlinie des Bildungswachstums bis ins Aufkl¨arungszeitalter zur¨uckverfolgen. Das Interesse an Selbstverwirklichung ist nicht prim¨ar ein Ausdruck von Egoismus, sondern spiegelt die H¨ohe des Lebensstandards und die Pazifierung des Daseinskampfes wider. Aus gegenw¨artigen Hilfsaktionen (zum Beispiel aus kollektiven Antworten auf Naturkatastrophen wie ¨ Uberschwemmungen, Erdbeben, verheerenden St¨urmen) l¨asst sich schließen: Not macht solidarisch und l¨asst die Menschen zusammenr¨ucken. Gerade gebildete Individuen k¨onnen auch teilen. „Je ungesicherter das Leben ist, um so enger sind die Gemeinschaftsbande. Je sicherer dagegen das Leben wird, um ¨ so weniger ist der Einzelne zu seinem Uberleben auf eine Gemeinschaft angewiesen, um so lockerer sind die Bande zwischen den Menschen, oder sie fallen ganz weg.“ 88 Nach dem Scheitern und praktischen Zusammenbruch der sozialistischen Alternativen 200 Jahre nach der Franz¨osischen Revolution scheint die moderne Individualisierung der Lebensweise auch fu¨ r die Zukunft vorgezeichnet. F¨ur die Außenseite, das heißt f u¨ r den institutionellen Aufbau der Kultur durch den evolution¨aren Lernprozess der Generationen scheint es keine grunds¨atzliche Alternative mehr zu geben: Die Kultur als Aufbauph¨anomen in ihrer bestehenden Form ist grunds¨atzlich zu akzeptieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind die kulturellen Ideen gleichsam explodiert. Die unermesslich angewachsenen Best¨ande des Wissens wurden vollends „aus den K¨opfen in die Biblio87 88

Vgl. Ciompi 1988. Vgl. Imhof 1988, 57.

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theken verdr¨angt“ 89 . Seither ist der R¨uckgriff auf gemeinsame Bedeutungswelten f u¨ r die weitere Systementwicklung undurchsichtig geworden. Seit ihrer Autonomisierung um 1900 sind die meisten kulturellen Ideen nur noch eine Art Rauschen im unendlichen Bl¨atterwald der produzierten Texte. Praktisch ¨ wirksam aus der Uberschussproduktion der Reflexionen werden nur noch die kulturellen Ideen, die an Erfahrungen im Selbstverst¨andnis einzelner Gruppen oder Massen ankn¨upfen. Die Ende des 19.Jahrhunderts weitgehend abgeschlossene Alphabetisierung ¨ Europas stellte „eine Art Drehscheibe im Ubergang zu einer entwickelten Betei90 ligungsgesellschaft“ dar und hat in der zweiten H¨alfte des 20. Jahrhunderts zu stabilen demokratischen Gesellschaften und zu einer Kultur der Teilhabe gef u¨ hrt. 91 Im Zeitalter der Massenbildung verliert Bildung weitgehend ihre Bedeutung als Mittel der sozialen Abgrenzung (Differenzierung) und wird immer mehr zu einem bestimmten Lebensstil (Integration in eine Teilkultur) mit der wachsenden F¨ahigkeit zur funktionalen Kooperation. In fortgeschrittenen Gesellschaften wird die Teilhabe an Bildung immer mehr zur Voraussetzung dessen, was Oevermann als „Arbeitsb¨undnis“ bezeichnet. 92 In Nordamerika, Australien und Japan haben sich ebenfalls stabile demokratische Gesellschaften entwickelt. Nach diesen Erfahrungen kann man die begr¨undete Hoffnung haben, dass auch die anderen Teile der Welt (Osteuropa, Asien, S¨udamerika, Afrika) als Folge der Alphabetisierung und der politischen Reifung der Menschen in einigen Generationen ebenfalls stabile Demokratien und eine Kultur der Teilhabe ausbilden. Angesichts des rasanten Wandels (der beschleunigten Differenzierungsdynamik) moderner Gesellschaften wird das Integrationsproblem immer wichtiger. Es stellt sich die Frage, wie die Integration des Lebenszusammenhangs theoretisch noch vorstellbar ist (das Erleben von „Sinn“), ohne das Differenzierungsprinzip zu gef¨ahrden. Der Zusammenbruch der geplanten Gesellschaften ist aus der Perspektive der Historischen Bildungsforschung auf eine zu geringe Differenzierung zur¨uckzuf u¨ hren. In diesem Zusammenhang ist vielleicht ein Bild aufhellend, das Walter Benjamin gegen einen ungetr¨ubten Fortschrittsglauben vor Augen gef u¨ hrt hat. „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem g¨anzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ 93 Integration und Differenzierung m¨ussen als Steigerungszusammenhang begriffen werden. Die Soziologie der Wissensgesellschaft l¨asst sich nicht als Nullsummenspiel auffassen. 94 Die kritische 89

Vgl. Tenbruck 1977, 212. Vgl. Lerner 1971, 372. 91 Vgl. Kocka 1995. 92 Vgl. Oevermann 1996. 93 Vgl. Becker 1999, 368. 94 Vgl. Sz¨oll¨osi-Janze 2004. 90

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¨ Offentlichkeit hat die Funktion, das dynamische gesellschaftliche Leben negativ zu integrieren. Sie muss und kann die Aufgabe wahrnehmen, s¨amtliche Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft mit ihren problematischen M¨oglichkeitsspielr¨aumen zu konfrontieren und dadurch deren Eigen¨ dynamik zu bremsen. Auf diese Weise bewirkt Offentlichkeit eine sinnvolle Einschr¨ankung von Freiheitsgraden, so dass im Konzert der Systeme nicht mehr alles m¨oglich ist, um den st¨andigen Differenzierungsdruck innerhalb der Belastungsgrenzen der modernen Gesellschaft zu halten. 95 4.3 Die Perioden des Bildungswachstums Wie haben die Generationen seit der Aufkl¨arung gelernt, sinnvoll zu kooperieren? Wenn man den sozialen Wandel als Gradmesser des Lernens in der Zeit betrachtet, m¨usste sich empirisch eine gewisse Parallelit¨at von sozialen Bewegun¨ gen und Bildungswachstum feststellen lassen. Im Kontext dieser Uberlegung ist die Periodisierung der Geschichte der sozialen Bewegungen von Interesse, die auf einer hohen Ebene der Abstraktion zu drei großen Phasen kommt: 96 1. Die vorindustriell-modernisierende Phase (1789–1850) 2. Die industrielle Phase (1850/60–1960) 3. Die nachindustrielle Phase (nach 1960/70) Wie h¨angt die Industrialisierung mit der Entwicklung des Bildungswesens zusammen? Die erste Phase entspr¨ache nach diesem theoretischen Ansatz der Institutionalisierung der Bildungsselektion, die durch die Bildungsreformen in der ersten H¨alfte des 19. Jahrhunderts ansatzweise (fu¨ r die Elite) erreicht wurde. Ein gemeinsames Merkmal der fortgeschrittensten europ¨aischen Gesellschaften ist die Beschleunigung der kulturellen Entwicklungsprozesse seit den 1860er Jahren und das Auftreten der mehr oder weniger stetigen Trends (in Medien, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Bildung usw.). In der Wirtschaftsgeschichte als Konjunkturgeschichte ist die Aufschwungsphase der 1850er und 1860er Jahre empirisch am u¨ berzeugensten belegt. 97 Hier haben wir den Eigenausbau des Bildungssystems anzusetzen, der in der komprimierten Abbildung durch die zweite Welle dargestellt wird. Nach der kulturellen Mobilisierung geriet das Bildungswesen etwa im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts unter verst¨arkte politische Kontrolle. F¨ur diese These der restriktiven Steuerung des Bildungsbedarfs spricht das Absinken des Indikators Studierende auf 100 000 Einwohner: Erst 1880 wurde hier der Wert von 1830 wieder erreicht. Bis ca. 1880 wurde das Bildungswesen an die Bed¨urfnisse des gesellschaftlichen Lebens nach dem ersten Industrialisierungsschub unter Modernisierungsdruck erfolgreich angepasst. Diese Einsch¨atzung ergibt sich aus der Aufstauung des 95

Vgl. Hellmann 1997. Vgl. Raschke 1988, 22ff. 97 Vgl. Tilly in Schr¨oder/Spree 1980, 23. 96

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Bildungsbedarfs, der sich f u¨ r viele Bereiche als Mangel an qualifiziertem Nachwuchs fu¨ r den Zeitraum 1860 bis 1880 empirisch sicher belegen l¨asst.Wiederum spielten die Mangelbedingungen fu¨ r kollektive Lernprozesse eine entscheidende Rolle. Am Ende der zweiten Welle in der Abbildung 1 wurde die Kultur autonom,ließen sich Bildungsprozesse wegen ihrer Eigendynamik nicht mehr herrschaftlich steuern. Das l¨asst sich f u¨ r die h¨ohere Bildung unter anderem bei den administrativen Eingriffen in die Studienfinanzierung und an den Versuchen zur Bestimmung der so genannten Normalzahl der Studierenden unter Wachstumsbedingungen zeigen.Auch im Bereich der Massenbildung gewann die Unterrichtsverwaltung bereits in den 1870er Jahren ein verst¨arkt sachorientiertb¨urokratisches Eigengewicht, Voraussetzung f u¨ r zunehmende Autonomie der Systementwicklung gegen¨uber unmittelbarer Aus¨ubung von Herrschaft. Das Bildungswachstum vor dem Ersten Weltkrieg (Beginn der dritten Welle) eilte den Bildungsbed¨urfnissen der Gesellschaft voraus und u¨ berforderte gleichsam die Zeitgenossen, wie das Scheitern der ersten deutschen Demokratie sichtbar macht. Im Bezugsrahmen einer Theorie des Bildungswachstums liegt es nahe, die „Kulturkrise“ nach 1880 und das Scheitern der ersten deutschen Republik mit der „Kulturrevolution“ der 1960er Jahre und dem erfolgreichen Umlernen auf demokratische Lebensverh¨altnisse im Zusammenhang zu sehen und beide Erscheinungen auf die Tiefenstruktur des Bildungswachstums zu beziehen. Durch fortschreitende Arbeitsteilung entstanden nach 1880 wissenschaftlich durchdrungene Handlungsfelder als eigene Praxis. Seither bewegen wir uns in Richtung auf eine Expertenkultur, in der zunehmend alle Lebensbereiche wissenschaftlich durchdrungen werden. Durch das erfolgreich organisierte Lernen der Generationen im Bildungssystem hat sich die institutionelle Ebene im historischen Prozess vom Selbstverst¨andnis des Einzelnen, der in der arbeitsteiligen Welt seine Rolle spielt, immer weiter entfernt und abgekoppelt. Die Verselbstst¨andigung von Kultursph¨aren (Systemen) wurde im traditionellen Selbstverst¨andnis der Menschen als Krise der Kultur empfunden. Die Außenwelt hatte sich so weit funktional verselbstst¨andigt, dass sie mit der Innenwelt der einzelnen Personen perspektivisch nicht mehr als einheitlicher Zusammenhang wahrgenommen wurde. Diese Zerrissenheit des modernen Menschen zwischen Rolle und Person wurde als Verlust der Ganzheit wahrgenommen, in der sich die Menschen als Zeitgenossen zunehmend „verstellten“. Deshalb u¨ bte auch die romantische Vorstellung und Identifikation der nationalen Volksgemeinschaft auf die Zeitgenossen in der ersten H¨alfte des 20. Jahrhunderts eine große Faszination aus. Weil die u¨ berkommenen Eliten und die breiten Volksmassen in ihren Selbst- und Weltbildern Gefangene ihrer Zeit waren, man¨ovrierten sie sich in ihrer Vergesellschaftung im fr¨uhen 20. Jahrhundert in die Sackgasse des Nationalsozialismus (dritte Welle). Dass unsere Vorfahren keinen produktiven Ausweg aus dieser Kulturkrise fanden

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und sich im Gegenteil in eine Sackgasse hineinman¨ovrierten, wird uns nach der Erforschung der Tiefenstruktur des Bildungswachstums als Nachgeborene heute deutlich. Die nachindustrielle Phase entspr¨ache der Mischung der traditionellen hierarchischen Kulturen zu unterschiedlichen Milieus, in denen Bildung in der Gegenwart zunehmend vom Privileg zum Lebensstil wird. Bis in die 1960er Jahre waren die akademisch Gebildeten mehrheitlich bestrebt, die Elitebildung als Privileg zu erhalten. Noch 1961 hatten nur 3 Prozent der erwerbst¨atigen Bev¨olkerung einen Hochschulabschluss, im internationalen Vergleich ein Indiz f u¨ r die hohe Exklusivit¨at der deutschen Bildungselite. Die Zahl der Pr¨ufungen nach Absolvierung des Hochschulsystems ist im alten Bundesgebiet von 32 343 (1960) auf 171 941 im Jahre 1991 angestiegen, hat sich also in nur drei Jahrzehnten mehr als verfu¨ nffacht. Das rechtfertigt den Sprachgebrauch einer „Kulturrevolution“. Neuere Untersuchungen st¨utzen die Vermutung, dass das Bildungswachstum zu einer kognitiven Mobilisierung der nachwachsenden Generation mit langfristigen gesellschaftlichen Folgen gefu¨ hrt hat. In der j¨ungeren Generation (Geburtsjahrg¨ange 1952–1967) ist die Berrschung einer Fremdsprache doppelt so h¨aufig verbreitet (rund 80 Prozent) wie in der a¨ lteren Generation (Geburts¨ jahrg¨ange 1912–1935). Mit dem Bildungswachstum werden Uberzeugungen, die bisher nur Minderheiten hatten,durchsetzungsf¨ahiger und bestimmen das kulturelle Klima mit. Die formale Bildung wird f u¨ r die individuelle Lebensgestaltung immer wichtiger. „Bildung ist offensichtlich ein Gut, das im individuellen Lebenslauf kumulative Wirkung entfaltet. Wichtiger als ererbtes kulturelles Kapital scheint das erworbene Bildungskapital zu sein.“ 98 Die hochgradig abstrahierte Periodisierung der sozialen Bewegungen erscheint u¨ berzeugend, weil sie sich nicht an den kurzfristigen politischen Z¨asuren orientiert, sondern auf den sozialen Beziehungen der Menschen im langfristigen historischen Prozess beruht. Wegen der gemeinsamen Tiefenstruktur l¨asst sich auch die hohe Parallelit¨at zum Bildungswachstum als Lern- und Kumulationsprozess der Generationen erkennen.Wie die Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt, haben auf die Dauer alle ihren Vorteil daraus gezogen, dass die Bildung ein allgemeines „B¨urgerrecht“ wurde (vierte Welle). Niemand nimmt dem anderen die englischen Vokabeln weg, wenn auch er sie gut lernt. Es liegt im gemeinsamen Interesse, wenn alle die Regeln fu¨ r eine produktive Zusammenarbeit (kooperative Wissenteilung) lernen. Was das f u¨ r die Vergesellschaftung bedeutet, m¨ussen wir heute weltweit lernen. Mit dem Aufbau und der wachsenden Bedeutung des Bildungssystems werden die Nachkommen im historischen Prozess zu Schrittmachern des Wandels. 99 Im Forschungsprojekt QUAKRI haben wir Millionen von Daten wissenschaftlich ausgewertet und die Genese unserer Vergesellschaftung seit der Auf98 99

Vgl. Baumert 1991, 347. Vgl. Jarausch 1984; Speitkamp 1998.

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kl¨arung als Bildungsprozess rekonstruiert. Das gemeinsam erzeugte Muster des vergangenen Bildungsprozesses in der beobachtbaren Außenwelt erscheint „sinnvoll“ und u¨ berzeugend f u¨ r die weitere Orientierung. Seit der Erkenntnis, dass die Personen sich durch Bildungsprozesse selbst hervorbringen, stellt sich f u¨ r die Wissenschaft die Aufgabe, die Geschichtsschreibung auf Selbstbildungsprozesse zu perspektivieren und der Frage nachzugehen, warum sich die professionellen Akademiker problemlos in den Nationalsozialismus einf u¨ gten. Es muss zu denken geben, wenn sich in der Zentrale des nationalsozialisten V¨olkermords (im F¨uhrungscorps des Reichssicherheitshauptamts) junge radikalisierte Akademiker aus den Geburtsjahrg¨angen 1900 bis 1910 u¨ berzuf¨allig sammelten. 100 Welche Bedingungen fu¨ hrten dazu, dass eine im historischen Prozess spezifisch gelagerte Generation im Wechselverh¨altnis von Selbstverst¨andnis und Weltverst¨andnis verbrecherische Handlungen hervorbrachte? Antworten darauf sollten wir in der wechselseitigen Durchdringung von Lebenswelten und Wissenschaften suchen. Ein anschaulicher Indikator fu¨ r das langfristige Bildungswachstum ist die durchschnittliche Zahl der Studierenden pro Universit¨at. Von der Institutionalisierung bis zum verst¨arkten Ausbau des Bildungswesens belief sie sich auf nur 600 bis 800 Studenten. Von 1880 bis 1940 schwankte die Zahl auf dem Niveau von 1000 bis 4300. Nach dem Sprung seit 1960 erreichten die Traditionsuniversit¨aten 1985 ein durchschnittliches Niveau von nicht weniger als ¨ 30 000 Studierenden. Ein Vergleich fu¨ hrt den Ubergang von der Elitebildung zur Massenbildung besonders deutlich vor Augen: 1985 studierten an einer der Traditionsuniversit¨aten im Durchschnitt genau so viele Studierende wie hundert Jahre zuvor an s¨amtlichen Universit¨aten des Deutschen Reiches zusammen. Nur eine d¨unne Spitze der Gesellschaft (etwa 30–40 m¨annliche Jugendliche aus den f u¨ hrenden St¨anden auf 100 000 Einwohner) durfte nach dem ¨ allm¨ahlichen Ubergang zur Bildungsselektion vom Privileg der Selbstverwirklichung durch Bildung Gebrauch machen. Nach dem Ausbau des Bildungswesens im Kaiserreich bewegte sich die m¨annliche Abiturquote auf dem Entwicklungsniveau von 1 bis 5 Prozent, das bis in die Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg trug. Das gesellschaftliche Leben war bis in die 1950er Jahre noch vom Bildungsprivileg gepr¨agt (schlechte Zugangschancen f u¨ r M¨adchen und Kinder aus unteren Sozialschichten). Die M¨adchen haben von dem j¨ungsten Bildungswachstum zweifellos am meisten profitiert. Wieviel Prozent eines Jahrgangs zur Selbstverwirklichung die „Reifepr¨ufung“ ablegen k¨onnen, ist in der Anfangsphase der Massenbildung noch nicht zu erkennen. Im Prinzip sollten im Bildungssystem moderner Gesellschaften alle zur kompetenten Teilnahme an der Kultur ihre individuelle „Reife“ aufbauen.

100

Vgl. Wildt 2002.

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Bildung und Wissen im Zeitalter der elektronischen Medien und des Internets hermann engesser The tools we use have a profound (and devious!) influence on our thinking habits, and, therefore, on our thinking abilities 1 Edsger W. Dijkstra

Die Aufkl¨arung hat die Bildung umfangreicher thematisiert als je eine Epoche zuvor. Bildung wurde nun notwendig fu¨ r die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Der Bildungsbegriff hat viele Facetten und l¨asst verschiedene Interpretationen zu. Ein gemeinsamer Aspekt scheint jedoch zu sein, dass der gebildete Mensch in der Lage ist, seine individuelle Pers¨onlichkeit zu entwickeln und in der Gesellschaft zu handeln. Bildung betrifft jedoch nicht nur den Einzelnen sondern auch die Gesellschaft und ist ohne Gesellschaft nicht denkbar. Dort erm¨oglichen Lernen und Erfahrung Bildung. Gebildete Menschen verfu¨ gen nicht nur u¨ ber ausgedehnte Kenntnisse des Bildungskanons, der einen von der Gesellschaft als wesentlich erachteten Teil des jeweiligen Wissens einer Epoche umfasst, sie besitzen im Allgemeinen auch ein elaboriertes Verhaltensrepertoire an gesellschaftlichen Umgangsformen. Mit der Entwicklung der weltweiten Information und Kommunikation gewann der Begriff der Professionalisierung an Bedeutung. Professionelle Anwender und Nutzer von Techniken arbeiten weltweit zusammen. Dabei treten naturgem¨aß nationale Bildungsinhalte in den Hintergrund.

Wissen fu¨ r die Gesellschaft Seit der Aufkl¨arung spielt das Buch eine besondere Rolle bei der Organisation, Verteilung und Vermittlung von Wissen. Im 18. Jahrhundert wurde durch die modernen Enzyklop¨adien und Konversationslexika ein umfangreicher Wissenskanon auch fu¨ r Laien aufgebaut, Wissen also f u¨ r breite Kreise verfu¨ gbar gemacht. In Leipzig erschien, veranlasst durch den Verleger Johann Heinrich Zedler, von 1732 bis 1754 „Zedlers Großes vollst¨andiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und K¨unste“, das in 64 großformatigen und dickleibigen 1

Dijkstra 1982.

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B¨anden das gesamte verf u¨ gbare Wissen in ausf u¨ hrlichen Artikeln darzustellen suchte. Standardwerk der Aufkl¨arung wurde das von D. Diderot und J. le Rond d’Alembert herausgegebene Werk „Encyclop´edie ou Dictionaire raisonn´e des sciences, des arts et des m´etiers“, das von 1751 bis 1780 in 35 B¨anden erschien. Etwa 60 000 durch ein Verweissystem vernetzte Stichwortbeitr¨age spiegelten das „geb¨andigte“ Wissen der damaligen Zeit wider. Diderot verfolgte mit seiner Enzyklop¨adie das Ziel der Aufkl¨arung durch wissenschaftliche Bildung. Der Bildungsprozess der b¨urgerlichen Gesellschaft sollte durch um¨ Bedeutung errangen die fassende Unterrichtung gef¨ordert werden.2 Ahnliche von W. Smellie 1786 bis 1771 herausgegebene Encyclopaedia Britannica und das von F.A. Brockhaus ab 1805 verlegte Konversationslexikon, das vor allem dazu dienen sollte, diejenigen Kenntnisse zu vermitteln, die fu¨ r eine gelungene Konversation zwischen gebildeten Menschen hinreichend waren oder die eine verst¨andnisvolle Lekt¨ure von B¨uchern erm¨oglichen sollten. Die 21.Auflage der Brockhaus Enzyklop¨adie, deren erster Band im Herbst 2005 erscheinen soll, wird nach Verlagsank¨undigung 300 000 Stichw¨orter in 30 B¨anden enthalten. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche Verlage, die mit ihren Buchprogrammen einen festen Platz in der Wissens- und Bildungslandschaft einnahmen und ihre Publikationsprogramme u¨ ber viele Jahrzehnte pflegten und entwickelten. Durch Spezialisierung auf Wissensgebiete und manchmal auch die Art der Wissensvermittlung entstanden unterschiedliche Verlagstypen, etwa Wissenschaftsverlage wie der Springer-Verlag (gegr¨undet 1842), Vieweg (gegr¨undet 1786), Teubner (gegr¨undet 1811), Lexikonverlage wie etwa F.A. Brockhaus (gegr¨undet 1805) und das Bibliographische Institut (gegr¨undet 1826) und andere mit einem jeweils eigenst¨andigen Verlagsprofil. Dadurch fanden neue Autoren leicht „ihren“ Verlag. Auch die interessierte Leserschaft konnte die entsprechenden Buchprogramme und Verlage leicht identifizieren. Dazu kamen schon fr¨uh weitere Verlagsaktivit¨aten, die einschl¨agig f u¨ r die jeweilige Autorengruppe und Leserschaft waren. So verlegten Wissenschaftsverlage in Kooperation mit wissenschaftlichen Gesellschaften deren Zeitschriften und Buchreihen. Zur „reinen“ Verlagsarbeit, also der Vervielf¨altigung, das heißt dem Satz und Druck von Manuskripten in Buchform, und dem Vertrieb der B¨ucher, kamen weitere Verlagst¨atigkeiten wie die Berufung von Herausgebergremien und die Installation von Begutachtungsprozessen f u¨ r Buchmanuskripte und Zeitschriftenbeitr¨age. In diesem Sinne gestalteten Verlage Wissensorganisation mit und das Buch erlangte große Bedeutung fu¨ r Wissen und Bildung. Umgekehrt wurde Bildung abhängig vom Buch und dem Umgang mit diesem Medium, dessen Inhalt in einer meist durch Kapitel gegliederten linearen Struktur vom Anfang zum Ende f u¨ hrt. Die didaktischen Strategien von Lehrbuchautoren basierten auf diesem linearen Aufbau und entsprachen dem sich 2

Mittelstraß 1980, 557ff.

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entwickelnden Lehrstoff von Schuljahren und Semestern. Dem Lehrbuch entsprach also das Lernen, das ebenfalls weitgehend „linear“ erfolgte und meist mit einer Pr¨ufung seinen Abschluss fand. Nach Erwerb der beruflichen Fachkenntnisse konnte man f u¨ r die Dauer der beruflichen T¨atigkeit auf das Erlernte zur¨uckgreifen. Die Notwendigkeit der beruflichen Weiterbildung bestand urspr¨unglich eher in der Weiterentwicklung der eigenen Laufbahn, galt etwa dem Erwerb eines Meisterbriefs. Zur kontinuierlichen Aus¨ubung des Berufs wurde sie weniger ben¨otigt; dort reichte die Berufserfahrung aus. Die erforderlichen Berufskenntnisse hatte man bereits mit der Ausbildung erworben. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielen Fachbereichen und Berufsfeldern gravierend ge¨andert, so dass kontinuierliches Weiterlernen mittlerweile eine Voraussetzung fu¨ r die erfolgreiche Berufsaus¨ubung ist. Verlage reagieren auf diese Entwicklung mit eigens gestalteten Fachb¨uchern f u¨ r den nicht-universit¨aren Weiterbildungsbereich, mit Online-Wissensangeboten und interaktiven Lernumgebungen. Obwohl sich als Konsequenz aus diesen sich beschleunigenden Entwicklungen auch die Lebensdauer von Lehr- und Fachb¨uchern verk¨urzen, ist ein Buch in zeitlicher Hinsicht ein eher best¨andiges Medium, das durch den Rhythmus der Auflagen gepr¨agt wird. Mit der um sich greifenden Verwandlung des gedruckten Buchs zum interaktiven, vernetzten Medium, wurde auch ein Internet-Projekt gestartet, dessen Ausgang noch offen ist, das jedoch schon heute als Paradigmenwechsel der f u¨ r die Bildung der b¨urgerlichen Gesellschaft urspr¨unglich fundamentalen Enzyklop¨adie gilt: das Projekt Wikipedia.

Quod libet – Wikipedia In Hawaii bedeutet Wiki „schnell“. Diese Bezeichnung wurde fu¨ r ein einfaches Textverarbeitungssystem im Internet verwendet, das es erm¨oglicht, Texte unmittelbar im Internetbrowser zu bearbeiten. Man kann also, kurz gesagt, direkt ins Internet schreiben. Damit wurde seit dem Jahr 2001 die Realisierung der internationalen Internet-Enzyklop¨adie Wikipedia verwirklicht, in der nicht mehr eine Fachredaktion die Beitr¨age, die sie von Wissenschaftlern erhalten hat, f u¨ r die Enzyklop¨adie bearbeitet, sondern grunds¨atzlich jeder als Autor sein Wissen ohne gesonderte Anmeldung beitragen kann. Dabei kann es sich sowohl um neue Stichwortartikel handeln oder aber um Erg¨anzungen oder Korrekturen bereits vorhandener. Bis jetzt wurden in der Wikipedia in mehr als 100 Sprachen u¨ ber 1,5 Millionen Beitr¨age gespeichert (http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia). In deutscher Sprache alleine sind bereits 220 000 Artikel vorhanden. Trotzdem ist eine mit einem klassischen Großlexikon vergleichbare Stichwortliste bisher nicht erreicht und wird wohl auf absehbare Zeit nicht erreicht werden, da sich bei solchen Worteintr¨agen bisher noch kein Autor gefunden hat. S¨amtliche Inhalte stehen unter der Maßgabe, dass sie von jedermann unentgeltlich genutzt, ver¨andert und verbreitet werden k¨onnen. Im Gegensatz zur klassischen Enzyklop¨adie, in der wenige

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Spezialisten fu¨ r viele Leser schreiben, publizieren in der Wikipedia viele Leser ihr Wissen (Abb. 1). Eine Qualit¨atssicherung ist in dieser freien InternetEnzyklop¨adie nur durch den sich selbst organisierenden Prozess der Nutzer gegeben mit dem Ziel, dass ein Fehler in einem Beitrag irgendwann von einem Nutzer gefunden wird, der es besser weiß und diesen Beitrag dann entsprechend ver¨andert. Obwohl die Wikipedia trotz des akkumulierten Wissens viele L¨ucken enth¨alt und die Integrit¨at einzelner Beitr¨age nicht von vornherein gesichert ist, scheint sie den schnellen Rhythmen des Internets und dessen Ver¨astelungen bruchlos angepasst zu sein. Ob sich dies in der Nutzung im Verh¨altnis zu den aus den klassischen Enzyklop¨adien hervorgegangenen multimedialen Online-Enzyklop¨adien als Vorteil erweisen wird, oder ob der Nutzer die durch eine Lexikonredaktion gesicherte Qualit¨at einer multimedialen Enzyklop¨adie als bezahlungsw¨urdigen Mehrwert ansieht, ist derzeit offen. Enzyklopädie

Wikipedia

Planung

Nach Umfang gewichtete Stichwortliste mit Verweissystem

Wiki-Tools als freies Editiersystem

Erarbeitung

Lexikonredaktion in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern

Offene Gemeinschaft von Internet-Autoren

Qualitätssicherung

Lexikonredaktion

Selbstorganisation der Autorengemeinschaft

Urheberrecht

Nutzungsrechte beim Verlag

Lizenz zur freien Nutzung und Veränderung

Umfang

Begrenzung durch Bandzahl

Keine Begrenzung

Abb. 1. Unterschiede zwischen klassischer Enzyklop¨adie und Wikipedia

Archivierung des Wissens Der Erwerb von Wissen setzt dessen Archivierung voraus. Ohne Wissensarchivierung w¨urde der Wissenserwerb nicht fortschreiten k¨onnen; daher sind auch in dieser Hinsicht B¨ucher ein ideales Medium. Obwohl auch diese untergehen, sei es durch Br¨ande oder S¨aurefraß, wurde das in B¨uchern gespeicherte Wissen u¨ ber Jahrhunderte und Jahrtausende weitgehend erhalten. B¨ucher aus s¨aurefreiem Papier oder Pergament u¨ berdauern diese Zeitr¨aume fast unver¨andert und geben ihren Inhalt dem Leser jederzeit ohne besondere Zusatzger¨ate Preis. Im Sprachgebrauch der digitalen Welt w¨urde die Definition etwa so lauten: Ein Buch ist ein Stand-alone-Produkt mit unbeschr¨anktem Zugang.

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Durch die seit Langem ge¨ubte Zitierweise ist es manchmal sogar m¨oglich, die Existenz oder gar den Inhalt untergegangener B¨ucher zu rekonstruieren. Auf diese Weise hat sich u¨ ber die Jahrhunderte ein riesiger Schatz an Wissen auf Buchseiten angesammelt. Beinahe das gesamte Wissen der Menschheit ist in B¨uchern gespeichert und damit f u¨ r die Zukunft archiviert. Dies a¨ndert sich, wenn immer mehr Wissensinhalte ausschließlich digital gespeichert werden. Bei der digitalen Archivierung stellen sich v¨ollig neue Fragen. Wie k¨onnen die Wissensinhalte erschlossen werden, wenn es die Ger¨ate oder die Software, die zu ihrer Archivierung dienten, nicht mehr gibt, weil diese auf Grund des technischen Fortschritts nicht mehr hergestellt werden oder sich weiterentwickelt haben? Wer ist u¨ berhaupt f u¨ r die Archivierung von Wissen zust¨andig? Was versteht man letztlich unter der Archivierung von digitalem Wissen? Wir sind weit davon entfernt, anzunehmen, dass das im World Wide Web vorhandene Wissen von den Anbietern grunds¨atzlich f u¨ r Jahrhunderte vorgehalten wird. Im Gegenteil, bereits nach wenigen Monaten k¨onnen WebSeiten verschwunden und das dort urspr¨unglich gefundene Wissen nicht mehr verf u¨ gbar sein. Des Weiteren k¨onnen sich auch die Zugangsbedingungen und damit ebenfalls die Verf u¨ gbarkeit der Inhalte a¨ ndern, oder der gesuchte Inhalt ist nicht mehr unter dem urspr¨unglichen Link erreichbar sondern auf einer neuen Web-Seite mit neuer Adresse. M¨oglich ist auch, dass sich das Gesuchte zwar auf der urspr¨unglichen Web-Seite findet, jedoch ver¨andert wurde, oder dass sich unter der urspr¨unglichen Web-Adresse ein ganz anderer Inhalt findet. Bei der Archivierung digitaler Wissensinhalte geht es also darum, die Nutzung dieser Inhalte unter der Voraussetzung deren Authentizit¨at, Integrit¨at und Funktionalit¨at langfristig zu garantieren. Dabei ist von vornherein nicht festgelegt, was unter langfristiger Benutzung zu verstehen ist. Hier wird praktisch die Aufmerksamkeit und Aktivit¨at nachfolgender Generationen gefordert, diese Nutzbarkeit immer wieder aufs Neue herzustellen und die Daten verfu¨ gbar zu halten. Die geforderte Authentizit¨at eines Dokuments fordert dessen unver¨anderte Originalit¨at auch nach langen Zeitr¨aumen von mindestens mehreren Jahrzehnten. Manipulationen an solchen Inhalten m¨ussen ausgeschlossen sein. Die Integrit¨at sichert die interne Struktur des digitalen Inhalts, unter anderem die G¨ultigkeit vorhandener Verkn¨upfungen zwischen Hypertext, Bildern und Animationen. Die langfristige Sicherung der Funktionalit¨at ist ein besonderes Problem in der digitalen Welt, da durch die schnelle technologische Entwicklung Ausgabeger¨ate obsolet werden k¨onnen. Auch ein Museum dieser technischen Apparaturen hilft hier nicht, da diese ja nach einer endlichen Lebenszeit ihr Funktionieren einstellen.Also m¨usste man in a¨ ußerster Konsequenz auch die Schaltpl¨ane und Konstruktionszeichnungen dieser Ger¨ate mitarchivieren, und dies in einer Form, deren Funktionalit¨at gesichert ist, vielleicht am besten auf Papier, um notfalls eine Reproduktion des archivierten Materials zumindest im Grundsatz zu erm¨oglichen.

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Identifikation von Wissen Um eine Archivierung von Wissensinhalten in der digitalen Welt zu sichern wurde 1997 eine Vereinigung von Wissensanbietern gegr¨undet, die DOIFoundation, die eine langfristige Archivierung der bei ihr gemeldeten Wissensinhalte garantiert. Mitglieder der DOI-Foundation sind haupts¨achlich Verlage, jedoch eignet sich der Document Object Identifier (DOI) grunds¨atzlich f u¨ r alle Wissensdokumente. W¨ahrend die seit 1970 f u¨ r B¨ucher vergebene ISBN, die internationale Standardbuchnummer, zehnstellig ist, und die Identifizierung eines Buchs an Hand des Sprachraums, der Verlagsnummer, der eigentlichen, vom Verlag festgesetzten Buchnummer und einer Pr¨ufziffer erfolgt,wobei diese Teilfolgen durch Bindestriche getrennt werden k¨onnen, ist die L¨ange des DOIs beliebig. So bezeichnet in der ISBN 3-540-20526-8 die erste Ziffer 3 den deutschen Sprachraum, 540 steht fu¨ r Springer, 20526 entspricht dem Buch „Das Sintflutprinzip“ von Gunter Dueck. Und mit der Pr¨ufziffer 8 ist diese ISBN abgeschlossen. Die ISBN ist ein effektives Werkzeug f u¨ r den internationalen Buchhandel, jedoch f u¨ r die digitale Welt nur bedingt geeignet. Bei digitalen Inhalten im Netz m¨ussen Informationen u¨ ber den jeweiligen Zugang beziehungsweise Ort ber¨ucksichtigt werden, die das Auffinden garantieren. Der 1998 von der DOI-Foundation, einer Vereinigung von kommerziellen und nicht kommerziellen Mitgliedern (http://DOI.org/), ver¨offentlichte Digital Object Identifier ist auf die Belange der vernetzten Welt zugeschnitten und erm¨oglicht das Auffinden von digitalen Inhalten, auch wenn sich die Informationen u¨ ber dieses Objekt im Laufe der Zeit ver¨andert haben. Das System geht u¨ ber B¨ucher und Zeitschriften weit hinaus und ist grunds¨atzlich fu¨ r alle digitalen Objekte geeignet. Der DOI besteht aus zwei durch einen Schr¨agstrich getrennte Zeichenreihen, einem Pr¨afix und einem Suffix. Jedes DOI-Pr¨afix beginnt mit 10., gefolgt von einer Folge fu¨ r die Organisation, etwa den Verlag, die den DOI registrieren l¨asst. Das DOI-Suffix legt das registrierende Unternehmen selbst fest. Die M¨oglichkeiten sind beliebig, es muss nur f u¨ r ein Objekt genau eine Zeichenfolge vergeben werden. So ist der DOI 10.1007/s00287-004-0457-y f u¨ r den Artikel „Globalisierung und der Zusammenbruch der Computernetze“ von Hermann Maurer, Technische Universit¨at Graz, registriert. Der Artikel erschien in Heft 1 (2005) des Informatik-Spektrums. Im DOI steht die Ziffernfolge 1007 im Pr¨afix fu¨ r Springer, der Buchstabe s im Suffix fu¨ r Zeitschrift (engl. serial) und die Ziffernfolge 00287 f u¨ r die Verlagsnummer des Informatik-Spektrums. Man kann den genannten, durch den DOI 10.1007/s00287-004-0457-y gekennzeichneten Beitrag auffinden, indem man auf der Web-Seite der DOI-Foundation diesen DOI in ein dafu¨ r vorgesehenes Eingabefeld eingibt oder indem man mit seinem Internet-Browser direkt http://dx.doi.org/10.1007/s00287-004-0457-y anw¨ahlt. Die DOI-Foundation sichert durch diese Archivierung eines Beitrags seine

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Authentizit¨at und Auffindbarkeit auch f u¨ r den Fall zu, dass die urspr¨ungliche Organisation, die diesen Beitrag registrieren ließ, nicht mehr existiert.

Das Buch Obwohl Lexika und Enzyklop¨adien durch ihreVerweisstruktur auch eine nichtlineare Bearbeitung erlauben, unterst¨utzen B¨ucher grunds¨atzlich eine lineare Wissensaufnahme.So schreiben Autoren von Lehrb¨uchern oder Monographien aufgrund ihrer reichhaltigen beruflichen Erfahrung, die sie bef¨ahigt, auch schwierige Stoffgebiete, gleichsam die Seldom asked questions (SAQs), darzustellen. Die Kreativit¨at und Erfahrung des Autors findet ihren Niederschlag im Inhalt des Buchs.Demgegen¨uber tritt die Form zur¨uck: Format,Satzspiegel und Layout unterschiedlicher Lehrb¨ucher sind einander sehr a¨hnlich, sogar wenn diese von verschiedenen Verlagen stammen. Diese Standardisierung erfolgte einerseits aus einer Gew¨ohnung an bestimmte Formate nahe dem Goldenen Schnitt, die man als Leser als besonders angenehm empfindet, andererseits aus der Einrichtung von Druckmaschinen auf Formate mit m¨oglichst geringem ¨ Papierabfall. Uberraschende Formen der Darstellung, etwa Sonderfarben oder ungew¨ohnliches Layout, ungewohnte Text- und Bildkompositionen, un¨ubliche Formate und extravagante Einbandmaterialien sind Ausnahmen, die etwa bei Kunstb¨anden oder Kinderb¨uchern anzutreffen sind. Aber auch im Regelfall eines „gew¨ohnlichen“ Buchs gibt es viele M¨oglichkeiten eine auf den Leser zugeschnittene Buch¨asthetik zu erreichen. Oft unterst¨utzen ausgew¨ahlte Schriften auf dem Einband und im Innen-Layout, Bilder, Einbandgestaltung und die Wahl des Papiers fu¨ r den Buchblock Schriftgr¨oße, Zeilenl¨ange und Zeilenabstand eine leserfreundliche Anmutung eines Buchs, das beim Leser sogar ein besonderes haptisches Vergn¨ugen, und damit positive Emotionen beim Aneignen des Wissensstoffes ausl¨osen kann. Das Buch ist mit Begriffen wie Wahrheit, Kompetenz und Autorit¨at verbunden. Standardwerke k¨onnen sogar Instanzcharakter erreichen. Wer kennt nicht die Formulierung, „nach Duden schreibt man . . .“. Dem gedruckten Wort kommt also eine besondere G¨ultigkeit zu,es hat Gewicht.Technische und medizinische Fachb¨ucher besitzen auch Haftungscharakter. Gerade solche B¨ucher m¨ussen mit besonderer Sorgfalt hergestellt werden. Im Produktionsprozess muss die sprachliche und inhaltliche Konsistenz durch Autoren, Lektoren und Korrektoren gesichert werden. ¨ Der historisch immer wieder eingel¨oste Asthetikund Qualit¨atsanspruch des Buchs hat dazu gefu¨ hrt,dass die Buchmetapher in der Kultur weit verbreitet ist. Das „Buch der B¨ucher“, die Bibel, umfasst den Grundbestand des christlichen Wissens. Dazu kam mit Augustinus im Mittelalter das „Buch der Natur“, die Gesamtheit des damals verf u¨ gbaren Naturwissens, durch das sich Gott in einem zweiten Buch neben der Bibel dem Menschen mitteilt. F¨ur manchen Politiker scheint es ein lohnenswertes Ziel, sich in das „Buch der Geschich-

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te“ einzuschreiben. Die Mathematiker Martin Aigner und G¨unter M. Ziegler nannten ihr Buch, in dem sie besonders sch¨one mathematische Beweise mit den Beweisideen und Pointen darstellen, „Das BUCH der Beweise“. Gewich¨ tige Argumente schlagen „zu Buche“ und bei Anderung der Lebensumst¨ande spricht man davon, dass man nun „ein Kapitel (des Lebens) abgeschlossen h¨atte“.

Alles wird fl¨uchtig Mit dem Internet a¨ndert sich die Bedeutung von Bildung und der sie erm¨oglichenden und begleitenden Medien radikal. Nun sind die Wissensinhalte auf einem Bildschirm anzuschauen. Dieser ist der dem Leser gegen¨uberstehende Rahmen fu¨ r die Betrachtung der digitalen Welt und bietet selbst kaum Gestaltungsm¨oglichkeiten. Entspricht dem Einband und dem Papier des Buchs, also seiner Hardware, der Bildschirm, so entspricht dem Gedruckten beim Buch der Bildschirminhalt. Das Design spielt sich nun auf dem Screen, innerhalb des Rahmens ab. Das digitale Wissen wird selbst wesentlich zur ver¨anderbaren Form. Das einzig Best¨andige, zumindest etwa fu¨ r die Dauer einer Buchauflage, ist der Bildschirm als Ger¨at, alles andere a¨ ndert sich. Nun kommen Buchstaben und Bilder in Bewegung, werden fl¨uchtig. Sie fluten auf dem Bildschirm am Betrachter vorbei. In der Welt des globalen Informationsaustauschs verlieren regionale oder nationale Auspr¨agungen verl¨asslicher Bildungsideale an Gewicht.Wichtig werden Professionalit¨at und Soft skills. Dadurch werden Kommunikation und Kooperation ohne Grenzen und globale Prozesse erst m¨oglich. Da gleichzeitig die Innovationszyklen in immer k¨urzerer Zeit ablaufen, reicht es in vielen Disziplinen nicht mehr aus, ein Leben lang auf einmal Gelerntes zu vertrauen. Im Gegenteil, man muss st¨andig in der Lage sein, Gelerntes, falls erforderlich zu „vergessen“ und Neues zu lernen. Hochschulen wandeln sich von Ausbildungsst¨atten mit staatlichen Abschl¨ussen (Staatsexamen) zu Kaderschmieden der Wirtschaft (Bachelor, Master), die neben der eigentlichen Ausbildung den Absolventen die Methoden mit auf den Weg geben sollen, die diese zum Lifelong-Learning bef¨ahigt.

Vom Lesen zum Schauen In vielen Wissensgebieten und Anwendungsbereichen, insbesondere in solchen, die durch Informations- und Kommunikationstechnik vorangetrieben werden, scheinen althergebrachte Konzeptionen der Aus- und Weiterbildung nicht mehr auszureichen. So sind etwa in manchen Gebieten der Informatik Neuerungen st¨andig an der Tagesordnung, so dass einschl¨agige Fachb¨ucher Lebensspannen von weniger als einem Jahr haben. Man betrachte zum Beispiel die Entwicklung des Betriebssystems Linux, das nach einer st¨urmischen Anfangsentwicklung auch heute noch st¨andig weiterentwickelt wird und in

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etwa j¨ahrlichem Abstand in neuen Versionen vorliegt. Lehr- und Fachb¨ucher kommen hier an ihre Grenzen. Das neue Fachwissen kann h¨aufig nicht schnell genug in neuen Auflagen verarbeitet werden, insbesondere kann durch neue Entwicklungen obsolet gewordenes Altwissen nicht zeitnah durch neues Wissen ersetzt werden. Mit Buchbeilagen-CD-ROMs und -DVDs oder mit eigens das Buch erg¨anzenden Web-Seiten wird es m¨oglich, dem Buch dynamische und interaktive Elemente beizustellen und die Aktualisierung des Lesestoffs auch nach Erscheinen einer Auflage zu erm¨oglichen. Neben solchen „gemischten“ Medien entwickeln sich neue Konzepte der Aus- und Weiterbildung, vom Papier befreite elektronische Lernumgebungen. Diese k¨onnen so gestaltet werden, dass obsolet gewordenes Wissen zeitnah ersetzt wird. Sie gestatten auch die selbst¨andige Weiterbildung der einschl¨agig Interessierten und T¨atigen. Ausbildung und (berufliche) Weiterbildung wachsen zusammen. Arbeitsplatznahe Lernangebote fu¨ r das schnelle Lernen, etwa bei der Installation neuer Software-Versionen k¨onnen mit weiteren firmeneigenen oder firmen¨ubergreifenden Informationsdiensten verbunden sein. Elektronische Lernumgebungen haben jedoch noch weitere Vorteile. Sie k¨onnen den gleichen Wissensstoff prinzipiell f u¨ r unterschiedliche Gruppen aufbereitet vorhalten. Derartige Gruppen k¨onnen sehr heterogen zusammengesetzt sein, wodurch an eine Lernumgebung weitere Anforderungen gestellt werden. Man denke nur an eLearning-Systeme in der Informationstechnik f u¨ r Projektentwickler, Projektleiter, Administratoren, Anwender und so weiter. Bereits 1945 nahm Vannevar Bush (1890–1974), Pr¨asident der Carnegie Institution in Washington, viele der heutigen Entwicklungen vorweg: In seinem damals weit voraus schauenden Artikel „As we may think“ 3 denkt er u¨ ber ein Ger¨at zur Speicherung von Informationen nach. Dieses von ihm Memex genannte Ger¨at a¨ hnelt in seiner Beschreibung heutigen Notebooks. Es sollte das Leben des Menschen vereinfachen und seine M¨oglichkeiten wesentlich erweitern: „A memex is a device in which an individual stores all his books, records, and communications, and which is mechanized, so that it may be consulted with exceeding speed and flexibility. It is an enlarged intimate supplement to his memory.“ Am 29. Dezember 1959 ging der am California Institute of Technology in Pasadena lehrende Physiker Richard P. Feynman (1918–1988) w¨ahrend der Jahrestagung der American Physical Society auf die Speicherung von Wissen ein: „And it turns out that all of the information that man has carefully accumulated in all the books in the world can be written [. . . ] in a cube of material one two-hundredth of an inch wide . . . which is the barest piece of dust that can be made out by the human eye. So there is plenty of room at the bottom!“ 4 Damals bahnte sich ein bis heute ungebrochenes Wachstum in der Computer3 4

Bush 1945. Feynman 1960.

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und Speicherentwicklung an, gekennzeichnet dadurch, dass etwa alle zwei Jahre sich die Leistungsf¨ahigkeit verdoppelt, wie es Gordon Moore, Mitbegr¨under des Chipherstellers Intel, beobachtete und 1965 in seinem ber¨uhmt gewordenen „Mooreschen Gesetz“ formulierte. Mit der Erfindung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee, dessen Beginn nach seinem ersten Entwurf f u¨ r die Informationsverwaltung am CERN auf 1989 datiert wird, aus dem das Transportprotokoll http und die Websprache HTML entstanden, kam eine neue Technik hinzu, die Vernetzung der Computer und Datenspeicher. Damit war die unmittelbare Erreichbarkeit von Wissensbasen weltweit unabh¨angig von Ort und Zeit Realit¨at geworden.

Interaktives Lernen Mittlerweile sind elektronische Bildungsprodukte im studentischen Alltag fast allgegenw¨artig. Nach einer repr¨asentativen Erhebung, die im November und Dezember 2004 von der Hochschul-Informations GmbH in Kooperation mit dem Projekttr¨ager „Neue Medien in der Bildung + Fachinformation“ unter 3811 Studierenden durchgefu¨ hrt worden ist, 5 kennen 2004 bereits 86 Prozent der Studierenden E-Learning-Angebote, w¨ahrend es im Jahr 2000 nur 34 Prozent waren. Die technische Voraussetzung fu¨ r E-Learning, ein leistungsf¨ahiger Breitband-Internetzugang in der eigenen Wohnung, ist heute bei u¨ ber der H¨alfte der Studierenden erfu¨ llt. ¨ Uber 80 Prozent der Studierenden nutzen haupts¨achlich vorlesungs- oder seminarbegleitende internetbasierte E-Learning-Systeme. Werden diese erst einmal genutzt, dann greifen auch viele Studierende zu entsprechenden Angeboten anderer Hochschulen. Seltener wird auf autodidaktische E-LearningAngebote zugegriffen. Nur knapp jeder vierte Studierende nutzt eine solche Selbstlernumgebung. Es mag eine Rolle spielen, dass im Gegensatz zur nachdr¨ucklichen Empfehlung bei vorlesungsbegleitenden E-Learning-Angeboten hier die Studierenden h¨aufig auf eigene Erfahrungen oder die der Kommilitonen angewiesen sind. Im Gegensatz zum Buch kann man bei einem softwarebasierten System ja nicht auf den ersten Blick pr¨ufen, was darin enthalten ist. Um das „Lost-in-Hyperspace-Syndrom“ zu vermeiden, m¨ussen E-LearningSysteme mit u¨ bersichtlichen Navigationssystemen und Suchmaschinen ausger¨ustet sein. Weitere Unterschiede zwischen Lehrbuch und elektronischer Lernumgebung, werden in Abb. 2 betrachtet. Andere E-Learning-Arten, wie zum Beispiel virtuelle Seminare und Tutorien mit Telekooperation, Televorlesungen, virtuelle Praktika, virtuelle Laborpl¨atze sind nur etwa zehn Prozent der Studierenden bekannt.Die Untersuchung f¨orderte aber auch zu Tage, dass bereits ein relevanter Anteil der Studienzeit mit E-Learningsystemen verbracht wird. Beim Selbststudium verbringen die Studierenden knapp ein F¨unftel Ihrer Arbeitszeit mit E-Learning. 5

Vgl. http://www.his.de/Abt2/Hisbus/AG10.8.

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Lehrbuch

Elektronische Lernumgebung

Lehrstoff

Inhalt und Umfang abgegrenzt, in sich abgeschlossen

Mit anderen Webinhalten verlinkt, offen, an Vorwissen und Profil des Users angepasst

Darstellung

Text und Bilder

Text, Bilder, Links, Animationen, Simulationen, . . .

Struktur

Linear von Anfang bis Ende

Hypertext-Struktur mit interner und Verlinkung,

Inhaltsverzeichnis

Statisch

Dynamische Navigation

Sachregister

Statisch

Dynamische Suche

Strukturelemente

Kapitel

Wissensmodule, individuell zusammengestellte Lektionen

G¨ultigkeit

Mindestens Lebensdauer einer Auflage

Kontinuierliche ¨ Anderungsm¨ oglichkeit der Wissensmodule

Stoffaneignung

Durch Lesen

Durch interatkives, vernetztes Lernen

Abb. 2. Unterschiede zwischen Lehrbuch und elektronischer Lernumgebung

Interaktives Lernen ist zeitlich flexibel m¨oglich. Der Lernende kann sich seine Lernzeiten selbst aussuchen. Dies hat unter anderem dazu gef u¨ hrt, dass E-Learning sehr attraktiv f u¨ r die berufliche Weiterbildung ist, bei der der Lernende seine Lernaktivit¨aten mit seinen beruflichen Zeiten und gegebenenfalls seiner Familie koordinieren muss. Da das E-Learning außerdem lokal unabh¨angig und vielfach von zu Hause aus betrieben wird, sorgt man beim Blended Learning dafu¨ r, dass die das Lernen unterst¨utzende Gruppendynamik in Anwesenheits¨ubungen mit Tutoren oder zumindest in organisierten Chats, in denen sich die Lernenden u¨ ber Aufgaben unterhalten oder sich zu Arbeitssitzungen verabreden k¨onnen,gef¨ordert wird.Verschiedene Hochschulen streben zurzeit ein begleitendes E-Learning von etwa 30 Prozent der gesamten Lehre an.

Digitale Bibliotheken Als Aufbewahrungsort des Wissens sind Bibliotheken seit Jahrtausenden das Fundament f u¨ r dessen Verwaltung und Weiterentwicklung.Die Zerst¨orung von großen Bibliotheken im Altertum, etwa der Bibliothek von Alexandria, hatte mehrmals eine Retardierung der Wissensproduktion zur Folge, die erst in sp¨ateren Jahrhunderten, wenn u¨ berhaupt, ausgeglichen werden konnte. Auch in den letzten Jahrhunderten zeichneten sich wichtige Universit¨aten und Forschungsst¨atten durch die Vollst¨andigkeit und Wohlsortiertheit ihrer Buch- und

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Zeitschriftenbest¨ande aus,die zu wissenschaftlichen Zwecken ausgeliehen oder bei unverzichtbaren Werken in den Bibliotheksr¨aumen gelesen und erforscht werden konnten. Auf Grund der umfangreichen Sammlungen hatten derartige Bibliotheken praktisch ein Wissensmonopol, das durch Verlage oder andere Institutionen nicht ersetzt werden konnte. Im Internet-Zeitalter ver¨andern sich die Bibliotheken zu digitalen Bibliotheken. Nun kommt zur Aufbewahrung von Wissen in Form von Papier in Regalen die Unterst¨utzung der Wissenschaftler bei der Erschließung, Nutzbarmachung und Archivierung des in Datenbanken gespeicherten Wissens hinzu. Diese Dienste werden aber auch von anderen, etwa von Verlagen geleistet, so dass sich digitale Bibliotheken nun im Wettbewerb mit anderen Dienstleistern des Wissens wiederfinden. Außerdem erfordern digitale Dokumente v¨ollig andere Techniken der bibliothekarischen Bearbeitung als B¨ucher und Zeitschriften aus Papier. Nun muss Hard- und Software beschafft und aktuell gehalten werden. Der Nutzer kommt nicht mehr in die Bibliothek, sondern holt sich seine Inhalte gegebenenfalls u¨ ber Suchmaschinen oder Softwareagenten u¨ ber seinen Rechner direkt auf seinen Schreibtisch.

¨ Uberflutung mit fl¨uchtiger Information Der hohe Grad an Vernetzung und das Zusammenwachsen von Festnetzen und mobilen Netzen stellen dem Menschen neue, vorher nicht gekannte M¨oglichkeiten der Information und Kommunikation zur Verfu¨ gung. Sowohl u¨ ber den Computer sowie u¨ ber mobile Ger¨ate (Notebook, Handy, . . . ) kann fast unbegrenzter Datenaustausch erfolgen. Andrerseits hat gerade das Internet als Informationsmedium seine Schattenseiten. Einerseits verdoppeln sich die weltweit produzierten und grunds¨atzlich verfu¨ gbaren Informationen in immer k¨urzeren Zeitr¨aumen von wenigen Jahren. Andererseits besitzen besonders die Informationen im Internet zumindest in ihrer Verfu¨ gbarkeit eine kurze Halbwertszeit. Die u¨ ber 500 Milliarden Webseiten im Internet haben eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa 100 Tagen.6 Bei einer derartigen Fl¨uchtigkeit der Information reicht die Verfu¨ gbarkeit alleine nicht aus. Das Finden der geeigneten Information wird zur Hauptaufgabe. Mehrere Studien, die in unterschiedlichen Unternehmen durchgefu¨ hrt wurden zeigen ein paradoxes Ergebnis. Das globale Informationsangebot wird gleichzeitig als Informations¨uberflutung und als Informationsmangel wahrgenommen. Nach einer Delphi-Studie aus dem Jahre 2000 7 verbringen 37 Prozent aller befragten B¨uroangestellten zwischen zwei und vier Stunden pro Tag fu¨ r die Informationsrecherche. In diesem Zusammenhang gewinnen Wissensportale an Bedeutung, da dadurch ein effizienter Zugriff auf das di6 7

Bibliotheca Alexandrina: Internet Archive 2005. Delphi Group 2002.

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gital vorhandene Wissen und ein sowohl fu¨ r das Unternehmen als auch den Einzelnen vorteilhaftes Wissensmanagement m¨oglich wird.

Wissensportale Wissensportale, die besonders fu¨ r die Weiterbildung in Unternehmen konzipiert sind, gehen weit u¨ ber E-Learning-Systeme hinaus. Sie dienen neben der Publikation von Informationen auch der Suche, Extraktion und Aufbereitung von Wissen. Ferner stellen sie Anwendungen zur Verf u¨ gung, unterst¨utzen Unternehmensprozesse und erm¨oglichen die Zusammenarbeit sowie die gemeinsame Wissensnutzung u¨ ber Abteilungs- oder gar Unternehmensgrenzen hinweg.8 Dabei erfolgt bei Wissensportalen eine Ver¨anderung. Die Funktionseinheiten eines Wissensportals treten in den Hintergrund, w¨ahrend Dienste an Bedeutung gewinnen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Dienste-orientierten Architekturen („Service-oriented Architecture“, kurz SoA). Dadurch sollen die Informationen, Anwendungen, Wissen und Dienste aus den unterschiedlichen Bereichen eines Unternehmens in einer durchgehenden Kette organisiert werden, die u¨ ber das Unternehmen hinaus erg¨anzt werden kann, so dass auch Lieferanten und Kunden am Wissensaustausch teilnehmen k¨onnen.Dies erm¨oglicht ein zukunftsweisendes Unternehmenskonzept, das Echtzeit-Unternehmen, bei dem alle Beteiligten stets Zugriff auf alle f u¨ r sie wichtigen Informationen haben. Ein solches Unternehmen kann praktisch auf Grund aktueller Daten gef u¨ hrt werden. Auf Kundenw¨unsche kann sofort reagiert werden. Das ganze Unternehmen befindet sich in einem permanenten Lernprozess mit dem Ziel, seinen augenblicklichen Zustand zu kennen. Eine weitere Verbesserung der Wissensaufbereitung und Wissenssuche erwartet man vom Konzept des Semantic Web, bei dem von Menschen beauftragte Softwareagenten die Suche nach Inhalten u¨ bernehmen. F¨ur eine solche software-gest¨utzte Wissens- und Informationsaufbereitung reicht jedoch die bisherige syntaktische Konzeption des WWW nicht aus.Die semantische Ebene der Webinhalte, also deren Bedeutungen und Verflechtungen und Beziehungen sowie die Kontexte m¨ussen explizit gemacht werden, so dass eben diese Bedeutungen maschinell verarbeitet werden k¨onnen. Hierbei wird es unumg¨anglich sein, Taxonomien zu entwickeln, die allgemein akzeptiert werden. Bei bereichsspezifischer Recherche, etwa der Analyse der Fachliteratur einer Disziplin, ist jedoch heute schon eine erfolgreiche Recherche m¨oglich, da in solchen F¨allen meist ein definiertes eingeschr¨anktes Vokabular und eine fachspezifische Strukturierung verbreitet ist. Die un¨ubersichtlichen Ergebnislisten heutiger Suchmaschinen korrelieren mit der Unstrukturiertheit nat¨urlichsprachlicher Texte. Deshalb kann das Ziel einer effektiven Nutzung des Webs 8

Großmann/Koschek 2005.

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Hermann Engesser

nur mit mehr Strukturierung und Standardisierung der Texte erreicht werden, um eine intelligentere Suche zu erm¨oglichen. Neue Anforderungen an Wissens- und Informationssysteme entstehen dadurch, dass die Nutzer immer mobiler werden und situationsbezogen mit unterschiedlich vernetzten Endger¨aten arbeiten. Bei einem Wissensportal, das u¨ ber mobile Endger¨ate, etwa Smartphones und PDAs genutzt wird, muss die Informationsaufbereitung kleinere Bildschirme ber¨ucksichtigen, die interaktiven Funktionen m¨ussen fu¨ r kleinere Tastaturen eingerichtet sein. Die gesuchte Information muss trotzdem schnell verf u¨ gbar sein und u¨ bersichtlich pr¨asentiert werden. Die f u¨ r diese Anwendungen entwickelten multimodalen Wissensportale sind heute bereits fu¨ r spezielle Bereiche verf u¨ gbar. Allerdings hat die Multimodalit¨at zur Zeit noch zur Folge, dass von den mobilen Endgr¨aten aus nur ein Teil des Portals genutzt werden kann, etwa Zusammenfassungen, Kennzahlen und so weiter, w¨ahrend die volle Funktionalit¨at nur u¨ ber den vernetzten PC erm¨oglicht wird.

Wissensmanagement Dem Life-long-Learning des Einzelnen entspricht auf der Ebene von Unternehmen das „lernende Unternehmen“. Bereits 1995 wiesen Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi in ihrem Buch The Knowledge-Creating Company, das ¨ 1997 in deutscher Ubersetzung unter dem Titel: „Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen“ darauf hin, dass es f u¨ r den Erfolg eines Unternehmens entscheidend sein kann, das Wissen der Belegschaft zu organisieren und fu¨ r Verbesserung von Unternehmensabl¨aufen und neue Produkte verf u¨ gbar zu machen. Um diese Prozesse zu beherrschen und Wissensarbeit zu organisieren, benutzt man Methoden des Wissensmanagements,das im Wesentlichen die Bereiche der Identifikation, des Erwerbs, der Entwicklung und Verteilung, Nutzung und Archivierung von Wissen umfasst, 9 wobei Wissen zwar auf Daten und Informationen beruht, gleichzeitig jedoch in der Bindung an Personen und Projektgruppen eine weitere Dimension besitzt. Damit etwa in einem Unternehmen das Wissensmanagement erfolgreich sein kann, muss eine entsprechende Unternehmenskultur vorhanden sein. Außerdem m¨ussen die Unternehmensprozesse und Arbeitsgruppen so organisiert sein, dass sie das Wissensmanagement unterst¨utzen. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf dabei das implizite Wissen der Mitarbeiter, das z.B. durch Erfahrung oder Intuition entstanden ist, und zun¨achst nicht explizit in der Art von Anweisungen oder Regeln formuliert werden kann. Oft wissen Mitarbeiter selbst nicht u¨ ber das von Ihnen verwendete implizite Wissen Bescheid, sie verwenden es einfach bei ihrer T¨atigkeit. Diese Art von Wissen kann man durch Beobachtung feststellen und explizit 9

Probst/Raub/Romhardt 2000.

Bildung und Wissen im Zeitalter der elektronischen Medien und des Internets

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formulieren, um es dann anderen Mitarbeitern oder Arbeitsgruppen bzw. anderen Unternehmen verfu¨ gbar zu machen.

Wissen im Stand-by-Modus Mit der st¨urmischen Entwicklung der Technik und der Globalisierung haben sich die Schwerpunkte des Wissenserwerbs verschoben. Nicht mehr der Bildungsb¨urger,der in seiner Pers¨onlichkeitsentfaltung auch Interessen an zweckfreiem Wissen pflegte, steht im Vordergrund. Ihn hat der Professional abgel¨ost, der virtuos die Techniken der digitalen Welt beherrscht und seine Wissensmodule permanent aktualisiert. Unterst¨utzt wird er dabei von elektronischen Medien, die ihm wesentliche Teile von Wissen zur Verfu¨ gung stellen. Explizites oder explizit gemachtes Wissen l¨asst sich digital erfassen und mit Suchmaschinen wiedergewinnen. So kommt es f u¨ r den Professional haupts¨achlich darauf an, zur rechten Zeit den Zugang zum Wissen zu haben, um dieses finden, evaluieren und nutzen zu k¨onnen. Daf u¨ r muss er sich st¨andig weiter professionalisieren, neue Versionen von Softwaretools und deren Handhabbarkeit kennen. Diese Professionalisierung entspricht der Professionalisierung der Arbeiter in der sich entwickelnden Industriegesellschaft. Auch dort wurden Werkzeuge immer effektiver und ver¨anderten die Ausbildung und das Berufsbild von Arbeitern und Handwerkern. Ein Großteil der k¨orperlichen Arbeit wurde nach und nach von Maschinen u¨ bernommen. Parallelen in der Wissensgesellschaft sind durchaus m¨oglich, wenn die Wissenswerkzeuge immer effektiver werden und die Wissensarbeit von diesen ausgefu¨ hrt wird. Sp¨atestens dann verschwindet das Wissen im Netz und ist fu¨ r den Menschen im Stand-by-Modus vorhanden. Die Wissensgesellschaft w¨are dann durch die weitgehende Abwesenheit von Wissen charakterisiert, a¨ hnlich der Industriegesellschaft durch die weitgehende Abwesenheit von k¨orperlicher Arbeit. Sollte in der Wissensgesellschaft ein Mensch in die Verlegenheit kommen, eine Pr¨asentation zu erstellen, dann w¨urde er seine Softwareagenten ins Netz senden, die das notwendige Wissen eruieren, apportieren und die Pr¨asentation zusammenstellen. Der Mensch in der Wissensgesellschaft ben¨otigt dann im Wesentlichen das Wissen u¨ ber die Zugangsmechanismen zum „elektronischen“ Wissen.

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Hermann Engesser

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Bildung als kritisches Korrektiv der Gesellschaft ¨ Uber die Wechself¨alle eines großen Anspruchs rose boenicke

Vorbemerkung Gegenw¨artige Diskussionen des Stellenwerts von Bildung werden als Standortdiskussionen gef u¨ hrt. Mittelm¨aßige Sch¨ulerleistungen im internationalen Vergleich? Das gef¨ahrdet die Positionierung im globalen Wettbewerb um Angebote an attraktiven wirtschaftlichen Standortfaktoren. Entsprechend fallen die Interpretationen der bestenfalls mittelm¨aßigen Leistungsdaten deutscher Sch¨uler aus: Das deutsche Bildungssystem entwickle zu wenig die Potenziale Heranwachsender in einem breiten Spektrum an Kompetenzen – von Probleml¨osef¨ahigkeit bis zu sozialen Kompetenzen –, es sei zu wenig f¨orderorientiert, mache Bildungsgangentscheidungen in aller Regel zu Selektionsentscheidungen anstatt vorhandene Ressourcen optimal zu unterst¨utzen, und dies in einem sonst ressourcenarmen Land, f u¨ r das der Ausbildungsstand der Bev¨olkerung von besonderer o¨ konomischer Relevanz ist. In diesen Formulierungen b¨undeln sich Argumente, die mehr Bildung fordern, tats¨achlich aber mehr und andere Qualifikationen meinen. Nun ist es zwar wenig sinnvoll, Bildung und Qualifikation gegeneinander auszuspielen: Bildungsprozesse entstehen in unserer Gesellschaft im Rahmen von Ausbildungsg¨angen, die auf Qualifikationserwerb zielen, und nicht wie im 18. Jahrhundert als individuelle Suche nach bildenden Erfahrungen, sei es auf Reisen oder als einsame cultura animi. Immer war mit Bildung ein u¨ ber Qualifikati¨ onsmaßnahmen hinausgehender Uberschuss an F¨ahigkeiten,sich zu sich selbst und zur Welt verhalten zu k¨onnen,gemeint,der nicht inVerwertungskategorien aufgeht, sondern deren kritische Reflexionsinstanz ist. Im Bildungsideal hatte sich die Moderne ein Korrektiv gegen¨uber bloßen Funktionsbestimmungen er¨offnet und damit die M¨oglichkeit, immer wieder aufs Neue problematisieren zu k¨onnen, was unter gelingendem Leben verstanden werden kann. Dieser in den Humanismus zur¨uckreichende und im Aufkl¨arungsdenken des 18. Jahrhunderts eine besondere Resonanz entfaltende Diskurs hat durch die Institutionalisierung von Bildungsg¨angen und die Verschulung großer Teile der Lebenszeit von Heranwachsenden im 19. und 20. Jahrhundert eine neue

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Wendung bekommen; was unter Bildung verstanden werden soll, kann nun nicht mehr nur normativ diskutiert, sondern muss auch p¨adagogisch ausgelegt werden, indem zum Beispiel nach der Dynamik von Entwicklungsprozessen und den Gestaltungsformen des Verh¨altnisses zwischen Erwachsenem und Kind gefragt wird. In umgekehrter Blickrichtung nahm die P¨adagogik wiederum die Reformideen der Aufkl¨arungstradition auf und erweiterte ihre Perspektive u¨ ber das p¨adagogische Verh¨altnis zwischen Individuen hinaus auf gesellschaftliche Aspekte. Das Selbstbewusstsein dieser gesellschaftskritischen P¨adagogik formuliert Mollenhauer 1964, wenn er schreibt: „P¨adagogische Reformtheorien holen seit Rousseau [. . . ] und Fichte [. . . ] nicht mehr nur auf dem Felde der Erziehung Entwicklungen nach, die andere Bereiche der Gesellschaft schon durchlaufen haben, sondern entwickeln zugleich mit ihren Erziehungsprogrammen vorwegnehmende gesellschaftliche und politische Ideen“ 1 , wobei diese Vorwegnahme nicht systemimmanent gedacht ist, sondern sich zunehmend als Instrument der Analyse falscher Praxis, Einspruchsinstanz und Korrektiv versteht. Daraus wird in den sechziger und siebziger Jahren ein starker Anspruch, n¨amlich die subjektiven Bedingungen gesellschaftlicher Ver¨anderung in Richtung auf Durchsetzung dieser Ideale „mindestens nicht zu versch¨utten, im Grunde aber sie selbst hervorzubringen.“ 2 Anfang der achtziger Jahre hat die Erziehungswissenschaft die Formulierung ihrer Aufgaben zur¨uckgenommen auf „Fragen der konkreten Gestaltung gesellschaftlicher Teilbereiche wie zum Beispiel dem des Bildungssystems“. 3 Dies bedeutet nicht zwangsl¨aufig den Verzicht auf die leitenden Intentionen kritischer P¨adagogik, sondern eher deren Transformation in operationalisierbare Fragen wie die nach hemmenden und f¨ordernden Sozialisationseinfl¨ussen ¨ auf die Entstehung selbstbestimmten Handelns. „Uber p¨adagogische Beziehungen, Bildungsbarrieren, Lehrstrategien,Verhaltensst¨orungen, CurriculumKonstruktionen, Lernprozesse, soziale Funktionen p¨adagogischer Einrichtungen usw. l¨asst sich seitdem mit besseren Gr¨unden reden.“ 4

I Im Namen von Rationalit¨at und Emanzipation Vierzig Jahre nach Herausbildung einer Kritischen Erziehungswissenschaft,die Demokratisierungsforderungen mit der Analyse ungleicher Bildungschancen bzw. der systematischen Benachteiligung von Teilen der Gesellschaft verband, sind deren Befunde so aktuell wie je zuvor. Wenn die PISA-Studie verdeutlicht, dass die Koppelung von geringem Sozialstatus und Ausschluss von Bildungsm¨oglichkeiten in Deutschland enger ist als in vergleichbaren Industrienationen, stellt sich jedoch die Frage, was zu der weitgehenden Folgenlosigkeit 1 2 3 4

Mollenhauer 1964a, 105 (Hervorhebung R. B.). Mollenhauer 1964b, 74 (Hervorhebung R. B.). K¨onig/Zedler 1982, 9. Mollenhauer 1982, 263.

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der gesellschaftskritischen P¨adagogik, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren formuliert wurde, beigetragen hat. Dies zu beleuchten sind ganz unterschiedliche, sich eher erg¨anzende als ausschließende Analysepfade denkbar – der hier gew¨ahlte bezieht sich in erster Linie auf die theorieimmanenten Konstitutionsprobleme einer kritischen P¨adagogik und Bildungstheorie. 5 Nachweisbar w¨aren auch von außen auf sie einwirkende politische Blockierungen ihrer Intentionen; dieser Aspekt soll hier allenfalls am Rande besch¨aftigen. 6 ¨ Uber eine bis anderthalb Dekaden hinweg richten Teile der P¨adagogik in den sechziger und siebziger Jahren den Anspruch an sich selbst, „als Praxis wie als Theorie in der heranwachsenden Generation das Potenzial gesellschaftlicher Ver¨anderung hervorzubringen.“ 7 Ihre eigentliche Beachtung findet diese Aussage, als der urspr¨unglich 1964 publizierte Aufsatz von Mollenhauer, dem sie entstammt, wiederabgedruckt wird in seinem 1968 erscheinenden Buch „Erziehung und Emanzipation“ 8 , ein Titel, der programmatisch die Hoffnung umreißt, gesellschaftstheoretische Forderungen k¨onnten sich u¨ ber Erziehung in die Praxis umsetzen lassen. „Die politische Stimmung der 60er Jahre hat die Forderung nach Emanzipation buchst¨ablich getragen“, res¨umiert MeyerDrawe. „Als diese Stimmung verblasste, blieben Worth¨ulsen zur¨uck, die darauf verwiesen, dass leitende Programme ihre Selbstverst¨andlichkeit eingeb¨ußt hatten.“ 9 Dass der eingangs zitierte Satz bereits 1964 formuliert wird, u¨ berrascht auf den ersten Blick, denn er f¨allt in eine gesellschaftliche Phase h¨ochst erfolgreicher gesellschaftlicher Konsolidierung, o¨ konomischer Sicherheit und technischen Fortschritts. Sie ist jedoch auch die Konsolidierung des Kalten Krieges; der Friede basiert auf der Perfektionierung der Hochr¨ustung. Gleichzeitig br¨ockelt es an den „R¨andern“: Die Armuts-Problematik versch¨arft sich in der Dritten Welt, politische Krisensymptome h¨aufen sich in Gestalt zunehmender 10 und erste Anzeichen einer o ¨ ¨ kologischen Problematik werden Uberwachung ¨ zu Ende, Kennedy wird ermordet, 1964 sichtbar. 1963 geht die Adenauer-Ara kommt es zu den ersten Studentenunruhen in Berkeley. Bis zu diesen Sit-Ins war Aufbruch und Ver¨anderung ein fast ausschließlich von den AvantgardeBewegungen der modernen Kunst besetztes Thema.

5

Dabei wird hier nicht eingegangen auf die Abgrenzungsprobleme unterschiedlicher Schulen kritischer P¨adagogik – vor allem zwischen der in der Tradition der geisteswissenschaftlichen P¨adagogik stehenden Kritischen Erziehungswissenschaft und der Impulse der Frankfurter Schule aufnehmenden kritischen Theorie der Erziehung (vgl. dazu Keckeisen 1984). 6 Vgl. dazu Boenicke/Gerstner/Tschira 2004. 7 Mollenhauer 1964b, 66f. 8 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Tenorth 2000. 9 Meyer-Drawe 2000, 43f. 10 Allein im Jahre 1963 kommt es zur „Spiegel-Aff¨are“, zur Entlassung des Leiters der kritischen Fernsehsendung „Panorama“ und zur Telefon¨uberwachung der „ZEIT“.

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1964 ist auch das Jahr,in dem Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ erstmals erscheint und wo festgestellt wird,dass das erreichte Niveau der Industriegesellschaft in Gestalt von o¨ konomischem Reichtum und technologischer Rationalit¨at damit einhergeht, dass „diese Gesellschaft als Ganzes irrational“ organisiert ist. 11 Die Ressourcen zur Befriedung von Armut, zur Beendigung von Krieg und o¨ kologischer Zerst¨orung, so Marcuse, sind das erste Mal tats¨achlich vorhanden, sie werden nur nicht daf u¨ r eingesetzt, sondern fu¨ r die Befestigung u¨ berkommener Machtstrukturen und die Unterst¨utzung eines „eingeschliffene[n] Universum[s] von Bed¨urfnissen und Befriedigungen“ 12 , die sich in einer langen Geschichte von harter Arbeit, Elend und Ungerechtigkeit herausgebildet haben und darauf angelegt sind, diese Geschichte zu verewigen, indem sie zu eingeschliffenen Mustern geworden sind. „Ganz gleich, wie sehr solche Bed¨urfnisse zu denen des Individuums selbst geworden sind und durch seine Existenzbedingungen reproduziert und befestigt werden; ganz gleich, wie sehr es sich mit ihnen identifiziert und sich in ihrer Befriedigung wiederfindet, sie bleiben, was sie seit Anbeginn waren – Produkte einer Gesellschaft, deren herrschendes Interesse Unterdr¨uckung erheischt.“ 13 Die „Unterdr¨uckung der realen M¨oglichkeiten“ 14 einer Befreiung von Krieg und Armut wird dadurch erm¨oglicht, dass die Individuen „davon abgehalten werden, autonom zu sein, solange sie (bis in ihre Triebe hinein) geschult und manipuliert werden“ 15 , und zwar vor allem durch eine hoch entwickelte Bewusstseinsindustrie. Dies zu begreifen bedeutet, den Schritt von Gesellschaftskritik zu Gesellschaftsver¨anderung zu machen, und zwar in Gestalt von Bewussteinsver¨anderung als Alternative zu den blutigen Szenarien revolution¨arer Ver¨anderung. ¨ ¨ Ahnliche Uberlegungen formuliert die „Emanzipationsp¨adagogik“. Mollenhauer stellt programmatisch in seiner Einleitung zu „Erziehung und Emanzipation“ fest, dass die „M¨undigkeit des Subjekts“ zu erreichen die eigentliche Aufgabe aller P¨adagogik und konstitutives Postulat der Erziehungswissenschaft sei. 16 Dem „korrespondiert, dass das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation ist“, 17 als „Befreiung der Subjekte [. . . ] aus Bedingungen, die ihre Rationalit¨at und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Handeln beschr¨anken.“ 18 Bewusstseinsarbeit in 11 12 13 14 15 16

17 18

Marcuse 1964, 11. Ebd., 26. Ebd., 25. Ebd., 12. Ebd., 26. Stellvertretend f u¨ r die relativ un¨ubersichtliche Vielfalt an Thematisierungen des Emanzipationsbegriffs in der p¨adagogischen Literatur der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wird hier in erster Linie auf die Konzeption von Mollenhauer Bezug genommen, da sie im Nachhinein „als die elaborierteste innerhalb der Ans¨atze zu einer emanzipatorischen Erziehungswissenschaft“ erscheint (Benner 2000, 34). Mollenhauer 1968, 10. Ebd., 11.

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Gestalt der Anleitung dazu, Einschr¨ankungen auf ihre Begr¨undbarkeit zu befragen, soll den Umfang subjektiv m¨oglicher Rationalit¨at erweitern und umschlagen in die Bereitschaft einzugreifen und die Gesellschaft zu ver¨andern. 19 In diese Aufgabenzuweisungen an die P¨adagogik gehen mehrere Pr¨amissen ein, die offenbar zu diesem Zeitpunkt in weiten Teilen der P¨adagogik nicht eigens problematisiert zu werden brauchen. Erziehung als gezielte Einflussnahme ersch¨opft sich nicht in der Einf u¨ hrung in bestehende Traditionen und deren Weitergabe; Bildung als Erfahrungsprozess, der gezielt bewirkt wird durch die Bereitstellung ausgew¨ahlter Erfahrungsm¨oglichkeiten, zielt nicht lediglich darauf, individuelle Anlagen auszubilden. Vielmehr geht es um M¨undigkeit, und das heißt vor allem: Selbstbestimmung als Bef¨ahigung zu rationalem Vernunftgebrauch ohne die Leitung eines anderen. „Rational“ bedeutet in diesem Zusammenhang die Verpflichtung auf allgemein geltende Regeln, seien es solche der Logik oder sozial anerkannte Regeln. Insofern bedeutet M¨undigkeit etwas anderes als individuelle Freiheit, der immer auch ein Moment des Willk¨urlichen anhaftet, da es sich in Gegensatz zum Allgemeinen setzt. Was Rationalit¨at heißt, muss jedoch neu bestimmt werden, wenn gilt, dass das gesellschaftlich Allgemeine Z¨uge der Irrationalit¨at tr¨agt, weil der Steigerung der Profitrate und deren privater Nutzung durch wenige Eigent¨umer die vern¨unftige Organisation des Ganzen geopfert wird. Emanzipation heißt insofern Distanzierung von diesem falschen Allgemeinen, das als solches durchschaubar gemacht werden muss. Dazu bedarf es einer Art Gegenrationalit¨at, die ihre G¨ultigkeit aus der Kraft des besseren Arguments herleiten soll. Schließlich geht als weitere Voraussetzung ein, dass diese Einsicht die Bereitschaft zur Ver¨anderung der gesellschaftlichen Realit¨at produziere. Kritik soll sich von einer diese Realit¨at analysierenden zur praxisbegr¨undenden Kategorie radikalisieren, analog der 11. Feuerbachthese von Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es k¨ommt aber darauf an, 19

Diese Parallelisierung zweier Reden von Emanzipation – Mollenhauers und Marcuses – be¨ deutet nicht,dass sie auf denselben theoretischenVoraussetzungen beruhen – ihre Ahnlichkeit ist eher dem Zeitgeist geschuldet, der bei unterschiedlichen Perspektiven zu a¨ hnlichen Problemformulierungen fu¨ hrte. Genauer: Die von Mollenhauer in den sechziger Jahren vollzogene kritische Wende war keine Ankn¨upfung an die Gesellschaftsanalysen der Kritischen Theorie – sei es in der Lesart Marcuses, Adornos oder Horkheimers – sondern verdankte sich „einer Selbstkritik der geisteswissenschaftlichen P¨adagogik am Ende ihrer Epoche“ (Brumlik 1989, 115). Die in diesem Zusammenhang von ihr entwickelte „Emanzipationsgrammatik“ (Keckeisen 1984, 207) hatte u¨ ber Oberfl¨achen¨ahnlichkeiten hinaus „insgesamt nichts oder nur sehr wenig mit der Kritischen Theorie klassischen Zuschnitts zu tun“ (Brumlik 1989, 116), da sich die geisteswissenschaftliche P¨adagogik eher darum bem¨uhte, Erziehungsideale der deutschen Klassik wiederzubeleben, und dadurch zwangsl¨aufig den „Emanzipationsbegriff zugleich abstrakter und normativer ansetzte“ (ebd., 117). Die Kritische Theorie verfolgte hingegen die Bedingungen deutscher Barbarei noch in diese historischen Schichten zur¨uck, konnte daraus dann aber keine Anl¨asse fu¨ r den Optimismus praxisbezogener p¨adagogischer Postulate ableiten.

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sie zu ver¨andern.“ 20 Diese Ver¨anderungsbereitschaft zu unterst¨utzen oder, bei Mollenhauer, sogar „hervorzubringen“ wird zur Aufgabe der P¨adagogik erkl¨art; 21 gesellschaftliche Ver¨anderung in die eigene Hand zu nehmen ist nun das, was – um die Formulierung von Schleiermacher aufzunehmen – die a¨ ltere Generation mit der j¨ungeren will. 22 Betont wird dennoch von der gesellschaftskritischen P¨adagogik die Offenheit ihrer Konzepte in normativer Hinsicht. „Emanzipation kann ja nicht bedeuten, dass man sich von den alten Vorgaben distanziert und sie dabei gegen neue austauscht, sie l¨asst sich nur als Emanzipation von etwas, nicht aber als Emanzipation zu etwas verstehen“ 23 , sondern wirkt darauf hin, Heranwachsende zunehmend frei zu lassen f u¨ r ihre eigene Wahl von Erfahrungs-, Bildungs- und Lernprozessen. Bildung, so erl¨autert Benner das Konzept der 60er Jahre,bedeutet „weder,dass wir unser Leben in Anerkennung nicht hinterfragter Positivit¨aten gestalten, noch als Suche nach diesen konzipieren m¨ussen, sondern dass wir mit den Positivit¨aten der Wirklichkeit reflektierend, und das heißt unter Verzicht auf fundamentalistische Normgeber und Sinnspender umgehen k¨onnen.“ 24 Dies entlastet eine P¨adagogik, die Emanzipation als Voraussetzung so verstandener Bildungsprozesse in den Mittelpunkt stellt; sie sieht ihre vorrangige Aufgabe in der Kritik von Normen, Vernunftbeschr¨ankungen, Ideologien, Herrschaftsverh¨altnissen.Vermieden werden muss,„die p¨adagogische Aufgabe der Bef¨orderung von M¨undigkeit durch positiv-inhaltliche Forderungen, also durch konkrete Beschr¨ankungen der M¨undigkeit gleich wieder zu verraten“, fasst Ruhloff die negative Selbstbeschr¨ankung der Emanzipationsp¨adagogik zusammen und erl¨autert dies folgendermaßen: „Kritische P¨adagogik [. . . ] hat in ihrer Theorie nicht inhaltlich detaillierte Entw¨urfe einer ,besseren Erziehung‘ zu entwickeln, und in der Praxis verpflichtet sie sich nicht einem neuen Ideal der Gebildetheit, nach dem der Heranwachsende in seinem Wissen, Wollen und K¨onnen zu ,formen‘ w¨are. Es bedarf keiner Ausmalung utopischer Bilder vom vollkommenen Leben und keiner darauf gerichteten Sollenss¨atze, um das p¨adagogisch Bessere in die Wege zu leiten. Die Verneinung der festgestellten Unfreiheit [. . . ] ist selber schon die Er¨offnung des Besseren. Die Kritik an Vernunftbeschr¨ankungen setzt die M¨oglichkeit einer besseren Erziehung und eines besseren Lebens frei.“ 25 Diese erziehungs- und bildungstheoretischen Reflexionen kollidieren mit der Verpflichtung der daraus sich ableitenden P¨adagogik auf praktisches Han20

Marx 1845, 372. S. o., Mollenhauer 1964b, 74. 22 Anstatt sich darauf zu beschr¨anken, dies als eigene Aufgabe anzusehen und abzuwarten, ob die j¨ungere Generation sich dem anschließt. Vgl. Schleiermacher 1826, 9. 23 Benner 2000, 36. 24 Ebd., 35. 25 Ruhloff 1980, 112f. 21

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deln. Nur einige der ungel¨osten Probleme sollen hier angesprochen werden, auf die die Erziehungswissenschaft bei der Transformation einer kritischen Theorie der Erziehung und Bildung in eine Praxistheorie st¨oßt: – Negation von Zwang: Wenn schon versucht wird, die Autorit¨at des Erziehenden oder Lehrers zur bloßen Sachautorit¨at zur¨uckzunehmen, welche Autorit¨at kommt dann dem Korpus gesellschaftlichen Wissens zu? Sich es anzueignen, bedeutet immer ein hohes Maß an unlustvoller Arbeit – wie soll emanzipatorische Erziehung die Aufgabe l¨osen, solche Repressionserfahrungen zu vermitteln? – M¨undigkeit unter entwicklungspsychologischer Perspektive: Wie viel Bindungserfahrungen sind zuvor n¨otig, um die F¨ahigkeit zu selbstbestimmtem Handeln zu erm¨oglichen? Sicher gilt in jedem p¨adagogischen Verh¨altnis, dass nur,„wenn der Erzieher die – noch nicht vorhandene – Selbstst¨andigkeit des anderen unterstellt, [. . . ] dieser die Chance [hat], auch selbstst¨andig zu werden“. 26 Wie aber verh¨alt sich dieses Postulat zu der entwicklungspsychologischen Tatsache der zeitweiligen Angewiesenheit auf das Vorbild? Welchen Gebrauch d¨urfen und m¨ussen P¨adagogen von ihrem Wissens- und Erfahrungsvorsprung machen? – Affirmation versus Negation: Wie kann der Auftrag umgesetzt werden, den jede P¨adagogik hat, auf ein erfolgreiches Leben in der Gesellschaft vorzubereiten und in seine Spielregeln einzuf u¨ hren, wenn sie doch kritische Distanz an die oberste Stelle setzt? Enth¨alt ihr Postulat, dieser Widerspruch sei vom je Einzelnen in Gestalt einer reflektierten Vermittlungsleistung zu l¨osen, nicht einen uneingestanden elit¨aren Anspruch? Auf den ersten Blick k¨onnte man meinen, dass diese ungekl¨arten Fragen eher auf Modifikationen als auf eine Revision des Ansatzes kritischer P¨adagogik hinauslaufen, indem zum Beispiel entwicklungspsychologische Elemente in die Theorie integriert werden. Diesen Weg der Integration der Erfahrungswissenschaften hat die kritische P¨adagogik selten beschritten und sich trotz aller antib¨urgerlichen Affekte eher auf theoretische Voraussetzungen bezogen, die an fr¨uhe Formulierungen des Bildungsgedankens im 18. Jahrhundert ankn¨upfen. Dieses Bildungsdenken des gerade erst sich konstituierenden B¨urgertums wird nun, rund 200 Jahre sp¨ater, zwar mit gesellschaftstheoretischen Begriffen u¨ berschrieben, aber in zentralen Grundannahmen wieder aufgegriffen. So sehr sich diese kritische P¨adagogik als Neubeginn begreift und dies unter anderem auch dadurch ins Werk setzt, dass sie ihre entscheidenden Impulse aus der Gesellschaftstheorie anstatt, wie zuvor, aus den Geisteswissenschaften ableitet, so un¨ubersehbar ist doch die Problemlast, die sie aus der 26

Fend 1977, 98.

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Geschichte des Bildungsdenkens u¨ bernimmt. Einerseits wird der Bildungsbegriff von ihr als zu individualistisch und vermeintliche „Bildungsg¨uter“ bloß konservierend zur¨uckgewiesen, andererseits kn¨upft die Haltung, Zielvorgaben im Wesentlichen negativ zu bestimmen, an die Maxime des 18. Jahrhunderts an, Selbstbestimmung zum Mittelpunkt aller Bildungsbem¨uhungen zu erheben. Dies erfordert den Verzicht darauf, vorweg inhaltlich dem Einzelnen zu verordnen, wie und was er zu sein habe. Das Individuum wird als unhintergehbares, letztbegr¨undendes Subjekt begriffen; als dieses konstituiert es sich u¨ ber Leistungen seiner Vernunft, die vor allem als F¨ahigkeit zu kritischer Reflexion ausgelegt werden. Wie zeitgebunden diese Auslegung des Subjektbegriffs ist, wurde erst auf einem langen und m¨uhevollen Wege der Selbstkritik der Vernunft deutlich, der im Durchgang durch eine erneute Lekt¨ure der Schriften von Nietzsche und Freud, von Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufkl¨arung“ und Foucaults Machtanalytik die Selbstillusionierungen und Selbst¨uberforderungen begreiflich machte, an denen das Konzept der Emanzipationsp¨adagogik zerbrach. Freilich bedurfte es nicht des Umwegs u¨ ber diese „großen Theorien“, um die Erfahrungen der Linken mit „Autonomie als Selbstzerst¨orung“ formulierbar zu machen. 27 Nach einer Skizze der bildungstheoretischen Traditionslinien (II), die auf die Voraussetzungsabh¨angigkeit der kritischen P¨adagogik der 60er und 70er Jahre hinweisen, sollen auf dieser Basis die Bedingungen ihres Scheiterns beleuchtet werden (III).

II Aspekte des Bildungsbegriffs Das von Hegel sp¨ater etwas absch¨atzig so genannte „Reich der Bildung“ begreift sich im 18. Jahrhundert als Gegenwelt zur prek¨aren gesellschaftlichen Realit¨at. 28 Es l¨asst sich als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, als Anspruch auf Selbstsch¨opfung verstehen, aber auch als Kompensation, bloßer Ersatz f u¨ r das Scheitern der politischen Ambitionen des B¨urgertums, der Hoffnungen auf gesellschaftliche Verbesserungen und als Reaktion auf Krisenerfahrungen im Umkreis der Franz¨osischen Revolution. 29 Bildungserfahrungen werden zur Kompensation f u¨ r realen Einfluss,Individualit¨at zum einzigen „Besitz“ angesichts sozialer Unsicherheit. Mehr noch: Die Ausbildung der eigenen Anlagen und die Vervollkommnung der eigenen Pers¨onlichkeit werden mit der Aura des Vornehmen umgeben, Geistigkeit wird zur Gegeninstanz zu sozialer Macht. 27

Zur Lippe 1975. Hegel 1807, 327. Vgl. auch ebd., 384: „Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung.“ 29 Als Spezifikum deutscher Geschichte beschreibt Heydorn (1970) diesen Umschlag von Selbstsch¨opfung in Ersatzhandlung und Bildung als seinen Austragungsort. 28

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Die bereits angesprochene Abstinenz bez¨uglich ausformulierter Zielsetzungen a¨ ußert sich im Bildungsdenken des 18. Jahrhunderts in Form von eher formalen, inhaltlich aber offenen Bestimmungen. In seinem aufschlussreichen und wenig rezipierten Buch „Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips“ 30 erl¨autert Hans Weil dies anhand der zwei Grundannahmen, die er fu¨ r die Phase der Entstehung des b¨urgerlichen Bildungsdenkens im 18. Jahrhundert herausarbeitet: „Sich zum Bilde machen“ in Gestalt der selbstbewirkten harmonischen Formung der eigenen Seele und die „Ausbildung der gegebenen Anlagen“ zu voller Bl¨ute oder Frucht. 31 Formal bleiben diese, einander durchaus verwandten Ziele, indem sie lediglich besagen, „dass der Mensch an sich selbst gewissenhaft zu wirken habe, dass er Kr¨afte zu einer individuellen Vollendung nutzen solle, sie sagen ihm aber nichts dar¨uber, wie nun seine Vollendung, seine ihm vorgegebene oder ihm aufgegebene ,Bl¨ute’ sei oder sein wird, geben ihm, [. . . ] um im Bilde zu bleiben, [. . . ] keine Anweisung dar¨uber, wie sich die Funktion des G¨artners, des Bildners zu gestalten habe.“ 32 „Individuelle Vollendung“ nimmt hier den Charakter einsamer Selbststeigerung an, der Bildung in der heroischen Phase des sich vom Feudalismus emanzipierenden B¨urgertums kennzeichnet. Der „Gebildete“ glaubt „sich aus der auf Machtverh¨altnissen beruhenden politisch-gesellschaftlichen Rangordnung herausgehoben und eingegliedert in eine andere mit der politischen konkurrierende geistig-soziale Rangordnung.“ 33 Diese Stellung legt nahe, sich u¨ ber eine Reihe von Entgegensetzungen zu definieren: Von der Rousseauschen Unvereinbarkeitserkl¨arung „Mensch“ versus „B¨urger“ u¨ ber Herders Abgrenzung von Seele, Gefu¨ hl, Intuition gegen den „Geist der Mechanik“ zur facettenreichen Pflanzenmetaphorik, der zufolge Bildung Ausformung nat¨urlicher Keime, Wachstum, Bl¨ute, Frucht bedeutet, im Gegensatz zur Gesellschaft als „kunstreichem Uhrwerk“, wie Schiller formuliert. 34 Das „Reich der Bildung“ konstituiert sich u¨ ber die Gegen¨uberstellung innerer Form und ver¨außerlichter Weltlichkeit. Dieser Dualismus beerbt in seinen eindeutig negativen Bewertungen des Pols der Weltlichkeit christliche ¨ Vorstellungen; insbesondere die pietistische Uberzeugung, dass Gott u¨ ber in¨ nerliche Gef u¨ hlbeziehungen erfahrbar wird, bedeutet, dass alles Außere mit den Attributen des Unwahren und Falschen versehen wird. 30

Weil 1930/1967, 132. Zur Metaphorik des fr¨uhen Bildungsbegriffs vgl. auch Schaarschmidt (1931/1965) 32 Weil 1930/1967, 132. Formal ist dieses Bildungsideal in Bezug auf das Ziel, n¨amlich Individuierungsprozesse zu unterst¨utzen, es enth¨alt jedoch keine Entscheidung u¨ ber die Mittel dazu, wie ¨ sie unter der Uberschrift „formale“ vs. „materiale“ Bildung diskutiert werden. Diese letztere Unterscheidung soll im Folgenden keine Rolle spielen. Vergegenw¨artigt man sich, dass das Individuum – mit W. v. Humboldt zu sprechen – sich dar¨uber entwickelt, dass es sich soviel „Welt“ als m¨oglich aneignet, so wird deutlich, dass es bei der Alternative „formal vs. material“ allenfalls um Gewichtungen gehen kann. 33 Weil 1930/1967, 9. 34 Schiller 1795, 584. 31

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Insofern wird „Kritik“ zum zentralen Medium der Selbstverst¨andigung. Sie ist einerseits die programmatische Verfahrensweise der Aufkl¨arung, Geltungsanspr¨uche einer methodischen Pr¨ufung zu unterziehen, und den „Richterstuhl der Vernunft“ (Kant) an die Stelle zu setzen, wo vorher der Thron von Tradition, Sitte, Gewohnheit und anderen Majest¨aten stand. In diesem Sinne ist Kritik nicht selbst Partei, sondern pr¨uft die Voraussetzungen jeder m¨oglichen Parteinahme, wie Kant exemplarisch in den drei Kritiken vorfu¨ hrt. „Der kritische ersetzt den dogmatischen Gebrauch der Vernunft und die diesem eigene polemische Abfertigung der Gegner.“ 35 Aber diese andere Bedeutung der Kritik: aufzudecken, zu entlarven, sich abzugrenzen, zu werten ist ein ebenso zentrales Moment des Aufkl¨arungsdenkens. Dies a¨ ußert sich in einer erheblichen Wucht, mit der sich die Kritik der Gebildeten an ihrer Zeit artikuliert. Das Anliegen individueller Vollendung sieht sich von einer Vielzahl einschr¨ankender Umst¨ande umstellt; „Emp¨orung“ nennt Hegel die Emotion, die Bildungsaspirationen vor allem kennzeichnet. Schiller formuliert dies als Entfremdungskritik: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchst¨uck des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchst¨uck aus,ewig nur das eint¨onige Ger¨ausch des Rades,das er umtreibt,im Ohr, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszupr¨agen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Gesch¨afts, seiner Wissenschaft.“ 36 In dieser Funktion, das Defizit¨are zu benennen, ist Kritik im 18. Jahrhundert aufs Engste verwoben mit dem Anspruch auf Bildung, und erm¨oglicht die Vorstellung eines „Reichs der Bildung“ als Gegendimension zur gesellschaftlichen Realit¨at. In dieser Spielart ist der Begriff der Kritik nicht weniger folgenreich f u¨ r den sich zu diesem Zeitpunkt entwickelnden Subjektbegriff als das Kantische Kritikverst¨andnis. Aber nicht nur das kulturelle Selbstverst¨andnis der aufkl¨arerischen Bildungselite des 18. Jahrhunderts definiert sich u¨ ber diesen Begriff, in dieser prominenten Stellung kehrt der Kritikbegriff in den Emanzipationspostulaten des 19. und 20. Jahrhunderts wieder und radikalisiert sich nun zum Anspruch auf Umgestaltung der Praxis. Dass Bildungsprozesse deren Voraussetzung sind, wird zum wiederkehrenden Topos. Anspruch auf Entfaltung individueller Anlagen erweist sich als durchaus im Einklang mit Vorstellungen sozialer Gleichheit. Gerade die Pflanzenmetaphorik soll andeuten: diese Vorstellungen von Sch¨onheit und Harmonie k¨onnen von jedem verwirklicht werden, in dieser Hinsicht gibt es keine „Begabten“ und „Unbegabten“. Und doch ist dies eine von jedem selbst in weitgehender Einsamkeit zu l¨osende Aufgabe: „Das Individuum ist auch hier v¨ollig auf sich selbst gestellt“ 37 , kommentiert Weil und kn¨upft daran das Gedankenexperi35

Holzhey 1976, 1269. Schiller 1795, 584. 37 Weil 1930/1967, 41. 36

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ment, was sich a¨ ndern w¨urde, h¨atten die fr¨uhen Wortfu¨ hrer des Bildungsbegriffs statt der „vegetabilistischen Analogie“ eine dem Tierreich entstammende Metaphorik verwendet. 38 In diesem Falle h¨atte auch das soziale Umfeld als positive Bezugsgr¨oße und nicht nur als einschr¨ankende Bedingung in den Blick geraten k¨onnen. Denn unter dieser Perspektive tritt das Individuum als aktiv handelnd auf, es konkurriert oder verb¨undet sich, seine sozialen Beziehungen werden als Aufgabe formulierbar. Diese ganze Dimension bleibt ausgeschlossen aus dem Bildungsverst¨andnis jener Zeit, aber auf lange Sicht auch aus der sp¨ateren bildungstheoretischen Reflexion. Bev¨olkert wird der imagin¨are Raum dieses Bildungssubjekts von Gestalten, die weniger phantasierte Gespr¨achspartner als Objekte derVerehrung sind.Der antike Mensch sei zugleich „voll Form und F¨ulle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch“ und so „die Jugend der Phantasie mit der M¨annlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit“ vereinigend. 39 Jedoch geht die geradezu rituelle Anrufung antiker Gr¨oße kaum mit der Illusion einher, diese Welt ließe sich noch einmal wiederbeleben; sie dient eher zur Pr¨azisierung der Kritik an der Gegenwart. Vor allem aber erm¨oglicht sie einen festen Bezugspunkt fu¨ r deren Beurteilung. Es geht nicht um eine „teleologische Konstruktion“ 40 , etwa in dem Sinne, aus der Besch¨aftigung mit der antiken Kultur ein normatives Menschenbild abzuleiten, auf das Bildungsanstrengungen hinzuwirken sollen, betont Weil zumindest mit Blick auf Wilhelm von Humboldt. Vielmehr k¨onne die Besch¨aftigung mit der Antike, die dabei quasi nur als Folie dient, dazu verhelfen, sich selbst genauer zu begreifen. Sozusagen u¨ ber eine R¨uckprojektion eigener Erfahrungen auf die Antike wird kulturelle Identit¨at erm¨oglicht und damit ein relativ sicherer Ausgangspunkt f u¨ r einen kritischen Bezug auf die eigene Gegenwart.

III Standortbestimmungen kritischer Vernunft In Gestalt der Ankn¨upfung an die Antike versichert sich die b¨urgerliche Schicht der Gebildeten eines u¨ berzeitlichen Vernunftanspruchs, der auch durch die a¨ sthetische Dimension gespeist wird und sich in einem reichen Gewebe hochkultureller Hervorbringungen zu einer Art Gegenwelt verdichtet. Deren Manifestationen k¨onnen in der klassischen Phase des Bildungsdenkens – zwar immer wieder mit zeitlichen Verz¨ogerung, vielen Schwierigkeiten und oft erst im Nachhinein – dennoch auf prinzipielle Anerkennung rechnen. Auch als Gegenwelt und kritisches Korrektiv bleibt die Schicht der „Gebildeten“ als K¨unstler, Intellektuelle oder als Rezipienten von Kunst und Wissenschaft Teil der Emanzipationsbewegung des B¨urgertums. 38

Ebd., 43. Schiller 1795, 582. 40 Weil 1930/1967, 142. 39

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Es f¨allt dagegen sehr viel schwerer, den Ort der kritischen Intelligenz zu bestimmen, der die Protagonisten der kritischen P¨adagogik im 20. Jahrhundert zugeh¨oren. Noch einmal in Erinnerung gerufen werden muss, dass es ihr ja nicht lediglich um Emanzipation im Sinne der Erweiterung der Spielr¨aume des Einzelnen ging, was noch in der Tradition der SelbstvervollkommnungsIdeen des fr¨uhen B¨urgertums st¨unde; sondern dieses Durchschauen der systematischen Behinderung individueller Selbstverwirklichung soll in den Willen zu gesellschaftlicher Ver¨anderung m¨unden. „Bildung“ steht in weiten Kreisen in den siebziger Jahren als zu individualistisch u¨ berhaupt unter Ideologieverdacht; unschwer ließe sich zeigen, dass in vielen Verwendungszusammenh¨angen „Kritik“ zum Ersatzbegriff f u¨ r „Bildung“ wird, in scharfer Abgrenzung gegen das Bildungsverst¨andnis der ersten Jahrhunderth¨alfte des 20. Jahrhunderts, das nur mehr einer „Bildung zur Pers¨onlichkeit“ das Wort geredet hatte. 41 Auch und vielleicht gerade im Rahmen dieser Transformationsprozesse erweist sich jedoch der Anspruch der Kritik, nicht nur (falsche) Praxis zu ¨ interpretieren, sondern zu ver¨andern, als eine Uberforderung der Akteure. Denn Kritik und mehr noch Ver¨anderungsbereitschaft brauchen einen Ort, von dem aus sie Gestalt annehmen, einen gesicherten Ausgangspunkt. Diesen Ort soll die eigene Vern¨unftigkeit abgeben, die sich darin beweist, dass sie die sie umgebenden Vorurteile, Unterdr¨uckungsverh¨altnisse, Ideologien als falsch durchschaut und u¨ ber den Unterschied von richtigen und falschen Bed¨urfnissen, richtigem und falschem Bewusstsein aufzukl¨aren vermag. Ganz wesentlich f u¨ r diesen Vernunftanspruch ist, dass der Einzelne im Namen einer objektiv geltenden Vernunft handelt und dass sich eine klare Trennung zwischen der Innenwelt des kritischen Bewusstseins und der Außenwelt kritikw¨urdiger Zust¨ande aufrecht erhalten l¨asst: Falsch sind die gesellschaftlichen Verh¨altnisse, ist die Ungleichheit der Verteilung sozialer Chancen, die Ausbeutung der Arbeitskraft,die massenkulturell erzeugten Bed¨urfnisse,die wachsende Kluft zwischen der Armut der Dritten und dem Reichtum der Ersten Welt. Das Bewusstsein desjenigen, der dies durchschaut, soll sich u¨ ber die Negation all dessen konstituieren und erhalten, bleibt aber ohne positiv bestimmbaren eigenen Ort. Emanzipiert werden immer die anderen. Diese Position l¨asst sich auf Dauer nicht durchhalten. Bevor Ende der 70er Jahre das großangelegte Projekt einer postmodernen „Aufkl¨arung der Aufkl¨arung“ und der Selbstkritik der Vernunft Gestalt annimmt, das zu einer ¨ Uberpr¨ ufung der Leitvorstellungen und „großen Erz¨ahlungen“ der Moderne f u¨ hrt, 42 durchleidet die Linke die Erfahrung, dass ihre ja durchaus richtigen gesellschaftlichen Analysen, ihre „richtige Qualifikation und Lokalisierung der wichtigsten Widerspr¨uche zu einer Unterordnung konkreter Interessenzusam41 42

Ebd., III/IV. Auf das Ende der siebziger Jahre wird dieser Umbruch datiert, weil hier Lyotards „Das postmoderne Wissen“ (1976) erscheint, das zu diesem sehr fr¨uhen Zeitpunkt bereits zu Protokoll gibt, wie sich der Vernunftbegriff unter dem Einfluss neuer Technologien ver¨andert.

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menh¨ange f u¨ hrt“, 43 n¨amlich – auch – ihrer eigenen. Diese Bereitschaft, eigene Interessen, Bed¨urfnisse und Dispositionen unaufgekl¨art zu lassen, kann als Folge des skizzierten prek¨aren Status der Kritik gelesen werden: Die Unbestimmtheit des eigenen Ausgangspunkts f u¨ hrt zur Einklammerung des eigenen Selbst; dies aber wirkt sich unmittelbar zerst¨orerisch auf den eigenen Vernunftanspruch aus. Zwischenspiel Dieses Scheitern des Vernunftanspruchs unterzieht Rudolf zur Lippe einer Analyse, die zugleich eine Innenansicht des Zerfalls der Studentenbewegung darbietet. In seinem Aufsatz „Objektiver Faktor Subjektivit¨at“ (1974) schildert er zun¨achst Versuche der kritischen Intellektuellen, sich mit den Arbeitern zu verb¨unden und deren Interessen zu artikulieren. Dies st¨oßt jedoch auf deren Sorge, tats¨achlich vorhandene kleine Spielr¨aume „mit Verbalradikalismus zu vertun.“ 44 Den Studenten ist es nicht m¨oglich zu entscheiden, ob diese Anpas¨ sung „irrational ist oder rational im Interesse des realen Uberlebens unter den 45 gegebenen Verh¨altnissen“ , sie neigen dazu, diese Haltung zu kritisieren, anstatt auf die darin zum Ausdruck kommende Angst einzugehen. Ebenso wenig ¨ ist es ihnen aber m¨oglich, die eigenen Angste einzugestehen, die, ausgehend von der Pr¨amisse: „Vor allem muss man besser sein wollen, egal wozu und gegen wen“ 46 , sich in dem Satz zusammen fassen lassen: Die „Angst davor, schlechter zu sein, isoliert zu werden, darf man nicht zeigen.“ 47 So kommt auch noch die Angst hinzu, den eigenen Selbstbetrug zu entdecken. Es gelingt den Studenten zwar, neue Verkehrsformen in Gestalt politischer Aktionen oder neuer Wohnformen zu etablieren,kaum aber,im „Wechselgesch¨aft von Denken, Lesen und Reden“ zu neuen Verhaltensweisen sich und anderen gegen¨uber zu gelangen. 48 Die dies versuchen, stellen fest, dass sie sich damit in doppelter Hinsicht ins Abseits begeben: In den Augen der Gesellschaft und zugleich im Urteil der Meinungsfu¨ hrer der eigenen Gruppierungen. Zur Lippe beschreibt, wie er und zwei andere Studenten, die schon seit einiger Zeit einer „Stadtteilgruppe“ angeh¨oren, um „wenigstens u¨ ber etwas Konkretes zu reden“, zu einer Diskussion mit Bauarbeitern u¨ ber den Vietnam-Krieg aufbrechen: „Als wir zu dritt zu der Baustelle unterwegs waren, wurde uns klar, dass wir bestimmen mussten, mit welcher Identit¨at wir die Diskussion eigentlich f u¨ hren wollten. Bei dieser Vorbereitung auf eine bestimmte politische Arbeit erfuhren wir zum ersten Mal voneinander, welche Examens¨angste und Berufsvorstellungen zwei von uns neben der aktuellen Arbeit der Gruppe besch¨aftigten und wie der 43

Negt/Kluge 1972, 156. Zur Lippe 1974, 222. 45 Ebd. 46 Ebd., 226. 47 Ebd., 227. 48 Ebd., 228. 44

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dritte seine Ablehnung solcher Vorstellungen begr¨undete. Aber der gute Anfang unter uns riss genauso wieder ab wie der Kontakt zu den Arbeitern.“ 49 Konkrete Interessen werden entweder verschwiegen oder en passant eingestanden, die proklamierte Emanzipation u¨ berspringt aber immer wieder die Ebene des eigenen allt¨aglichen Lebens. Diese „Exkommunikation“ (Lorenzer) des Privaten wiederholt sich selbst noch im Zusammenleben in den neu etablierten Wohngemeinschaften. Zwar wird es m¨oglich,„in viel weniger Situationen [. . . ] den St¨arkeren zu spielen, wenigstens grunds¨atzlich werden mehr Bed¨urfnisse als sinnvoll verstanden und man darf o¨ fter von ihnen sprechen; solidarische Kritik ist m¨oglich geworden [. . . ]. Aber quantitativ reicht es eigentlich nicht aus, um durchzuhalten.“ 50 Alles in allem h¨alt sich die Alternative von „intim“ versus „¨offentlich“ durch, die Wohngemeinschaft wird zu einer Art o¨ ffentlichem Raum, in dem distanziertes Verhalten den besten Schutz bietet, und erst in der Intimit¨at der Zweierbeziehung wird u¨ ber die wirklich wichtigen Fragen gesprochen. Dies verf u¨ hrt die Paare dazu, „einfach das Durcheinander ihrer privaten W¨unsche, Vorstel¨ lungen, Angste und Meinungen ineinander zu sch¨utten.“ 51 Damit entsteht die Angst vor Identit¨atsverlust, „man muss sich wieder abgrenzen, um noch zu wissen, dass man jemand ist, und wer man ist. Wegen der Undurchsichtigkeit der eigenen inneren Verh¨altnisse und ihrer Zusammenh¨ange mit Beziehungen zu anderen grenzt man sich zuverl¨assiger gegen den anderen als in der Sache ab. Wieder triumphieren die alten Regeln: sich keine Bl¨oße durch inhaltliche Vorstellungen oder konkrete Anspr¨uche geben. [. . . ] Gemeinsam verarbeiten kann man diese gemeinsame, aber antagonistisch erlebte Situation nicht mehr.“ 52 Gerne m¨ochte man sich angesichts solcher automatisch sich reproduzierenden Verhaltensmuster auf die Einsicht, so sei der Mensch, zur¨uckziehen; zur Lippe benennt hingegen identifizierbare Gr¨unde f u¨ r das geschilderte Misslingen. Da ist zum einen der prek¨are Status des Individuums, das sich in erster Linie sch¨utzen muss: „sich keine Bl¨oße geben.“ Diese Verhaltensnotwendig¨ keit beherrscht in seiner Schilderung die Abl¨aufe in der „Offentlichkeit“ und kehrt auf der „privaten“ Ebene wieder. Die Beibehaltung der Trennung von „privat“ und „¨offentlich“ bewirkt, dass jede der beiden Sph¨aren als R¨uckzugsund Entlastungsraum gegen¨uber der anderen dient. Dadurch stabilisieren sie sich gegenseitig und f u¨ hren zur Entstehung automatisch sich reproduzierender Kommunikationsmuster. Zuflucht bieten die alles begleitenden Wertungen in den Kategorien von moralischem Falsch und Richtig, die aber ebenso Angst ausl¨osend sind wie die Emotionalisierung der privaten Sph¨are. Kritik wird zum 49 50 51 52

Ebd., 229f. Ebd., 232. Ebd. Ebd., 233 (Hervorhebung zur Lippe).

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wichtigsten Artikulationsmedium, da sie als Stabilisierung der isolierten und in Selbstbehauptungsk¨ampfe verwickelten Individualit¨at fungiert. Zur Lippe ¨ schließt daran die Uberlegung an, ob nicht schon ein gemeinsames Handeln außerhalb des R¨uckzugsorts der zweisamen Intimit¨at demgegen¨uber einen gemeinsamen Bezugspunkt bedeuten w¨urde. Es geht ihm um die Schaffung von Orten m¨oglicher Gegenerfahrungen, die einen Bezugspunkt jenseits des circulus vitiosus aus Kritik, Angst, R¨uckzug und Isolation er¨offnen.

IV R¨ucknahmen Es waren solche Erfahrungen, die die Hoffnung auf Emanzipation durch Entfaltung von Rationalit¨at und auf Gesellschaftsver¨anderung durch Entwicklung von kritischem Bewusstsein d¨ampften. F¨ur den Teilbereich der P¨adagogik kam jedoch noch hinzu, dass quasi u¨ ber Nacht staatlicherseits ein Reformprojekt beendet wurde,in das von 1967 bis 1973 u¨ beraus viele Energien und Forschungsgelder investiert worden waren: das Projekt einer großen Bildungsreform als Umbau des Schul- und Hochschulsystems. W¨ahrend der vorangegangene Abschnitt einen Blick auf die innere Dynamik des Scheiterns von Ver¨anderungen erlaubt, geht es in diesem Fall um Makrostrukturen: um Gesellschaftsreform u¨ ber Strukturreformen des Bildungssystems. Der Deutsche Bildungsrat wird 1975 aufgel¨ost, aber schon die letzten Publikationen, die dem Band „Verst¨arkte Selbst¨andigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Sch¨uler und Eltern“ (1973) folgten, galten nicht mehr als „Empfehlung“, sondern nur noch als „Bericht“, da die Umsetzung als nicht finanzierbar galt. 53 Zedler konstatiert jedoch r¨uckblickend, dass Disziplinen, die mit der Erziehungswissenschaft eine Reihe theoretischer Paradigmen teilen, wie etwa die Sozialwissenschaft, auch ohne solche staatliche Intervention Mitte bis Ende der siebziger Jahre eine a¨ hnliche R¨ucknahme von Reformvorstellungen verzeichnen und Brunkhorst mutmaßt, dass zu den „endogenen Ursachen solcher Zerfallstendenzen [. . . ] sicher auch die innere Schw¨ache des emanzipatorischkritischen Paradigmas [geh¨orte], das von Anfang an Psychoanalyse, Diskurstheorie, Interaktionismus, Rollentheorie und vieles andere bunt und fast schon zu Beginn postmodern in sich vereint hatte, ohne es in sich aufzuheben und zu etwas wirklich Neuem zu integrieren.“ 54 Die theoretischen Neubesinnungen a¨hneln sich u¨ ber die F¨achergrenzen hinweg: sie alle verlagern den Fokus von den gesellschaftlichen Einflussfaktoren hin zu den subjektiven Bedingungen des Handelns. Auch in den sozial53

Vgl. Spies 1984. Schon ab 1970, d. h. seit dem „Strukturplan f u¨ r das Bildungswesen“, der das „Lernen des Lernens“, „Praktisches Lernen“, „Soziales Lernen“ und das Prinzip der „Mitwirkung im Bildungswesen“ forderte (Bildungsrat 1970, 33–39), war jedoch der „Ansatz f u¨ r die Vernichtung des Bildungsrates [. . . ] in einer Protokollnotiz zum Abkommen u¨ ber die Bund-L¨ander-Kommission 1970 gegeben“ (Spies 1984, 461). 54 Brunkhorst 1990, 150.

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wissenschaftlichen Nachbardisziplinen finden sich – und zwar sogar drei bis vier Jahre fr¨uher als in der Erziehungswissenschaft – „praktisch s¨amtliche der Themen und Tendenzen, die die aktuelle erziehungswissenschaftliche Theorieszene kennzeichnen“, schreibt Zedler Anfang der achtziger Jahre. 55 Als u¨ bergreifende Rahmenthemen nennt er Alltagshandeln und Handlungsforschung, subjektive Theorien, Biographie und Lebenslauf sowie Theorien der Moralentwicklung; das heißt theoretische Orientierungen, die auf die Aufkl¨arung von Handlungsproblemen in konkreten Praxisfeldern gerichtet sind und die auch heute, gut zwanzig Jahre sp¨ater, nicht ihre forschungspraktische Relevanz eingeb¨ußt haben. Viel spricht daf u¨ r, dass die Gr¨unde f u¨ r diese theoretischen Neuorientierungen mit Desillusionierungen bez¨uglich der Praxiswirkungen kritischer Theorien zusammenh¨angen. Festgehalten werden muss jedoch zugleich, dass diese Spielarten der Alltagsorientierung die kritischen Intentionen der vorangegangenen Phase nicht radikal aufk¨undigen, sondern ihnen eine konstruktive Wendung zu geben versuchen. 56 Ging es zuvor um die ¨ Identifikation m¨undigkeitsverhindernder Bedingungen in Okonomie und Gesellschaft, so hat sich jetzt der Fokus auf die subjektiven Verarbeitungsformen solcher Realit¨aten verlagert, flankiert von einer radikalen Selbstkritik der Vernunft, die ihre eigene Komplizenschaft mit Macht und Herrschaft analysiert. Diese Selbstreflexion, deren Methodik Foucault einmal als „W¨uhlarbeit unter den eigenen F¨ußen“ bezeichnet, 57 f¨ordert vor allem zwei große Desillusionierungen zu Tage: Es gibt weder die eine, fu¨ r alle g¨ultige Rationalit¨at als Ausdruck einer objektiven Vernunft, noch hat das Vernunftsubjekt der Philosophen Erkl¨arungswert f u¨ r das Verst¨andnis des Menschen. Mit der Entdeckung der konstitutiven Selbstverborgenheit eines jeden Einzelnen bez¨uglich der eigenen Antriebe und Motive wird auch der Standpunkt der Kritik in Frage gestellt. An die Stelle der Gesellschaftskritik tritt die Frage nach den Geltungsanspr¨uchen kritischer Haltungen: „Diese Reflexivit¨at impliziert die Relativierung der eigenen Perspektive als individueller im Bewusstsein darum, dass es eine allgemeinverbindliche nicht geben kann und dass damit auch die Perspektiven anderer als gleichberechtigt anzuerkennen sind.“ 58 Damit verliert Gesellschaftskritik buchst¨ablich den Boden unter den F¨ußen, an ihre Stelle tritt eine radikale Skepsis als Aufdeckung der systematischen Illusionen, die die Moderne durchziehen. 59 So, wie die Rezeption der Marxschen Analysen die „Emanzipationsp¨adagogik“ der sechziger und siebziger Jahre geleitet 55

Zedler 1982, 274. Eine eingehende Reflexion dieses Wechsels von der kritischen zu einer konstruktiv-pragmatischen Perspektive findet sich bei Keckeisen 1984, 247ff. 57 Foucault 1978, 12, 18. 58 Sch¨afer 1997, 35. 59 Eine Selbstkritik mit dem Ziel, die Voraussetzungen von Kritik systematisch in Zweifel zu ziehen, verwickelt sich nur dann in unl¨osbare Widerspr¨uche, wenn diese Metakritik dogmatisch, das heißt Kritik nicht zug¨anglich ist. 56

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hat, werden nun Nietzsche und Freud, vor allem aber deren Spiegelungen im franz¨osischen Dekonstruktivismus, 60 zu Stichwortgebern einer Durchmusterung der Leitvorstellungen der Moderne, wo sie von p¨adagogischer Relevanz sind: Vernunft, Rationalit¨at, M¨undigkeit, Selbstbestimmung. Erhellend ist hier insbesondere das Schicksal des Begriffs der Selbstbestimmung als Kern aller bildungstheoretischen Reflexion seit dem 18. Jahrhundert. Ihm verwandt sind Vorstellungen von Autonomie und M¨undigkeit, hinzu kommt ein Hof a¨ hnlicher Begriffsbildungen, als da w¨aren: Selbst- und Eigenst¨andigkeit, Selbstverantwortung, Selbststeuerung und Selbstregulation. 61 Nur scheinbar ist damit Vergleichbares angesprochen: W¨ahrend die meisten der Begriffe an Denktraditionen der Selbstgesetzgebung ankn¨upfen,geht es bei den Begriffen der Selbststeuerung und Selbstregulation um nur mehr funktionale Bestimmungen, n¨amlich die F¨ahigkeit zur m¨oglichst selbstst¨andigen Erledigung von in der Regel eher fremdgesetzten Aufgaben – die selbstbestimmte Entscheidung, ob man diese Aufgabe u¨ berhaupt erledigen will, ist damit nicht angesprochen, allenfalls gibt es Auswahlm¨oglichkeiten zwischen alternativen Aufgabenstellungen. Die Aussage, dass es sich bei der Ausbildung solcher Kompetenzen einer lediglich operativen Selbst¨andigkeit um erstrebenswerte Schl¨usselqualifikationen handelt, wird von der Erziehungswissenschaft nicht selbst getroffen, sondern ihr von außen vorgegeben, vor allem von den neuen Qualifikationsprofilen des Arbeitsmarkts. An die Stelle der Kritik von solchen Verk¨urzungen tritt die Bereitschaft, sich damit zu arrangieren, beziehungsweise ein „Auseinanderbrechen der Erziehungswissenschaften in Ethik und Hermeneutik auf der einen, Systemtheorie und Funktionalismus auf der anderen Seite“ hinzunehmen. 62 Dieser Desintegrationsprozess tr¨agt Z¨uge der Regression, da die beiden Fraktionen die je andere Seite des komplexen Ph¨anomens aus den Augen verlieren. In weitgehender Unabh¨angigkeit von solchen normativen Formulierungen leitet der Begriff der Selbstbestimmung im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert zugleich die Auseinandersetzung mit den Emanzipationshoffnungen der Vergangenheit als deren kritische Bestandsaufnahme. Die Idee der Selbstbestimmung wird zum Leitfaden, an dem die Geschichte des Scheiterns solcher Hoffnungen bis in die Zeit der Aufkl¨arung zur¨uckverfolgt und kritisch durchleuchtet wird. In den neunziger Jahren heißen Auseinandersetzungen mit dem Bildungsgedanken das „Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion“ 63 und „Abschied von der Aufkl¨arung“ 64 , „Illusionen von Autono60

In der Reihenfolge der H¨aufigkeit werden Foucault, Levinas, Derrida, Lacan als Referenzautoren genannt. 61 Zur „Dekonstruktion“ des Autonomiebegriffs als p¨adagogische Leitvorstellung vgl. MeyerDrawe 1990, 1998, des Begriffs der Selbstbestimmung Sch¨afer 1997, 2005. 62 Brunkhorst 1990, 151. 63 Sch¨afer 1996. 64 Kr¨uger 1990.

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mie“ 65 und „Revision der Moderne“. 66 Als grandiose Selbstt¨auschung der Aufkl¨arungsphilosophie erscheint nun die Vorstellung eines selbstbestimmt handelnden Subjekts, das nicht in fremdem Auftrag handelt, sondern selbst da noch,wo es konform mit den Erwartungen anderer agiert,dies aus eigener Entscheidung tut. Individualit¨at und individuelle Selbstbestimmung f u¨ hren dann nicht zur Beliebigkeit willk¨urlicher Entscheidungen,da Bildung die Teilhabe an einem u¨ bergreifendenVernunftprinzip gew¨ahrleistet.Dies – so die Position der Aufklärung – fordert in Gestalt allgemeing¨ultiger Postulate Geltung: Bildung bedeutet Einsicht in deren Unabdingbarkeit. Dass diese „denknotwendige Verbindung von individueller Selbstbestimmung und vern¨unftiger Humanit¨at“ 67 auf einer Reihe von T¨auschungen beruht, wird von Marx mit dem Nachweis der Klassengebundenheit des jeweiligen Vernunftanspruchs, von Nietzsche mit dem Hinweis auf das undurchdringliche Gemenge von Bed¨urfnissen, Affekten und Gewohnheiten als Grundlage von Entscheidungen, von Freud als Analyse der prek¨aren Kompromissbildungen zwischen gesellschaftlichem Konformit¨atsdruck und Triebimpulsen belegt. Der Widerstreit der Interessen pr¨agt ebenso die Gesellschaft wie auch den psychischen Haushalt des Einzelnen, Konfliktszenarien kennzeichnen nicht nur das Verh¨altnis zur Welt, sondern auch den Umgang mit sich selbst. In beiden F¨allen wird aus Selbstbestimmung in Kategorien des vern¨unftigen Allgemeinen bloße Selbstbehauptung. Wo die Vorstellung eines harmonischen Zusammenspiels der F¨ahigkeiten eines Individuums aufgek¨undigt wird, st¨oßt es auf seine eigene Intransparenz: auf eine „letztliche Unverfu¨ gbarkeit und Unzug¨anglichkeit des eigenen Selbst“, die bewirkt, „dass man [. . . ] u¨ ber das, was man jenseits sozial definierter Positionen ist, nur sehr begrenzt verfu¨ gen kann [. . . ] Man kann sich niemals die eigene ,Pers¨onlichkeit‘ vollst¨andig transparent machen und hat damit auch keine M¨oglichkeit, sich selbst vollst¨andig zu bestimmen.“ 68 Freilich: Im Unterschied zu anderen Lebewesen k¨onnen Menschen dies erkennen, sie k¨onnen es reflektieren, in Rechnung stellen, dadurch jedoch nicht aufheben. Folge ist die Einsicht in die eigene Dezentriertheit und der Zweifel an einem Subjekt, das sich bestimmen l¨asst, wo es meint, selbst zu bestimmen.

V Abschied vom normativen Denken Der Schock angesichts des „semantischen Tr¨ummerhaufens der Geschichte des objektiven Geistes“ 69 ist solchen Diagnosen insofern deutlich abzulesen, als sie nun dazu neigen, die Maßlosigkeit der Autonomie-Postulate einfach auszutauschen gegen die Restlosigkeit der Determinismus-Unterstellungen. Aber 65

Meyer-Drawe 1990. Koch 1993. 67 Sch¨afer 1997, 39. 68 Sch¨afer 2005, 40f. 69 Brunkhorst 1990, 151. 66

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zunehmend taucht in den Texten, die sich der Problemgeschichte des Emanzipationsbegriffs zuordnen lassen, die Denkfigur einer Differenz auf, zwischen deren Polen eine Relation herzustellen vom Einzelnen gefordert ist. So erinnert Meyer-Drawe an die „zwielichtige Doppelnatur des Subjekts“ als „Differenz von Souver¨anit¨at und Unterworfensein“. 70 Unter dieser Voraussetzung k¨onne Selbstbestimmung nur bedeuten, diese Pole einer konstitutiven Spannung anzuerkennen.Nicht jedoch wird davon ausgegangen,dass das,was sie als „Unterworfensein“ bezeichnet, n¨amlich gesellschaftlicher Fremdbestimmung ausgesetzt zu sein, v¨ollig u¨ berfu¨ hrt werden k¨onne in souver¨ane Verf u¨ gung: Nicht mehr gilt der Optimismus eines „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud), sondern die Unhintergehbarkeit der „Spannung von selbstbestimmtem In¨ dividuum und fremdbestimmender Gesellschaft“ 71 . Ahnlich betont Brunkhorst, dass Selbstbestimmung, die von ihm als Zuwachs rationaler Verhaltensm¨oglichkeiten verstanden wird, beides bedeutet: ein Mehr an Freiheit, n¨amlich die M¨oglichkeit, selbst u¨ ber die „Gr¨unde, p zu tun und q zu lassen“, zu verfu¨ gen, 72 zugleich aber auch Determination, da Rationalit¨at ihre eigenen Gesetzlichkeiten und Kausalit¨aten mit sich bringt, denen sich das Individuum unterordnen muss. Und Sch¨afer bestimmt die Aufgabe von Bildung darin, „das Verh¨altnis von individueller Freiheit und subjektiver Selbstbestimmung“ als Verpflichtung auf allgemeinverbindliche Rationalit¨atsstandards „offenzuhalten“. 73 Deutlich ist der h¨ochst formale Charakter aller dieser Bestimmungen, ihre Distanz zu normativen Bestimmungen. So, wie diese bildungstheoretischen Reflexionen Abstand halten zu allen positiven Zielbeschreibungen, bleibt in den Theorien selbst die reflexive Distanzierungsarbeit des Einzelnen als einzige, und zwar negative, Zielbestimmung von Bildung erhalten. Reflexivit¨at erscheint als letztes Residual aufkl¨arerischer Hoffnungen.Gleichwohl bleiben alle diese Versuche, sich den Illusionen humanistischer Vers¨ohnungsvorstellungen zu entwinden, zugleich im Bann des traditionellen Bildungsdenkens, insofern es immer nur ein isoliertes Vernunftsubjekt oder das vereinzelte, in einsame ¨ Reflexionen vertiefte Individuum ist, auf das sich die Uberlegungen richten. Vorstellungen von Intersubjektivit¨at kommen kaum je ins Spiel; 74 dies jedoch entleert die tragenden Begriffe wie den der Rationalit¨at oder den der Kritik. Die Formen der sozialen Konstitution des Selbst, wie sie beispielsweise der Symbolische Interaktionismus zum Thema macht, kommen kaum je ins Bild. W¨ahrend Brumlik bez¨uglich dieser Spielart des amerikanischen Pragmatismus hervorhebt, dass der „alteurop¨aische, mehrere Epochen der Bildungsund Kulturkritik seit Hegel bestimmende Gegensatz von Individuum und 70

Meyer-Drawe 1998, 48. Ebd., 47. 72 Brunkhorst 1990, 152. 73 Sch¨afer 1996, 291. 74 Diese Dimension findet sich am ehesten bei Sch¨afer 2005. 71

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Gesellschaft [. . . ] hier grundbegrifflich unterlaufen“ wird, 75 indem die Verschr¨ankung von individueller Bewusstseinsentwicklung und sozialen Prozessen untersucht wird, bleiben bildungstheoretische Entw¨urfe in der Regel weiterhin dieser Dichotomie verpflichtet. Insofern bleibt der Begriff der Bildung als deutsches Spezifikum gebunden an seine Wurzeln im deutschen Idealismus. Wesentliche Dimensionen von Bildung als u¨ ber den jeweiligen status quo einer Gesellschaft hinaustreibendes Potenzial bleiben dabei unbegriffen, der um seine intersubjektive Seite gebrachte Bildungsbegriff bleibt abstrakt. Konkretisierungen wachsen ihm am ehesten durch wechselnde Inanspruchnahmen f u¨ r Qualifizierungsstrategien zu; dies verfehlt jedoch, wof u¨ r der Begriff der Bildung stand: deren kritische Reflexionsinstanz zu sein. Bildung als kritisches Korrektiv der Gesellschaft – dieser Anspruch verblasst im einen wie im anderen Fall, im Fall der R¨ucknahme auf bloße Reflexivit¨at und im Fall der Transformation in ein Inventar funktionaler Aufgabenbew¨altigung. Im Durchgang durch die hier dargestellten Stationen wurde deutlich, dass ihr im ersten Fall wohl auch eine allzu große Erwartungslast aufgeb¨urdet worden war: Das Subjekt in seiner Kritikf¨ahigkeit und die Gesellschaft in ihrer Ver¨anderungsbed¨urftigkeit wurden gleichsam kurzgeschlossen; dass aus der F¨ahigkeit zur Problematisierung Handlungsf¨ahigkeit entsteht, wurde vorausgesetzt. Erziehungswissenschaft ist eine vergleichsweise junge Disziplin. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts l¨ost sie sich entg¨ultig als Fachwissenschaft aus ihrer Einbettung in Philosophie und Theologie heraus. Das so unendlich m¨achtige, weltkonstitutive Subjekt der Philosophen und der so unendlich ohnm¨achtige, gnadenbed¨urftige Mensch der Theologen – aus diesen Erbschaften ihren Blick auf das Individuum zu befreien ist die P¨adagogik erst noch im Begriff.Legt man Hartmut von Hentigs knapp umrissene Forderung zu Grunde: „Die Menschen st¨arken, die Sachen kl¨aren“, l¨asst sich vielleicht sagen, dass wir schon einiges dar¨uber wissen, wie sich Bildungsprozesse als sachliche Kl¨arungsprozesse gestalten lassen. Aber dar¨uber, wie es geht, die Menschen zu st¨arken, weiß man noch nicht allzu viel. Und das w¨are doch schon genug als gesellschaftliche Aufgabe von Bildung.

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Lebenslanges Lernen: Erfahrungen und Einstellungen der deutschen Bev¨olkerung Ergebnisse einer repr¨asentativen Erhebung christiane schiersmann

1 Entwicklungen der Lern- bzw. Bildungsprozesse Erwachsener 1.1 Fragestellungen Seit den neunziger Jahren vollzieht sich ein tiefgreifender gesellschaftlicher ¨ Strukturwandel, der h¨aufig mit dem Etikett des Ubergangs in eine Lernbzw. Wissensgesellschaft beschrieben wird. Die verst¨arkte Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit neuen Technologien, die Globalisierung der Wirtschaftsaktivit¨aten, die Ver¨anderung von Arbeits- und Betriebsorganisation sowie die Ausdifferenzierung von Erwerbsbiographien und privaten Lebensl¨aufen spielen dabei eine sich wechselseitig beeinflussende zentrale Rolle und wirken sich auf alle Lebensbereiche aus. Hinzu kommt eine zunehmende Beschleunigung von Ver¨anderungsprozessen.Diese Entwicklungen fordern Individuen und Institutionen gleichermaßen zu einer permanenten aktiven Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Wandel heraus. In diesem Kontext erh¨alt lebenslanges Lernen eine neue Bedeutung. Diese l¨asst sich – bei einem Focus auf berufliche Kontexte – schlaglichtartig anhand der folgenden drei Entwicklungstendenzen charakterisieren: • Selbststeuerung von Lernprozessen Die Individualisierung von Berufsbiographien fu¨ hrt zu der Notwendigkeit, je individuelle Kompetenzprofile zu entwickeln. Mit diesen Entwicklungstendenzen steigt zugleich die Verantwortung der Personen fu¨ r die Ausgestaltung dieses Prozesses. In diesem Zusammenhang kommt der Selbststeuerung von Lernprozessen zuk¨unftig eine zentrale Bedeutung zu. Wenngleich der Begriff der Selbststeuerung auch Tendenzen eines Modebegriffs aufweist und keineswegs immer klar ist, was genau gemeint ist, so l¨asst er sich dennoch heuristisch auf drei Ebenen operationalisieren. Diese Klassifikation umfasst die im engeren Sinne lerntheoretische Dimension der Art und Weise der Aneignung von

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Wissen, die didaktische Dimension der Ausgestaltung von Lernumgebungen zur F¨orderung selbstgesteuerten Lernens sowie die eher (bildungs-)politische ¨ Dimension der Ubernahme der Selbstverantwortung f u¨ r die notwendige Anpassung und Erweiterung der eigenen Kompetenzen im Sinne der Employability (Besch¨aftigungsf¨ahigkeit). 1 • Erweiterung des Bildungs- bzw. Lernbegriffs W¨ahrend sich das Selbstverst¨andnis der Weiterbildung in den letzten zwanzig Jahren weitgehend auf die formalisierte und institutionalisierte Weiterbildung konzentrierte, wird angesichts der gestiegenen Bedeutung von lebenslangem Lernen non-formalen bzw. informellen Lernprozessen eine gr¨oßere Bedeutung zugemessen. 2 Damit einher geht ein Wechsel vom Bildungs- zum Lernbegriff. F¨ur diesen Wandel lassen sich mehrere Begr¨undungen anfu¨ hren: Die Formen der Betriebs- und Arbeitsorganisation haben sich nachhaltig vera¨ ndert, und zwar von einer funktions- und berufsbezogenen zu einer prozessorientierten Arbeitsorganisation. 3 Dabei spielen eine zunehmende Dynamisierung der Arbeitsorganisation, Dezentralisierung von Aufgaben und Verantwortung sowie die St¨arkung von Gruppenarbeit und querfunktionaler Kooperation eine Rolle. Auf diese Ver¨anderungen muss auch die (berufliche) Weiterbildung reagieren, und zwar in Richtung einer prozessorientierten Weiterbildung. 4 Dieser Trend legt eine engere Verzahnung von Weiterbildung mit den je situativen Arbeitsabl¨aufen im Sinne des non-formalen bzw. informellen Lernens nahe. Außerdem versprechen sich Betriebe von diesen Lernkontexten einen h¨oheren Praxisbezug bzw. gr¨oßeren Transfer des Gelernten. Schließlich wird angesichts der schwierigen o¨ konomischen Situation auch darauf gesetzt, dass arbeitsplatznahe Lernformen kosteng¨unstiger sind als der Besuch von (externen) Kursen und Seminaren. • Kontinuisierung von Lernprozessen Um angemessen auf den skizzierten Wandel reagieren und ihn aktiv mitgestalten zu k¨onnen und sich in der Privatsph¨are, auf dem Arbeitsmarkt sowie als aktives Mitglied der Gesellschaft entfalten zu k¨onnen, ist es erforderlich, die im Laufe des Lebens erworbenen Kenntnisse und F¨ahigkeiten immer wieder zu aktualisieren und zu erweitern bzw. neue Kompetenzen zu erwerben: Die Programmatik lebenslangen Lernens wird zum selbstverst¨andlichen Bestandteil der Biographie und der gesellschaftlichen Entwicklung, w¨ahrend Weiterbildung fr¨uher eher eine punktuelle Funktion hatte. 1 2 3 4

Vgl. Schiersmann 2004. Zur Ausdifferenzierung dieser Begrifflichkeit vgl. Schiersmann/Remmele 2002. Vgl. Baethge/Baethge-Kinsky 1998. Vgl. Baethge/Schiersmann 1998.

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1.2 Forschungsdesign Die aktuelle wissenschaftliche und bildungspolitische Diskussion geht mit guten Argumenten von dem skizzierten Wandel der Funktion und Ausgestaltung von Weiterbildung aus. Allerdings sind die empirischen Belege daf u¨ r bislang eher d¨unn, und insbesondere ist unklar, wie die Individuen diese Ver¨anderungen wahrnehmen und wie sie sie im Hinblick auf ihre Weiterbildungsaspiration und ihr Weiterbildungsverhalten bewerten bzw. darauf reagieren. Kann davon ausgegangen werden, dass die Selbststeuerung zum internalisierten Konzept des Lernverhaltens Erwachsener geworden ist? Unklar ist ebenso, wie die B¨urger 5 selbst die Bedeutung von non-formalen Lernprozessen im Vergleich zu formalen einsch¨atzen und schließlich ob wirklich alle Bev¨olkerungsgruppen bzw. welche einen erh¨ohten Weiterbildungsbedarf f u¨ r sich formulieren. Daher waren diese Fragen Gegenstand einer bundesweiten repr¨asentativen Befragung der deutschsprechenden Bev¨olkerung im Alter von 19 bis 64 Jahren. In deren Mittelpunkt stand die Erforschung der Einstellungen der Bev¨olkerung zur Weiterbildung und deren Weiterbildungsverhalten. In gewisser Weise handelt es sich um eine Replikation der Oldenburger Studien aus den sechziger Jahren, von Raapke, Schulenberg und Strzelewicz. 6 Durchgefu¨ hrt wurde die Untersuchung von einem Forschungsverbund bestehend aus dem Soziologischen Forschungsinstitut in G¨ottingen (SOFI), einer Forschergruppe des Brandenburg-Berliner Instituts f u¨ r Sozialwissenschaftliche Studien und des Lehrstuhls f u¨ r Weiterbildung an der Universit¨at Heidelberg. 7 In Heidelberg haben wir uns auf die Auswertung der Einstellungen und Verhaltensweisen in Bezug auf die Weiterbildung konzentriert, so wie sie hier einleitend skizziert wurden. Welcher Einfluss dabei den Arbeitserfahrungen zugeschrieben werden kann, haben die G¨ottinger Kollegen genauer untersucht und die Berliner Gruppe hat Spezifika in der ostdeutschen Bev¨olkerung eruiert. Die Datenerhebung wurde von Infratest Burke als computergest¨utzte m¨undliche Befragung realisiert. Die Nettostichprobe betrug 4052. Das Heidelberger Team legte bei den Auswertungen eine reduzierte Stichprobe von 3246 Personen zugrunde. 8 Ich pr¨asentiere im Folgenden Ergebnisse zu den oben genannten Aspekten.

5

6 7 8

Aus sprach¨asthetischen Gr¨unden wird ausschließlich die m¨annliche Form benutzt. Damit sind jedoch jeweils M¨anner und Frauen gleichermaßen gemeint. Vgl. Raapke/Schulenberg/Strzelewicz 1966. Gef¨ordert wurde die Untersuchung vom Bundesministerium fu¨ r Bildung und Wissenschaft. Dabei wurde der Kreis der Personen, die in den letzten f u¨ nf Jahren nicht erwerbst¨atig waren, ausgegrenzt, weil von diesem Personenkreis aufgrund der zeitlich langen Distanz zur Arbeitswelt kaum verl¨assliche Bewertungen zur berufsbezogenen Weiterbildung zu erwarten waren.

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2 Selbststeuerung von Lernprozessen 2.1 Theoriekonstrukte zur Selbststeuerung ¨ Die auf einer allgemeinen Ebene zu beobachtende hohe Ubereinstimmung in Bezug auf die Betonung der Notwendigkeit von Selbststeuerung verdeckt, dass im Einzelnen h¨aufig nicht klar ist, was genau damit gemeint ist. Die Begriffe „selbstgesteuertes“, „selbstorganisiertes“, „autonomes“, „selbstreguliertes“, „eigenverantwortliches“, „selbstinitiiertes Lernen“, „Selbstlernen“, „selfdirected“, „self-regulated“, „self-guided learning“ und a¨ hnliche werden h¨aufig synonym gebraucht, teilweise aber auch dezidiert voneinander abgegrenzt. Ich verwende durchgehend den Begriff der Selbststeuerung. Es hat bislang keine theoriebezogene Verst¨andigung u¨ ber diese Begrifflichkeit stattgefunden. 9 Um pr¨azisieren zu k¨onnen, welcher Aspekt von Selbststeuerung in der Untersuchung empirisch u¨ berpr¨uft wurde, differenziere ich zun¨achst auf einer heuristischen Ebene drei Zug¨ange zu dem theoretischen Konstrukt der Selbststeuerung. Der Lernprozess als Selbststeuerungsprozess Eine zentrale Rolle spielt das Konzept der Selbststeuerung im Rahmen systemischer und konstruktivistischer Lerntheorien. 10 In diesem Kontext werden selbstreferentielle Prozesse sozialer Systeme als Lernprozesse verstanden. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Lernende nicht einfach Wissen rezipiert, sondern im Lernprozess sein Wissen konstruiert, das heißt in sein Vorwissen einbaut. Die aus konstruktivistischer Sicht betonte Aktivit¨at des Lernenden bezeichnet eine mentale und kognitive Eigenaktivit¨at. Diese Konzeptionalisierung des selbstgesteuerten Lernens kann als psychologischer bzw. erkenntnistheoretischer Zugriff charakterisiert werden. Die Betonung der kognitiven Eigenaktivit¨at des Lernenden beim Wissenserwerb korrespondiert jedoch nicht – wie irrt¨umlich manchmal dargestellt – mit der Pr¨aferenz eines konkreten Lernkontextes, zum Beispiel einer informellen Lernumgebung. Lernende k¨onnen durchaus in einem formalen Lernkontext, beispielsweise einem Vortrag, an dem sie – von außen betrachtet – „passiv“ teilnehmen, Wissen erwerben, das aktiv und konstruktiv verarbeitet, das heißt in das jeweilige Vorwissen eingebaut wird und in neuen komplexen Problemsituationen angewendet werden kann. 11 Bei dieser Ausgestaltung des Konzepts der Selbststeuerung stehen Eigenschaften und Verhaltensweisen von Personen als wesentliche Variablen im Vordergrund, die auf ein konstruiertes „Idealbild“ vom selbstgesteuerten Lernenden hinauslaufen. 12 Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er „aktiv“ 9 10 11 12

Vgl. Schiersmann 2002, Schiersmann 2004. Vgl. Friedrich/Mandl 1995; Siebert 2003. Vgl. Kraft 1999, 838. Ebd., 836.

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ist bezogen auf verschiedene Aspekte des Lernens: Er ergreift die Initiative, um Lernbed¨urfnisse zu befriedigen, setzt sich Lernziele und setzt diese in Pl¨ane um, greift situativ auf unterschiedliche Formen der Unterst¨utzung zur¨uck, w¨ahlt geeignete Hilfsmittel beim Lernen, verfolgt und u¨ berpr¨uft den Lernprozess, verfu¨ gt u¨ ber realistische Einsch¨atzungen der eigenen Kompetenzen und Grenzen sowie u¨ ber ein positives Selbstbild, das auf vergangenen Erfahrungen beruht, und kennt außerdem seine St¨arken, F¨ahigkeiten und Motivationslagen. Selbststeuerung als p¨adagogisch-didaktische Dimension Im Rahmen einer didaktisch-methodischen Konzipierung von Selbststeuerung steht die Intention im Mittelpunkt, Lernsituationen (Kurse, Seminare, aber auch arbeitsplatzbezogene Formen des Lernens) so auszugestalten, dass sie ein m¨oglichst hohes Maß an Eigenaktivit¨aten erm¨oglichen. Folglich handelt es sich hierbei um einen im klassischen Sinne p¨adagogischen Zugang, der sich an dem Ziel der F¨orderung der M¨undigkeit des Menschen orientiert. 13 Dabei wird insbesondere an den Begriff „Selbst“ angekn¨upft, der auf die Autonomie der Individuen zielt.Bei dieser positiven Konnotierung des „Selbst“ wird allerdings kaum thematisiert, dass die Tatsache, etwas selbst zu tun, noch nicht unbedingt ein Qualit¨atsmerkmal darstellt. 14 Die Qualit¨at einer Handlung bemisst sich zumindest auch an den Inhalten und Zielsetzungen des jeweiligen Tuns. 15 In diesem Argumentationszusammenhang wird davon ausgegangen, dass die Lernergebnisse besser sind, • wenn die Lernprozesse aus eigener Initiative resultieren, • wenn sie an die spezifischen Bedeutungskontexte der Teilnehmenden ankn¨upfen, • wenn die Lernenden im Mittelpunkt des Lerngeschehens verortet werden, • wenn sie ihre Vorstellungen und Lernbed¨urfnisse in den Lernprozess einbringen d¨urfen, • wenn sie bei der Ausgestaltung der Inhalte beteiligt sind und diese selbst¨andig bearbeiten k¨onnen. 16 In diesem Kontext wird auch argumentiert, dass das selbstgesteuerte Lernen in besonderem Maße erwachsenengerecht sei, weil Erwachsene das Lernen bereits gelernt haben und u¨ ber Lernstrategien sowie intrinsische Motivation verfu¨ gen. Erg¨anzend wird dabei h¨aufig auf das durchschnittlich gestiegene Bildungsniveau verwiesen, das die Eigensteuerung von Lernprozessen erleichtere. Die Betonung der Selbststeuerung wird aber auch als Beitrag zur wirksamen L¨osung von Motivations- und Lerntransferproblemen angesehen. 17 13

Vgl. Dohmen 1998, 65. Vgl. Kraft 2002, 17. 15 Vgl. Heid 1991. 16 Vgl. Kraft 1999. 17 Vgl. Weber 1996, 178. 14

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Bei dieser Ausgestaltung des Konzepts selbstgesteuerten Lernens handelt es sich m. E. zu einem erheblichen Teil um „neuen Wein in alten Schl¨auchen“, denn diese Aspekte werden in der Weiterbildung schon seit langem unter dem Stichwort der Teilnehmer- bzw. Adressatenorientierung diskutiert. Selbststeuerung als Selbstmanagement des Lernenden Eine dritte Ebene der Konzeptualisierung von Selbststeuerung ist eher auf einer bildungs- bzw. gesellschaftspolitischen Ebene angesiedelt. Sie fokussiert das Selbst-Management des Lernens. Die in Bezug auf die Betriebs- und Arbeitsorganisation skizzierte Entwicklung fu¨ hrt zur Aufl¨osung berufstypischer Aufgabenprofile und erh¨oht die Anforderungen an Flexibilit¨at, Selbst¨andigkeit, Selbstorganisation sowie an Koordinierungs- und Kommunikationsf¨ahigkeit erheblich. 18 Damit schwinden die M¨oglichkeiten, die individuellen Bildungsund Berufsbiographien an herk¨ommlichen Berufs- und Karrieremustern zu orientieren und damit auch die Chance,Weiterbildung verl¨asslich in Bezug auf ¨ diese zu planen. Bei dieser Argumentation steht die Uberlegung im Vordergrund, dass das Reagieren auf Lernangebote nicht mehr hinreichend ist, um den Anforderungen des lebenslangen Lernens gerecht zu werden, sondern vielmehr die Internalisierung der Eigeninitiative zur Entscheidung dar¨uber,welche Lerninhalte in welcher beruflichen Situation erforderlich bzw. hilfreich sind. Zusammenfassend l¨asst sich – u¨ ber alle drei skizzierten Ans¨atze hinweg – im Sinne eines Minimalkonsenses konstatieren, dass der Begriff der Selbststeuerung die Subjektperspektive betont, das heißt die Aneignungsperspektive, und nicht die Angebotsseite, das heißt die Bereitstellung von Lernangeboten. 2.2 Empirische Erfassung der kognitiven Dimension von Selbststeuerung Es ist sicher nachvollziehbar, dass es schwierig ist, im Rahmen einer standardisierten Befragung eines f u¨ r Deutschland repr¨asentativen Samples das Konstrukt der Selbststeuerung pr¨azise und differenziert zu erfassen, zumal diese Thematik lediglich einen unter mehreren Schwerpunkten der Befragung darstellte. Wir haben uns dabei auf die oben beschriebene personenbezogene kognitive, das heißt die erste Variante des theoretischen Konstrukts, konzentriert und diese anhand der Merkmale Selbstkonzept, Motivation und kognitive Steuerung konzipiert. Außerdem waren im Fragebogen einige Fragen enthalten, die auch die dritte, gesellschaftspolitische Dimension erfassten. Diese bleibt an dieser Stelle jedoch aus Platzgr¨unden außer Acht. 19 6 der 11 Items, die vorgegeben wurden, um die personenbezogene Dimension der Selbststeuerung zu erfassen,werden im Rahmen eines Leistungsmotivationsinventars eingesetzt, der an Studenten, Berufst¨atigen und Berufssch¨ulern 18 19

Vgl. Baethge/Baethge-Kinsky 1998. Die Erfassung didaktisch-methodischer Erfahrungen erwies sich wegen deren Vielf¨altigkeit erhebungsmethodisch als unm¨oglich.

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erprobt wurde 20 und als valide und geeicht angesehen werden kann. Einige eher erwachsenenspezifische Items wurden hinzugefu¨ gt. Auf der Basis einer Faktorenanalyse 21 wurden die folgenden 7 Items zur Bildung des Index’ zur Selbststeuerung ausgew¨ahlt: • Ich eigne mir lieber neue Kenntnisse an,als mich mit Dingen zu besch¨aftigen, die ich schon beherrsche. • Beim Lernen bin ich in der Regel sehr erfolgreich. • Einen großen Teil meiner Zeit verbringe ich damit, Neues zu lernen. • Ich kann eine Vielzahl von Weiterbildungen nachweisen, zu denen mich niemand verpflichtet hat. • Wenn ich beim Lernen nicht weiterkomme, besorge ich mir so viel Hilfe, wie ich brauche. • Ich bin beim Lernen auch dann bei der Sache, wenn ich wenig Anerkennung von anderen daf u¨ r bekomme. • Ich verfolge regelm¨aßig die Fachzeitschriften in meinem Arbeitsgebiet. Die Antwortvorgaben lagen auf einer Siebenerskala von „Trifft vollst¨andig zu“ bis „Trifft gar nicht zu“. Die Auswertung ergibt folgende Verteilung des gebildeten Selbststeuerungsindexes in der Erwerbst¨atigenstichprobe (n = 3169), wenn er in eine Siebenerskala r¨ucktransformiert wird. Bei der Darstellung entspricht der Skalenwert „7“ dem Maximum an Selbststeuerung. Grafik 1: Verteilung des Selbststeuerungsindex in der Skala mit sieben Auspr¨agungen 22

© Schiersmann/Strauß 2005 20

Vgl. Schuler/Prochaska 2001. Die statistischen Auswertungen wurden wesentlich von Herrn Dr. Hans Christoph Strauß durchgefu¨ hrt. 22 Die Einzelwerte des Selbststeuerungsindex wurden klassiert, damit die Form der H¨aufigkeitsverteilung hervortritt. 21

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Der Mittelwert der Gesamtverteilung liegt bei 4,05 Skalenwerten. 23 Es muss bei der Interpretation dieser Verteilung und der im Folgenden dargestellten Ergebnisse im Auge behalten werden, dass die Antworten auf die genannten Items nicht ganz frei sein d¨urften von einer Tendenz zur positiven Selbstattribuierung, denn die Aussage, dass man nicht selbstgesteuert lerne, l¨asst sich m¨oglicherweise nur schwer in das eigene Selbstbild integrieren. Dies l¨asst sich vermutlich auch daran ablesen, dass die Verteilung – abweichend von einer Normalverteilung – in Richtung auf die positiven Werte verschoben ist. Umso interessanter ist, dass – wie gleich zu zeigen sein wird – sich trotz dieser m¨oglichen Tendenz einer zu positiven Selbsteinsch¨atzung – markante Unterschiede zwischen Teilgruppen konstatieren lassen. Im Anschluss an die Erstellung des Selbststeuerungsindex’ wurde gepr¨uft, welche Variablen einen Einfluss auf die Auspr¨agung der Selbststeuerung haben. Dabei war das Ziel, ein Modell zu finden, das nicht nur eindimensionale Effekte von soziodemographischen bzw. sozialisationsbeschreibenden Variablen auf den Selbststeuerungsindex beschreibt, sondern das es erm¨oglicht, gleichzeitig Effekte und Wechselwirkungen der Effekte bezogen auf die abh¨angige Variable zu erfassen. 24 Vom Erkl¨arungswert bedeutend sind die signifikanten eindimensionalen Effekte Familiale F¨orderung, Berufsbildungsniveau und Erwerbsstatus sowie die Interaktion Familiale F¨orderung mit Erwerbsstatuts. 25 Dabei hat die Auspr¨agung der Familialen F¨orderung den h¨ochsten Einfluss unter allen gepr¨uften Effekten auf die Auspr¨agung der Variable Selbststeuerung: Je ausgepr¨agter die Familiale F¨orderung, desto h¨oher der Grad der Selbststeuerung. Dieses Ergebnis ist vor allem dahingehend von Brisanz, dass es einmal mehr verdeutlicht, 23

Mit einer Standardabweichung von 1,17 Skalenwerten. Deshalb wurde mittels des Allgemeinen Linearen Modells (vgl. Jansen/Laatz 1999, 327–345) zun¨achst ein vollst¨andiges Modell aus der abh¨angigen Variable Selbststeuerung und den unabh¨angigen Variablen Geschlecht, Schulabschlussniveau, Berufsbildungsniveau und Alterskohorte erstellt. Zus¨atzlich zu den u¨ blichen sozio-demographischen Merkmalen wurde als weitere sozialisationsrelevante Variable Familiale F¨orderung aufgenommen. Dazu wurden auf der Basis von fu¨ nf Items Sozialisationserfahrungen erfasst. Die Items (vgl. Baethge/ Baethge-Kinsky 2002, S. 44) wurden zu einem dreistufigen Index mit den Auspr¨agungen „¨uberdurchschnittlich ausgepr¨agt“, „durchschnittlich ausgepr¨agt“ und „unterdurchschnittlich ausgepr¨agt“ verrechnet. Das entwickelte vollst¨andige Modell wurde zu einem unvollst¨andigen Modell reduziert, das nur signifikante Effekte enth¨alt. Insgesamt erkl¨art das Modell 26 Prozent der Einfl¨usse auf die Variable Selbststeuerung. Dieser Wert ist im Rahmen von Auswertung mit sozio-demographischen Merkmalen nicht ungew¨ohnlich. 25 Der Erkl¨arungswert wird durch Heranziehung des partiellen Eta bei den jeweiligen Effekten erg¨anzend gepr¨uft. Weitere signifikante Effekte mit geringem Erkl¨arungswert (partielles Eta kleiner als 1 Prozent) waren die eindimensionalen Effekte Geschlecht und Schulabschlussniveaus sowie weitere zwei- und dreidimensionale Effekte. Diese Effekte sind Bestandteil des Modells und m¨ussen weiter inhaltlich mit Hilfe von Liniendiagrammen gepr¨uft werden (s. Grafik 5). 24

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dass die F¨orderung des selbstgesteuerten Lernens sehr fr¨uh beginnt (bzw. beginnen muss) und die Kompensationschancen im Rahmen von Weiterbildung nicht u¨ berbewertet werden d¨urfen. Grafik 2: Einfluss Familialer F¨orderung auf den Selbststeuerungsindex 26

© Schiersmann/Strauß 2005

Den zweiten Rang in der Einflussgr¨oße auf die Auspr¨agung der Selbststeuerung nimmt das Niveau der Berufsausbildung ein: Je h¨oher das Berufsbildungsniveau, desto st¨arker ausgepr¨agt ist die Selbststeuerung. Dieses Ergebnis zeigt, dass es den (weiterfu¨ hrenden) Schulen offenbar doch – allen PISA-Ergebnissen zum Trotz – gelingt, die Selbststeuerung von Lernprozessen oder das Lernen des Lernens zu f¨ordern. Als interessantes Detail sei hervorgehoben, dass sich die Selbststeuerungskompetenz zwischen der Gruppe der Meister und Techniker nicht von den Personen mit einem (Fach-)Hochschulabschluss unterscheidet. Grafik 3: Einfluss des Berufsbildungsniveaus auf den Selbststeuerungsindex

© Schiersmann/Strauß 2005 26

Die zur X-Achse parallele Linie symbolisiert den Mittelwert der Stichprobe.

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Grafik 4: Einfluss des Erwerbsstatus auf den Selbststeuerungsindex

© Schiersmann/Strauß 2005

Ein a¨ hnlicher Effekt zeigt sich hinsichtlich der Variable Erwerbsstatus: Bei den Erwerbst¨atigen ist die Selbststeuerung deutlich ausgepr¨agter als bei der Gruppe der Erwerbslosen. 27 Dieses Ergebnis l¨asst sich dahingehend interpretieren, dass die motivationale Komponente und das Selbstkonzept vermutlich durch die Erfahrung von Arbeitslosigkeit erheblich beeintr¨achtigt werden. Die Betonung des Einflusses des Erwerbsstatus korrespondiert eng mit den detailliert die Arbeitssituation auslotenden Teilergebnissen des SOFI, die diesen Faktor Grafik 5: Interaktion der Variablen Erwerbsstatus und Familiale F¨orderung in Bezug auf den Selbststeuerungsindex

© Schiersmann/Strauß 2005 27

Auf die Gruppe der Stillen Reserve wird an dieser Stelle nicht n¨aher eingegangen. Es ist zu vermuten,dass sie sehr heterogen zusammengesetzt ist.F¨ur eine Interpretation der Ergebnisse f u¨ r diese Teilgruppe w¨aren detaillierte Einzelanalysen erforderlich.

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als außerordentlich hoch bewerten und daher die Arbeitssituation als zweite Lernchance charakterisieren. 28 Betrachtet man das theoretisch und empirisch bedeutsame Zusammenspiel der Einflussfaktoren Familiale F¨orderung und Erwerbsstatus, so sind folgende Ergebnisse hervorzuheben: Bei jeder Auspr¨agung des Grades an Familialer F¨orderung ist der Selbststeuerungsgrad der Gruppe der Erwerbslosen niedriger als der der Erwerbst¨atigen. Besonders krass f¨allt die Differenz bei den Arbeitslosen mit unterdurchschnittlich ausgepr¨agter Familaler F¨orderung aus: Der Grad der Selbststeuerung dieser Gruppe liegt extrem unter dem Mittelwert und weist eine besonders große Differenz zu der Gruppe der Erwerbslosen mit u¨ berdurchschnittlich ausgepr¨agter Familaler F¨orderung auf. Zusammenfassend ist im Hinblick auf die Dimension der Selbststeuerung festzuhalten, dass die Variablen Familiale F¨orderung, Bildungsabschluss, Niveau der Berufsausbildung sowie Erwerbsstatus die Auspr¨agung der Selbststeuerung im Sinne einer personenbezogenen kognitiven Variable nachhaltig beeinflussen. Diese Ergebnisse belegen auf einer breiten empirischen Basis die Vermutung, dass das Gelingen selbstgesteuerten Lernens an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden ist und diese sich in der Bev¨olkerung recht unterschiedlich verteilen. Die Ergebnisse unterstreichen, dass bei der Ausgestaltung von Weiterbildung auf diese unterschiedlichen Voraussetzungen Bezug genommen und weiter intensiv dar¨uber nachgedacht werden muss, wie die Auspr¨agung der Selbststeuerung im Erwachsenenalter gest¨arkt werden kann. Hier ist die im ersten Teil des Beitrags benannte zweite Dimension der Selbststeuerung gefragt, die die Ausgestaltung der didaktischen und methodischen Lernkontexte zur F¨orderung der Selbststeuerung gefordert.

3 Lernerfahrungen in unterschiedlich institutionalisierten Lernkontexten Dem non-formalen bzw. informellen Lernen ist im Rahmen der deutschen Bildungsforschung – im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Sprachraum – bis vor kurzem noch relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Diese Lernkontexte fanden bestenfalls als Restkategorie gegen¨uber formalem Lernen an Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen Beachtung. 29 An dieser Stelle k¨onnen nicht die vielf¨altigen unterschiedlichen Definitionsans¨atze im wissenschaftlichen sowie bildungspolitischen Kontext referiert werden. 30 Ich beschr¨anke mich auf die Erl¨auterung der fu¨ r die empirische Erhebung gew¨ahlten Klassifikation. Aus dem aktuellen Diskussionsstand wurden die folgenden Konsequenzen gezogen: 28

Vgl. Baethge/Baethge-Kinsky 2002. Vgl. Overwien 1999. 30 Vgl. dazu Schiersmann/Remmele 2002. 29

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• F¨ur die Erhebung wurde eine Unterscheidung zwischen formalisierten und informellen Lernprozessen gew¨ahlt und nicht die in der internationalen Diskussion h¨aufig anzutreffende Unterscheidung zwischen drei oder auch vier Graden der Institutionalisierung (formales, non-formales, informelles und inzidentielles Lernen oder vergleichbare Begrifflichkeiten). F¨ur diese Entscheidung war unter anderem die Einsch¨atzung ausschlaggebend, dass der Anteil staatlich zertifizierter Weiterbildung, die h¨aufig – zum Beispiel im Memorandum der Europ¨aischen Union 31 – die Kategorie „formal“ ausmacht, in Deutschland nicht sehr groß ist. Wir fassten daher unter die Kategorie „formale Lernkontexte“ alle Weiterbildungsangebote, die in Form von Kursen, Seminaren etc. durchgefu¨ hrt werden. • Naheliegenderweise k¨onnen in einer repr¨asentativen, notwendigerweise fast vollst¨andig standardisierten Befragung nur bewusste Lernprozesse erfasst werden – w¨ahrend die Definitionen von informellem Lernen teilweise auch nicht-bewusste Lernprozesse mit umfassen. 32 • In Anlehnung an Straka 33 werden nicht informelle oder formalen Lernprozesse, sondern Lernprozesse in informellen oder formalen Lernkontexten unterschieden, denn nicht die Lernprozesse der Individuen – im lernpsychologischen Sinn – sind verschieden, sondern der Rahmen bzw. das Arrangement, in dem diese stattfinden. • Um die unter dem Begriff informellen Lernens h¨aufig pauschal dargestellten Lernkontexte pr¨aziser erfassen zu k¨onnen,wurde dieser Bereich noch einmal in die folgenden Subkategorien ausdifferenziert: – Arbeitsbegleitendes Lernen – Lernen im privaten und gesellschaftlichen Umfeld – Lernen mit traditionellen Medien – Lernen mit Neuen Medien, das heißt in computergest¨utzten bzw. netzbasierten Lernkontexten Im Hinblick auf den Formalisierungsgrad liegen dabei die Kategorien „Lernen mit traditionellen Medien“ und „Lernen mit Neuen Medien“ in der Mitte. Diese Lernkontexte sind zwar nicht in dem Sinne formalisiert, dass es einen fest definierten, vorgegebenen Rahmen g¨abe, aber sie weisen doch einen vergleichsweise hohen Grad an Intentionalit¨at und Strukturiertheit auf. Die Befragten wurden gebeten, recht allgemein zu benennen, in welchen Lernkontexten sie nach ihrer subjektiven Einsch¨atzung fu¨ r ihre berufliche Entwicklung viel bzw. wenig gelernt haben. Als Ergebnis ist hervorzuheben, dass das Arbeitsbegleitende Lernen von Erwerbspersonen als wichtigster Lernkontext f u¨ r deren berufliche Entwicklung angesehen wird (52 Prozent der Befragten a¨ ußerten sich dahingehend). 31

Vgl. Kommission 2000. Vgl. Schiersmann/Remmele 2002. 33 Vgl. Straka 2000. 32

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Grafik 6: Wichtigster Lernkontext

© Schiersmann/Strauß 2005

Es folgen das Lernen mit traditionellen Medien (16 Prozent) und Lernen im privaten und gesellschaftlichen Umfeld (15 Prozent). 13 Prozent der Befragten gaben an, in formalen Lernkontexten am meisten gelernt zu haben. Lernen mit neuen Medien, das heißt am Computer bzw. im Internet, stellt f u¨ r 5 Prozent den wichtigsten Lernkontext dar und erwies sich damit (noch) eher als eine Randerscheinung. Dichotomisiert man die Lernerfahrungen nach formalen und informellen Lernkontexten, so ergibt sich, dass 87 Prozent der Befragten aussagten, in informellen Lernkontexten am meisten gelernt zu haben gegen¨uber 13 Prozent, die diese Bewertung den formalen Lernkontexten zuwiesen. Erwartungsgem¨aß sind sozio-demographischen Kriterien von Bedeutung f u¨ r die Differenzierung der Ergebnisse. Im Folgenden werden einige, auf einem hohen Niveau signifikante Ergebnisse bez¨uglich des Ausbildungsniveaus und des Erwerbsstatus dargestellt, da diese Kriterien sich als am aussagekr¨aftigsten erwiesen haben. Bei einer Gruppierung nach dem Ausbildungsniveau zeigen sich in Bezug auf den bedeutendsten Lernkontext folgende Zusammenh¨ange: Formale Lernkontexte haben f u¨ r Erwerbspersonen ohne qualifizierten Ausbildungsabschluss mit 7 Prozent der Nennungen die geringste Bedeutung. Demgegen¨uber nennen Erwerbspersonen mit Meister, Techniker oder einem vergleichbaren

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Abschluss formale Lernarrangements mit ca.20 Prozent h¨aufiger als der Durchschnitt. Umgekehrt hat Arbeitsbegleitendes Lernen fu¨ r Erwerbspersonen mit Fach-(Hochschulabschluss) mit 42 Prozent eine eher unterdurchschnittliche Bedeutung. Erwerbspersonen mit (Fach-)Hochschulabschluss weisen dem Lernen mit traditionellen Medien eine u¨ berdurchschnittliche Bedeutung (28 Prozent) zu im Gegensatz zu den Erwerbst¨atigen ohne qualifizierten Ausbildungsabschluss (9 Prozent). Lernen im privaten und gesellschaftlichen Umfeld wird von Erwerbspersonen ohne qualifizierten Ausbildungsabschluss u¨ berdurchschnittlich h¨aufig (25 Prozent) als wichtigster beruflicher Lernkontext genannt. Eher unterdurchschnittlich sind die entsprechenden H¨aufigkeitsaussagen fu¨ r die Gruppen der Meister, Techniker (6 Prozent) und der Erwerbspersonen mit (Fach-) Hochschulabschluss (9 Prozent). Die subjektive Wahrnehmung der Bedeutung unterschiedlicher Lerngelegenheiten wurde in Zusammenhang gebracht mit den realen Weiterbildungserfahrungen. Mit dem Merkmal „h¨aufigste Gelegenheit der Weiterbildung in den letzten drei Jahren“ wurde die reale Weiterbildungsbeteiligung summarisch erfasst. Dabei wurde wiederum nach formalen Lernkontexten,Arbeitsbegleitenden Lernformen, Lernen mit traditionellen und neuen Medien gefragt. Allerdings wurde das informelle Lernen im privaten und gesellschaftlichen Bereich bei der Frage zu dieser Variable nicht erfasst, weil der berufliche Bezug im Mittelpunkt stand. Wenn man die Gruppe derjenigen ausklammert, die angaben, nicht u¨ ber Erfahrungen in berufsbezogener Weiterbildung – oder jeweils nicht mit den Grafik 7: Lernaktivit¨aten in unterschiedlichen Lernkontexten (n = 3206)

© Schiersmann/Strauß 2005

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Grafik 8: Lernaktivit¨aten in unterschiedlichen Lernkontexten

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von uns aufgelisteten Formen – zu verf u¨ gen, dann wird das arbeitsbegleitende Lernen als h¨aufigste faktische Lerngelegenheit benannt, gefolgt von formalisierten Lernkontexten und dem Lernen mit traditionellen Medien. Schlusslicht ist wiederum das Lernen mit neuen Medien. Bei der Gruppierung nach dem Ausbildungsniveau best¨atigen sich die Tendenzen, die bereits in bezug auf die subjektiv wahrgenommenen Lernerfahrungen benannt wurden. Es war zu vermuten, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen den Aussagen zu den subjektiv bedeutsamen Lernkontexten („am meisten gelernt“) und der realen Weiterbildungserfahrung („h¨aufigste Gelegenheit zur Weiterbildung in den letzten drei Jahren“), da die subjektive Bewertung der Bedeutung bestimmter Lernkontexte nur auf der Folie realer Erfahrungen erfolgen kann. Dementsprechend zeigt sich, dass die Gruppe derjenigen, die einem bestimmten Lernkontext eine hohe Bedeutung zuspricht, in diesem Setting auch am h¨aufigsten reale Weiterbildungserfahrungen aufweist. Diese Ergebnisse relativieren insofern den hohen subjektiven Stellenwert informeller Weiterbildung, als diejenigen, die lediglich Erfahrungen mit informellen Lernkontexten aufweisen, naheliegenderweise formale Lernkontex-

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Grafik 9: Zusammenhang zwischen wichtigstem beruflichen Lernkontext und häufigster Gelegenheit der Weiterbildung (n = 2993) Teil II

© Schiersmann/Strauß 2005

te nicht als fu¨ r ihr Lernbewusstsein wichtiges Lernarrangement identifizieren k¨onnen. Bringt man die Bedeutung des wichtigsten Lernkontextes in Zusammenhang mit der Variable der Selbststeuerung, so zeigt sich, dass diejenigen mit u¨ berdurchschnittlicher Selbststeuerung 34 dem formalen Lernen sowie dem Lernen mit traditionellen Medien eine u¨ berdurchschnittlich hohe Bedeutung zuweisen, die Personen mit einer mittleren bzw. unterdurchschnittlichen Selbststeuerung demgegen¨uber den arbeitsbegleitenden Lernkontexten. Ebenso sagen die Personen, die sich eine unterdurchschnittliche Selbststeuerung ihrer Lernprozesse zuschreiben, deutlich h¨aufiger, dass das Lernen im privaten und gesellschaftlichen Umfeld fu¨ r sie den wichtigsten Lernkontext bildet. Bei einer Betrachtung der h¨aufigsten Gelegenheit der Weiterbildung ergibt sich im Wesentlichen das gleiche Bild. Diese Ergebnisse zeigen nachdr¨ucklich, dass der Faktor der Selbststeuerung einen zentralen Einfluss auf die Wahrnehmung von Lernerfahrungen sowie die realen Weiterbildungsaktivit¨aten aufweist.

4 Kontinuität von Lernprozessen Neben der Erhebung der bedeutsamsten Lernkontexte und der realen Weiterbildungserfahrungen stellt sich vor dem einleitend skizzierten theoretischen Hintergrund, der lebenslange Lernprozesse postuliert, die Frage, wie 34

Bei dieser Einteilung wurde die vorne erw¨ahnte 7er-Skala der Selbststeuerung zu drei Gruppen zusammengefasst.

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die Befragten ihren zuk¨unftigen Weiterbildungsbedarf einsch¨atzen bzw. welche Barrieren einer Weiterbildungsteilnahme entgegen stehen. Dabei ging es darum, empirisch zu u¨ berpr¨ufen, inwieweit die programmatische Vorstellung, alle m¨ussten lebenslang lernen, im Bewusstsein der Betroffenen verankert ist bzw. wie sie zu dieser Anforderung stehen. 4.1 Zuk¨unftiger Weiterbildungsbedarf Grafik 10: Zuk¨unftiger Bildungsbedarf (n = 2822)

© Schiersmann/Strauß 2005

Die Befragung ergab, dass die H¨alfte der Erwerbspersonen (51 Prozent) in den n¨achsten Jahren einen Weiterbildungsbedarf fu¨ r sich sieht, w¨ahrend ein Drittel (34 Prozent) dies dezidiert verneint und 15 Prozent die Kategorie „weiß nicht“ ankreuzten. Dabei ist davon auszugehen, dass die Befragten angesichts des tradierten Verst¨andnisses von Weiterbildung an dieser Stelle eher formalisierte Weiterbildungsgelegenheiten assoziiert haben. Dieses Ergebnis ist insofern interessant, als die Daten keinen f u¨ r die Zukunft steigenden Weiterbildungsbedarf nahe legen, denn sie stimmen weitgehend mit den bekannten Zahlen der Weiterbildungsbeteiligung u¨ berein, wie sie unter anderem im Berichtssystem Weiterbildung 35 f u¨ r die gegenw¨artige Weiterbildungsbeteiligung erhoben werden: Ca. die H¨alfte der Bev¨olkerung gab im Jahr 2001 an, sich im letzten Jahr vor der Befragung weitergebildet zu haben. Der Blick in die Zukunft wirft damit die Frage auf, ob wir auf einem Plateau der Weiterbildungsbeteiligung angekommen sind, nachdem auch die j¨ungsten Erhebungen des Berichtssystems Weiterbildung sowie des Mikrozensus 36 einen leichten R¨uckgang der Weiterbildungsbeteiligung gegen¨uber den Vorjahren konstatieren. Vielleicht m¨ussen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass immer mehr Menschen immer mehr Weiterbildung ben¨otigen oder intendieren. Eine Differenzierung des Weiterbildungsbedarfs nach Ausbildungsniveau bekr¨aftigt die bekannten Segmentierungen in der beruflichen Weiterbildung: W¨ahrend ca. zwei Drittel der Personen mit einem Meister- oder TechnikerAbschluss (65 Prozent) und mit (Fach-)Hochschulabschluss (69 Prozent) einen 35 36

Vgl. Bundesministerium fu¨ r Bildung und Forschung 2003. Ebd.

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Weiterbildungsbedarf f u¨ r sich sehen, gilt dies nur fu¨ r knapp die H¨alfte (48 Prozent) derjenigen mit einem Ausbildungsabschluss und nur ein Drittel (36 Prozent) der Personen ohne qualifizierte Berufsausbildung. Fragt man, welcher Zusammenhang zwischen der Formulierung eines Weiterbildungsbedarfs f u¨ r die n¨achsten Jahre und der Auspr¨agung der Selbststeuerung besteht, so zeigt sich folgender, sehr eindeutiger Zusammenhang: Von denjenigen Personen, die sich als u¨ berdurchschnittlich selbstgesteuert einstufen, artikulierten 69 Prozent einen Weiterbildungsbedarf f u¨ r die n¨achsten Jahre gegen¨uber nur 28 Prozent derjenigen, die eine unterdurchschnittliche Selbststeuerung aufweisen (Durchschnitt der Stichprobe: 51 Prozent). 4.2 Weiterbildungsbarrieren Die Tatsache, dass nur von ca. der H¨alfte der Bev¨olkerung ein zuk¨unftiger Weiterbildungsbedarf formuliert wird, legt die Frage nach den Weiterbildungsbarrieren nahe: Was hindert die Befragten,Weiterbildung in Anspruch zu nehmen? Dabei wurde aus einer Item-Batterie immer der pers¨onlich wichtigste Grund betrachtet. Grafik 11: Weiterbildungsbarrieren (n = 2421)

© Schiersmann/Strauß 2005

Es zeigt sich, dass fu¨ r die Gesamtgruppe die „hohe (zeitliche) Belastung“ (37 Prozent) den wichtigsten Hinderungsgrund fu¨ r die Beteiligung an Weiterbildung darstellt, dicht gefolgt vom Faktor „fehlender Nutzen“ (31 Prozent). Die u¨ brigen Daten, die uns zur Verfu¨ gung stehen, lassen darauf schließen, dass wir es hier mit zwei separaten Gruppen zu tun haben: Die mangelnde Zeit wird als Hinderungsgrund f u¨ r die Beteiligung an Weiterbildung vor allem von denjenigen genannt, die sich bereits aktiv an Weiterbildung beteiligen. Bei der Gruppe, die den fehlenden Nutzen von Weiterbildung als zentralen Hinderungsgrund benennt, handelt es sich um die Gruppe, die sich so gut wie nicht an formaler Weiterbildung beteiligt und unterdurchschnittlich h¨aufig in arbeitsbegleitenden Lernkontexten lernt. Dass diese Gruppe auch zuk¨unftig

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keinen Weiterbildungsbedarf formuliert, st¨utzt die These, dass keine Automatisierung in Richtung einer steigenden Weiterbildungsbeteiligung zu erwarten ist. Differenziert man die wahrgenommenen Weiterbildungsbarrieren nach aktuellem Erwerbsstatus, so zeigen sich folgende Zusammenh¨ange: Der fehlende Nutzen von Weiterbildung wird u¨ berproportional h¨aufig von Arbeitslosen ¨ beklagt. Dies k¨onnte als Indiz fu¨ r die vielfach in der Offentlichkeit beklagte mangelnde Passgenauigkeit von Weiterbildungsmaßnahmen f u¨ r diese Gruppe interpretiert werden. Interessant ist die Tatsache, dass der fehlende Nutzen demgegen¨uber unterproportional h¨aufig von der Stillen Reserve als Grund fu¨ r die Nicht-Beteiligung an Weiterbildung benannt wird.Offenbar hat diese Gruppe ein beachtliches Vertrauen darin, dass die Beteiligung an Weiterbildung ihre Wiedereingliederungschancen erh¨oht. Die zu hohe Belastung und bestehender Zeitmangel wird erstaunlicherweise u¨ berproportional h¨aufig von der Stillen Reserve als Weiterbildungsbarriere benannt, erwartungsgem¨aß selten demgegen¨uber von den Arbeitslosen. Von den Personen mit hoher Beteiligung an formaler Weiterbildung beklagen u¨ berdurchschnittlich viele zu hohe Kosten der Weiterbildung sowie ein Informations- und Angebotsdefizit. Auch die Gruppen der Arbeitslosen und der Stillen Reserve verweisen u¨ berproportional h¨aufig auf hohe Kosten der Weiterbildung. 4.3 Pers¨onliche Assoziation zum Begriff Weiterbildung Um die allgemeine Einstellung zur Weiterbildung noch einmal summarisch ¨ zu erfassen, wurden die Befragten um eine spontane Außerung zu ihrer „Pers¨onlichen Empfindung beim Wort Weiterbildung“ gebeten. 51 Prozent antworteten „Muss ich machen, um beruflich fit zu bleiben“, 13 Prozent „Habe genug gelernt“, 11 Prozent „Bringt ja doch nichts“, 19 Prozent kreuzten die Kategorie an „Endlich was, das Spaß macht“. Dieses Ergebnis Grafik 12: Assoziationen zum Begriff Weiterbildung (n = 3246)

© Schiersmann/Strauß 2005

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l¨asst sich dahingehend interpretieren, dass die H¨alfte der befragten Erwerbspersonen Weiterbildung eher als notwendige Anforderung ansieht, etwa ein Viertel sich durch eine deutliche Weiterbildungsdistanz charakterisieren l¨asst und knapp 20 Prozent eine ausdr¨ucklich positive und spaßbetonte Einstellung zur Weiterbildung aufweisen. Differenziert man diesen Befund hinsichtlich des Erwerbsstatus, so ist hervorzuheben, dass Arbeitslose und die Stille Reserve Weiterbildung seltener als der Durchschnitt f u¨ r notwendig halten, um beruflich fit zu bleiben. Besonders ¨ groß ist die Gruppe der Arbeitslosen mit 34 Prozent, die der Uberzeugung ist, Weiterbildung bringe ja doch nichts (Durchschnitt 12 Prozent), w¨ahrend die Gruppe der Stillen Reserve diese Einsch¨atzung nicht teilt (8 Prozent). Unterstrichen wird die positive Einstellung derjenigen zur Weiterbildung, die angeben, am meisten in formalen Lernkontexten gelernt zu haben: Von ihnen halten 69 Prozent Weiterbildung f u¨ r notwendig,um beruflich fit zu bleiben. Die große Gruppe, die arbeitsbegleitendes Lernen als wichtigsten Lernkontext benannt hat, bewegt sich auf der Ebene des Durchschnitts der Befragten. Auch in Bezug auf diesen Aspekt schl¨agt der Faktor der Selbststeuerung durch: Diejenigen, die eine hohe bzw. eine mittlere Selbststeuerung aufweisen, halten u¨ berdurchschnittlich h¨aufig Weiterbildung fu¨ r erforderlich, um beruflich fit zu bleiben. Diejenigen mit hoher Selbststeuerung sind extrem selten der Auffassung, dass sie genug gelernt h¨atten oder Weiterbildung „nichts bringe“. Schließlich stimmten u¨ berdurchschnittlich viele Personen der Gruppe, die sich eine hohe Selbststeuerung zuschreibt, dem Statement zu, dass Weiterbildung etwas sei, das Spaß mache.

5 Fazit Die Ergebnisse der repr¨asentativen empirischen Studie zeigen, dass informelle Lernkontexte fu¨ r eine große Gruppe der Erwerbspersonen den einzigen bzw. wichtigsten Lernkontext darstellen. Dies legt nahe, zuk¨unftig die Qualit¨at und die konkrete Ausgestaltung dieser Lernkontexte genauer zu untersuchen, denn wir wissen bisher zu wenig dar¨uber, welche Lernchancen im einzelnen diese Lernkontexte bieten, zum Beispiel inwieweit sie eine Verallgemeinerung oder einen Transfer des erworbenen Wissens erlauben oder wo diese Lernkontexte angesichts des aktuellen Handlungsdrucks,der h¨aufig nur wenig oder gar keine Reflexionsprozesse erlaubt, ihre Grenzen finden. Die nachgewiesene hohe Bedeutung informeller Lernkontexte muss vor dem Hintergrund realer Weiterbildungserfahrungen interpretiert werden: Wer nur Erfahrungen mit informellen Lernkontexten aufweist, kann formale Lernkontexten naheliegenderweise nicht als subjektiv bedeutsame Lernerfahrungen benennen. Dies relativiert die hohe subjektive Wertsch¨atzung informeller Lernkontexte.

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In Bezug auf die Frage, inwieweit sich ein Verst¨andnis davon durchgesetzt hat,dass Lernen im Erwachsenenalter kontinuierlich angelegt sein sollte,ergibt sich ein ambivalentes Ergebnis: Auf der einen Seite sprechen einige Indizien daf u¨ r, dass die zunehmende Bedeutung von Weiterbildung in der Bev¨olkerung wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite wird sie von vielen eher als Notwendigkeit oder Verpflichtung angesehen. Aufwand und Nutzen werden sehr kritisch gegeneinander abgewogen. Letzteres gilt insbesondere f u¨ r Personen, die ein niedriges Bildungsniveau aufweisen und eher informellen Lernkontexten eine hohe Bedeutung fu¨ r ihre Lernerfahrungen zuschreiben. Der Variable Selbststeuerung kommt ein außerordentlich hoher Erkl¨arungswert f u¨ r die Einstellungen zur Weiterbildung, das faktische Weiterbildungsverhalten und die Weiterbildungsdispositionen zu. Die Gruppe von Personen, die sich eine hohe Selbststeuerung ihrer Lernprozesse attestiert, weist eine außerordentlich positive Einstellung zur Weiterbildung und intensive Weiterbildungsaktivit¨aten auf. Geht man von der einleitend erl¨auterten plausiblen Annahme aus, dass in Zukunft fu¨ r die individuelle Gestaltung der Weiterbildungsbiographie Selbststeuerung von großer Bedeutung sein wird, dann wird deutlich, dass die Gruppe (ca. ein Drittel der Erwerbspersonen), die sich eine geringe Selbststeuerung zuschreibt, eine Problemgruppe darstellt. Hinzu kommt, dass die Selbststeuerung keineswegs voraussetzungslos ist, sondern eine Reihe von – insbesondere metakognitiver – F¨ahigkeiten impliziert, die bereits in der Kindheit entwickelt werden m¨ussen.Dies stellt neue Anforderungen an die allgemeinbildenden Schulen sowie familiale Unterst¨utzungsleistungen.

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Wissen und Raum – ein subtiles Beziehungsgeflecht peter meusburger

1 Einf u¨ hrung in die Problemstellung Noch vor wenigen Jahren vertrat die Mehrheit der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler die Ansicht, dass die Produktion und Anwendung von Wissen 1 ein Prozess sei, der nichts mit r¨aumlichen Gegebenheiten zu tun habe. Wissen sei universell, es k¨onne u¨ berall generiert werden und sei ubiquit¨ar verfu¨ gbar. Diese Ansicht konnte sich vermutlich deshalb so lange halten, weil sowohl die ¨ neoklassische Okonomie als auch der Marxismus von der Ubiquit¨at des Wissens ausgingen und weil jene, die nicht zwischen Wissen und Informationen unterschieden, davon ausgingen, dass das vorhandene Wissen mit Hilfe der Telekommunikation u¨ berall f u¨ r Anwendungszwecke genutzt werden k¨onne. Mit dem Schlagwort des Global Village wurden die Erwartungen verbunden, dass in Zukunft die Standortabh¨angigkeit von wissensintensiven Arbeitspl¨atzen abnehmen werde und sich die r¨aumliche Konzentration der Arbeitspl¨atze von hochqualifizierten Spezialisten und Entscheidungstr¨agern in den Zentren verringern werde. Solche „raumblinden“ Ans¨atze wurden in den letzten drei Jahrzehnten aus mehreren Richtungen zunehmend kritisiert. Als erste begr¨undeten die B¨urostandortforschung, 2 die Bildungsgeographie 3 und die Geography of Trans1

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3

Eine Zusammenfassung der wichtigsten Kategorien und Definitionen von Wissen findet sich unter anderem in Meusburger (1998, 59–81). In dem hier behandelten Zusammenhang ist vor allem die Unterscheidung in Fachwissen (wissenschaftliches Wissen), symbolisches Wissen (Religionen, Ideologien, Weltanschauungen) und a¨ sthetisches Wissen (Kunst) wichtig. Dabei ist Jahnke (2004) zuzustimmen, dass die Grenzen zwischen diesen Kategorien schwer feststellbar und fließend sind und wir es mit einer Hybridisierung der drei Ausdrucksformen des Wissens zu tun haben. Wissenschaften sind also nie frei von Ideologien; Religionen k¨onnen ¨ von wissenschaftlichen Erkenntnissen beeinflusst werden und auch die Kunst und Asthetik sind eine M¨oglichkeit Wissen auszudr¨ucken und zu vermitteln. Goddard 1971, 1973; Goddard/Morris 1976; Goddard/Pye 1977; Goddard et al. 1986; Goddard/Gillespie 1986. Meusburger 1980, 1998, 2000.

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actions 4 , warum sich Arbeitspl¨atze f u¨ r hochrangige Entscheidungstr¨ager und hochqualifizierte Spezialisten nicht im erwarteten Ausmaß aus den großen Zentren hinaus verlagern lassen. Sie erl¨auterten, warum f u¨ r hochrangige Entscheidungstr¨ager Face-to-face-Kontakte unverzichtbar sind und auch die symbolische Bedeutung des Standorts wichtig ist. Sie wiesen darauf hin, dass die neuen Kommunikationstechnologien eher zu einer weiteren Konzentration von Wissen und Macht und somit auch zu einer weiteren Versch¨arfung von zentral-peripheren Disparit¨aten der Qualifikationsstruktur des Arbeitsplatzangebotes fu¨ hren werden. Nur die Dezentralisierung von Routinefunktionen w¨urde erleichtert werden. Die interdisziplin¨are Wissenschaftsforschung (vor allem die Akteursnetzwerktheorie) 5 ,die psychologische Forschung u¨ ber kreative Milieus und die Organisationsforschung haben die These untermauert, dass der r¨aumliche Kontext (die lokale Situation, die Systemumwelt) die Schaffung,Aufnahme und Anwendung von neuem Wissen beeinflusst. Damit waren nicht nur regionale Unterschiede in der Forschungsf¨orderung oder Forschungsinfrastruktur gemeint, sondern die Geography of Science zeigte Interesse an den Schaupl¨atzen, an denen Experimente und Untersuchungen durchgefu¨ hrt, Wissen generiert und legitimiert wurde. 6 Wissenschaftliche Praxis wurde als r¨aumlich situiert und wissenschaftliches Wissen als lokal konstruiert charakterisiert. 7 Inzwischen hat eine zunehmende Anzahl von Autoren erkannt, dass r¨aumliche Unterschie¨ de des Wissens keine kurzfristigen Ubergangserscheinungen auf dem Wege zu einem o¨ konomischen Gleichgewicht oder einer gesellschaftlichen Gleichheit sind, sondern geradezu eine historische Konstante darstellen, die es bei vielen Forschungsfragen zu ber¨ucksichtigen gilt. Dieser Beitrag besch¨aftigt sich mit den Fragen, was man unter der R¨aumlichkeit des Wissens verstehen kann, warum ein r¨aumlich differenzierender Ansatz auch beim Thema Wissen neue Erkenntnisse bringen kann und worin die Bedeutung eines r¨aumlichen Kontextes bei der Produktion und Anwendung von Wissen liegt. Im ersten Abschnitt werden einige grunds¨atzliche Fragen zumVerh¨altnis zwischen R¨aumlichkeit,Wissenserwerb und Handeln sowie zur Bedeutung der r¨aumlichen Dimension bei der Analyse sozialer Sachverhalte er¨ortert. Anschließend wird anhand einiger Beispiele gezeigt, wie sich r¨aumliche Disparit¨aten des Wissens auf verschiedenen Maßstabsebenen darstellen.

4 5

6 7

Gottmann 1980, 1982. ¨ Einen ausf u¨ hrlichen Uberblick u¨ ber die soziologische, geographische und philosophische Wissenschaftsforschung bietet J¨ons 2003. Livingstone 2003. Latour 1987, Haraway 1999, Livingstone 1995, J¨ons 2003.

Wissen und Raum – ein subtiles Beziehungsgeflecht

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2 Situation, r¨aumlicher Kontext, Standort und Region – Variierende Beziehungen zwischen „Raum“ und Wissen Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung. 8

Man kann sich zu Recht die Frage stellen, ob mentale Gegebenheiten wie Wissen, Weltanschauungen oder Identit¨aten u¨ berhaupt r¨aumlich verortet werden k¨onnen oder d¨urfen. Ist es wissenschaftlich legitim, Wissen auf bestimmte Standorte oder Areale zu beziehen, wo es doch an Personen gebunden ist, die r¨aumlich mobil sind? Sollten Fragen des Wissens und Lernens nur akteursbezogen untersucht werden oder sind vielleicht die Wissensbest¨ande, die sich in der Architektur und den Regeln einer Organisation niederschlagen, eine genau so wichtige Forschungsfrage? Ist es nicht ein R¨uckfall in einen l¨angst u¨ berwunden geglaubten Geodeterminismus oder in eine Ontologisierung des Raums, wenn wir einer Situation oder einem lokalen Kontext eine Wirkkraft auf Handlungen oder Verhaltensweisen unterstellen? Mit welchen Raumkonzepten kann man die Beziehungen zwischen Kontext und Wissensproduktion analysieren, ohne in einen Determinismus zu verfallen? Sollten wir uns auch weiterhin an die Maxime der soziologischen Klassiker halten, dass Soziales nur mit Sozialem erkl¨art werden sollte 9 und die materielle Umwelt auf unser Denken und Handeln keinen Einfluss hat? Oder w¨are es vielleicht an der Zeit, die Erkenntnisse der Hirnforschung, Neurowissenschaften und Human¨okologie 10 st¨arker zu ber¨ucksichtigen? Diese Fragen deuten an, dass die Beziehungen zwischen R¨aumlichkeit (r¨aumlichem Kontext) und Wissen ein schwieriges und sehr umstrittenes Feld darstellen, das man meiden sollte, wenn man sich nicht der Kritik aussetzen will. Was ist die Motivation, sich trotzdem auf dieses wissenschaftstheoretische Glatteis zu wagen? R¨aumliche Disparit¨aten des Wissens sind seit Beginn der vertikalen Arbeitsteilung, das heißt seit der Entstehung des St¨adtewesens, empirisch nachweisbar. Die Arbeitsteilung und die engen Wechselbeziehungen von Wissen und Macht tragen dazu bei, dass bestimmte Arten von Wissen beinahe zwangsl¨aufig zu r¨aumlicher Konzentration und andere zur Dezentralisation neigen. 11 R¨aumliche Disparit¨aten des fachlichen und kulturellen (symbolischen) Wissens stellen seit mehreren Tausend Jahren ein fundamentales Strukturelement aller Gesellschaften dar. Regionale Disparit¨aten des Wissens haben sich zwar immer wieder ver¨andert und neu strukturiert, indem fr¨uhere Zentren des Wissens ihren Wissensvorsprung und ihre Bedeutung verloren 8

Simmel 1908. Die auch von Hard (1999) vehement vertretene cartesianische Auffassung, dass Soziales und Physisches konsequent zu unterscheiden seien, wird von einer zunehmenden Zahl von Autoren angesichts der neuen Ergebnisse der Kognitions- und Hirnforschung in Frage gestellt. 10 Vgl. Fischer-Kowalski/Erb 2003. 11 Meusburger 1998, 2000, 2004. 9

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haben und neue Zentren entstanden sind, aber die zentral-peripheren und regionalen Disparit¨aten des Ausbildungsniveaus,der beruflichen Qualifikationen und des symbolischen Wissens haben sich noch nie aufgel¨ost. Angesichts der Tatsache, dass r¨aumliche Disparit¨aten des Wissens erhebliche und langfristig wirksame Folgewirkungen haben, m¨ussen wir diese r¨aumlichen Disparit¨aten sowie ihre Ursachen und Folgewirkungen zu erkl¨aren versuchen.

Abb. 1. Kategorien der R¨aumlichkeit (Quelle: Harvey 2005, 105)

Ein Ansatz, der sich mit der R¨aumlichkeit des Wissens auseinandersetzt, kann einerseits als analytische Methode, andererseits auch als Instrument zur Theoriebildung fungieren. Die wissenschaftliche Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes h¨angt allerdings davon ab,welche Raumkonzepte man verwendet und ob es gelingt, eine Ontologisierung oder Substantialisierung des Raums zu verhindern. In der Literatur findet man eine große Vielfalt von Raumbegriffen und Raumkonzepten. 12 Der Raum kann als „Element sozialer Kommunikation“ 13 aufgefasst werden.Miggelbrink schl¨agt vor,Raum als ein semantisches Konzept der Ordnung zu begreifen, „in dem Physisch-Materielles als Element der Ordnung auftaucht, und dieser physisch-materielle Raum seinerseits etwas Semantisches ist“. 14 Ob ein absolutes, ein relatives oder relationales Raumverst¨andnis ad¨aquat ist, h¨angt in erster Linie von der wissenschaftlichen Fragestellung ab. 12 13 14

Harvey 2005, Koch 2003, Massey 1999b, Weichhart 1996, 1999, 2003; Werlen 1987, 1995, 1997. Hard 2002; Vgl. auch Lippuner 2005, 129. Miggelbrink 2002, 344.

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In seiner j¨ungsten Arbeit schl¨agt Harvey 15 eine Matrix vor, die neun Kategorien von R¨aumlichkeit umfasst (Abb. 1). Alle Felder dieser Matrix (alle Typen von R¨aumlichkeit) k¨onnen auch beim Thema Wissen jeweils fu¨ r bestimmte Handlungen, Themen und Generalisierungsstufen relevant sein. “Space is neither absolute, relative or relational in itself, but it can become one or all simultaneously depending on the circumstances. The problem of the proper conceptualization of space is resolved through human practice with respect to it [. . . ]. The question ‘what is space?’ is therefore replaced by the question ‘how is it that different human practices create and make use of different conceptualizations of space’ ”. 16 2.1 Die r¨aumliche Dimension als Mittel zur Darstellung von Verschiedenheit – Wahrnehmung und Erkenntnis durch die Interpretation von Mustern Die r¨aumliche Dimension ist ein wichtiges Mittel zur Erfassung und Darstellung von Verschiedenheit. Die Gleichzeitigkeit von Vielfalt ist nur in der r¨aumlichen Dimension darstellbar. Die vielen wechselseitigen Beziehungen zwischen R¨aumlichkeit, sozialen Beziehungen und der Konstruktion von Identit¨at wurden unter anderem von Massey sehr anschaulich beschrieben.“Space is a product of interrelations [. . . ] space is the sphere of the possibility of the existence of multiplicity; it is the sphere in which distinct trajectories coexist; it is the sphere of the possibility of the existence of more than one voice. Without space, no multiplicity; without multiplicity, no space [. . . ]. Multiplicity and space are co-constitutive”. 17 “The very possibility of any serious recognition of multiplicity and difference itself depends on a recognition of spatiality”. 18 “In order for there to be co-existing, multiple histories, there must be space”. 19 Eine Analyse von r¨aumlichen Mustern von Merkmalen, von r¨aumlichen Abgrenzungen, r¨aumlichen Kontexten, funktionalen r¨aumlichen Beziehungen und r¨aumlichen Diffusionsprozessen kann auch beim Thema Wissen, Ausbildung und Qualifikation einen zus¨atzlichen Erkenntnisgewinn bringen, weil ein r¨aumlich differenzierender Ansatz Fragen aufwirft, Antworten bereit stellt sowie Einflussfaktoren und Wechselbeziehungen erkennen l¨asst, die sich einem „raumblinden“ Ansatz nicht erschließen. Auch die Aus¨ubung und Repr¨asentation von Macht und die Darstellung von sozialen Statusunterschieden bedienen sich der r¨aumlichen Dimension. Die enge Beziehung zwischen Machtaus¨ubung und R¨aumlichkeit wird erstens dadurch unterstrichen, dass 15 16 17 18 19

Harvey 2005, 105. Harvey 1973, 13. Massey 1999b, 28. Massey 1999b, 30. Massey 1999b, 35.

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der Begriff Region dieselbe Wurzel hat wie die Begriffe rex, regieren, regulieren oder Regel. Zweitens werden zur Beschreibung von Machtbeziehungen, Entwicklungen und Statusunterschieden h¨aufig r¨aumliche Begriffe wie Zentrum, Peripherie, Marginalisierung (margin = Rand), Segregation, oben und unten (Ober- und Unterschicht), hoch und niedrig (hoch- und niedrigqualifiziert), Vorderseite und R¨uckseite, innen und außen (zum Beispiel Außenseiter), Fortschritt oder R¨uckschritt etc. verwendet. Die Aus¨ubung von Macht, die eigentlich in der Durchsetzung von Ideen (Zielen) sowie in der Steuerung, Koordination und Kontrolle von sozialen Systemen im Raum besteht, ben¨otigt Standorte, St¨utzpunkte,Verkehrslinien, Territorien, Einfluss- und Absatzgebiete, in denen die Anweisungen, Vorschriften, Regeln, Normen und Ideen einer u¨ bergeordneten Instanz durchgesetzt werden k¨onnen. Da die der menschlichen Wahrnehmung zug¨anglichen Informationen immer bruchst¨uckhaft sind, fassen die kognitiven Prozesse die im Raum positionierten Objekte und sensorischen Signale zu Mustern oder Situationen zusammen. Welche Muster, Situationen und Strukturen wir dabei erkennen und welche R¨uckschl¨usse wir daraus ziehen, h¨angt allerdings von unserem Vorwissen, unseren situativen Erwartungen und den symbolischen Bedeutungen ab, die wir Positionen oder r¨aumlichen Konfigurationen zuweisen.Aus der Forschung u¨ ber optische T¨auschungen ist bekannt, dass unser Gehirn unvollst¨andige Informationen mit Hilfe von fr¨uheren Erfahrungen,Wissensbest¨anden,Vorurteilen oder Erwartungshaltungen erg¨anzt. Zahlreiche Entscheidungssituationen verlangen vom Akteur die F¨ahigkeit, aus Spuren, Teilen oder Bruchst¨ucken ein „Ganzes“ zu rekonstruieren. Die entsprechenden Assoziationen oder Schlussfolgerungen werden nicht nur aus der Materialit¨at und der symbolischen Bedeutung der einzelnen Objekte, sondern ganz maßgeblich aus der r¨aumlichen Positionierung der Entit¨aten und den Relationen zwischen ihnen gezogen. So wie ein Geomorphologe aus der Abfolge, Lagerung, Dicke und r¨aumlichen Anordnung von verschiedenen Sedimentarten und Resten von organischem Material in einem Aufschluss R¨uckschl¨usse auf klimatische Bedingungen und geomorphologische Prozesse ziehen kann, die vor Zehntausenden von Jahren erfolgten, kann der Humangeograph durch die Zusammenschau der Positionen, Beziehungen und Bedeutungen bzw. aus dem Arrangement der Objekte im Raum ein Gesamtbild u¨ ber ein soziales Makroph¨anomen erhalten. Auch der Arzt kann nicht bei der Erfassung einzelner Symptome stehen bleiben, sondern seine Diagnose st¨utzt sich auf das Krankheitsbild, das sich aus einer Kombination von Symptomen zusammensetzt. 20 Friedrichs, Lepsius und Mayer 21 haben zwar die Metapher des Krankheitsbildes auch schon verwendet, sie haben aber u¨ bersehen, dass auch die Medizin der Soziologie in 20

21

Um aus diesem Krankheitsbild eine Diagnose erstellen zu k¨onnen,ben¨otigt man allerdings ein mehrj¨ahriges Medizinstudium, d.h. das Erkennen und Interpretieren eines Musters erfordert ein entsprechendes Vorwissen. Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998, 19.

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der Diagnose- und Prognosef¨ahigkeit vor allem deshalb u¨ berlegen ist, weil die Symptome auf Positionen in einem dreidimensionalen Raum, n¨amlich den K¨orper des Menschen, bezogen sind. Ohne eine Ber¨ucksichtigung der R¨aumlichkeit der Symptome bzw. ohne die banale Frage „wo tut es weh?“ w¨are auch die Diagnosef¨ahigkeit der Medizin deutlich geringer. Die strategische Positionierung und r¨aumlich u¨ berlegte Pr¨asentation von Dingen, Personen, Ereignissen und Themen ist auch eine wirksame Methode, um diesen eine unterschiedliche Bedeutung zuzuweisen, um Vergleiche zu ¨ erm¨oglichen oder zu verhindern,um auf Ahnlichkeiten oder Unterschiede hinzuweisen,um Kategorien und Abgrenzungen zu bilden oder zu vermeiden,eine soziale Differenzierung vorzunehmen, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Objekte und Themen zu lenken und andere Ereignisse abzuwerten, zu verschweigen oder zu zensurieren.Wie Hard 22 betont,ist in der sozialen Kommunikation die Verortung auch ein Mittel, um zu u¨ berzeugen und zu manipulieren sowie Sach- und Sozialinformation zu unterdr¨ucken. In vielen Entscheidungssituationen ist also die r¨aumliche Konfiguration oder die r¨aumliche Anordnung der Entit¨aten entscheidend. Ohne eine Analyse der r¨aumlichen Muster von Merkmalen und Beziehungen lassen sich viele gesellschaftliche Strukturen, Prozesse, Disparit¨aten, Probleme und Ursachen weder erkennen noch ausreichend erkl¨aren. Deshalb sollte eine Diagnose von sozialen Problemen nicht nur die Frage „seit wann?“, sondern immer auch die nach dem „wo“ einschließen. Gesellschaften oder Kulturen kann man nach Massey 23 als „spatio-temporal event“ oder „envelopes of space-time“ charakterisieren. Eine Nichtber¨ucksichtigung oder Vernachl¨assigung der r¨aumlichen Dimension f u¨ hrt bei den meisten sozial-, kultur- und wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen zu a¨ hnlichen Defiziten wie eine Außerachtlassung der historischen Dimension. 2.2 Das Mikro-Makro-Problem in der r¨aumlichen Dimension – der Wissenschaftler als Spurenleser Mit der Forderung nach Mehrebenenanalysen unterscheidet sich die Humangeographie nicht von der modernen Soziologie.Die fr¨uher unter Soziologen weit verbreitete Einstellung, dass eine Analyse des Verhaltens von Individuen wissenschaftlich fundiertere Erkenntnisse bringe als die Untersuchung von Makroph¨anomenen, scheint seit einigen Jahren auf dem R¨uckzug zu sein. Schluchter 24 weist zu Recht darauf hin, „dass das Erkl¨arungsobjekt der Soziologie [nicht] ausschließlich das individuelle Handeln“, sondern „vielmehr in der Regel ein Makroph¨anomen“, n¨amlich das Systemverhalten sei. „Methodologischer Individualismus heißt deshalb zun¨achst nur, dass die Analyse von 22

Hard 1999, 158. Massey 1999a, 22f. 24 Schluchter 2005, 24. 23

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makrosozialen Strukturen und Prozessen mikrofundiert erfolgen m¨usse“. 25 Auch Esser 26 geht davon aus, dass das Grundmodell einer soziologischen Erkl¨arung immer ein Mehrebenenmodell sei. Eine soziologische Erkl¨arung verlangt den methodisch kontrollierten Wechsel zwischen der Makro- und der Mikroebene. 27 Die Erkl¨arung eines Makroph¨anomens kann zwar h¨aufig nur u¨ ber die darunter liegende Ebene erfolgen. Ein pragmatischer methodologischer Individualismus geht jedoch nach Schluchter davon aus, dass die „Art und Tiefe der Mikrofundierung vom Erkl¨arungsproblem abh¨angig“ sei. 28 Die Mikroebene des Individuums ist sicherlich bei einigen Fragestellungen die am besten geeignete Analyseebene, es w¨are jedoch falsch, anzunehmen dass sie generell fundiertere Erkenntnisse liefert oder mit weniger Black Boxes konfrontiert ist als die Meso- und Makroebene. Die Mikroebene wird vor allem herangezogen, wenn es um die Erkl¨arung von Handlungen geht. Trotz der großen Erfolge der Hirnforschung und Neuropsychologie wissen wir auf der Mikroebene des Akteurs noch sehr wenig u¨ ber die Zusammenh¨ange zwischen Wissen und Handeln. Auf der Mikroebene gibt es noch zahlreiche umstrittene Probleme, wie zum Beispiel die Frage der Willensfreiheit, der nicht bewusst ablaufenden kognitiven Vorg¨ange und der neuronalen Determiniertheit von Entscheidungen. 29 Die Beziehungen zwischen Wissen und Handeln gelten als eine der schwierigsten Forschungsfragen der Sozialwissenschaften. Die Aussage, je h¨oher wir bei der Mehrebenenanalyse gehen, desto geringer wird die soziologische Kompetenz, 30 kann genauso umgedreht werden, etwa durch die Feststellung, je tiefer wir bei der Forschung u¨ ber die Ursachen des Handelns in die Neurophysiologie und Psyche des Menschen eindringen, umso mehr black boxes tun sich auf. „Viele Gr¨unde bleiben dem Beobachter oder dem Teilnehmer oder beiden pragmatisch ,verschlossen’, sie ergeben sich nicht einfach aus der Logik der Situation“. 31 Weder die fu¨ r ein Problem relevanten Handlungsabl¨aufe noch die Handlungswirkungen sind fu¨ r den Beobachter immer beobachtbar oder verst¨andlich. Einem Teil der methodischen Schwierigkeiten kann man dadurch ausweichen, dass man davon ausgeht, dass es in der Humangeographie so wie auch in anderen empirischen Sozialwissenschaften nicht (oder selten) um die Erkl¨arung von Ursache-Wirkung-Beziehungen geht, sondern um die Bestimmungsgr¨unde des Handelns. Nicht immer sind die Gr¨unde des Handelns auch die Ursachen des Handelns. Darauf haben j¨ungst wieder Schluchter 32 und 25

Schluchter 2005, 24. Esser 1993, 100. 27 Schluchter 2005, 25. 28 Schluchter 2005, 24. 29 Beckermann 2005; Prinz 1996, 1998, 2000; Schwan 2003, Singer 2003, Walter 1998. 30 Friedrichs, Lepsius, Mayer 1998, 23. 31 Schluchter 2005, 21. 32 Schluchter 2005. 26

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Albert 33 anhand von Paretos 34 Kausalmodell des Triangel-Schemas (siehe Abb. 2), hingewiesen. Bei Paretos F¨allen I (Leute tun B und glauben C) und II (Leute glauben C, weil sie B tun) fungieren Gr¨unde nicht als Ursachen und f¨allt jede Art der bewussten Regelorientierung aus. 35 Nur bei Paretos Fall III, ¨ wo der psychische Zustand A die Uberzeugung C bewirkt, die das Verhalten B 36 erzeugt, wo also Leute B tun weil sie C glauben, „liegen verstehbare, subjektiv gemeinte Gr¨unde vor, sei es in Gestalt der Motivierung durch Zweck-Maximen, sei es in Gestalt der Motivierung durch Norm-Maximen“. 37 Vor allem bei nichtrationalen Handlungen, die h¨aufiger sind als allgemein angenommen, fallen Erkl¨arung und Rechtfertigung auseinander. 38

Abb. 2. Das Triangel-Schema von Pareto (Quelle: Pareto 1935, erg¨anzt von Schluchter 2005 und vom Verf.)

Die vielen Black Boxes auf der Mikroebene sind einer der Gr¨unde, warum sich die Sozialwissenschaften bei bestimmten wissenschaftlichen Fragestellungen allein schon aus pragmatischen Gr¨unden Makroph¨anomenen (Systemen, Strukturen) oder h¨oheren Aggregationsstufen zuwenden m¨ussen. Viele Regularit¨aten, Zusammenh¨ange, Kongruenzen, Trends oder (in seltenen F¨allen) Gesetzm¨aßigkeiten k¨onnen nur auf der Meso- oder Makroebene oder bei sehr 33

Albert 2002. Pareto 1935. 35 Albert 2002, 627; Schluchter 2005, 22. 36 Pareto 1935, 180. 37 Schluchter 2005, 22. 38 Albert 2002, 633. 34

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großen Fallzahlen nachgewiesen werden. Ein weiterer pragmatischer Grund, sich nicht ausschließlich der Mikroebene zuzuwenden, besteht darin, dass der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in der Mehrzahl der F¨alle die Handlungen von Individuen gar nicht beobachten oder erfassen kann. Er befindet sich meistens nicht in der Rolle des Beobachters, sondern in der eines Spurenlesers, der a¨ hnlich wie ein Kriminalbeamter aus der r¨aumlichen Verteilung von Objekten und Spuren R¨uckschl¨usse auf vorausgegangene Handlungen zieht.Viele Mikroprozesse, die Makroph¨anomenen zu Grunde liegen, sind schon deshalb nicht erfassbar, weil die daf u¨ r notwendigen Quellen verschlossen bleiben, weil den entscheidenden Akteuren Anonymit¨at zugesichert wurde, diese zur Verschwiegenheit verpflichtet wurden oder weil das Ursachengeflecht so komplex ist, dass die entscheidenden Mikroprozesse im Dunkeln bleiben. Auch wenn sich eine Fragestellung auf Individuen konzentriert, kann das Handeln eines Akteurs nur verstanden oder erkl¨art werden, wenn man den Kontext einbezieht, in dem die betreffende Person sozialisiert wurde und mit dem sie sich in einer bestimmten Situation auseinandersetzen muss. Einstein wird die Aussage zugeschrieben: „Man muss die Welt nicht verstehen – man muss sich darin nur zurechtfinden“. Auch das Verb „zurechtfinden“ bezieht sich auf ein „wo“, also auf eine Situation. In der Mehrzahl der Entscheidungen, die ein Individuum zu treffen hat, stehen also nicht einzelne Objekte oder Individuen im Vordergrund, sondern eine Situation, die zu beurteilen ist. Da jede Generalisierung das Ziel hat, u¨ berfl¨ussige (das heißt f u¨ r einen bestimmten Zweck nicht ben¨otigte oder sogar st¨orende) Informationen wegzulassen und das Wichtige hervorzuheben, sind bei jeder Stufe der r¨aumlichen Generalisierung neue Fragen, Antworten und Erkenntnisse m¨oglich, die auf den anderen r¨aumlichen Maßstabsebenen wegen der Informationsflut oder des Informationsmangels nicht zu erzielen sind. Wenn man akzeptiert, dass viele Entscheidungen des Menschen auf dem Erkennen und Interpretieren von Mustern basieren, dr¨angt sich als n¨achstes die Frage auf, ob diese Muster oder Makroph¨anomene eine eigene Wirkkraft haben k¨onnen. Die meisten Humangeographen w¨urden derzeit diese Frage noch verneinen. Falls es der Hirnforschung, der Kognitionspsychologie, den Neurowissenschaften oder der Sozialbiologie jedoch gelingen sollte, die Beziehungen zwischen r¨aumlich verorteten, Sinn tragenden Objekten sowie den durch die Objekte ausgel¨osten Ged¨achtnisleistungen, Emotionen, Assoziationen und den bewusst oder nicht bewusst vorgenommenen Handlungen weiter aufzuhellen, k¨onnte dadurch in der Humangeographie ein bedeutender Paradigmenwechsel ausgel¨ost werden. 2.3 Kontext, Situation und Action Setting Die Sozialwissenschaften setzen sich seit langem mit den Fragen auseinan¨ der, ob das Ganze mehr ist als die Summe der Einzelteile, ob es etwas Uber-

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individuelles gibt, welche Rolle der Kontext, das System, das organisierte Ganze oder die Situation spielen und ob es so etwas wie ein emergentes 39 Ph¨anomen gibt, „das nicht auf die Intentionen der beteiligten Individuen reduziert werden kann“. 40 Emergente Eigenschaften sind zwar durch Mikroprozesse determiniert, es ist aber dennoch nicht m¨oglich, sie aus diesen vollst¨andig zu erkl¨aren. 41 Auch bei diesen Fragen macht es einen großen Unterschied, ob man die R¨aumlichkeit ber¨ucksichtigt oder nicht. Selbst wer, wie die radikalen Empiristen, 42 der Ansicht ist, dass es soziale Makroph¨anomene (wie Familie, Firma, Nation) gar nicht gibt bzw. dass diese keinen eigenst¨andigen Wirklichkeitsbereich darstellen und nur fiktionale Realit¨aten sind, r¨aumt ein, dass die Verteilung von Individuen im Raum eine zul¨assige Makrovariable ist. 43 F¨ur Collins sind die Basiseinheiten nicht Handlungen von Individuen, sondern soziale Beziehungen bzw. Begegnungen. Manche emergente Ph¨anomene k¨onnen erst durch die Kopr¨asenz von Individuen bzw. durch rituelle Praktiken zustande kommen. Obwohl es keine allgemein anerkannte Definition von Spiritualit¨at gibt, geht K¨opf 44 davon aus, dass sie nur innerhalb einer klar umgrenzten Personengruppe bzw. in (religi¨osen) Gemeinschaften mit festen Lebensformen und großen Gr¨underpers¨onlichkeiten zustande kommen kann. „Je lockerer eine Gemeinschaft organisiert ist, umso weniger kann sich in ihr eine spezifische Spiritualit¨at entwickeln“. 45 Fr¨ommigkeit ist dagegen auf den einzelnen Menschen bezogen, die Fr¨ommigkeit vieler Einzelpersonen ergibt noch keine Spiritualit¨at. Selbst wenn Familien oder Organisationen Fiktionen w¨aren, k¨onnen sie auf das Handeln von Akteuren eine betr¨achtliche Wirkung aus¨uben, weil sich die Individuen, die sich den betreffenden Ganzheiten (sozialen Systemen) zu¨ geh¨orig f u¨ hlen, an deren Regeln orientieren. Uberindividuelle Ganzheiten besitzen also selbst dann Handlungsrelevanz, wenn sie nur Vorstellungen sind. Dies gilt umso mehr, wenn solche Vorstellungen verr¨aumlicht werden k¨onnen, indem man ihre Existenz durch materielle Objekte, Symbole oder G¨ultigkeitsbereiche von Gesetzen oder Regeln markieren kann. Begriffe wie Kontaktpotential, kreatives Milieu, Action Setting oder r¨aumlicher Kontext unterscheiden sich von anderen Makroph¨anomenen vor allem dadurch, dass sie einen r¨aumlichen Bezug aufweisen. Der Begriff Kontext steht nicht nur f u¨ r eine u¨ berindividuelle Situation. Sondern ein r¨aumlicher Kontext setzt sich a¨ hnlich wie

39

Von Emergenz wird dann gesprochen,„wenn Makrogebilde Eigenschaften aufweisen,die nicht auf die Mikroebene zur¨uckf u¨ hrbar sind“ (Heintz 2004, 5). 40 Heintz 2004, 3. 41 Heintz 2004, 7. 42 Z. B. Collins 1981, 2000. 43 Collins 1981, 989; Vgl. auch Heintz 2004, 15f. 44 K¨opf 2004, 1591f. 45 K¨opf 2004, 1592.

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ein Akteursnetzwerk 46 aus materiellen Entit¨aten, die sozial u¨ berformt sein k¨onnen, aus Menschen und aus ideellen Entit¨aten zusammen. Was den r¨aumlichen Kontext von anderen sozialen Makroph¨anomenen unterscheidet, ist die „Bindungsintensit¨at“, die zwischen r¨aumlich verorteten materiellen Entit¨aten sowie Personen, Ideen und daraus resultierenden hybriden Formen besteht. Die Bindung an einen Ort resultiert aus der Abh¨angigkeit der Akteure von Infrastruktur und Ressourcen, u¨ ber die nur bestimmte Standorte verfu¨ gen, aus unverzichtbaren Face-to-face-Kontakten im Rahmen von Lernund Entscheidungsprozessen, die nur bei bestimmten Kontexten m¨oglich sind, und auf der symbolischen Bedeutung und Anziehungskraft, u¨ ber die nur bestimmte r¨aumliche Einheiten oder Institutionen verf u¨ gen.Da ein Kontext nicht nur Aktivit¨aten erm¨oglichen oder verhindern, sondern auch eine unterschiedliche symbolische Bedeutung aufweisen kann, kann er die r¨aumliche Mobilit¨at von Menschen, Ressourcen und Ideen beeinflussen und zur Entstehung lange andauernder Pfadabh¨angigkeiten beitragen. Je kostspieliger die Infrastruktureinrichtungen und je h¨oher die Qualifikationsanspr¨uche an die Akteure sind, die mit diesen Einrichtungen arbeiten, umso immobiler sind sie. Die materiellen Entit¨aten und die mit ihnen verbundenen Funktionen und symbolischen Bedeutungen sorgen fu¨ r die r¨aumliche Verwurzelung oder Bindung von Menschen und Ideen an bestimmte Standorte. Obwohl nur Menschen Eigenschaften wie Kreativit¨at oder Qualifikationen aufweisen k¨onnen, werden solche Merkmale im Zuge eines kognitiven Reduktionsprozesses auch r¨aumlichen Einheiten oder Kontexten zugeschrieben, so dass man zum Beispiel von kreativen Milieus spricht. Dies darf nicht mit einer Substantialisierung oder Ontologisierung des Raums verwechselt werden, sondern ein Kontext stellt ein Potential dar, welches bestimmte Handlungen erm¨oglicht oder beg¨unstigt und andere erschwert oder verhindert.Dieses lokale oder regionale Potential beruht einerseits auf den F¨ahigkeiten, Qualifikationen, Erfahrungen, Normen und sozialen Strukturen der dort arbeitenden oder wohnenden Bev¨olkerung, andererseits auf den unterschiedlichen r¨aumlichen Verflechtungen und Interaktionsr¨aumen des betreffenden Standorts oder Areals. Verschiedene r¨aumliche Kontexte bieten unterschiedliche M¨oglichkeiten der Informationsbeschaffung, des Nachahmens und Lernens an, sie sind einem unterschiedlichen Wettbewerb ausgesetzt, genießen unterschiedliche Freiheiten, sie offerieren aber auch unterschiedliche Chancen und Risiken. Im Zuge der Reduktion von Komplexit¨at werden zum Beispiel das Image, die Ressourcen und das intellektuelle Milieu einer Institution (Universit¨at) nicht auf die daf u¨ r verantwortlichen Individuen bezogen, sondern auf den Standort projiziert. Eine r¨aumliche Einheit ist nicht nur eine B¨uhne, auf der Aktivit¨aten stattfinden und Spuren hinterlassen. Bestimmte Orte oder Gebiete k¨onnen soziale 46

Vgl. J¨ons 2003, 128.

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Kontakte (zum Beispiel wissenschaftliche Diskurse) erleichtern oder erschweren, Orte k¨onnen eine spezifische symbolische Bedeutung haben, Chancen oder Gefahren andeuten, Menschen anziehen oder abschrecken, einen hohen oder niedrigen sozialen Status aufweisen. Die r¨aumliche Verortung kultureller Elemente und Sinn tragender Objekte schafft Kontextbeziehungen, welche Angeh¨orige einer bestimmten Kultur, Religion oder Interessengruppe etc. auffordern k¨onnen, bestimmte Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen. Die mit kulturellen Bedeutungen versehene materielle Umwelt kann soziale Beziehungen und T¨atigkeitsabl¨aufe ordnen und somit eine R¨uckwirkung auf die soziale Praxis haben. Das Wirkungspotential eines Kontexts ist nicht identisch mit der Summe der Wirkungspotentiale von einzelnen Einflussfaktoren. Der r¨aumliche Kontext besteht also nicht aus Dingen, Menschen und Ideen, die sich in einer r¨aumlichen Einheit im Laufe der Zeit angesammelt haben, sondern er ist gleichsam die Arena, in der verschiedenste Strukturen, Prozesse und Einflussfaktoren zusammenwirken, sich in ihrer Wirkung verst¨arken oder zum Teil auch neutralisieren k¨onnen. Die Wirkung eines Einflussfaktors auf das Handeln oder die Korrelationen, Abh¨angigkeiten und Wechselbeziehungen zwischen zwei Variablen k¨onnen in der r¨aumlichen Dimension je nach Kontext stark variieren. Abb. 3 zeigt einige der wichtigsten Einflussfaktoren, die in Mitteleuropa das Bildungsverhalten ¨ der Kinder (zum Beispiel die Ubertrittsraten in H¨ohere Schulen) beeinflussen. In einem Bergbauerngebiet sieht das Zusammenwirken der Einflussfaktoren, die das Bildungsverhalten bestimmen, anders aus als in einer Großstadt. Ob sich die kognitiven F¨ahigkeiten eines Sch¨ulers in seinem schulischen Erfolg niederschlagen, h¨angt auch von seinem Umfeld, also vom Beruf und Ausbildungsniveau der Eltern, den F¨ahigkeiten und dem Einfluss der Lehrpersonen, dem lokalen Arbeitsplatzangebot und den Einstellungen seiner Peer Group ab. Nat¨urlich kann man untersuchen, welchen Einfluss das Ausbildungsniveau des Vaters oder der Beruf der Mutter auf die soziale Mobilit¨at eines Kindes haben. Allerdings hat das Ausbildungsniveau des Vaters auf die soziale Intergenerationen-Mobilit¨at der Kinder in l¨andlichen Kleingemeinden einen anderen Einfluss als in Großst¨adten. 47 Die Tatsache, dass Korrelationen zwischen sozioo¨ konomischen Variablen in der r¨aumlichen Dimension variieren, wird in soziologischen Arbeiten leider h¨aufig u¨ bersehen. 48 Unter einem Action Setting 49 wird in dieser Arbeit in Anlehnung an Weichhart „ein hybrides Realit¨atskonzept verstanden, in dem Werte und soziale Symbolik, mentale Bewusstseinszust¨ande und physisch-materielle K¨orper und Dinge in einem systemaren Grundmodell zusammengefasst“ 50 werden. Der Geschehensablauf in einem Setting wird durch so genannte Programme ge47

Vgl. Meusburger 1980, 170–179. Ein Beispiel w¨are etwa Schimpl-Neimanns 2000. 49 Barker 1968; Weichhart 1986, 1996, 1999, 2003. 50 Weichhart 2003, 28. 48

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Abb. 3. Einflussfaktoren des Bildungsverhaltens (Quelle: Meusburger 1999, 301)

steuert, welche die Regeln, Abl¨aufe, Rollenverteilungen, Verantwortlichkeiten, Interaktionsmechanismen und Kontrollmechanismen beschreiben. 51 „Durch das Setting-Programm kommt es zu einer Koordination der Handlungsabl¨aufe verschiedener Akteure“. 52 Ein Setting kann Akteure zu bestimmtem, regelgeleitetem Handeln veranlassen. Die meisten Akteure haben im Rahmen ihrer Sozialisation die f u¨ r einen bestimmten kulturellen Kontext wichtigen Regeln, Normen, Konventionen und Rollenbilder internalisiert bzw. gelernt, welches Verhalten bei einem bestimmten Action Setting angemessen, erlaubt, toleriert, erw¨unscht oder verp¨ont ist. Solche Action Settings determinieren zwar nicht die Art des Handelns, aber sie veranlassen gut informierte, Anerkennung suchende oder eine bestimmte Absicht verfolgende Akteure, sich an bestimmten Schaupl¨atzen in einer Weise zu verhalten, die der kulturellen Bedeutung des Ortes angemessen ist. Ein Akteur, der die symbolische oder kulturelle Bedeutung eines Action Settings (zum Beispiel einer Moschee, einer Synagoge, einer Bank oder eines Kinderspielplatzes) nicht kennt, wird sich nicht den Erwartungen entsprechend verhalten. Wenn er jedoch merkt, dass er durch sein Verhalten Anstoß erregt, sein Ziel nicht erreicht, Normen verletzt oder gar mit Sanktionen zu rechnen hat, wird 51 52

Vgl. Weichhart 2003, 30. Weichhart 2003, 34.

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er Konsequenzen ziehen und entweder den Ort in Zukunft meiden oder sein Verhalten den Erwartungen anpassen. 2.4 Der Kulturraum als Areal, in dem bestimmte Leitbilder oder „Wahrheiten“ dominieren Auf h¨oheren r¨aumlichen Aggregationsebenen (Region, Kulturraum etc.) muss der Nachweis einer Beziehung zwischen Raum, Wissen und Handeln mit anderen Methoden und theoretischen Konzepten erfolgen als auf der Meso- oder Mikroebene. Im Zusammenhang mit Wissen kann man eine Region 53 entweder anhand von kulturellen Merkmalen (Praktiken, Ritualen) und Leitbildern definieren, welche in ihr dominieren, oder man verwendet Indikatoren, welche Gemeinsamkeiten des symbolischen Wissens oder der kulturellen Zusammen¨ geh¨origkeit (Sprache, Ethnizit¨at, Religion) andeuten. Uber Generationen hinweg kumulierte und durch soziale Kontrolle und Rituale verfestigte Best¨ande von symbolischem Wissen werden nicht nur zwischen Akteuren vermittelt, sondern sie schlagen sich auch in Regeln, Geboten, Verboten, Tabus, religi¨osen ¨ und politischen Uberzeugungen, kulturellen Traditionen und sozialen Organisationsformen nieder, die f u¨ r bestimmte Gebiete aus Tradition, aufgrund religi¨oser Gebote oder sogar per Gesetz g¨ultig sind und gewisse Anpassungszw¨ange aus¨uben. Da sich die Einfluss- und Kontrollm¨oglichkeiten der Institutionen und Eliten, die symbolisches Wissen produzieren und verbreiten, auf bestimmte Raumeinheiten beschr¨anken,ist auch die Hegemonie von bestimmten kulturellen Traditionen,Weltbildern, Ideologien und Religionen auf bestimmte R¨aume begrenzt, deren Ausdehnung sich zwar ver¨andern kann, deren G¨ultigkeitsoder Anspruchsbereich jedoch klar durch Symbole (zum Beispiel Flaggen, Denkm¨aler, Ortstafeln, Grenzsteine, Graffiti etc.) markiert wird. Symbolisches Wissen kann in bestimmten Lokalit¨aten oder Regionen, in denen es kraft ¨ Uberlieferung f u¨ r wahr oder richtig gehalten wird, in denen es durch Traditionen und ein kollektives Ged¨achtnis gest¨utzt und legitimiert wird und deshalb auf allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz st¨oßt, eine enorme Wirksamkeit entfalten, eine große Mobilisierungskraft und soziale Kontrolle aus¨uben und somit das Handeln der Menschen stark beeinflussen. Diese Vermittlung der eigenen Kultur, Identit¨at und Ideologie an die n¨achste Generation funktioniert umso leichter, je weniger sie von konkurrierenden Eliten in Frage gestellt wird und je eher man in der Lage ist, die Institutionen, welche Wissen produzieren und verbreiten, zu kontrollieren (vgl. Beitrag von W. Gamerith in diesem Band). Bei der Verwendung des Begriffs Kulturraum ergeben sich zwei Gefahren, n¨amlich, dass man in die „territoriale Falle“ ger¨at oder einem Isomorphismus 53

Vgl. Blotevogel 2004.

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verf¨allt. In die territoriale Falle tritt man dann, wenn man davon ausgeht, dass sich Akteure innerhalb eines kulturell homogenen Raums a¨hnlich verhalten oder a¨ hnliche Ziele verfolgen. Wenn man einen Raum nach kulturellen Merkmalen abgrenzt, bedeutet dies nicht, dass es innerhalb dieses kulturell definierten Raumes keine Opposition, kein abweichendes Verhalten, keine Konflikte, keine soziale Differenzierung oder keinen sozialen Wandel gibt. Nur die Dominanz von Leitbildern und Normen kann r¨aumlich fixiert werden, ob diese Normen befolgt werden und wie viele Menschen sich in ihrem Handeln danach richten, ist eine v¨ollig andere Frage. Die Beziehungen zwischen Kultur (Wissen) und Raum d¨urfen auch nicht als Isomorphismus aufgefasst werden. Kulturell definierte R¨aume sind nicht etwas Fixes oder Abgeschlossenes, sondern st¨andig im Werden und in Ver¨anderung. Sie sind “socially-constructed and labelled envelopes of space-time, which once did not exist [. . . ], which have changed in spatial shape along the time dimension, which have always existed in relation to elsewhere (there are no pure identities, no internal histories of uniqueness [. . . ]), and which maybe one day will cease to exist [. . . ] We are constantly making and re-making the time-spaces through which we live our lives”. 54 Eine Kultur dr¨uckt sich nicht nur durch Gemeinsamkeiten im symbolischen Wissen aus, sondern auch in materiellen Artefakten und kulturellen Praktiken (Rituale, Folklore, Musik etc.). Zur Festigung der eigenen Identit¨at umgibt man sich mit Gegenst¨anden und Symbolen (zum Beispiel mehrsprachige Ortstafeln) und vollf u¨ hrt Rituale, die der Schaffung einer eigenen Identit¨at und der Abgrenzung von anderen Identit¨aten dienen. Diese Artefakte und Praktiken sind r¨aumlich lokalisierbar und k¨onnen deshalb zumindest als grobe Markierungen f u¨ r die r¨aumliche Ausdehnung von kulturellen Identit¨aten dienen.Selbst wenn die subjektzentrierte Handlungstheorie aus wissenschaftstheoretischen Gr¨unden eine Substantialisierung des Raums ablehnt, 55 so sind Reduktionen von komplexen sozialen Tatbest¨anden auf Orte, Ereignisse, Gegenst¨ande, Institutionen oder Personen aus kognitiven Gr¨unden (Reduktion der Informationsflut) unvermeidbar und allt¨aglich. 56 Orte k¨onnen etwas Einzigartiges darstellen und eine sehr hohe symbolische Aufladung erfahren.“This is a notion of place where specificity (local uniqueness, a sense of place) derives not from some mythical roots nor from a history of relative isolation [. . . ] but precisely from the absolute particularity of the mixture of influences found together there”. 57 Damit will ich nat¨urlich nicht sagen, dass alle diese Reduk54

Massey 1999a, 22f. Werlen 1987, 1995, 1997. 56 Weil mit bestimmten Orten (Workuta, Auschwitz, Abu Ghraib etc.) bestimmte Tatbest¨ande verbunden werden, kann die Nennung oder Besichtigung dieser Orte auch konkrete Erinnerungen und Emotionen ausl¨osen, die allerdings nach dem Informationsniveau der Akteure variieren. 57 Massey 1999a, 22. 55

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tionen und Substantialisierungen akzeptiert werden sollen, sondern nur, dass sie st¨andig stattfinden und wir sie deshalb ber¨ucksichtigen sollten.

3 Theoretische Grundlagen der R¨aumlichkeit des Wissens 3.1 Wettbewerb, soziale Evolution und Wissen Sobald Wissen mit N¨utzlichkeit, Macht, Selbsterhalt von Systemen oder Wettbewerb in Beziehung gebracht wird, geht es nicht so sehr um Wissen an sich, sondern um einen zeitlichen Wissens-, Qualifikations- und Informationsvorsprung. Die Wettbewerbsf¨ahigkeit eines Akteurs, einer Organisation oder einer regionalen Einheit h¨angt in vielen F¨allen vom Zeitpunkt ab, zu dem ein bestimmtes Wissen erworben oder in Handlungen umgesetzt wurde. Eine zeitliche Verz¨ogerung in der Aufnahme von Informationen, im Erwerb oder der Anwendung von Wissen, Qualifikationen oder Technologien kann im Rahmen eines kumulativen Selbstverst¨arkungsprozesses zu lange andauernden Abh¨angigkeiten und Benachteiligungen sowie zu Weichenstellungen f u¨ hren, die lange Zeit nicht mehr r¨uckg¨angig gemacht werden k¨onnen. Daraus resultiert, dass die Wettbewerbsf¨ahigkeit eines Akteurs, eines Unternehmens oder einer Region niemals von einem absoluten Niveau an Wissen abh¨angt, sondern von einem zeitlichen oder qualitativen Vorsprung an Wissen im Vergleich zu anderen Akteuren, Unternehmen oder Regionen. Jene Akteure, sozialen oder r¨aumlichen Systeme, die u¨ ber einen situationsund problembezogenen Wissens-, Erfahrungs- und Technologievorsprung verfu¨ gen und diesen in Handlungen umsetzen k¨onnen, sind bei langfristig wirksamen Weichenstellungen und Umbruchsituationen meist besser auf Herausforderungen, Lern- und Anpassungsprozesse vorbereitet als jene, die ein Informations- und Wissensdefizit aufweisen. Sie k¨onnen aufgrund ihres Wissens- und Informationsvorsprungs neue Entwicklungen fr¨uher erkennen, eine neue Situation besser analysieren, ihnen passieren weniger Fehlentscheidungen, sie k¨onnen die sich ergebenden Chancen besser nutzen und Risiken eher vermeiden. 58 Einen Wettbewerb 59 „¨uberleben“ nach diesem Ansatz jene Systeme oder Regionen, die flexibel und lernf¨ahig sind, die st¨andig ihre Wissensbest¨ande erweitern, die sich infolge ihrer Lernf¨ahigkeit immer wieder 58

An dieser Stelle k¨onnte der Einwand kommen, dass die Stasi bestens informiert war und das System DDR trotzdem untergegangen ist. Die Antwort darauf lautet, dass die Ideologie (der Filter des symbolischen Wissens) die Wahrnehmung der Entscheidungstr¨ager verzerrt, eine realit¨atsnahe Interpretation der erhobenen Fakten verhindert und bestimmte Schlussfolgerungen fu¨ r eine Reform des Handelns verboten hat. 59 Es geht hier nicht nur um einen o¨ konomischen Wettbewerb, auch Parteien, Ideologien oder Religionen befinden sich in einem Wettbewerb um Anerkennung, Glaubw¨urdigkeit und Anh¨anger. Auch in zentralen Planwirtschaften gab es den so genannten b¨urokratischen Wettbewerb zwischen staatlichen Unternehmen.

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neue Organisationsstrukturen geben, die sich rechtzeitig auf neue Situationen und Herausforderungen umstellen, sich zumindest in Teilbereichen u¨ ber l¨angere Zeitr¨aume einen Wissensvorsprung sichern k¨onnen und diesen auch in entsprechende Handlungen umzusetzen verm¨ogen. Die zeitliche Dimension hat im Zusammenhang mit Wissen aus mehreren Gr¨unden eine kaum zu u¨ bersch¨atzende Bedeutung. Erstens kann in der Regel erst nach einem Ereignis, nach dem vorl¨aufigen Ende eines konkreten Wettbewerbs, nach dem Vorliegen der Ergebnisse festgestellt werden, wie realit¨atsnah eine Analyse oder wie weltfremd eine soziale Konstruktion war, ob bei der Verfolgung eines Ziels die richtigen Methoden angewandt wurden, wer u¨ ber das f u¨ r eine Probleml¨osung oder fu¨ r ein gesetztes Ziel notwendige Wissen verf u¨ gte und wer aufgrund seiner mangelhaften Kenntnisse und Qualifikationen die Lage falsch beurteilte oder die Konsequenzen seiner Entscheidungen nicht einsch¨atzen konnte. Die Zeit hat gleichsam die Funktion eines Schiedsrichters, der feststellt, ob das f u¨ r die Bew¨altigung eines Problems erforderliche Wissen vorhanden war. Zweitens kann es zwischen dem Erwerb von Wissen und den empirisch erfassbaren Auswirkungen des neu erworbenen Wissens eine Zeitspanne von vielen Jahren geben. Drittens h¨angen die Auswirkungen eines Wissenserwerbs auch davon ab, wann man ein bestimmtes Wissen (zum Beispiel eine neue Technologie) oder bestimmte Kenntnisse erwirbt und einsetzt. Einen zeitlichen Vorsprung k¨onnen schon definitionsgem¨aß nicht alle Akteure oder Standorte haben, deshalb manifestiert sich ein zeitlicher Wissensvorsprung oder -r¨uckstand zwangsl¨aufig in r¨aumlichen Disparit¨aten. Selbst wenn die Universalisten, welche davon ausgehen, dass der soziokulturelle Kontext auf die Generierung von wissenschaftlichem Wissen keinen Einfluss hat, Recht h¨atten, w¨urden sich schon aus dem Wettbewerb um die Anwendung dieses Wissens und aus der zeitlichen Verz¨ogerung in der Verbreitung des wissenschaftlichen Wissens r¨aumliche Disparit¨aten ergeben. Die Konzepte Wettbewerb, Arbeitsteilung, Bew¨altigung von Ungewissheit, funktionale Differenzierung und soziale Evolution implizieren zwangsl¨aufig eine r¨aumliche Ungleichverteilung von Wissen. 3.2 Kommunikationsprozess zwischen dem Sender und dem Empf¨anger einer Information Manche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler verwenden noch Kommunikationsmodelle, in denen weder zwischen Wissen und Information noch zwischen verschiedenen Arten von Wissen unterschieden wird. Dies mag gerechtfertigt sein, solange man sich mit der Wirtschaft oder der Gesellschaft befasst und die r¨aumliche Dimension außer Acht l¨asst. Sobald jedoch r¨aumliche Disparit¨aten (Entwicklungsunterschiede) oder ein Diffusionsprozess im Vordergrund stehen, ist eine Unterscheidung zwischen Wissen und Information

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unverzichtbar. Im Bewusstsein des Senders einer Nachricht m¨ogen die Grenzen zwischen Information und Wissen aus subjektiver Sicht des Betroffenen verschwimmen, obwohl sie auch hier objektiv nachweisbar sind. Sobald es um ¨ eine Ubertragung von Informationen von einem Sender zu einem Empf¨anger geht, ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Wissen und Information zu¨ mindest auf der Seite des Empf¨angers jedoch unverzichtbar. Die Ubertragung einer Information vom Sender zum Empf¨anger ist von mehreren kognitiven Verarbeitungsvorg¨angen abh¨angig, die nichts mit der Information an sich zu ¨ tun haben. Am Beginn und am Ende der Ubertragung einer Information, also beim Sender und beim Empf¨anger einer Information, ist jeweils der menschliche Geist beteiligt. Das Gehirn ist nicht in der Lage, die Außenwelt einfach abzubilden, sondern es schafft sich eine eigene Wahrnehmungswelt – eine Art virtuelle Realit¨at. Nicht alles Wissen ist in Schrift, Worten oder Gesten auszudr¨ucken und somit mitteilbar. Der Produzent von Wissen (Sender) weiß mehr, als er mitteilen kann, und der Empf¨anger ist mehr Informationen ausgesetzt, als er verstehen und verarbeiten kann. Da es sowohl beim Vorgang des Sendens als auch beim Vorgang des Empfangens Informationsverluste gibt, entsteht bei jedem Versuch, Wissen von A nach B zu u¨ bertragen, eine r¨aumliche Differenz. Wissen basiert auf Informationen, die verarbeitet, reflektiert und verinnerlicht worden sind. Informationen sind also gleichsam eine Vorstufe oder ein Rohstoff des Wissens. Zeichen und Daten m¨ussen jedoch erst empfangen und in Informationen u¨ berfu¨ hrt werden, und Informationen m¨ussen verarbeitet, in ihrer Bedeutung erkannt und bewertet sowie mit anderen Wissensinhalten assoziativ verkn¨upft werden, bevor sie ein Empf¨anger in Wissen umwandeln kann. Wenn jemand Zugang zu einer Information hat, heißt dies noch lange nicht, dass er sie versteht und reflektiert, dass er alle damit verbundenen Implikationen erkennt, dass er die Information mit anderen Wissensinhalten assoziativ verkn¨upfen kann oder dass er die Information als g¨ultig oder glaubw¨urdig akzeptiert und sie zu seinem Nutzen in Handlungen umsetzen kann. Aus diesem prinzipiellen Unterschied zwischen Information und Wissen folgt auch die Tatsache, dass man mit den heutigen M¨oglichkeiten der Telekommunikation zwar Daten und Informationen in Sekunden weltweit verbreiten kann, aber nicht Wissen (Qualifikationen, fachliche Kompetenzen oder Kreativit¨at). Komplexe Wissensbest¨ande, Ged¨achtnisleistungen, Erfahrungen, Kreativit¨at und Kompetenzen sind an Personen und Organisationen gebunden und somit r¨aumlich st¨arker „verwurzelt“. Dieser st¨arkere Raumbezug von Wissen resultiert auch daraus, dass sich Wissensbest¨ande unter anderem auch in Regeln, kulturellen Praktiken und Organisationsstrukturen repr¨asentieren, dass vor allem symbolisches Wissen einer gewissen sozialen Kontrolle unterliegt und dass Regeln, Gebote oder Kontrolle nur in bestimmten r¨aumlichen Einheiten durchgesetzt werden k¨onnen.

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Die Geschwindigkeit, mit der sich neues Wissen in der r¨aumlichen Dimension verbreitet, h¨angt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu geh¨oren unter anderem die Art des Wissens, das Interesse der Wissensproduzenten, ihre Informationen oder ihr Wissen (kostenlos) preiszugeben, die F¨ahigkeiten und Ressourcen, eine Plattform zu finden und zu finanzieren, die geeignet ist, „die Botschaft an den Mann bzw. die Frau zu bringen“, sowie die F¨ahigkeit und Bereitschaft der potentiellen Empf¨anger, dieses Wissen anzunehmen. Am schnellsten verbreitet sich (theoretisch) das so genannte Alltagswissen oder konflikt- und ideologiefreie Jedermannswissen, 60 das leicht artikulierbar ist, f u¨ r dessen Aufnahme man keine Vorkenntnisse ben¨otigt, dessen Verbreitung u¨ ber Massenmedien im Interesse des Produzenten oder Senders liegt und das kulturelle Identit¨aten nicht in Frage stellt.Allerdings wird vielfach untersch¨atzt, dass man in unseren Zeiten der Informations¨uberflutung manchmal sehr hohe Werbe- oder PR-Budgets und gute Kontakte zu den Gatekeepers der Medien ben¨otigt, um auch sehr einfache Nachrichten u¨ ber Massenmedien bekannt machen zu k¨onnen. In einigen Regionen kommen selbst diese frei verfu¨ gbaren Informationen nicht an, sei es, weil ihnen die notwendigen technischen Voraussetzungen zum Empfang der Informationen fehlen, sei es, weil die Bev¨olkerung noch nicht lesen und schreiben kann – was zu Beginn des 21.Jahrhunderts noch f u¨ r etwa 800 Mio. Menschen zutrifft. Eine zweite Kategorie von Wissen kann hingegen nicht oder nur schwer in der r¨aumlichen Dimension verbreitet werden, weil es dem Produzenten oder Inhaber des Wissens nicht gelingt, sein Wissen zur G¨anze durch Worte oder Handlungen verst¨andlich zu machen, so dass bei der Kodierung (For¨ mulierung) und Ubertragung des Wissens zum Empf¨anger jeweils deutliche Informationsverluste auftreten. Weisheit kann zum Beispiel nicht u¨ bertragen werden, sondern muss erworben werden. Eine dritte Kategorie von Wissen st¨oßt hinsichtlich ihrer r¨aumlichen Diffusion sehr schnell an ihre Grenzen, weil sie nur von einer bestimmten Kategorie von Akteuren verstanden oder akzeptiert wird. In diesem Falle werden die Informationen vom Sender zwar zur Verfu¨ gung gestellt, aber von einem Teil der potentiellen Empf¨anger nicht aufgenommen. Vielmehr h¨angt es vom K¨onnen und Wollen des Empf¨angers ab, ob er eine Information aufnimmt, versteht, in seinen Wissensbestand integriert und in Handlungen umsetzt. Beim Versuch, diese Art von Wissen in der r¨aumlichen Dimension zu verbreiten, treffen die vom Sender frei gegebenen Informationen auf zwei Filter, die man als Vorwissen bezeichnen kann. Der erste Filter betrifft das so genannte fachliche Vorwissen. Er besteht aus der Kenntnis von Codes (zum Beispiel Fremdsprachen, Fachsprachen), 60

Jenes Alltagswissen, das nicht ideologie- und konfliktfrei ist, wird ebenfalls nicht u¨ berall angenommen, oder es erf¨ahrt w¨ahrend seiner r¨aumlichen Diffusion eine Transformation, indem Fakten anders interpretiert, Ereignisse besch¨onigt, verharmlost oder u¨ bertrieben werden.

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aus Fachwissen, beruflichen Qualifikationen und F¨ahigkeiten, die in mehrj¨ahrigen Lernprozessen erworben wurden. Er hat einen Einfluss darauf, ob der Empf¨anger eine Information aufnehmen und verstehen kann, ob er die Bedeutung und Tragweite der Information richtig einsch¨atzen kann, ob er sie in seinen Wissensbestand integrieren und in Handlungen umsetzen kann. Schon der Erwerb dieses ersten Filters ist kostenintensiv und zeitaufwendig, so dass ein großer Teil des verf u¨ gbaren Wissens von der Masse der Bev¨olkerung nie aufgenommen werden kann. Dieses Vorwissen ist nicht einfach ad hoc von einem Akteur zum anderen transferierbar, sondern es basiert auf jahrelangen Lernprozessen, auf pers¨onlichen Erfahrungen und F¨ahigkeiten, auf bewussten und unbewussten Ged¨achtnisleistungen sowie auf kulturellen Traditionen. Wer nicht u¨ ber dieses problem- und situationsbezogene Vorwissen verf u¨ gt, wird viele Informationen nicht wahrnehmen k¨onnen, sie falsch interpretieren oder ihre Tragweite und Bedeutung nicht erkennen. Die neuesten Erkenntnisse der Molekularbiologie oder Hochfrequenzphysik sind zum Beispiel nach ihrer Publikation weltweit zug¨anglich. Personen, die jedoch nicht das entsprechende Fachgebiet mehrere Jahre lang studiert haben, k¨onnen mit den o¨ ffentlich zug¨anglichen, kostenlosen Informationen nichts oder nur wenig anfangen, weil ihnen das „Vorverst¨andnis“ zur Aufnahme, Bewertung und Integration der neuen Informationen fehlt. Diese Filterfunktion des Vorwissens ist der Hauptgrund dafu¨ r, warum bestimmte Best¨ande an Fachwissen oder wissenschaftlichem Wissen nur zwischen wenigen Standorten mit a¨hnlichen Voraussetzungen (zum Beispiel zwischen Finanzzentren, Forschungslabors, Universit¨atsinstituten etc.) zirkulieren, warum gewisse Regionen von Innovationen (neuen Erkenntnissen) gleichsam u¨ bersprungen werden und warum viele Wissensunterschiede zwischen Zentrum und Peripherie relativ lange bestehen bleiben oder sich immer wieder von Neuem entwickeln. Eine a¨ hnliche Wirkung kann auch der zweite Filter haben,also jenesVorwissen, welches als Heilswissen oder symbolisches Wissen 61 bezeichnet wird und ¨ aus religi¨osen und ideologischen Uberzeugungen, nationalen Mythen, Emo62 ¨ tionen , politischen Legenden, lokalen Uberlieferungen, sozial konstruierten kollektiven Ged¨achtnissen,kulturellen Traditionen,pers¨onlichen Erfahrungen, Stereotypen und Vorurteilen besteht. Der Filter des symbolischen Wissens entscheidet dar¨uber, ob eine neue Information mit der Identit¨at, der Weltanschauung und dem Selbstverst¨andnis des Empf¨angers vereinbar ist oder emotional abgelehnt wird. Bei der Mobilisierung des symbolischen Wissens geht es nicht um die Suche nach wissenschaftlicher „Wahrheit“, denn die Wahrheit ist durch 61

Die Begriffe „Heilswissen“ und „symbolisches Wissen“ nehmen zwar auf kategorial sehr unterschiedliche Dinge Bezug, sie repr¨asentieren jedoch die „Restmenge“, die vom wissenschaftlichen Wissen abgegrenzt werden kann, und haben als Filter eine vergleichbare Funktion. 62 Emotionen k¨onnte man durchaus auch als eigenen Filter ansehen. Da sie jedoch sehr stark mit Identit¨aten, Loyalit¨aten und Vorurteilen verkn¨upft sind, werden sie hier in den zweiten Filter integriert.

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eine heilige Schrift oder Offenbarung schon vorgegeben, sondern es geht eher um die Interpretation der vorgegebenen Wahrheit, um moralische Urteile, die Schaffung von kollektiver Identit¨at und den inneren Zusammenhalt des eigenen Systems (der eigenen Kultur). 63 Dieses Ziel wird erreicht, indem die Produzenten und fu¨ hrenden Vertreter des symbolischen Wissens Normen setzen, Ziele, Werte und Weltbilder vermitteln, kulturelle Praktiken und Rituale begr¨unden, Tabus und Regeln der Political Correctness aufstellen, die kollektive Ged¨achtnisbildung zu beeinflussen versuchen und dem eigenen System eine Identit¨at geben, indem sie es von anderen Systemen abgrenzen. Symbolisches Wissen wird ohne eine wissenschaftlich zu nennende Pr¨ufung u¨ bernommen und gebraucht. Gerade weil es keinem Beweis unterworfen ist, spielt es fu¨ r die Machtaus¨ubung, die Identit¨atsstiftung und soziale Koh¨asion von sozialen Systemen,aber auch f u¨ r die Unterdr¨uckung von Minderheiten eine große Rolle. ¨ Heilswissen, das vorwiegend auf der Uberlieferung der menschlichen Kultur (Religion, Dichtung, K¨unste, Geschichtsschreibung) basiert, kann in be¨ stimmten Lokalit¨aten oder Regionen, in denen es kraft Uberlieferung fu¨ r wahr oder richtig gehalten wird, in denen es durch Traditionen und ein kollektives Ged¨achtnis gest¨utzt (legitimiert) wird und deshalb auf quasi-allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz st¨oßt, eine enorme Wirksamkeit und Dynamik entfalten. Vor allem Heilswissen, das einen Absolutheitsanspruch hat, kann Menschen dazu bringen, gewaltige Anstrengungen und Opfer zu bringen, in schwierigen Situationen durchzuhalten oder gar als M¨artyrer fu¨ r die „gute Sache“ zu sterben. Heilswissen mit einem Absolutheitsanspruch verringert die Willens- und Entscheidungsfreiheit seiner Gl¨aubigen. Die verschiedenen Filter darf man sich nat¨urlich nicht als abgeschottet vorstellen, sondern sie wirken aufeinander und entscheiden gemeinsam, wie Informationen (Bilder) von Menschen bewusst oder unbewusst verarbeitet werden und welche Assoziationen sie ausl¨osen. Die definitorischen Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und symbolischem Wissen sind nicht einfach zu ziehen und m¨ogen von einigen Vertretern der Science Studies oder von radikalen Konstruktivisten sogar geleugnet werden. Unbestritten ist jedoch, dass symbolisches Wissen die Wahrnehmung, Aufnahme und Verarbeitung von Informationen beeinflussen, 64 das Beurteilungsverm¨ogen manipulieren und kognitiv dissonante Informationen zensieren kann, indem es die Aufnahmef¨ahigkeit f u¨ r Gegeninformation beeintr¨achtigt und die Distanz zu Vorurtei63

Katholische Theologen, Mullahs oder Rabbiner studieren nicht mehrere Jahre, um die Bibel, den Koran oder die Thora zu ver¨andern, sondern um sie richtig zu verstehen und (zeitgem¨aß) interpretieren zu k¨onnen. 64 Auch wissenschaftliches Wissen kann die Wahrnehmungsf¨ahigkeit und Urteilskraft beeinflussen. Der Unterschied zwischen den beiden Kategorien besteht darin, dass wissenschaftliches Wissen st¨andig auf dem Pr¨ufstand der Kritik ist und sich deshalb laufend weiter entwickelt, w¨ahrend etwa Dogmen oder Gebote von Religionen oder Ideologien zumindest von den eigenen Anh¨angern nicht hinterfragt werden d¨urfen.

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len, Propaganda und Desinformation der eigenen Seite verringert. Dies kann die F¨ahigkeit zur Lagebeurteilung, Probleml¨osung und Fehleranalyse verringern, eine optimale Entscheidungsfindung behindern und dazu fu¨ hren, die unbeabsichtigten Folgen des eigenen Handelns nicht rechtzeitig zu erkennen. Die st¨arkste r¨aumliche Konzentration (Zentralisation) weist die vierte Kategorie von Wissen auf, die dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre (zeitlich und r¨aumlich begrenzte) Geheimhaltung dem Produzenten oder Anwender des Wissens einen Wettbewerbsvorteil bzw. einen Machtzuwachs verschafft. Die Geheimhaltung von Wissen und die Zugangsbeschr¨ankungen zu Wissen haben eine lange Tradition. In vielen Religionen gab (und gibt) es heilige B¨ucher, die nur Priester lesen durften (d¨urfen), heiliges Wissen, welches die Priester oder Schamanen nur an ausgew¨ahlte Nachfolger weiter gegeben haben (weiter geben) oder Tempelbezirke und Heiligt¨umer, welche nur Priester betreten durften (d¨urfen). Schon vor Tausenden von Jahren konnte sich der Magier, Traumdeuter, Seher und Priester nur dadurch Einfluss, Privilegien und Status verschaffen, dass er den Anspruch erhoben hat, mehr zu wissen als der Rest des Stammes. 65 W¨are das Wissen des Magiers, des Weisen oder Priesters Allgemeinwissen geworden, h¨atte er seine Macht und seine Privilegien verloren. Auch heute wird technisches Wissen, das einen Wettbewerbsvorteil bringt, so lange als m¨oglich oder so lange als notwendig geheim gehalten oder durch Patente gesch¨utzt. In den folgenden Ausf u¨ hrungen soll exemplarisch verdeutlicht werden, wie man die R¨aumlichkeit des Wissens bzw.r¨aumliche Disparit¨aten des Wissens auf verschiedenen Maßstabsebenen behandeln kann. Jede Maßstabsebene erlaubt jeweils unterschiedliche Fragestellungen, erfordert unterschiedliche theoretische Ans¨atze und kann auch einen unterschiedlichen Erkenntnisgewinn bringen. Die Makro- und Mesoebene dienen vor allem dem Erkennen von Strukturen, Prozessen und Einflussfaktoren. Sie spielen nicht nur eine wichtige heuristische Rolle im Forschungsprozess, sondern helfen auch, den individuellen Fehlschluss zu vermeiden. Jede u¨ bergeordnete Ebene kann auch den Spielraum bzw. die Freiheitsgrade der darunter liegenden Ebene beeinflussen und somit wichtige Weichen f u¨ r Pfadabh¨angigkeiten stellen.

4 Beispiele f u¨ r die R¨aumlichkeit des Wissens 4.1 R¨aumliche Disparit¨aten des Wissens und Standorte der Generierung von Wissen Viele Fragestellungen und theoretische Konzeptionen der traditionellen Humangeographie k¨onnen auch auf den Bereich der Generierung und Diffusion von Wissen angewandt werden. Die r¨aumliche Verteilung von Arbeitspl¨atzen 65

Vgl. Konr´ad/Szel´enyi 1978.

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f u¨ r Erwerbst¨atige mit unterschiedlichem Ausbildungs- und Qualifikationsniveau, regionale Unterschiede des Ausbildungsniveaus der Wohnbev¨olkerung und des Bildungsverhaltens der Sch¨uler oder die regionale Mobilit¨at von Hochqualifizierten geh¨oren seit etwa vier Jahrzehnten zu den zentralen Fragestellungen der Bildungsgeographie. 66 Einige der wesentlichen Forschungsfragen dieses Ansatzes lauten: Wie und warum kommt es zur extremen r¨aumlichen Konzentration der Arbeitspl¨atze fu¨ r hochrangige Entscheidungstr¨ager und hochqualifizierte Berufe und zur Dezentralisierung von niedrig qualifizierten Routineaktivit¨aten? Durch welche Faktoren werden die zentral-peripheren Disparit¨aten des Ausbildungs- und Qualifikationsniveaus der Arbeitsbev¨olkerung beeinflusst? Wie verlaufen die Migrationsstr¨ome von Personen mit unterschiedlichem Ausbildungs- und Qualifikationsniveau? Hier geht es also um die funktionalen Gr¨unde der r¨aumlichen Arbeitsteilung, die r¨aumliche Steuerung und Koordination von sozialen Systemen, die Wechselbeziehungen zwischen Wissen und Macht, die soziale Konstruktion von Zentren und Peripherien sowie die asymmetrischen Beziehungen zwischen den beiden und um die Aus¨ubung und Repr¨asentation von Macht in der r¨aumlichen Dimension. Das Verteilungsmuster der Arbeitspl¨atze fu¨ r Hoch- und Niedrigqualifizierte ist nat¨urlich nicht stabil, sondern st¨andig im Fluss. Durch regionale Mobilit¨at werden zentral-periphere Disparit¨aten des Wissens laufend ver¨andert, allerdings nie aufgel¨ost. Das r¨aumliche Verteilungsmuster von Arbeitspl¨atzen ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil es auch ein grobes Raster fu¨ r die Migrationsstr¨ome und die r¨aumliche Verteilung der Wohnbev¨olkerung nach ihrem Ausbildungs- und Qualifikationsniveau setzt, das dann auf der Mikroebene noch von Faktoren wie o¨ kologische Attraktivit¨at, Wohnqualit¨at, Wohnungsgr¨oße, Infrastrukturausstattung, Preisniveau, Image des Wohngebiets oder zumutbaren Pendlerdistanzen beeinflusst wird. 4.2 R¨aumlicher Kontext und Generierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen 4.2.1 Paradigmenwechsel vom wissenschaftlichen Universalismus zur Geographie des Wissens Einen zweiten Forschungsschwerpunkt, der sich f u¨ r die Bedeutung der R¨aumlichkeit f u¨ r die Generierung von wissenschaftlichem Wissen interessierte, sich aber unabh¨angig von der Bildungsgeographie entwickelte, stellen die Science Studies dar. Die Idee, dass eine lokale Situation, ein r¨aumlicher Kontext oder eine regionale/nationale Wissenschaftskultur einen Einfluss auf die Forschungsthemen, den Forschungsprozess, die Forschungsmethoden, die Forschungsergebnisse und sogar die Rezeption von wissenschaftlichen Erkenntnissen haben soll, steht in krassem Gegensatz zum lange Zeit angenommenen und vor 66

¨ Einen Uberblick geben unter anderem Geipel 1976 und Meusburger 1976, 1998.

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allem von den so genannten exakten Naturwissenschaften betonten Universalismus der Wissenschaft. Dieser Universalismus wurde seit den 1960er Jahren zunehmend in Frage gestellt, zuerst durch die bekannte Arbeit von Thomas Kuhn 67 u¨ ber die wissenschaftlichen Revolutionen, dann von den Vertretern der Science Studies 68 und schließlich auch von der Geographie. Besonders wichtige Ansatzpunkte f u¨ r eine Geography of Science 69 bildeten Latours Konzept der Akkumulationszyklen in Zentren wissenschaftlicher Kalkulation, 70 die Arbeiten von Knorr Cetina 71 sowie Latour und Wolgar 72 u¨ ber den lokalen Kontext wissenschaftlicher Praxis und Haraways 73 Konzept des situierten Wissens. 74 Von der Erkenntnis, dass Ansichten u¨ ber Wissen und Wahrheit von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren abh¨angen und deshalb nicht als universelle Kategorien betrachtet werden sollten, war es nur ein kleiner Schritt zu den Fragen der Geography of Science, n¨amlich, wovon sich Wissenschaftler bei ihren allt¨aglichen T¨atigkeiten im Labor beeinflussen lassen, in welchen sozialen und erkenntnisbezogenen Kontext bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen eingebettet waren, welche Bedeutung ein r¨aumlicher Kontext (r¨aumliche Faktoren) oder ein kreatives Milieu f u¨ r die Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnisse haben, welchen Einfluss unterschiedliche „R¨aume der Wissenschaftsproduktion“ auf die Glaubw¨urdigkeit und Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse haben, worin sich regionale oder nationale Wissenschaftskulturen unterscheiden, wie Ideen, Theorien und Instrumente von einem Ort zum anderen zirkulieren etc. (siehe auch Beitrag von J¨ons in diesem Band). Vorbereitet wurde dieser Paradigmenwechsel durch eine Reihe von Autoren, die teils am Zusammenhang zwischen Wissen und Macht interessiert waren, teils die Beziehung zwischen Absicht, Situation und Handeln untersuchten oder der Ansicht waren, dass Rationalit¨at lokal und zeitlich gebunden sei, das heißt dass die Frage, was als wahr oder wissenschaftlich bzw. als falsch oder unwissenschaftlich angesehen wird, je nach Epoche und Ort unterschiedlich beantwortet werde.Einen besonders großen Einfluss hatte Foucault,fu¨ r den die Beziehungen zwischen Raum, Wissen und Macht eine zentrale Bedeutung fu¨ r das Verstehen historischer Prozesse hatten. Er beschrieb, wie von bestimmten Orten wissenschaftliche Diskurse ausgehen und wie mit r¨aumlicher Strukturierung Kontrolle u¨ ber Wissen ausge¨ubt wird. 67

Kuhn 1962. Latour 1987, 1999; Haraway 1999. 69 Livingstone 1995, 2000, 2002a; Bravo 1999. 70 Latour 1987. 71 Knorr Cetina 1984, 1992. 72 Latour/Wolgar 1986. 73 Haraway 1999. 74 Eine sehr umfassende und detaillierte Darstellung der Science Studies im Allgemeinen und der geographischen Wissenschaftsforschung im Besonderen bietet J¨ons 2003, 18–164. 68

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Latour 75 betonte die Bedeutung von Akteursnetzwerken (dazu z¨ahlte er unter anderem die Forschungsinfrastruktur,alliierte Interessengruppen,Kolle¨ gen,die Offentlichkeit und die eigentlichen Forschungsobjekte) fu¨ r die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse. Seiner Ansicht nach h¨angt die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes im Wesentlichen von der Mobilisierung und der Zusammenfu¨ hrung von Ressourcen ab.Durch zyklische Akkumulationsprozesse entstehen Zentren der Kalkulation, in denen materielle Ressourcen und Wissen gesammelt werden und die sich in diesem Punkt gegen¨uber dem Umland abheben. In diesen Zentren werden die gesammelten Materialien und Informationen systematisiert, transformiert und in Beziehung zueinander gesetzt, um stabile Akteursnetzwerke zu kreieren und somit Ordnung und Wissen zu schaffen. 76 Damit die in Kalkulationszentren produzierten Ressourcengeflechte allgemein akzeptiert werden, m¨ussen sie sich jedoch erst außerhalb ihres Entstehungskontextes bew¨ahren. Das Schicksal und somit die Qualit¨at lokal konstruierter wissenschaftlicher Behauptungen ist von den nachfolgenden Handlungen Anderer abh¨angig, „nur ein u¨ ber das Kalkulationszentrum hinaus erweitertes Netzwerk aus aufeinander abgestimmten menschlichen und nichtmenschlichen Ressourcen gew¨ahrleistet die Existenz eines stabilisierten Ressourcengeflechtes als anerkanntes Faktum.“ 77 4.2.2 Forschungsfragen und Thesen der Geographie des Wissens In different spaces different kinds of science are practiced 78

Die Wechselbeziehungen zwischen r¨aumlichen Strukturen und Wissen wirken auf f u¨ nf Ebenen: der Generierung, der Kontrolle, der Pr¨asentation, der Diffusion und der Akzeptanz von Wissen, wobei die Generierung von Wissen das schwierigste Forschungsfeld zu sein scheint und deshalb hier etwas ausf u¨ hrlicher diskutiert wird. Die sozio-kulturellen Faktoren, welche die Kreativit¨at, die Lernm¨oglichkeiten und die Lernf¨ahigkeit der Menschen mit beeinflussen, die Gelegenheiten (Kontexte, Action Settings), welche neue soziale Interaktionen, neue Erfahrungen und neue Verkn¨upfungen von Ideen beg¨unstigen, oder die Ressourcen, die notwendig sind, um neue Ideen zu verwirklichen bzw. neues Wissen zu schaffen, zu u¨ bernehmen oder in Handlungen umzusetzen, sind r¨aumlich ungleich verteilt. Livingstone 79 und andere haben anhand von historischen Arbeiten nachgewiesen, dass im Bereich der Wissenschaften nicht nur die Organisation der Forschungsarbeit und der Austausch zwischen Forschern unterschiedlicher Disziplinen einen ausgepr¨agten Raumbezug haben, sondern dass auch die Inhalte wissenschaftlicher Erkennt75

Latour 1987, 1999. J¨ons 2003, 106–109. 77 J¨ons 2003, 110f. 78 Livingstone 2003, 15. 79 Livingstone 1995, 2000, 2001, 2002, 2003. 76

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nisse zum Teil von den lokalen Gegebenheiten, von der Forschungsinfrastruktur, von unterschiedlichen Wissenschaftsstilen und unterschiedlichen „kreativen Milieus“ abh¨angen. Bei einem Labor kann man zum Beispiel folgende Fragen stellen: Wie ist ein Labor r¨aumlich organisiert und abgegrenzt? Wer hat Zugang zu bestimmten R¨aumen und Ger¨aten und wer nicht? Wer rekrutiert die Wissenschaftler von welchen anderen Institutionen? Welche Karriereverl¨aufe haben die von ausw¨arts rekrutierten Wissenschaftler aufzuweisen, wo haben sie welche wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen gewonnen und Methoden gelernt? Von welchen anderen Forschergruppen grenzt man sich ab und mit welchen wird kooperiert? Werden durch die r¨aumliche Organisation eines Forschungsinstituts Interaktionen zwischen bestimmten Personen (Abteilungen) eher gef¨ordert oder eher eingeschr¨ankt? Orte k¨onnen auf den Forschungsprozess und somit auch auf die Generierung von Wissen auch deshalb einen Einfluss aus¨uben, weil an bestimmten Standorten bestimmte Interpretationen oder Forschungsans¨atze dominieren und andere mehrheitlich abgelehnt werden, weil f u¨ r bestimmte Forschungsthemen an einigen Standorten Instrumente, Gelder und Gespr¨achspartner zur Verfu¨ gung stehen und an anderen nicht, weil an bestimmten Orten Probleme aufscheinen und zu interessanten Forschungsprojekten fu¨ hren, die anderswo keine Rolle spielen. Auch wenn es um die Kontrolle, Zensur, Manipulation und Pr¨asentation von Informationen geht, spielt die r¨aumliche Dimension eine wichtige Rolle und dr¨angen sich folgende Fragen auf: Wer entscheidet wo,welche Informationen in welcher Form ver¨offentlicht und welche unterdr¨uckt oder zensuriert werden? Wo hat wer die Macht, Informationen (Ereignisse) in den Medien zu interpretieren und zu kommentieren? Wer bestimmt, u¨ ber welche Fragen wo geforscht wird? 80 Wer bestimmt, was wo in welcher Form publiziert wird und welche Forschungsergebnisse geheim gehalten werden? Wer hat die Verf u¨ gungsrechte u¨ ber Forschungsergebnisse? In einem Museum oder an einer Gedenkst¨atte kann die Frage gestellt werden, wer bestimmt, welche Themen und Ereignisse wo pr¨asentiert werden und welche verschwiegen werden? Welche Kategorisierung (Manipulation) wird durch die r¨aumliche Anordnung der Exponate und Dokumente bezweckt? Welche Themen sind im Vordergrund (an prominenter Stelle) und welche werden in den Hintergrund gedr¨angt oder gar verschwiegen? In der Regel wird nicht alles gezeigt, was man hat, viele Exponate lagern jahrelang in Abstellr¨aumen und manche Archivbest¨ande werden l¨anger gesperrt als dies normalerweise der Fall ist. Der prestigereichste Platz, der die h¨ochste Aufmerksamkeit erreicht, kann nur von einem Thema eingenommen werden, in jedem Museum wird es also eine Hierarchie der Bedeutungszuweisung geben, ¨ die unter den Wissenschaftlern oder in der Offentlichkeit durchaus umstrit80

Diese Frage gewinnt besonders bei multi- und transnationalen Konzernen im Rahmen der Auslagerung von Forschungsaktivit¨aten eine zunehmende Bedeutung.

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ten ist. Werden Ereignisse r¨aumlich so angeordnet, dass sie verglichen werden k¨onnen (d¨urfen), oder ist die r¨aumliche Anordnung so, dass die Einzigartigkeit eines Ereignisses hervorgehoben wird? Auch die Bedeutung des o¨ ffentlichen und privaten Raums variiert in den verschiedenen Phasen der Wissensgenerierung. In den Phasen des Sammelns und der Kategorisierung von Informationen, sowie der Generierung und Legitimation von Wissen wechseln Phasen des R¨uckzugs, in denen Stille, Kontemplation oder Geheimhaltung im Vordergrund stehen, mit Phasen ab, in denen ¨ die Offentlichkeit und die N¨ahe zur Macht gesucht wird. Sobald die Akzeptanz unter Fachkollegen bzw. die Legitimation der Ergebnisse angestrebt wird, wird ¨ die Offentlichkeit gesucht. Wenn sich wissenschaftliche Erkenntnisse auf Dauer durchsetzen sollen bzw. Akzeptanz und Legitimation anstreben, m¨ussen sie an prestigereichen Standorten vorgestellt und akzeptiert werden. Experimente, die nur in einem Labor gelingen, erreichen nur eine geringe Glaubw¨urdigkeit. Die Wissenschaft ben¨otigt also je nach Thema und Phase der Wissensgenerierung eine große Bandbreite von unterschiedlichen R¨aumlichkeiten, die vom privaten oder geheimen Raum (Labor mit Zugangskontrolle) bis zur o¨ ffentlichen Plattform (Talk-Show im Fernsehen) reicht. Dazwischen gibt es ¨ eine Reihe von Ubergangsformen wie etwa den Salon, den Club oder das Kaffeehaus, wo der Informationsaustausch zwischen Wissenschaftlern, K¨unstlern, Journalisten und Politikern einen informelleren Charakter hat und deshalb vertraulichere (wertvollere) Informationen ausgetauscht werden als in einem Vortragssaal. “A gulf thus opens up between what was called the ‘trying’ of an experiment and the ‘showing’ of an experiment [. . . ] The shift from ‘trying’ to ‘showing’, from delving to demonstrating [. . . ] is a spatial manifestation of the move from the context of scientific discovery to the context of justification“. 81 Einige St¨atten der Wissensgenerierung erfu¨ llen gleichzeitig mehrere Funktionen. Botanische und zoologische G¨arten sind „spaces of experimentation and exhibition“, „agents of empire“, „symbols of power“, „reservoir of medication“, „maps of knowledge“. 82 Wissenschaft ist auch deshalb zeit- und ortsabh¨angig, weil die Akzeptanz wissenschaftlicher Ergebnisse unter anderem davon abh¨angt, wo sie generiert, begutachtet und erstmals pr¨asentiert wurden. F¨ur das „showing“ von Wissen ben¨otigt man eine B¨uhne oder Plattform der Aufmerksamkeit,die nicht u¨ berall gegeben ist. Die Plattform, auf der wissenschaftliche Ergebnisse pr¨asentiert werden, ist fu¨ r die r¨aumliche Diffusion der Erkenntnisse oft wichtiger, als die Qualit¨at oder Originalit¨at der Ergebnisse. Orte, an denen Wissen generiert wurde, haben zudem ein unterschiedliches Prestige, eine unterschiedliche wissenschaftliche Glaubw¨urdigkeit und einen unterschiedlichen institutionellen 81 82

Livingstone 2003, 24. Livingstone 2003, 62.

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Einfluss (zum Beispiel u¨ ber Zitierkartelle, Gutachtert¨atigkeit).“Science is a human enterprise, situated in time and space [. . . ] scientific knowledge bears the imprints of its location.” 83 Besonders in Fachgebieten, die mit Feldforschung, Archivstudien, teuren Experimenten befasst sind (Experimentalphysik, Geowissenschaften, Biologie, Arch¨aologie, Geschichte etc.), bestimmt der Ort (das Archiv,die Grabungsst¨atte,der geologische Aufschluss,die Bohrung,der Standort des Teilchenbeschleunigers etc.), an dem die neuen Erkenntnisse gewonnen wurden, auch einen Teil der Glaubw¨urdigkeit der Resultate. Das Prestige und die Glaubw¨urdigkeit einer Institution entscheiden zumindest kurz- und mittelfristig ganz wesentlich u¨ ber die Akzeptanz und Verbreitung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Noch wichtiger scheinen aber manchmal enge Beziehungen zu den Inhabern der Macht (fr¨uher F¨urstenh¨ofe, heute Herausgeber von Zeitschriften, Institutionen der Forschungsf¨orderung) zu sein. Das Schicksal und die Arbeit vieler Wissenschaftler (Kepler, Kopernikus, Galilei) und K¨unstler (Michelangelo, Bach, Mozart) hingen in hohem Maße davon ab, welchen Patron sie hatten und an welchem F¨urstenhof sie wirken durften.“Any would-be natural philosopher in search of a patron was well advised to find ways of offering some scientific gift that would bring glory to baroque rulers who were obsessed with image and status. [. . . ] Because credibility in intellectual matters depended not just on cognitive or disciplinary prowess but on standing with the ruling nobility, the making of knowledge was intimately bound up with social affairs.” 84 Bei der Frage der Glaubw¨urdigkeit spielt auch die Distanz (ebenfalls ein r¨aumlicher Begriff) eine wichtige Rolle. Der Begriff Distanz wird in gesellschaftlichen Diskursen auch mit Begriffen wie Objektivit¨at, Unabh¨angigkeit oder Respekt in Verbindung gebracht. Wenn es um Expertenwissen geht, wird „N¨ahe“ h¨aufig mit Parteilichkeit oder Bevorzugung und „Distanz“ mit Objektivit¨at gleichgesetzt. Dem weiter Entfernten werden weniger Eigeninteressen, Protektion oder Nepotismus unterstellt als dem unmittelbar Betroffenen. Das Urteil ausw¨artiger Experten wird oft als glaubw¨urdiger angesehen und hat einen h¨oheren Stellenwert als eine Beurteilung „aus dem eigenen Hause.“ Bei der Diffusion von Wissen spielt jedoch nicht nur der Ort, wo das Wissen generiert wurde, eine wichtige Rolle, sondern auch der Ort, wo das neue Wissen aufgenommen werden soll. Dies betrifft nicht nur das symbolische oder das geisteswissenschaftliche Wissen, sondern auch das naturwissenschaftliche. Die Wissenschaftsgeschichte kennt zahlreiche Beispiele, dass auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien, die langfristig u¨ berall akzeptiert wurden (zum Beispiel jene von Galilei, Kopernikus, Newton) mittelfristig in vielen Regionen abgelehnt oder unterschiedlich interpretiert wurden. Mehrere

83 84

Livingstone 2003, 13. Livingstone 2003, 93.

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Autoren 85 beschreiben, wie etwa die Evolutionstheorie von Darwin in Neuseeland, den amerikanischen S¨udstaaten, in Kanada und Russland, aber auch in Belfast und Edinburgh v¨ollig unterschiedlich aufgenommen und interpretiert wurde. Je nach Standort und Land wurde Darwins Theorie auch f u¨ r unterschiedliche politische Zwecke instrumentalisiert. Durch das Zusammenwirken verschiedener Einflussfaktoren entwickelten sich in verschiedenen r¨aumlichen Einheiten unterschiedliche Wissenschaftskulturen, und zwar nicht nur großr¨aumig (man kann durchaus eine chinesische, arabische, indische oder europ¨aische Wissenschaftskultur unterscheiden), sondern auch auf der mittleren und kleinr¨aumigen Maßstabsebene. “[. . . ] distinctive scientific cultures developed in Italy, Iberia, and England during the sixteenth and seventeenth centuries. In these places there were crucial differences between what was investigated by students of nature, who had the standing to make knowledge, and what interests scientific projects were intended to advance.” 86 Auch St¨adte, Universit¨aten und Institute haben unterschiedliche Wissenschaftskulturen, die einen Einfluss darauf haben k¨onnen, wie Wissenschaft betrieben wird und zu welchen Erkenntnissen man kommen kann. W¨ahrend in fr¨uheren Zeiten eine Wissenschaftskultur stark von der politischen Macht und der jeweils vorherrschenden Religion bestimmt war, wird sie heute unter anderem gepr¨agt durch • wissenschaftliche Traditionen, • unterschiedliche Anforderungen an Doktoranden und Nachwuchswissenschaftler, • die unterschiedliche Art, wie Wissenschaftler rekrutiert und mit Ressourcen ausgestattet werden, • das unterschiedliche Verantwortungsbewusstsein der etablierten Wissenschaftler (Mentoren, Doktorv¨ater) f u¨ r den wissenschaftlichen Nachwuchs, • den unterschiedlichen Grad der Freiheit in Forschung und Lehre, • das unterschiedliche Maß an Wettbewerb und interner Kritik, • die unterschiedliche Selbst¨andigkeit von Nachwuchswissenschaftlern bei ihrer Themenwahl, • die Art und H¨ohe der Wissenschaftsf¨orderung und -finanzierung, • die Internationalit¨at der Netzwerke und Kooperationen, • die Aufgeschlossenheit und Offenheit einer Institution f u¨ r Neues, • den Einfluss von Politik sowie staatlicher und universit¨arer B¨urokratie, • die Intensit¨at des Gedankenaustausches u¨ ber F¨achergrenzen hinweg sowie • den Rang, den eine Institution im nationalen und internationalen Wettbewerb einnimmt. 85 86

Livingstone 2003; Numbers/Stenhouse 2001; Numbers/Stephens 2001. Livingstone 2003, 105.

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4.3 Manipulation von Wissen durch die Kontrolle von R¨aumen Eine besonders wirksame Kongruenz oder strukturelle Koppelung 87 zwischen Raum und Wissen besteht dann,wenn es den Inhabern der Macht gelingt,einen Einfluss auf die r¨aumliche Verbreitung von Informationen zu nehmen. In jeder Kultur, in jeder Gesellschaft und in jeder ethnischen Gruppe unternehmen bestimmte Eliten und Institutionen den Versuch, kulturelle Leitbilder, Traditionen, Normen, Geschichtsauffassungen, kollektive Ged¨achtnisse und Identit¨aten zu stabilisieren und diese gegen andere durchzusetzen. Sie sorgen dafu¨ r, dass dieses symbolische Wissen in bestimmten Gebieten u¨ ber die von ihnen kontrollierten Institutionen der Wissensvermittlung, aber auch mit Hilfe von Symbolen und Gedenkst¨atten von einer Generation zur n¨achsten weitergegeben wird und seine G¨ultigkeit beh¨alt. Bei den Auseinandersetzungen um kulturelle Hegemonie spielt die r¨aumliche Ausdehnung von Einflusssph¨aren eine wichtige Rolle und hat die Frage, wer wo mit welchen Mitteln Einfluss auf die Kommunikation und die Kontrolle u¨ ber die Produktion und Verbreitung von Wissen aus¨uben kann, eine enorme politische Bedeutung. In der r¨aumlichen Dimension wird die Erinnerung an bestimmte Ereignisse und Personen durch Gedenkst¨atten, Aufm¨arsche, Rituale, Denkm¨aler, Museen, Straßenbezeichnungen und Wandmalereien (Graffiti, Murials) wach gehalten. Diese sollen f u¨ r eine st¨andige Wiederholung der Erinnerung sorgen und dazu beitragen, das symbolische Wissen und das kollektive Ged¨achtnis der betreffenden Bev¨olkerung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Gleichzeitig sollen andere historische Ereignisse, fu¨ r die keine oder nur peripher gelegene Erinnerungsst¨atten vorgesehen sind, aus dem Bewusstsein der nachfolgenden Generationen verdr¨angt werden. Die r¨aumliche Dimension ist bei der Manipulation von Wissen vor allem deshalb wichtig, weil Menschen leichter emotional zu erreichen und f u¨ r die Ziele der Herrschenden zu mobilisieren sind, wenn die komplexe Wirklichkeit vereinfacht und abstrakte Konzepte wie Nation, Ideologie, Religion, Kollektiv, Heimat, Tapferkeit oder kollektive Erinnerungen durch Symbole (Kreuz, Halbmond, Fahnen, Farben, Hammer und Sichel), Bilder und kulturelle Artefakte dargestellt werden. Menschen sind aus mehreren Gr¨unden leichter durch Bilder zu manipulieren als durch Sprache und Texte. Erstens sind Bilder und Symbole nicht an Sprache gekoppelt, so dass sie auf wesentlich mehr Menschen eine Wirkung aus¨uben k¨onnen als Texte. Die Bedeutung eines Bildes kann auf „einen Blick“ erfasst werden. Nach Flusser 88 sind „Bilder existenziell st¨arker als Texte“. Symbole sind ein Vehikel f u¨ r Konzepte. 89 “Through symbols the material becomes spiritual and the spiritual becomes empirical and 87

Lippuner 2005, 124; strukturelle Koppelungen oder Intersystembeziehungen sind nicht als kausale Determinierung von sozialen Systemen durch Umweltgegebenheiten zu verstehen. 88 Flusser 1995, 138. 89 Geertz 1975, 91.

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is communicated in visible form”. 90 Flusser 91 nannte das Alphabet den Code der Elite und Bildercodes den Code des Volkes. Mit einem Bild oder Symbol 92 kann man Bedeutungen kommunizieren und Handlungen anstoßen, ohne die Sprache des Anderen zu sprechen. Zweitens k¨onnen Bilder auch nicht-bewusste Schichten im Menschen ansprechen. 93 Sie k¨onnen an unerf u¨ llte W¨unsche und Sehns¨uchte erinnern, Ab¨ scheu erwecken, Hass und Angste ausl¨osen und Vorurteile best¨arken. Mit Bildern werden Metaphern und Analogien verkn¨upft und transportiert. Mit Metaphern kann man Zusammenh¨ange suggerieren und Aussagen treffen, die verbal nicht oder nur sehr schwierig zu formulieren w¨aren. Eine Zensur, Manipulation oder kulturelle Regulierung ist dann am wirksamsten, wenn sie nicht auf den ersten Blick als solche erkannt wird. Eine Beeinflussung durch Bilder und Symbole ist schwieriger zu durchschauen als eine auf der Basis von Texten. 94 Die Wirksamkeit der Bilder h¨angt vermutlich damit zusammen, dass im Rahmen der menschlichen Evolution die F¨ahigkeit, Spuren zu lesen 95 und Muster zu interpretieren, viel fr¨uher entwickelt wurde als das Lesen von Texten. Ein detektivisches Kombinationsverm¨ogen und die F¨ahigkeit, aus der Farbe von Fr¨uchten auf ihren Reifezustand oder aus der Gestik von Menschen und der K¨orperhaltung von Tieren auf deren Grad an Aggressivit¨at schließen zu k¨onnen, war in der fr¨uhen Menschheitsgeschichte eine Voraussetzung fu¨ r ¨ das Uberleben. Bilder sind f u¨ r den Menschen nicht nur schneller erfassbar als Texte, sondern Photos erscheinen dem Menschen auch glaubw¨urdiger als Texte, obwohl dies heute nicht mehr gerechtfertigt ist. Da nach den Erkenntnissen der Neuropsychologie das Ged¨achtnis f u¨ r Ereignisse stark mit dem Ged¨achtnis f u¨ r Orte verkn¨upft ist, u¨ berrascht es nicht, dass Orte, Pl¨atze und Regionen bzw. im Raum verteilte Denkm¨aler, Erinnerungsst¨atten, Symbole, Graffiti, Kunstgegenst¨ande und Architekturen sowohl fu¨ r einen einzelnen Akteur als auch fu¨ r ein soziales System gleichsam als ein externer Speicher von Informationen dienen k¨onnen. Orte k¨onnen also als „Ged¨achtnisst¨utze“, als Ausl¨oser von Reizen, Gefu¨ hlen und Erinnerungen, als 90

Kokosalakis 2001, 15354. Flusser 1996, 93. 92 Flusser (1996, 74) versteht unter einem Symbol „jedes Ph¨anomen, welches laut irgendeiner ¨ Ubereinkunft ein anderes Ph¨anomen bedeutet“. 93 Deshalb haben sie in der Werbung und politischen Propaganda eine so große Wirkung. 94 Im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus sind nicht wenige Denkm¨aler entstanden, bei denen die kolonisierten V¨olker oder die im eigenen Land unterdr¨uckten Minderheiten als Kinder dargestellt wurden, die zu F¨ußen des weißen Mannes sitzen, zu ihm dankbar aufblicken und seine F¨uhrung ben¨otigen.Die Metapher der vertikalen Eltern-Kind-Beziehung wird auf diese Weise auf die Beziehungen zwischen Nationalit¨aten u¨ bertragen, womit der ¨ F¨uhrungsanspruch und die Uberlegenheit einer Kolonialmacht und die R¨uckst¨andigkeit der „Eingeborenen“ suggeriert werden. 95 Vgl. Liebenberg 2002. 91

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„spatial anchors for historical traditions“ 96 und als „Kulturspeicher“ 97 fungieren. Dies ist auch der tiefere Grund, warum viele Naturreligionen heilige Berge, heilige B¨aume oder heilige Orte kannten, von denen aus Kontakt mit den G¨ottern oder Ahnen aufgenommen werden konnte oder an denen Sch¨opfungsmythen verankert waren. Solcherlei Orte der Erinnerung k¨onnen Assoziationen und „Erinnerungswissen“ aktivieren, und zwar auch solche, die den betroffenen Personen vorher nicht bewusst waren. 98 „Erinnerungswissen aus der Vergangenheit ist mit Orten verbunden, die sich bleibend in unser Ged¨achtnis eingepr¨agt haben“. 99 Eine r¨aumliche Verortung von Ritualen und Artefakten der Erinnerungskultur tr¨agt dazu bei, dass die betreffenden Assoziationen und Wissensbest¨ande immer wieder neu aufgerufen und damit sowohl im Bewusstsein als auch im Unbewussten verfestigt werden. 100 Diese Tatsache machen sich die Entscheidungstr¨ager von Konfliktparteien zunutze, indem sie an wichtigen o¨ ffentlichen Pl¨atzen eine ihren Zielen dienende Ged¨achtniskultur inszenieren und zelebrieren 101 und in bestimmten Territorien ihre Symbole und Erinnerungsst¨atten durchzusetzen versuchen. Eine Manipulation durch Symbole und Bilder findet heute durch das Fernsehen und andere Medien zwar auch schon im privaten Raum statt, dort kann der Empf¨anger jedoch selbst entscheiden, ob er sich diesen Bildern aussetzt. Im o¨ ffentlichen Raum hat der Einzelne weniger M¨oglichkeiten, sich gegen die Aufdringlichkeit von Bildern, Farben oder Denkm¨alern zu wehren. Die Botschaft von Bildern an o¨ ffentlichen Pl¨atzen geht nur in eine Richtung, in der Regel ist kein Diskurs m¨oglich, sofern man nicht die M¨oglichkeit hat, Gegenbilder anzubringen. Im Raum verteilte Denkm¨aler, Erinnerungsst¨atten, Ortsbezeichnungen und Symbole haben aber auch die Funktion, Territorien zu markieren, 102 in denen gewisse Interpretationen zu gelten haben, in denen gewisse Begriffe verwendet werden d¨urfen oder tabu sind, in denen kulturelle Aktivit¨aten ausge¨ubt, bestimmte Diskurse angeregt werden sollen, wo bestimmte Weltanschauungen, Erinnerungen, Tabus und ´ Foote/T´oth/Arvay 2000, 305. Nach Flusser ist Kultur ein „Speicher von Informationen“ (1995, 9) bzw. „ein Ged¨achtnis, worin sich der Mensch vor dem Vergessen verbirgt“ (1995, 12). 98 Die Hirnforschung ist heute schon in der Lage festzustellen, ob ein Bild im Gehirn des Betrachters eher die Bereiche fu¨ r Emotionen oder die Bereiche fu¨ r vernunftgesteuerte kognitive Prozesse aktiviert. 99 P¨oppel 2000, 26; siehe auch Assmann 1997. 100 Kunsthistoriker, Architekten und Geographen haben schon seit langem auf die enge Verbindung zwischen politischer Propaganda und Kunst im o¨ ffentlichen Raum hingewiesen (Lane ´ 1968; Golomstock 1990; Ades 1995; Gamboni 1997; Foote/T´oth/Arvay 2000). 101 Ein Beispiel w¨aren etwa die j¨ahrlich stattfindenden M¨arsche der Oranier in Nordirland im Gedenken an die Schlacht am Boyne (17. Jh.) und die Niederlage der Katholiken. 102 Besonders deutlich sind solche kulturellen Markierungen etwa in Belfast, wo die Territorien der Katholiken und Protestanten durch Murials und Farbmarkierungen an H¨auserw¨anden und Gehsteigen etc. abgegrenzt sind. 96 97

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Vorurteile zu gelten haben oder wo bestimmte Minderheitensprachen gesprochen werden d¨urfen. Die neuesten Forschungen der Psychologie und Hirnforschung deuten an, dass es noch weitere Kongruenzen zwischen Raum und symbolischem Wissen geben k¨onnte, mit denen sich die Sozialgeographie aus Angst vor dem Determinismus vermutlich nur sehr vorsichtig und z¨ogernd befassen wird. Mehrere Autoren 103 haben durch Experimente mit japanischen und amerikanischen Versuchspersonen nachgewiesen, dass die Kultur, der jemand angeh¨ort, einen Einfluss auf die Art der Aufmerksamkeit, auf die Wahrnehmung, die Denkinhalte und Denkvorg¨ange hat. 104 Angeh¨orige der asiatischen und westlichen Kultur haben sich bei diesen Experimenten systematisch in der Frage unterschieden, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten, wenn sie Bilder betrachten. Nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch wesentlich komplexere kognitive Prozesse, wie zum Beispiel das Schließen von beobachteten Ph¨anomenen, das ableitende Schlussfolgern sowie der Aufbau und das Einsch¨atzen von Beweisketten, stehen unter dem Einfluss unserer Denktraditionen.Asiaten gehen auch anders mit Widerspr¨uchen um und haben eine andere Einstellung zu Streitgespr¨achen. 105 Wenn die Eliten eines bestimmten sozialen Systems (Kultur, Ideologie, Religion) ihre Macht und Kontrollm¨oglichkeiten in ihrem Einflussgebiet u¨ ber einen l¨angeren Zeitraum aus¨uben k¨onnen und ihr symbolisches Wissen (ihre kulturellen Praktiken) weder von innen noch von außen ernsthaft in Frage gestellt wird, dann ist ebenfalls eine bestimmte Kongruenz zwischen Raum und symbolischem Wissen denkbar.

5 Ausblick – Schluss Ironically, to acquire knowledge that was true everywhere, the seer had to go to somewhere to find wisdom that bore the marks of nowhere. 106

R¨aumlich differenzierende Analysen des Wissens sind nicht nur deshalb von großer Bedeutung, weil die Generierung und Anwendung von Wissen oder die Bedeutung, Rezeption und Interpretation von wissenschaftlichen Texten oder Theorien in der r¨aumlichen Dimension variieren oder weil die Centers of Calculation als Knotenpunkt der Informationsbeschaffung und Bewertungsinstanz fu¨ r eingehende Informationen eine enorme Macht aus¨uben. Eine bisher wenig beachtete Bedeutung von r¨aumlichen Disparit¨aten des Wissens liegt auch darin begr¨undet, dass eine Einbeziehung der r¨aumlichen Unterschiede des symbolischen und fachlichen Wissens, des Ausbildungs- und Qualifikationsniveaus der Bev¨olkerung die Prognosef¨ahigkeit von Sozialwissenschaften erh¨ohen kann. 103

Masuda/Nisbett 2001; Nisbett et al. 2001; Nisbett 2003. Vgl. Schwan 2003, 164. 105 Vgl. auch K¨uhnen 2002. 106 Livingstone 2003, 21. 104

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Schluchter 107 und andere Soziologen haben einige Gr¨unde dargelegt, warum die Prognosef¨ahigkeit der Sozialwissenschaften trotz der immer gr¨oßer werdenden Informationsflut und Computerleistungen relativ gering geblieben ist.Viele der Gr¨unde, die sie anfu¨ hren, wie zum Beispiel das Problem des freien Willens oder das Fehlen von historischen oder sozialen Gesetzm¨aßigkeiten, werden wohl von niemandem bezweifelt werden. Sich selbst organisierende soziale Systeme haben immer ein hohes Maß an Unvorhersehbarkeit. Eine evolution¨are Anpassung kennt keine linearen Beziehungen. Man kann allerdings die Frage stellen, ob man die Prognosef¨ahigkeit nicht etwas erh¨ohen k¨onnte, wenn man nicht das Verhalten von Individuen oder sozialen Systemen in den Mittelpunkt r¨uckt, sondern die Potentiale, Chancen und Risiken bzw. den Erm¨oglichungs- und Verhinderungscharakter von r¨aumlichen Kontexten. Der r¨aumliche Kontext ist zwar auch ein Makroph¨anomen, das sich in vielen F¨allen nur u¨ ber Mikrofundierungen erschließen l¨asst, aber er ist aus mehreren Gr¨unden eine verl¨asslichere Anfangsbedingung f u¨ r Trendaussagen als die Makroph¨anomene Gesellschaft, soziale Struktur oder soziale Klasse. Eine Trendaussage, die sich auf einen r¨aumlichen Kontext bezieht, ist zwar auch nur eine singul¨are historische Aussage, 108 die keine Allgemeing¨ultigkeit beanspruchen kann. Wenn jedoch f u¨ r viele r¨aumliche Kontexte jeweils eigene Trendaussagen gemacht werden, kann man hinsichtlich der Entwicklungspotentiale und Risiken von Regionen sowie der zu erwartenden regionalen Disparit¨aten erstaunlich pr¨azise Aussagen treffen. Selbstverst¨andlich wird man auf diese Weise nicht zu Gesetzm¨aßigkeiten gelangen, aber die Bandbreite der Diagnose- und Prognosefehler wird auf jeden Fall geringer. Dies wurde zuletzt beim Transformationsprozess der fr¨uheren sozialistischen L¨ander bewiesen, als einige Geographen 109 schon kurz nach der Wende die in den n¨achsten Jahren auftretenden r¨aumlichen Entwicklungsunterschiede bzw. die Gewinner und Verlierer des Transformationsprozesses unter den ungarischen Regionen erstaunlich genau vorhergesagt haben, w¨ahrend prominente, aber „raumblinde“ Nobelpreistr¨ager aus den USA oder Regierungsberater in Deutschland mit ihren Prognosen u¨ ber die Auswirkungen des Transformationsprozesses weit daneben lagen.

Literatur Ades D (Ed.) (1995) Art and power: Europe under the Dictators, 1930–45. London: Thames and Hudson Albert K (2002) Paretos hermeneutischer Positivismus. Eine Analyse seiner Handlungstheorie. In: K¨olner Zeitschrift f u¨ r Soziologie und Sozialpsychologie 54:625–644 Assmann J (1997) Das kulturelle Ged¨achtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identit¨at in fr¨uhen Hochkulturen. M¨unchen: Beck 107

Schluchter 2005, 108–123. Vgl. Schluchter 2005, 117. 109 Cs´efalvay 1993, 1995. 108

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Ethnizit¨at und Bildungsverhalten Ein kritisches Pl¨adoyer f u¨ r eine „Neue“ Kulturgeographie werner gamerith

Ohne Zweifel hat die vielbeschworene „kulturelle Wende“ in den Sozialwissenschaften nun auch die Geographie und ihre auf den Menschen bezogenen Teilgebiete erreicht. Das Interesse gilt Artefakten, kulturellen Formen, Praktiken und Konflikten in ihrer R¨aumlichkeit und in ihrer kontextgebundenen Verankerung.„Kulturgeographie“ im engerenVerst¨andnis – also nicht im Sinne eines Synonyms fu¨ r die Human- oder Anthropogeographie als einer der beiden S¨aulen der wissenschaftlichen Geographie – erlebt seit den fr¨uhen 1990er Jahren einen ungeahnten Aufschwung. 1 Wie viele andere Impulse f u¨ r die Wissenschaft ist auch der neue kulturbetonte Strang in der deutschsprachigen Geographie weitgehend ein Transplantat aus dem angels¨achsischen Universit¨atsbetrieb, besonders aus Großbritannien und den USA. Seit Ende der 1990er Jahre wird auch hierzulande u¨ ber eine „Neue“ Kulturgeographie nachgedacht, ohne dass sich – in Deutschland – jemals eine „alte“ Kulturgeographie Sauer’schen Zuschnitts etablieren hatte k¨onnen, die nun zum Spiegel- oder auch Zerrbild eines „neuen“ kulturgeographischen Forschungsstrangs h¨atte werden k¨onnen. Im Gegensatz zur US-amerikanischen Situation besteht nun in der deutschsprachigen Anthropogeographie die etwas kuriose Situation, dass sich eine Forschungsrichtung durchzusetzen beginnt,der dieVorg¨angertradition fehlt,auf deren Kritik sie ihre Legitimation in wesentlichen Teilen st¨utzt. Die angels¨achsische New Cultural Geography immerhin kann sich tats¨achlich auf die Berkeley School der klassischen amerikanischen Kulturgeographie beziehen, hier ein statisches, „superorganisches“, ontologisierendes und reifizierendes Kulturverst¨andnis monieren und diesem ihr dynamisches und konfliktorientiertes Konzept von Kultur gegen¨uberstellen. Auch wenn es sicherlich reizvoll ist, sich dieser Dialektik von Forschungstraditionen und Kulturtheorien zu o¨ ffnen, um auf dieser Basis eine „engagierte“ Geographie zu fordern, die einem st¨andigen Wandel von Kultur, einem kontext- und situationsabh¨angigen „Aushandeln“ von Kultur, einem „Kultur 1

Vgl. Kemper 2003.

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Werner Gamerith

machen“ 2 das Wort redet, so relativiert sich die Kritik der „neuen“ an einer als traditionell empfundenen Forschungsrichtung der Kulturgeographie doch insoweit, als es auch dem „neuen“ Strang nicht restlos gelingt, Vers¨aumnisse der „alten“ Schule zu kompensieren. Eines der Hauptdefizite der klassischen US-amerikanischen Kulturgeographie liegt sicherlich darin, dass der gesamte Themenbereich von Wissen, Bildung, Schule und Erziehung aus ihren ¨ theoretisch-konzeptionellen Uberlegungen weitgehend ausgeklammert blieb. „Kultur“ wird u¨ ber sichtbare Artefakte, u¨ ber materielle Ausdrucksformen gefasst. Diese konstituieren eine jeweils spezifische Kulturlandschaft; Hauptaufgabe der Wissenschaft ist nun nach dem Verst¨andnis vor allem der Berkeley School eine Beschreibung der Kulturlandschaftselemente, ihrer konkreten Entstehungsgeschichte und ihrer r¨aumlichen Verbreitung. Menschliche Kulturt¨atigkeit in verschiedenen Generationen manifestiert sich in unterschiedlichen Artefakten, die gleichsam Schicht f u¨ r Schicht die Kulturlandschaft aufbauen. Der Kulturgeograph arbeitet nun beinahe wie ein Arch¨aologe, wenn er diese Schichten abtr¨agt und die dabei jeweils erfassbaren Elemente materieller Kultur bestimmten Kulturtr¨agern zuordnet. Vertreter einer New Cultural Geography sehen in diesem auf Repr¨asentationen und Artefakten fokussierten Kulturverst¨andnis eine statische Konzeption, die nach ihrer Ansicht wenig mit den Konfliktsituationen und Machtrelationen zu tun hat, unter denen sich Kultur formiert. Der Kulturbegriff etwa in Carl Sauers Lebenswerk wird als „radically undertheorized“ 3 getadelt, und die „Totalit¨at“, die Kultur bei Sauer und seinen Sch¨ulern nach Ansicht der neuen Kritiker konturlos umfasst, entzieht den Begriff jeder kritischen Selbstreflexion: „Kultur“ als gegebene Entit¨at, als statische Elementarkategorie menschlichen Lebens, als „a superorganic entity living and changing according to a still obscure set of internal laws“. 4 Die klassische Kulturgeographie US-amerikanischer Provenienz hat den sozialen, o¨ konomischen und politischen Komponenten, die Kultur zu einem Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen werden lassen, wenig Auf¨ merksamkeit zuteil werden lassen. Auch die Uberlegung, dass Kultur als individueller Erfahrungsschatz auf der Ebene der einzelnen Personen generiert und praktiziert wird, ist von den traditionellen Vertretern der Kulturgeographie nicht weiter vertieft worden. Zweifelsohne geb¨uhrt den „Neuen“ Kulturgeographen das Verdienst, diesen Mangel thematisiert und in zahlreichen 2

3 4

Vgl. an dieser Stelle die Analogien zu einem der f u¨ r die deutschsprachige Anthropogeographie wichtigsten theoretischen Impulsgeber der vergangenen Jahre: Werlens Kritik an einer „Essentialisierung“ oder „Ontologisierung“ des Raumes und seine ausfu¨ hrlichen Darlegungen, wie „Raum“ sozial konstruiert wird und sich aus allt¨aglichem Handeln ergibt. In dieser Hinsicht ist Werlens Raumbegriff a¨hnlich „desubstantialistisch“ wie der Kulturbegriff der „Neuen“ Kulturgeographie (Werlen 1987; 1995; 1997). Mitchell 2000, 29. Zelinsky 1973, 71f.

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Studien auf die relationale, kontextabh¨angige Verfasstheit von Kultur hingewiesen zu haben. Kultur ist danach nicht (nur) ein statisches Konglomerat von ¨ Dispositionen, Pr¨aferenzen und Praktiken, das sich wie ein Uberbau u¨ ber ganze Gesellschaften und Nationen w¨olbt, sondern (auch) ein individualisiertes Ph¨anomen von Werthaltungen, Anschauungen und Handlungskompetenzen, das mit den Einstellungen anderer Personen und Gruppen interagiert und dabei oft genug auch in Konflikt miteinander ger¨at. Nicht unwesentliche Impulse f u¨ r ihre Kritik bezog die New Cultural Geography aus der Rezeption der britischen Cultural studies, 5 die seit den 1960er Jahren der bis dahin g¨angigen Vorstellung von „Hochkultur“ eine „Massenkultur“ gegen¨uberstellte und dabei auch auf die Bedeutung von Medien und Konsum verwies. Die „Neue“ Kulturgeographie zielt auf die R¨aumlichkeit der kulturellen Ausdrucksformen mit ihren Konflikten. 6 Sie weist gleichzeitig darauf hin, dass die Konflikte ihrerseits neue r¨aumliche Konstellationen und Arrangements schaffen. 7 Mit dieser Wende zum „R¨aumlichen“ (spatiality), die sich f u¨ r eine Reihe von kultur- und sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen in deren Entwicklung der vergangenen ein bis zwei Jahrzehnte ableiten l¨asst, scheint der Stellenwert der (Kultur-) Geographie nicht nur gesichert,sondern nun auch mit einem gr¨oßeren Prestige innerhalb der Scientific community versehen, als es die traditionelle Kulturgeographie jemals fu¨ r sich beanspruchen konnte. Der Cultural turn ist auch ein Spatial turn, und die (angels¨achsische) Geographie hat daran betr¨achtlichen Anteil. Unter den vielf¨altigen Themen, welche die New Cultural Geography aus anderem Blickwinkel betrachtet oder u¨ berhaupt neu in die Forschungsagenda einbringt, stehen Fragen zur politischen Dimension von Kultur in der Dialektik zwischen (sozialer) Reproduktion und (sozialer) Resistenz, zur sozialen Konstruktion der Geschlechtlichkeit und deren Instrumentalisierung, zu Feminismus, Rassismus und Nationalismus, zur Relativit¨at von Wissenschaft und Wissenschaftskulturen, zu postkolonialen Machtverh¨altnissen sowie zum Antagonismus zwischen Mensch und Umwelt, Kultur und Natur im Vordergrund. In jedem dieser Themenfelder werden Aspekte von Konflikt, Macht, Hegemonie und Widerstand betont. Dass unter dieser thematischen Breite Aspekte von Wissen, Bildung, Erziehung und Qualifikation nur einen unbedeutenden Stellenwert einnehmen (wenn sie denn u¨ berhaupt zur Sprache gebracht werden), erscheint aus mehreren Gr¨unden bemerkenswert.Der New Cultural Geography gelingt hier in einem wichtigen Punkt nicht, woraus sie sonst einen wesentli5

6 7

Einer der ersten Geographen, die an die Cultural studies ankn¨upften und diesen Forschungsstrang in die Geographie u¨ berf u¨ hrten, ist Jackson (1989). „Culture wars“ im Sinne von Mitchell (2000). Vgl. Mitchell 2000, 63. „New cultural theory, as it is developing in geography, cultural studies, and many allied disciplines, stresses space, understanding culture to be constituted through space and as a space. To the degree that that is the case, spatial metaphors have become indispensable for understanding the constitutions of culture.”

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chen Teil ihrer Legitimation bezieht: konzeptionelle und inhaltliche L¨ucken der klassischen Kulturgeographie zu schließen. Dass Wissen, Bildung und Schule nicht oder nur marginal angesprochen werden, verwundert auch deshalb, weil in den mittlerweile vorliegenden einschl¨agigen Lehrb¨uchern zur New Cultural Geography genau jene Mechanismen und Zusammenh¨ange angesprochen werden, aus denen kulturelle Praktiken und Konflikte resultieren und die f u¨ r die Reproduktion sozialer Machtverh¨altnisse und Beziehungsgeflechte von entscheidender Bedeutung sind: Identit¨aten, Nationalismen, Aspekte von „gender“ und Ethnizit¨at, Ideologien aus Werbung und Medien, bis hin zu Facetten kultureller Basisbegriffe wie Literatur, Musik, Sprache oder Religion. Bildung und Schule als Grundlagen der modernen Wissensgesellschaft scheinen jedoch weit außerhalb des Fokus der neuen britischen und US-amerikanischen Kulturgeographen zu liegen. Ist nicht die Schule eine der zentralen kulturellen Institutionen,und laufen in ihr nicht oft Prozesse ab,die sich gerade in die von der New Cultural Geography ins Treffen gef u¨ hrte Trias von Hegemonie,Widerstand und Konflikt einpassen lassen? Wenn Kultur und von ihr gepr¨agte Landschaften als Medium und System sozialer Reproduktion interpretiert werden, 8 w¨are hier nicht eine ausf u¨ hrliche W¨urdigung auch des Themenfelds „Schule und Bildung“ angemessen? Schließlich sind es gerade Schulen und schulische Strukturen wie Lehrinhalte oder didaktische Fragen, an denen kulturelle Identit¨aten generiert, ausgehandelt, weitertransportiert, aber auch unterdr¨uckt, eliminiert oder sanktioniert werden. Davon ist in kaum einem Lehrbuch zur New Cultural Geography, nicht einmal in Ans¨atzen, die Rede. 9 Auf US-amerikanischer Seite fehlt die Tradition einer geographischen Bildungsforschung, 10 wie sie sich in der deutschsprachigen Geographie sp¨atestens seit den 1960er Jahren etablieren konnte. 11 Abstinenz von Fragen zu Schule, Erziehung und Bildung l¨asst die deutschsprachige (Sozial-)Geographie hingegen nicht erkennen, wenngleich die hier benutzten Ans¨atze und theoretischen Konzeptionen nicht von einer „Kultur“Geographie im neueren Verst¨andnis, sondern eher vom Typus einer empirisch unterlegten Sozialraumanalyse sprechen lassen. Die von Geipel, Mayr 8

Vgl. z. B. Mitchell 2000, 120ff. ¨ Nach den Schlagworten „education“ oder „schooling“ sucht man im Index des im Ubrigen umfassenden Lehrbuchs von Mitchell (2000) vergeblich, und im Buch werden Bildungsfragen tats¨achlich nicht angeschnitten. Auch die – kompaktere – Darstellung von Crang (1998) h¨alt sich diesbez¨uglich sehr bedeckt. Zwar werden semiotische Aspekte einer „neuen“ Kulturgeographie, etwa in der Interpretation von literarischen Werken aus der Belletristik, ausfu¨ hrlich gew¨urdigt und Musik und Film als Tr¨ager von Kultur (mit einer r¨aumlich konnotierten Semantik) angesprochen, die Darstellung von Wissen, Information (und Schule) bleibt jedoch auf die Analyse unterschiedlicher Wissenschaftskulturen und „Epistemologien“, vor allem mit den Werkzeugen des Postkolonialismus, beschr¨ankt. 10 Von einigen Ans¨atzen im Gefolge der Chicagoer Schule der Sozial¨okologie der 1930er Jahre abgesehen (vgl. Meusburger 1998). 11 Vgl. Meusburger 1995. 9

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und sp¨ater auch Meusburger vertretene „Bildungsgeographie“ untersucht Standortverteilungen von Bildungseinrichtungen, die in der Hierarchie von der Grundschule bis zur Universit¨at reichen, Einzugsbereiche von Schulen, ¨ Ph¨anomene der Erreichbarkeit, regionale Differenzen in den Ubertrittsraten vom System der Sekundarschulen in den Hochschulsektor oder wirtschaftliche Impulse von Universit¨aten f u¨ r den lokal-regionalen Kontext. Es blieb vor allem Meusburger seit den 1990er Jahren vorbehalten, u¨ ber diese „konventionellen“ Fragestellungen hinaus Affinit¨aten zu den benachbarten Sozialwissenschaften zu entwickeln und die Bildungsgeographie Aspekten von Ethnizit¨at,Kultur und sozialem Raum st¨arker zu o¨ ffnen. W¨ahrend also die Bildungsgeographie sozialtheoretische Konzepte – besonders in Hinblick auf ethnische Minorit¨aten – zu inkorporieren versuchte, hat die in Deutschland seit den sp¨aten 1990er Jahren einsetzende Rezeption der New Cultural Geography die Hinwendung zu Fragen von Bildung, Schule und Qualifikation bisher nicht vollzogen. Belegen l¨asst sich dies zwar an keinem deutschsprachigen Lehrbuch zur Neuen Kulturgeographie – ein solches ist nach wie vor noch ein Desiderat –, wohl aber exemplarisch an einer thematisch breit ausgerichteten Aufsatzsammlung zu einer aus diesem Grund auch nur sehr vage definierten oder definierbaren „Kulturgeographie“. 12 Schule, Bildung und Qualifikation bleiben auch hier weitgehend ausgeblendet. Die folgenden Ausfu¨ hrungen wollen versuchen, an Hand des Beispiels der US-amerikanischen „Bildungslandschaft“ eine M¨oglichkeit aufzuzeigen, wie die konzeptionelle und forschungspragmatische L¨ucke der Neuen Kulturgeographie in Bezug auf den eminent wichtigen Kulturfaktor „Schule“ geschlossen werden kann.Sie werden darlegen,dass Schule und Bildung auf mehreren Niveaus – von der u¨ bergeordneten,strukturellen Ebene des Bildungssystems bis zur individuellen Ebene des einzelnen Sch¨ulers, seiner Eltern, Sch¨ulerkollegen und Lehrer – ebenfalls jene Orte (places) umschreiben, in denen sich Mitchells viel zitierte „culture wars“ zutragen. Mit der ethnischen Kategorie kommt in der spezifischen US-amerikanischen Konstellation eine weitere kulturelle Facette mit hohem Konfliktpotential hinzu.Schließlich wird zu zeigen sein,dass die mit kulturellen Pr¨aferenzen, Traditionen und Anspr¨uchen ausgetragenen Konflikte im Bildungssystem in r¨aumliche Makrostrukturen (spaces) mit bestimmter kultureller Gewichtung eingebunden sind, gleichsam also in Kulturr¨aume, in denen sich ein charakteristisches Bildungsverhalten der Bev¨olkerung spiegelt.

1 Kulturelle Pr¨agungen der o¨ ffentlichen Schule in den USA Die o¨ ffentliche Schule (Public school) in den USA ist das Ergebnis intensiver politischer Auseinandersetzungen seit dem fr¨uhen 19. Jahrhundert, wobei die Bezeichnung „¨offentlich“ nicht dar¨uber hinwegt¨auschen sollte, dass es sich eigentlich um eine Sammelkategorie handelt, in der verschiedene Schultypen mit 12

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unterschiedlichen p¨adagogischen Anspr¨uchen Platz finden. Zweifelsohne wurde die Public school seit ihren Urspr¨ungen durch verschiedene philosophische, politische und p¨adagogische Pr¨aferenzen gesteuert und in ihrer Entwicklung instrumentalisiert.Zentrale Wertvorstellungen,die sich bis heute in der theoretischen Verankerung der o¨ ffentlichen Schule finden, stammen aus dem kulturellen Erfahrungshorizont der weißen, protestantisch gepr¨agten Einwanderer der ersten Stunde, die im Wesentlichen eine Kopie des britischen Schulsystems mit starker Betonung des Laizismus vor Augen hatten. Sobald andere kulturelle (ethnisch-sprachliche) Gruppen mit diesem schulischen Leitbild konfrontiert waren, schienen Debatten, Konflikte und sogar gewaltt¨atige Auseinandersetzungen zur Schulfrage unausweichlich. 13 Einige der „Gr¨undungsv¨ater“, vor allem Thomas Jefferson, haben auf die politische Erziehungsfunktion der Schulen verwiesen – Bildungseinrichtungen als „Schule der Demokratie“. 14 Im 19. Jahrhundert war unter Bildungsplanern die Vorstellung weit verbreitet, dass durch o¨ ffentliche Schulen, vor allem im Sekundarbereich, republikani¨ sche Werte gef¨ordert werden k¨onnten. Eine architektonische Ubersetzung dieser b¨urgerlichen Auffassung findet sich in den großen, teilweise neogotischen Geb¨audekonzeptionen, die f u¨ r manche der st¨adtischen High schools entworfen wurden. “School architecture became one of the clearest expressions of bourgeois social values throughout the nineteenth century”. 15 Der Gedanke der o¨ ffentlichen Schule als „Inkubator“ demokratischer Ideale repr¨asentiert eine spezifisch (west-)europ¨aische Kultur und Geisteswelt, die nicht u¨ berall in den fr¨uhen USA auf bedingungslose Akzeptanz stieß. Im Gegenteil – die Angeh¨origen vieler nicht-weißer, nicht-protestantischer Gruppen begegneten der mit einem politisch so unmissverst¨andlichen Bildungsauftrag versehenen Public school mit Skepsis oder bisweilen gar offener Ablehnung. Vor allem wenn das Ziel der o¨ ffentlichen Schule in einer aggressiven Assimilation kulturell-ethnischer Minorit¨aten in den US-amerikanischen Mainstream lag – wie dies etwa bei vielen Internaten (Boarding schools) fu¨ r indianische Kinder der Fall war, in denen diese Kinder „behutsam“ an die US-amerikanische Kultur weißer Provenienz herangefu¨ hrt wurden –, 16 gerieten die Schule und ihr Umfeld schnell zum Austragungsort ethnischer Spannungen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die zahlreichen großst¨adtischen Public schools in den Verdichtungsgebieten an der Nordostk¨uste und im Mittelwesten, die seit der zweiten H¨alfte des 19. Jahrhunderts 13

Vgl. z. B. die instruktive Darstellung der kirchlich-staatlichen Auseinandersetzungen („Great School Wars“) um die Kontrolle der Schulen in New York City bei Ravitch 1974. 14 Eine enge politisch-territoriale Verbindung zwischen dem Schulwesen und den noch jungen USA zeigt sich in der staatlichen Landvermessung. Im Zuge der planm¨aßigen Erschließung und besitzrechtlichen Aufteilung neuer Territorien erhielten schulische Einrichtungen verl¨asslich Rechtstitel auf bestimmte Parzellen einger¨aumt (Gulliford 1996 3, 38). 15 Reese 1995, 82. 16 Vgl. z. B. Frantz 1994.

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Generationen von Immigrantenkindern in die Kunst einer „richtigen“ amerikanischen Lebensf u¨ hrung unterwiesen. Vom Sprachunterricht u¨ ber die Civic education bis zum Treueid an den Staat (pledge of allegiance; saluting the flag) u¨ bernahm die Schule die Aufgabe, zahllose Immigrantenkohorten in die US-amerikanische Gesellschaft einzubinden. Erfolg oder Misserfolg der Schule als „Hort“ der Amerikanisierung hingen entscheidend von zwei Faktoren ab: der Bereitschaft anderssprachiger, nicht-amerikanischer Gruppen, sich dem Einfluss der o¨ ffentlichen Schule auszusetzen, und den Chancen, ein grunds¨atzlich vielgestaltiges Bildungssystem zu standardisieren. Beide Aspekte stießen in einem so multiethnischen und gleichzeitig so f¨oderal konzipierten Gebilde wie den USA auf betr¨achtliche Schwierigkeiten, was die Bedeutung von Bildung und Schule als Kristallisationspunkt kultureller Konflikte zus¨atzlich untermauert. Doch die Public school kann umgekehrt auch hilfreich sein, wenn es einer kulturellen Gruppe um die Bewahrung ihrer Identit¨at und Tradition geht. In diesem Zusammenhang ist darauf verwiesen worden, dass eine lokale Schule – auch und gerade im großst¨adtischen Kontext – ein hohes Maß an sozialer Koh¨asion stiften kann. In segregierten Stadtvierteln ist es sehr oft die Nachbarschaftsschule, unter deren Obdach sich ein Zentrum der Kulturidentit¨at der lokalen Bev¨olkerung entwickelt,um das wiederum verst¨arkt ethnische Konflikte um symbolische oder tats¨achliche Macht ausgetragen werden k¨onnen. Die ethnische Zusammensetzung des Lehrk¨orpers, curriculare Fragen zur Beteiligung und Gewichtung der Unterrichtsf¨acher, die Wahl der Unterrichtssprache und andere Streitpunkte verwandeln die Schule zu Orten, an denen „culture wars“ im lokalen Rahmen kulminieren. Auch in l¨andlichen Bereichen bildet die (Klein-)Schule einen unabdingbaren Bestandteil lokaler Identit¨at und kultureller Eigenst¨andigkeit, hier allerdings mit deutlich geringerem Konfliktpotential als in den ethnischen Vierteln der Großst¨adte. Sie dient nicht nur als Ort der Wissensvermittlung und Erziehung, sondern auch als lokales Zentrum bei Wahlen,Vereinstreffen, Freizeitveranstaltungen und Kursen der Erwachsenenbildung. 17 Die Person des Lehrers u¨ berstrahlt(e) dabei alle Autorit¨at, und seine kulturelle Disposition erweist sich oft f u¨ r die gesamte Gruppe als wegweisend. “People were interested in everything the teacher did or said or wore. [. . . ] Citizens kept their country school teachers under close surveillance to ensure that they followed a stern moral code”. 18

2 Ethnizit¨at und die Entwicklung der o¨ ffentlichen Schule in den USA Im vorangegangenen Abschnitt wurde dargelegt, welcher ethnisch-kulturellen Pr¨agung die ersten Public schools in den USA entstammten, welche politischen Motive ihnen zugedacht waren und wie sie – besonders in den multiethnischen 17 18

Vgl. z. B. Salamon 1995, 360. Gulliford 1996 3, 73.

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Großst¨adten der USA an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – eine uneingeschr¨ankte Assimilation der Bev¨olkerung vorantrieben. Umgekehrt genießt die o¨ ffentliche Schule unter Minorit¨aten gerade dann einen hohen Stellenwert, wenn sie sich um die kulturellen Belange der ethnischen Gruppe bem¨uht und deren Identit¨at st¨arkt. Die Bildungsgeschichte der USA im Allgemeinen und ethnischer, sprachlicher oder kultureller Minderheiten im Besonderen stellt sich nun bis heute als eine konsequente Abfolge von Konfrontationen und Debatten dar, bei denen es den Vertretern der Minorit¨aten darum geht, einerseits dem nivellierenden Anspruch der Public school durch eine Betonung eigenst¨andiger kultureller Institutionen zu begegnen und andererseits den Status der Minderheit durch eigene Schulen und kulturbewusste und mit den Anliegen der Gruppe vertraute Absolventen zu st¨arken. Beide Konfliktparteien – hier der Staat oder weiße, meist protestantische Eliten, dort die lokale Gemeinde oder nicht-weiße und oft auch nicht-protestantische Minderheiten – haben im Verlauf dieser Auseinandersetzungen die Schule sehr oft u¨ ber ihre eigentliche p¨adagogische Zweckbestimmung hinaus politisch instrumentalisiert und sie zum Mittelpunkt eines Kulturkampfes gemacht. F¨ur die Gruppe der African Americans gilt eher der zweitgenannte Weg der kulturell-schulischen Emanzipation, der verst¨arkten Bem¨uhungen um eine rechtliche Gleichstellung und um eine ad¨aquate Versorgung durch eigene o¨ ffentliche Schulen. Von der dominierenden weißen Gruppe lange Zeit – auch nach erfolgter Befreiung aus dem Sklavenstatus – als nicht „assimilierbar“ erachtet, hatten Schwarze nicht gegen ein kulturell vereinnahmendes o¨ ffentliches Schulsystem zu k¨ampfen, sondern vielmehr mit dem Problem mangelnder oder fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz. Zur Zeit der Sklaverei war an eine schulische Unterweisung von schwarzen Kindern mit o¨ ffentlichen Geldern nicht zu denken; die inferiore Position der Sklaven in der gesellschaftlichen Hierarchie, vor allem des S¨udens, wurde durch eine systematische Marginalisierung 19 aufrecht erhalten. Wer an der bestehenden Ungleichheit – relativ gut ausgestattete Public schools f u¨ r weiße Kinder, praktisch nicht existente Bildungseinrichtungen f u¨ r Schwarze – etwas a¨ ndern wollte, geriet mit bundesstaatlichen Gesetzen in Konflikt, deren vielfach unverhohlene Intention es war, jegliche Initiativen der schulischen Ausbildung von Sklaven im Keim zu ¨ die Schule – oder besser: u¨ ber die nicht vorhandene Schule ersticken. 20 Uber 19

Weinberg (1977) hat in diesem Zusammenhang das bezeichnende Schlagwort der „compulsory ignorance“ gepr¨agt. 20 In Georgia sah ein Gesetz von 1770 f u¨ r jeden, der einen Sklaven Lesen und Schreiben lehrte, ei¨ ne Geldstrafe von 20 Pfund vor (Whiteaker 1990, 7). Ahnliche Bestimmungen galten ab 1830 in Louisiana und ab 1832 in Alabama (Weinberg 1977, 13). In Louisiana mussten Zuwiderhandelnde sogar mit Gef¨angnisstrafen rechnen (Miller 1982 5, 212). North Carolina ging noch weiter, indem es jegliche Rezeption gedruckten oder geschriebenen Inhalts durch Sklaven unter Strafe stellte. Wer hier einem Sklaven ein Buch, ein Pamphlet oder eine Bibel u¨ berreichte, verstieß gegen ein Gesetz, das eine hermetische Abschirmung der Schwarzen von allen schriftlichen Zeugnissen und Dokumenten beabsichtigte (Parelius/Parelius 1978, 54). Besonders die Rebel-

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– war die soziale Reproduktion des bestehenden hegemonialen Verh¨altnisses zwischen Weißen und Schwarzen gew¨ahrleistet. “[I]nstruction in the schools served as a vehicle for the narrow class interests of a minority to protect their position in the social structure. [. . . ] Leaders of society and education were not moved to challenge the established order. The school system was theirs to serve and, if possible, to cement more securely the basis of the prevailing system of society”. 21 Auch nachdem die „peculiar institution“ der USA, die Sklaverei, abgeschafft worden war – ohne dass sich dabei die Herrschaftsbeziehungen zwischen Weißen und Schwarzen in den S¨udstaaten gravierend ver¨andert und die grassierende Armut unter der schwarzen Bev¨olkerung deutlich verringert h¨atte –, blieben African Americans von der zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg u¨ beraus rasanten Entwicklung des allgemeinen Sekundarschulwesens weitgehend ausgeklammert. Eine streng nach rassischen Kriterien orientierte Gesetzgebung (seit 1877 so genannte Jim Crow 22 laws) mit der Devise „separate, but equal“ legte sich wie ein Schatten u¨ ber den S¨uden. Man achtete penibel auf eine l¨uckenlose Durchf u¨ hrung der Trennungsbestimmungen im gesellschaftlichen Bereich, in dem der Schulsektor eine prominente Stellung einnahm. Die ethnische Trennung erfasste ebenso allt¨agliche wie kuriose Bereiche. Titel und H¨oflichkeitsfloskeln gegen¨uber Schwarzen wurden als unnotwendige Anwandlungen ebenso vermieden wie der Gebrauch von „Mister“ und „Missis“. African Americans wurden vielmehr direkt mit „uncle“, „aunt“, „reverend“, „doctor“ oder einfach „boy“ angesprochen. Selbst das H¨andesch¨utteln mit Schwarzen war unerw¨unscht oder gar untersagt. Die f u¨ r Schwarze reservierten Eisenbahnwaggons fanden sich meist im vorderen Zugteil, unmittelbar hinter der Lokomotive, dort, wo sich das Reisen lauter, stickiger und – im Falle einer Kollision – auch gef¨ahrlicher gestaltete. Auch in Gesch¨aften, 23 Theatern, Gef¨angnissen 24 und vor Trinkbrunnen galt die Doktrin der Rassentrennung, und selbst im Tod war bei getrennten Friedh¨ofen Schwarz nicht gleich Weiß.

lion von Nat Turner (1831) sensibilisierte die weiße Bev¨olkerungsmehrheit f u¨ r die Gefahren, die der Stabilit¨at des Sklavensystems durch Flugbl¨atter und religi¨ose Erbauungsschriften erwuchsen. Die Angst vor weiteren Unruhen leistete zus¨atzlichen Alphabetisierungsverboten Vorschub. 1835 verbot North Carolina jegliche o¨ ffentliche Erziehung fu¨ r Schwarze; 1847 folgte Missouri mit einer vergleichbaren Bestimmung. In den 1840er Jahren hatte fast jeder Sklavenstaat ein Gesetz, das einen wie auch immer durchgef u¨ hrten Schulunterricht f u¨ r Sklaven verbot (vgl. Whiteaker 1990, 7f.). 21 Albanese 1976, 113. 22 Zur Etymologie von „Jim Crow“ aus dem Bereich des fr¨uhen Variet´es der Nordstaaten mit plumpen Imitationen von Szenen aus dem schwarzen S¨uden vgl. Bookbinder 1989, 150f. 23 Schwarzen war beispielsweise in vielen Modegesch¨aften das Anprobieren der Konfektionsware untersagt. 24 1890 wurde in Georgia verboten, weiße und schwarze Gef¨angnisinsassen an eine gemeinsame Kette zu h¨angen (Bullock 1967, 73).

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„Separate, but equal“: Die in allen Lebensbereichen durchdeklinierte Trennung der Ethnien (und Kulturen) verband sich allerdings nicht mit dem zweiten Bestandteil dieser Sentenz – von gleichen oder gleichwertigen Bedingungen konnte keine Rede sein (vgl. Abb. 1). 25 Die o¨ ffentliche Infrastruktur, die African Americans f u¨ r den Erwerb von Bildung und Qualifikationen einger¨aumt wurde,blieb rudiment¨ar; in vielen lokalen Gemeinden war eine Bildungsemanzipation, wenn u¨ berhaupt, nur ansatzweise und mit der Hilfe privater Wohlfahrtsorganisationen und karitativer Einrichtungen m¨oglich. 26 Auch andere ethnische Gruppen, die der US-amerikanischen als nicht oder nur unter großen Erschwernissen assimilierbar galten, sahen sich mit einer Diskriminierung im Bereich des o¨ ffentlichen Bildungswesens konfrontiert. Die Geschichte der Public schools fu¨ r Hispanics im S¨udwesten der heutigen USA braucht genau genommen nicht weiter als bis in das sp¨ate 19. Jahrhundert zur¨uckzureichen. Bis auf einige wenige private, vor allem katholische Institutionen bestanden weder unter spanischer, noch unter fr¨uher mexikanischer Herrschaft allgemeine Bildungseinrichtungen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es im S¨udwesten vereinzelt, o¨ ffentliche Schulen ins Leben zu rufen, die freilich zum weitaus u¨ berwiegenden Teil von der englischsprachigen Mehrheit 27 unterhalten und auch f u¨ r diese vorgesehen waren. Dem spanischsprachigen Teil der Bev¨olkerung wurden – wenn u¨ berhaupt – in einem gezielten Eliminierungsprozess isolierte und meist desolate Schulgeb¨aude zugewiesen. 28 Besonders spannungsgeladen verlief die ethnisch motivierte Auseinandersetzung um kulturell angepasste o¨ ffentliche Schulen und Ausbildungsm¨oglichkeiten in Texas. Hier dauerte es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis Mexican Americans die Gelegenheit erhielten, o¨ ffentliche – und selbstverst¨andlich strikt nach kulturell-ethnischer Zugeh¨origkeit segregierte – Schulen zu besuchen. 29 Durch ganz Texas zog sich eine Linie, die das Gebiet mit traditioneller hispanisch-mexikanischer Besiedlung im Westen vom Bereich eines großen, anglo-dominierten Landbesitzes im Osten schied. 30 Dieser 25

So waren 1916 in den gesamten USA nicht einmal 70(!) o¨ ffentliche High schools fu¨ r Schwarze registriert. 1911 fand sich in ganz Maryland, das damals von immerhin 200 000 Schwarzen bewohnt war, nur eine einzige schwarze Sekundarschule, in Baltimore. In Atlanta wohnten 1915 7184 Schwarze und 10 013 Weiße im High school-Alter von 15 bis 19 Jahren; es gab keine schwarzen, aber vier weiße Sekundarschulen. In Savannah lag die Zahl der schwarzen potentiellen High school-Sch¨uler sogar h¨oher als die der weißen; dennoch stand nur eine einzige Sekundarschule – fu¨ r Weiße – zur Verfu¨ gung (Anderson 1988, 194). 26 Zu den von privater Seite veranlassten Stiftungen fu¨ r den Aufbau eines Schulwesens f u¨ r Schwarze vgl. ausf u¨ hrlicher z. B. Franklin/Moss 1994 7, 265ff. 27 Je nach regionalem Kontext m¨usste man in diesem Zusammenhang strenggenommen von der englischsprachigen Minderheit sprechen. 28 Vgl. Gonzalez 1990. 29 Weinberg 1977, 144ff. 30 Vgl. dazu die ausfu¨ hrlichen Schilderungen der ethnischen Segregation zwischen besitzenden Anglos und besitzlosen Hispanics in l¨andlichen Siedlungen in Texas bei Montejano 1987, 167f.

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Abb. 1. Anzahl der schwarzen und weißen High schools in St¨adten mit mindestens 20 000 Einwohnern und der schwarzen und weißen Bev¨olkerung im Sekundarschulalter (15 bis 19 Jahre), 1915 (nur S¨udstaaten). (Datenquelle: Anderson 1988, 194ff.)

sozio-¨okonomische und kulturelle Gegensatz fand sein unmittelbares Abbild in der Schule. So erhielten nur wenige Hispanics in Texas im fr¨uhen 20. Jahrhundert die Chance einer regul¨aren Grundschulausbildung. Um 1900 besuchte hier lediglich rund ein F¨unftel aller mexikanischen Kinder eine Schule, 31 mit fatalen Konsequenzen dieser Marginalisierung. Vielen Kindern (und Eltern) wurde eine scheinbare Inkompatibilit¨at ihrer traditionellen (hispanischen) Kultur mit den Lehrpl¨anen der weißen Schulen nahegebracht 32 und gleichsam eingeimpft, so dass die Sch¨uler den fu¨ r einen formalen Schulabschluss notwendigen Inhalten zusehends entfremdet wurden. Selbst wenn Gelegenheiten zum Besuch einer o¨ ffentlich-staatlichen Schule bestanden, kam es zu hohen Absenzen (truancy), die letztlich ein deutlich niedrigeres Ausbildungsniveau 31 32

Cockroft 1995, 12. Vgl. z. B. ausf u¨ hrlich Freytag (2003).

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Abb. 2. Analphabetenraten der weißen und Hispanic-Bev¨olkerung in S¨udtexas 1930 (in Prozent), nach Counties und deren ethnisch-agrarischer Besitzstruktur. (Datenquelle: Montejano 1987, 247)

der Hispanics als der Weißen zur Folge hatten und haben (vgl.Abb. 2). Bis heute ist Analphabetismus unter der spanischsprachigen Bev¨olkerung der USA weit verbreitet, und selbst unter Schulabg¨angern findet sich ein erschreckend hoher Anteil von funktionalen Analphabeten. Der große innere Widerspruch,der die soziale und politischeVerfassung der USA des 21. Jahrhunderts pr¨agen wird, der Dualismus zwischen angels¨achsisch gepr¨agten Traditionen und einer zusehends hispanisierten Gegenwart und die daraus resultierenden Kulturkonflikte, wie die Auseinandersetzungen um die Verwendung der spanischen Sprache oder Einfluss und Macht der katholischen Kirche im o¨ ffentlichen Leben, z¨ahlen zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen Amerikas.Auch im Zeitalter einer Dominanz internationaler politischer Themenfelder wird diese interne Konfliktlinie nicht untergehen, sondern vielmehr umso gr¨oßere Sprengkraft entfalten k¨onnen, solange sich die offiziellen USA auf keinen Modus vivendi mit den ver¨anderten Gegebenheiten verst¨andigt haben. Das Beispiel Kalifornien illustriert schon seit den 1980er Jahren, dass die Schule mit ihren Rahmenbedingungen (Unterrichtssprache, Curriculum, Qualifikation und Bezahlung der Lehrkr¨afte) weiterhin

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einen zentralen Ort kulturell artikulierter und politisch instrumentalisierter Verteilungsk¨ampfe um Positionen von Macht und Einfluss bilden wird.

3 Bildungsverhalten und Bildungslandschaften Mit Bildungsverhalten sollen hier mehrere Ebenen eines gruppen- und personenspezifischen Ausbildungserfolgs angesprochen werden. Um einen solchen Erfolg zu gew¨ahrleisten, bedarf es zun¨achst einer Infrastruktur – etwa in Form staatlich bereitgestellter Schulen, die u¨ ber standardisierte Lehrpl¨ane, die wiederum von lizenzierten, nach objektiven Kriterien gepr¨uften Lehrkr¨aften umgesetzt werden, allgemein akzeptierte Lehrziele – in den USA etwa einen High school-Abschluss – zu erreichen versuchen. Wie im vorangegangenen Kapitel in aller gebotenen K¨urze er¨ortert wurde, verbinden verschiedene kulturelle Gruppen mit dieser Infrastruktur divergierende Pr¨aferenzen. Manchen Gruppen geht es um die Umsetzung politisch-ideologischer Anspr¨uche, ande¨ ren um die Bewahrung kultureller Praktiken und Traditionen. Uber die Bereitstellung und den Unterhalt o¨ ffentlicher Schulen kann eine folgenreiche Minderheiten- und Kulturpolitik betrieben werden. F¨ur den Schulerfolg von Personen aus einem bestimmten ethnisch-kulturellen Hintergrund stellt eine entsprechende Infrastruktur eine zwar notwendige, aber noch nicht hinreichende Voraussetzung dar. Es bedarf auch bestimmter Pr¨amissen auf einer individuellen Ebene, die in Kombination mit strukturellen Faktoren zu einem Bildungserfolg f u¨ hren – oder fu¨ hren k¨onnen, denn in Ausnahmef¨allen vermag bei entsprechender Ambition auch aus einer k¨ummerlichen schulischen Infrastruktur eine herausragende individuelle Bildungsleistung zu resultieren. Zu diesen pers¨onlichen Dispositionen z¨ahlen die Bereitschaft zum Engagement in der Schule, der R¨uckhalt in der eigenen Familie und im Freundeskreis, Motivation und innerer Antrieb sowie gefestigte Vorstellungen u¨ ber ein m¨ogliches Berufsbild. Insgesamt sind strukturelle und individuelle Faktoren aufs Engste miteinander verwoben, so dass eine Ableitung des Schulerfolgs und des Bildungsverhaltens auf genau eine Hauptkomponente wenig sinnvoll und auch empirisch auch nur schwer durchfu¨ hrbar erscheint. 33 Dazu kommt, dass sowohl strukturelle als auch pers¨onliche Kriterien von den historischen Wurzeln der Bildungstraditionen abh¨angen und gleichzeitig auch von aktuellen gesellschaftlichen Grunddispositionen gegen¨uber ethnisch-kulturellen Gruppen gesteuert werden. Wer hier also eindimensionale Kausalbeziehungen formulieren will, st¨oßt schnell auf betr¨achtliche inhaltliche und methodische Schwierigkeiten. Dennoch steht außer Zweifel, dass eine Betrachtung des Schulerfolgs (oder auch -misserfolgs) bestimmter ethnisch-kultureller Gruppen auch das individuelle Bildungsverhalten ber¨ucksichtigen muss. Wenn es um die individuellen Einstellungen zur Schule, zum Lernprozess und zur beruflichen Qualifizierung geht, so wird immer wieder auf die kultu33

Gamerith 2002, 117ff.

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relle Zugeh¨origkeit des Sch¨ulers – und bisweilen sogar auf seinen ethnischen Hintergrund – verwiesen. Nun ist wohl tats¨achlich das kulturelle Umfeld von großer Bedeutung, und zum Teil auch die ethnische Identifikation, weil sie oft mit kulturellen Pr¨aferenzen und Praktiken einhergeht. Dass Erfolg oder Misserfolg an der Schule aber durch genetisch-rassische Pr¨adispositionen erkl¨art werden kann, wie dies etwa in den 1960er und 1970er Jahren postuliert worden war, 34 gilt heute als weitgehend obsolet. Durch die Fortschritte der Gentechnik und der Hirnforschung in j¨ungerer Zeit muss jedoch in Betracht gezogen werden, dass diese Einsch¨atzung neuerlich einer allm¨ahlichen Revision unterzogen werden wird. Eines der eindr¨ucklichsten Beispiele, wie mit einer bestimmten ethnischen Herkunft verkn¨upfte kulturelle Priorit¨aten und Praktiken zu charakteristischen Ergebnissen im Bildungsverhalten fu¨ hren k¨onnen, liefert die Gruppe der Asian Americans. Auch wenn diese Kategorisierung als singul¨arer Block die großen kulturellen Differenzen zwischen den asiatischen Einwanderern zu Unrecht nivelliert, bleibt der Bildungserfolg ausgew¨ahlter Gruppen aus Asien in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten bemerkenswert. Asiaten blicken 34

Ende der 1960er Jahre wurden genetisch-rassische Erkl¨arungsmuster f u¨ r einen unterschiedlichen Schulerfolg unter Jugendlichen wieder ausgegraben und reaktiviert (vgl. dazu zusammenfassend Fox/Barnes 1971). Die zentrale Diskussion der Sozial- und Erziehungswissenschaften kreiste um die Kernfrage, ob die Differenzen in den Testergebnissen zur IQ-Messung – und damit auch die Unterschiede in den Pr¨ufungsresultaten an den Schulen – von genetischen Defiziten oder kulturellen Spezifika (nature or nurture) r¨uhren (vgl. Persell 1993 2, 75). In ihrer rassisch-ethnischen Fixierung konnte die Rekonstruktion von IQ-Werten, die in den 1970er Jahren durch Jensen zu neuer Bl¨ute gelangte, auf die Tradition vermeintlich ausgefeilter und objektiver Testverfahren zur Messung menschlicher Intelligenz aus der Zwischenkriegszeit zur¨uckgreifen. Dass deterministische Ans¨atze dieser Art („relationship of head size to intelligence“ – Bell 1935, 27), die vor allem bei den African Americans genetisch implizierte M¨angel in der Intelligenz ausmachten, bereits in den 1920er und 1930er Jahren kritisiert worden waren, nahmen die Anh¨anger des IQ-begeisterten „Jensenism“ der 1970er Jahre (Cross/Long/Ziajka 1978, 265) kaum zur Kenntnis (zur Kritik an genetisch argumentierenden Theorien zu Test- und IQ-Unterschieden vgl. ausf u¨ hrlicher Berliner 1988; Feagin 1989 3, 218; Ogbu 1978, 54ff.; f u¨ r Hispanics vgl. Pullenza de Ortis 1979). Wenn genetische Merkmale als Grundlage f u¨ r unterschiedliche Intelligenzquotienten herangezogen werden, dann ist dies nach Ogbu (1986, 21) nur fu¨ r Individuen innerhalb einer Gruppe zul¨assig. Divergenzen im Lernerfolg (achievement) und in der Intelligenz sind nicht unab¨anderliche Eigenschaften einer Gruppe, z. B. einer Ethnie, sondern variieren mit dem jeweiligen r¨aumlich-kulturellen Kontext (vgl. Berliner 1988, 275ff.). In diesem Sinne erf¨ahrt die Sozial- und Kulturgeographie eine besondere Bedeutung. F¨ur Juden in Europa und in den USA beispielsweise erscheint diese Kontextualisierung des Schulerfolgs und seine Losl¨osung von genetischen Einflussfaktoren ebenso angebracht wie fu¨ r die koreanische Minderheit in Japan oder in den USA: W¨ahrend Ashkenasim und Sephardim in Europa sehr gegens¨atzliche Erfolgsbilanzen in der Schule aufweisen, schließen sie in den USA relativ einheitlich ab; Koreanern in Japan wird landl¨aufig eine besonders niedrige Intelligenz vorgehalten, w¨ahrend sie in den USA mit guten und besten Schulnoten brillieren. Gegen eine genetische Interpretation von IQ-Unterschieden spricht auch die Tatsache, dass viele Einwanderer – unabh¨angig von ihrer Ausgangskultur – ihren Bildungsstand in der zweiten und dritten Generation deutlich verbessern k¨onnen.

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auf einen beispiellosen beruflichen Aufstieg innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft zur¨uck, der sich aus dem erfolgreichen Abschluss der High school, ¨ den hohen Ubertrittsraten in Colleges und Universit¨aten und der Konzentration auf Studienrichtungen speist, deren Absolventen auf dem Arbeitsmarkt besonders nachgefragt werden (Medizin, Naturwissenschaften, Technik). Vor diesem Hintergrund als Model minority apostrophiert, haben Asiaten hinsichtlich des formalen Ausbildungsniveaus die weiße Mehrheitsbev¨olkerung mittlerweile u¨ berrundet. 35 Nicht immer kann ein hoher formaler Bildungsabschluss in eine ad¨aquate berufliche T¨atigkeit umgem¨unzt werden, wie etwa bei manchen exzellent ausgebildeten Koreanern, die aus ihrer Heimat oft ein Hochschulzertifikat mitbringen, dieses dann in den USA aber nicht anerkannt bekommen und somit gezwungen sind, sich in niedriger qualifizierten (und entlohnten) Berufsfeldern zu verdingen. 36 Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass diese berufliche „Statusinkonsistenz“ 37 die Vorteile eines hohen Ausbildungsniveaus egalisieren kann.Die Bedeutung kultureller Konventionen im schulischen Lern- und im beruflichen Qualifikationsprozess kann dadurch aber nicht in Zweifel gezogen werden. Eine Kombination aus engem famili¨aren Zusammenhalt, uneingeschr¨ankter Loyalit¨at gegen¨uber Vorgesetzten und hohem Arbeitsethos bildet die Basis f u¨ r das spezifische kulturelle Milieu, aus dem sich der Bildungserfolg vieler Asian Americans ableitet. Eine andere kulturelle Einbettung, die ebenfalls mit konkreten – hier aber negativen – schulischen Resultaten in Verbindung gebracht wird, soll die ethnische Gruppe der Schwarzen, vor allem in den verarmten innerst¨adtischen Problemgebieten, kennzeichnen. Die Assoziation der African Americans mit einer Culture of poverty wird seit den 1960er und 1970er Jahren kontrovers diskutiert und ist Teil eines makrostrukturellen Ansatzes, mit dem die scheinbar unver¨anderliche Mittel- und Perspektivlosigkeit vieler Schwarzer in den USA als letztendlich selbstverschuldete Lethargie erkl¨art werden soll. Eigenverantwortlichkeit gilt im Verst¨andnis der US-amerikanischen Gesellschaft als einer der zentralen Werte, und unter der Pr¨amisse gleicher Ausgangschancen kann jede Person ihre jeweilige soziale Position ver¨andern oder verbessern. Wer mit seinen Lebensentw¨urfen o¨ konomisch oder sozial scheitert, tr¨agt an diesem Ungl¨uck folglich selbst den gr¨oßten Anteil – zum Misserfolg kommt also noch der Vorwurf, daran auch selbst Schuld zu tragen (blaming the victim). 38 Nach dieser Auffassung (deficiencies of the poor) werden alle Ursachen von Misserfolg und Elend auf die individuelle Ebene der betroffenen Personen transferiert, die in ihrem Kontext eine spezifische Tendenz zu einer eigenen 35

Vgl. Gamerith 2003. Shin/Chang (1988) widmeten sich in diesem Zusammenhang der Berufsgruppe der koreani¨ schen Arzte in den USA und diagnostizierten eine Konzentration auf bestimmte medizinische Randgebiete wie z. B. An¨asthesiologie oder Rehabilitationsmedizin. 37 Vgl. Min 1990, 444f. 38 Vgl. Summers 1995, 218ff. 36

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Armutskultur aufweisen sollen. 39 Der Culture of poverty werden nicht nur Nachteile, sondern auch gewisse attraktive Facetten in Form von Ungebundenheit, fehlenden Verpflichtungen oder engeren sozialen Kontakten nachgesagt. In einer extremen Position behaupten die Verfechter dieser Anschauung, dass ein Leben in a¨ rmlichen Verh¨altnissen sogar gewollt sei. Von hier ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur ethnischen Stigmatisierung der gesamten schwarzen Bev¨olkerung der USA, die African Americans geringe Durchsetzungskraft, mangelndes o¨ konomisches Interesse oder eine unabwendbare Neigung zu Drogen oder Alkohol bescheinigt. Aus einem solchen Blickwinkel kann Armut mit ihren Begleiterscheinungen gleichsam pathologische Z¨uge annehmen. Auch die These eines genetischen Defekts, der Menschen zur Armut disponiert, passt in diese Argumentationslinie. Man muss die Culture of poverty-These nicht bis zu diesen bizarren Ausw¨uchsen teilen, um dennoch feststellen zu k¨onnen, dass die im statistischen Durchschnitt deutlich ung¨unstigere Bildungsbilanz f u¨ r schwarze USAmerikaner eng mit Armut verflochten ist. Monokausale Zusammenh¨ange mit dem Schulerfolg sind schwer nachzuweisen und wohl auch nicht plausibel; ein positives oder negatives formales Ausbildungsergebnis steht vielmehr mit einer ganzen Reihe von individuellen, sozialen und auch kulturellen Elementen in Verbindung. Wesentlich fu¨ r ein vorzeitiges Ausscheiden aus der Schule (dropout) scheinen ein niedriges formales Bildungsniveau der Eltern, fehlende Vorbilder in der Familie, im Freundeskreis und in der Gesellschaft, pers¨onliche Motivationsprobleme, mit einem High school-Abschluss konkurrierende Ziele, Drogenkriminalit¨at und Idealisierung von Gewalt verantwortlich zu sein. Manche dieser Parameter k¨onnen durchaus in spezifischen Gangoder Ghetto-Kulturen verankert sein. Die außerordentlich hohe Dropout-Rate unter schwarzen Jugendlichen in den USA 40 auch als Auseinandersetzung auf kultureller Ebene zu deuten, erscheint somit nicht eben abwegig. Trotz der Gefahr, dass dadurch Bildungsverhalten mit ethnisch-kulturellen Merkmalen allzu schablonenhaft aufeinander projiziert werden, muss auf der Basis massenstatistischer Daten 41 ein enger Zusammenhang zwischen Ethnizit¨at und formalem Ausbildungsniveau konstatiert werden. W¨ahrend auf dieser umfassenden Ebene vor allem strukturelle Komponenten (Entwicklung, Tradition, Organisation und Finanzierung des Bildungssystems) zur Erkl¨arung der ethnischen Gegens¨atze herangezogen werden k¨onnen (vgl. auch Kap. 2), sind bei der Betrachtung individueller Dispositionen, die der qualitativen Erhebung durch Interviews bed¨urfen, verst¨arkt auch kulturelle Momente zu ber¨ucksichtigen. Auf beiden Ebenen, also sowohl auf der Basis der gesamten USA als auch auf der Basis von Einzelfallerhebungen, manifestieren 39

Vgl. auch das a¨ hnlich konnotierte Konzept der „underclass“ (ausfu¨ hrlicher und kritisch z. B. Gans 1996). 40 Zur Dropout-Problematik vgl. ausfu¨ hrlich Gamerith 2002, 81ff. 41 Vgl. Gamerith 2002, 50ff; Gamerith/Messow 2003.

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Abb. 3. Anteil der High school-Abbrecher (Dropouts) an den Personen im Alter von 16 bis 19 Jahren (1990), nach Counties. (Datenquelle: Kaufman/McMillen/Bradby 1992, 119ff.)

sich kulturell bedingte Unterschiede im Bildungsverhalten und im Bildungserfolg der ethnischen Gruppen. Diese Divergenzen spiegeln ein r¨aumliches Abbild, das so konturiert erscheint, dass man geradezu von Bildungslandschaften unterschiedlicher kultureller Pr¨agung sprechen k¨onnte. Das o¨ ffentliche USamerikanische Bildungswesen produziert nicht fl¨achendeckend den erw¨unschten Anteil 42 an High school-Absolventen, sondern zeigt in manchen Regionen St¨arken, w¨ahrend anderswo bedr¨uckend viele Sch¨uler nur als Dropout entlassen werden. Besonders augenf¨allig erscheint der S¨uden der USA (vgl. Abb. 3), wo vor allem fu¨ r den Bereich der Appalachen (westliche Teile der Bundesstaaten Kentucky und Tennessee, n¨ordliche Gebiete der Staaten Alabama und Georgia) extrem hohe Abbrecherraten zu diagnostizieren sind. Strukturelle Benachteiligungen, die zum großen Teil schon in der historischen Entwicklung der o¨ ffentlichen Schulen dieser Region angelegt sind, addieren sich hier mit den Merkmalen einer traditionellen o¨ konomischen Peripherie zu einer prek¨aren Gesamtbilanz der Public school. Auch in Teilen des Westens der USA findet sich ein deutlich erh¨ohtes Risiko fu¨ r die Sch¨uler, die High school ohne regul¨aren Abschluss zu verlassen. 42

Ein High school-Abschluss gilt heute als nahezu unabdingbare Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt in zumindest mittleren Positionen. Selbst bei geringer qualifizierten T¨atigkeiten, etwa im Fastfood-Gastgewerbe, wird heute in aller Regel der Nachweis eines High school-Diploms gefordert.

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Abb. 4. Anteil der Sch¨uler an o¨ ffentlichen Grund- und Sekundarschulen, die im Schuljahr 1991/92 mindestens einmal aus disziplin¨aren Gr¨unden vor¨ubergehend von der Schule verwiesen wurden (Out-of-school suspensions), nach ethnischen Gruppen und Bundesstaaten. (Datenquelle: unver¨offentlichte Daten des U.S. Office for Civil Rights)

Es ist aufschlussreich,dass sich dieses großr¨aumige Bild f u¨ r einen Bildungsindikator wiederholt, der auf der Basis von repr¨asentativen Stichproben unter Sch¨ulern verschiedener ethnischer Herkunft in allen Bundesstaaten erhoben wurde. Erfasst ist das Problem mangelnder Disziplin, auf das die Schulen mit einem vor¨ubergehenden Verweis der betreffenden Sch¨uler (Out-of-school suspensions) reagieren. Dieser Umstand erlaubt R¨uckschl¨usse auf das Verhalten an der Schule, auf die Motivation der Sch¨uler und auf ihre Einstellung zu Schule und Lernen. Suspendierungen vom Unterricht haben zwar den „Vorteil“, dass sie relativ leicht zu exekutieren sind, m¨ussen aus p¨adagogischem und erziehungsphilosophischem Blickwinkel allerdings mit Skepsis betrachtet werden, nicht zuletzt, weil u¨ berzeugende Hinweise f u¨ r einen langfristigen Erfolg dieser Maßnahme fehlen. Mit Suspendierungen wird auf Symptome reagiert, ohne dass dadurch die Ursachen erfasst werden. Die Motivation der von der Schule verwiesenen Sch¨uler wird durch diesen Schritt in der Regel nicht gest¨arkt. Das a¨ ndert aber nichts an der Aussagekraft von Schulverweisen, die gleichsam einen Blick in den Alltag der Klassenzimmer erlauben und Auskunft dar¨uber

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geben, wie reibungslos der Unterricht verl¨auft. Suspensions folgen charakteristischen ethnischen und r¨aumlichen Mustern (vgl. Abb. 4). Wiederum zeigt sich generell, bei allen ethnischen Gruppen, dass der S¨uden eine benachteiligte Region mit ung¨unstigen Parametern im Bildungswesen darstellt. Schulverweise werden hier deutlich h¨aufiger ausgesprochen als in anderen Regionen der USA, w¨ahrend etwa Neuengland, das auch in zahlreichen anderen Statistiken des Schul- und Hochschulwesens gl¨anzt,offensichtlich viel weniger intensiv mit disziplin¨aren Problemen seiner Sch¨uler konfrontiert ist.Was das Kartenbild im Bundesstaatenvergleich nicht zeigt, ist ein unterschiedliches Aufkommen von Suspendierungen auch auf kleinr¨aumiger Ebene, etwa zwischen Innenst¨adten und Stadtrandzonen, oder zwischen verst¨adterten und l¨andlich gepr¨agten Regionen. Hier k¨onnen die Anteile der jemals suspendierten Sch¨uler einer betr¨achtlichen Schwankungsbreite unterliegen – zum Beispiel drei Prozent fu¨ r eine kleine High school im S¨uden des l¨andlich gepr¨agten Staates Nebraska oder 35 Prozent in einer Schule im Zentrum Bostons. 43 Einen offenbar sehr engen Zusammenhang mit disziplin¨aren Problemen an der Public school zeigt Abb. 4 auch fu¨ r die ethnische Zugeh¨origkeit der Sch¨uler: Schwarze und Hispanics werden o¨ fter von der Schule verwiesen als Weiße oder Sch¨uler asiatischer Abstammung – neuerlich ein deutlicher Hinweis, dass Bildung nicht losgel¨ost von ethnisch-kulturellen Aspekten betrachtet werden darf und dass dies gerade auch f u¨ r die heterogene US-amerikanische Gesellschaft gilt. Angesichts der ethnischen Gr¨aben in der US-amerikanischen Bildungslandschaft,wie sie hier exemplarisch im disziplin¨arenVerhalten an o¨ ffentlichen Schulen zum Ausdruck kamen, wird man immer wieder auf Kernfragen im Themenfeld von Ethnizit¨at und Bildungsverhalten gestoßen: Wie kann es zu den eklatanten Gegens¨atzen zwischen African und Asian Americans kommen? Sind Schwarze sui generis nur zu geringeren schulischen Leistungen bef¨ahigt? Oder haben daran feste, u¨ berkommene Strukturen ihren unver¨anderbaren Anteil, dem die Individuen chancenlos ausgeliefert sind? Oder – um diese ber¨uhmte Dichotomie neuerlich zu strapazieren: „nature“ oder „nurture“? Die Interpretation der Out-of-school suspensions kann in beide Richtungen gehen – Schulverweise als berechtigte Reaktion auf disziplin¨ares Fehlverhalten, das die Sch¨uler selbst zu verantworten haben; oder Schulverweise als Ausdruck ethnischer Diskriminierung, bei selektiver Wahrnehmung durch Lehrkr¨afte, die ein spezifisches Verhalten bei Angeh¨origen bestimmter Minorit¨atengruppen anders ahnden als bei weißen Sch¨ulern. Eine endg¨ultige Beurteilung dieser strittigen Frage kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Mitunter zweifelhafte, nicht von Diskriminierung freie Methoden werden auch beim Ability grouping (oder Tracking) betrieben, einer Organisationsform des Unterrichts, nach der Sch¨uler entsprechend ihren eigenen W¨unschen, antizipierten F¨ahigkeiten oder tats¨achlichen Leistungen unterschiedlichen 43

Vgl. Gamerith 2002, 77.

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Abb. 5. Repr¨asentation der in Begabten- und Talentierten- (Gifted and Talented) bzw. Sondergruppen (Special education) des Schulunterrichts registrierten Kinder (Weiße, African Americans, Hispanics, Indianer), bezogen auf ihren Anteil an der Gesamtzahl der Schulkinder, 1992, nach Bundesstaaten (mit mindestens 10 Prozent weißen, African American oder Hispanicbzw. 5 Prozent asiatischen oder indianischen Schulkindern). Ein Wert von 1 bedeutet gleiche Anteile der betreffenden Minorit¨at an der Gesamtzahl der Schulkinder einerseits und an der Zahl der in Begabten- und Talentierten- bzw. Sondergruppen registrierten Kinder andererseits. Bei einem Wert 1) ist die Minorit¨at in den Begabten- und Talentiertenbzw. Sondergruppen in Bezug auf ihren Anteil an der Gesamtsch¨ulerzahl unterrepr¨asentiert (¨uberrepr¨asentiert). (Datenquelle: Sanders/Mattson 1998, 234ff.)

Ethnizit¨at und Bildungsverhalten

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Schulzweigen und Kursen zugewiesen werden. Diese Praxis steht im Kreuzfeuer der Kritik, die vor allem mit mangelnder Objektivit¨at bei der Platzierung der Sch¨uler in die Kurse argumentiert. Wer in den unteren Tracks (berufsbildende Kurse, Vocational oder Technical courses) landet, gilt bei vielen als stigmatisiert; 44 u¨ berragende intellektuelle Leistungen werden von diesen Sch¨ulern nicht (mehr) erwartet, und selbst wenn es in den Folgejahren zu (¨uberraschenden?) Entwicklungen in einer st¨arker als akademisch zu wertenden Richtung kommt, werden diese Sch¨uler in aller Regel nicht aus ihrem jeweiligen Track herausgenommen. Die nach Begabung sortierten Kursprogramme spiegeln also unterschiedliches soziales Prestige wider, wobei von einem Wechsel von unten nach oben nur in Ausnahmef¨allen berichtet wird. Vielmehr zementiert das Tracking-Prinzip bestehende soziale Hierarchien, die sich hier – wiederum – mit ethnisch-kulturellen Merkmalen verschr¨anken. So konzentrieren sich Sch¨uler aus finanziell bescheidenen Verh¨altnissen und ethnisch-sozial marginalisierten Positionen in den unteren, den Vocational oder berufsvorbereitenden Kursprogrammen. Sie m¨ussen sich hier mit einem erwiesenermaßen qualitativ weniger guten Unterricht zufrieden geben und k¨ampfen oft mit betr¨achtlichen psychischen Problemen, die mit der geringeren sozialen Akzeptanz der Vocational-Kursprogramme zu tun haben. Umgekehrt finden sich weiße Kinder u¨ berdurchschnittlich h¨aufig in hochschulvorbereitenden Kursen, w¨ahrend nur etwa ein Viertel der Hispanics f u¨ r diesen Zweig angemeldet ist. 45 In den speziellen Tracks f u¨ r Kinder mit retardierten F¨ahigkeiten konzentrieren sich vor allem African Americans, Hispanics und Indianer (vgl.Abb. 5). In Begabten- und Talentiertenkursen (Gifted and Talented) wiederum sind diese Gruppen kaum vertreten, was besonders deutlich fu¨ r die S¨udstaaten gilt. 46 Neuerlich also tritt etwa der S¨uden als charakteristische Bildungslandschaft mit (traditionell) ung¨unstigen Rahmenbedingungen in Erscheinung, und wiederum verzahnen sich Kultur, Ethnizit¨at und Bildungsverhalten im Konfliktfeld Schule. Hier ist es die Ebene der einzelnen Schulen, in denen mit leistungsorientierten und zukunftsbezogenen Kursprogrammen ethnisch-kulturelle Anspr¨uche verteidigt oder durchgesetzt werden sollen. Dass die Tracks von den Verteidigern als quasi unumst¨oßliches Organisationsraster des o¨ ffentlichen US-amerikanischen Schulsystems begriffen werden, das den sozialen Status quo reproduzieren hilft, deckt sich gut mit dem hegemonialen Verst¨andnis von Macht und Kultur, auf das eine Neue Kulturgeographie fokussiert. Ganz in deren Sinne – und dazu auch in Einklang mit Bourdieus Analyse der Machtrelationen zwischen den Geschlechtern 47 – bildet die Public 44

Vgl. Irvine 1990, 9ff. Vgl. Meier/Stewart 1991. 46 1992 stellten African Americans in Mississippi insgesamt 51 Prozent der registrierten Sch¨uler (Kindergarten bis 12. Schulstufe), jedoch nur sieben Prozent der im Rahmen der Begabtenf¨orderung erfassten Sch¨uler (vgl. Sanders/Mattson 1998, 234). 47 Bourdieu 2005. 45

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school in den USA einen Ort erbitterter kultureller Auseinandersetzungen, in dem die hegemonialen Kr¨afte mit einer aus Tradition und Geschichte abgeleiteten Unver¨anderlichkeit der bestehenden Verh¨altnisse argumentieren. Dass es auch einem jahrzehnte- oder sogar jahrhundertelangen Widerstand verschiedener ethnischer Gruppen nicht gelungen ist,diese weiße Interpretationsmacht zu brechen, gibt im Sinne von Gramscis fast def¨atistischer Sicht der ungleichen Relationen zwischen Hegemonie und Widerstand 48 zu wenig Hoffnung Anlass.

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Grenzenlos mobil? Anmerkungen zur Bedeutung und Strukturierung zirkul¨arer Mobilit¨at in den Wissenschaften ∗ heike j¨ons To be everywhere in space or always in time, work has to be done, connections made, retrofitting accepted. 1 Bruno Latour The whole academic world seems to be on the move. 2 David Lodge

Einleitung Zu einer Zeit, in der die Wissensgesellschaft zunehmende internationale Bedeutung erlangt, kommt der Internationalisierung von Forschung und Lehre eine Schl¨usselstellung zu. Dies gilt vor allem f u¨ r die F¨orderung zirkul¨arer akademischer Mobilit¨at von Wissenschaftlern, weil diese als Tr¨ager vielf¨altiger Wissensressourcen und Erfahrungen neue Impulse fu¨ r Forschung und Lehre im Herkunfts- wie im Gastland vermitteln k¨onnen. Vor diesem Hintergrund setzt sich dieser Beitrag mit den Bedeutungen und Bedingungen zirkul¨arer internationaler Mobilit¨at in den Wissenschaften w¨ahrend des ausgehenden 20. Jahrhunderts auseinander. Im Mittelpunkt des Interesses stehen folgende Forschungsfragen: Welche Rolle spielt zirkul¨are Mobilit¨at im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit und Interaktion? Wie sehen Muster zirkul¨arer internationaler Mobilit¨at an der Wende zum 21. Jahrhundert aus? Welche Aspekte behindern oder f¨ordern zirkul¨are internationale Mobilit¨at in den Wissenschaften? Die Erkundungen zu diesen Fragen ordnen sich in einen weiteren Kontext der Untersuchung zeitlicher und r¨aumlicher Variationen der Produktion und Verbreitung wissenschaftlichen Wissens ein. Zu Beginn der 1960er Jahre ∗

1 2

Dieser Beitrag pr¨asentiert wesentliche Argumente aus J¨ons (2003, Kapitel 2 und 5) in u¨ berarbeiteter Form. Mein Dank gilt Peter Meusburger fu¨ r wertvolle Anregungen, meinen Interviewpartnern fu¨ r ihre Zeit und Gespr¨achsbereitschaft, der Alexander-von-HumboldtStiftung f u¨ r ihre vielfache Unterst¨utzung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft f u¨ r die F¨orderung des DFG-Projekts „Internationale Wissenschaftsbeziehungen“. Latour 1999b, 173. Lodge 1984, 231.

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wies Thomas Kuhn darauf hin, dass wissenschaftliche Methoden, theoretische Konzepte sowie Kriterien zur Beurteilung von Problemen und zur Anerkennung von L¨osungen keineswegs universell g¨ultig sind, sondern u¨ ber die Zeit hinweg variieren. 3 Mit dieser Abgrenzung gegen¨uber wissenschaftstheoretischen Positionen, die sich mit universellen logischen Regeln zur Beurteilung der G¨ultigkeit wissenschaftlicher Behauptungen befassen, ordnete er das ¨ Verh¨altnis von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie neu. 4 Uber zwanzig Jahre sp¨ater betonten Bruno Latour und Donna Haraway den zeitlich und r¨aumlich situierten Charakter wissenschaftlicher Praxis und Ideen und wiesen damit darauf hin, dass die von Kuhn genannten Aspekte nicht nur u¨ ber die Zeit hinweg, sondern auch zwischen verschiedenen r¨aumlichen Kontexten zu einer bestimmten Zeit variieren. 5 Wichtige Einsichten zur r¨aumlichen Bedingtheit der Produktion und Verbreitung wissenschaftlichen Wissens wurden seit den 1990er Jahren von David Livingstone in dem Entwurf einer Wissenschaftsgeographie als eigenst¨andiges Interessensgebiet interdisziplin¨arer Wissenschaftsforschung systematisiert. 6 Parallel zu diesen Entwicklungen konzeptionalisierte Peter Meusburger seit Anfang der 1980er Jahre Zusammenh¨ange zwischen Wissen und Raum fu¨ r verschiedene Arten des Wissens mit Blick auf die r¨aumliche Organisation von Arbeitspl¨atzen und sozialen Systemen. 7 Auf Grundlage dieser Arbeiten kann ein Zusammenhang zwischen der Produktion, Verbreitung und Verarbeitung wissenschaftlichen Wissens und spezifischen r¨aumlichen Kontexten als gesichert gelten, jedoch bedarf die Art dieses Zusammenhangs zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten weiterer Kl¨arung. Aufbauend auf den Erfahrungen renommierter US-Wissenschaftler mit zirkul¨arer akademischer Mobilit¨at wird im Folgenden argumentiert, dass wissenschaftliche Arbeit und Interaktion als wichtige Basis einer postulierten Wissensgesellschaft auf vielf¨altige Weise sozial und r¨aumlich strukturiert sind. W¨ahrend die resultierenden Begrenzungen und Beschr¨ankungen individu3 4 5

6 7

Kuhn 1962. Vgl. z. B. Blume 1977. Latour 1987, Haraway 1988. Haraways Konzept des situierten Wissens besagt, dass alles Wissen in physisch begrenzte K¨orper und Artefakte eingebettet ist, die jeweils nur unvollst¨andige, da aus einer spezifischen Perspektive gewonnene Erkenntnisse erlauben.An Stelle des Blicks von u¨ berall und nirgendwo tritt die Betrachtung von irgendwo. Zugleich werden die Vorstellung einer von lokalen Bedingungen abgekoppelten, neutralen wissenschaftlichen Objektivit¨at und der Glauben an eine einzige, endg¨ultige und makellose Wahrheit verworfen (Haraway 1988, ¨ 176–182). Zur Uberwindung der Unvollst¨andigkeit des eigenen, lokal konstruierten oder erworbenen Wissens sei das Ziel wissenschaftlicher Arbeit, durch Kommunikation u¨ ber den eigenen Standort hinaus eine erreichbare Objektivit¨at zu erlangen. Latours Konzept der Akkumulationszyklen in Zentren wissenschaftlicher Kalkulation wird im zweiten Abschnitt n¨aher erl¨autert. Livingstone 1995, 2002, 2003. Meusburger 1980, 1998, 2000.

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ell unterschiedliche Bedeutung aufweisen, steht die Gesamtheit identifizierter Strukturierungen der weit verbreiteten Vorstellung einer freien, objektiven, universellen und globalen Wissenschaft entgegen. Statt dessen zeigen die folgenden Ausf u¨ hrungen, wie erst die Zirkulation von Wissenschaftlern und damit verbundener Wissensressourcen einen zentralen Beitrag zu jeder noch so kleinen Ann¨aherung an das raum- und zeitlose Ideal eines standardisierten und weltumspannenden wissenschaftlichen Diskurses leistet. Grundlage der empirischen Analysen sind 85 semi-strukturierte Interviews, die im Herbst 1999 und im Herbst 2003 mit ehemaligen HumboldtGastwissenschaftlern an den großen US-amerikanischen Forschungsuniversit¨aten Harvard University, M.I.T., University of Chicago, I.I.T. und University of California at Berkeley gef u¨ hrt wurden. Bei der Mehrheit der Gespr¨achspartner handelte es sich um Humboldt-Forschungspreistr¨ager, die fu¨ r ihr Lebenswerk geehrt und gleichzeitig f u¨ r einen bis zu einj¨ahrigen Forschungsaufenthalt an die Institute der in Deutschland t¨atigen nominierenden Wissenschaftler eingeladen wurden (Interviews Nr. 1 bis 60). Das Preistr¨agerprogramm der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ist 1972 als Teil einer Danksagung der Bundesrepublik an die USA fu¨ r die Marshallplanhilfe eingerichtet worden und hat maßgeblich zur Beschleunigung der letzten Phase der Reintegration Westdeutschlands in die internationale Wissenschaftsgemeinschaft beigetragen. 8 Der kleinere Teil der Interviews (Nr. 61 bis 85) wurde mit ehemaligen Humboldt-Forschungsstipendiaten gefu¨ hrt, die aus einem anderen Land als den USA zu einem Forschungsaufenthalt nach Deutschland gekommen sind, aber zum Zeitpunkt der Interviews an den genannten US-amerikanischen Institutionen arbeiteten. 9 Zu Beginn des Beitrags wird das zu Grunde liegende Wissenschaftsverst¨andnis skizziert und eine theoretische Positionierung der Bedeutungen zirkul¨arer Mobilit¨at im Rahmen wissenschaftlichen Arbeitens vorgenommen. Anschließend wird die Auspr¨agung geographischer Mobilit¨atsmuster in den Wissenschaften des ausgehenden 20. Jahrhundert thematisiert, bevor das Hauptkapitel untersucht, durch welche Einfl¨usse M¨oglichkeiten und Bed¨urfnisse von Wissenschaftlern zur Teilnahme an internationaler Mobilit¨at und Kooperation und damit zur Generierung m¨oglicher positiver R¨uckkopplungseffekte fu¨ r die eigene Arbeit und gegebenenfalls auch fu¨ r die eigene Arbeitsgruppe variieren k¨onnen.

8 9

J¨ons 2003. Humboldt-Forschungsstipendien wurden erstmals 1953 ausgeschrieben und richten sich an promovierte Wissenschaftler aller F¨acher und L¨ander im Alter bis zu 40 Jahren. Diese k¨onnen sich mit einem frei gew¨ahlten Arbeitsthema selbstst¨andig f u¨ r einen Forschungsaufenthalt in Deutschland bewerben.

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Heike J¨ons

Wissenschaftliche Praxis als Netzwerkbildungsprozess In seinem Werk „Science in Action“ befasst sich Bruno Latour mit der wichtigen Bedeutung r¨aumlicher Mobilisierungsprozesse im Rahmen wissenschaftlicher Praxis. 10 Das resultierende Konzept der Akkumulationszyklen in Zentren wissenschaftlicher Kalkulation und die damit verbundene Akteursnetzwerkperspektive 11 bilden eine wichtige theoretische Grundlage fu¨ r die Besch¨aftigung mit Fragen des Reisens in den Wissenschaften 12 und bieten daher auch einen geeigneten Ansatzpunkt zur theoretischen Konzeptionalisierung zirkul¨arer akademischer Mobilit¨at,die hier allerdings nur skizzenhaft vorgenommen werden kann. 13 Aus der Akteursnetzwerkperspektive betrachtet stellen Produkte wissenschaftlicher Arbeit das Resultat r¨aumlicher Mobilisierungsprozesse heterogener Ressourcen dar, die an einem zentralen Ort systematisiert, in Beziehung zueinander gesetzt und zu einem m¨oglichst stabilen Ressourcengeflecht aggregiert, reduziert, kombiniert und/oder transformiert werden. 14 Neue, durch den Einbezug verschiedener Ressourcen generierte wissenschaftliche Behauptungen lassen sich diesem Verst¨andnis nach zu wissenschaftlichen Fakten erh¨arten, wenn es gelingt, immer mehr menschliche und nichtmenschliche Entit¨aten in Form von Argumenten, Artikeln, Laboratorien, Interessengruppen und Professionen mit den neuen Erkenntnissen in stimmiger Weise zu verkn¨upfen. Demnach existiert wissenschaftliche Realit¨at, zumindest vor¨ubergehend, sofern das entsprechende Ressourcengeflecht – durch gegenseitiges Kontrollieren der aufeinander abgestimmten Elemente – als einheitliches Ganzes in Erscheinung tritt und s¨amtlichen zu einem bestimmten Zeitpunkt m¨oglichen beziehungsweise erfolgenden Modifikationen widersteht. Der Status eines wissenschaftlichen Faktums a¨ hnelt letztlich dem einer Black box, da dessen heterogene, durch das Austesten starker und schwacher Verbindungen gekenn-

10

Latour 1987. Die Akteursnetzwerktheorie (actor-network theory) wurde in den 1980er Jahren von Pariser Wissenschaftssoziologen um Michel Callon und Bruno Latour konzipiert und im Rahmen interdisziplin¨arer Wissenschaftsstudien, vor allem unter Einbezug anthropologischer und philosophischer Einfl¨usse (z. B. Michel Serres, Isabelle Stengers), weiter entwickelt. Ausgehend von dem Bestreben, wissenschaftliches Arbeiten und die Konstitution wissenschaftlichen Wissens zu verstehen, wendet sich die Akteursnetzwerktheorie gegen a priori gesetzte Dichotomien wie Objekt/Subjekt oder Natur/Gesellschaft. Stattdessen wird die Welt als dynamisches Beziehungsgeflecht heterogener Entit¨aten betrachtet. Um Verbindungen zwischen verschiedenen Entit¨aten sowie deren Eigenschaften sichtbar zu machen, werden Netzwerkbildungsprozesse verfolgt bzw. rekonstruiert. 12 Shapin 1995, 307. 13 Im Detail setzt sich J¨ons 2003 mit einer solchen theoretischen Konzeptionalisierung auseinander. 14 Latour 1987. 11

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zeichnete Entstehungsbedingungen im routinem¨aßigen Umgang nicht mehr relevant erscheinen. 15 Die Produktion wissenschaftlicher Fakten erscheint vor dem Hintergrund der Mobilisierung und integrierenden Verkn¨upfung einer großen Zahl von Ressourcen genauso wie jeder Versuch einer Widerlegung wissenschaftlicher ¨ Fakten – das Offnen von Black boxes – als kostspieliges Unterfangen, weil je nach Fachgebiet hochqualifizierte Mitarbeiter, Forschungsinfrastruktur und Arbeitszeiten in unterschiedlicher Gewichtung verfu¨ gbar gemacht und finanziert werden m¨ussen. Latour zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Realit¨at zu formen nicht eines jeden Angelegenheit sein kann und es zu r¨aumlicher Konzentration wissenschaftlicher Praxis kommt: Since the proof race is so expensive that only a few people, nations, institutions or professions are able to sustain it, this means that the production of facts and artefacts will not occur everywhere and for free, but will occur only at restricted places at particular times. 16 Wissenschaft ist demnach vergleichbar mit einem Netzwerk, das aus einzelnen, miteinander in Verbindung stehenden Knotenpunkten besteht, in denen unverh¨altnism¨aßig viele heterogene Ressourcen konzentriert, verarbeitet und hin- und hertransferiert werden. 17

Zur Bedeutung zirkul¨arer Mobilit¨at in den Wissenschaften Im Zeitalter drahtloser und kabelgebundener Telekommunikationsmedien bieten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur Mobilisierung der f u¨ r die Konstruktion ihrer wissenschaftlichen Argumente erforderlichen Ressourcen im Wesentlichen vier M¨oglichkeiten. Sie k¨onnen erstens zur Verf u¨ gung stehende Telekommunikationsmedien nutzen, zweitens nichtmenschliche Mittler beziehungsweise Inskriptionen einsetzen (je nach Kontext zum Beispiel Frageb¨ogen, Computer, Roboter, Tiere), drittens andere Personen mit der Beschaffung von Ressourcen beauftragen – gegebenenfalls u¨ ber deren eigene Mobilit¨at, u¨ ber Kommunikationsmedien oder dritte Personen – und sie k¨onnen viertens – und dies steht im Zentrum dieses Beitrags – selber r¨aumlich mobil werden. Die Vorteile eigener Mobilit¨at sind vielf¨altig. So k¨onnen reisende Wissenschaftler auf ihrem Weg nicht nur neue, sondern vor allem unerwartete Ressourcen f u¨ r die Generierung oder Stabilisierung der eigenen wissenschaftlichen Behauptungen gewinnen, die von Mittlern unter Umst¨anden nicht als n¨utzlich erkannt werden w¨urden. 18 Dar¨uber hinaus werden im Rahmen direkter („Face-to-face“-)Kommunikation sowohl verbal ge¨außerte Informationen 15 16 17 18

Ebd., 2f., 131. Ebd., 179. Ebd., 180. Ebd., 210.

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¨ als auch nicht verbale Außerungen in Form von Gestik, Mimik, Tonlage und Blickkontakten aufgenommen, was die wichtige Bedeutung direkter Kommunikation nicht nur f u¨ r o¨ konomisch oder politisch wichtige Entscheidungen, sondern auch f u¨ r kreative T¨atigkeiten unterstreicht. 19 Mit der zentralen Kontaktperson eines anderen Forschungskontextes werden oft auch vertraulichere Informationen ausgetauscht als mit vermittelnden dritten Personen und angesichts der gr¨oßeren Notwendigkeit von Komplexit¨atsreduktion scheint auch die Verst¨andigung u¨ ber technische Mittler, selbst unter Beteiligung der zentralen Kontaktpersonen, prinzipiell weniger ertragreich und flexibel zu sein als „Face-to-face“-Kommunikation durch eigene r¨aumliche Mobilit¨at. Wenn es mobilen Wissenschaftlern auf ihrer Reise gelingt,Kontaktpersonen an bereits stabilisierten Behauptungen zu interessieren oder diese Erkenntnisse mit anderen Ergebnissen oder Objekten sinnvoll zu verkn¨upfen, k¨onnen sie zur Transformation einer eigenen – noch relativ schwachen, da noch nicht in anderen Kontexten bew¨ahrten – Behauptung in ein wissenschaftliches Faktum beitragen. Die eigenen Behauptungen w¨urden in den neuen Kontexten verschiedenen „trials of strength“ ausgesetzt, 20 welche die Stabilit¨at des Argumentationszusammenhanges auf die Probe stellen und somit in gleichem Maße einen Einfluss auf die zuk¨unftige Existenz und Entwicklung der Behauptung und ihrer Sprecher (Einzelperson, Arbeitsgruppe) aus¨uben. Außerdem k¨onnen reisende Wissenschaftler bereits anerkannte Fakten in Raum und Zeit verbreiten, indem sie anderen Personen erm¨oglichen, diese in ihre Forschungsarbeit zu integrieren. F¨ur die gastgebende Seite beziehungsweise Kontaktpersonen reisender Wissenschaftler wird zirkul¨are akademische Mobilit¨at somit zu einer M¨oglichkeit der Mobilisierung wissenschaftlicher Ressourcen u¨ ber Dritte. In Anlehnung an Michel Serres k¨onnen reisende Wissenschaftler als Boten angesehen werden, die sich durch Zeit und Raum bewegen und dabei unerwartete Verbindungen, Zugeh¨origkeiten und Allianzen zwischen scheinbar unvereinbaren Menschen, Dingen, Ideen und Ereignissen herstellen. 21 Die Metapher des Boten betont zum einen die Unvorhersehbarkeit, Offenheit und eigenst¨andige Bedeutung zirkul¨arer akademischer Mobilit¨at f u¨ r wissenschaftliches Arbeiten. Zum anderen hebt sie die Notwendigkeit zur Kommunikation zwischen den Orten hervor, an denen wissenschaftliche Aussagen lokal konstruiert werden. Angesichts der Kontextabh¨angigkeit und Unvollst¨andigkeit wissenschaftlicher Darstellungen sind verschiedene Formen der Kommunikation notwendig, um eine erreichbare Objektivit¨at wissenschaftlicher Behauptungen zu erlangen. 22 Reisen ist zudem erforderlich, um Netzwerke der Soli19

Meusburger 1998, 52. Latour 1987, 74ff. 21 Serres 1995. 22 Haraway 1988. Vgl. dazu Fußnote 6. 20

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darit¨at zu kn¨upfen, die Abschottung verhindern und Offenheit gegen¨uber den M¨oglichkeiten situierten Wissens bewahren. 23 Zirkul¨are akademische Mobilit¨at kann in diesem Zusammenhang als ein Beitrag zur Gew¨ahrleistung der Kommunikation zwischen verschiedenen Zentren wissenschaftlicher Kalkulation angesehen werden. „Face-to-face“Kontakte haben dabei den großen Vorteil, dass sie den Aufbau eines Vertrauensverh¨altnisses als Basis f u¨ r den Austausch wertvoller Informationen in informellen Kommunikationsnetzwerken leichter induzieren k¨onnen als indirekte Kontakte. 24 Zwar kann sich die Schwelle, ab der „Face-to-face“-Kontakte gegen¨uber indirekten Kontakten bevorzugt werden, nach Meusburger durch Lernprozesse und verbesserte Telekommunikationsbedingungen verschieben, jedoch werden indirekte Kontakte in vielen F¨allen direkte Kontakte nicht ersetzen k¨onnen. 25 Trotz verschiedener Vor- und Nachteile tragen alle Varianten zur Durchf u¨ hrung eines Akkumulationsprozesses in Zentren wissenschaftlicher Kalkulation gemeinsam zur Formierung von Geographien der Wissenschaften bei, die sich unter anderem in r¨aumlichen Konzentrationen von Wissenschaftseinrichtungen, in l¨ander- und standortbezogenen Unterschieden des wissenschaftlichen In- und Outputs sowie in unterschiedlich starken Kooperationsbeziehungen zwischen verschiedenen Wissenschaftlern, deren Arbeitsorten und Arbeit gebenden Staaten a¨ ußern.Wie solche Interaktionsmuster am Beginn des 21. Jahrhunderts im Einzelnen aussehen thematisiert der folgende Abschnitt, bevor im Hauptkapitel erkundet wird, welche Faktoren die Muster zirkul¨arer Mobilit¨at moderieren.

Geographische Muster zirkul¨arer akademischer Mobilit¨at Internationale zirkul¨are Mobilit¨at von Wissenschaftlern aus Deutschland ins Ausland und aus dem Ausland nach Deutschland wurde im Jahr 2001 von deutscher Seite her von rund einem Dutzend Organisationen gef¨ordert. Diese sind f u¨ r einen wesentlichen,jedoch nicht quantifizierbaren Anteil des gesamten deutschen Wissenschaftleraustausches verantwortlich. 26 Die geographischeVerteilung der mobilen Wissenschaftler nach Herkunftsund Ziell¨andern verdeutlicht Deutschlands vermittelnde Position in einer weltweiten Hierarchie regionaler Wissenschaftszentren. In den krisengesch¨uttelten bis boomenden Forschungsstandorten Asiens besteht ein großes Interesse an Deutschland, w¨ahrend sich mehr als ein Drittel der deutschen Gastwissenschaftler im Ausland auf die international f u¨ hrenden Wissenschaftszentren im englischsprachigen Raum, vor allem die USA und Großbritannien konzen23

Ebd., 178; Gregory 2000, 297. Meusburger 2000, 361. 25 Meusburger 1998, 51. 26 DAAD 2003. 24

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Abb. 1. Gef¨orderter Wissenschaftleraustausch aus deutscher Perspektive im Jahr 2001 Datenquelle: DAAD 2003, eigener Entwurf.

trieren (Abb. 1). Weltpolitische Ver¨anderungen haben im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu einer Dezentralisierung internationaler Wissenschaftsbeziehungen gefu¨ hrt und somit zuvor relativ stark abgeschottete R¨aume der Wissenschaften, wie sie zum Beispiel zwischen Westdeutschland und ehemaligen Ostblockstaaten bestanden, einander zug¨anglich gemacht. Die Muster zirkul¨arer Mobilit¨at aus deutscher Perspektive variieren unter anderem nach Fachgebieten systematisch, weil verschiedene wissenschaftliche Arbeitsweisen unterschiedlich stark auf spezifische r¨aumliche Kontexte angewiesen sind (zum Beispiel Großger¨ate, spezialisierte Verfahren, Feldstudien, Archive). Humanmediziner konzentrieren sich wegen eines besonders hohen fachbezogenen wissenschaftlichen Standards der US-amerikanischen Eliteuniversit¨aten und deren großer symbolischer Bedeutung extrem stark auf die USA. Auf Grund der Regions- und Sprachbindung sprach- und kulturwissenschaftlicher Forschung fokussiert sich die Interaktion deutscher Geisteswissenschaftler am wenigsten stark auf einzelne Staaten; in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist das Interesse deutscher Wissenschaftler am britischen Forschungskontext sogar gr¨oßer als an den USA. 27 Die Mobilisierung neuer Gastwissenschaftler erscheint in den Geisteswissenschaften besonders schwie27

J¨ons/Meusburger 2005.

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rig, weil Sprache fu¨ r viele geisteswissenschaftliche Projekte eine zentrale Rolle spielt und das Potential an ausl¨andischen Wissenschaftlern mit Deutschkenntnissen begrenzt und aus historischen Gr¨unden r¨uckl¨aufig ist. 28

Erfahrungen international mobiler Wissenschaftler Die individuelle Wahrnehmung r¨aumlicher Unterschiede wissenschaftlicher Praxis und Interaktion durch international mobile Wissenschaftler variiert erheblich, auch wenn sich die entsprechenden Personen zwischen weltweit fu¨ hrenden wissenschaftlichen Zentren bewegen. Dies zeigt sich an Hand der Erfahrungen US-amerikanischer Wissenschaftler w¨ahrend ihrer Deutschlandaufenthalte im Zeitraum von 1972 bis 1996. Eine Gruppe meiner Gespr¨achspartner reduzierte wahrgenommene Differenzen in Inhalt und Stil auf kulturelle und pers¨onliche Variationen, von denen die eigentliche Wissenschaft unber¨uhrt bliebe. F¨ur diese Personen gab es oft auch keine Unterschiede zwischen wissenschaftlicher Kooperation auf nationaler oder internationaler Ebene: I think chemists are chemists the world around, there isn’t a great deal of cultural difference, although culture can come in in some ways. The relationships between professor and student are much different in Germany than here, at least it was much more formal. It’s less so now but in California in particular it’s very informal, but the chemistry, the science part, that aspect, that science culture is pretty much universal. 29 I’m German, and yet I’ve got some very good friends in Israel, and I’ve been there and I’ve lived in a Kibbutz and nobody was causing any difficulties. I think it’s all a matter of personalities, some people are good at interacting with people and have no troubles and other people have a great deal of trouble. 30 There is really no distinction [between collaborations on the national and the international level], of course you see Americans a little more often because they’re closer but except for that there’s really no difference at all. 31 Eine andere Gruppe betonte, dass es anders war, in Deutschland zu arbeiten, dass internationale Zusammenarbeit aus der Ferne m¨uhsam sei, viel Geld koste und durch kulturelle Unterschiede auch inhaltlich erheblich variieren kann: I think it is still true that the German system in chemistry has a more rigorous practical laboratory component to it. So I find the students are very well trained in the laboratory – also in general terms. [. . . ] I think the 28

J¨ons 2003, 193-198. Interview Nr. 48. 30 Interview Nr. 14. 31 Interview Nr. 11. 29

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postdocs are comparable, I think there tends to be a little more emphasis on theory in the United States compared to practical which has advantages and disadvantages. 32 Q: Does it make a difference if your collaborators are located within the US, or outside the US? A: Only in how much money it costs to do the experiments. 33 I mean actually I think with the Italian group we have to repeat everything ourselves because it’s not reliable. I don’t know what’s wrong with Italy, I have no idea, but you take an Italian out of Italy they do great, you put an Italian back into Italy and it’s a disaster, so, God save Europe, I mean it has to be something with the system or the culture, it must. 34 Vor diesem Hintergrund entsteht der Eindruck, dass die erste Gruppe von Wissenschaftlern im Rahmen ihrer Laufbahn u¨ ber ausreichend intellektuelle, finanzielle, symbolische und andere Ressourcen verfu¨ gte, um m¨ogliche Hindernisse grenz¨uberschreitender Interaktion in Zeit und Raum weitgehend m¨uhelos u¨ berwinden zu k¨onnen. Die zweite Gruppe besaß aufgrund ihres vergleichbaren Status als international renommierte Wissenschaftler ebenfalls gen¨ugend Ressourcen f u¨ r weitl¨aufige internationale Kontakte, jedoch scheinen diese Wissenschaftler in ihren Kooperationen mit Personen aus anderen r¨aumlichen und kulturellen Kontexten Komplikationen erfahren zu haben, die sie f u¨ r regionale Unterschiede wissenschaftlicher Praxis sensibilisierten. Deutlich werden diese Differenzen in der Wahrnehmung an zwei Beispielen zur Interaktion US-amerikanischer Wissenschaftler mit Kollegen in Brasilien, die sich allerdings auf unterschiedliche Kommunikationsmedien beziehen. Schriftliche Kommunikation scheint demnach problemloser zu sein als m¨undliche Kommunikation. Ein drittes Beispiel verdeutlicht jedoch, dass auch Internet und E-mail nicht u¨ berall funktionieren: There is the ability to actually be writing a paper and exchange it in minutes basically, have people writing parts, changing them and so having a very close real-time collaboration anywhere, I mean totally international . . . I’ve had collaborators in Brazil and I’ve written papers with Brazilians. It’s just anywhere in the world, there’s just no barrier to exchanging information. 35 I mean, the phone conference is awkward in particular for some reasons, it’s hard to hear these Brazilians, they are really soft spoken. Basically what you do is you put your results on the web everyone can get them instantly 32

Interview Nr. 59. Interview Nr. 60. 34 Interview Nr. 29. 35 Interview Nr. 10. 33

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. . . everyone uses the internet,5 minutes before the meeting they can download the figures and at the phone meeting you just say go to my area and here’s a new thing and it all works fine. 36 Ich hatte auch einen Jugoslawen, dem es nicht gut gegangen ist. Der ist jetzt auch wieder zur¨uckgegangen und sitzt jetzt dr¨uben als Dozent, aber in Belgrad. Ich habe auch vor kurzem wieder Kontakt mit ihm aufgenommen. Ist aber auch wieder abgerissen. Die e-mail funktioniert da nicht und dergleichen. 37 Anhand der zirkul¨aren Mobilit¨at renommierter Wissenschaftler zwischen den USA und Deutschland lassen sich verschiedene Sachverhalte identifizieren, die ganz wesentlich zu einer hochgradigen Stratifizierung internationaler Wissenschaftsbeziehungen und somit der Produktion und Verbreitung wissenschaftlichen Wissens beitragen (Abb. 2).

strukturelle einflu ¨ sse

individuelle einflusse ¨



Gesellschaftliche Systeme



Persönliche Ressourcen



Institutionalisierte Förderangebote



Karriere- und Familienzyklus



Materielle und immaterielle Welten



Biographische Bezüge und kulturelle Affinität



Wissenschaftskulturen und deren Hierarchisierung



Geschlechtsspezifische Mobilität

Abb. 2. Strukturierung zirkul¨arer Mobilit¨at und Kooperation in den Wissenschaften Quelle: eigener Entwurf.

In Abh¨angigkeit von der Situierung eines Wissenschaftlers innerhalb entsprechender Beziehungsgeflechte materieller und symbolischer Ressourcen und deren jeweiligen zeitlichen und r¨aumlichen Bez¨ugen variieren die M¨oglichkeiten und Motivationen eines jeden Individuums, an bestimmten Segmenten wissenschaftlicher Praxis und Interaktion teilzuhaben, auf Grundlage r¨aumlicher Mobilisierungsprozesse positive R¨uckkopplungseffekte fu¨ r das eigene wissenschaftliche Kalkulationszentrum zu generieren und von der Begegnung mit anderen Personen, Objekten und Ideen im Sinne wissenschaftlichen Netzwerkbildens zu profitieren. Die im Folgenden thematisierten Sachverhalte verstehen sich als offene Thesen zur Konstitution heterogener Beziehungsgeflechte, in denen bereits ein fehlendes oder wegfallendes Element zirkul¨are Mobilit¨at verhindern kann, aber umgekehrt auch hinzukommende Elemente Mobilit¨at f¨ordern und Mobilit¨atshemmnisse u¨ berwinden helfen k¨onnen. 36 37

Interview Nr. 85. Interview Nr. 38.

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Gesellschaftliche Systeme An Hand der asymmetrischen geographischen Muster akademischer Mobilit¨at wurde die wichtige strukturierende Bedeutung politischer Grenzen deutlich, da diese je nach sozio¨okonomischem Entwicklungsstand und politischem Verh¨altnis von Herkunfts- und Gastland fu¨ r Wissenschaftler unterschiedlich leicht zu u¨ berwinden sind. Ein klassisches Beispiel bilden Wissenschaftsbeziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion in Zeiten des Kalten Krieges, in denen zwar gegenseitige Besuche hochrangiger Wissenschaftler u¨ blich waren, diese aber nur einer kleinen Elite von Wissenschaftlern vorbehalten waren, w¨ahrend sich der inhaltliche Austausch prim¨ar auf theoretische Fragestellungen konzentrierte. As far as the Russians are concerned that was a difficult problem before the collapse of Communism, they didn’t encourage visits to their labs and we didn’t encourage their visits here, so there wasn’t really anything going, but the Russian scientists were very eager to know what was going on in space research, so there were the Leningrad Seminars in the 60’s, early 70’s and groups of American scientists would go over for a Leningrad seminar. We would see what they were doing, I mean they were doing a lot of theoretical work that they could talk about, it was really not easy at all to propose joint missions. And now they don’t have any money. 38 Well, back in the cold war days it was really very tricky to arrange trips to the Soviet Union, that was really pretty tricky, and there I guess we didn’t really collaborate. You have to have a little bit firmer bases although I have some good friends in the Soviet Union, and some who have emigrated to this country, I have collaborated with. But while they were in there during the cold war stage it was just too difficult, too many obstacles in the way. 39 Der Rang eines Wissenschaftlers in der jeweiligen nationalen Wissenschaftsgemeinschaft stellte eine wichtige Ressource dar, um damalige Mobilit¨atsschranken zu u¨ berwinden: In the early fifties there were visa difficulties . . . although I had a tenure academic position here at Harvard I had trouble getting back into the United States because of the McCarthy period. But by that time I had already enough high placed friends . . . a person of the atomic energy commission personally visited the State Department and got the permission for my visa . . . I visited the Soviet Union in ’67 and ’71. By that time I was already a member of the National Academy of Sciences and they had an official exchange programme with the Soviet Academy of Sciences, and that was very nice. 40 38

Interview Nr. 40. Interview Nr. 7. 40 Interview Nr. 18. 39

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China kann als ein weiteres klassisches Beispiel fu¨ r ein hohes Maß an Moderation internationaler Wissenschaftlermobilit¨at durch politische Gegebenheiten dienen: I had a postdoctoral student who came from China, he did his graduate work in this country, at Washington University, then he came to work with me fully intending to go back to China but he never did, he got a job in this country and he stayed in this country, and there were undoubtedly political reasons for that. I mean it would have been awkward for him to go back to China, if not dangerous, because he was politically involved at the time of Tiananmen Square. 41 Die Mobilit¨at von Humboldt-Forschungspreistr¨agern aus den USA nach Deutschland basiert auf einem expliziten staatlichen Interesse an der Verst¨arkung bilateraler Beziehungen zwischen zwei Partnerl¨andern im NATO-B¨undnis und erfolgt dementsprechend vergleichsweise reibungslos. Unterschiede zwischen den beteiligten politischen Systemen waren aber dennoch gelegentlich relevant, zum Beispiel zu Beginn des Programms, als es darum ging, das Preisgeld steuerfrei in die USA zu u¨ berfu¨ hren. Die unvorteilhafte Gesetzeslage gab schließlich den Anlass dazu, das Programm in den ersten drei Jahren in Richtung einer Preisverleihung weiterzuentwickeln, um ein m¨ogliches Hindernis f u¨ r die zirkul¨are Mobilit¨at aus dem Weg zu r¨aumen. 42 In folgendem Fallbeispiel verkomplizierten Zollgesetze den Import von Hummern als Forschungsobjekte fu¨ r ein gemeinsames Projekt, weil Hummer in Deutschland eine relativ teure Delikatesse darstellen. Letztendlich war es preiswerter, Versuchstiere aus den USA zu importieren, als in Deutschland neue zu kaufen: Getting lobsters into the country was extremely difficult. That was one of the hardest things we had to do because we had lobsters flown from my laboratory to Germany to work with.In Germany,lobsters are a delicacy and they are incredibly expensive. It was cheaper for us to buy the lobsters here, pack them in a way that would keep them alive and ship them to Germany and pay whatever customs wanted to charge us than it was to buy them in Germany. So that was a problem, and I had to have a German colleague with me every time the lobsters came to the airport. It took sometimes an hour or two hours of talking to customs officials because they were sure we were going to sell the lobsters. They couldn’t believe we were going to use them in experiments, so that was another difficulty we had but we enjoyed that difficulty. 43 Gesetze k¨onnen zudem den Rahmen festlegen, in dem Forschung in einer spezifischen Region erfolgen kann und auf diese Weise Forschungstraditionen 41

Interview Nr. 54. J¨ons 2003, 172. 43 Interview Nr. 5. 42

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bestimmen, die jedoch nicht unbedingt an nationale Grenzen gebunden sein m¨ussen: I’m starting to work with plant genetics now and of course we’re doing much better than the Germans in plant genetics because of the Green Party. [. . . ] There’s one Star company called Icon genetics, and I think their main base is in Germany but they have some fields in the Ukraine, the Green Party doesn’t come to the Ukraine and labour is cheap. 44 Neben politischen Verh¨altnissen und rechtlichen Gegebenheiten besitzen auch andere Merkmale verschiedener Gesellschaftssysteme einen pr¨agenden Einfluss auf zirkul¨are akademische Mobilit¨at, in dem sie die Verfu¨ gbarkeit und den individuellen Zugang zu international relevanten pers¨onlichen Ressourcen moderieren, zum Beispiel u¨ ber die wirtschaftliche Lage eines Landes oder das Bildungssystem. Pers¨onliche Ressourcen Zu pers¨onlichen Ressourcen von Wissenschaftlern geh¨oren so heterogene Aspekte wie anerkannte Forschungsleistungen, Publikationen, Wissen, neue Argumente, Glaubw¨urdigkeit, Vertrauen der Fachkollegen, Prestige, statushohe berufliche Positionen, Forschungsgelder, Mitarbeiter, Instrumente, Forschungsobjekte, die F¨ahigkeit zur Formulierung erfolgreicher Forschungsantr¨age und wissenschaftlicher Artikel, informelle Kontaktnetze, Ehrungen und verantwortliche akademische Funktionen. Je mehr von diesen Ressourcen akkumuliert und aufeinander abgestimmt werden k¨onnen,desto autonomer wird ein Wissenschaftler. 45 Mit zunehmender Autonomie w¨achst tendenziell die Flexibilit¨at in der r¨aumlichen Organisation, 46 so dass ein Mehr an pers¨onlichen Ressourcen (zum Beispiel internationales Renommee) gr¨oßere potentielle Interaktionsr¨aume impliziert und weniger mentale und materielle Grenzen sowie geistige und physische Distanzen relevant erscheinen l¨asst.Weitere pers¨onliche Ressourcen umfassen Sprachkompetenzen, die zus¨atzliche Interaktionskontexte er¨offnen k¨onnen, Zeit f u¨ r Mobilit¨at und Kooperation sowie neue Forschungsgelder. Last week we had a symposium on Mesozoic ecosystems and strong contingents from South Africa, Brazil and Argentina and Australia. Actually a delegation from China, too. [. . . ] We hoped we would have a strong presence from Russia. There was supposed to be five or six Russian colleagues coming from Moscow and a couple from Siberia to this meeting. But they had to pull out last minute because of the lack of fund. Yes, there is a lot of 44

Interview Nr. 53. Latour 1987, 1999b. 46 Meusburger 1980, 1998, 2000. 45

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interesting paleontology going on in the old USSR, but how that is going to survive is a big question. 47 Q: So does the funding situation influence your decision where to go? A: Well, it’s good to have support, but in England they don’t pay as well as in Germany, the Humboldt Foundation pays very well, and in Japan too they have the Science Society, at the time I got that money, too. I went to Japan on sabbatical twice, and they came here, and I also make sure I visit. Two weeks from now I’m going to visit NEC and give a talk there, so I have very close ties. [. . . ] Well, Japan, the NEC still supports my research so I won’t say collaborate but they know what I’m doing. They have an interest in my research. 48 Institutionalisierte F¨orderangebote In einem subtilen Geflecht positiver R¨uckkopplungseffekte entscheiden Ausmaß und Art pers¨onlicher Ressourcen u¨ ber die Gewinnung weiterer Ressourcen fu¨ r wissenschaftliches Netzwerkbilden. Klassisches Beispiel sind die Stipendien und Preise der Mittlerorganisationen ausw¨artiger Kulturpolitik, die auf der Beurteilung individueller Leistungen beruhen. F¨ordergelder sind in der Wissenschaft h¨aufig zweckgebunden, so dass das F¨orderangebot im Bereich internationaler Wissenschaftsbeziehungen und die jeweiligen Zugangsbedingungen einen wichtigen moderierenden Einfluss auf internationale Interaktionsmuster von Wissenschaftlern besitzen. 49 Im Kontext nachfolgender Mobilit¨atsbeziehungen zu den Deutschlandaufenthalten von HumboldtForschungspreistr¨agern und Humboldt-Forschungsstipendiaten ist eine relativ geringe Beteiligung deutscher Professoren unter anderem auf M¨angel in der Angebotsstruktur von F¨orderprogrammen zur¨uckzuf u¨ hren. 50 Im Rahmen von Post-Doc-Mobilit¨at in die USA spielen individuelle Finanzierungsm¨oglichkeiten eine wichtige Rolle fu¨ r die Aufnahme in eine renommierte Arbeitsgruppe. It certainly influences it in the sense that because postdocs coming from Germany or from France or often from England have funding, but postdocs from China don’t. There’s much less opportunity for applicants from China in general, it’s not just in my laboratory but in general in this country. 51 I funded some [postdocs] totally, some of them partially and many of them had their own funding, which was very nice for me of course . . . In some of my cases very often the better ones were self-funded, and the ones I funded were not that. For example, I’ve had a number of Chinese postdocs, well you 47

Interview Nr. 44. Interview Nr. 55. 49 F¨ur das Beispiel studentischer Mobilit¨at vgl. Gordon/ Jallade 1996. 50 J¨ons 2005. 51 Interview Nr. 54. 48

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have to fund them totally because the amount of money they get from home won’t pay for the food, so it really also very often depends on, is that country rich enough, or does it have a policy on funding people to go abroad. 52 Karriere- und Familienzyklus Die M¨oglichkeiten zur Beantragung und Wahrnehmung institutioneller F¨orderangebote im Bereich internationaler zirkul¨arer Mobilit¨at variieren in verschiedenen Karrierephasen der Wissenschaftler. Mit fortschreitender wissenschaftlicher Laufbahn k¨onnen oft zunehmend mehr Ressourcen generiert werden, so dass die Autonomie und Reichweite individueller Kontakte prinzipiell ¨ ansteigen. Altere Wissenschaftler weisen dem zu Folge tendenziell gr¨oßere potentielle Interaktionsr¨aume als j¨ungere Wissenschaftler auf, die noch am Beginn des wissenschaftlichen Karrierezyklus stehen. 53 In a¨ hnlicher Weise kann sich die Wahrnehmung m¨oglicher Hindernisse fu¨ r internationale Zusammenarbeit, wie sie zum Beispiel durch ein Mehr an erforderlichen finanziellen Ressourcen entstehen, im Laufe der wissenschaftlichen Karriere a¨ ndern. Solche Hindernisse werden zum Beispiel seltener als handlungsrelevant wahrgenommen, wenn f u¨ r jede Flugreise problemlos interne oder externe Ressourcen mobilisiert werden k¨onnen. Da auch j¨ungere etablierte Wissenschaftler bereits betr¨achtliche wissenschaftliche Ressourcen aufweisen k¨onnen und a¨ ltere etablierte Wissenschaftler gelegentlich Zeiten der Ressourcenknappheit verzeichnen, handelt es sich keineswegs um einen zwingend linearen Zusammenhang zwischen dem Alter beziehungsweise der Karrierephase und dem Ressourcenreichtum eines Wissenschaftlers. Jedoch sind solche systematischen altersspezifischen Unterschiede bei einem Vergleich renommierter US-Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete und Altersgruppen besonders auff¨allig. 54 Mit wachsendem wissenschaftlichem Ressourcengeflecht a¨ndern sich auch typische Aufgabenspektren von Wissenschaftlern in einem zunehmend arbeitsteilig organisierten Netzwerkbildungsprozess,woraus wiederum bestimmte Konsequenzen f u¨ r die Rahmenbedingungen, den Verlauf und die Auswirkungen ihrer Auslandsaufenthalte resultieren. In den USA verbringen zum Beispiel experimentell arbeitende Naturwissenschaftler ihre Sabbaticals besonders h¨aufig nach der Etablierungsphase als Professor („tenure track“) im Ausland. Weitere l¨angere Auslandsaufenthalte folgen meist erst wieder in einer sp¨ateren Karrierephase, wenn die Arbeitsgruppe ihren produktiven H¨ohepunkt u¨ berschritten hat, eine gewisse Routine eingekehrt ist, eine l¨angere Phase mit hochrangigen administrativen Funktionen abgeschlossen wurde oder wenn sich die Arbeitsgruppe in der Verkleinerungsphase befindet. In Deutschland sind vor allem Post-Docs international mobil,w¨ahrend Professoren wegen 52

Interview Nr. 51. Fischer/Rammer 1992; J¨ons 2003, 407-418. 54 Ebd. 53

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ihrer Arbeitsbelastung kaum f u¨ r l¨angere Forschungsaufenthalte ins Ausland gehen. 55 Das beschriebene Muster akademischer Zirkulation steht weitgehend in Einklang mit einem weiteren zyklischen Prozess, der im Falle einer Familie mit Kindern wichtig ist. Im Verlauf des Familienzyklus, der sich idealtypischerweise mit den Phasen Partnersuche und Heirat, erste Ehejahre, Familie mit Kleinkindern, Familie mit Schulkindern, Familie mit Jugendlichen im Prozess der Abl¨osung und Familie ohne abh¨angige Kinder beschreiben l¨asst, a¨ndern sich ebenfalls die Rahmenbedingungen fu¨ r Auslandsaufenthalte systematisch. Falls keine substituierenden Faktoren wie im Gastland relevante Sprachkenntnisse der Kinder oder internationale Schulen am Gastort existieren, erfolgt seltener ein l¨angerfristiger Aufenthalt in den Phasen „Familie mit a¨ lteren Schulkindern“ bis zu „Familie mit Jugendlichen im Prozess der Abl¨osung“, weil der logistische Aufwand zu groß w¨are und a¨ ltere Kinder einem Ortwechsel oft sehr kritisch gegen¨uber stehen. I’ve also spent some short sabbaticals here in residence to my wife’s disappointment, but I like working in Berkeley and I can do my research best here, but as my research group grew and as my children were older it became more difficult to go on longer visits and so I tended to make shorter sabbatical leaves . . . rather than taking one full year I would take one semester of sabbatical leave, so they’ve been more frequent but shorter. 56 During my first sabbatical leave I was for half a year in Paris with PG, another Nobel Laureate . . . For the next sabbatical in 1964, I didn’t go abroad because my children were all of critical school age. So we spent a whole year in Berkeley, California . . . And then in 72 I went to, well we first travelled around the world, to see the world, then I settled down in my native country of the Netherlands. I wanted to see what it was like to work there, I went back to my supervisor in Leiden . . . I’d been a student there but I never really earned a living in my native country. And then the fourth sabbatical was in Munich, at least half of it, the first part of it I spent in India, in Bangalore. I also saw a former postdoc there in India. I visited him, I mostly went to the Raoul Institute, and then six months in Munich and then my fifth and last sabbatical in ‘87 I went to Munich again. 57 I have not travelled that much in the 90s, more in the 80s; the 90s I pretty much stayed at Berkeley. The main reason is that my children have reached an age where it is difficult to take them away from school for an extended period of time. 58 55

J¨ons 2003, 377-396, J¨ons 2005. Interview Nr. 59. 57 Interview Nr. 18. 58 Interview Nr. 52. 56

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Materielle und immaterielle Welten Wissenschaftler agieren in Abh¨angigkeit von Fachgebieten und Arbeitsrichtungen in verschiedenen materiellen und immateriellen Welten, um aus deren Bausteinen und komplexen Beziehungsgeflechten wissenschaftliche Argumente zu konstruieren und zu stabilisieren. Diese Praktiken sind auf Grund der eigenen K¨orperlichkeit der Wissenschaftler immer in spezifische physischmaterielle Kontexte eingebettet; sie lassen sich an Hand der jeweils untersuchten Fragestellung und der verwendeten Konzepte und Methoden aber immer auch innerhalb spezifischer gedanklicher Kontexte verorten. R¨aumliche Gegebenheiten sind daher f u¨ r alle Arten wissenschaftlicher Praxis nicht nur relevant, sondern auch konstitutiv; ihre jeweilige Bedeutung f u¨ r die Prozesse der Mobilisierung, Stabilisierung, Erh¨artung, Verbreitung und Erhaltung wissenschaftlicher Fakten und Artefakte variiert jedoch ganz wesentlich nach dem Raumbezug der konstituierenden Entit¨aten und somit nach den Gegenstandsbereichen wissenschaftlicher Praxis und Interaktion (zum Beispiel Molek¨ule, Sterne, Tiere, Menschen, Theorien, Gedanken, Texte). Je st¨arker Forscher in ihrer Arbeit mit physisch verorteten Ger¨aten, Objekten, Ereignissen, Lebewesen, Personen oder Personengruppen befasst sind, desto gr¨oßer ist ihre Einbettung in einen spezifischen lokalen Kontext und desto schwieriger wird die Fortsetzung ihrer Arbeit im Rahmen zirkul¨arer r¨aumlicher Mobilit¨at. In ger¨ateintensiven Arbeitsgebieten, in denen die Infrastrukturanforderungen von einzelnen Arbeitsgruppen zu bew¨altigen sind, ist ein einj¨ahriger Auslandsaufenthalt oft zu kurz, um ein gemeinsames Projekt im u¨ blichen Sinne durchzufu¨ hren (so zum Beispiel in den Ingenieurwissenschaften oder der Laserphysik). Gastwissenschaftler dieser F¨acher konzentrierten sich in Deutschland meist auf theoretisch ausgerichtete Fragestellungen und auf weniger ger¨ateintensive Arbeiten (zum Beispiel Softwareentwicklung). In experimentellen Gebieten, die durch multinational finanzierte Großprojekte gekennzeichnet sind oder in denen Forschungsobjekte und -infrastruktur gut transportiert werden k¨onnen beziehungsweise am Gastort verf u¨ gbar sind, kommt die gemeinsame Bearbeitung eines Projekts wesentlich h¨aufiger vor (so zum Beispiel in der Astrophysik, Kernphysik oder in den Biowissenschaften). Da US-Professoren in Chemie wegen einer stark europ¨aisch gepr¨agten Fachtradition oft weniger h¨aufig selber im Labor arbeiten als in Physik oder den Biowissenschaften, selbst wenn sie Zeit dazu h¨atten, bilden sie selten den Tr¨ager einer konkreten internationalen Kooperation. Wenn dennoch kooperiert wurde, so bezogen sich die Fallbeispiele auf theoretische Fragestellungen der Chemie; ansonsten konzentrierten sich Chemiker vor allem auf die Pflege von Kontakten in Europa, die Verbreitung von Forschungsergebnissen und die Organisation gemeinsamer Projekte unter Einbezug der Arbeitsgruppe in den USA. Eine große Individualit¨at mathematischer und theoretischer Forschung tr¨agt dazu bei, dass hier formelle Projektkooperationen eher un¨ublich sind.

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Gemeinsame Probleme werden bearbeitet, wenn sich zu passender Gelegenheit gegenseitige Ankn¨upfungspunkte ergeben. In den Geisteswissenschaften tragen individuelle Interpretationsleistungen, kontextspezifische Forschungsthemen und stark spezialisierte Netzwerkbildungsprozesse dazu bei, dass Forschungsaufenthalte im Ausland und Kooperationen mit Dritten viel mehr Voraussetzungen und gemeinsame Ankn¨upfungspunkte erfordern als in anderen Arbeitsgebieten (zum Beispiel Fremdsprachenkenntnisse, ortsgebundene Prim¨arquellen) und daher grunds¨atzlich seltener vorkommen. Die große Vielfalt empirisch-experimenteller und interpretativ-argumentativer Netzwerkbildungsprozesse zeitgen¨ossischer wissenschaftlicher Praktiken weist jeweils ontologisch verschiedene Ausgangspunkte und konstituierende Entit¨aten auf, die jeweils unterschiedliche r¨aumliche Bez¨uge implizieren: Geistige Entit¨aten sind im Prinzip genauso mobil wie es ihre physischen Tr¨ager erlauben, materielle Entit¨aten k¨onnen Wissenschaftler auf Grund ihrer eigenen K¨orperlichkeit an einen spezifischen physisch-materiellen Kontext binden. I started life as an experimental physicist but I became a theoretician when I realised it’s much easier to be a theoretician . . . Most experiments that are done are not very good experiments, it’s extremely difficult to design and carry out a really superb experiment. You have to know the theory well and you have to be a really good experimentalist. In theoretical research you have the advantage of that you can make assumptions, in real life nature constrains you. You can make assumptions but you won’t get anywhere. In theory you can say, well, if this is true then that is true, ok, but in the laboratory this is true but you can’t say this is true [. . . ] So it is really much more difficult to do a good experiment than to do good or acceptable theory. 59 Da im Zuge wissenschaftlichen Netzwerkbildens Vielfalt zunehmend standardisiert und abstrahiert wird, um leicht verst¨andliche und gut kommunizierbare Aussagen u¨ ber wesentlich komplexere Sachverhalte zu erm¨oglichen, werden unabh¨angig von den Gegenstandsbereichen mit fortschreitendem Netzwerkbilden sowohl materiell als auch geistig stark kontextualisierte Praktiken von weniger stark in spezifische r¨aumliche Kontexte eingebetteten Arbeitsweisen abgel¨ost.Verschiedene Stufen eines wissenschaftlichen Netzwerkbildungsprozesses implizieren daher ebenfalls unterschiedliche Geographien wissenschaftlicher Praxis und Interaktion, so dass sich die Beziehung zwischen verschiedenen r¨aumlichen Kontexten und unterschiedlichen wissenschaftlichen Transformationsketten in einer Matrix mit zwei grundlegenden Dimensionen beschreiben l¨asst, die verschiedene Grade der Materialit¨at und Immaterialit¨at wissenschaftlicher Praxis und Interaktion systematisiert (Abb. 3). 59

Interview Nr. 51.

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Abb. 3. Variierende r¨aumliche Bez¨uge verschiedener wissenschaftlicher Praktiken Quelle: eigener Entwurf.

In allen Phasen wissenschaftlichen Netzwerkbildens k¨onnen zum Beispiel Theoretiker, die wissenschaftliche Argumente prim¨ar mit geistigen Bausteinen kreieren, ihren Arbeitsplatz wesentlich leichter verlagern als experimentell oder empirisch arbeitende Wissenschaftler, weil sie vergleichsweise weniger physisch verortete Ressourcen ben¨otigen. Ihre allt¨agliche Arbeit ist jedoch zumindest in gesellschaftliche Zusammenh¨ange eingebettet (Finanzierung des Lebensunterhaltes, Nahrungsaufnahme, M¨oglichkeit der o¨ ffentlichen ¨ Außerung von Gedanken,Fachkollegen,Publikationsorgane etc.).Dar¨uber hinaus ist der lokale Kontext in den fr¨uhen Stadien der Formierung eines neuen theoretischen Arguments besonders bedeutend; zum Beispiel, wenn neue geistige Ressourcen durch Lekt¨ure oder Kommunikation mit anderen erworben werden oder wenn als Basis fu¨ r eine Zusammenarbeit das Vertrauen anderer Individuen auf direktem Wege durch „Face-to-face“-Kontakte gewonnen werden muss. Im Verlauf einer Zusammenarbeit u¨ ber theoretische Inhalte kann Kopr¨asenz h¨aufig wesentlich fr¨uher und leichter durch Telekommunikation substituiert werden als im Rahmen experimenteller und empirischer Arbeit, weil geistige Bausteine eines Argumentationsnetzwerks ontologisch kompatibel mit diesen Medien sind und daher u¨ ber E-mail, Fax und Telefon ausgetauscht werden k¨onnen ohne grundlegend ver¨andert zu werden. Die Zusammenfu¨ hrung der einzelnen Teile einer gemeinsam bearbeiteten Fragestellung

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kann jedoch erneut ein freies Spiel der Assoziationen erfordern, was wiederum am besten ohne zus¨atzliche Mittler im Rahmen physischer Kopr¨asenz erfolgt. R¨aumliche Bez¨uge und spezifische lokale Kontexte sind demnach fu¨ r alle Formen wissenschaftlicher Praxis relevant und konstitutiv; deren Bedeutung variiert jedoch ganz wesentlich nach dem Raumbezug der konstituierenden Elemente und dem Stadium wissenschaftlichen Netzwerkbildens. Folglich spielt auch das Ausmaß der Materialit¨at und Immaterialit¨at wissenschaftlicher Praxis und Interaktion eine wesentliche Rolle f u¨ r den jeweiligen Bedarf, die M¨oglichkeiten und Motivationen von Wissenschaftlern, einen Ort der Wissensproduktion zu verlassen, um zu kommunizieren, zu interagieren und an anderen Orten neue Ressourcen f u¨ r die eigene Arbeit zu mobilisieren. Entsprechende fachspezifische Netzwerkbildungsprozesse sind wiederum mit typischen Motivationen, Bed¨urfnissen, Bedingungen und Auswirkungen zirkul¨arer akademischer Mobilit¨at verbunden. 60 My work there was not experimental, although here in the United States a great deal of my work is experimental. Experimental research is difficult to conduct because if you are not in your own laboratory, you can’t do that. 61 Real research, publications and stuff, have only come from my extended stays over there or people who have come and visited me here, not by mail back and forth and doing something,that hasn’t happened . . . I think I have one or two things that went on with Stanford, people over there, again you see relatively close [. . . ] There are some with various other universities, but that’s lesser, it’s just harder to do, to work with people that are far away. 62 J¨ungere Entwicklungen in der Computertechnik lassen verst¨arkter Interaktion in mentalen beziehungsweise virtuellen beziehungsweise immateriellen Welten in allen Fachbereichen gr¨oßere Bedeutung zukommen, wie der folgende Vergleich der Bedeutung von Computern in theoretischer und experimenteller Physik zeigt: The use of computers for computation also has opened some parts of our field that previously was just too difficult to calculate some things and now computers are able to handle all these things. It still takes good ideas and unfortunately the use of computers is something that has plus and minus attached to it. It’s very easy to generate nonsense with a very powerful computer. In our work we always have to evaluate what we’re doing, I mean the ideas are crucial, so a computer is important but it’s not the critical driving thing. In some other areas it’s essential, I would say for my experimental colleagues it’s completely critical. These very large experiments done at the modern laboratories are just, you could not do the experiment without 60

J¨ons 2003, Kapitel 4.3 und 4.4. Interview Nr. 2. 62 Interview Nr. 42. 61

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computation, it has so much information to be handled that it requires state of the art computing to handle it. 63 Physische Kopr¨asenz wird jedoch wegen ihrer wichtigen Bedeutung f u¨ r den Aufbau vonVertrauen und Sympathie alsVoraussetzung f u¨ r einen m¨oglichst offenen und kreativen wissenschaftlichen Diskurs auch in solchen Arbeitsgebieten langfristig nicht zu ersetzen sein, in denen die konstituierenden Entit¨aten mit den virtuellen Welten des Internets ontologisch kompatibel sind. E-mail hat zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene revolutioniert, aber die Notwendigkeit pers¨onlicher Kontakte wurde durch das Mehr an Kooperation eher noch erh¨oht. Jetzt ist es so einfach mit E-mail. Man kann innerhalb von ein paar Sekunden eine ganze Zeichnung eines Automobils, wo jede Einzelheit dran ist, schicken. Dokumente, die sonst so volumin¨os w¨aren, dass man sie nicht schicken w¨urde, kann man innerhalb von ein paar Sekunden senden. Wenn man die pers¨onlichen Kontakte schon hat, wenn die Leute einem gut ge¨ sinnt sind und vertrauen, dann sind diese technischen Anderungen sehr gut. Aber sie ersetzen nicht die pers¨onlichen Kontakte. Diese m¨ussen da sein, wenn man von ihnen Gebrauch machen m¨ochte. 64 Wissenschaftskulturen und deren Hierarchisierung In Hinblick auf wissenschaftliche Interaktion in interkulturellem Kontext findet eine gemeinsame Generierung neuer Erkenntnisse am h¨aufigsten auf Grundlage a¨ hnlicher wissenschaftlicher Sozialisationserfahrung statt, zum Beispiel als Doktoranden oder Post-Docs, da in diesen F¨allen unmittelbare inhaltliche Ankn¨upfungspunkte bestehen, w¨ahrend bei sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Sozialisationserfahrungen meist zu große Distanzen zwischen den geistigen und physischen Bausteinen der jeweiligen Argumentationskontexte existieren. Typische Merkmale wissenschaftlicher Sozialisation resultieren vor allem aus verschiedenen, in Europa meist an politische Grenzen gebundenen Bildungs- und Wissenschaftssystemen, die in Organisation und Inhalten von Forschung und Lehre erheblich variieren k¨onnen. Zum Beispiel werden Fachtraditionen stark von den Priorit¨aten einer national ausgerichteten Wissenschaftsf¨orderung beeinflusst; sie k¨onnen zudem durch unterschiedliche Sprachr¨aume relativ stark voneinander abgegrenzt sein. Durch allt¨agliche Interaktion und Kommunikation an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden solche regional gepr¨agten Arbeitsstile zusammen mit spezifischen Wissensinhalten und Verhaltensweisen kontinuierlich reproduziert. I think I have profited greatly from the time I spent in Germany and England just trying to get an idea of what my colleagues in the two countries were 63 64

Interview Nr. 10. Interview Nr. 2.

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doing,the level,directions of development of our science in the two different areas. The earth sciences have different national flavors. It is not to say anything about quality. But because of the nature of the tradition, the nature of in my case paleontological collections.My colleagues emphasize different areas. I found it very valuable to see how our fields changes through slightly different eyes. That was a major benefit. 65 Verschiedene Wissenschaftskulturen lassen sich im Zuge unterschiedlicher Komplexit¨atsreduktionen auf der Ebene von Großregionen (zum Beispiel Europa und USA) genauso wie auf nationaler Ebene (zum Beispiel Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien) und zwischen Institutionen (zum Beispiel zwischen Universit¨aten und Max-Planck-Instituten in Deutschland) bis hin zu wissenschaftlichen Schulen, einzelnen Arbeitsgruppen und individuellen Wissenschaftlern identifizieren. Im Rahmen der Mobilit¨at renommierter US-Wissenschaftler f¨allt in diesem Zusammenhang auf, dass diese h¨aufig von typisch deutschen Verhaltensweisen sprachen, ihre Gastgeber jedoch davon meist ausnahmen, weil diese durch einen vorherigen USA-Aufenthalt „amerikanisiert“ worden seien. Dar¨uber hinaus werden mit zunehmender Internationalit¨at einer Fachkultur pers¨onliche Beziehungen der mobilen Personen zum Gastland (nicht unbedingt zum Gastgeber) als motivierender Aspekt f u¨ r einen l¨angerfristigen Forschungsaufenthalt weniger wichtig, weil die wissenschaftliche Interaktion in immer st¨arker standardisierten Kontexten erfolgt. Internationale akademische Zirkulation und Kooperation tr¨agt vor diesem Hintergrund zu einer Verkn¨upfung und Durchmischung verschiedener regionaler Wissenschaftskulturen bei und f¨ordert somit im Sinne Donna Haraways die Objektivierung wissenschaftlicher Behauptungen in Raum und Zeit. 66 Wo diese Objektivierung allerdings tats¨achlich stattfinden kann ist wiederum in hohem Maße durch geistige Regionalisierungen strukturiert, in deren Rahmen bestimmten Wissenschaftskulturen und Forschungskontexten gr¨oßere symbolische Bedeutung zugemessen wird als anderen. Es kommt somit zu einer Hierarchisierung regionalisierter Forschungskontexte, die bestehende Unterschiede in der wissenschaftlichen Produktivit¨at und Anerkennung durch prestigeorientierte zirkul¨are Mobilit¨at akzentuiert. Derek Gregory spricht in diesem Zusammenhang von einer hierarchy of spaces of knowledge production in which some sites are valorized as more central than others. Within the dominant intellectual formation of Anglo-American geography, for example, these sites would include the academy (which marginalizes the production of corporate, lay and popular geographies), the universities, journals, societies and meetings that compose Anglo-American geography itself (which marginalizes other geo65 66

Interview Nr. 44. Haraway 1988.

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graphical discourses), and a rotating grid of other disciplines and intellectual formations (once political economy; then sociology and social theory; now cultural studies and ,French theory‘). Other disciplines require other maps, though I would be surprised if they were radically incommensurable with this one; so too do those discourses which advertise their occupation of an interdisciplinary space, since they do not escape the situatedness of knowledge either. 67 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bedingen solche Regionalisierungen und Hierarchisierungen in den meisten Fachgebieten eine weltweite Dominanz angloamerikanischer Wissenschaftsdiskurse, w¨ahrend dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts fu¨ r deutschsprachige Wissenschaftsdiskurse zutraf. Biographische Bez¨uge und kulturelle Affinit¨at Im Sinne einer bevorzugten wissenschaftlichen Interaktion in m¨oglichst vergleichbaren und verkn¨upfbaren Gedanken- und Verhaltenswelten wie sie zum Beispiel durch gemeinsame wissenschaftliche Sozialisationserfahrungen entstehen, sind besonders viele Personen an zirkul¨arer Mobilit¨at in interkulturellem Kontext beteiligt, die biographische Verbindungen oder eine kulturelle Affinit¨at zur Zielregion aufweisen. Biographische und kulturelle Bez¨uge zum Gastland erm¨oglichen eine sozialisationsbedingte Vertrautheit mit den dortigen Gegebenheiten, die der fachlichen Interaktion ein breiteres Fundament an Gemeinsamkeiten bereiten k¨onnen als im Falle gr¨oßerer kultureller Distanz. Dabei k¨onnen fehlende wissenschaftliche Bez¨uge und inhaltliche ¨ Uberschneidungen mit dem Gastgeber oder der gastgebenden Arbeitsgruppe durch biographische Verbindungen und kulturelles Interesse als Anreize f u¨ r das Zustandekommen eines Forschungsaufenthaltes im Ausland substituiert werden und umgekehrt. 68 Dadurch, dass ich auch mit den Leuten in Deutschland in ihrer Muttersprache sprechen kann – ich kenne die deutsche Literatur und Philosophie und Lebensweise und weiß, was sich schickt, zu machen – kann ich viel besser Kontakte auf die Beine bringen und auch erhalten. Und davon haben auch meine Kollegen profitiert, also nicht nur ich, sondern auch meine Kollegen. Aber auch die Deutschen k¨onnen durch diese Kontakte von mir profitieren, von 50 oder 60 anderen Leuten, die hier an akustischen Problemen arbeiten. 69 Diese Zusammenh¨ange best¨atigen sich auch u¨ ber den deutsch-amerikanischen Kontext hinaus, da die außerhalb der USA geborenen Humboldt-Forschungs67

Gregory 1998, 57f. J¨ons 2003, 279-288. 69 Interview Nr. 2. 68

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preistr¨ager aus den USA generell mindestens ein Sabbatical in ihrem Geburtsland absolviert haben und enge wissenschaftliche Kontakte zu ihrem Herkunftsland pflegen. In China, I serve as an adviser to many places. I have been appointed an honorary professor in six universities in China, and I just went to Taiwan and got an honorary doctor’s degree there, and I’m on the Academy of Science membership in Beijing and Taipei, so I have close contact. They send us students, I have a professor from China now, a professor from Taiwan now they’re here, and we collaborate. 70 Von den pers¨onlichen Gespr¨achspartnern wurde auch berichtet, dass ausl¨andische Post-Docs in der Regel in ihre Herkunftsl¨ander zur¨uckgekehrt sind, sofern es dort ausreichend gute berufliche M¨oglichkeiten gab. Unter den relativ wenigen deutschen Humboldt-Gastgebern, die nach dem Preistr¨ageraufenthalt ein Sabbatical in den USA verbracht haben (im Interviewample 10 Prozent), war die Mehrheit in den USA geboren. Almost all, even my doctoral students who got their PhD’s with me, I would say about half of them at least went back to their own countries. A lot of them wanted to do good in their own country. I’ve had a couple of Indian graduate students who were very much interested in helping their own country, one of them with disastrous effects because the system just couldn’t take that, you know, they became critical of the way they do things there and he didn’t last. One of the two Italians immediately went onto the faculty at Bologna, the other one did as well but two or three years later got a professorship in the United States. And as only could be done in Italy, he held both professorships. 71 Einer der zitierten US-Wissenschaftler betonte, dass fu¨ r ihn die relativ große kulturelle N¨ahe deutscher Post-Docs in Hinblick auf seine eigenen Umgangsformen und Denkmuster im Unterschied zu Post-Doktoranden aus kulturellen Kontexten mit gr¨oßerer Distanz fu¨ r seine Entscheidung u¨ ber die Annahme eines Post-Docs wichtig ist. Dies impliziert jedoch, dass sich f u¨ r außerhalb dominierender angloamerikanischer Wissenschaftsdiskurse sozialisierte Wissenschaftler unterschiedliche Chancen er¨offnen, wissenschaftlich im angloamerikanischen Raum Fuß zu fassen. If I had two applications, one from India and one from Germany, even if they looked the same on paper, I would be apt to take the German, simply because I know that culture better and I know that what’s on paper is not always a good reflection of the person, and there the culture would matter, 70 71

Interview Nr. 55; Wissenschaftler ist in Peking geboren. Interview Nr. 51.

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and the person writing the letter, if I know that person, that makes a big difference, but I’m sure that’s true in all of science. 72 Eine wichtige Bedeutung biographisch-kulturellerVerbundenheit mit Deutschland f u¨ r das Zustandekommen der l¨angerfristigen Deutschlandaufenthalte renommierter US-Wissenschaftler wird darin deutlich, dass im Zeitraum 1972 bis 1996 zehnmal mehr US-Preistr¨ager in Deutschland geboren waren als Wissenschaftler an US-Hochschulen, jedoch fast jeder zweite meiner Gespr¨achspartner in der einen oder anderen Weise mit Deutschland biographisch verbunden war: zum Beispiel u¨ ber deutschen Vorfahren, u¨ ber deutsche Eltern, die in die USA emigrierten, u¨ ber einen deutschst¨ammige Partner oder in Deutschland lebende Verwandte. Da die Zahl der biographisch mit Deutschland und dem benachbarten Europa verbundenen ausl¨andischen Wissenschaftler am Beginn des 21. Jahrhunderts aus historischen Gr¨unden stark r¨uckl¨aufig ist, wird die Attraktivit¨at der deutschen Wissenschaftslandschaft in Zukunft immer wichtiger werden, um Wissenschaftler aus den USA, aber auch aus anderen L¨andern mit vergleichbaren Deutschlandbeziehungen, f u¨ r l¨angere Zeit nach Deutschland zu holen. Im Prozess der Stabilisierung und eventuellen Ausweitung hochwertiger internationaler Wissenschaftsbeziehungen m¨ussen daher nicht nur wissenschaftliche und programmbezogene Anreize eine grundlegende Rolle spielen, sondern auch die Schaffung attraktiver kultureller und wissenschaftlicher Milieus in Deutschland, die Verst¨arkung pers¨onlicher Beziehungen, zum Beispiel durch den bilateralen Sch¨uler-, Studierenden- und Wissenschaftleraustausch und durch spezifische internationale Veranstaltungen f u¨ r Doktoranden und Post-Docs, der Ausbau der Wissenschaftssprache Englisch in Deutschland (Sprache als Methode), die F¨orderung der deutschen Sprache im Ausland (Sprache als Kultur und pers¨onliche Kompetenz) und die Pr¨asenz Deutschlands in den Medien. Geschlechtsspezifische Mobilit¨at Vergleicht man geschlechtsspezifische Unterschiede bez¨uglich des Bedarfs, der M¨oglichkeiten und der Motivationen zu zirkul¨arer internationaler Mobilit¨at in den Wissenschaften, scheint die Welt der weiblichen Natur- und Ingenieurwissenschaftler oft weniger international zu sein als die ihrer m¨annlichen Kollegen, und zwar auch oder gerade unter international renommierten Wissenschaftlern, denen sich angesichts der renomeebedingten gr¨oßeren Verfu¨ gbarkeit finanzieller Ressourcen und internationaler Kontakte eigentlich die internationalsten Forschungsm¨oglichkeiten bieten sollten. An den großen Forschungsinstitutionen der USA, von denen rund 70 Prozent der Nominierten f u¨ r das Preistr¨agerprogramm stammten, lag der Frauenanteil in den 1990er Jahren bei rund 8 Prozent, bei den Nominierten aber 72

Interview Nr. 48.

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bei nur 2 Prozent. Die starke Unterrepr¨asentanz der Frauen in dem wichtigsten Exzellenzprogramm der deutschen F¨orderlandschaft war proportional in allen Fachgebieten zu finden. Diese geschlechtsspezifischen Asymmetrien internationaler Wissenschaftsbeziehungen deuten auf eine schwierigere Integration von Frauen in die von M¨annern dominierten internationalen Netzwerke der Natur- und Ingenieurwissenschaften, wie sie unter anderem von Sharon Traweek oder Sandra Harding beschrieben wurde. 73 Sie k¨onnen aber auch mit famili¨aren Verpflichtungen in Verbindung gebracht werden, die angesichts vorherrschender traditioneller Familienmuster internationale Zirkulation besonders f u¨ r Frauen erschweren. Als prinzipiell geschlechts¨ubergreifendes Problem weisen damit verbundene Mobilit¨atshindernisse jedoch weit u¨ ber direkte Beziehungen zwischen M¨annern und Frauen hinaus. Eine weitere Beobachtung, die n¨aher zu untersuchen w¨are, bezieht sich auf die Bedeutung geschlechtsspezifischer Affinit¨aten zwischen Gast und Gastgeber f u¨ r internationale akademische Mobilit¨at. Da nominierende Frauen f u¨ nfmal so viele US-Wissenschaftlerinnen fu¨ r den Humboldt-Forschungspreis nominierten wie ihre m¨annlichen Kollegen, scheint eine solche geschlechtsspezifische Affinit¨at in a¨ hnlicher Weise fu¨ r Vertrauen und Sympathie und somit f u¨ r die Beteiligung an internationaler akademischer Mobilit¨at bedeutend zu sein wie eine kulturelle Affinit¨at zwischen Gast und Gastland. Gerade im pers¨onlichen Gespr¨ach kam die wichtige Bedeutung von Sympathie und Vertrauen f u¨ r die Entwicklung wissenschaftlich konstruktiver Gedanken im gemeinsamen Diskurs in der engen Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlichen Kooperationen und pers¨onlichen Freundschaften zum Ausdruck, die sich zwischen Gastwissenschaftlern und ihren Gastgebern meist u¨ ber mehrere Jahre hinweg entwickelt haben. In meinem Interviewsample war dies jedoch ausschließlich zwischen M¨annern der Fall, so dass zu kl¨aren w¨are, ob und gegebenenfalls warum solche wissenschaftlichen Freundschaften zwischen Frauen vielleicht noch eher selten sind.

Fazit Aufbauend auf den Erfahrungen renommierter US-Wissenschaftler wurden in diesem Beitrag verschiedene Aspekte der Strukturierung internationaler zirkul¨arer Mobilit¨at und Kooperation in den Wissenschaften diskutiert. Diese Strukturierungen lassen wissenschaftliche Praxis und Interaktion als hochgradig segmentierte, stratifizierte und hierarchisierte Aktivit¨aten erscheinen. Die F¨orderung internationaler Wissenschaftlermobilit¨at kommt daher keineswegs einer oft vermuteten, inh¨arenten „Internationalit¨at“ der Wissenschaften entgegen, sondern sie schafft diese erst, indem sie Beziehungen zwischen entfernten Orten, Menschen, Ger¨aten, Ereignissen und Ideen erm¨oglicht. Wissenschaftliche Erkenntnisse erhalten ihren internationalen, objektiven und universellen 73

Traweek 1988; Harding 1990.

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Charakter erst durch die Zirkulation von einem Ort zum anderen, durch die Rekrutierung unterst¨utzender Ressourcen an anderen Orten und durch ihre Bew¨ahrung und Akzeptanz in neuen Kontexten.Gleichzeitig bedeutet dies,dass wissenschaftliche Kommunikation auf verschiedenen Maßstabsebenen, von der internationalen bis zur individuellen, immer mit grenz¨uberschreitenden Interaktionen einhergeht,die verschiedene materielle und ideelle R¨aume in Beziehung zueinander setzen und dabei Verbindungen erm¨oglichen, aber auch erhebliche Missverst¨andnisse hervorrufen und Unstimmigkeiten aufdecken k¨onnen. Wissenschaftler k¨onnen u¨ ber ihre eigene K¨orperlichkeit und die von ihnen behandelten Fragestellungen immer in spezifischen physisch-materiellen und gedanklich-ideellen R¨aumen verortet werden. Daraus resultierende Geographien der Wissenschaften machen deutlich, dass die jeweilige Bedeutung r¨aumlicher Bez¨uge fu¨ r verschiedene wissenschaftliche Praktiken systematisch nach den konstituierenden Entit¨aten und dem Stadium wissenschaftlichen Netzwerkbildens variiert, weil damit jeweils verschiedene Auspr¨agungen von Materialit¨at und Immaterialit¨at verbunden sind. Zus¨atzlich zu diesen r¨aumlichen Bez¨ugen verschiedener wissenschaftlicher Praktiken, die gewissermaßen in deren Natur impliziert sind, wurde deutlich, dass Interaktionen von Wissenschaftlern durch zahlreiche weitere Aspekte strukturiert werden, darunter politische Systeme,wirtschaftliche Ressourcen,Gesetze,fachliche und regionale Wissenschaftskulturen, symbolische Hierarchien von Wissenschaftszentren, berufliche und private Netzwerke, Karrierephasen, Merkmale akademischer Sozialisation, Sprachkompetenzen, biographische Verbindungen und kulturelle Affinit¨aten. Je nach Art der Positionierung eines Wissenschaftlers innerhalb entsprechender Netzwerke heterogener Ressourcen variieren Bedarf, M¨oglichkeiten und Motivationen zur Beteiligung an internationaler Zirkulation und der damit verbundenen Generierung potentieller positiver Effekte fu¨ r die eigene wissenschaftliche Arbeit und Karriere. Wissenschaftler der großen US-amerikanischen Forschungsuniversit¨aten repr¨asentieren in diesem Zusammenhang eine wissenschaftliche Elite, deren Interaktionsmuster besonders stark von den Raumbez¨ugen der konstituierenden Elemente ihrer Argumentationsnetzwerke gepr¨agt werden, weil andere m¨ogliche Mobilit¨atshindernisse im Kontext deutsch-amerikanischen Beziehungen des sp¨aten 20. Jahrhunderts entweder nicht relevant waren oder die Wissenschaftler potentielle Mobilit¨atshindernisse durch Ressourcenreichtum substituieren konnten. Mit Blick auf zuk¨unftige Studien w¨are es daher interessant, die Perspektive von Personen einzubeziehen, die u¨ ber weniger heterogene Ressourcen verfu¨ gen als international renommierte Forscher aus den Wissenschaftszentren der USA, um weitere Erkenntnisse u¨ ber die hochgradige Stratifizierung internationaler Wissenschaftsbeziehungen gewinnen zu k¨onnen und dadurch weitere M¨oglichkeiten zu schaffen, L¨ucken im Angebot von F¨orderprogrammen aufzudecken, zielgruppenspezifische Bed¨urf-

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nisse anzupassen, Methoden fu¨ r angemessene Beurteilungen zu entwickeln und im Rahmen von Standortdiskussionen differenziert argumentieren zu k¨onnen.

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Aktuelle Probleme der Wissensgesellschaft: Bildung, Arbeit und Wirtschaft ∗ nico stehr

In der wissenschaftlichen und in der o¨ ffentlichen Diskussion hat sich der Begriff der Wissensgesellschaft als Charakterisierung der emergenten modernen Gesellschaft in den vergangenen Jahren insbesondere gegen¨uber konkurrierenden Bezeichnungen wie der der postindustriellen Gesellschaft oder der Risiko- und Informationsgesellschaft durchsetzen k¨onnen.Welche Gr¨unde daf u¨ r sprechen, ist nicht leicht auszumachen. 1 Der Begriff der Wissensgesellschaft trifft schon deshalb auf eine große Resonanz, weil er ungew¨ohnlich viele interessante Fragen u¨ ber Zust¨ande und Entwicklungslinien moderner Gesellschaften er¨offnet. Man kann den Begriff der Wissensgesellschaft zum Beispiel nicht nur auf die Besonderheiten der Gesamtgesellschaft, sondern auch auf die Probleme aller großen modernen gesellschaftlichen Institutionen wie Staat,Wirtschaft, Kirche, Familie und Wissenschaft anwenden. Die methodische Tugend der Beschreibung der sich entwickelnden modernen Gesellschaft und ihrer Institutionen als Wissensgesellschaft erlaubt außerdem das bewusste, begriffliche Herausgreifen emergenter Aspekte komplexer sozialer Ph¨anomene, um sie f u¨ r den Zweck der Erkenntnisgewinnung neu zu gruppieren. 2 Ich m¨ochte diese Vielfalt der Anregungen der Theorie der Wissensgesellschaft in diesem Kontext auf eine Art magisches Dreieck einschr¨anken und nach den reziproken Beziehungen von Bildung, Arbeit und Wirtschaft fragen. Insbesondere geht es mir um die Frage, ob man in Wissensgesellschaften wie noch in Industriegesellschaften die Welt der Arbeit als beherrschenden Motor gesellschaftlicher Ver¨anderungen ansehen muss. ¨ Ich werde meine Uberlegungen in einer Reihe von Gedankenschritten vor¨ anbringen, wobei ich betonen m¨ochte, dass diese Uberlegungen sich nicht auf ∗

1

2

Ich beziehe mich in diesem Aufsatz auf eine fr¨uhere Ver¨offentlichung (Stehr 2001) zum Thema ¨ der wissensbasierten Okonomie. Ich danke Hermann Strasser und Bernd Weiler fu¨ r ihre konstruktiven Hinweise. Auf jeden Fall haben griffige Bezeichnungen von gesellschaftlichen Aggregatzust¨anden gerade in Wissensgesellschaften keine lange Lebenserwartung. Siehe auch Schon [1963] 1967; Bell 1973.

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kurzfristige, strittig diskutierte Probleme nationaler oder transnationaler Politik, der Wirtschaft, der Staaten, der Bev¨olkerungsentwicklung oder andere Themen und Probleme beziehen, deren Lebenserwartung als Diskussionsgegenstand in den Medien und in der Politik oft relativ beschr¨ankt ist. Zu den langfristig relevanten Themen in modernen Gesellschaften geh¨ort, in mehrfacher Hinsicht, ganz zentral die Problematik der Zukunft der Arbeit. Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf die Frage nach dem langfristigen Umfang der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, nach den gesellschaftlichen Prozessen, die die Welt der Arbeit nicht nur mitbestimmen, sondern entscheidend ver¨andern, und den Akteuren, die in diesem Zusammenhang eine wahrscheinlich pr¨agende Rolle spielen.

I Die Zukunft der Arbeit ¨ W¨ahrend in der Offentlichkeit,best¨ arkt durch die Meinungsmacher der großen sozialen Institutionen wie in j¨ungster Zeit etwa Wirtschaftsminister, Kanzler ¨ oder Oppositionsfu¨ hrer, tiefgreifende Anderungen in der Struktur der modernen Wirtschaft noch immer nicht erkannt werden, hat sich die akademische Literatur seit geraumer Zeit damit besch¨aftigt, dass der Faktor Arbeit nicht nur an Besch¨aftigungssicherheit, 3 sondern auch an Umfang verloren hat und diese Entwicklung nicht nur Symptom „rein“ strukturell begr¨undeter Ver¨anderungen ist, sondern eher auf einen sehr viel permanenteren Wandel in der Besch¨aftigungsstruktur hinweist. Die Frage nach der Zukunft der Arbeit kann aber nicht damit beantwortet werden, dass wir Zeugen eines beginnenden Abschieds von der Arbeit seien. 4 Was wir beobachten k¨onnen, ist der Anfang „s¨akularer“ Arbeitslosigkeit, das heißt einer Arbeitslosigkeit, die weder konjunkturell noch strukturell bedingt ist. Die herk¨ommliche Definition von konjunktureller, aber auch von struktureller Arbeitslosigkeit verweist auf zeitlich unterschiedliche Ungleichgewichte des Arbeitsmarktes. Diese o¨ konomisch oder auch demografisch bedingten ¨ Ungleichgewichte, so lautet die zu Grunde liegende Uberzeugung oder auch Erfahrung, werden schließlich und endlich durch einen Ausgleich in der Nachfrage und dem Angebot von Arbeit verschwinden. Der neoklassische Wirt3 4

Z. B. Betcherman 1995. Rifkin 1995. Siehe auch Peter Druckers (1968, 267) fr¨uhe, antizipierende Einw¨ande gegen die These vom (kollektiven) Ende der Arbeit. Drucker vertritt die These, dass der Umfang der Arbeit einzelner „Wissensarbeiter“ tendenziell sogar zunimmt:“Eminent doctors tell us today that work is on its deathbed in the rich, industrially advanced countries, such as the United States, Western Europe, or Japan. The trends are actually running in the opposite direction. The typical ‘worker’ of the advanced economy, the knowledge worker, is working more and more, and there is demand for more and more knowledge workers [. . . ]. Knowledge work, like all productive work, creates its own demand. And the demand is apparently unlimited.”

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schaftswissenschaftler sieht in dem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, sei es nun kurz- oder langfristig, ausschließlich eine Reaktion auf die starre Lohn- und Abgabenstruktur dieses Marktes. Es trifft aber nur in sehr enger, formaler Auslegung zu, dass v¨ollige Lohnflexibilit¨at das Problem der Arbeitslosigkeit l¨osen kann. 5 Arbeit ist selbst in der modernen Gesellschaft, wo h¨aufig Bedenken ge¨außert werden, sie sei zum bloßen Broterwerb geworden und habe daher gewisse traditionelle Werte wie den der Berufung verloren, mehr als nur ein existenzielles Bed¨urfnis. Eine nur auf die materielle Funktion der Arbeit begrenzte Sichtweise l¨asst eine ganze Reihe von Gr¨unden unber¨ucksichtigt, die nicht nur zu dem Wunsch nach Arbeit und bestimmten Arbeitskonditionen, sondern auch zur Arbeitslosigkeit einschließlich einer absichtsvollen Nichtarbeit f u¨ hren. Mein Hauptinteresse in diesem Kontext gilt der Herausbildung der „s¨aku¨ laren“ Arbeitslosigkeit und nicht prim¨ar der Uberlegung, auch diese Form der Arbeitslosigkeit sei letztlich Ausdruck von Marktunvollkommenheiten, also etwa der Tatsache, dass viele Individuen nicht bereit sind, schlechtbezahlte Berufst¨atigkeiten und -bedingungen zu akzeptieren. Der zuk¨unftige und der gegenw¨artige gesellschaftliche Stellenwert und der Umfang der Arbeit geh¨oren eigentlich seit Jahrhunderten zu den zentralen theoretischen Interessen der Sozialwissenschaft. Arbeit, so war man sich lange mit Marx einig, ist kongruent mit der Selbsterzeugung des Menschen. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert war fu¨ r die Sozialwissenschaftler die Frage nach der Zukunft der Arbeit identisch mit der Emanzipation von der großen physischen Arbeitsbelastung durch eine Reduktion der Arbeitszeit, gr¨oßere Autonomie und interessantere Arbeitsaufgaben. Man ging aber allgemein davon aus, eine Befreiung von bestimmten Aspekten der Arbeit sei wahrscheinlicher als etwa von einem in einer bestimmten Weise strukturierten Arbeitskontext, der Eigent¨umer und Arbeiter in einem unvers¨ohnlichen Gegen¨uber sah und die Selbstverwirklichung des Arbeiters in der Arbeitswelt verhinderte. Noch utopischer war die Vorstellung, dass es zu einer verbreiteten Entlastung von Arbeit kommen k¨onnte. Die Schlussfolgerung, dass das Emanzipationspotential der Industrialisierung im Sinne einer Reduzierung der Gesamtarbeitszeit verwirklicht worden sei, wird kaum auf Widerspruch stoßen. Aber selbst noch im vergangenen Jahrhundert waren viele Sozialwissenschaftler der Ansicht, dass der Arbeiter seine Selbstverwirklichung sehr viel wahrscheinlicher außerhalb der Arbeitswelt durchsetzen kann. 6 Diese Logik folgte dem herrschenden Verst¨andnis von den (inh¨arenten) Zw¨angen der modernen Produktionsbedingungen und den Folgen der Konzentration der Eigentumsrechte und findet seinen Ausdruck in der weithin akzeptierten Pr¨amisse, dass

5 6

Lundvall 1995, 36. Z. B. Friedmann 1956, 1992.

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die Arbeit eigentlich nur ein Faktor unter gleichartigen, disponiblen Produktionsfaktoren sein kann. 7 Mein begrenzter Blickwinkel gilt einer sozialen Anatomie der Arbeit oder ¨ einer Analyse des Stellenwerts der Arbeit in der wissensbasierten Okonomie und in der Wissensgesellschaft. Mein zentrales Augenmerk gilt zun¨achst dem Umfang der Arbeit in der modernen Gesellschaft. Auf die fu¨ r Wissensgesellschaften typische Arbeit sowie deren Voraussetzungen und Folgen fu¨ r die Welt der Arbeit gehe ich im n¨achsten Abschnitt ein.

II Das Volumen der Arbeit in der Wissensgesellschaft Der Arbeitsmarkt ist f u¨ r die Makro¨okonomie, um Robert Solow 8 zu zitieren, weiterhin ein ungel¨ostes Puzzle. Die Transformation der modernen Wirtschaft ¨ in eine wissensbasierte Okonomie erleichtert die L¨osung keineswegs. Wie knapp wird Arbeit in Zukunft sein, und werden o¨ konomisches Wachstum und Vollbesch¨aftigung (aber auch die Ertragskraft von Unternehmen) in Zukunft in einem sehr viel weniger engen Verh¨altnis zueinander stehen, als dies etwa von 1950 bis 1990 der Fall war? 9 Diese Frage ist in diesem Jahrhundert nat¨urlich schon h¨aufiger intensiv diskutiert worden, aber in der Regel unter dem Vorzeichen und in der Hoffnung, die Arbeitslosigkeit gezielt bek¨ampfen und weitgehend u¨ berwinden zu k¨onnen. Trotz eines neuen besch¨aftigungspolitischen Pessimismus, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit anscheinend stabil hohen oder sogar wachsenden Arbeitslosenraten in vielen OECD-L¨andern, gibt es immer wieder optimistische Stimmen, und zwar nicht unter Politikern, die betonen, dass „Produktivit¨atsgewinne besch¨aftigungsm¨aßig nicht einfach verpuffen, sondern aufgrund des damit verbundenen Kaufkraftzuwachses an 7

8 9

Eine ausf u¨ hrliche Exegese der unterschiedlichen theoretischen Rekonstruktionen der modernen Arbeitswelt, ihrer Verankerung und ihrer historischen Ver¨anderungen in unterschiedlichen Wirtschaftssystemen, der regionalen und nationalen Besonderheiten in verschiedenen L¨andern der Welt, ihrer politischen und sozialen Folgen sowie der sich wandelnden Einstellungen zur Arbeit und des sich ver¨andernden Verlaufs von typischen Arbeitskarrieren in den letzten Jahrzehnten, um nur einige Elemente einer solchen umfassenden Analyse zu erw¨ahnen, ist an dieser Stelle weder m¨oglich noch notwendig. Solow 1985, 411. Rivalisierende Theorieentw¨urfe heben eine Vielzahl anderer Kr¨afte hervor, die f u¨ r die andauernde oder gar wachsende Arbeitslosigkeit in der modernen Wirtschaft verantwortlich sind. Genannt werden z. B. institutions- und l¨anderspezifische Faktoren (einschließlich der Wirkungen der Globalisierung) wie die Inflexibilit¨at der Arbeitsm¨arkte, starre Lohnsysteme oder landestypische Innovationssysteme (vgl. Lundvall 1995; Townsend 1997, 22–50) und universalere Prozesse wie ein s¨akularer Wachstumsr¨uckgang der Investitionsrate gepaart mit einem Wachstumsr¨uckgang der Produktivit¨atsrate (siehe Brenner 1998, 7f.). Auf diese strittige Diskussion werde ich nicht eingehen und mich stattdessen auf die Auswirkung der ¨ emergenten wissensintensiven Okonomie auf das Volumen der gesellschaftlich notwendigen Besch¨aftigung konzentrieren.

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anderer Stelle die Nachfrage erh¨ohen und damit Arbeitspl¨atze schaffen“ 10 . Gilt diese zuversichtliche These aber per Saldo auch fu¨ r den Gesamtarbeitsmarkt von Wissensgesellschaften? ¨ Die s¨akulare Besch¨aftigungsentwicklung in wissensbasierten Okonomien l¨asst sich verallgemeinernd wie folgt unterscheiden: 1. Schaffung von wissensfundierten (und in der Regel hochbezahlten) T¨atigkeiten; 2. Schaffung von (in der Regel schlecht bezahlten) T¨atigkeiten mit geringen Qualifikationen und beruflichen Anforderungen; 11 und 3. die Vernichtung von T¨atigkeiten. Offen bleibt zun¨achst aber noch,welcher Mechanismus f u¨ r diese Arbeitsmarktver¨anderungen verantwortlich ist. Allerdings ist es kein Geheimnis, dass die weitaus gr¨oßte Zahl der Beobachter letztlich die moderne Technik und Wissenschaft als Motor dieser langfristigen Entwicklungen ausmacht. Disaggregiert man die Gesamtheit der Ver¨anderungen im Besch¨aftigungsvolumen entwickelter Gesellschaften, so gilt zun¨achst einmal die Beobachtung, dass der Ort der Besch¨aftigung beziehungsweise der Besch¨aftigungssektor dar¨uber entscheidet, welcher der genannten Trends dominiert. 12 Die in diesem Zusammenhang ins Auge fallenden und allf¨allig kommentierten Ver¨anderungen verweisen zun¨achst einmal auf die Tatsache, dass das Besch¨aftigungsvolumen, insbesondere in der industriellen Produktion, aber keineswegs nur im warenerzeugenden Sektor, keine (positive) Funktion des Produktionsergebnisses dieses Bereiches mehr ist. Folglich spielen die Arbeitskosten im „Kostenvergleich“ und als Wettbewerbsfaktor eine immer geringere Rolle. 13 Im herk¨ommlichen Verst¨andnis manifestiert sich in dieser Entwicklung vor allem die zunehmende Produktivit¨at des Herstellungssektors. In den Wirtschaftssystemen der Industriel¨ander nimmt der Produktionsausstoß des Herstellungssektors – bei in etwa gleichbleibender gesamtwirtschaftlicher Bedeutung dieses Sektors – zu, w¨ahrend der Anteil dieses Sektors an der Gesamtbesch¨aftigtenzahl st¨andig zur¨uckgeht. In der Zukunft wird der Anteil der im Herstellungsbereich Besch¨aftigten wahrscheinlich nicht gr¨oßer sein als der Anteil der in diesen L¨andern heute in der Landwirtschaft Besch¨aftigten. 10

11

12 13

B¨uscher 1996, 134; vgl. United States National Commission on Technology, Automation and Economic Progress 1966. Die Schaffung und Erhaltung von minderqualifizierten Arbeitsstellen in wissensintensiven ¨ Okonomien schließt nicht aus, dass diese Arbeitspl¨atze zunehmend von Personen mit beachtlichen Ausbildungsabschl¨ussen eingenommen werden. Die Tendenz zur „downward occupational mobility“ wird fu¨ r den US-Arbeitsmarkt der Jahre 1970-1996 von Pryor und Schaffer (1999, 59-68) dokumentiert. Siehe Storper 1996. Drucker 1986, 775.

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In den entwickelten Volkswirtschaften wird zudem ein weiterer R¨uckgang der Zahl der Besch¨aftigten im Agrar- und Industriesektor als selbstverst¨andlich angesehen. Ist aber der so genannte Dienstleistungssektor in der Lage, diesen R¨uckgang zu kompensieren und unter Umst¨anden zus¨atzliche Arbeitspl¨atze anzubieten? 14 William Baumol (1967) zum Beispiel verneint dies. 15 ¨ Auf jeden Fall sind Okonomen oder Politiker nur dann ernsthaft wegen der wachsenden Zahlen der Arbeitslosen in den Industrienationen alarmiert, wenn sie Zweifel an der langfristigen Effizienz und Selbstheilungskraft des Marktmechanismus haben und nicht davon u¨ berzeugt sind, dass der Markt u¨ ber kurz oder lang in der Lage ist, unter Umst¨anden mit Hilfe einer interventionistischen Arbeitsmarktpolitik, kompensatorisch zu reagieren, um ein neues Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage und damit in etwa das Vollbesch¨aftigungsniveau wieder herzustellen. Mit anderen Worten, man vertraut nicht mehr wie in der Vergangenheit ohne Weiteres darauf, dass eine h¨ohere Nachfrage und in ihrem Gefolge Produktionszuw¨achse zu neuen Besch¨aftigungschancen fu¨ hren. Denn selbst aus einer rein o¨ konomischen Perspektive ist inzwischen weitgehend anerkannt, dass der Markt im Allgemeinen und der Arbeitsmarkt im Besonderen keineswegs vollkommene Systeme sind, und dass es kaum hinreichende wirtschaftspolitische Maßnahmen gibt, die dem sich selbst regulierenden Markt entsprechende Hilfestellung bieten k¨onnen. Es ist deshalb denkbar, dass die schon seit langem beobachteten „lags“ und Ungleichgewichte des Arbeitsmarktes mehr als nur eine vor¨ubergehende Erscheinung sind und nicht nur auf kurzfristige Konjunkturzyklen zur¨uckgehen, sondern dass es sich um langfristige Arbeitsmarktdislokationen handelt, die sich unter Umst¨anden sogar noch versch¨arfen k¨onnen. 14

15

Es gibt aber dennoch eine Reihe von Beobachtern der Entwicklung des Arbeitsmarktes, die weiterhin prognostizieren,dass der Dienstleistungssektor „seems likely to continue to expand, with government policies playing a critical role in determining the relative weight of fast-food clerks and childcare workers“ (Block 1990, 111). Baumol unterscheidet zwischen wirtschaftlichen Aktivit¨aten, in denen die Produktivit¨at u¨ ber einen l¨angeren Zeitraum relativ konstant geblieben ist, und technologisch „progressiven“ Aktivit¨aten, f u¨ r die eine kumulativ wachsende Produktivit¨at konstatiert werden kann. Berufliche T¨atigkeiten, die u¨ blicherweise als Dienstleistungsberufe klassifiziert werden und f u¨ r die die erbrachte Arbeit das eigentliche Ziel der T¨atigkeit ist, repr¨asentieren Beispiele fu¨ r o¨ konomische Aktivit¨aten, die nach Baumol (bisher) kaum einen bedeutsamen Produktivit¨atszuwachs verzeichnen. Baumol geht weiter davon aus, dass die Kosten beider T¨atigkeitsformen insgesamt gesehen, unabh¨angig von ihrer unterschiedlichen Produktivit¨at, in gleichem Umfang ansteigen. Daraus folgt, dass der ungleichgewichtige Produktivit¨atszuwachs letztlich viele Dienstleistungen als zu teuer vom Markt vertreiben wird, sofern der Preismechanismus in entsprechender Weise funktioniert. Allerdings ist denkbar, dass Baumols Prognose nur bedingt zutrifft, da er den Dienstleistungssektor viel zu undifferenziert analysiert (vgl. Esping-Andersen 1992), bzw. ist keineswegs eindeutig, welche Firmen oder Teile von Firmen und welche staatlichen Einrichtungen oder Betriebe man dem Dienstleistungssektor zurechnen soll.

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III Die Anatomie der Arbeit in der Wissensgesellschaft ¨ In der Okonomie der Wissensgesellschaft kommt es nicht nur zu einer Ver¨anderung im Volumen der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, 16 sondern auch zu einer signifikanten Transformation der Arbeitsanforderungen, des typischen Berufsbilds, der vorherrschenden Arbeitsinhalte, dem Gestaltungsspielraum von Arbeitsinhalt und -form durch die Besch¨aftigten, der sozialen Organisation der wirtschaftlichen Wertsch¨opfung sowie der komplexen Frage der typischen beruflichen Fertigkeiten, des unterschiedlichen Tempos, mit dem diese Fertigkeiten obsolet werden, und der Notwendigkeit eines h¨aufigen Erlernens neuer F¨ahigkeiten. 17 In den bisher dominanten Analysen dieser Fragenkomplexe, geht man allerdings davon aus, dass es der technische Wandel in seinen Auswirkungen auf die Arbeitswelt sei und als Motor der Transformation der Arbeitsformen und -inhalte fungiere. Man geht demzufolge von der konkreten Fragestellung aus, ob – abgesehen vom Umfang der Arbeit – ein Abbau (deskilling) 18 be16

17

18

Zu den auff¨alligsten und wohl auch aussagekr¨aftigsten Eigenschaften, die mit unterschiedlichen Anteilen an der Gesamtarbeitslosigkeit korrelieren, geh¨ort der Grad der Ausbildung. In Großbritannien (1985) und in den USA (1987) ist die Arbeitslosenquote der ungelernten und angelernten Personen fast viermal so hoch wie die der professionellen und leitenden Berufe (siehe Layard/Nickell/Jackman 1991, 286f.). J¨ungste Informationen aus Deutschland lassen erkennen, dass die Arbeitslosenzahl unter Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung fast vier bzw. f u¨ nf mal so hoch ist wie die unter Personen mit abgeschlossener Fachhochschuloder Universit¨atsbildung (Kommission 1996, 92). Noch signifikanter ist, dass die Arbeitslosigkeit gerade unter den weniger gut ausgebildeten Personen seit 1975 u¨ berdurchschnittlich angestiegen ist. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der arbeitslos gemeldeten Personen hat sich in den Jahrzehnten zwischen 1975 und 1995 verdreifacht. So eindrucksvoll diese Zahlen auch sein m¨ogen, sie sagen wenig aus u¨ ber die Art der Berufspositionen, die mit besser ausgebildeten und qualifizierteren Personen besetzt werden. Ein Arbeitgeber, der zwischen verschiedenen fachlichen Niveaus w¨ahlen kann, wird sich zun¨achst fu¨ r die besser qualifizierte Person entscheiden und weniger gut ausgebildete Personen, wenn u¨ berhaupt, erst dann in Erw¨agung ziehen, wenn sich diese Sachlage drastisch ge¨andert hat. Die sich unmittelbar an die Problematik des sinkenden Arbeitsvolumens in der Wissensgesellschaft anschließende Frage nach den psychologischen, sozialen und politischen Folgen (einschließlich der Vorteile und Kosten), einer m¨oglicherweise dramatisch wachsenden Arbeitslosigkeit, sowie der sozialen Folgen einer ver¨anderten Arbeitswelt fu¨ r das Individuum, seine Familie, das Bildungssystem und die soziale Textur der Gesellschaft insgesamt (siehe Sennett 1998), kann ich an dieser Stelle nicht thematisieren (siehe aber Stehr 2001). Siehe z. B. Agnew et al. 1997; Gallie 1991; Attewell 1987; Braverman 1976. Obwohl die These von der systematischen, progressiven Verringerung der beruflichen Anforderungen an den modernen Industriearbeiter in der Regel mit dem Namen von Harry Braverman (1974) verbunden ist, gibt es eine nicht unbedeutende Anzahl von Beobachtern der Entwicklung der Produktionsprozesse in der Industriegesellschaft der Nachkriegszeit, die, wie zum Beispiel Helmut Schelsky (1954, 20), schon lange vor Braverman zu dem Schluss kommen: „Je mehr man sich der Vollautomatisierung n¨ahert, ohne sie ganz zu erreichen, um so geistloser, belastender wird die Form der Arbeit, um so weniger erfordert sie technisches Interesse und K¨onnen oder gar eigene Initiative.“ Schelsky (1954, 21) antizipiert jedoch noch ein weiteres Entwick-

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ziehungsweise eine Zunahme der beruflichen Qualifikationen als Reaktion auf den technischen Wandel zu erwarten ist. 19 Aber welche Wirkung des technischen Wandels auf die Arbeit man auch immer postuliert,die dabei favorisierte „kausale“ Logik geht mit großer Selbstverst¨andlichkeit davon aus, dass sich die beruflichen F¨ahigkeiten und Kompetenzen vor allem an die ver¨anderte Technologie anzupassen haben. 20

IV Bildung und Arbeit in der Wissensgesellschaft Sofern es um die Problematik der Arbeitsanforderungen geht, l¨asst sich die These von den die Produktionsbedingungen ver¨andernden wissenschaftlichtechnischen Entwicklungen auch in den Begriffen von Angebot und Nachfrage fassen. Und zwar geht man in der Politik sowie in der Erziehungswissenschaft ¨ und in der Okonomie fast einm¨utig davon aus, es sei die Nachfrage der Arbeitswelt (nach bestimmten F¨ahigkeiten), die das Angebot bestimmt beziehungsweise bestimmen sollte. Eine in diesem Zusammenhang ebenso ungew¨ohnliche wie plausible Hypothese f u¨ r die wachsende Nachfrage nach Wissen und wissensbasierten beruflichen Qualifikationen findet sich in den Arbeiten Peter Druckers (1968). Dass die in der Nachkriegszeit beobachtbare steigende Nachfrage nach h¨oherqualifizierten Arbeitskr¨aften eine Funktion der gestiegenen Anforderung und Komplexit¨at der Arbeitswelt sei, h¨alt er fu¨ r einen Mythos. Drucker f u¨ hrt diese Ver¨anderungen vielmehr auf die erheblich erweiterte Lebensarbeitszeit sowie die umfassende Erweiterung der Bildung und Ausbildung der Menschen zur¨uck. Der graduelle Wandel der modernen Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft ist daher nicht etwa Folge der gestiegenen Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitskr¨aften, sondern des gestiegenen Angebots gut ausgebildeter Arbeitskr¨afte, die auf den Arbeitsmarkt dr¨angen. lungsstadium in der Evolution der Arbeit, und zwar wird, nachdem sich die Automatisierung ¨ durchgesetzt hat, der Arbeiter hochspezialisierte T¨atigkeiten der Uberwachung und Kontrolle von Maschinen durchf u¨ hren, d. h. „die Vollautomatisierung macht das Fließbandsystem zu ¨ einer bloßen Ubergangsphase der Mechanisierung; so k¨onnte aus ihr ein bemerkenswerter Fortschritt in der ,Vermenschlichung‘ der Industriearbeit folgen“. Zu einem noch fr¨uheren Zeitpunkt der Nachkriegszeit verweist Robert K. Merton (1947, 80) in einem Essay mit dem Titel „The machine, the worker and the engineer“ auf die unterschiedlichsten sozialen Folgen arbeitssparender technischer Innovationen, einschließlich einer „enforced obsolescence of skills“, auf den Verlust von Status und Selbstvertrauen, einhergehend mit der Vernichtung beruflicher Fertigkeiten der Arbeiter als Resultat technisch-wissenschaftlicher Entwicklungen. Die eigentliche Autorit¨at f u¨ r diese These ist nat¨urlich Karl Marx. Das klassische Beispiel f u¨ r die Auswirkungen der Technik auf den Arbeitsprozess im Kapitalismus findet sich im ersten Band seines Kapital, in dem er die Freisetzung oder Verdr¨angung der Textilarbeiter in England durch die Einf u¨ hrung der Mulemaschine in der Baumwollspinnerei beschreibt ([1867] 1962, 459). 19 Siehe Spenner 1983. 20 Z. B. Hirschhorn/Mokray 1992, 18.

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In den Vereinigten Staaten zum Beispiel stieg die Zahl der Universit¨atsabsolventen unter den Besch¨aftigten in den achtziger Jahren um 64 Prozent auf 25,5 Millionen, und unter denen, die eine Universit¨at oder ein College besuchten, es aber ohne Abschluss verließen, stieg die Zahl im gleichen Zeitraum um 58 Prozent auf 20,8 Millionen. 21 Druckers These 22 lautet deshalb: Es ist das Angebot von „knowledge workers [that] changed the nature of jobs. Because modern society has to employ people who expect and demand knowledge work, knowledge jobs have to be created. As a result, the character of work is being transformed“. Mit anderen Worten, Drucker erkl¨art (in der Form einer Art supply side explanation) die Transformation der Arbeitswelt von einer industriegesellschaftlichen in eine wissensbasierte als einen nachfrageinduzierten Prozess. Personen mit einer l¨angeren und qualifizierteren Ausbildung erwarten, dass man ihnen Berufspositionen anbietet, in denen sie von ihren erworbenen F¨ahigkeiten entsprechend Gebrauch machen k¨onnen: „the direct cause of the upgrading of the jobs is [. . . ] the upgrading of the educational level of the entrant into the labor force“. 23 Und damit kehrt sich die herk¨ommlich unterstellte Kausalit¨at um: Die Wissensarbeit wird von Wissensarbeitern erst fabriziert. Oder wie Drucker 24 es auch ausdr¨uckt, „long years of schooling make a person unfit for anything but knowledge work“. Was freilich noch nicht die Frage vollends beantwortet, was den Wissensarbeiter dazu gebracht hat, sich mehr Ausbildung und Bildung anzueignen, als vielleicht nachgefragt wird. Aus dieser m¨oglicherweise historisch und gesellschaftlich einmaligen Konstellation der Nachkriegszeit in den USA kann man allerdings nicht unbedingt f u¨ r die Zukunft schließen, dass es auch weiterhin vor allem das Angebot an „Wissensarbeitern“ ist, das die Welt der Arbeit ver¨andert. In Zukunft wird diese Entwicklung sicherlich zu einem sich selbst verst¨arkenden Prozess, in dem auch andere Faktoren eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Bedingungen f u¨ r die wirtschaftliche Expansion in Wissensgesellschaften, in der demzufolge Nachfragemomente gr¨oßeres Gewicht haben m¨ogen.

21

Vgl. Wetzel 1995, 69. Drucker 1968, 278. 23 Ebd., 279. Das besonders u¨ berraschende Moment in dieser Entwicklung zur Wissensarbeit ist nach Drucker (285) die Tatsache, dass die amerikanische Wirtschaft in den fraglichen Jahren in der Lage war, „[to] satisfy the expectations of all these people with long years of schooling [. . . ]. As a result of the change in supply, we now have to create genuine knowledge jobs, whether the work itself demands it or not. For a true knowledge job is the only way to make highly schooled people productive [. . . ]. That the knowledge worker came first and knowledge work second – that indeed knowledge work is still largely to come – is a historical accident. From now on, we can expect increasing emphasis on work based on knowledge, and especially skills based on knowledge.“ 24 Ebd., 284. 22

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Als vorwegnehmende Erwiderung auf Druckers Thesen lehnt John Kenneth Galbraith 25 in seiner Studie The New Industrial State diese Argumentationskette rundweg ab und vermutet stattdessen,es sei die „vanity of educators that they shape the educational system to their preferred image.They may not be without influence but the decisive force is the economic system. What the educator believes is latitude is usually latitude to respond to economic need“. Galbraith ist ¨ der festen Uberzeugung, dass die von Wirtschaftswissenschaftlern (und auch von Arbeitgebern, von Lehrenden, Politikern und f u¨ r den Erziehungsbereich zust¨andigen Entscheidungstr¨agern) allgemein bef u¨ rwortete nachfrageorien¨ tierte Erkl¨arung fundamentaler Anderungen auf dem Arbeitsmarkt eine Re¨ aktion auf den Wandel der Welt der Arbeit ist und diese Anderungen somit in erster Linie f u¨ r die Zunahme der qualifizierten Arbeit verantwortlich seien. Unbestrittene Tatsache ist, dass es in den letzten Jahrzehnten und noch st¨arker in den letzten Jahren in der technologischen Ausstattung der Betriebe und der Verwaltungen dramatische Ver¨anderungen gegeben hat. So hat zum Beispiel die rasche Ausweitung der Informations- und Kommunikationstechnologie den Produktionsprozess und den Dienstleistungssektor stark beeinflusst. Allgemein gilt weiter die Annahme, dass die stattgefundenen Ver¨anderungen der Besch¨aftigungsstruktur in den vergangenen Jahren eine Folge des technisch-wissenschaftlichen Wandels sind. Durch die neuen Technologien erh¨oht sich die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskr¨aften. Dieser nachfrageorientierte Anstieg in der Zahl von Fachkr¨aften manifestiert sich auch, so wird weiter argumentiert, in dem wachsenden Einkommensgef¨alle zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit oder in dem erh¨ohten wirtschaftlichen Ertrag einer l¨angeren Ausbildungsdauer. 26 Noch einfacher ausgedr¨uckt: Betriebe, die mit Computern arbeiten, zahlen h¨ohere Geh¨alter. 27 Technischer formuliert: Die meisten Schlussfolgerungen zur Kausalit¨at der Transformation der Arbeitswelt „model changes in workforce skill as a function of changes in industry capital intensity and industry-level investment in computer equipment“ 28 . Peter Drucker 29 vertritt dagegen, wie schon kurz geschildert, die Hypothese, dass die Welt der Arbeit durch das durchschnittlich sehr viel h¨ohere Bildungsniveau der Besch¨aftigten ver¨andert wird und nicht, wie viele o¨ konomische Modelle oder auch h¨aufig die ver¨offentlichten Forderungen der Arbeitgeber an das Bildungssystem unterstellen, dass wachsende berufliche und schulische Qualifikationen der Arbeitnehmer eine Funktion der Nachfrage der Betriebe nach Besch¨aftigten mit diesen Bef¨ahigungen sind. Gut ausgebildete Besch¨aftigte erwarten und w¨unschen wissensintensive T¨atigkeitsmerkmale, in 25

Galbraight 1967, 238. Vgl. Sachs/Shatz 1994. 27 Reilly 1995. 28 Doms/Dunne/Troske 1997, 254. 29 Drucker 1968, 278. 26

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Folge dessen ziehen sie Arbeitsbedingungen vor, unter denen diese auch realisierbar sind. Empirisch, so k¨onnte man formulieren, wird seine These dadurch gest¨utzt, dass er, zumindest fu¨ r die Vereinigten Staaten, den Beginn dieser grundlegenden Ver¨anderung der Gesellschaft in eine Wissensgesellschaft auf die Verabschiedung der G. I. Bill of Rights durch den amerikanischen Kongress nach Ende des Zweiten Weltkriegs datiert.Drucker verweist auf die enthusiastische Zustimmung der zur¨uckkehrenden Soldaten und die große Akzeptanz der gesetzlich verankerten Studienerleichterungen. Diese Reaktion der Soldaten auf das Gesetz sieht Drucker als Signal f u¨ r den Start in die Wissensgesellschaft in den USA. Es ist somit nicht so sehr die Nachfrage nach gut ausgebildeten Besch¨aftigten, sondern das Angebot, das die Welt der Arbeit zunehmend wissensintensiver werden l¨asst. Da die These von den Besonderheiten des Angebots f u¨ r die Welt der Arbeit und f u¨ r den Arbeitsmarkt in der Wissensgesellschaft in den Sozialwissenschaften eine bisher eher marginale Hypothese darstellt, gibt es kaum empirische Untersuchungen, die genau dieser Frage nachgegangen sind. In der empirischen Literatur zu dem so genannten Produktivit¨atsparadox lassen sich jedoch, besonders in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, Erkenntnisse ausmachen, die die fragliche These empirisch untermauern. 30 Der Begriff des Produktivit¨atsparadoxes verweist auf die Tatsache, dass sich in den USA in den gesamtwirtschaftlichen Produktivit¨atsstatistiken kein schl¨ussiger Nachweis dafu¨ r finden l¨asst, dass die außerordentlich hohen Investitionen der Gesch¨aftsunternehmen in Kommunikations- und Informationstechnologien in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu einem messbaren Produktivit¨atszuwachs gefu¨ hrt haben. Der Begriff des Produktivit¨atsparadoxes meint, dass sich trotz hoher Erwartungen einerseits und riesiger Investitionen andererseits kein entsprechendes Resultat in der Form von zus¨atzlichem Produktivit¨atswachstum nachweisen l¨asst. In den Mittelpunkt einer langfristigen Betrachtung der Problematik des Produktivit¨atsparadoxes, aber auch der Grundlagen nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums in modernen Gesellschaften,sollte die Frage nach denVoraussetzungen der „Produktion von technischem Fortschritt“ stehen beziehungsweise der Fabrikation und der Produktivit¨at von wissensintensiver Arbeit 31 und, funktionalistisch gewendet, nicht die Frage nach den Folgen technischwissenschaftlichen Wandels, dem sich Bildung und Ausbildung dann anpassen sollten. Eine realistische Bildungspolitik sollte in diesem Sinn nicht von der kon¨ ventionellen Uberzeugung gepr¨agt sein, dass der wachsende Bedarf an qualifizierter Arbeit beziehungsweise an qualifizierten T¨atigkeiten eine Funktion 30 31

Stehr 2000; 2003. Siehe Drucker 1991, 70.

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der zunehmenden Spezialisierung und Arbeitsteilung oder der zunehmenden Komplexit¨at der Wirtschaft ist, sondern dass die Transformation des Wirt¨ schaftssystems hin zu einer wissensbasierten Okonomie nicht zuletzt eine Folge des qualifizierteren Arbeitsangebots und damit der Verbesserung in der Bildung und Ausbildung ist. Wer kann schon unter Bedingungen wachsender Unsicherheit u¨ ber zuk¨unftige Erfordernisse sagen, wie qualifizierte Arbeit in Zukunft aussehen wird? Wir wissen nur, dass die Zukunft von uns gemacht wird, aber unsicher ist. Es sind demnach nicht so sehr die durch die technische Entwicklung bedingten Ver¨anderungen im Niveau der erforderlichen Arbeitsqualifikationen, 32 auf die man sein Augenmerk richten muss, sondern es ist vielmehr das, was bestimmte technische Ver¨anderungen erst m¨oglich macht. ¨ In der modernen Okonomie ist Wissen grundlegender „Rohstoff“. In Folge dessen sind Lernen und die Produktion von Wissen die wichtigsten Prozesse der Wissensgesellschaft, und die Politik muss dieser Entwicklung Rechnung tragen. 33 Ich folgere daraus, dass das Produktivit¨atsparadox besser verstanden werden kann, wenn man drei empirische Tatsachen anerkennt: Erstens, hochqualifizierte Arbeitskr¨afte gibt es schon vor der verbreiteten Einf u¨ hrung und Anwendung der Informationstechnologie. Zweitens, der wachsende Anteil an der Erwerbsbev¨olkerung und die wachsende Bedeutung von hochqualifizierten Arbeitskr¨aften ist nicht Ausdruck der Nachfrage nach diesen Arbeitskr¨aften, sondern Ergebnis einer (autonomen, das heißt gesellschaftlich bedingten) Ver¨anderung in der Anzahl solcher Arbeitskr¨afte. Und drittens, die Informationstechnologie hilft den Unternehmen und der Leitung von Firmen mit den steigenden Arbeitskosten mitzuhalten beziehungsweise sie zu kompensieren. Das Produktivit¨atsparadox kann somit einen Beitrag zum Verst¨andnis daf u¨ r leisten, dass wir uns nicht mit einer technologisch indizierten Transformation von der Industriegesellschaft zur „Informationsgesellschaft“ konfrontiert se¨ hen, sondern vielmehr mit einem gesellschaftlich bedingten Ubergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft. Und es ist in diesem Sinn, dass wir ein neues, modernes Zeitalter erreicht haben. Die grundlegenden, substanziellen Ver¨anderungen in der Welt der Arbeit sind, soweit ich sehen kann, am pr¨agnantesten in den Arbeiten von Robert Kegan herausgearbeitet worden. Kegan besch¨aftigt sich mit den kognitiven Herausforderungen der modernen Lebenswelt im Allgemeinen und von modernen Arbeitskontexten im Besonderen. Kegan kommt nach einer sorgf¨altigen Analyse diverser Studien und Abhandlungen zu Art und Umfang moderner intellektueller Anforderungen zu dem Ergebnis, dass es einen eher prononcierten 32 33

Siehe Bodenh¨oher 1967, 17. Siehe Alexander 1997. Besorgnisse, dass die zur Verf u¨ gung stehenden beruflichen T¨atigkeiten nicht den gestiegenen Bildungs- und Ausbildungsniveaus entsprechen (z. B. Harman 1978, 209),entspringen somit genau der entgegengesetzen Perspektive,nach der prim¨ar die Qualit¨at des Angebots die Arbeitswelt bestimmt.

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Widerspruch in den Erwartungen der heutigen Arbeitgeber im Gegensatz zu den Erwartungen und dem typischen Selbstverst¨andnis der Arbeitnehmer gibt. Im Bewusstsein der Arbeitnehmer l¨asst sich in Bezug auf ihre Arbeit und Erwartungen an den Arbeitsplatz sowie deren soziales Umfeld ein ausgepr¨agtes und wachsendes Gef u¨ hl der „self-possession and personal authority“ beobachten. Kegan fasst die wichtigsten kognitiven Eigenschaften von Individuen, die in der Lage sind, mit dem besonderen intellektuellen Kontext der modernen Arbeitswelt umzugehen, wie folgt zusammen: „1. To invent or own our work (rather than see it as owned and created by the employer). 2. To be self-initiating, self-correcting, self-evaluating rather than dependent on others to frame the problems,initiate adjustments,or determine whether things are going acceptably well). 3. To be guided by our own visions at work (rather than be without a vision or be captive of the authority’s agenda). 4. To take responsibility for what happens to us at work externally and internally (rather than see our present internal circumstances and future external possibilities as caused by someone else). 5. To be accomplished masters of particular work roles, jobs, or careers (rather than have an apprenticing or imitating relationship to what we do). 6. To conceive of the organization from the ,outside in‘ as a whole; to see our relation to the whole; to see the relation of the parts to the whole (rather than see the rest of the organization and its parts only from the perspective of our own part, from the ,inside out‘).“ 34 Ob und in welchem Umfang existierende Arbeitspl¨atze und Arbeitskontexte schon in der Lage sind, Arbeitnehmer mit kognitiven F¨ahigkeiten und Anforderungen, wie sie Kegan aufz¨ahlt, zu u¨ bernehmen, ist eine zu diesem Zeitpunkt nur sehr schwer zu beurteilende Frage. Allerdings kann man davon ausgehen, dass solche Arbeitsm¨oglichkeiten zunehmend m¨oglich sein werden, und zwar in dem Maße, in dem Unternehmen realisieren, dass Arbeitpl¨atze mit großer Autonomie, Handlungschancen und Verantwortlichkeiten Bedingung fu¨ r nachhaltige Unternehmenserfolge werden. Unternehmen werden sich in Folge dessen gezwungen sehen, Arbeitsm¨oglichkeiten dieser Art bereitzustellen und nicht zu unterbinden.

Ausblick Was z¨ahlt, und dies in zunehmendem Maße, ist die Qualit¨at des Arbeitsangebots. Das Angebot und nicht die Nachfrage bestimmt, wie Arbeit und der 34

Kegan 1994, 152f.

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Arbeitsmarkt in Zukunft aussehen werden. Humankapital ist, mit anderen Worten, der entscheidende Faktor, der den Wandel sowohl als Notwendigkeit als auch als Potenzial m¨oglich macht.

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Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Freiheit in der Wissensgesellschaft michael rogowski

Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Man „muss es wissen wollen“, wenn man etwas a¨ ndern will. Dieser Weisheit folgten die Kultusminister, als sie vor Jahren beschlossen, sich dem internationalen Leistungsvergleich PISA zu stellen. Gewiss, wie Deutschland als drittgr¨oßte Volkswirtschaft, zweitgr¨oßte Handelsnation der Welt und erkl¨arte Bildungsnation im PISA-Benchmarking auf die Pl¨atze verwiesen wurde,ist besch¨amend.Aber den Studien ist zu verdanken, dass Bildung und Wissen nun da stehen, wo sie hingeh¨oren: im Mittelpunkt des o¨ ffentlichen Interesses und der politischen Debatte. Und viel deutet darauf hin, dass sich jetzt tats¨achlich etwas bewegt.

1 Wissen und Bildung bestimmen unseren Wohlstand Wissen und Bildung werden zunehmend zur bestimmenden Antriebskraft von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie entscheiden u¨ ber die Teilhabechancen des Einzelnen in der Gesellschaft und seine Besch¨aftigungsf¨ahigkeit. Der Bildungsstand in der Bev¨olkerung geh¨ort zu den wichtigsten Einflussgr¨oßen des Wirtschaftswachstums – nach Untersuchungen der OECD a¨ hnlich relevant wie etwa Handelsliberalisierung oder Geldwertstabilit¨at. Der Sachverst¨andigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schreibt in seinem Jahresgutachten 2004/2005: „F¨ur eine entwickelte und rohstoffarme Volkswirtschaft wie Deutschland ist der Bestand an Humankapital, also neben praktischen Erfahrungen vor allem der zu wirtschaftlich verwertbarem Wissen geronnene Bestand an Bildung, eine der wichtigsten Ressourcen fu¨ r Wachstum und Produktion und damit der Einkommen insgesamt.“ 1 Nat¨urlich ist Bildung weit mehr als ein volkswirtschaftlicher Produktionsfaktor. Trotzdem muss man sie auch ganz n¨uchtern als o¨ konomische Gr¨oße, als zentralen Standortfaktor anerkennen und behandeln. In der Wissensgesellschaft gilt das mehr als je zuvor – zumal das rohstoffarme Deutschland in besonderem Maße auf das „Kapital der K¨opfe“ angewiesen ist. Das hat 1

Sachverst¨andigenrat 2005, 570.

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nichts mit Entzauberung eines Bildungsideals zu tun, sondern ist Teil gesellschaftlicher Verantwortung. Denn die Sicherung unserer wirtschaftlichen Zukunftsf¨ahigkeit, unserer technologischen Leistungsf¨ahigkeit, ist die Voraussetzung, um auch die vielen anderen Fr¨uchte der Bildung ernten zu k¨onnen. Wir m¨ussen die Ressource Bildung im Sinne von Ausbildung und – immer mehr – von lebenslanger Weiterbildung effizient nutzen. Der innerdeutsche PISA-Vergleich hat gezeigt, in welch hohem Maße Bildung auch ein Standortfaktor f u¨ r die einzelnen Bundesl¨ander ist. Das Leistungsgef¨alle ist gravierend. Ein Kind, das von Bremen nach Bayern zieht, hat mitunter anderthalb bis zwei Jahre R¨uckstand zu seinen neuen Mitsch¨ulern. Nat¨urlich h¨atte es der geschundenen PISA-Seele gut getan, wenn wenigstens einige Bundesl¨ander internationales Spitzenniveau h¨atten – aber weit gefehlt. Die Vorbilder f u¨ r die Bildungsoffensive sind im Wesentlichen außerhalb unserer Grenzen zu finden. 2 Allerdings sind nicht nur die mangelnden F¨ahigkeiten deutscher Sch¨uler im Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften erb¨armlich. Ebenso wenig hinzunehmen ist, dass rund neun Prozent aller Schulabg¨anger die allgemein bildenden Schulen zun¨achst ohne Abschluss verlassen, dass an den Hochschulen durchschnittlich 25 Prozent der Studenten ihr Studium endg¨ultig abbrechen – in den Sprach- und Kulturwissenschaften sogar 45 Prozent. 3 Und es ist auch nicht vertretbar, dass deutsche Hochschulabsolventen im Schnitt a¨lter als 28 Jahre sind. 4 Wir m¨ussen in Deutschland zu einem neuen Leistungs- und Verantwortungsbewusstsein kommen. Auch die Selbstverantwortung des Einzelnen wird dabei eine v¨ollig neue Rolle spielen. Von einer „Kultur der Anstrengung“ ist die Rede, und das trifft den Nagel auf den Kopf. Gefragt ist ein neuer Ehrgeiz, wieder zu den Besten geh¨oren zu wollen. Das gilt nicht nur f u¨ r Personen, sondern auch f u¨ r Institutionen. Daf u¨ r brauchen wir den Wettbewerb autonom handelnder und selbstverantwortlicher Bildungs- und Forschungseinrichtungen um knappe Ressourcen. Dem steht das staatliche finanzierte und dirigierte Bildungs- und Forschungssystem in seiner jetzigen Form in Deutschland entgegen. Trotz einiger Bem¨uhungen um mehr Autonomie und Wettbewerb werden Bildung und Forschung immer noch haupts¨achlich in Einrichtungen des o¨ ffentlichen Rechts betrieben, die zum Teil sehr detaillierten Weisungen unterliegen. Sch¨uler und Studenten werden auf die vorhandenen Einrichtungen verteilt. Leistungsanreize sind im System viel zu schwach ausgepr¨agt oder gar falsch konstruiert.

2 3 4

Baumert et. al. 2002. Hochschul-Informations-System 2005. Statistisches Bundesamt 2004.

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2 Die staatliche Planung von Bildung und Wissenschaft versagt Thomas Straubhaar hat bereits 1996 die staatliche Bildungskatastrophe in Deutschland analysiert und eindringlich beschrieben: „Ein Bildungssystem, das Staatsfinanzierung und Staatsangebot koppelt und dann die Nachfrage zum Angebot lenkt, widerspricht nicht nur jeder o¨ konomischen Logik. Auch soziale Ziele werden verletzt.“ 5 Beides ist heute in Deutschland mit H¨anden zu greifen. PISA ist nicht nur zum Synonym fu¨ r Schulversagen geworden. Die internationalen Leistungsvergleiche belegen auch, dass Kinder aus sozial schw¨acheren Elternh¨ausern in Deutschland schlechtere Bildungschancen haben, als vergleichbare Gruppen in anderen L¨andern. Die in Deutschland staatlich verordnete Studiengeb¨uhrenfreiheit hat den Anteil von Studenten aus niedrigeren Einkommensschichten jedenfalls nicht erh¨ohen k¨onnen. Hinzu kommt,dass h¨aufig nicht das an Wissen und Bildung produziert wird, was Wirtschaft und Gesellschaft brauchen. Augenf¨alligstes Indiz dafu¨ r ist die Tatsache, dass trotz mehr als fu¨ nf Millionen Arbeitsloser rund eine Million Arbeitspl¨atze nicht besetzt werden k¨onnen. Qualifikationsengp¨asse liegen immer wieder im mathematisch-naturwissenschaftlichen und Ingenieurbereich. Die Wurzel daf u¨ r ist in den Schulen zu suchen. Die staatliche Planung der Produktion von Bildung und Wissen muss zwangsl¨aufig immer mehr versagen angesichts des immer schnelleren Wissensfortschritts und Strukturwandels in der Wissensgesellschaft. Wir brauchen hier grunds¨atzlich neue Steuerungsinstrumente, die schneller reagieren und den Menschen echte Entscheidungsalternativen bieten. Ich pl¨adiere deshalb ganz entschieden dafu¨ r, die politisch-administrative Steuerung durch den Wettbewerb auf Bildungs- und Forschungsm¨arkten zu ersetzen. Wettbewerb erh¨oht den Freiheitsgrad aller Marktteilnehmer, erlaubt schnellere Fehlerkorrekturen und bringt damit eher das an Bildung und Wissen hervor, was Wirtschaft und Gesellschaft in einem sich schnell wandelnden Umfeld brauchen. Drei grundlegende Weichenstellungen sind notwendig: – Erstens m¨ussen wir dringend mehr o¨ ffentliche und private Mittel in Bildung und Forschung investieren. – Zweitens m¨ussen wir die o¨ ffentlichen Finanzmittel u¨ ber die Kunden lenken – also M¨arkte f u¨ r Bildung und Forschung organisieren. – Drittens brauchen Schulen und Hochschulen mehr Eigenverantwortung, um sich im Wettbewerb behaupten zu k¨onnen. Der Wettbewerb um die Finanzen liefert die Begr¨undung f u¨ r Autonomie.Wettbewerb und Freiheit sind die zweiten Seiten einer Medaille. Wissenschaftsfreiheit muss als Wettbewerbsfreiheit verstanden werden. 5

Straubhaar 1996, 53. Vgl. auch van Lith 1985.

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3 Mehr o¨ ffentliche und private Mittel in Forschung und Bildung investieren Vor drei Jahren haben die Regierungschefs der EU auf ihrem Gipfel in Barcelona beschlossen, bis 2010 die FuE-Ausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu steigern. Zwei Drittel sollen privat, ein Drittel staatlich finanziert werden. 6 Damit Europa sein Ziel erreicht und Deutschland Innovationslokomotive in Europa bleibt, m¨ussen sich Bund und L¨ander das Ziel setzen, bis 2010 ihre FuE-Ausgaben auf mehr als 1 Prozent des BIP zu steigern. Das bedeutet einen Zuwachs von zurzeit rund 17 Milliarden Euro auf u¨ ber 21 Milliarden Euro. Die j¨ahrlichen Steigerungen m¨ussen 6 bis 8 Prozent betragen und damit deutlich u¨ ber dem Zuwachs anderer Ressorts liegen. Sie werden nicht zuletzt auf Kosten anderer Bl¨ocke von Staatsausgaben gesteigert werden m¨ussen.

Mit 5,3 Prozent vom BIP fu¨ r Bildung investiert Deutschland o¨ ffentlich und privat auf diesem Sektor weniger in seine Zukunft als der Durchschnitt aller OECD-L¨ander. Der Anteil der Bildungsausgaben am Staatsbudget liegt mit 9,7 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt von 12,7 Prozent. Im Schulbereich muss Deutschland mehr Mittel in Ausstattungsverbesserungen und Qualit¨atssteigerungen investieren. Gemessen an den Ausgaben je Sch¨uler ist im internationalen Vergleich vor allem der Primarbereich in Deutschland o¨ ffentlich unterfinanziert. Gemessen am OECD-Durchschnitt von 4850 US-Dollar be6

European Council 2002.

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tr¨agt hier die L¨ucke 613 US-Dollar. Gemessen an der PISA-Spitze kommt es allerdings haupts¨achlich auf viel mehr Eigenverantwortung in den Schulen an. Im Terti¨arbereich sind in erster Linie Bedingungen zur Steigerung der privaten Bildungsinvestitionen zu schaffen, da der Privatanteil hier mit 8,7 Prozent weit unter dem OECD-Durchschnitt (21,8 Prozent) liegt. Angesichts der angespannten Finanzlage aller o¨ ffentlichen Haushalte ist die Gefahr groß, dass nicht nur die dringend notwendigen Mittelaufstockungen ausbleiben, sondern die derzeitigen Budgetans¨atze f u¨ r Bildung und Forschung weiter gek¨urzt werden. Diese Gefahr steigt insbesondere, wenn zus¨atzliche private Finanzierungsquellen erschlossen werden. Umso wichtiger ist, dass Bund und L¨ander den Bildungs- und Forschungseinrichtungen einen ausreichenden mittelfristig verl¨asslichen Finanzrahmen garantieren.

¨ 4 Offentliche Bildungs- und Forschungsfinanzierung u¨ ber die Kunden lenken Allein mehr Geld in das Bildungssystem zu geben, sichert allerdings noch keine Ergebnisverbesserung. Es muss auch o¨ konomisch eingesetzt werden. Deshalb sollten k¨unftig die Einrichtungen selbst entscheiden k¨onnen und m¨ussen, wie sie ein optimales Angebot realisieren, um attraktiv zu sein. Weil die Einrichtungen selbst viel besser wissen, was in ihnen steckt, als eine kontrollierende u¨ bergeordnete Verwaltung, ist dabei der Wettbewerb ein effizienterer Innovationstreiber, als es die B¨urokratie jemals sein kann. Deswegen sollten wesentlich gr¨oßere Teile der staatlichen Mittel u¨ ber die „Kunden“, also die Studenten, Sch¨uler oder Nachfrager nach Forschungsleistungen, an Bildungs- und Forschungseinrichtungen fließen, damit u¨ ber die private Nachfrage Wettbewerbsprozesse zwischen den Anbietern ausgel¨ost werden, die zur o¨ konomischen Verwendung der Mittel fu¨ hren. Im Bildungssektor stellen die so genannten Bildungsgutscheine das flexibelste System zur Lenkung o¨ ffentlicher Mittel u¨ ber die Kunden dar. Bildungsgutscheine haben bereits jetzt im Weiterbildungsbereich Eingang gefunden, allerdings in viel zu eingeschr¨ankter, regulierter Weise. In einer weiterreichenden Perspektive m¨usste den einzelnen B¨urgern ein Großteil der o¨ ffentlichen Mittel fu¨ r Bildung gutgeschrieben werden. Das Neugeborene erh¨alt den vollen Betrag, der aus der Staatskasse fu¨ r Bildung zur Verf u¨ gung gestellt werden soll. Das muss von der Vorschule bis zu den Kosten f u¨ r ein durchschnittliches Studium an der Hochschule in der Regelstudienzeit gehen. Die Bildungsgutscheine k¨onnen dann sukzessive eingel¨ost werden – beim Kindergarten, der Grundschule, der Sekundarstufe, in der Berufsausbildung und f u¨ r das Hochschulstudium bis hin zur Weiterbildung. Dabei w¨urde sich die Auswirkung der Einl¨osung von Bildungsgutscheinen auf den j¨ahrlichen Staatshaushalt einigermaßen sicher aus der Weiterentwicklung des bisherigen Bildungsverhaltens absch¨atzen lassen.

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In diesem System entscheiden die Bildungsnachfrager – Studierende, Sch¨uler, Auszubildende, ihre Eltern etc. – zum gr¨oßten Teil selbst, wann und wofu¨ r sie ihre Bildungsgutscheine einsetzen. Die Bildungsnachfrager w¨ahlen die Schule und den Schultyp selbst aus. Ob zum Beispiel eine – teurere – Ganztagsschule oder eine regul¨are Schule in Anspruch genommen wird, kann im individuellen Ermessen verbleiben. Die „Kunden“ werden sich dabei maßgeblich von ihren beruflichen Entwicklungsm¨oglichkeiten leiten lassen. Dazu geh¨ort nat¨urlich, die individuellen Voraussetzungen ins Kalk¨ul zu ziehen. Im Interesse von Transparenz und Qualit¨atssicherung sollten die Bildungseinrichtungen allerdings akkreditiert sein, um Bildungsgutscheine entgegennehmen zu k¨onnen. Es gilt, mindestens die – j¨ungst verabschiedeten und in Zukunft zu erwartenden – nationalen Bildungsstandards zu erreichen. Da die Summe der Bildungsgutscheine im Prinzip fu¨ r alle gleich ist, werden die Bildungsnachfrager fu¨ r besonders hohe Bildungsleistungen zuzahlen m¨ussen. Das gilt insbesondere f u¨ r ein Hochschulstudium, das mehr als das durchschnittliche Regelstudium kostet. Im Hochschulsektor sollten wir z¨ugig und priorit¨ar die Vision von Eigenverantwortung im Wettbewerb verwirklichen. In der Wissensgesellschaft, in der Bildungsinvestitionen mehr als je zuvor u¨ ber zuk¨unftige Einkommenschancen entscheiden, gebietet allein schon die soziale Gerechtigkeit, dass jeder sich an seinen „¨uberschießenden“ Ausbildungskosten beteiligt. Die st¨arkere Beteiligung an den Ausbildungskosten wird die Rationalit¨at der Entscheidungen wie des Studierverhaltens erh¨ohen. Das gilt auch fu¨ r die F¨acherwahl der Studierenden. Dabei ist zu ber¨ucksichtigen, dass h¨oher dotierte Bildungsgutscheine fu¨ r Naturwissenschaftlicher und Ingenieure n¨otig sind, um traditionelle Pr¨agungen zu u¨ berwinden und die Werthaltigkeit gerade dieser Studieng¨ange deutlich zu machen. Insgesamt muss neben dem „Konsumcharakter“ der „Investitionscharakter“ des Studiums deutlich werden. Im Zusammenspiel mit den Anstrengungen der Bildungsanbieter werden dadurch die hohen Studienabbrecherquoten zur¨uckgehen. Durch Anspar- und Darlehensmodelle der Banken muss ein erhebliches St¨uck privater Finanzierung in der Bildung genau so selbstverst¨andlich werden wie im Wohnungsbau. Beide Bereiche sind bevorzugtes Investitionsobjekt von Familien. Investitionen in Humankapital sollten zu einer Selbstverst¨andlichkeit des „Unternehmens Familie“ werden. In einer Zeit knapper Fach- und F¨uhrungskr¨afte k¨onnten dar¨uber hinaus immer mehr Unternehmen in Vertr¨agen mit einzelnen Studierenden bereit sein, in Humankapital zu investieren, wenn sie sich im Gegenzug f u¨ r eine bestimmte Zeit nach der Ausbildung oder w¨ahrend der Ausbildung Gegenleistungen sichern k¨onnen. Auch im Forschungssektor sollten mehr o¨ ffentliche Mittel unter dem Einfluss privater Nachfrage vergeben werden. Der zunehmende globale Wettbewerbsdruck zwingt die Unternehmen, mit Innovationen immer schneller am Markt zu sein. Sie brauchen daf u¨ r die Einbindung in dynamische Innovationsnetzwerke, die die „Time-to-Market“ verk¨urzen. Direkte Kooperationen

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zwischen o¨ ffentlicher und privater Forschung bereits bei der Aufstellung von Forschungsprogrammen gew¨ahrleisten dies eher als der aufwendige Wissensund Technologietransfer u¨ ber Dritte (zum Beispiel Transferagenturen) zur Vermarktung von Forschungsergebnissen im Nachhinein. F¨ur die Lenkung o¨ ffentlicher Forschungsmittel unter gr¨oßerer Ber¨ucksichtigung der Bed¨urfnisse der M¨arkte sind die Verbundprojekte der Bundesregierung und anderer Institutionen wie der industriellen Forschungsvereinigungen ein guter Ansatz, soweit sie die Beteiligung privater Unternehmen voraussetzen. Einen weiteren wichtigen Ansatzpunkt bietet die Einf u¨ hrung der vom BDI und vielen anderen vorgeschlagenen so genannten Forschungspr¨amie, die an der Vergabe privater Forschungsauftr¨age an o¨ ffentlich finanzierte Forschungseinrichtungen ansetzt, ohne dass es daf u¨ r thematische Vorgaben wie bei den klassischen Verbundprojekten gibt. In Deutschland werden die FuE-Aufwendungen der Wirtschaft in deutlich geringerem Maße als bei den Hauptkonkurrenten auf den Weltm¨arkten wie den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und anderen staatlich gef¨ordert. Um so mehr sollte dar¨uber nachgedacht werden, wie Teile der o¨ ffentlichen Forschungsfinanzierung u¨ ber die Kunden in die Forschungseinrichtungen gelenkt werden k¨onnen.Die o¨ ffentliche Forschung kann am ehesten st¨arker auf Innovationen orientiert werden, wenn die Mittel im Wettbewerb an die Forschungsinstitute und Hochschulen vergeben werden. Deshalb muss die Programm- und Projektf¨orderung zu Lasten der institutionellen F¨orderung signifikant erh¨oht

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werden. Dar¨uber hinaus zeigt die Deutsche Forschungsgemeinschaft, wie rein wissenschaftsgeleitete Forschung im Wettbewerb gef¨ordert werden kann. Abgesehen von dem Instrument der Forschungspr¨amie gehen jeder Art der Projektf¨orderung in der Regel Antragsprozeduren voraus. Um den Aufwand hierf u¨ r so gering wie m¨oglich zu halten, k¨onnte sicher ein bedeutender Anteil der Mittel direkt an die Institutionen gegeben werden, um die freie wissenschaftliche Vorlaufforschung zu st¨arken. Der Erfolg im Wettbewerb um die Projektmittel auf den verschiedenen Forschungsm¨arkten sollte f u¨ r diese „institutionelle F¨orderung“ allerdings den Maßstab liefern. Nach einer vereinfachten Formel k¨onnten zum Beispiel 30 Prozent der o¨ ffentlichen Mittel u¨ ber anwendungsorientierten Wettbewerb, 30 Prozent u¨ ber rein wissenschaftsgeleiteten Wettbewerb und 40 Prozent institutionell vergeben werden. Zur Hochschul- und Forschungsfinanzierung lassen sich die Finanzstr¨ome zwischen den Akteuren dann wie folgt beschreiben 7 : Die Wissensgesellschaft braucht Wissensunternehmen. Hochschulen und Forschungseinrichtungen m¨ussen aus staatlich-administrativen Regulierungen befreit werden. Dabei bleibt o¨ ffentliche Finanzierung n¨otig. Die Mittel m¨ussen allerdings im Wettbewerb vergeben werden. Ein solcher Wettbewerb um die finanziellen Ressourcen legitimiert den Verzicht auf politisch-b¨urokratische Steuerung und setzt gleichzeitig die Autonomie, das heißt die weitgehende wirtschaftliche und rechtliche Selbst¨andigkeit von Hochschulen und Forschungseinrichtungen, voraus.

5 Mehr Eigenverantwortung von Schulen und Hochschulen erm¨oglichen Damit Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Wettbewerb um Kunden, Verbundprojekte undEinzelauftr¨age eigenverantwortlich und flexibel agieren k¨onnen, m¨ussen sie ihre Profile selbst gestalten, eine autonome Personal- und Gehaltspolitik betreiben sowie u¨ ber Mitteleinsatz und Investitionen selbst¨andig entscheiden k¨onnen. Sie m¨ussen quasi zu Wissensunter¨ nehmen in o¨ ffentlicher oder privater Tr¨agerschaft werden. Der Ubergang zum Privatrecht liegt nahe. Stiftungen sind eine M¨oglichkeit. Nat¨urlich ist ein an Kundenw¨unschen orientierter leistungssteigernder Wettbewerb mit autonomer Kapazit¨ats- und Profilplanung nicht mit dem am Alimentationsprinzip orientierten deutschen Beamtenrecht oder mit dem Angestelltenrecht im o¨ ffentlichen Dienst realisierbar.Lehrer und Forscher m¨ussen in Abh¨angigkeit von der Nachfrage besch¨aftigt und nach Knappheit und Leistung differenziert bezahlt werden k¨onnen. An die Stelle von Beamtenstatus und o¨ ffentlichem Tarifrecht sollten grunds¨atzlich flexible, frei aushandelbare 7

Bundesverband der Deutschen Industrie 2005, 21.

Freiheit in der Wissensgesellschaft

387

Arbeitsvertr¨age treten. Dies w¨urde auch den Personalaustausch mit der Wirtschaft erleichtern und die Systeme durchl¨assiger gestalten. Insbesondere die Bezahlung der Lehrer in den Schulen nach Knappheit wird aller Voraussicht nach dazu fu¨ hren, dass der relativ „knappe“ Naturwissenschaftler besser bezahlt wird als Absolventen von Disziplinen, die reichlicher vertreten sind.Das macht es fu¨ r einen p¨adagogisch interessierten Naturwissenschaftler interessanter, an die Schule zu gehen. Gute Lehrer wiederum, die ihren Stoff exzellent vermitteln, werden auch die Sch¨uler fu¨ r die Natur- und Ingenieurwissenschaften st¨arker interessieren k¨onnen.Auf diese Langfriststrategie m¨ussen wir setzen, auch angesichts der Knappheit bei Naturwissenschaftlern und Ingenieuren in der Wirtschaft jetzt. Diese Strategie wird ein Eckstein im Streben nach Technologief u¨ hrerschaft sein. Zur Profilbildung und Qualit¨atssteigerung der einzelnen Wissensunternehmen wird auch geh¨oren m¨ussen, dass sie nur diejenigen als Studierende aufnehmen m¨ussen, die ihre Eingangstests oder Zwischentests passiert haben. Das tr¨agt dazu bei, dass Sch¨uler und Studenten „ihre“ Bildungseinrichtung mehr nach den anschließenden Chancen als nach der „Leichtigkeit“ des Abschlussexamens w¨ahlen. Es muss ihnen mehr auf den Eingangstest der n¨achsten Stufe ankommen als auf das Abschlusszeugnis der eigenen Stufe, das – selbst bei Zentralabitur – zu sehr ein „Schmoren im eigenen Saft“ bedeuten kann. Dabei ist gar nicht zu bezweifeln, dass zum Beispiel ein Zentralabitur in der Lage ist, zu einer Vergleichbarkeit der Schulergebnisse erheblich beizutragen. Es wird jedoch in einem ausgekl¨ugelten Verfahren der „State of the art“ festgehalten. Wettbewerb ben¨otigt aber stets auch die individuelle Orientierung am Umfeld, so dass sich neue Verfahren schneller Bahn brechen k¨onnen. Die Chancen in der n¨achsten Stufe m¨ussen zum Bewertungskriterium eines Bildungsunternehmens werden: im Wettbewerb um Sch¨uler und Studierende und damit letztlich u¨ ber die Bildungsgutscheine um Mittelzuweisungen des Staates. Gebietsschutz f u¨ r irgendeinen Schultyp kann es dabei nicht geben. Wenn die Sch¨uler und Studenten gehalten sind, ihr Fortkommen auf der n¨achsten Stufe st¨arker in den Blick zu nehmen, werden dies auch die Bildungseinrichtungen tun. Der Kindergarten wird auf die Grundschule achten, die Grundschule auf die weiterf u¨ hrende Schule, die Sekundarschule auf die Hochschule oder die Berufsausbildung, die Hochschule oder die duale Berufsausbildung auf die Chancen ihrer Absolventen am Arbeitsmarkt. Jede Stufe wird mit dem Fortkommen ihrer Absolventen in der n¨achsten Stufe f u¨ r sich werben wollen, damit die Bildungsgutscheine ihr zufließen. Allerdings werden insbesondere bei den Mittelzuweisungen des Staates an die Schulen gerade in der Grundschule die unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen der Sch¨uler in Intelligenz, Bildung und Sozialverhalten mit zu ber¨ucksichtigen sein. Der Staat kann besondere Handicaps durch ein Mehr an Bildungsgutscheinen ausgleichen. Den Wissensunternehmen – ob Schulen

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Michael Rogowski

oder Hochschulen – sollte es jedoch u¨ berlassen bleiben, f u¨ r die verschiedenen Bildungs- und Ausbildungsg¨ange den Preis im Wettbewerb festzulegen. Diese Reformvorschl¨age sind zweifelsohne von sehr weitgehender Natur. Der Grund liegt darin, dass ein attraktives Deutschland im Wettbewerb um knappes Humankapital nicht l¨anger nur den Anschluss an f u¨ hrende Nationen ¨ suchen darf, sondern zum Uberholen ansetzen muss.

Literatur Baumert J et al. (Hrsg.) (2002) PISA 2000 – Die L¨ander der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich Bundesverband der Deutschen Industrie (2004) F¨ur ein attraktives Deutschland. Freiheit wagen – Fesseln sprengen Bundesverband der Deutschen Industrie (2005) Jahresbericht 2004/2005 Destatis (2005) Internetangebot des Statistischen Bundesamtes European Council (2002) Presidency Conclusions, Barcelona European Council, March 15/16 Hochschul-Informations-System (2005) Studienabbruch 2005 Sachverst¨andigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2005) Jahresgutachten 2004/2005 Straubhaar T (1996) Die staatliche Bildungskatastrophe Van Lith U (1985) Der Markt als Ordnungsprinzip des Bildungsbereichs

Heidelberger Jahrbücher, Band 49 (2005) K. Kempter, P. Meusburger (Hrsg.) Bildung und Wissensgesellschaft © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006

Universit¨at im Umbau Heutige Universit¨atspolitik in historischer Sicht und Vorschlag f u¨ r eine neue Personalstruktur ∗ dieter langewiesche

I In der Geschichte der modernen Universit¨at, entstanden in Europa und dann als Erfolgsmodell weltweit verbreitet, gibt es zwei Phasen eines radikalen Umbaus: die eine liegt um 1800, die andere erleben wir zur Zeit. Die Radikalit¨at dessen, wovon wir Augenzeugen sind, als Mitt¨ater oder Mitleidende, mitunter auch beides, l¨aßt sich an den neuen Formen der Planung und Steuerung ermessen. Vergleichbares gab es nie. Die moderne Forschungsuniversit¨at der Gegenwart ist nicht nach einem Masterplan geschaffen worden. Ein schroffer Gegensatz also zu den Hoffnungen unserer planungsgl¨aubigen Zeit. Die heutige Hochschulpolitik – Bologna-Prozess heißt ihr Markenname – baut an einem Einheitsgeb¨aude f u¨ r die europ¨aische Universit¨at der Zukunft. Die Erfolgsgeschichte ihres Vorg¨angers, der gegenw¨artig so entschlossen abgewrackt wird, ist hingegen eine Geschichte der Universit¨at in Europa – ein feiner, aber gewichtiger Unterschied. Die moderne Universit¨at ging aus einem vielschichtigen Suchprozeß hervor, in dem unterschiedliche Hochschulmodelle miteinander konkurrierten. Er ¨ des Zusammenbruchs und Neubeginns. Ein Tr¨ummerfeld begann in einer Ara hat Walter R¨uegg die europ¨aische Universit¨atslandschaft um 1800 genannt, eine Epoche des Universit¨atssterbens, die ann¨ahernd sechzig Prozent der Hochschulen Europas nicht u¨ berlebten. 1 Dass die Universit¨at danach die Spitzenposition unter den Bildungsinstitutionen erringen sollte, war damals keineswegs abzusehen. Ihr Weg an die Spitze war jedoch kein gemeineurop¨aischer, denn die Renaissance der Universit¨at in Europa war ein Weg der Vielfalt. Großbritannien ging einen eigenen, auf dem unterschiedliche Hochschultypen nebeneinander entstanden. Auf dem Kontinent konkurrierten hinge∗

1

Dieser Artikel fasst einige Beitr¨age von mir zu den gegenw¨artigen Entwicklungen im deutschen Hochschulwesen zusammen und erweitert sie: Langewiesche 2005a-b, 2003, 2001a-c, 1995, 1994. Dazu und zum Folgenden R¨uegg 2004.

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gen zwei kontr¨are Organisationsmodelle: das franz¨osische und das deutsche, das wir retrospektiv meist das Humboldtsche nennen. 2 Beide entstanden um 1800, in einer Zeit der staatlichen und gesellschaftlichen Neugestaltung Europas. Das franz¨osische Modell fand zwar Anklang in S¨ud- und Osteuropa, doch durchgesetzt hat sich, national jeweils modifiziert, das deutsche. In Frankreich entstanden Spezialhochschulen unter strikter staatlicher Lenkung und Zen¨ tralisierung, konzentriert auf Paris. In Deutschland, in Osterreich und in der Schweiz bildete sich hingegen ein Universit¨atstypus heraus, der schließlich um die Wende zum 20. Jahrhundert in Europa wie auch in den USA und Japan das Ideal der modernen Universit¨at verk¨orperte: ein Ort freier Wissenschaft, vom Staat erm¨oglicht, der jedoch keinen Zugriff auf den inneren Bereich der Forschung erhielt und auch nicht auf die Lehre, weil sie aus der Forschung hervorgehen sollte. Voll verwirklicht wurde dieses Ideal nicht, wie es bei Idealen zu sein pflegt, aber es erwies sich doch als stark genug, um im 19. Jahrhundert die Universit¨at neu zu erschaffen. Erst jetzt wurde sie zur Forschungsuniversit¨at. Das war die Grundlage f u¨ r ihren Erfolgsweg. Es war zugleich die Voraussetzung, um den Aufstieg der modernen Naturwissenschaften in die Universit¨aten zu integrieren. Auf dieser Entwicklung von einer Institution, die vor allem lehrte, zu der zentralen St¨atte von Forschung, beruhte auch das Ideal studentischer Eigenverantwortung als der dritten S¨aule neben der Freiheit von Forschung und Lehre. Aus dieser Trias ging die neue Universit¨at hervor, zun¨achst im deutschsprachigen Raum, dann auch in England und den Vereinigten Staaten in den Grundz¨ugen u¨ bernommen, zugleich aber den dortigen gesellschaftlichen Bedingen angepasst, also auch ver¨andert. Dieses Modell, das die Universit¨at als Einheit von Forschung und Lehre begreift, hat die anderen Wege zur modernen Universit¨at keineswegs entwertet. Die unterschiedlichen Ausgangsmodelle entwickelten sich vielmehr in einem Prozeß wechselseitigen Lernens, der keines unver¨andert ließ. So wurden seit der zweiten H¨alfte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland außeruniversit¨are Forschungseinrichtungen geschaffen – ein Weg, den Frankreich mit den wissenschaftlichen Einrichtungen, die an die Stelle der nach 1793 aufgel¨osten Universit¨aten traten, schon fr¨uher beschritten hatte, w¨ahrend zur gleichen Zeit, als in Deutschland mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die große Zeit der außeruniversit¨aren Forschungsinstitutionen begann, in Frankreich erneut Universit¨aten errichtet wurden. Die Wissenschaftssysteme n¨aherten sich also einander an, wenngleich die Unterschiede erheblich blieben. Bis heute. Daß die Geschichte der Universit¨aten in Europa keinem einheitlichen Bauplan gefolgt ist, geh¨ort zu den Voraussetzungen ihrer einzigartigen Erfolgsge2

Als Humboldtsches Modell wurde es erst bezeichnet, als es vor 1900 in die Kritik geriet; zuvor hatte sich die deutsche Universit¨at zur Forschungsuniversit¨at entwickelt,ohne dass man dieses Etikett verwendet hat. Vgl. dazu grundlegend Paletschek 2001.

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schichte, begr¨undet in der Konkurrenz von Wissenschaftssystemen, die wechselseitiges Lernen einschloss, nicht jedoch auf institutionelle Angleichung zielte. Die moderne Forschungsuniversit¨at ging aus Wettbewerb hervor, ohne Entwicklungsplan mit dem Ziel einer Homogenisierung der Universit¨aten in Europa zur europ¨aischen Universit¨at. Wettbewerb lautet auch die heutige Zauberformel. Gemeint ist aber etwas g¨anzlich anderes als bisher. Aus dem Leistungswettbewerb auf der Grundlage unterschiedlicher Universit¨atsstrukturen in Europa wird k¨unftig ein Wettbewerb im einheitlichen Geh¨ause einer europ¨aischen Universit¨at; so jedenfalls die Planung. Ein Einheitsgeh¨ause als Voraussetzung fu¨ r die Selbstbehauptung der europ¨aischen Universit¨at der Zukunft auf dem globalen Wissenschaftsmarkt und fu¨ r die Konkurrenz der Universit¨aten untereinander um Spitzenpl¨atze im nationalen und internationalen Wettbewerb – dieses Modell, das Konkurrenz auf der Grundlage von Homogenit¨at erzeugen will, setzt auf ein Maß der Steuerung von Forschung und Lehre, die dem Universit¨atsmodell, das nun auszulaufen scheint, fremd war. Das fu¨ hrt zum zweiten Aspekt: Steuerungsmechanismen.

II Die Universit¨at des 19. Jahrhunderts kannte keine Gesamtplanung. Der enorme Ausbau, der st¨andige Zuwachs an F¨achern verlief anders. Er folgte der Wissenschaftsentwicklung und dem Anstieg der Studentenzahlen sowie externen Anst¨oßen, neue fachliche Bereiche in den Universit¨aten zus¨atzlich zu den bestehenden einzurichten, also wissenschaftsinternen und gesellschaftlichen Anreizen. Beides ließ sich nicht planen. Zumindest besaßen die damaligen Staaten dafu¨ r kein Instrumentarium, und sie zielten auch nicht darauf. Zum Wettbewerb zwischen den Staaten geh¨orte ein leistungsf¨ahiges, expandierendes Wissenschaftssystem. Daran erkannte man die Modernit¨at eines Staates. Deshalb war er bereit zu investieren.Welche neuen Wissenschaftsbereiche entstanden, entzog sich hingegen jeder l¨angerfristigen Planung, denn hier dominierte der internationale Forschungsmarkt. In ihn griff der Staat auch dort, wo die Universit¨at eine staatliche Einrichtung war, erst sp¨at ein. Er honorierte, was sich zuvor in der Forschung herausgeformt und durchgesetzt hatte, indem er daf u¨ r neue Professuren und zunehmend auch Institute einrichtete. Deutschlands Universit¨aten, ihr enormes Wachstum und ihr Aufstieg zur Weltgeltung im 19. Jahrhundert bieten dafu¨ r ein gutes Anschauungsbeispiel.Wolf Singer hat den institutionellen Aufbau der Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft in der gleichen Weise beschrieben. 3 Die deutschen Staaten steuerten die m¨achtige Expansion ihrer Universit¨aten im 19. Jahrhundert inhaltlich nicht und finanzierten sie auch nur zu einem Teil. Der Kern dieser erstaunlichen Flexibilit¨at war der Privatdozent. Zur For3

Singer 2002.

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schung verpflichtet, denn nur durch sie konnte er sich beruflich qualifizieren und auf eine Professur hoffen, trieb er den wissenschaftlichen Fortschritt durch stetige Spezialisierung voran, und als staatlich unbesoldeter Lehrer, der H¨orgelder von den Studenten erhielt, sorgte er dafu¨ r, dass die Ausbildung trotz der anschwellenden Studentenzahlen weiterhin funktionierte, und zwar auf der Grundlage eigener Forschung. Im Gegensatz zum Professor war der Privatdozent eine Gesellschaftsfigur – als Forscher ein gl¨ucklicher Mensch, doch wenn er von seiner Forschung und Lehre leben, ein gesichertes Einkommen erzielen wollte, ein Hasardeur, wie ihn schon Max Weber genannt hatte. Immer l¨anger mußte er im „Fegefeuer des Privatdozententums“ ausharren. Schon 1910 hatte Max Lenz es in seinem Werk zum hundertj¨ahrigen Jubil¨aum der Berliner Universit¨at beklagt. 4 Seit dem Wandel zur modernen Forschungsuniversit¨at wurden n¨amlich, und das bis heute, die Qualifikationsh¨urden zur Universit¨atsprofessur zunehmend erh¨oht, der H¨urdenlauf dauerte immer l¨anger und sein Ausgang wurde ungewisser. 1910 stellte der sogenannte ordentliche Lehrk¨orper an allen deutschen Universit¨aten, also diejenigen, die ein staatliches Gehalt erhielten, zu dem die H¨orergelder als veranstaltungsbezogene Studiengeb¨uhren kamen, nur noch etwa ein Drittel aller dort Lehrenden. An der K¨oniglichen Friedrich-Wilhelms-Universit¨at zu Berlin wuchs im Laufe des 19. Jahrhunderts die Zahl der Lehrenden um etwa das Achtfache, die Zahl der Ordinarien hingegen nur um das Vierfache, w¨ahrend das Heer der Extraordinarien und der Privatdozenten um das Zw¨olffache anschwoll. 5 Diese Form von Wissenschafts- und Universit¨atsentwicklung kann heute kein Vorbild sein. Doch es w¨urde sich lohnen, darauf zu achten, wie man damals erreichte, daß die Universit¨atsexpansion der Forschungsentwicklung folgte, und zwar ohne das Zwangsgeh¨ause administrativer Gesamtplanung und Detailsteuerung. Die damalige Universit¨at pr¨asentiert sich im R¨uckblick wie ein großes Laboratorium, in dem die Forscher als Individuen Neues erkunden, ihre Ergebnisse zur Diskussion stellen, und nur was sich in ihr durchsetzt, wird in die Universit¨at dauerhaft aufgenommen – in Gestalt einer neuen Professur, eines neuen Instituts. Daraus entstehen dann neue F¨acher oder Teilf¨acher, die in der Examensordnung verankert werden. Der administrative Akt seitens der Universit¨at oder des zust¨andigen Ministeriums steht am Ende dieses Entwicklungsprozesses. Er kennt weder eine zentrale Gesamtplanung noch zentrale Steuerungsmechanismen. Und selbstverst¨andlich gab es auch nicht die f u¨ rsorgliche Guillotine, unter die Frau Ministerin Bulmahn diejenigen Forscher legen l¨aßt, die nicht innerhalb von zw¨olf Jahren den Sprung vom Examen auf die Professur geschafft haben. Sie m¨ussen nun den Forschungsmarkt verlassen, auch wenn dieser willens ist, sie zu honorieren, weil er ihre Leistungen 4

5

Lenz 1910–1918, Schmeiser 1994.Wichtig dazu, mit den genauesten Zahlen u¨ ber den Berufsweg von Dozenten: Paletschek 2001b. Wagner 1896, 20; weitere Daten und Fachliteratur: Langewiesche 1994, 2001b. Die besten Zahlen: Paletschek 2004.

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nachfragt. Diese Staatsanmaßung gab es fr¨uher nicht. Steuerung gab es auch damals. Doch es war eine nachlaufende Planung und Steuerung, die aus dem ausw¨ahlte, was in der Forschung dezentral und individuell entwickelt und dann erst in einem kollektiven Prozess des Pr¨ufens aufgenommen und weitergefu¨ hrt wurde. Auch damals kamen externe Anst¨oße hinzu, doch am Anfang steht die Forschung, erst dann folgt die institutionelle Umsetzung durch universit¨are und außeruniversit¨are Gremien. Dieses Verfahren mit Vorlauf der Forschung vor der administrativen Planung und Steuerung gilt der Universit¨at der Zukunft,wie sie sich abzeichnet,als g¨anzlich veraltet, ineffizient und nicht mehr konkurrenzf¨ahig auf dem globalen Wissenschaftsmarkt. Gesamtplanung und Detailsteuerung sind die neuen Zielwerte, auf die hin die Universit¨at zur Zeit umgebaut wird. Es ist ein Umbau der Fundamente. Denn die Universit¨at der Zukunft wird als St¨atte der Forschung und der Ausbildung in neuer Weise anhand von Kriterien gemessen, bewertet und finanziert, die nicht mehr vorrangig von den Forschern bestimmt werden. Politische Institutionen sprechen in viel h¨oherem Maße als bisher mit, welche Forschungsbereiche ausgebaut werden sollen und welche nicht, nach welchen Kriterien die Forschungs- und Lehrleistungen bewertet werden. 6 Das Planungs- und Steuerungsinstrumentarium daf u¨ r ist schon jetzt weitgef¨achert und wird z¨ugig ausgebaut. Um nur einiges zu nennen: Das Wissenschaftsministerium schließt sogenannte Zielvereinbarungen mit der Universit¨at, die Universit¨atsleitung mit den Fakult¨aten, F¨achern und was es sonst an Forschungs- und Lehreinheiten geben mag. Die Universit¨atsleitung erh¨alt per Gesetz eine F¨ulle von Planungs- und Steuerungsrechten, die darauf zielen, die Hochschule wie ein Wirtschaftsunternehmen leiten und auf neue Aufgaben ausrichten zu k¨onnen. Um dies voranzutreiben erh¨alt die Universit¨atsleitung selber Organe, die von außen besetzt werden, vor allem auch mit Mitgliedern, die nicht wissenschaftlich t¨atig sind. Fakult¨at und Senat als die zentralen Organe bisheriger universit¨arer Selbststeuerung verlieren dagegen Zust¨andigkeiten sogar im Allerheiligsten universit¨arer Selbstbestimmung, der Auswahl k¨unftiger Professoren. Das neue Hochschulgesetz Baden-W¨urttembergs nimmt hier der Fakult¨at jede Entscheidungskompetenz, und der Senat muss nicht einmal gefragt werden. Der neuen zentralisierten Entscheidungshierarchie im Innern der Universit¨at entspricht das steigende Gewicht der Programmforschung, deren Schwerpunkte außerhalb der Universit¨at festgelegt werden. Beides tendiert dahin, das Planungs- und Steuerungsinstrumentarium abzukoppeln von den dezentralen wissenschaftsinternen Entwicklungen als der bisherigen Grundlage nachlaufender institutioneller Entscheidungen. Die Wissenschaftsf¨orderung der Europ¨aischen Union ist g¨anzlich auf Programmforschung ausgerichtet, aber auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, f u¨ r die deutschen Universit¨aten der 6

Das ist eine internationale Entwicklung, deren Ursachen Weingart 2001 plausibel darlegt.

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wichtigste und angesehenste Finanzier, wurde von der international besetzten Kommission, die sie evaluiert hatte, empfohlen, st¨arker als bisher auf strategische Planung zu setzen. Das sogenannte Exzellenzprogramm ist g¨anzlich darauf ausgerichtet. Forschung, in denen der einzelne bestimmt, wor¨uber er forschen will, ist in der Politik, aber auch im Wissenschaftsmanagement heute nicht mehr gern gesehen. Sie paßt nicht mehr in die Universit¨at der Zukunft, deren Markenzeichen ein scharfes Profil sein soll. Profilbildung geh¨ort zu den Zauberspr¨uchen im derzeitigen Umbau der deutschen Universit¨at. Nur was groß ist, gilt als leistungsstark. Man offeriert ein Programm, mit dem die Universit¨at f¨ahig gemacht werden soll, auf dem Wissenschaftsmarkt in einem bestimmten Segment m¨oglichst weltweit zum Marktf u¨ hrer zu werden. Was nicht zu diesem Profil passt, soll zur¨uckgestutzt oder abgestoßen werden, wie ein Wirtschaftsunternehmen, das sich von Produktionsbereichen trennt, in denen die Rendite nicht mehr die Erwartungen der Aktion¨are erfu¨ llt. All dies – vieles w¨are noch zu nennen – folgt der Vision von einer anderen Universit¨at. Planung und Steuerung folgen nicht mehr der Wissenschaft, sondern gehen ihr voraus und weisen ihr die Richtung, indem vorg¨angig bestimmt wird, was erforscht werden soll und was nicht. Oder zumindest, wozu Geld gegeben wird und wof u¨ r nicht. Der Einzelforscher als Nischenexistenz wird vielleicht auch k¨unftig u¨ berleben k¨onnen, es sei denn, er wird im Wettbewerb um die erste Professur rechtzeitig als Drittmittelversager erkannt und ausgesiebt. Daß damit auch etliche Wissenschaftler, die von der DFG mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis ausgezeichnet wurden, durchgefallen w¨aren, sei zumindest angemerkt.

III Mit diesem neuen Verh¨altnis von Forschung und planender Außensteuerung ver¨andern sich grundlegend die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Staat ¨ und Offentlichkeit, die Immanuel Kant 1798 in seiner Schrift „Streit der Fakult¨aten“ zu bestimmen versucht hatte. 7 Kant hatte eine Universit¨at vor Augen, die ihren Ort nur finden kann, wenn sie die Suche nach Wahrheit und nach n¨utzlichem Wissen innerhalb ihrer Mauern zusammenf u¨ hrt. Ausschließlich selbstbestimmt w¨are sie nicht mehr in der Gesellschaft verankert, vorrangig fremdbestimmt w¨are sie keine Universit¨at mehr. Den Ausgleich zwischen diesen beiden Polen legt er in die Selbstverantwortung der Universit¨at. M¨oglich sei ihr dies nur in freier wissenschaftlicher Diskussion. In sie nicht regelnd einzugreifen, liege im Interesse von Staat und Gesellschaft. Das Grundproblem, u¨ ber das Kant nachgedacht hat, ist heute so aktuell wie ehedem: Wie l¨aßt sich zwischen Autonomie des einzelnen Wissenschaftlers 7

Vgl. insbesondere Brandt 2003.

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und der Nutzenerwartung der Gesellschaft, die ihn finanziert, ein Weg finden, welcher das Kalk¨ul der Interessenten befriedigt und dennoch auch Forschung erm¨oglicht, deren Nutzen im voraus nicht abgesch¨atzt werden kann und sich deshalb einer nutzenorientierten Planung entzieht? Kant setzte auf einen Staat, der erkennt, aus Eigeninteresse interesselose Forschung f¨ordern zu sollen. Im Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit und in der Universit¨atsverfassung, wie sie im 19. Jahrhundert in vielen Staaten Europas entstand, wurde verankert, was Kant forderte. Die konkrete Umsetzung blieb prek¨ar, doch die Normen waren eindeutig und die institutionellen Regeln auf sie zugeschnitten. Die neuen Hochschulgesetze gehen einen anderen Weg. Sie verk¨unden zwar Autonomie, doch sie o¨ ffnen im Gegenteil Universit¨at und Wissenschaft programmatisch f u¨ r die Außensteuerung – als Ziel wohlgemerkt, nicht als ungeplante Folge von Reform. Wie die Universit¨at der Zukunft aussehen wird, die daraus in Deutschland hervorgehen wird, weiß niemand. Nicht zu u¨ bersehen ist jedoch, dass ihre Architekten und Bauherren einen radikalen Umbau erzwingen, den sie nach einem Bauplan entwerfen, auf dem das Heute und Gestern bis zur Unkenntlichkeit geschw¨arzt ist. Dies festzustellen bedeutet jedoch nicht zu meinen, das Eingreifen der Politik in die Universit¨at sei neu. Keine Vorl¨aufer kennt jedoch – sieht man einmal von der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur ab – die Radikalit¨at des heutigen Umbaus, der an die Substanz geht. Doch auch in den rund zweihundert Jahren, in denen die moderne Universit¨at aus der Verbindung von Forschung und Lehre entstand, saßen die deutschen Hochschullehrer nie im politikfernen Elfenbeinturm. Manche haben sich dorthin gesehnt, doch die Universit¨at hat sich nie den Arenen der Politik ferngehalten, und wenn sie es versucht h¨atte, w¨are es ihr nicht m¨oglich gewesen. Dazu waren die deutschen Universit¨aten von Beginn an viel zu staatsnah. Sie entstanden in der Obhut des Landesherrn, und er nahm sie als St¨atten der Ausbildung und der Beratung in die Pflicht. Die Geschichte der Universit¨at war ein Glied im Jahrhunderte w¨ahrenden Entstehungsprozeß des modernen Staates, und bis heute greifen die staatlichen Entscheidungsinstanzen in die Hochschulen in vielf¨altiger Weise ein und bestimmen ihre Ordnung. Daß dies nicht selten den Hochschulen genutzt hat, wird man nicht ernsthaft bestreiten k¨onnen. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat die enge Bindung zwischen Staat und Wissenschaftsorganisation erneut best¨atigt. Mit der staatlichen Neuordnung standen auch die Hochschulen in ihrer fr¨uheren Gestalt zur Disposition.Die Aufl¨osung der DDR und deren Integration in die Bundesrepublik gingen ¨ einher mit der Ubernahme der westdeutschen Struktur der Wissenschaftslandschaft. Diese blieb davon nicht unber¨uhrt. Die außeruniversit¨are Forschung wurde aus der Perspektive der westdeutschen Wissenschaftslandschaft – von ¨ der Offentlichkeit und auch von vielen Hochschullehrern noch kaum bemerkt – erheblich erweitert. Denn mit der Leibniz-Gemeinschaft erhielt sie eine weitere kr¨aftige S¨aule neben der Max-Planck- und der Fraunhofer-Gesellschaft.

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Gleichwohl wurde die Zahl der außeruniversit¨aren Forschungseinrichtungen, die es in der DDR gab, radikal vermindert. Die Arbeitsbedingungen der Hochschulen werden ver¨andert, wenn es die Politik will. Das war auch in der Vergangenheit so. Selbst Privatuniversit¨aten sind dagegen nicht gefeit, wie der Blick nach Großbritannien lehrt. Wo die Hochschulen Anstalten des Staats sind, greift dieser allerdings unmittelbarer durch. Was zur Zeit in Deutschland unter dem Etikett Hochschulautonomie daher kommt, hat die staatliche Regelungslust nicht ged¨ampft. Im Gegenteil, Universit¨atsautonomie kann sich die gegenw¨artige Politik offensichtlich nur vorstellen, wenn die Universit¨aten programmatisch der institutionalisierten Außensteuerung ge¨offnet werden. Der Staat zieht sich aus Teilbereichen zur¨uck, tritt die aufgegebenen Kompetenzen jedoch an eine Universit¨at ab, die in Kernbereichen ihre Autonomie verliert. Begrenzter Freiraum wird vor allem dort gew¨ahrt, wo es darum geht, die staatlichen K¨urzungsprogramme – in Baden-W¨urttemberg heißen sie „Solidarpakt“, in Nordrhein-Westfalen „Qualit¨atspakt“ – auszuf u¨ hren. Die neue Selbst¨andigkeit beginnt mithin in der Verwaltung der Schrumpfungsauflagen. Hochschullehrer geh¨oren also weiterhin einer Institution an, die an der finanziellen und administrativen Nabelschnur des Staates h¨angt und auf die ¨ Anderungsvorlagen reagieren muß, die ihr immer aufs Neue ohne gr¨oßere Erprobungspausen zugestellt werden. Auch deshalb w¨are es ohne Realit¨atssinn, vom Elfenbeinturm Universit¨at zu sprechen. Die Universit¨at ist in ihren Ordnungen und Ressourcen eine durch und durch staatlich gestaltete Institution.

IV Nicht nur, weil der Staat st¨andig in sie hineinwirkt, ist die deutsche Hochschule ein politischer Raum. Ihre Struktur und Wirkungsm¨oglichkeiten werden zudem durch die Erwartungen gesellschaftlicher Gruppen bestimmt.Auch das ist nicht neu, wenngleich die Hauptakteure andere und die Einwirkungen weitaus intensiver geworden sind. Dieter Grimm hat die Entwicklungslinien knapp und pr¨azise erl¨autert, als er im Oktober 2001 sein Amt als neuer Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin antrat: „Die Erwartungen an die Universit¨aten, als ,Zulieferbetriebe’ f u¨ r die Gesellschaft zu fungieren, hat sich entschieden verst¨arkt.“ Und die Abnehmer haben „die R¨ange getauscht [. . . ]: von der Kirche u¨ ber den Staat zur Wirtschaft. Der Unterschied liegt im Wie der Erfu¨ llung. F¨ur das Wie hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine große Errungenschaft durchgesetzt. Die Wissenschaft sollte ihren Dienst an der Gesellschaft nicht in Dienstbarkeit f u¨ r andere gesellschaftliche Teilsysteme leisten, sondern in Autonomie. Damit war nicht gemeint: ohne R¨ucksicht auf die Bed¨urfnisse der Gesellschaft, wohl aber: nach den Kriterien, die der Wissenschaft eigen sind, nicht nach denen, die f u¨ r Religion oder Politik gelten.“ Heute werde, so Grimm, von der Wissenschaft verlangt, nach „dem Vorbild der Wirtschaft“

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zu funktionieren und die Universit¨aten „als Unternehmen zu verstehen“. Daß Wirtschaft und Staat dies fordern, u¨ berrasche nicht, denn beide versprechen sich davon steigende Ertr¨age bei sinkenden Kosten, doch u¨ berraschend findet er „die Bereitwilligkeit, mit der sich die Wissenschaft selber auf das Ansinnen einl¨aßt.“ Ich fu¨ ge hinzu: In Wissenschaftsgremien, in denen ich mitwirken durfte, habe ich Unternehmer kennengelernt, welche die Andersartigkeit des Wissenschaftssystems erkannt und verteidigt haben. Es ist wohl doch in erster Linie der Staat, der hofft, im Wirtschaftsunternehmen Universit¨at noch weiter steigende Anteile der Gesellschaft kostenneutral durch die Hochschulen schleusen zu k¨onnen. Dieter Grimm pl¨adiert daf u¨ r, jedem Funktionsbereich seine eigenen Kriterien zuzugestehen, an denen er sich orientiert und seine Leistung gemessen wird. Nur dann werden die Teilsysteme Wissenschaft, Staat und Wirtschaft aneinander Nutzen haben, nicht aber, wenn die Universit¨aten gezwungen werden, sich an wissenschaftsfremden Kriterien auszurichten. Die Wirtschaft m¨usse die Lektion nachholen, die der Staat „m¨uhsam und unter vielen R¨uckschl¨agen gelernt“ habe: Das Teilsystem Wissenschaft ist dann am n¨utzlichsten fu¨ r die gesamte Gesellschaft, wenn es seinen eigenen Kriterien folgen darf. 8 Dieter Grimms klare Analyse hat allerdings, so lassen die gegenw¨artigen Entwicklungen befu¨ rchten, einen schwachen Punkt: Der Experte f u¨ r Verfassungsrecht und ehemalige Bundesverfassungsrichter u¨ bersch¨atzt vermutlich die Verhinderungskraft des Rechts, wenn er hofft, der Staat werde „heute grundrechtlich daran gehindert“, die Lektion, die er seit dem fr¨uhen 19. Jahrhundert st¨orrisch gelernt hat, „wieder zu vergessen.“ 9 Die grundrechtlich gesch¨utzte Wissenschaftsfreiheit kann durchaus still in einer Vielzahl kleiner Schritte ausgeh¨ohlt werden, wenn durch administrative Regelungen die Kriterien f u¨ r wissenschaftliche Leistung ver¨andert werden. Dieser Prozeß des partiellen Vergessens ist zur Zeit in vollem Gange, ohne daß zu erkennen w¨are, wie er mit Rechtsmitteln gestoppt werden k¨onnte, beruht er doch selber auf gesetzlicher Grundlage: auf dem neuen Hochschulrecht, das die Parlamente beschlossen haben und die zust¨andigen Ministerien und die Hochschulen derzeit in schnellen Sch¨uben umsetzen. Korrekturen d¨urften nur m¨oglich sein, wenn u¨ ber die m¨oglichen gesellschaftlichen Folgen dieser Neubestimmung von Wissenschaft durch von außen vorgegebene Leistungskriterien eine breite politische Diskussion gefu¨ hrt wird. Sie ist jedoch nicht abzusehen. Die o¨ ffentliche Stille, in der die Bauherren der neuen Universit¨at ihre radikalen Pl¨ane durchf u¨ hren k¨onnen, d¨urfte zum erheblichen Teil an der Reformrhetorik liegen, mit der sie verh¨ullen, was sie tun, um den ,Standort Deutschland’ auch auf dem Wissenschaftsmarkt wettbewerbsf¨ahig zu machen. Global, selbstverst¨andlich. Drastische K¨urzungen des staatlichen Etats 8 9

Grimm 2001, Zitate 37–39. Ebd., 38.

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der Hochschulen – bei steigenden Studentenzahlen und ebenfalls steigendem Verwaltungsaufwand in Gestalt von Evaluierungen und Akkreditierungen – heißen Solidar-, Qualit¨ats- oder Zukunftspakt, Abbau von F¨achern, die nicht profitabel genug erscheinen, wird als Profilbildung ausgelobt, drastische Senkungen k¨unftiger Professorengeh¨alter kommen als leistungsbezogene Besoldung daher, obwohl die Hochschulen kaum Mittel haben, um Leistungszulagen zu zahlen, und Finanzierungsank¨undigungen, die gemessen an den Etats der amerikanischen Spitzenuniversit¨aten sehr bescheiden sind, werden als Exzellenzprogramme ausgelobt. Die Medien machen dieses Spiel mit Worten mit, statt die Verh¨ullungssprache zu entbl¨attern. Es reizt sie nicht, das Exzellenzgerede von Bund und L¨andern dem o¨ ffentlichen Nachdenken auszusetzen, indem sie den Worth¨ulsen der Politik ein polemisches Wort entgegensetzen. PeanutsExzellenz schiene mir angemessen. Darf man in der Wissenschaftspolitik unbehelligt von o¨ ffentlicher Kritik den radikalen Umbau wagen, vor dem Wirtschafts- oder Sozialpolitiker zur¨uckschrecken, weil der Gesellschaft die Universit¨aten zu unwichtig sind, um sich ernsthaft mit ihnen zu befassen? Bildungspolitik scheint mit dem Stimmzettel weder honoriert noch bestraft zu werden, also ein ideales Feld, um Reformwillen zu bekunden. Zudem werden die Folgen der radikalen Eingriffe, die zur Zeit erzwungen werden, erst zu sp¨uren sein, wenn die Verantwortlichen von heute nicht mehr in Amt und W¨urden sein werden. Allen Klagen u¨ ber die vermeintliche Unbeweglichkeit unserer Politik zum Trotz haben sie die Wissenschaftspolitik als ihr Reformfeld entdeckt, auf dem das Bestehende großfl¨achig abgewrackt werden kann, ohne die Leistungsf¨ahigkeit der Neubauten schon zu kennen oder gar im kleinen getestet zu haben. Fehlschl¨age tun hier politisch nicht weh, denn in den Wahlen spielt die Wissenschaftspolitik keine bedeutenden Rolle – ungeachtet aller wohlfeilen Bekenntnisse zur Wissensgesellschaft. Die heutigen Bildungspolitiker kennt man zwar kaum mehr, wie Peter Glotz 10 mit Blick auf die großen bildungspolitischen Namen der siebziger Jahre k¨urzlich bemerkte, doch ihr Wille zur Ver¨anderungsradikalit¨at steht in einem merkw¨urdigen Kontrast dazu. Oder bedingt sich beides? ¨ Wie auch immer man einsch¨atzt, was zur Zeit an Anderungen erzwungen wird, es best¨atigt sich erneut, daß die Hochschule ein politischer Raum ist. An dessen Gestaltung werden die Hochschullehrer nur mitwirken k¨onnen, wenn sie die Folgen dieser Eingriffe fu¨ r ihre Arbeit als Wissenschaftler er¨ kennen und ihre Sicht der politischen Offentlichkeit vermitteln, um auf diejenigen politischen Einfluß zu gewinnen, welche die Verfahrensregeln an den Hochschulen bestimmen. Die Wissenschaft muß sich in diesem politischen Prozess der Neuordnung der Hochschulen und der Wissensproduktion durch o¨ ffentliche Debatten Geh¨or verschaffen, wenn sie u¨ berhaupt geh¨ort werden will.Doch weiß sie,was sie sagen will? Lassen die Arbeitsbedingungen in einem 10

FAZ v. 9. Februar 2005.

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¨ un¨ubersichtlichen F¨acherspektrum zwischen Agyptologie und Zahnmedizin noch gemeinsame Positionen der Hochschullehrer zu?

V So groß die Unterschiede zwischen einem geisteswissenschaftlichen „Orchideenfach“, dessen Leistungsf¨ahigkeit an der jeweiligen Universit¨at ganz von der Qualit¨at des einen Gelehrten abh¨angt, der es dort mit einer einzigen Professur vertritt, und einem großen arbeitsteilig organisierten Laborfach auch sind – sie stehen gemeinsam vor Problemen, die in dieser Sch¨arfe neu sind. Einige von ihnen sollen skizziert werden. In den letzten zwei Jahrhunderten sind die Wissenschaften, gemessen an der Zahl der beteiligten Menschen und der Ver¨offentlichungen, exponentiell gewachsen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beschleunigte sich die Wachstumsrate noch einmal. Inzwischen hat sie sich etwas verlangsamt. 11 Diese Entwicklung und auch die Feinsteuerung, die dabei zu beobachten ist, h¨angen von den Ressourcen ab, die zur Verfu¨ gung gestellt werden, also von politischen Entscheidungen. Sie bestimmen, welche Wissenschaftsbereiche st¨arker wachsen als andere. In der Bundesrepublik Deutschland bedingte diese politische Ressourcensteuerung einen relativen Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften. In der dreißigj¨ahrigen Wachstumsphase seit 1954 sank ihr Anteil am gesamten wissenschaftlichen Personal von 14,8 auf 8,9 Prozent, obwohl die Zahl der Geisteswissenschaftler, die an den deutschen Hochschulen t¨atig waren, in dieser Zeit um das Siebenfache anwuchs. 12 Doch auch die klassischen Naturwissenschaften haben es schwer, sich gegen die sogenannten Lebenswissenschaften zu behaupten, denn auf letzteren ruhen gegenw¨artig die gr¨oßten ¨ gesellschaftlichen Hoffnungen (und auch Angste). Deshalb erhalten sie wachsende Anteile an den Ressourcen, welche die Politik zur Verfu¨ gung stellt. Und genau dies – die H¨ohe der F¨ordermittel, die F¨acher auf sich lenken k¨onnen – ist zu einem der wichtigsten Kriterien geworden, wenn wissenschaftliche Effizienz und Qualit¨at gemessen und bei der Mittelverteilung wie auch bei der Einrichtung neuer Forschungszentren oder einzelner Professuren belohnt werden. An den deutschen Hochschulen wird zur Zeit erprobt, wie die neuen Kriterien umgesetzt werden k¨onnen, und die L¨ander haben begonnen, auch zwischen ihren Hochschulen den Wettbewerb um die Landesmittel nach den neuen Leistungskriterien zu steuern. Die eingeworbenen Drittmittel spielen dabei eine zentrale Rolle. Hochschullehrer, die auf die Verteilungsregeln und damit auf die Kriterien, nach denen wissenschaftliche Leistung fachextern bemessen und honoriert wird, Einfluß nehmen wollen, m¨ussen zwangsl¨aufig Wissenschaftspolitik treiben, denn die Spielregeln werden im politischen Raum 11 12

Weingart 2001. Weingart 1991, 78, 94.

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entschieden. Wenn dort die Drittmittelquote, die ein Fach und der einzelne Professor einwirbt, zum obersten Leistungsmaßstab erhoben wird, sind die Hochschulleitungen gezwungen, diesen Maßstab auch intern anzulegen, um nicht die Konkurrenzf¨ahigkeit ihrer Hochschule zu gef¨ahrden. Wer wollte es dem Rektor einer alten Universit¨at, die noch u¨ ber das volle, historisch gewachsene traditionelle F¨acherspektrum verfu¨ gt, ver¨ubeln, wenn er der Versuchung nachg¨abe, die Alternative zwischen Wiederbesetzung des einzigen Lehrstuhls f u¨ r – sagen wir – Indologie oder einer zus¨atzlichen Professur f u¨ r Molekularbiologie zugunsten des h¨oheren Drittmittelpotentials zu entscheiden. T¨ate er es nicht oder zu oft nicht, w¨urde die gesamte Hochschule f u¨ r den Existenzschutz, den sie vermeintlich Leistungsschwachen angedeihen l¨aßt, finanziell durch das Land bestraft und damit in ihrer Wettbewerbsf¨ahigkeit geschw¨acht. Was als Anreiz zur Leistungssteigerung geplant ist, k¨onnte zum Leistungszusammenbruch von F¨achern f u¨ hren oder sie ganz ausl¨oschen. Denn der Vergleich mit den Marktregeln der Wirtschaft, der so gerne bem¨uht wird, ¨ f u¨ hrt in die Irre. Wird die Uberlebensf¨ ahigkeit von Hochschulf¨achern einseitig nach ihrem Drittelmittelpotential entschieden, so geht es nicht darum, den leistungsst¨arksten Anbieter zu belohnen, sondern ob bestimmte F¨acher u¨ berhaupt noch angeboten werden sollen oder durch andere ersetzt werden m¨ussen. Die politisch gesetzten Kriterien der Ressourcensteuerung k¨onnen also nicht nur wissenschafts- und fachinterne Bewertungsmaßst¨abe verdr¨angen, sondern u¨ ber das Existenzrecht von F¨achern entscheiden. Die Frage, ob gesellschaftlicher Nutzen und Drittmittelnutzen von F¨achern u¨ bereinstimmen, l¨aßt sich nicht nach wissenschaftlichen Kriterien entscheiden. Denn das w¨urde voraussetzen, den „Kulturwert“ dieser F¨acher vergleichend bestimmen zu k¨onnen. Der Philosoph Karl Jaspers hatte sich dies 1945 in seiner ber¨uhmten Schrift „Die Idee der Universit¨at“ noch zugetraut. Er gab eine Antwort, die wir heute, nur etwas mehr als ein halbes Jahrhundert sp¨ater, schon nicht mehr akzeptieren werden, jedenfalls nicht in der Folgerung, die er aus seinem Urteilsmaßstab zog: Nur „Grundwissenschaften“, die im „Kosmos der Wissenschaften ein unersetzliches Glied“ beisteuern, d¨urfen als eigenes Fach auftreten. „Indologie und Sinologie“ sind „Grundwissenschaften“, meinte er, „aber nicht Afrikanistik und Vorgeschichte, das liegt an dem Gehalt dieser Kulturen.“ 13 Karl Jaspers wußte allerdings, daß er zeitgebunden urteilte, denn er forderte, daß jedes Zeitalter aufs Neue bestimmt, was es fu¨ r wichtig h¨alt. Als er 1945 in Heidelberg vor den ersten Medizinstudenten,die sich nach dem Krieg immatrikulierten, u¨ ber die „Erneuerung der Universit¨at“ einen Vortrag hielt, beschwor er eine Universit¨at, die „den bloßen Schulbetrieb und die sich abschließenden Spezialisierungen verwirft“. 14 Die Universit¨at gebe ihre Idee auf, 13 14

Jaspers 1945, 78. Jaspers 1986, 97.

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wenn sie in ein „Aggregat von Fachschulen und Spezialit¨aten“ 15 zerfalle. Das war bei Jaspers kein Appell, die Universit¨at gegen¨uber neuen Wissenschaftszweigen zu schließen. Ganz im Gegenteil. Der Philosoph beklagte, daß sich die deutsche Universit¨at viel zu lange als unf¨ahig erwiesen habe, „die neuen tats¨achlichen Kr¨afte des Zeitalters, insbesondere die Technik, in den Zusammenhang des Ganzen aufzunehmen und von ihm aus zu durchdringen. Die Erneuerung der Universit¨at m¨ußte die Universit¨at erweitern auf alle großen menschlichen Anliegen unseres Zeitalters und zugleich ihre Einheit wiedergewinnen.“ 16 Was Jaspers hoffte, in philosophischer Reflexion plausibel machen zu k¨onnen, wird k¨unftig wohl vorrangig nach dem Drittmittelpotential entschieden werden. Denn die neuen Verteilungsregeln sind auf den Kurzschluß von Kulturwert und Drittmittelnutzen ausgelegt. Was die sogenannten „kleinen F¨acher“ wie Indologie oder Sinologie, Afrikanistik oder Vorgeschichte, um Jaspers’ Beispiele nochmals zu bem¨uhen, f u¨ r die Gesellschaft leisten, l¨aßt sich aber weder an ihrer Kleinheit – der personellen, denn das Gebiet, fu¨ r das sie zust¨andig sind, ist nicht klein – und auch nicht an ihren Drittmitteln ablesen. Das ist kein Pl¨adoyer gegen die Drittmittelquote als Leistungsmaßstab, sondern dafu¨ r, ihn vern¨unftig anzuwenden. Dazu m¨ußte zweierlei anerkannt werden: Die vielen F¨acher, die Hochschulen heute umfassen, sind nicht in gleichem Maße fu¨ r ihre Forschungen auf Drittmittel angewiesen. Manche brauchen sie nicht oder kaum. Und zweitens verfu¨ gen sie u¨ ber h¨ochst ungleiche M¨oglichkeiten, Drittmittel einwerben zu k¨onnen. Dieses Gef¨alle bei der Notwendigkeit und der M¨oglichkeit, Drittmittelforschung zu betreiben, l¨aßt sich plausibel erfassen und bewerten, wenn die Drittmittelquoten, welche die einzelnen F¨acher oder F¨achergruppen an einer bestimmten Hochschule erzielen, in Relation gesetzt werden zu den Drittmittelquoten dieser F¨acher im Bundesdurchschnitt. Dann w¨urde, um ein Beispiel zu geben, die T¨ubinger Islamkunde nicht mit der T¨ubinger Informatik konkurrieren, sondern beider Drittelmittelleistung w¨urde jeweils f u¨ r sich an der bundesweiten Leistungsbilanz des jeweiligen Fachs gemessen. Erfolg und Mißerfolg w¨urden also fachspezifisch betrachtet und damit an wissenschaftsinterne Qualit¨atskriterien gebunden. Auch zwischen den Hochschulen eines Bundeslandes ließe sich so der Wettbewerb um die Ressourcen, die dieses Land zur Verf u¨ gung stellt, versachlichen, da alte Universit¨aten mit starken geisteswissenschaftlichen Traditionen nicht gegen¨uber Technischen Universit¨aten systematisch benachteiligt w¨urden. Jeder w¨urde in seinem Leistungsprofil mit seinesgleichen verglichen. Dann erfu¨ hre ¨ man, wo die erfolgreichsten Agyptologen und die erfolgreichsten Informatiker sitzen. Dass Informatiker mehr Drittmittel brauchen und einwerben als

15 16

Ebd., 104. Ebd., 103.

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¨ Agyptologen, wissen wir ohnehin. Doch das sagt nichts u¨ ber die Leistungskraft beider F¨acher aus, sondern best¨atigt nur, dass sie anders sind.

VI Mit den neuen Regeln der Ressourcensteuerung innerhalb der Hochschulen und zwischen den Hochschulen eines Landes ver¨andert der Staat die alten Standards f u¨ r wissenschaftliche Qualit¨at gravierend. Die Politik bestimmt, was als wissenschaftlich bedeutsam gilt, indem sie festlegt, wie die Leistung des Faches und des Hochschullehrers honoriert wird. Das neue Wie ist der Qualit¨atsbewertung nach fachlichen Standards, die wissenschaftsintern bestimmt werden, st¨arker entzogen als bisher und offener gegen¨uber außerwissenschaftlichen Vorgaben. Diesen fundamentalen Umbruch in der Bewertung von wissenschaftlicher ¨ Qualit¨at verh¨ullt die Wissenschaftspolitik, indem sie ihn der Offentlichkeit als l¨angst u¨ berf¨alligen Versuch unterbreitet haben, die Hochschulen wettbewerbsf¨ahig zu machen und damit zu modernisieren. Ihr ist ein Lehrst¨uck gelungen, wie man dank einer Sprachpolitik, die den Eindruck vermittelt, durch Reformen Ver¨anderungsdynamik freizusetzen, gesellschaftliche Deutungshegemonie gewinnen kann. Hochschullehrer, die sich nicht damit abfinden wollen, daß eine offene Diskussion verhindert wird, indem das Neue mit dem Nimbus objektiver Leistungsmessung umgeben und das Bisherige pauschal eingeschw¨arzt wird, werden versuchen m¨ussen, eine o¨ ffentliche Debatte anzustoßen. Gefragt ist der homo politicus, der eigene Reformideen entwickelt. Denn es kann nicht darum gehen, ob die Hochschulen reformiert werden sollen – Reformen sind u¨ berf¨allig. Zur Debatte gestellt werden m¨ussen jedoch das Wie und die Ziele der Reform. Dazu muß man allerdings kennen, was man dabei ist aufzugeben. Auch hier haben diejenigen, die gegenw¨artig die Hochschuldebatte bestimmen, ihr Bild heutiger Hochschulwirklichkeit durchgesetzt. Wenn es nicht gelingt, dieses Bild mit seinen unfairen Wertungen und irrigen Vergleichen mit den wenigen amerikanischen Spitzenuniversit¨aten, die unter g¨anzlich anderen Bedingungen arbeiten, zu korrigieren, wird man die ¨ Weichen nicht neu stellen k¨onnen. Wer in der Offentlichkeit u¨ ber das Bild be¨ stimmt, das diese von der Hochschule hat, bestimmt auch, welche Anderungen f u¨ r notwendig gehalten und durchgesetzt werden k¨onnen. Die Universit¨aten ¨ werden nur dann die Aufmerksamkeit der Offentlichkeit und auch deren Unterst¨utzung in der Wissenschaftspolitik gewinnen k¨onnen, wenn sie selber die notwendigen Reformen energisch angehen, so schwer dies auch f¨allt unter dem Druck einer staatlichen Reformhektik, die alle Energien zu verbrauchen droht. Dazu abschließend ein konkreter Vorschlag, der gegenw¨artige Entwicklungen aufnimmt, ihnen aber eine andere Richtung gibt: Personalstruktur und Studiengeb¨uhren.

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Die Personalstruktur der deutschen Hochschule ist nicht mehr zeitgem¨aß. Sie kennt im Karriereweg nur ein hartes Entweder-Oder. Entweder man schafft termingerecht den Sprung vom befristet angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiter auf die Professur oder man scheitert. Dazwischen gibt es an der Hochschule (fast) nichts – eine Wissenschaftsinstitution bestehend aus Auszubil¨ denden und Direktoren. Gleitende Uberg¨ ange, Wartepositionen oder gar dauerhafte Positionen jenseits des Direktorats sind nicht vorgesehen. Das Bulmahn-Gesetz hat dieses Dilemma durchaus im Blick, doch es versucht, das Problem durch erneute staatliche Regulierung zu l¨osen, obwohl mehr Hochschulautonomie versprochen wird. Es will die Anlaufzeit f u¨ r den Sprung auf die Professur auf h¨ochstens zw¨olf Jahre nach Abschluß des Studiums begrenzen: Entm¨undigung im F¨ursorgestaat durch Zwang zum schnellen Berufsgl¨uck. Umwege st¨oren und sind zu vermeiden, Forschung muß in festen Zeittakten geschehen, sonst fu¨ hrt sie k¨unftig beruflich ins staatlich verordnete Abseits. Die Juniorprofessur ist der Eckstein dieses gesetzlich befohlenen Beschleunigungsprogramms. Ob sie das hohe Risiko des Scheiterns auf dem Weg zur Professur abfedern wird und falls ja, f u¨ r wie viele, ist noch nicht abzusehen. Bekannt ist jedoch, warum der heutige Zustand in Deutschland f u¨ r den wissenschaftlichen Nachwuchs so trist ist: Die erfreulich intensive Forschungsf¨orderung hat die Qualifikationswege f u¨ r Aspiranten auf eine Professur erheblich verbreitert, nicht hingegen die Zahl der Professuren entsprechend vermehrt. Die Qualifikation fu¨ r die Professur f u¨ hrt nicht mehr vornehmlich u¨ ber eine begrenzte Zahl von Assistentenstellen. Hinzu kommen die vielen M¨oglichkeiten, die sich Doktoranden und Postdocs auf Projektstellen und in Sonderprogrammen, in Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereichen befristet bieten. Doch danach kommt der Schock: Die Professur ist weiterhin die einzige Dauerstelle f u¨ r Hochschullehrer. Vor diesem Nadel¨ohr gibt es einen wachsenden Stau an Bewerbern, die alle Qualifikationsh¨urden erfolgreich, viele sogar exzellent genommen haben. Mangels verfu¨ gbarer Stellen ist aber selbst f u¨ r die H¨ochstqualifizierten die Passage dieses Nadel¨ohrs zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden. Dieser bitteren Situation, der viele ausweichen, indem sie ins Ausland gehen, verschließt sich das Bulmahn-Gesetz, und auch die Landeshochschulgesetze und die großen Wissenschaftsinstitutionen schweigen. Was k¨onnte getan werden? Gesucht wird ein zukunftsf¨ahiges Konzept, wie man einerseits die heutige Breite der Qualifikationswege beibeh¨alt, andererseits aber die strukturell bedingten individuellen Katastrophen vor dem Nadel¨ohr vermeidet. Es drastisch zu erweitern, ließe sich politisch nicht durchsetzen, denn das hieße, erheblich mehr Professuren schaffen. Also sollten statt dessen vor dem Nadel¨ohr Dauerstellen unterhalb der Professur geschaffen werden, die denen zur Bewerbung offen stehen, die sich daf u¨ r durch Forschungs- und Lehrleistungen qualifiziert haben. Aber keine Mittelbaustellen nach bisherigem Muster. Auch keine Wiederbelebung des Akademischen Rates, denn diese Position war und ist eine

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Sackgasse. In ihr ist man zwar materiell abgesichert, doch abgedr¨angt in die Lehre – hier oft begrenzt auf das Grundstudium – fehlt der Anreiz, sich durch Forschung weiterzuqualifizieren.Wer aufsteigen will, strebt von der Forschung und der Lehre weg zu administrativen Funktionsstellen. Daß dies nicht so sein muß,lehrt die Vielfalt selbst¨andiger Positionen unterhalb der Professur, u¨ ber die britische Universit¨aten – in a¨ hnlicher Weise auch die australischen und kanadischen – verfu¨ gen: Junior und Senior Lecturer, Reader. Sie sind selbst¨andig, und vor allem sind sie auf Lehre und Forschung ausgerichtet, denn der Anreiz – auch der finanzielle –, sich weiter wissenschaftlich zu profilieren, bleibt erhalten, ohne daß der Schritt zur Professur notwendig w¨are. Wer nicht Professor wird, ist nicht und gilt nicht als gescheitert. Bekannte britische Historiker, um nur in mein Fach zu blicken, haben nie dieses Amt angestrebt, was ihrem Ansehen daheim und im Ausland nicht geschadet hat. In Deutschland w¨are das angesichts der Personalstruktur unm¨oglich. Auch das britische System hat seine T¨ucken, doch im Vergleich zum deutschen entsch¨arft es den Hasard des universit¨aren Berufsweges, wovon die Personen und die Institution gleichermaßen profitieren. Gefragt ist Phantasie, wie man sich durch ein solches System zu Reformen, die auf deutsche Verh¨altnisse zugeschnitten werden m¨ussen, anregen lassen kann. Fr¨uher zu erreichende feste und eigenst¨andige Positionen unterhalb der Professur m¨ussen keineswegs zur Verkrustung des Lehrk¨orpers f u¨ hren – vorausgesetzt, diese Stellen sind so konstruiert, daß sie den Anreiz bieten, sich weiterhin durch Forschung und in der Lehre zu qualifizieren. Wie auch immer die Einzelheiten gestaltet w¨urden, sie m¨ußten darauf ausgelegt sein, den fr¨uhen Zugang zu diesen Stellen mit dem Stachel zur Mobilit¨at zu verbinden. Finanzierbar w¨are eine solche differenzierte,abgestufte Personalstruktur,denn f u¨ r die neuen Positionen k¨onnten die bisherigen Mitarbeiterstellen oder doch ein erheblicher Teil von ihnen genutzt werden. Sie erg¨aben gemeinsam mit den Professuren ein Stellenreservoir, das groß genug sein m¨ußte, auf allen Ebenen eine personelle Erstarrung zu vermeiden. F¨ur Doktoranden bliebe der Weg u¨ ber Stipendien oder Forschungsprojekte. Eine Personalreform, die personelle Erweiterung einschließt, darf den Staatsetat nicht belasten, sonst w¨are die Hoffnung darauf illusion¨ar. Die Studiengeb¨uhren, die zur Zeit in etlichen deutschen L¨andern eingefu¨ hrt werden, k¨onnten, so bescheiden sie auch (noch) sind, fu¨ r die Finanzierung zus¨atzlicher Stellen genutzt werden – vorausgesetzt sie kommen bei den Universit¨aten und Fakult¨aten tats¨achlich an und werden nicht in den n¨achsten ministeriellen Sparauflagen, durch neue wohlklingende Worth¨ulsen sorgf¨altig camoufliert, aufgezehrt. Selbst ein mittleres Fach mit nur 500 Hauptfachstudenten w¨urde bei einer Studiengeb¨uhr von 1000 Euro pro Jahr regelm¨aßig eine stattliche Summe erwirtschaften, die aufgeteilt auf Universit¨at und Fakult¨at durchaus einen erheblichen finanziellen Spielraum sch¨ufe. Er sollte genutzt werden, um dauerhafte und auch zeitlich begrenzte Stellen fu¨ r ausgewiesene Wissenschaft-

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ler unterhalb der Professur zu schaffen, gelegentlich auch f u¨ r zus¨atzliche Professuren. Das zu entscheiden, m¨ußte in die alleinige Kompetenz der Hochschulen fallen. Die Chancen unseres hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchses auf dem engen universit¨aren Berufsmarkt w¨urden sich erheblich verbessern, die F¨acher k¨onnten beweglicher als bisher neue wissenschaftliche Entwicklungen institutionell aufnehmen, und die Lehre w¨urde ebenfalls breiter. So verwendet, wird eine breite gesellschaftliche Zustimmung zu Studiengeb¨uhren zu erwarten sein; auch unter den Studierenden. Eine Reform, die in diese Richtung zielte, w¨are geeignet, die deutschen Hochschulen strukturell zu ver¨andern, ohne sie wissenschaftsfremden Kriterien auszuliefern. Das Hochschulgesetzes des Bundes und ihm folgend die Hochschulgesetze der L¨ander setzen hingegen bei der Personalstruktur an Punkten an, die keine strategischen sind. Sie nehmen in Kauf, eine Generation von Wissenschaftlern, die ihre Berufswege nach anderen Regeln antraten, auszustoßen – „verschrotten“ hat man es im zust¨andigen Bundesministerium genannt 17 –, ohne die jetzige Situation strukturell zu a¨ ndern. Damit verbauen diese Gesetze die Chance zur u¨ berf¨alligen gr¨undlichen Reform der Personalstruktur deutscher Hochschulen, und sie l¨ahmen auch in anderen Bereichen die Bereitschaft zur Universit¨atsreform von innen heraus. Eine kluge Politik sollte so nicht handeln. Um ihr dies nahezubringen, m¨ussen die Hochschulen politisch aktiv werden. Sie sind ein politischer Raum, also sollten ihre Angeh¨origen versuchen, ihn politisch mitzugestalten, so schwer Wissenschaftlern dies verst¨andlicherweise f¨allt.

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