Ökonomisierung der Wissensgesellschaft: Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft? [1 ed.] 9783428533060, 9783428133062

Der Begriff "Wissensgesellschaft" steht für einen von mehreren zeitgenössischen soziologischen Versuchen, die

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Ökonomisierung der Wissensgesellschaft: Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft? [1 ed.]
 9783428533060, 9783428133062

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Ökonomisierung der Wissensgesellschaft Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?

Herausgegeben von Ralf Diedrich Ullrich Heilemann

Duncker & Humblot · Berlin

Ökonomisierung der Wissensgesellschaft

Ökonomisierung der Wissensgesellschaft Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?

Herausgegeben von Ralf Diedrich Ullrich Heilemann

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13306-2 (Print) ISBN 978-3-428-53306-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-83306-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der Begriff „Wissensgesellschaft“ steht für einen von mehreren zeitgenössischen soziologischen Versuchen, die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, namentlich die hoch entwickelten Industriegesellschaften, zu charakterisieren. „Wissen“ wird zwar bereits von der Aufklärung, vor allem aber seit der Industriellen Revolution nicht nur als Quelle des Erkenntnisfortschritts, sondern vor allem als entscheidende Ressource und Grundlage ökonomischer und politischer Macht und bürokratischer Herrschaft gesehen. Der Begriff selbst ist indessen vergleichsweise jung. Er wird meist Peter Drucker zugeschrieben, aber auch die ökonomischen Stufentheoretiker der 1940er und 1950er Jahre, allen voran Colin Clark und Jean Fourastié, und die Soziologen C. Wright Mills und Daniel Bell dürfen Patenschaft beanspruchen. 1 Konzepte wie „Informationsgesellschaft“, „Kommunikationsgesellschaft“ oder „Wissenschaftsgesellschaft“ stellen wahlweise Ergänzungen oder Alternativen zur „Wissensgesellschaft“ dar. Wie bei grand theory unvermeidlich bietet das Konzept in seiner Allgemeinheit oder Offenheit zahlreiche Möglichkeiten für Präzisierungen und Abgrenzungen. Einigkeit dürfte darin bestehen, dass im Mittelpunkt Wissen steht, das sich vom Alltagswissen insofern unterscheidet, als es nicht Jedermann erlangen kann; Wissen, das als strategisch bedeutsame Ressource im wirtschaftlichen Wettbewerb und in der politischen Auseinandersetzung anzusehen ist. 2 Dazu gehören vorzugsweise wissenschaftliches und technisches Wissen oder, allgemein, Wissen, das Akteuren, die über dieses Wissen verfügen, erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten und neue Möglichkeiten des Eingreifens in die Welt eröffnet. 3 Diese weit gefasste Eingrenzung deutet auf vielfältige Zusammenhänge zwischen den Teilbereichen der Wissensgesellschaft hin, wobei von reflexiven und wechselseitigen Bezügen auszugehen ist. Umfang und Intensität dieser Beziehungen sowie Reaktions-, Entwicklungs- und Verlaufsmuster, ob sie sich gleichförmig oder bruchhaft, unidirektional oder reversibel vollziehen, lassen sich vorläufig schwer abschätzen. Das theoretische Verständnis der Wissensgesellschaft ist offenbar noch bescheiden, was angesichts ihrer Komplexität und den alles in allem doch noch beschränkten Erfahrungen nicht überraschen darf. Vorsicht vor allzu schnellen Schlüssen und scheinbar nahe liegenden Erklärungen 1 2 3

Vgl. für eine Übersicht hierzu Stehr (1994), S. 5 ff. Vgl. Kübler (2009), S. 147. Vgl. Stehr (1994), S. 96 f.

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ist angezeigt – historizistische Beschränktheit ist ja geradezu ein Kennzeichen „stufentheoretischer“ Erklärungen und Prognosen. Zeitgenössische Diagnosen neigen nun einmal zu einer Überschätzung der aktuellen Erfahrungen und ignorieren leicht, wie auch die gegenwärtige Diskussion der Folgen der Wissensgesellschaft belegt, dass in der Vergangenheit regelmäßig economic und cultural turns zu beobachten waren – freilich vielleicht nicht in der Häufigkeit, wie wir sie gegenwärtig erleben. Wie vieles andere steht leider auch eine umfassende Darstellung quantitativer Aspekte der Wissensgesellschaft aus, die für eine Einführung in die anstehenden Fragen nützlich sein könnte. Schätzungen des Umfangs der Wissensgesellschaft, gemessen an der Anzahl ihrer Mitglieder, sind offenbar in hohem Maße davon abhängig, welche Institutionen und welche ihrer Angehörigen einbezogen werden. Folgt man der entsprechenden Abgrenzung der Amtlichen Statistik („Sekundäre Dienstleistungen“), so war bereits 1995 ein Anteil von 26 vH der Erwerbstätigen gemessen worden, bis 2010 wurde ein Anstieg auf 32 vH (in absoluten Zahlen rund 13 Mio. Erwerbstätige) prognostiziert. Die Expansion soll wesentlich zu Lasten der „Produktionsorientierten Tätigkeiten“ gehen, die sich von 31 vH auf 24 vH zurückbilden, während die „Primären Dienstleistungen“ noch leicht auf 44 vH zulegen. 4 Auf die Kategorien „Forschen, Entwickeln“ sollen dabei 2010 etw. 6 vH (1995: 5 vH), auf „Organisation, Management“ 8 vH (7 vH) und auf „Betreuen, Beraten, Lehren, Publizieren u.ä.“ 18 vH (15 vH) der Beschäftigten entfallen. Auch wenn detaillierte Prognosen gerade auf diesem Gebiet mit ungewöhnlich hoher Unsicherheit behaftet sind – die Wissensgesellschaft hat, gemessen an der Erwerbstätigkeit, die Dominanz der „Produktionsorientierten Tätigkeiten“ hinter sich gelassen und erscheint als „Hoffnungsträger für die zukünftige Beschäftigungsentwicklung“ 5. Bei allen Unsicherheiten, sowohl was die Annahmen als auch was das Verhalten, namentlich des Staates, also des Bundes und der Länder, angeht – mit Blick auf die Erfahrungen in den Nachbarländern sollte diesen Zahlen jedenfalls eine tendenzielle Richtigkeit nicht a priori abgesprochen werden. * Fest steht, dass die Wissensgesellschaft derzeit in außerordentlicher, vielleicht sogar in historisch einmaliger Weise von Einflüssen aus der Wirtschaftssphäre geprägt wird. Diese Entwicklung ist nicht auf einzelne Teile der Wissensgesellschaft beschränkt, sie durchzieht alle ihre Funktionen und Institutionen. Beispiele aus dem Hochschulbereich sind eine Studienreform, die die Berufsbefähigung 4 Vgl. dazu im Einzelnen Dostal / Reinberg (1999). Zu den Zahlen für die EU, bei denen Deutschland im Mittelfeld rangiert, siehe z. B. Brinkley / Lee (2007), die auch auf den hohen und vielfach kräftig steigenden Anteil im Verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich hinweisen. 5 Vgl. Dostal / Reinberg (1999), S. 2.

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zum zentralen Ziel des Hochschulstudiums erhebt, die Vorstellung, Universitäten seien wie Aktiengesellschaften zu organisieren 6, oder die Einrichtung leistungsorientierter Systeme der Mittelvergabe und der Entlohnung in Forschung und Lehre. In der Regel werden die betreffenden Entscheidungen mit „ökonomischen Kriterien“ oder gar „ökonomischen Notwendigkeiten“ begründet, wobei der Bezug zu den Konzepten und Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften, der Rechtswissenschaften oder der Arbeitswissenschaft – um nur einige Disziplinen zu nennen – in der Regel diffus bleibt, bisweilen fehlerhaft ist und manchmal – abgesehen von der Verwendung einschlägiger Vokabeln – ganz fehlt. Es fällt schwer, für eine solche Entwicklung eine passende Bezeichnung zu finden. Die Veranstalter der Konferenz haben sich für den Begriff der „Ökonomisierung“ entschieden, der zwar weit verbreitet, aber unscharf ist und insofern zu unterschiedlichen Assoziationen einlädt. Die Ursachen der angesprochenen Entwicklung sind vielfältig und in ihrem Zusammenwirken nicht leicht zu erschließen. Sicher spielen die seit den 1990er Jahren zunehmenden Fiskalprobleme der Öffentlichen Hand einerseits und die in langfristiger Perspektive dramatische Expansion der Wissensgesellschaft andererseits eine Rolle. Gab es im Deutschen Reich im Jahr 1900 noch 1 800 Professoren und 34 000 Studenten 7, so wurden für die Bundesrepublik im Jahre 2008 39 000 Professoren und 2 Mill. Studenten gezählt 8. Die Ausweitung der Wissensgesellschaft bei knapper werdenden Mitteln erzeugt notwendigerweise Rationalitätsdruck. Es überrascht daher nicht, dass sich die „Wissenschaft als Beruf“ in einem noch keineswegs abgeschlossenen Wandel befindet 9, der zunehmend der Ökonomisierung unterworfen ist. Dabei sind fraglos in großem Maße die positiven Erfahrungen leitend, die mit marktwirtschaftlichen Steuerungsinstrumenten, vorzugsweise der pretialen Lenkung, in der privaten Wirtschaft gemacht wurden. Der Gedanke, solche Instrumente auf die Funktionen und Institutionen der Wissensgesellschaft zu übertragen, ist in Zeiten knapper Mittel öffentlicher Kassen offensichtlich allzu verlockend. Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen lässt sich vieles von dem, was in dieser Hinsicht implementiert worden ist, allerdings kaum in Einklang bringen. So ist z. B. seit langem bekannt, dass Anreizsysteme systematische Fehlsteuerungen erwarten lassen, wenn nicht ganz perfekte Leistungsmaße zur Verfügung stehen – genau dies ist bei komplexen und kognitiv anspruchsvollen Tätigkeiten aber selten der Fall. 10 Empirische 6 Vgl. dazu z. B. Schuler (2010), S. 138 ff.; kritisch die Beiträge von Drygala (2010) und Schefold (2010) in diesem Band. 7 Vgl. Rüegg (2004), S. 202. 8 Vgl. für Anzahl der Studenten: Statistisches Bundesamt; vgl. für Anzahl der Professoren: Ellwein, T. (1992): Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1992. 9 Vgl. dazu z. B. Gülker (2010) sowie Statistisches Bundesamt (2010b). 10 Vgl. dazu z. B. Feltham / Xie (1994).

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und experimentelle Untersuchungen belegen, dass die durch Anreizsysteme bewirkte extrinsische Motivation die intrinsische Motivation von Leistungsträgern zu verdrängen droht. 11 Von Anreizsystemen für Hochschullehrer kann vor diesem Hintergrund eigentlich nur abgeraten werden 12, selbst wenn natürlich nicht in jedem Einzelfall von einer besonders ausgeprägten intrinsischen Motivation ausgegangen werden kann. Diese Erkenntnisse sind übrigens seit einiger Zeit auch in der Wirtschaft angekommen; viele Unternehmen haben aufgrund schmerzhafter Erfahrungen vom Einsatz entsprechender Instrumente Abstand genommen. Der Hinweis auf die Finanzkrise 2008 ff. ist in diesem Zusammenhang zwar naheliegend wohlfeil, darf aber dennoch nicht unterbleiben. Die skizzierten Entwicklungen treffen die Universitäten offensichtlich in besonderer Weise. Auch wenn das Konzept der Wissensgesellschaft Stellung und Bedeutung der Universität relativiert, so bleibt sie doch deren Kern. Vor allem hier trifft die Ökonomisierung auf Widerstand: Zweckfreiheit und Muße werden als Vorbedingungen wissenschaftlicher Tätigkeit angesehen, was – wie gesagt – ein hohes Maß an „subjektiver“ Rationalität keineswegs ausschließt. Das teilweise über Jahrhunderte gewachsene Selbstverständnis wissenschaftlicher Disziplinen und ihre spezifischen Wertesysteme scheinen durch das Vordringen neuer, gewissermaßen externer, nämlich ökonomischer Effizienzkriterien bedroht. Die ökonomischem Denken innewohnende Ausrichtung an der ZweckMittel-Rationalität verdrängt andere Rationalitätsverständnisse, die für sie bislang maßgebend waren. 13 Eine der Konsequenzen hieraus ist, dass die Forderung, Forschung und Lehre stärker als bislang an den Verwertungserfordernissen der Praxis zu orientieren, auf Widerstand stößt. Der Einwand, ökonomische Kriterien hätten bei der Entwicklung von Universitäten von jeher eine entscheidende Rolle gespielt, wird nur zum Teil akzeptiert. Zwar sei die wirtschaftliche Verwertbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse und Kenntnisse im Zusammenhang mit dem neuerlichen Bedeutungsgewinn ökonomischer Interessen seitens des Staates in der Mitte des 19. Jahrhundert 14 wieder stärker in den Blickwinkel der Universitäten gerückt worden. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe scheint „Effizienz“ aber allenfalls eine Nebenrolle gespielt zu haben, häufig reduziert auf die Frage der Höhe der Lehrverpflichtungen. 15 Anders heute, wo die Institutionen der Wissensgesellschaft eine zunehmende Spannung sehen zwischen dem Ökonomisierungsdruck, dem sie unterworfen sind oder dem sie sich unterwerfen,

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Einen Überblick geben Frey / Jegen (2001). Vgl. dazu den Beitrag von Frey (2010) in diesem Band. 13 Vgl. dazu den Beitrag von Petzoldt (2010) in diesem Band. 14 Vgl. dazu z. B. für die Universität Leipzig Stieda (1909). 15 So finden sich z. B. in der Darstellung von Stieda (1909) zum tausendsten Semester der Universität Leipzig keinerlei Hinweise darauf, dass derlei Überlegungen eine Rolle gespielt oder gar ein Spannungsverhältnis gesehen wurde. 12

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einerseits und den Aufgaben, die sie nach eigenem Verständnis wahrzunehmen haben, andererseits. Diese Spannung wird keineswegs überall in gleicher Weise und Intensität empfunden – die Trennlinien laufen zwischen Hochschulen und Ministerien, zwischen einzelnen Hochschulgruppen, zwischen Hochschulleitungen und Fakultäten. Sie existieren auch zwischen und innerhalb von Fakultäten, zwischen Lehrenden und Lernenden wie auch innerhalb dieser Gruppen, die Liste ließe sich fortsetzen. Ob und inwiefern solche Spannungen im Vergleich mit der Situation vor 30, 20 oder zehn Jahren eine neue Qualität gewonnen haben oder z. B. lediglich freiwilliger innerer durch äußeren „Zwang“ ersetzt wird, muss hier dahingestellt bleiben. Ebenso die Frage, inwiefern es sich bei alledem um ein primär oder gar ausschließlich deutsches oder kontinentaleuropäisches Problem handelt. Es scheint, dass die angelsächsischen Länder die von den Kritikern und Gegnern der Ökonomisierung aufgezeigten Konflikte schon immer als weniger beachtlich angesehen oder sehr frühzeitig mehr oder weniger einverständlich gelöst hätten, z. B. über die stärkere „Selbstfinanzierung“ des Hochschulwesens. 16 * Am 3. Dezember 2009 feierte die Universität Leipzig das 600jährige Jubiläum ihrer Gründung. Als die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät darüber nachzudenken begann, wie dieser Anlass angemessen gewürdigt werden könnte, bestand rasch Einverständnis darüber, dass eine interdisziplinäre wissenschaftliche Veranstaltung ausgerichtet werden sollte, in deren Mittelpunkt die skizzierten Entwicklungen, ihre Ursachen, vor allem aber ihre Auswirkungen und weiteren Konsequenzen stehen sollten. Nicht nur die Universität in Gestalt ihrer Forscher und Lehrer, auch Lernende, Wirtschaft und Politik müssten dabei zu Wort kommen und ihre Sicht der gegenwärtigen Situation und der zu erwartenden Entwicklung darlegen. Dass zu jedem einzelnen Problemkreis bereits eine Fülle von Literatur existiert und auch in der Öffentlichkeit eine breite Rezeption gefunden hatte, wurde nicht als nachteilig angesehen. Denn, erstens, weist die bisherige Diskussion auch derzeit noch immer eine Reihe überraschend großer Lücken auf. Zweitens, diese Diskussion ist unter dem Eindruck der Erfahrungen, z. B. mit der Etablierung der Bachelor- und Masterstudiengänge, im Fluss und gewinnt an Dynamik, wie allein schon an einer zunehmenden Zahl einschlägiger Veröffentlichungen abzulesen ist. An Gründen für die Aktualisierung der unterschiedlichen Positionen, für den Austausch von Erfahrungen und Einsichten, für die die Konferenz ein Forum bilden sollte, bestand also kein Mangel. Nicht zuletzt sollte es freilich auch darum gehen, ein Bild davon zu liefern, wie Mitglieder und Angehörige der Universität Leipzig die Dinge sehen – Vollständigkeit und Einheitlichkeit dieses Bildes waren dabei weder beabsichtigt noch zu erwarten. 16

Nichtsdestotrotz wird der Ausgangspunkt der Ökonomisierung in Großbritannien in der Kürzung der Universitätsmittel im Jahr 1982 gesehen.

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Die vergangenen 600 Jahre Universitätsgeschichte in Leipzig scheinen auf den ersten Blick nur wenig zur Lösung der gegenwärtigen Probleme beizutragen, obwohl auch dies im Einzelnen zu klären wäre. Von den verschiedenen Erwartungen an die Universität schon seitens der fürstlichen Obrigkeit – Praxis und Theorie, Lehre und Forschung – war bereits die Rede, die Universität Leipzig stellte in dieser Hinsicht wohl keine Ausnahme dar. Die Erwartungen der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Industrie an die Universität und andere Institutionen der Wissensgesellschaft wurden in den bislang vorliegenden Darstellungen offenbar selten in den Blick genommen. Was die aktuellen Finanzierungsstrukturen angeht, so scheint sich der moderne demokratische Rechtsstaat ironischerweise wieder denen des vordemokratischen Staates zur Zeit der Industrialisierung zu nähern. 17 Lässt man die Zeit des Nationalsozialismus unberücksichtigt, ergaben sich massive Veränderungen für die Universität vor allem im Zuge ihrer Eingliederung in das Wissenschaftssystem der DDR einerseits und nach der Wende bzw. nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten andererseits. Eine Aufarbeitung der Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang mit den jeweils verwendeten Steuerungsmechanismen gemacht worden sind, wäre in Bezug auf das hier untersuchte Thema von erheblichem Interesse, steht aber leider ebenfalls noch aus. Dies gilt auch für die jüngste Universitätsgeschichte, wenngleich deren Charakteristika in vielen Veröffentlichungen explizit oder implizit angesprochen werden: das enge finanzielle Korsett einer Universität in Ostdeutschland, die kaum 20 Jahre, die seit Wende und Vereinigung verstrichen sind, die Neugründung von Fakultäten, deren Personalbestand eben zum ersten Mal „umgeschlagen“ wird, das im allgemeinen noch wenig gekräftigte wirtschaftliche Umfeld usw. Das Thema der Konferenz wurde unter dem Vorsitz des damaligen Dekans der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Ralf Diedrich, bereits im Jahr 2007 mit Vertretern nahezu aller Fakultäten der Universität Leipzig diskutiert. Das Angebot, spezifische Erfahrungen und Erkenntnisse in das Projekt einzubringen, stieß auf große Resonanz, so dass ein interdisziplinärer Arbeitskreis eingerichtet werden konnte, der sich 2008 und 2009 in nahezu unveränderter Zusammensetzung mit konzeptionellen, inhaltlichen und organisatorischen Aspekten der Konferenz beschäftigte. Die von den Beteiligten als äußerst fruchtbar empfundenen Arbeitstreffen machten vor allem zweierlei deutlich: Erstens, dass die „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft“ einen weit größeren Facettenreichtum aufweist als dies von dem Arbeitskreis zu Beginn gesehen worden war, und zweitens, dass dieser Prozess in den einzelnen Fakultäten auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen und beurteilt wird. Es bedurfte etlicher 17 Im Jahre 1850 hatte der „Staatszuschuss“ zum Haushalt der Universität ca. 20 vH betragen und war bis 1908 sukzessive auf 60 vH gestiegen; vgl. Stieda (1909), S. 23 ff. Der Einfluss des Staates auf die Universität war allerdings stets beträchtlich, unabhängig von seinem finanziellen Beitrag.

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begrifflicher Klärungen, bevor sich die Beteiligten über die zu behandelnden Phänomene austauschen konnten – was ebensoviel über die Komplexität des Themas, die Diversität der Fächerkulturen sowie die unterschiedliche Betroffenheit wie über die Notwendigkeit eines interdisziplinären Dialogs sagt. Die Konferenz selbst wurde vom 3. bis zum 5. Dezember 2009 im neu gestalteten Hörsaalgebäude der Universität Leipzig durchgeführt. Es wurden ca. 400 Teilnehmer gezählt, die für teilweise sehr lebendige und konstruktive Diskussionen in den Einzelveranstaltungen sorgten. Der zeitliche Ablauf war nahezu identisch mit der Abfolge der Beiträge in der vorliegenden Schrift. Im Mittelpunkt standen insgesamt zehn Sektionen, in denen in jeweils drei Referaten Detailfragen der Ökonomisierung in Bezug auf Funktionen und Institutionen der Wissensgesellschaft behandelt wurden. Dieser Kern der Konferenz wurde eingerahmt von Grundsatzreferaten und Positionsvorträgen, in denen es um übergreifende Aspekte der angesprochenen Entwicklungen aus philosophischer, soziologischer und ökonomischer Sicht ging. Das Programm wurde durch drei Podiumsdiskussionen abgerundet, in denen zum einen die Ergebnisse der Einzelreferate rezipiert und in einen größeren Zusammenhang gestellt wurden, zum anderen aber auch weitergehende Aspekte angeschnitten und vor dem Auditorium behandelt wurden. Die Konferenz war das Werk vieler. Zu dem oben schon genannten Arbeitskreis zählten außer den Herausgebern dieser Schrift Prof. Dr. Klaus Bente, Prof. Dr. Günter Bentele, Prof. Dr. Tim Drygala, Prof. Dr. Wolfgang Hörner, Prof. Dr. Hans-Helmut König, Prof. Dr. Helge Löbler, Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, Prof. Dr. Volker Schürmann und Prof. Dr. Alfred Richartz. Der Rektor der Universität Leipzig, Prof. Dr. Häuser, begleitete das Projekt mit Wohlwollen, die für die Organisation des Universitätsjubiläums zuständige „Geschäftsstelle 2009“, namentlich Frau Christina Barofke und Herr Dr. Günter Roski, leisteten engagierte Unterstützung. In organisatorischen Dingen wurden die Veranstalter, gleichzeitig die Herausgeber dieser Schrift, in den verschiedenen Phasen der Konferenzvorbereitung kompetent und tatkräftig von Herrn Dipl. Vw. Martin Wörner, Frau Dipl.-Kffr. Christiane Bruder, Frau M. A. Julia Wucherpfennig, Frau M. A. Carolin Stier und Frau Dipl.-Kffr. Sissy Ißleb unterstützt. Dass die Konferenz in der geplanten Form stattfinden konnte, ist freilich in erster Linie der großzügigen Unterstützung der BMW AG, namentlich Herrn Manfred Erlacher, Leiter des BMW Werks Leipzig, und seinem Vorgänger, Herrn Peter Claussen, zu verdanken. Ohne deren spontanes und uneingeschränktes Interesse an der Thematik hätte die Konferenz in der dokumentierten Form nicht zustande kommen können. Schließlich gilt der Dank allen Referenten, Moderatoren, Diskussionsleitern, Diskutanten und Teilnehmern. Konferenzen sind selten von unmittelbarer Wirkung. Viel wäre indes gewonnen, wenn der Blick für die vielfältigen Aspekte der „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft“ geschärft und ein differenzierte-

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res Bild dieses Prozesses gewonnen werden konnte. Gleichgültig, wie man das Spannungsverhältnis „Wissensgesellschaft und Ökonomie“ bewertet – es sollte klar geworden sein, dass es zahlreiche Möglichkeiten zur Verbesserung gibt und dass es nicht nur die Politik, sondern auch die „Wissensgesellschaft“ selbst in der Hand hat, diese zu realisieren. Ralf Diedrich

Ullrich Heilemann

Literatur Brinkley, Ian / Lee, Neil (2007): The knowledge economy in Europe – A report prepared for the 2007 EU Spring Council, The work foundation. Dostal, Werner / Reinberg, Alexander (1999): Arbeitslandschaft 2010 – Teil 2: Ungebrochener Trend in die Wissensgesellschaft – Entwicklung der Tätigkeit und Qualifikationen, in: IAB Kurzbericht, 10/27. 8. 1999. Drygala, Tim (2010): Die Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild der Universitätsverfassung. In diesem Band. Ellwein, T. (1992): Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main. Feltham, Gerald A. / Xie, Jim (1994): Performance Measure Congruity and Diversity in Multi-Task Principal / Agent Relations, in: The Accounting Review, 69, S. 429 – 453. Frey, Bruno S. (2010): Ökonomisierung der Wissensgesellschaft – pro. In diesem Band. Frey, Bruno S. / Jegen, Reto (2001): Motivation Crowding Theory, in: Journal of Economic Surveys, Vol. 15, S. 589 – 611. Gülker, Silke (2010): Arbeitsmarkt Wissenschaft – Strukturen und Trends, in: WSI Mitteilungen, 63. Jg., S. 227 – 233. Kübler, Hans-Dieter (2009): Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen; eine Einführung, Wiesbaden. Petzoldt, Matthias (2010): Sinn geben und / oder Sinn finden? Zur Orientierungssuche in der Wissensgesellschaft. In diesem Band. Rüegg, Walter (2004): Geschichte der Universität in Europa. Band III: Vom 19. Jahrhundert zum zweiten Weltkrieg 1800 – 1945, München. Schefold, Bertram (2010): Ökonomisierung der Wissensgesellschaft – contra. In diesem Band. Schuler, Thomas (2010): Bertelsmann Republik Deutschland – Eine Stiftung macht Politik, Frankfurt / M. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2010a): Fachserie 11 „Bildung und Kultur“, Reihe 4.1 „Studierende an Hochschulen“, Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2010b): Fachserie 11 „Bildung und Kultur“, Reihe 4.4 „Personal an Hochschulen“, Wiesbaden. Stehr, Nico (1994): Knowledge societies, London. Stieda, Wilhelm (1909): Die Universität Leipzig in ihrem tausendsten Semester, Leipzig.

Inhaltsverzeichnis Grußwort des Dekans der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (Prof. Johannes Ringel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Grußwort des Oberbürgermeisters (Burkhard Jung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII Grußwort des Leiters des BMW Werks Leipzig (Manfred Erlacher) . . . . . . . . . . . XXI Grußwort des Rektors (Prof. Dr. Franz Häuser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII Grußwort der Sächsischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst (Prof. Dr. Dr. Sabine Freifrau von Schorlemer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV Grundsatzreferat Jürgen Mittelstraß Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Funktionen der Wissensgesellschaft Forschungsfinanzierung Frank Emmrich Möglichkeiten und Grenzen industriegesponserter Forschung in der Medizin .

19

Anja Landsmann, Annette G. Beck-Sickinger Forschungsfinanzierung in den Biowissenschaften. Das Beispiel Sachsen . . . .

29

Forschungsevaluation Richard Münch Verarmung des Wissens durch Evaluation? Effekte des Qualitätsmanagements in der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Stefan Hornbostel Zur Problematik der Forschungsevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

XIV

Inhaltsverzeichnis Lehre

Wolfgang Nieke Wissenschaftsdidaktik zwischen Kompetenzaufbau und Bildungsauftrag für die Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Johannes Wildt „Forschendes Lernen“ als Hochform aktiven und kooperativen Lernens . . . . . .

93

Rolf Dubs Aspekte der Bildung eines allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Bildung Wolfgang Hörner Zur Kapitalisierung des Bildungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Alfred Richartz, Volker Schürmann Körperliche Bildung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung . . . . . . . . . . . 139 Andreas Poenitsch „Die Sprachen der Bildung“ – Chancen und Risiken semantischer Pluralität . . 167 Kultur und Sinngebung Marcelo da Veiga Spiritualität oder ökonomisches Kalkül – was brauchen moderne Unternehmen und Führungskräfte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Matthias Petzoldt Sinn geben und / oder Sinn finden? Zur Orientierungssuche in der Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Götz E. Rehn Wirtschaft neu denken – das Alnatura Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Grundsatzreferat Cornelius Weiss Ökonomisierung der Wissensgesellschaft – eine Kette von Missverständnissen

221

Positionsvortrag Bruno S. Frey Ökonomisierung der Wissensgesellschaft – pro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Inhaltsverzeichnis

XV

Positionsvortrag Bertram Schefold Ökonomisierung der Wissenschaft – contra Die Wissensgesellschaft zwischen Wissenswirtschaft und neuem Humanismus

245

Podiumsdiskussion: Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissenschaft? Ullrich Heilemann, Johannes Fried, Elisabeth Niggemann, Bertram Schefold Moderation: Werner Meißner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Institutionen der Wissensgesellschaft Universitäten und Forschungsinstitute Tim Drygala Die Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild der Universitätsverfassung . . . . . . 291 Ullrich Heilemann Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung: Das Beispiel der amerikanischen „model shops“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Schulen Manfred Weiß Der Beitrag der Bildungsökonomie zur Schulqualitätsforschung – eine kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Klaus-Jürgen Tillmann Ökonomische Argumente in der Schulpädagogik – Kooperation oder Abgrenzung? 363 Matti Meri Pisa-Erfolg Finnlands aus der Perspektive der Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . 379 Bibliotheken Christian Berger, Thomas Busch Der Zugang zu wissenschaftlicher Literatur in der Informationsgesellschaft – Lizenzgebühren oder „free flow of information“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Oliver Jungen Die Aporie der Universalbibliothek: Das Open-Access-Problem der Wissenschaftswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

XVI

Inhaltsverzeichnis Medien

Walter Hömberg Vom Wissen des Nichtwissens. Medien und Kommunikation in der „Wissensgesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Wolfgang Seufert Das Mediensystem als Wissensportal der Gesellschaft – Eintritt nur für Zahlungskräftige? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Normen, Regeln, Instrumente Lars Klöhn Recht und Ökonomik – gestern, heute und morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Klaus Bente Quantifizierte Stromlinienform oder diversifizierte Qualität. Ein Beitrag – nicht nur – aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Michael Daxner Der Einfluss der Ökonomisierung auf Werte und Normen im Non-Profit-Bereich 493 Podiumsdiskussion: Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissenschaft? Michael Daxner, Karen Horn, Hans Joachim Meyer, Bastian Lindert, Rudolf Steinberg Moderation: Günther Nonnenmacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Positionsvortrag Grußwort des Rektors zum Positionsvortrag des Bundestagspräsidenten, Professor Dr. Lammert (Prof. Dr. Franz Häuser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Norbert Lammert Ökonomie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Podiumsdiskussion: Spitzensport zwischen Ökonomie und Moral Grit Hartmann, Thomas Kistner, Sören Mackeben, Rudhard Klaus Müller, Jochen Zinner Moderation: Peer Vorderwülbecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

Grußwort des Dekans der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Von Prof. Johannes Ringel Sehr geehrte Damen und Herren, im Namen der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät möchte ich Sie recht herzlich zur Tagung „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft. Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?“ in Leipzig einladen. Die Organisation und Durchführung dieser Tagung ist der zentrale Beitrag der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zum 600-jährigen Jubiläum der Universität Leipzig. Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit den anderen Fakultäten unserer Universität konzipiert und bietet die Möglichkeit zu einem intensiven Gedankenaustausch zwischen Vertretern verschiedenster Fachrichtungen. Sie erfüllt den interdisziplinären Anspruch unserer Bemühungen in Forschung und Lehre in besonderer Weise. Gedanklicher Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass ökonomische Kriterien in den vergangenen Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung bei der Gestaltung der Wissensgesellschaft gespielt haben. Viele der eingetretenen Entwicklungen sind begrüßenswert, aber nicht alle. Welche Rolle ökonomische Betrachtungen zweckmäßigerweise spielen sollten, wurde aus grundlegender Sicht erst in Ansätzen diskutiert. Die Tagung soll uns hier einen Schritt weiter bringen. Renommierte Referenten aus dem In- und Ausland werden dazu die angeführte Entwicklung aus der Sicht unterschiedlicher Fachrichtungen beleuchten und ihre Zweckmäßigkeit analysieren. In parallel laufenden wissenschaftlichen Foren wird die Thematik mit Bezug auf konkrete Aspekte der Wissensgesellschaft diskutiert. Wir erwarten eine spannende und erkenntnisreiche Veranstaltung. Es wäre schön, Sie dazu begrüßen zu dürfen.

Grußwort des Oberbürgermeisters Wissen und Effizienz. Ökonomisierung der Wissensgesellschaft Von Burkhard Jung Sehr geehrte Frau Staatsministerin, Magnifizenz, sehr geehrter Herr Prof. Häuser, sehr geehrter Herr Prof. Ringel, ich bin gerne der Einladung der Universität und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zu dieser wichtigen Tagung gefolgt, sehr geehrter Herr Prof. Mittelstraß, ich darf Sie, stellvertretend für die vielen auswärtigen Gäste dieser letzten großen Konferenz zum 600sten Jubiläum unserer Universität, herzlich in Leipzig willkommen heißen. Meine Damen und Herren! Am Anfang großer Entwicklungen stehen richtungsweisende Entscheidungen. Dem Wissen und der Bildung eine Heimat und geistige Gestalt zu geben: Diese große Idee lag der Geburt der Universität zu Grunde. Wer mit ihrer Geschichte vertraut ist, weiß: Die Fragen, die unsere heutige Tagung stellt, haben universitär stets eine gewichtige Rolle gespielt. Der Bogen reicht hier von Thomas von Aquins Reflexionen zu Geld und Zins in seiner „Summa theologica“ bis zu Max Webers „Protestantischer Ethik“. Stets haben die materiellen Bedingungen menschlicher Existenz den geistigen Haushalt der Universitäten mitbestimmt, um von den sehr konkreten Konflikten um Finanzen, Pfründe und Salär zu schweigen. All dies sind keine spezifisch modernen Probleme. Meine Damen und Herren, das Wissen als eine besondere, eine geistige Kraft, in seinen unterschiedlichen Kontexten zu untersuchen: Diese Entscheidung erscheint mir im Rückblick außerordentlich sinnvoll. Beschreibt sie doch nicht nur den Eigensinn geistiger Arbeit, sondern auch die Felder, zu denen sich die Universität am Beginn des 21. Jahrhunderts neu verorten muss. Dass das Universitätsjubiläum daher mit der expliziten Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Wirtschaft endet, ist kein Zufall. Es ist eine Bewegung

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auf die gegenwartshistorischen Bedingungen zu, denen sich unsere Wissenschaften gegenübersehen. Hier tun sich die entscheidenden Veränderungen auf. Hier lauern aber auch die großen Risiken. Gestatten sie mir daher einige kurze Bemerkungen zu diesem Komplex. Wir begegnen uns heute in einem besonderen zeitgeschichtlichen Moment. Wir alle wissen – und die Wirtschaftswissenschaftler wissen es am besten: Seit dem Zusammenbruch der Lehmanns Bank im September 2008 ist unsere Welt eine andere geworden. Wir alle haben erfahren, was es heißt, in einer Welt zu leben, die durch zunehmende wirtschaftliche Verflechtungen geprägt ist. Die Experten streiten noch, ob der Aufschwung schon da ist oder das dicke Ende noch kommt. Wer kann diese Frage heute schon zweifelsfrei beantworten? Allemal bietet der aktuelle Moment die Möglichkeit, innezuhalten und kritisch zu prüfen: Was waren die Ursachen, was ist geschehen, was muss getan werden? Und hier müssen wir kritisch zu uns selbst sein. Mit dieser Krise hat nicht nur das Modell einer wunderbaren Geldvermehrung Schiffbruch erlitten. Es ist auch ein Denken gescheitert, dass den Börsenkursen mehr vertraute als den wirklichen Lebensverhältnissen der Menschen. Man hat die Bildung großer Vermögen zum letzten Sinn menschlichen Strebens erklärt. Zudem ist ein Denken gescheitert, dass dem demokratischen Staat mit Misstrauen begegnete, ja in ihm nicht selten die Quelle allen Übels sah. Es ist politisch lehrreich zu sehen, wie im Moment der Gefahr die Vertreter dieser Ideologie als Retter nun den diffamierten Gegner von gestern herbeirufen. Ohne Frage: Diese noch nicht überwundenen Krisenexzesse haben der Idee der Demokratie einen schweren Schaden zugefügt. Viele der Vorurteile, die nicht wenige in den neuen Bundesländern einer marktwirtschaftlichen Ordnung gegenüber haben, sind durch diese Praktiken nicht eben ausgeräumt worden. Wir werden in den nächsten Jahren auch diesem Vertrauensverlust begegnen müssen. Meine Damen und Herren, was heißt das für die „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft“? Zunächst und vor allem: Das Verhältnis von Wirtschaft und Wissenschaft darf nicht das einer Einbahnstraße sein. Wer unsere Wissenschaften ausschließlich den Erwägungen des Marktes und betriebswirtschaftlicher Rationalität unterordnet, verkennt den eigentlichen Motor geistigen Fortschritts. Unsere Wissenschaften müssen unabhängig – von welchen Spezialinteressen auch immer – dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet bleiben. Und sie müssen ihren Eigensinn pflegen: Sie müssen ihre Antworten auf die Fragen unserer Zeit geben. Der Erfolg der Universität ist stets diesem Prinzip verpflichtet gewesen. Die Autonomie von Wissen und Geist versteht sich nicht von selbst. Sie ist von jeder wissenschaftlichen Generation neu zu bestimmen, vielleicht neu zu erkämpfen.

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Die heute eröffnete Tagung bietet der Universität die große Gelegenheit, ihre eigene – vielleicht muss man sagen: eigensinnige – Sicht der Dinge darzulegen. Denn das ist die große Frage des 21. Jahrhunderts: Wie muss das Haus des Menschen, der oikos, beschaffen sein, um unsere Erde auch im 21. Jahrhundert als bewohnbaren Ort lebenswert zu erhalten? Die Wissenschaften müssen stets von neuem die alte Frage Galileis aufgreifen: Wie können wir die Alltagsmühen der Menschen erleichtern und die Erde zu einem bewohnbaren Ort machen? Ich bin sicher: Die Notwendigkeit der Wissenschaften beweist sich in dieser Fähigkeit, Interpretationsschlüssel zum Verständnis unserer Gegenwart zu sein. Dass die Universität sich in dieser Anstrengung des rationalen Wissens der Wirtschaft bedienen muss, wer würde das bezweifeln? Dass aber auch Interesse, Rationalität und Kalkül der Wirtschaft kritisch zu befragen sind, daran sollte nach unseren jüngsten Krisenerfahrungen kein Zweifel bestehen.

Grußwort des Leiters des BMW Werks Leipzig Von Manfred Erlacher Sehr geehrte Damen und Herren, das BMW Werk Leipzig unterstützt als Hauptpartner den Kongress zur Ökonomisierung der Wissensgesellschaft. Damit sind wir schon mitten im Thema. Ist es richtig, ist es gut, wenn ein Unternehmen wie BMW als Sponsor für einen wissenschaftlichen Kongress auftritt? Was bedeutet das für die Freiheit der Wissenschaft? Und welche Motive bewegen die Wirtschaft zu einem solchen Engagement? Wissenschaft und Wirtschaft beeinflussen und bedingen sich gegenseitig. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse sind eine Triebfeder für Innovationen, für neue oder verbesserte Produkte und Dienstleistungen. Forschung und Wissenschaft tragen darüber hinaus ganz entscheidend bei zur Entwicklung unserer Gesellschaft. Der wissenschaftliche Diskurs ist wesentlich für die Auseinandersetzung mit den wichtigen Fragen unserer Zeit. Wissenschaft und Forschung sind damit eine wichtige Voraussetzung auch für das erfolgreiche Agieren von Wirtschaftsunternehmen. Unternehmen haben vielfältige Anforderungen und Erwartungen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Das betrifft zum einen die Nachwuchssicherung bei den besonders qualifizierten Fach- und Führungskräften. Das besondere Interesse gilt dabei einer praxisgerechten Hochschulausbildung. Darüber hinaus müssen wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen bei vielen Fachthemen direkt kooperieren, in gemeinsamen Projekten oder beim Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis. Bei alldem profitieren die Forschungseinrichtungen auch von den Erfahrungen aus der Praxis der Unternehmen – ein Geben und Nehmen zum beiderseitigen Vorteil. Wenn Unternehmen sich in der Forschung auch finanziell engagieren, leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Sicherung und Weiterentwicklung der Wissenschaft. Ganz besonders in Deutschland mit seiner Jahrhunderte alten Wissenschaftstradition und einer nach wie vor herausragenden wissenschaftlichen Reputation ist dies unerlässlich. Dabei muss immer der Grundsatz der Freiheit der Wissenschaft gewahrt bleiben. Für die BMW Group ist dies selbstverständlich. Das BMW Werk Leipzig kommt mit der Unterstützung dieses wichtigen Kongres-

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ses im Rahmen des 600-jährigen Jubiläums unserer Leipziger Universität sehr gerne seiner besonderen gesellschaftlichen Verpflichtung in Leipzig nach. Ich wünsche dem Kongress viel Erfolg.

Grußwort des Rektors Von Prof. Dr. Franz Häuser

Sehr geehrte Frau Staatsministerin von Schorlemer, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, meine sehr verehrten Damen, meine Herren, im Namen der Universität Leipzig darf ich Sie sehr herzlich zu der heute beginnenden Tagung „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft“ begrüßen, dem dritten Leitkongress im Programm des Jubiläumsjahres. Das Jahr 2009 ist für uns wahrlich ein ganz besonderes Jahr, erinnert die Universität Leipzig doch an ihre Gründung vor 600 Jahren. Diese lange Zeitspanne weist unsere Universität als die zweitälteste deutsche Universität aus, an der über die sechs Jahrhunderte hinweg ohne Unterbrechung gelehrt wurde. Aus diesem Anlass fand in den vergangenen Wochen und Monaten bereits eine Reihe wissenschaftlicher und kultureller Veranstaltungen statt. Die Leitkongresse nahmen ihren Auftakt bewusst mit dem Kongress „Wissen und Geist“; er analysierte nämlich die Institution Universität, und zwar in historischer, zeitgenössischer und zukünftiger Perspektive. Fortgesetzt wurde der Reigen mit dem zweiten Kongress „Wissen und Bildung“, der weitergreifend die nicht geringen Herausforderungen für Bildung und Erziehung im 21. Jahrhundert in den Vordergrund rückte. Und von heute an wollen wir uns, wie eingangs erwähnt, mit „Wissen und Effizienz, Ökonomisierung der Wissensgesellschaft: Wie viel Ökonomie braucht die Wissensgesellschaft und wie viel Ökonomie verträgt sie?“ befassen. Zu dieser Thematik werden sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen äußern. Die das Jubiläumsjahr zugleich abschließende Veranstaltung ist von der These geleitet, dass Wissenschaft und Wirtschaft im 21. Jahrhundert in enger Wechselwirkung miteinander stehen. Für eine Gesellschaft, in der das Generieren, Verarbeiten und Transferieren von Wissen einen immer höheren Stellenwert erlangt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den dabei zu diskutierenden Entwicklungen unerlässlich. Und als eine solche Entwicklung wird von den einen das ökonomische Denken als Erfolgsgarantie propagiert, während andere es mit Blick auf die Wissenschaft kritisch hinterfragen, weil es sich einseitig an dem Maßstab praktischer Effizienz

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orientiere. Die Universität als eine der zentralen und auch betroffenen Institutionen der Wissensgesellschaft sollte zu dieser vieldiskutierten Fragestellung einen wichtigen Beitrag leisten. Insofern wünsche ich der Tagung einen guten Verlauf und viele innovative sowie weiterführende Ergebnisse.

Grußwort der Sächsischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst Von Prof. Dr. Dr. Sabine Freifrau von Schorlemer Magnifizenz, sehr geehrter Vizepräsident des Sächsischen Landtages Professor Schmalfuß, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung, sehr geehrter Herr Präsident Dr. Hasenpflug, sehr geehrter Herr Professor Weiss, sehr geehrter Herr Professor Löhr, sehr geehrter Herr Professor Milke, sehr geehrter Herr Jansen, sehr geehrter Herr Professor Ringel, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist mir eine besondere Freude, Sie als Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen zur Eröffnung des Kongresses „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft“ hier in der Universität Leipzig begrüßen zu dürfen. Der Anlass für diese Veranstaltung ist das Jubiläum des 600-jährigen Bestehens der Alma Mater Lipsiensis, und ich will die Gelegenheit nutzen, um an dieser Stelle die herzlichen Glückwünsche der Sächsischen Staatsregierung zu übermitteln. Die Universität Leipzig nimmt einen herausragenden Platz in der Geschichte dieses Landes ein und sie ist das Herzstück der Kultur- und Wissenslandschaft, die zu gestalten unsere gemeinsame Aufgabe in den nächsten Jahren sein wird. Das Wissenschaftssystem – und mit ihm die Hochschulen und Forschungseinrichtungen – befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, sowohl im Hinblick auf die Finanzierung, die Rechtsform, als auch die Gestaltung der soziokulturellen Parameter.

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Dazu trug in den letzten beiden Dekaden nicht nur die Globalisierung der Wirtschaft gerade in forschungsintensiven Bereichen, sondern auch eine zunehmende Europäisierung von Innovationsfeldern bei. Wissenschaftspolitik von heute benötigt ein fundiertes Verständnis des stattfindenden Transformationsprozesses. Nie zuvor waren die Regelungsmechanismen derart komplex, oszillieren sie doch gegenwärtig zwischen „Hierarchien“, „Märkten“ und „Netzwerken“ sowie einer Kombination derselben. Eine „Ökonomisierung“ zeichnet sich bereits in einer veränderten Terminologie ab: Das sprachliche Repertoire der zeitgenössischen Hochschul- und Wissenschaftspolitik greift an vielen Stellen zu betriebs- und volkswirtschaftlichen Entlehnungen: Von „Humanressourcen“ und „Humankapital“ ist die Rede, was das Subjekt in den Hintergrund treten lässt und einer gewissen Verdinglichung Vorschub leistet (vom „Bildungssubjekt“ zum „Bildungsobjekt“?), von „Effizienz“, „strategischer Planung“ und „Controlling“, von „Kostenrechnung“ und „Mittelvergabe nach Leistungskriterien“. Und auch das Sächsische Hochschulgesetz, das seit dem 1. Januar 2009 in Kraft ist, lehnt sich an Strukturen der Wirtschaftswelt an, etwa in Bezug auf die Einsetzung von Hochschul„räten“, die den Aufsichts„räten“ der Finanz- und Wirtschaftswelt nachempfunden sind. Die Kongressverantwortlichen haben mit der konkreten Wahl des Themas „Ökonomisierung“ für die heutige Veranstaltung große Weitsicht bewiesen. Dies gilt auch in Bezug auf die sich aktuell manifestierende Unzufriedenheit der Studierenden: wie uns die studentischen Proteste zeigen, wird die Ökonomisierung des Studiums und der Studienbedingungen zunehmend als Problem gesehen. Mit Blick auf die sächsischen Studierenden ist allerdings zu erwidern, dass eine ihrer Grundsorgen – die Einführung von Studiengebühren – unberechtigt ist: Wir werden in Sachsen keine Studiengebühren einführen; lediglich im Falle eines Missbrauchs (also einer „deutlichen Überschreitung der Regelstudienzeit“) wird es eine Regelung geben, so sieht es der Koalitionsvertrag vor. Zugleich wird der Freistaat zusammen mit der Wirtschaft Stipendienprogramme für Studierende und Doktoranden entwickeln. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das Studium ist uns ein großes Anliegen. Die Staatsregierung stellt zum Ziel, bis 2010 insgesamt 10 % des BiP für Bildung und Forschung auszugeben, d. h. mehr Geld. Unübersehbar ist allerdings auch, dass die finanziellen Spielräume dafür merklich enger geworden sind. Einer gerade an 281 von 394 Hochschulen 1 in Deutschland von Ernest & 1

„Hochschulstudie 2009“; 73 % der Interviewpartner waren Kanzler / Kanzlerinnen bzw. Vizepräsidenten / Vizepräsidentinnen.

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Young insgesamt durchgeführten Umfrage zufolge haben die Hochschulen keine großen Erwartungen in eine steigende öffentliche Finanzierung: Sie wollen stattdessen durch Fundraising und eigenwirtschaftliche Betätigung zusätzliches Geld verdienen. 60 % der staatlichen Hochschulen wollen mehr Selbstverwaltungsrechte insbesondere im Personal und Organisationsbereich und in Finanzangelegenheiten. Der Koalitionsvertrag im Freistaat Sachsen setzt deutliche Akzente im Sinne einer transparenten, auf „Anreiz“ und Differenzierung gerichteten, „positiven“ Ökonomisierung. Dazu gehört: – die konsequente Einführung der Globalhaushalte: – die Leistungsbesoldung: Es ist beabsichtigt, die Bezahlung bzw. Besoldung von wissenschaftlichem Personal und Professoren an den Wettbewerb und individuelle Leistungen anzupassen; daher wirkt die Staatsregierung darauf hin, dass die Hochschulen langfristig eigene Tarifverträge für das Wissenschaftspersonal abschließen können und die Professorenbesoldung für leistungsrechte Vergütungen deutlich mehr Spielräume zulässt. Dazu gehört außerdem: – die Verbesserung der Voraussetzungen, damit Hochschulen sich stärker durch Dritte finanzieren lassen können. Und schließlich: – Der Freistaat unterstützt die Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Existenzgründungen aus ihren Einrichtungen heraus gezielt und verstärkt zu befördern. Darüber hinausgehend ist nach den konkreten Wirkungen der bundesweiten Ökonomisierungstendenzen auf die künftige Performanz von Forschung und Lehre zu fragen. Und dies unter verschiedenen Aspekten: Erstens, mit Blick auf den Grad der Autonomie in den unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten und die akademische Freiheit: Die einzelnen Wissenschaftsgebiete unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf den Charakter der Forschungsprobleme und methodischen Standards, sondern auch in ihren Möglichkeiten, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Wir wissen andererseits: Die Ökonomisierung betrifft alle Gebiete. Sie stellt jedoch die Geisteswissenschaften vor andere Herausforderungen als etwa die Ingenieurswissenschaften. Der Umgang mit der Diversität der eigenständigen Fachkulturen und -disziplinen – eine große Ressource insbesondere der Universitäten – wird folglich zum Thema. Forschungsfreiheit ist ein Grundrecht, Hochschulbildung selbst, wir sollten uns dies immer wieder vergegenwärtigen, steht in einer unauflöslichen Beziehung zur Freiheit.

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Wie es in Wilhelm von Humboldts im Jahr 1792 veröffentlichter Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ heißt: „Der wahre Zweck des Menschen – (...) ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist die Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“

Zweitens mit Blick auf den Grad der Anwendungsorientierung: Im Lichte der zu beobachtenden weitreichenden Bestrebungen, die Forschung zunehmend an Kriterien der unmittelbaren gesellschaftlichen „Nützlichkeit“ auszurichten, wird die Sorge vor einer „Instrumentalisierung“ der Hochschulen laut. Unter Forschenden wird Unbehagen darüber geäußert, dass die Qualität der Forschung zunehmend am Erfolg in der Drittmittelbeschaffung gemessen wird. Der „Nutzen“ der Forschung aber darf nicht auf eine ökonomische Verwertung reduziert sein. Angesichts der exponentiell wachsenden Komplexität der Lebens- und Wissensverhältnisse benötigen wir freie Diskurse über das, was Wissenschaft im Zeitalter der modernen Technologie leisten kann. Wir benötigen Reflexionen über Werte und Weltbilder. Wir brauchen Orientierungswissen. Und es ist eben nicht davon auszugehen, dass diese Desiderate sich automatisch in der Wissenschaftspraxis / Ausbildung abbilden. Die Frage der Sinnhaftigkeit von Indikatoren zur Leistungsbemessung und Kriterien für wissenschaftliche Exzellenz: Qualitäts- und Leistungskriterien, Indikatoren und Benchmarks versprechen ökonomische Effizienz und mehr Wettbewerb. Die bisher geltende Grundannahme ist, dass „wissenschaftliche Existenz nur über ökonomisch rationales Handeln gesichert werden kann“, wie es MüllerBöling, der Leiter des Centrums für Hochschulentwicklung in seinem Konzept hochschulpolitischer Notwendigkeiten formulierte. Aber: Gibt es nicht Bildungs- und Forschungsbereiche, die wir von Wettbewerb und Wirtschaftlichkeitserwägungen lösen müssen? Gerade kleine oder auch hochspezialisierte Studiengänge sind von Unterfinanzierung bedroht, da sie kaum Geld von außen einwerben und deshalb unter ökonomischen Aspekten nicht „profitabel“ erscheinen. Woher aber nehmen wir die Gewissheit, dass nicht gerade die kleineren und thematisch „exotischen“ Lehrstühle diejenigen sind, die wir zur Bewältigung komplexer Zukunftsaufgaben im 21. Jahrhundert in besonderem Maße benötigen werden? Vergessen wir schließlich auch nicht die soziostrukturellen / die gesamtgesellschaftlichen Effekte, die eine Differenzierung in eine „Normal-“ und eine „Elite-“ („Exzellenz“-)Wissenschaft längerfristig mit sich bringt.

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Ich bin mir gewiss, dieser Kongress wird nicht nur die richtigen Fragen stellen, sondern auch die angemessenen Antworten geben. Meine Damen und Herren, für die Sächsische Staatsregierung ist klar: Hochschulen sind keine Unternehmen. Sie sind Einrichtungen der Gesellschaft, die für Kreativität, Fortschritt und Innovation stehen und dringend benötigte Fachkräfte ausbilden. Bildung – Hochschulbildung – ist keine „Ware“, und sie ist auch nicht auf ökonomische Verwertbarkeit zurechtzustutzen. Wollen wir nicht wieder zur Detailsteuerung der Hochschulen zurückkehren, muss allerdings akzeptiert werden, dass Parlamente und Ministerien Verfahren zur Rechenschaftslegung und Qualitätssicherung einfordern. Sie benötigen dies als Steuerungsinstrument. Zugleich stellen wir fest: das Rad der Ökonomisierung lässt sich nur mehr schwerlich zurückdrehen. Die Frage im Konferenzthema „Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft“ möchte ich als Kunstministerin mit Wolfgang Amadeus Mozart beantworten: Kaiser Joseph II hatte sich nach der Uraufführung der Entführung aus dem Serail bei dem Komponisten beschwert: „Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viele Noten, lieber Mozart“. Und Mozart soll geantwortet haben: „Grad so viele Noten, als nötig sind“. In Abwandlung dieses Zitats meine ich, dass die Wissensgesellschaft „grad so viel Ökonomie braucht und verträgt, als nötig ist“ ... (Aber auch nicht mehr!) Abschließend möchte ich Professor Johannes Ringel (Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät) und Professor Ralf Diedrich (Professur für Betriebswirtschaftslehre, insb. Controlling und interne Unternehmensrechnung an der Universität Leipzig) sowie Prof. Ullrich Heilemann (Institut für Empirische Wirtschaftsforschung) herzlich für die Organisation dieses zukunftsweisenden Kongresses danken. Ich bin überzeugt, dass diese Veranstaltung ein würdiger Beitrag zur Geburtstagsfeier der zweitältesten deutschen Universität ist. Möge dies eine erfolgreiche Konferenz werden, deren Ergebnisse ihre Spuren auch in der Hochschul- und Wissenschaftspolitik hinterlassen! Vielen Dank.

Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft? Von Jürgen Mittelstraß 1

I. Vorbemerkung Ein seltsamer Titel. Gewinnt nicht die Gesellschaft, die sich heute mit Vorliebe als Wissensgesellschaft bezeichnet, wenn sie ökonomisch auf festen Beinen steht? Und gewinnt nicht gleichzeitig die Ökonomie, wenn sie sich auf eine Wissensgesellschaft bezieht, das heißt auf eine Gesellschaft, die ihre Zwecke, also auch ihre ökonomischen Zwecke, auf ein sicheres Wissen stützt? Kann da noch die Frage sein, wie viel Ökonomie die Wissensgesellschaft braucht und wie viel Ökonomie sie verträgt? Und: Ist eine Wissensgesellschaft, eine schon wirkliche oder erst entstehende, nicht eine Gesellschaft, die erstens über einen klaren Wissensbegriff verfügt, die zweitens ihre Entwicklung und damit ihre Zukunft auf die Leistungsfähigkeit des wissenschaftlichen (und des technischen) Verstandes setzt, daher auch drittens im Wissen ihre wesentliche ökonomische Produktivkraft erkennt und im Übrigen viertens zwischen Verstand, als Ausdruck eines Verfügungswissens, und Vernunft, als Ausdruck eines Orientierungswissens, klug zu unterscheiden vermag? In Teilen wohl schon, vor allem dort, wo sich das Wissen mit dem Ökonomischen verbindet. Aber wie steht es mit den unterschiedlichen Rollen von Verstand, der, z. B. als wirtschaftender Verstand, alles beherrscht, und Vernunft, von der wir uns, auch im Wechselspiel von Wissen und Ökonomie, Orientierung versprechen? Offenbar kommt alles auf einen klaren Wissensbegriff an, in ökonomischen wie in nicht-ökonomischen Dingen. Wissen galt einmal als Inbegriff des Menschen als eines rationalen Wesens und als höchste Form menschlicher Arbeit. Darum lautet auch der berühmte Eingangssatz der Aristotelischen „Metaphysik“: „Alle Menschen streben von

1 Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß war bis 2005 Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz. Seit 2005 ist er Vorsitzender des Österreichischen Wissenschaftsrates. Der folgende Beitrag ist die erweiterte Fassung des Vortrags an der Universität Leipzig am 3. Dezember 2009. Der Vortragsstil wurde beibehalten, der Text um Literatur- und Quellenhinweise ergänzt.

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Natur aus nach Wissen“ 2, und darum bezeichnet Aristoteles in seiner Ethik Theoria, d. h. das Wissen in seiner theoretischen Form, als höchste Form der Praxis – nicht unerwähnt lassend, dass dies ein Ideal, kein Faktum und damit wirklich erreichbar, sei. Das Wissen wird hier zugleich mit einer Lebensform, auch einer individuellen Lebensform, identifiziert. Heute verschwindet das Wissen hinter seinen Übermittlungsformen, es wird, auch in Form von Lehr- und Lernprozessen, zunehmend subjektlos. Zugleich wird es mehr und mehr als ein Gut betrachtet, das sich den üblichen Marktformen anpasst. Eine Gesellschaft, die sich selbst als Wissensgesellschaft bezeichnet, hat das Wissen als eine handelsfähige Ware entdeckt und glaubt zudem noch eben darin über einen Wissensbegriff zu verfügen, der allen bisherigen Wissensbegriffen überlegen ist. Selbst die Universität argumentiert heute häufig, sei es gesellschaftlich getrieben oder aus freien Stücken, ökonomisch, wenn sie sich in ihren Wissensstrukturen beschreibt. Wie kommt es zu dieser merkwürdigen Vorstellung? Was ist passiert? Im Folgenden einige Beobachtungen und Überlegungen zu den Stichworten Wissen und Vergänglichkeit, Wissen als Ware und Wissenschaft und Universität wohin? 3

II. Wissen und Vergänglichkeit Es ist seltsam. Wo heute die Macht des Wissens und der Wissenschaft gepriesen wird, ist mit Vorliebe von der Vergänglichkeit des Wissens die Rede. Man spricht von seiner Halbwertszeit und davon, dass in immer kürzeren Zeiträumen zum Unwissen wird, was wir eben noch zu wissen meinten. Die Terminologie stammt aus den Lehrbüchern der Kerntechnologie und der Lebensmittelchemie. Neues Wissen schiebt in immer kürzeren Abständen das alte beiseite. Führt also alles Wissen ein Verfallsdatum mit sich? Kommt und geht das Wissen wie ein launiger Gott? Bewegt sich ausgerechnet eine Wissensgesellschaft auf schwankenden Wissensplanken? Hier ist Entwarnung angezeigt. In der Rhetorik von Halbwert und Verfall – gleichzeitig im Parallelmythos einer Verdoppelung des Wissens alle etwa fünf Jahre – macht sich viel Unsinn breit. Was einmal erkannt oder entdeckt ist, verliert – Irrtumsmöglichkeiten selbstverständlich immer in Rechnung gestellt – nicht ständig seine Wahrheit. Das gilt für mathematische Beweise ebenso wie für viele naturwissenschaftliche Erkenntnisse, und selbst von der einen oder anderen ökonomischen und philosophischen Einsicht. Unser Wissen nimmt zu, aber es ist nicht sterblicher geworden, als es in weniger wissensorientierten und wissenstollen Zeiten war. Mit anderen 2

Aristoteles, Met. A1.980a21. Vgl. zu diesen Stichworten die ausführlicheren Darstellungen in: Mittelstraß (2001), S. 33 – 67. 3

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Worten: Wir sollten beim Preis des Wissens gelegentlich auch wieder an das Beständige denken, statt mit einer falschen Halbwerts- und Verfallsrhetorik seine (vermeintliche) Vergänglichkeit zu rühmen. Am Vergänglichen tragen wir schon schwer genug; erinnern wir uns gelegentlich des Bleibenden. Davon gibt es in der Wissenschaft und an anderen Orten des Wissens, gottlob, genug. Dass unser Wissen rasant zunimmt, ist natürlich schon für sich genommen ein großartiger Ausdruck erfolgreicher Wissenssuche. Welcher Teil unserer Welt sonst könnte auch auf derartige, offenbar zuverlässige Zuwachsraten verweisen? Allerdings will hier sehr genau beurteilt werden, von welchem Wissen wir dabei sprechen. Wir zählen nämlich möglicherweise sehr viel Überflüssiges, Unbedeutendes, Redundantes, nur die Publikationslisten der Wissenschaftler Verlängerndes mit. Nicht alles Rechnen hinter dem Komma macht eben Sinn, nicht alles, was man wissen kann, weil es unsere Instrumente zu registrieren vermögen oder unseren Sammeleifer befriedigt, ist sinnvolles Wissen, bringt uns in unserem Streben nach Einsicht und (relevantem) Wissen wirklich weiter. Da gibt es eben neben einem Informationsmüll, der unaufhaltsam wächst, auch etwas, das man als Wissensmüll, als Wissen ohne Belang, bezeichnen könnte. Also kommt es darauf an, sehr genau zwischen relevantem Wissen und seinen mehr oder weniger irrelevanten Ablegern und Seitenwegen zu unterscheiden. Eben dies scheint in einer Wissensgesellschaft, wie sie sich selbst sieht, nicht mehr zu geschehen. Das Wissen beginnt zu wuchern; es verliert seinen orientierenden Charakter. Und noch etwas geschieht. Das Wissen verliert seine begriffliche Schärfe. Es wird nicht nur von Mythen bedrängt, die es sich selbst schafft, sondern, gewissermaßen von der falschen Seite kommend, auch von einem Geschwister des Wissens, gemeint ist der Information. Tatsächlich verändern sich in der Wissenswelt, dem Komplement der Wissensgesellschaft, die Wissensstrukturen; Informationswelten treten an die Stelle von Wissenswelten und, in bedenklicher Verbindung mit ihnen, an die Stelle von Bildungswelten. Eine neue Pädagogik versucht uns einzureden, dass wir alle von Wissenszwergen zu Informationsriesen werden sollen. Das Wissen als leichte Ware und die Informationsgesellschaft, als die sich hier die Wissensgesellschaft zu erkennen gibt, als neues gesellschaftliches Glück? Hier gehen die Begriffe des Wissens und der Information durcheinander. Begriffliche Arbeit tut Not, und besonders Not tut hier die Arbeit am Begriff der Information. Information macht dem Wissen und der Gesellschaft Beine, aber sie ist damit noch nicht das bessere Wissen. Das gleiche gilt vom Begriff der Informationsgesellschaft, d. h. von einer Gesellschafts- und Wirtschaftsform, in der die Erzeugung, Speicherung, Verarbeitung, Vermittlung, Verbreitung und Nutzung von Informationen und Wissen in Informationsform, einschließlich immer größerer technischer Möglichkeiten der interaktiven Kommunikation, eine zunehmend dominante Rolle spielen. Die Informationswelt verspricht ein paradiesisches Reich

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des Wissens ohne mühsame Lernprozesse. Dabei wird aber, in der Symbiose von Bildschirm und Kopf, die Unterscheidung zwischen Wissen und Information blass. So sprechen wir häufig (und unbedacht) von Information, als sei diese schon das ganze Wissen, und übersehen dabei, dass Information nur die Art und Weise ist, wie sich Wissen transportabel macht, also eine Kommunikationsform, keine (selbständige) Wissensform. Es entsteht der irreführende Eindruck, dass sich das Wissen selbst in Informationsform bildet, dass, mit anderen Worten, mit dem Informationsbegriff ein neuer Wissensbegriff entstanden ist, und zwar, gegenüber älteren Wissensbegriffen, der einzig richtige. Das wiederum ist semantischer Unsinn. Richtig ist, dass die Information dem Wissen folgt; sie ist weder mit diesem identisch, noch geht sie ihm als eigene Wissensform voraus. Dass Information nicht gleich Wissen ist oder sich problemlos an dessen Stelle setzen kann, wird auch darin deutlich, dass nicht alles Wissen ist, was die Information, auch unter dem Signum des Wissens, transportiert. Ihre Ware ist vielmehr auch der Irrtum, das schlicht Falsche, das Oberflächliche und das Ungeprüfte, das Halbgare und das Verdorbene, sogar (immer häufiger) Täuschung und Lüge. Auch das Banale ist eben nicht fern, wenn das Virtuelle nah ist. Oder anders formuliert: Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass das Informationsnetz nicht nur der Wahrheit wegen geflochten wird. Außerdem treten in einer Informationswelt an die Stelle eigener Wissensbildungskompetenzen Verarbeitungskompetenzen und das Vertrauen darauf, dass die Information ‚stimmt‘. Was soll auch ein Skeptiker vor dem Bildschirm? Informationen muss man glauben, wenn man ihr Wissen, das über die Information transportierte Wissen, nicht selbst daraufhin prüfen kann, ob es wirklich Wissen ist. Eben diese Prüfung aber war bisher konstitutiv für den Begriff der Wissensbildung: Wissen kann man sich nur als Wissender aneignen, Wissen setzt den Wissenden voraus, Wissen heißt lehren können. Insofern kommt es aber auch darauf an, sehr genau zwischen einem Wissen, das seinen Sitz in einem selbst erworbenen, selbst Wissen produzierenden und sich methodisch und kritisch auf dieses Wissen beziehenden Sachverstand hat, und einem Wissen, das als mitgeteiltes einfach übernommen und weiterverarbeitet wird, zu unterscheiden. Der Nutzer oder Anwender des Mediums Information muss wissen, worauf er sich einlässt, nicht, indem er den modernen Informationstechnologien misstraut – dies hieße das Kind mit dem Bade ausschütten –, sondern indem er Informationen mit dem eigenen Wissen verbindet. Es sollte eben der richtige Kopf vor dem Bildschirm sitzen. Denn eine Logik des Scheins, die der Aufklärer Kant noch in den großen Systemen der Metaphysik am Werke sah, hat sich in einer Informationswelt in die Niederungen des menschlichen Fürwahrhaltens begeben und ist heute wohlfeil – in Form eines Netzes, das zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden, dem Wahren und dem Falschen nicht zu unterscheiden vermag – allen zugänglich. Welch Paradies für Halbgebildete, Wissenshabenichtse und kleine Betrüger. Virtualität als große

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Gleichmacherin von Sein und Schein, Wissen und Glauben, Tatsachen und NichtTatsachen, Wahrheit und Betrug? Wir werden auf der Hut sein müssen. Tatsächlich falsch und virtuell falsch ist dasselbe, tatsächlich falsch und virtuell wahr nicht. Es kommt noch etwas hinzu. Der modernen Welt, gleichgültig wie sie sich selbst (vereinfachend) benennt, stehen mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien Unmengen von Informationen zur Verfügung, und gleichwohl wird diese Welt immer orientierungsschwächer. Das steht keineswegs im Widerspruch zueinander, insofern auch von Informationen erwartet werden darf, dass sie unter anderem der Orientierung dienen. Es ist eben gerade auch der Überfluss, der uns zu Verlierern macht. In den unendlichen Weiten der Information verliert der Suchende nur allzu oft alle Orientierung, und in den unendlichen Weiten transportierten Wissens geht nur allzu oft das schon Gewusste verloren. Indiz dafür ist z. B. der Aufwand, der heute mit Retrievaltechniken in großen Datenbanken getrieben wird. Dem Aneignen in seinen modernen, digitalen Formen steht offenbar das Vergessen näher als die Erinnerung. Deshalb muss diese auch immer wieder neu inszeniert werden. Die Flüchtigkeit der Information verdrängt die andauernde Gegenwart des Wissens, die Beschleunigung unserer Lebensformen jegliche stabilisierende Nachdenklichkeit. Nachdenklichkeit ist ein Geschwister des Beständigen. Nicht dass sie das Vergängliche aus dem Auge verliert; aber sie folgt, auch in Sachen Wissen und einer sich mit dem Wissen verbindenden Orientierung, nicht den hektischen Bewegungen des Zeitgeistes. Dabei ist es für die Nachdenklichkeit gegenüber einem Zeitgeist, der es liebt, sich in Informations- und Medienwelten zu spiegeln, schwieriger geworden, sich Geltung zu verschaffen. Oberflächliche Kulturen gedeihen auch auf hohem gesellschaftlichen Niveau. Der Analphabetismus hat viele Formen; er reicht von der Lese- und Schreibschwäche bis zur Denkschwäche, und wo das Denken aufhört, beginnt das Geschwätz, z. B. im Dauerreigen der Talkshows und der Modephilosophen. In unserer Gesellschaft nimmt eine exhibitionistische Geschwätzigkeit beunruhigend zu und ein ernstes Nachdenken ab. Die Zeit wird durch das Maß des Aktuellen, oft des Seichten, nicht durch das Maß des Beständigen und des Wesentlichen geteilt – als ob es darauf ankäme, die Dummheit statt den Verstand zu demokratisieren. Die hier getroffenen Unterscheidungen machen deutlich, dass auch die Beschwörung der Wissensgesellschaft als einer Informationsgesellschaft ins Leere geht, wenn mit ihr nicht nur eine informierte, sondern auch eine orientierte Gesellschaft gemeint sein sollte. Die Informationswelt ist keine Orientierungswelt, auch wenn in rationalen Kulturen jede Orientierungswelt (zunehmend) Elemente eines ‚Informationswissens‘ enthalten muss. Ist also die Wissenswelt, und mit ihr die Wissensgesellschaft, die gesuchte Orientierungswelt? Auch dagegen spricht heute manches, z. B. ein ökonomistischer Umgang mit dem Wissen, das schwierige Verhältnis zwischen Ökonomie und Wissen.

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III. Wissen als Ware Was hier in einer epistemischen Begrifflichkeit – Wissen und Information – zum Ausdruck gebracht wurde, lässt sich auch in einer ökonomischen Begrifflichkeit formulieren. Wissen, das ist heute nicht mehr Ausdruck der zu Beginn in Erinnerung gebrachten Aristotelischen Überzeugung, dass im Wissen die höchste Form menschlicher Arbeit liege und Wissen in diesem Sinne auch eine Lebensform, die Lebensform des Wissenden oder der sich im oder durch das Wissen Orientierenden, darstelle, sondern ein Gut, das sich den üblichen Marktformen anpasst, das nicht etwas ist, das die Welt, die moderne Welt, beherrscht, sondern etwas, das von dieser Welt bzw. ihren Marktformen beherrscht wird. Eigentümlicherweise versteht sich ja auch die Wissensgesellschaft in der Regel nicht in der Weise, dass hier eine Gesellschaft konsequent auf ihr wissenschaftliches, d. h. ihr epistemisches, Wesen setzt, sondern so, dass sie das Wissen als eine handelsfähige Ware entdeckt. Werden die gewohnten Geltungsansprüche und der prüfende Umgang mit ihnen durch wirtschaftlichen Erfolg und Börsennotierungen ersetzt? Wissen ist heute in der Tat für große Teile der Gesellschaft etwas geworden, mit dem man umgeht, das man nutzt, das man aber nicht selbst mehr betreibt. Das Zauberwort lautet Wissensmanagement. Wissen wird hier zu einem Sport, den man nicht mehr selbst ausübt, über den man aber alles zu wissen glaubt, zu einem Spiel wie dem Schachspiel, dessen Regeln man kennt, dessen große Spiele man vielleicht sogar nachzuspielen vermag, das man aber, weil man es nie als eigenes Spiel zu spielen gelernt hatte, gegen jeden Niemand verlieren würde. Mit anderen Worten, es droht eine ungewohnte Distanz einzutreten zwischen Wissen und Wissendem, zwischen dem, was das Wissen vorantreibt, Voraussetzung des Neuen ist, und dem, der das Wissen nutzt und managt. Wissen aber, das nur noch als Ware gesehen wird, die es zu erwerben, zu vermitteln, zu managen und zu nutzen gilt, verliert sein eigentliches Wesen, nämlich, anthropologisch verstanden, Ausdruck des epistemischen Wesens des Menschen zu sein, und wird zu einem Gut wie jedes andere auch. Die Wissensgesellschaft erweist sich damit in ihrer Selbstwahrnehmung und ihrem Selbstverständnis als Teil einer Dienstleistungsgesellschaft, in der alle Produktionsvorgänge wieder in reine Tauschvorgänge überzugehen scheinen. Jeder ist jedem in irgendeiner Weise zu Diensten, auch der Wissenschaftler, der sein Handwerk in erster Linie nicht mehr in der Produktion von Wissen, in der intelligenten Arbeit am Wissen, sondern als dessen Manager, Anbieter und Verkäufer versteht. Und in der Tat dürfte das unbegrenzte Operieren im Meer des Wissens interessanter geworden sein als der asketische Versuch, es an irgendeinem Punkt in diesem Meer mit viel Aufwand und unbestimmtem Ausgang um das eine oder andere Element zu vermehren. Wechselt der Entdecker von der erfahrenen Armut des Wissens in dessen aufdringlichen Reichtum? Entdeckung nicht als

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Entdeckung des bis dahin Ungewussten, damit des eigentlich Neuen, sondern als Entdeckung des irgendwo schon Gewussten, also des alten Neuen? Vieles spricht dafür, dass das Wissen in unseren Köpfen sein Koordinatensystem zu wechseln beginnt, dass mit der Warenvorstellung des Wissens auch ein veränderter Umgang mit dem Wissen verbunden ist. Könnte auch das ein Grund dafür sein, dass in den Natur- und Ingenieurwissenschaften die Studierenden ausbleiben und in den informatikbezogenen und wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen die Hörsäle überlaufen? Wissen lässt sich nicht herstellen, wie man Kugellager oder Waschmittel herstellt. Eben diese Vorstellung aber scheint, ineins mit einem veränderten Umgang mit dem Wissen, mehr und mehr um sich zu greifen. Der Verwertungsdruck auf die Forschungseinrichtungen, unter ihnen die Universitäten, steigt; ein immer wieder angemahnter Wissenstransfer besagt, dass in der Wissenschaft die Dinge so weit vorzufertigen sind, dass sie die Wirtschaft wie Rohlinge in die weiterverarbeitende und wirtschaftende Hand nehmen kann. Alles andere scheint vergeudete Zeit und unnütz zu sein. Wo von Forschung in der Weise von Grundlagenforschung die Rede ist, denkt man nur noch an Elfenbeintürme. Die passen tatsächlich nicht mehr in die Architektur der modernen Welt, doch hat das mit dem besonderen Wesen der Wissenschaft auf der Suche nach dem Neuen und den besonderen Wegen, die sie dabei einzuschlagen hat, nichts zu tun. Wir stehen vor einem großen Missverständnis. Und wenn wir nicht achtgeben, schlägt ein unsicher und oberflächlich gewordener Umgang mit dem Wissen auf die Wissenschaft zurück. Vielleicht geht es uns in Wissenschafts- und Universitätsverhältnissen dann irgendwann auch wie in anderen ökonomischen Verhältnissen: Mit der aus ökonomischen Gründen erfolgten Privatisierung der Post wurden erst einmal fleißig Filialen geschlossen und verschwanden Briefkästen über Nacht. Telefonisch war die heimische Post nicht mehr erreichbar; offenbar wurden die Telefone knapp. Banken dachten einmal darüber nach, was sie für den Kunden noch tun konnten, heute umgekehrt darüber, was ihnen der Kunde abnehmen kann. Dafür werden stolz, wie auch im Dienstleistungsbereich der Post, gewaltige Gewinne verkündet. Wird man demnächst auch die Grundlagenforschung, die keinen unmittelbaren Gewinn verspricht, schließen? Das Ökonomische verselbständigt sich, es sucht den eigenen Erfolg, nicht den des Kunden oder der Gesellschaft. Der Wissensgesellschaft geraten in ökonomischen Dingen die elementaren gesellschaftlichen Bedürfnisse aus dem Auge. Eben das spüren heute auch Wissenschaft und Universität.

IV. Wissenschaft und Universität wohin? Kern einer Wissensgesellschaft, die diesen Namen verdient, ist die Wissenschaft, d. h. die Bildung von Wissen in Wissenschaftsform. Damit ist nicht gemeint, dass die Wissensgesellschaft in Wahrheit eine Wissenschaftsgesellschaft

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wäre oder sein müsste. Beides, Wissensgesellschaft und Wissenschaftsgesellschaft, ist nicht dasselbe. Eine Wissensgesellschaft benötigt zwar immer mehr Wissen, das durch Wissenschaft und Forschung gewonnen wird, aber die Wissenden in einer Wissensgesellschaft sind deshalb nicht gleich alle Wissenschaftler oder auf diese beschränkt. Das Medium Wissen, in dem sich die moderne Gesellschaft bewegt und immer intensiver bewegen wird, speist sich aus vielen Quellen. Wissenschaft und Forschung gehören zu diesen Quellen, aber auch der kluge Umgang mit dem wissenschaftlichen Wissen, ferner Urteilskraft, die sich auf Wissen und Erfahrung stützt und (nach Kant) zwischen Verstand und Vernunft im Sinne eines Orientierungswissens produktiv zu vermitteln vermag. Für die Universität als dem zentralen Ort der Bildung und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens, damit auch als institutionellem Kern unseres Wissenschaftssystems, ändert sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wenig. Man könnte sagen, dass die Universität im Kontext von Forschung und Lehre immer schon für eine Wissensgesellschaft ausgebildet hat. Das liegt nicht nur daran, dass sie ihrem Wesen nach eine Wissensgesellschaft im kleinen ist, sondern vor allem daran, dass sie eben dasjenige Wissen bildet und vermittelt, dessen moderne Gesellschaften, die sich in ihrem Wesen auch als technische Kulturen beschreiben lassen, unabdingbar bedürfen. Das wird ihr denn auch unter anderem – und fast paradoxerweise – dadurch bescheinigt, dass hinsichtlich einer universitären Ausbildung ständig Praxis- und Anwendungsorientierung angemahnt wird. Offenbar war und ist die Universität, im Lichte dieser Mahnung gesehen, zu sehr auf das Wissen – seine Bildung, Mehrung und Prüfung – bezogen und zu wenig auf eine Umsetzung des Wissens in praktische Fähig- und Fertigkeiten. Doch was braucht eine Wissensgesellschaft dringender als Wissen? Und wo liegen die Fundamente des Wissens, jedenfalls im Sinne eines Verfügungswissens, eines Wissens mit dem wir über die Welt verfügen, anders denn in der Wissenschaft? Und das heißt eben auch: in einer Ausbildung, die eng mit der Forschung, d. h. der Wissensbildung in Wissenschaftsform, verbunden bleibt. Die Frage ist nur, ob die Wissenschaft in Form der Universität dieser ihrer Aufgabe und entsprechenden Erwartungen unter den angeführten Bedingungen einer durchgehenden Ökonomisierung aller gesellschaftlicher Verhältnisse noch in der erforderlichen Weise zu entsprechen vermag. Das Ökonomische – das ist allgemein und im ursprünglichen Sinne von Ökonomie das Haushälterische. Wo nicht hausgehalten wird, gerät alles aus dem Gleis. Das gilt auch für ein Wissenschaftssystem, und in diesem System auch für die Universität. Insofern ist die Rede von Geld, Haushalt und Ökonomie auch für die Universität nichts Neues, vielmehr etwas sehr Vertrautes und bei allem, was sie tut, zu Berücksichtigendes. Eben dies – der vertraute Umgang mit haushälterischen Dingen – ist aber auch gar nicht gemeint, wenn heute von einer Ökonomisierung der Wissenschaft und der Bildung, speziell von einer Ökonomisierung der universitären Verhältnisse gesprochen wird. Hier geht es nicht so sehr

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darum, die Universität an ihre haushälterischen Tugenden zu erinnern, sondern darum, alles, was die Universität tut und leistet, ökonomischen Gesichtspunkten, kurz: dem Ökonomischen, zu unterwerfen, also das Ökonomische zum obersten Maßstab der Universität – und der Wissenschaft und der Bildung allgemein – zu erklären. Wissen, Bildung und Ausbildung geraten auch hier zur Ware. Mit anderen Worten, und um sich hier nicht dem Vorwurf auszusetzen, blind oder naiv gegen alle erkennbaren Notwendigkeiten ökonomischen Handelns an irgendwelchen lebensfremden idealistischen Vorstellungen festzuhalten: Natürlich muss auch eine Universität, um die es im Folgenden im Kontext von Wissensgesellschaft und Wissenschaft gehen soll, wirtschaften, und natürlich gehört zu einer Universität, die ihre Autonomie betont, dass sie in ihren wirtschaftlichen Verhältnissen nach allen Regeln des wirtschaftenden Verstandes verfährt und nicht nur in Forschungs- und Lehrdingen, sondern auch in wirtschaftlichen Dingen nach innen wie nach außen stark ist. Und natürlich haben sich die Verhältnisse mit dem (oft ungesunden) großen universitären Wachstum, dem Werden vieler Universitäten zu (ein wenig abschätzig so bezeichneten) Massenuniversitäten, radikal verändert. Universitäten sind in ihren Organisationsstrukturen teilweise zu riesigen Betrieben geworden, ein Umstand, dem auch in wirtschaftlicher Hinsicht Rechnung getragen werden muss. Das alles aber ist nicht gemeint, wenn hier von einer Ökonomisierung, die auch Wissenschaft und Universität ergriffen hat, die Rede ist. Gemeint ist vielmehr ein Perspektivenwechsel, der für Wissenschaft und Universität und ihre Leistungsfähigkeit gefährlich ausfallen könnte. Wir haben, so scheint es, in der Universitätspolitik verlernt, von der Wissenschaft, von ihren wohlverstandenen Bedürfnissen und Erfordernissen her zu denken. Eben darauf aber kommt es an: zu erkennen, was Forschung und Lehre in ihrem wissenschaftlichen Wesen benötigen, um jenen Qualitätsanforderungen zu genügen, die schließlich und endlich auch die Gesellschaft an sie stellt. Stattdessen macht sich ein Denken aus ökonomischer Perspektive breit. Die Wissensgesellschaft, gewohnt, das Wissen vornehmlich unter Verwertungskategorien zu sehen, überträgt ihre Perspektive auf Wissenschaft und Universität. Stichwort: unternehmerische Universität (entrepreneurial university). 4 Auf den ersten Blick: warum eigentlich nicht? Schließlich ist der forschende und der erfindende Geist stets auch ein unternehmender Geist. Allerdings sollte sich dies auch an den wohlverstandenen Zwecken des forschenden (und lehrenden) Geistes orientieren, nicht an denen des ökonomischen Verstandes in dem wie auch immer motivierten Ehrgeiz, es der Wirtschaft gleichzutun. Dabei gehörte es immer schon zu den verschrobensten Ideen der neueren Universitätsgeschichte, den Universitäten generell zu empfehlen, von der Wirtschaft zu 4

Vgl. Leitch / Harrison / Gregson (2009).

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lernen. Angesichts derer Schwächen und Untugenden, von denen gerade wieder die erst halb durchstandene Finanz- und Wirtschaftskrise zeugt, und angesichts des Umstandes, dass auch in ruhigeren Zeiten Unternehmen von ihren Managern immer wieder an die Wand gefahren werden, dürfte hier wohl an der falschen Stelle nach einem Lehrmeister gesucht worden sein. Die Universität ist kein Unternehmen, und sie agiert auch nicht auf dem Markt. Dies aber scheint die eigentliche Absicht zu sein, die sich mit dem neuen Begriff der unternehmerischen Universität verbindet. Die Universität soll zu einem Unternehmen der üblichen Art werden; sie gerät unter ein ökonomisches Paradigma. Dieses entwickelt seine eigenen Präferenzen und seine eigenen Strukturen. Mit anderen Worten, auch die unternehmerische Universität hat zwar die erfolgreiche Universität im Blick, aber sie macht Nebenzwecke zu Hauptzwecken, stellt den wirtschaftlichen Erfolg, zumindest betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte, über wissenschaftlichen Erfolg und wissenschaftliche Gesichtspunkte. Aus Zielen, nämlich denen, der Wissenschaft – und damit mittelbar der Gesellschaft – zu dienen, werden Voraussetzungen, insofern zu einer (im internationalen Wettbewerb) erfolgreichen Universität natürlich auch die Qualität von Forschung und Lehre gehört. Nur bildet diese hier nicht mehr den Kern des universitären Auftrags, sondern dient einem anderen Ziel oder Zweck, nämlich dem in betriebswirtschaftlichen Kategorien gemessenen Erfolg. Wer dafür ein Beispiel sucht, sei auf die neuere Universitätsentwicklung in Dänemark verwiesen. Hier wird derzeit ein Universitätssystem radikal auf wirtschaftlichen Erfolg umgestellt, bemächtigt sich der Staat der Ziele und Zwecke einer Universität und formt sie nach seinen Vorstellungen um. In diesem Prozess wird Innovation zum großen Zauberwort: Was immer schon, und völlig zu Recht, als wünschenswerte Konsequenz kreativer Wissenschaft erwartet wurde, nämlich die Übersetzung bzw. Umsetzung wissenschaftlicher Einsichten und Entdeckungen in gewünschte oder gesuchte Produkte, wird nun von der Universität selbst als Kern ihres forschenden Tuns erwartet. Das, was man gemeinhin als Grundlagenforschung bezeichnet, wird von vornherein unter Zwecke gestellt, die nicht ihre eigenen sind. Aus einem der Wissenschaft inhärenten Zweck wird ein Mittel (zu einem anderen Zweck); die Optik wechselt von der Forschung selbst auf deren Erträge. Nun sollte man sich auch hier vor allzu holzschnittartigen Unterscheidungen hüten. Derartige Unterscheidungen dienen der Klarheit im Grundsätzlichen, nicht schon der explanatorischen Gründlichkeit. Das gilt auch von der gewohnten und auch hier zunächst ebenfalls verwendeten Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung – als Synonym für Forschung und Wissenschaftlichkeit im engeren Sinne verstanden – und angewandter, von Wirtschaft und Gesellschaft gesuchter und geschätzter Forschung, als sei dies eine Unterscheidung, die auf alle forschenden Verhältnisse passt und diese in allen Fällen trennscharf in zwei gegensätzliche Forschungstypen zerlegt.

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Die gesellschaftliche Dynamik geht heute – das wissen wir alle – vor allem von der technologischen Entwicklung aus, z. B. in der Mikroelektronik, in der Informationstechnologie, in der Biotechnologie, in der Produktionstechnik und in der Materialforschung, die ihrerseits Voraussetzung für andere technologische Entwicklungen, z. B. die Solartechnologie, aber auch für zukünftige Fusionstechnologien ist. Dennoch wäre es falsch, die der modernen Welt in einer Wissensgesellschaft eingeborene Innovationsfähigkeit allein mit technologischen Entwicklungen zu identifizieren. Dabei würde nämlich übersehen, dass wir in vielen Fällen nicht nur bei den (technischen) Innovationen, sondern auch bei den (wissenschaftlichen) Grundlagen für (technische) Innovationen am Anfang stehen. Das gilt trotz aller bisheriger Erfolge von der Informatik ebenso wie von der Molekularbiologie, den Neurowissenschaften und selbst manchen Bereichen der Physik, die wie die Schwerionenforschung schon ausgereizt schienen. Das heißt, es geht hier nicht einfach nur um Anwendung von bereits vorhandenem Wissen, sondern auch um eine produktive Weiterführung der Forschung, die insofern immer am Anfang steht, im herkömmlichen Sinne Grundlagenforschung ist, aus der allein Innovationen im heute gängigen, in erster Linie auf Verwertungszusammenhänge gerichteten Sinne erwachsen können. Nur in dieser Forschungsform passiert das wirklich Neue, das nicht nur Seitenwege entdeckt, sondern Wissensschneisen ins Unbekannte legt, mit dem immer wieder eingelösten Versprechen, auf diese Weise, statt nur gewohnte und gesuchte Anwendungsformen fortzuschreiben, diese selbst mitzuerfinden, zumindest das Fundament für derartige Erfindungen zu legen. Nun ist Grundlagenforschung, wie schon angedeutet, ins Gerede gekommen. Der Königsweg zwischen Wissenschaft und Wirtschaft bzw. der Ausweg aus einer (wirklichen, vielleicht derzeit aber auch nur eingeredeten) Innovationskrise wird in der Forschung gesucht, aber, zumindest in Deutschland, nicht in der Grundlagenforschung. Dahinter steht wiederum ein Irrtum, den häufig die Wirtschaft mit der Wissenschaft selbst teilt, die Vorstellung nämlich, Forschung sei entweder Grundlagenforschung oder angewandte Forschung. Tatsächlich sind die Verhältnisse auch hier komplexer geworden, die alten Gleichungen Grundlagenforschung gleich Wissenschaft, angewandte Forschung gleich Wirtschaft gehen nicht mehr auf. Auch was sich heute als Grundlagenforschung bezeichnet, ist häufig anwendungsorientiert, und was als angewandte Forschung und selbst als Entwicklung bezeichnet wird, ist heute häufig grundlagenorientiert, z. B. wenn sie der Grundlagenforschung neue Nachweis- und Experimentiertechniken zur Verfügung stellt. Wir bewegen uns mit unseren Forschungen und unseren Innovationen längst in einem dynamischen Forschungsdreieck, gebildet – so ein terminologischer Vorschlag – aus reiner Grundlagenforschung, anwendungsorientierter Grundlagenforschung und produktorientierter Anwendungsforschung. 5 5

Vgl. Mittelstraß (1992), S. 60 – 66.

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Auf dieses Forschungsdreieck bzw. das durch dieses Dreieck beschriebene Forschungskontinuum müssen heute, um seine Leistungsfähigkeit, gerade auch seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu nutzen, die Forschungseinrichtungen, die Forschungsförderung und das Zusammenwirken aller an der Forschung Beteiligten ausgerichtet werden. Das geschieht zwar auch, aber in einer immer noch unzureichenden, gegenüber den bestehenden institutionellen Formen der Wissenschaft, auch der außeruniversitären Wissenschaft, viel zu unentschlossenen, in Wahrheit das Bestehende schützenden Weise. So leisten wir uns in Deutschland in der Forschung ein hochdifferenziertes System, das von der Universitätsforschung über die Max-Planck-Forschung und andere Forschungsteilsysteme bis zur Industrieforschung reicht, das darin seine ursprüngliche Stärke aufwies, aber heute in vieler Hinsicht in seinen Strukturen erstarrt ist. Wir haben zwischen den Wissenschaftsteilsystemen Zäune hochgezogen, statt zwischen ihnen wissenschaftliche Wanderwege einzurichten. Darum tut hier auch eine schonungslose Analyse not. Eine solche konsequenzenreiche Analyse haben wir vor einigen Jahren – auch das darf zum 20. Jahr der Wiedervereinigung gesagt werden – den Forschungseinrichtungen der neuen Länder zugemutet; wir sollten sie jetzt insgesamt jenem System zumuten, das sich vielleicht ein wenig voreilig als das allein selig-, vor allem aber reichmachende Forschungssystem anbot. Insofern hätten denn auch Schwierigkeiten ihr Gutes. Sie lassen die kognitiven und strukturellen Schwächen eines Systems erkennen und erhöhen den Druck auf seine Selbstheilungs- und Innovationsfähigkeiten. Wechsel der Perspektive? Gezeigt werden sollte, dass es eigentlich nur darum geht, Wissenschaft und Forschung an ihre inneren Gesetzmäßigkeiten und ihre unterschiedlichen Aufgaben zu erinnern, nicht darum, sie unter ein neues Paradigma, das ökonomische, zu zwingen. Zu diesen Aufgaben gehört auch, eine Wissensgesellschaft handlungs- und reaktionsfähig zu halten gegenüber Entwicklungen, die sie nicht in der Hand hat, z. B. gegenüber natürlichen Entwicklungen – die Natur experimentiert Tag und Nacht und dürfte auch noch manche böse Überraschungen für uns bereithalten (Stichwort: Aids) – und gegenüber Entwicklungen, die sie selbst verursacht oder zumindest mit verursacht hat (Stichworte: Klimawandel und demographische Entwicklung). Ein entsprechender Wissenschafts- und Forschungsimperativ müsste (eben auch aus anderen als ökonomischen Gründen) lauten: Lass Dich leiten von der Lust auf das Neue und dem Willen zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber achte darauf, dass es kein minderes Ziel ist, die Welt mit dem, was Du forschend und entwickelnd tust, zusammenzuhalten! Und die Universität? Für sie gilt das gleiche, was hier allgemein von Wissenschaft und Forschung gesagt wurde, insofern sie in Forschung und Lehre institutioneller Ausdruck des wissenschaftlichen Wesens der modernen Gesellschaft ist. Hier würde ein voreiliger Ökonomismus, wie er sich im Begriff der unternehmerischen Universität, auf die ganze Universität, also auch auf For-

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schung und Lehre bezogen, breitmacht, gerade verhindern, was er zu bezwecken sucht. Das gilt nicht, wenn er sich auf Leitungs- und Managementaufgaben beschränkt, nämlich hinsichtlich einer Universität, die, noch einmal, die überschaubaren Verhältnisse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts längst hinter sich gelassen hat, Eigenschaften großer Betriebe angenommen hat und eben darin einer professionellen Leitung und eines professionellen Managements bedarf. Nur sollte, was in Leitungs- und Managementdingen gilt, nicht auch für die wissenschaftliche Arbeit, für Forschung und Lehre gelten. Hier würde die Universität nicht von wissenschaftlichen Prinzipien, von Prinzipien der Forschung und der Lehre her gesehen, sondern von betriebs- und marktwirtschaftlichen Prinzipien her. Was für Leitung und Management gilt, überzöge alles, was eine Universität ausmacht, zerstörte diese in ihrem Kern, der eben kein ökonomischer Kern ist. Das aber droht, wenn sich dem unter Leitungs- und Managementgesichtspunkten geltenden Modell einer unternehmerischen Universität alles, was eine Universität im bisherigen Sinne ausmacht, unterwürfe. Dann diente sie nicht mehr auf eine universale Weise der Wissenschaft und, mittelbar durch ihre Leistungen in Forschung und Lehre, der Gesellschaft, sondern unmittelbar partikularen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Die aber scheren sich einen Teufel darum, wie Wissenschaft, wie Forschung und Lehre ihren eigenen Prinzipien und Gesetzen folgen, welchen Prinzipien und Gesetzen sich eine erfolgreiche Forschung, und welchen Prinzipien und Gesetzen sich ein erfolgreiches Lehren und Lernen verdankt, kurz: wie Wissenschaft in Forschung und Lehre ‚tickt‘. Das Neue, das sich auch die Gesellschaft, zumal eine Wissensgesellschaft, von der Wissenschaft erwartet, könnte sehr schnell ein sehr kurzatmiges und kurzlebiges Neues sein. Dass das keine unbegründeten Sorgen sind, machen heute Entwicklungen deutlich, die sich allesamt einer typisch ökonomischen oder ökonomistischen Perspektive verdanken. Ein Beispiel: Wer den Alltag einer Universität unter akademischen wie organisatorischen Gesichtspunkten kennt, trifft heute auffällig oft auf beratende, prüfende und kontrollierende Instanzen. Die sind nicht Teil der Universität, sondern kommen, meist ungebeten, von außen. Räte und Agenturen bevölkern die akademische Republik, und sie lassen die Universität häufig – und meist zu Unrecht – alt erscheinen. Dahinter steht, dass Beratung und Kontrolle in universitären oder allgemein Hochschuldingen heute zu einem eigenen Markt und zu einem erträglichen Geschäft geworden sind. Keine Universität scheint sich ihnen entziehen zu können. Dabei haben, recht besehen, die Universitäten meist wenig davon, im Gegenteil: sie werden unter den Trompetenklängen der Qualitätssicherung – auch ein Modebegriff unserer Tage – von einer Evaluierung in die andere getrieben und nach Maßstäben beurteilt, die, wenn man Glück hat, die wissenschaftliche Arbeit nicht stören, oder, wenn man Pech hat, von dieser ablenken. Beispiele sind die Erhebung der Drittmittel zum Universitätsgötzen und eine Netzwerkrhetorik, die die Forscher in immer größere, ihre eigentliche Arbeit eher behindernde als fördernde Verbünde treibt. Denn all das bedarf

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eines umfangreichen Managements, das zu Lasten der wissenschaftlichen Arbeit in Forschung und Lehre geht. Oder wiederum anders formuliert: Der beratende, der kontrollierende und der verwaltende Verstand sitzen Wissenschaft und Universität im Nacken und drohen ihnen die Luft zu nehmen, unterstützt vom politischen Verstand, der von Wissenschaft, wie sie ‚tickt‘, wenig versteht, sich aber ständig an neuen administrativen und institutionellen Einfällen berauscht. Die Kurzatmigkeit der Politik und der lange Atem, den die Wissenschaft auf dem Wege zum Neuen, auch dem für Wirtschaft und Gesellschaft Neuen, und den die Universität in ihrem forschenden und lehrenden Tun braucht, gehen einfach nicht zusammen. Das Ärgerlichste bei all dem aber ist, dass sich in dieser immer mächtiger werdenden, die Universitäten unter dem trügerischen Siegel der Qualitätssicherung peinigenden Beratungs- und Kontrollmaschinerie – die Marterwerkzeuge heißen Evaluierung, Akkreditierung, Zertifizierung, Rating und Ranking – allzu viele tummeln, die selbst niemals ernsthaft Wissenschaft betrieben haben, die darum auch von Forschung und forschungsnaher Lehre kaum etwas verstehen. Wer in der Wissenschaft nicht reüssiert, wird hier deren aufdringlicher Berater und Kontrolleur. Und die Zahl dieser selbsternannten Experten wird immer größer. Ist die Wissenschaft, ist die Universität selbst ratlos? Es wird Zeit, dass beide sich ihrer eigenen gestaltenden Kraft und Kompetenz in allen wissenschaftlichen und institutionellen Dingen besinnen. Dann kämen wohl all die Akkreditierungsund Beratungsinstitute, die im Übrigen viel Geld verbraten, das der Wissenschaft eigentlich auf andere Weise zukommen sollte, dazu, sich selbst einmal, vielleicht dann mit Hilfe von Wissenschaft und Universität, kritisch in Frage zu stellen. Zu befürchten ist nur, dass dies nicht mehr als ein frommer Wunsch ist, der im Donner von Rating und Ranking und in der keinen Einwand zulassenden Qualitätssicherungsrhetorik unerfüllt bleiben wird. Die Universität auf dem Wege zu einem Forschungs- und Lehrbetrieb, der nur noch den wechselnden Bedürfnissen und Interessen der gesellschaftlichen Praxis entspricht und sich selbst als rundum wirtschaftlichen Prinzipien folgende Dienstleistungseinrichtung versteht? Ein Zeichen dafür könnte auch sein, dass die Universität keine Idee und keine Theorie mehr hat, die diese Bezeichnung verdiente. Was das Werden zur Massenuniversität allein noch nicht schaffte, wird jetzt mit der Unterordnung unter ein ökonomistisches Paradigma und mit Bologna – nicht mit dem Geist von Bologna, aber mit seiner verordneten Wirklichkeit – allmählich vollendet: der Abschied der Universität von einer sie organisierenden Idee und Theorie aus dem Geiste der Wissenschaft. Denn welche Theorie könnte hinter der Bologna-Wirklichkeit der Universität stehen, die alle möglichen politischen und gesellschaftlichen Ziele – Mobilität, Gleichheit, Berufsnähe – hat, nur keine wissenschaftlichen? Und welche Theorie könnte hinter einer unternehmerischen Universität stehen, die ein wirtschaftliches Paradigma zum Leitbild der eigenen institutionellen Entwicklung nimmt? Administration

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hier, Management dort – nach einer Idee oder einer Theorie der Universität sucht man vergebens. An die Stelle der älteren Humboldtschen Idee, die gelegentlich noch beschworen wird, und deren Realisierung im Rahmen einer idealistischen Bildungstheorie ist ein leerer Realismus getreten, der unter der Realität nichts versteht, das geformt sein will, sondern in ihr zu verschwinden sucht. Geforscht wird, wie andernorts auch, gelehrt und gelernt wird, als ginge es darum, mit der Schule zu konkurrieren. In der Universität, wie wir sie kennen, malt die moderne Welt, die sich doch so gern – wie die Gesellschaft, die sie bevölkert – als Wissenswelt bezeichnet, ihr Bildungsgrau in Grau. Dabei spiegelt sich in der Universität der intellektuelle Zustand einer Gesellschaft. Wie schlecht muss es um diesen bestellt sein, wenn das zuvor Gesagte stimmt. Doch damit sollten wir es nicht auf sich bewenden lassen. Wissenschaft und Gesellschaft, aber auch die Universität selbst, sollten sich vielmehr wieder auf das wissenschaftliche Wesen einer Universität und eine entsprechende Idee und Theorie besinnen, unter anderem dadurch, dass sie dem Idealismus, von dem die Universität gottlob immer noch reichlich hat, in der Weise wirkungsvoll unter die Arme greifen, dass sie ihre unausgegorenen administrativen und ökonomischen Vorstellungen, mit denen sie die Universität zu verändern suchen, vergessen, dass sie wieder lernen, von der Wissenschaft und ihren wohlverstandenen Bedürfnissen her zu denken, und im übrigen in der Universität für ein realistisches finanzielles Auskommen sorgen. Dass Idee und Theorie, auf alten oder neuen Wegen, wieder ihren Platz im universitären Selbstverständnis haben, ist dann allein Sache der Universität selbst. Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft? Oder anders gesagt: Ist die Ökonomisierung der Wissenschaft und der Universität ökonomisch? Zweifellos, in den Grenzen des ökonomischen Denkens selbst, ja, aber (milde gesagt) unpassend, die eigentlichen Zwecke und die eigentliche Leistung der Wissenschaft und der Universität, gerade auch für die Zukunft einer Wissensgesellschaft, aus dem Auge verlierend. Und das wiederum wird sehr schnell zu Lasten des ökonomischen Denkens in einer Wissensgesellschaft gehen. Also doch nicht ökonomisch! Das aber ist Wahrheit und Hoffnung zugleich – auch, so möchte man wünschen, für die Universität Leipzig auf dem Wege in ihr siebtes Jahrhundert.

Literatur Leitch, Claire M. / Harrison, RichardT. / Gregson, Geoff (2009): The Entrepreneurial University, London. Mittelstraß, Jürgen (1992): Zukunft Forschung. Perspektiven der Hochschulforschung in einer Leonardo-Welt, in: ders.: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt / M., S. 47 – 73. Mittelstraß, Jürgen (2001): Wissen und Grenzen. Philosophische Studien, Frankfurt / M.

Funktionen der Wissensgesellschaft

Möglichkeiten und Grenzen industriegesponserter Forschung in der Medizin Von Frank Emmrich 1 Unter Forschung versteht man die methodenbasierte Suche nach neuen Erkenntnissen in allen Bereichen des Wissens. Wissenschaftliche Forschung schließt die systematische Dokumentation und Weitergabe des Wissens ein. Dies trifft auch auf die medizinische Forschung zu, deren Gegenstand Humanmedizin und Tiermedizin sind. Die medizinische Forschung umfasst die Lehre vom gesunden und kranken Organismus, die Kenntnis von speziellen Krankheitsursachen, den Mechanismen und Prozessen der Krankheitsentstehung (Pathogenese), den vielfältigen Verfahren zur Erkenntnis und Charakterisierung (Diagnostik) sowie der Behandlung und Heilung (Therapie) und darüber hinaus auch der Vorbeugung (Prävention) von Krankheiten. Besondere Trends kennzeichnen die gegenwärtige Entwicklung. Die molekulare Biologie erlaubt, einen präzisen Einblick in die Krankheitsentwicklung zu nehmen. Sie ermöglicht auch, die Ansprechbarkeit für bestimmte Therapien individuell zu bestimmen und eröffnet damit ein neues Gebiet, die personalisierte Medizin und die Möglichkeit maßgeschneiderter Therapien. Daneben gelingt es immer besser, Krankheitsprozesse, aber auch Regenerationsprozesse zu modellieren, eine Voraussetzung für neue Behandlungsansätze. Allen Trends ist gemeinsam: Ihnen zu folgen, ist sehr teuer. Unabhängig vom Forschungsgegenstand, aber natürlich auch im vollen Umfang gültig für die Medizinforschung, können wir uns dem Phänomen Forschung auch kategorisch über eine Betrachtung der Motive annähern, von denen Forscher bewegt werden. Mittelbar ergeben sich daraus unterschiedliche allgemeine Zielrichtungen. Generell unterscheidet man Grundlagenforschung von angewandter Forschung. Grundlagenforschung hat ausschließlich den Erkenntnisgewinn zum Ziel. Die Verwertung dieser Erkenntnisse ist nicht ihr Gegenstand, 1 Prof. Dr. Frank Emmrich ist Direktor des Instituts für Klinische Immunologie der Universität Leipzig. Der folgende Beitrag ist die erweiterte Fassung des Vortrags an der Universität Leipzig am 3. Dezember 2009. Der Vortragsstil wurde beibehalten, der Text um Literatur- und Quellenhinweise ergänzt.

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in diesem Sinne ist sie zweckfrei. Im Gegensatz hierzu ist die angewandte Forschung auf einen Zweck ausgerichtet. Ihr liegt zwar ebenfalls das Streben nach Erkenntnisgewinn zu Grunde. Sie lenkt aber den Erkenntnisgewinn auf ein konkretes Ziel. Dieses Ziel muss nicht notwendigerweise ein wirtschaftliches sein, sondern die wesentliche Bestimmungsgröße ist das Motiv der Problemlösung – oft mit der Konsequenz einer Verfahrens- oder Produktentwicklung. Grundlagenforschung galt und gilt vielen als die reinere, vielleicht sogar höherwertigere Forschung mit grundsätzlicher Bedeutung, wobei unausgesprochen der Verdacht im Hintergrund mitschwingt, dass die wissenschaftliche Objektivität als methodischer Grundpfeiler bei einer Zweckorientierung auf verschiedene Weise Schaden erleiden könnte. Andere betonen den direkt messbaren Nutzen der angewandten Forschung für den Fortschritt der Gesellschaft als höher- oder zumindest gleichwertig. In neuerer Zeit werden vielfältige Versuche unternommen – und die Politik ist dabei maßgeblich beteiligt – Brücken über das Tal zu bauen, das Grundlagenforschung und angewandte Forschung trennt. Als Beispiel sei daran erinnert, dass die technischen Voraussetzungen für bestimmte Teilbereiche der modernen Teilchenphysik kaum aus öffentlichen Quellen finanzierbar wären, wenn dahinter nicht die Zielorientierung auf einen Fusionsreaktor stünde. Gerade die modernen bürgerlichen Demokratien verlangen zunehmend Mitsprache bei der Allokation öffentlicher Forschungsmittel und damit auch Einfluss auf die Zielorientierung. Es ist nach meiner Auffassung eine der wichtigsten, aber auch am schwierigsten zu bewältigenden Herausforderungen für die moderne Wissenschaft und ihre wesentliche Organisationsform – die Universität –, hier nicht sprachlos zu verharren, sondern erklärend und begründend an der Zielorientierung translationaler Forschung aktiv mitzuwirken und die Wünsche und Hoffnungen von Gesellschaft und Politik mit den Maßstäben und Ansprüchen hervorragender Forschung in Übereinstimmung zu bringen, die zweifellos Grundlagen und Anwendung zu einer Synthese zusammenführen muss. Ohne angewandte Forschung kein gesellschaftlicher Fortschritt, aber ohne Grundlagenforschung keine Werkzeuge und Bausteine für die Anwender! Sinnbild für die Synthese ist ein neuer Terminus: Translationale Forschung. Dies meint, wenn Sie man so will, eine Priorisierung oder Strukturierung der Grundlagenforschung im Hinblick auf konkrete Ziele. Zielorientierte Grundlagenforschung wird also zum Bindeglied zwischen den beiden klassischen Kategorien. Medizinforschung ist zum ganz überwiegenden Teil translationale oder angewandte Forschung, wenn auch in bestimmten Gebieten, wie z. B. der Anatomie, auch dem reinen Erkenntnisgewinn Raum gegeben wird. Kommen wir jetzt zum eigentlichen Thema dieses Beitrags – der Forschungsfinanzierung in der Medizin. Im Groben lässt sich natürlich feststellen, dass Grundlagenforschung vorwiegend aus öffentlichen Quellen finanziert wird, während die anderen Kategorien zunehmend von der privaten Wirtschaft getragen

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werden. Aber es gibt keineswegs Ausschließlichkeit. Grundlagenforschung kann über Industrie- und Privatstiftungen finanziert werden. Im Gegenzug wird auch die Entwicklung von Verfahren und Produkten unter bestimmten Umständen öffentlich finanziert. Mehr als ein Viertel aller Forschungsaufwendungen in der Schweiz betreffen den Bereich Medizin und Life Sciences. In Deutschland belief sich der in den letzten Jahren in den Bereich regulierte präklinische / klinische Forschung / Entwicklung investierte Betrag auf ca. 6 Mrd. Euro p. a. Das sind etwa 10 % der gesamten Forschungsaufwendungen hierzulande. Betrachten wir den Anteil, den dabei öffentliche Gelder im Vergleich zur Privatwirtschaft haben, so beziehe ich mich auf statistische Angaben aus der Schweiz, die verfügbar sind. Dort liegt der Anteil der öffentlichen Gelder bei den Medizinwissenschaften bei etwa 10 %, bei der Technologieforschung bei etwa 12 %, bei den Naturwissenschaften bei 30 %. Sehr schwierig ist es herauszufinden, wie dabei verschiedene Fachgebiete der Medizin beteiligt sind. Zumal sich dies quantitativ statistisch kaum erfassen lässt, aber in Umrissen zumindest durch einen Blick auf das Engagement in bestimmten Bereichen deutlich wird. Pflege, Gerontologie, Pharmakologie, Pädiatrie, Chirurgie, Reproduktionsmedizin und Präventionsfragen werden sehr viel seltener vom Fokus von Förderorganisationen berührt, während Herz-Kreislaufkrankheiten, Neurowissenschaften, Transplantationsmedizin, Immunologie und Infektiologie, Mikrobiologie, Endokrinologie, Zellbiologie und Genomforschung, Molekularbiologie, Atemwegserkrankungen und Biotechnologie sehr viel häufiger Ansprache durch die Förderorganisationen erfahren. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Finanzierungsquellen der Medizinforschung in Deutschland. Dies sind zum einen öffentliche Förderprogramme von EU, Bund und Ländern, sowie Forschungsaufträge durch Unternehmen. Private Förderprogramme und Ausschreibungen von nationalen und internationalen Stiftungen sind entweder dem öffentlichen oder dem privaten Sektor zuzuordnen. Es gibt darüber hinaus Mischformen der sogenannten Private Public Partnership, bei denen im Allgemeinen aus öffentlichen und privaten Quellen Finanzierungsanteile für ein gemeinsames Forschungsprogramm oder eine gemeinsame Ausschreibung gesammelt werden und natürlich die Möglichkeit, Spenden zu verwenden. Kommen wir auf die Schweizer Statistik zurück. Wie bereits erwähnt, kommt dort der öffentliche staatliche Sektor bei der Finanzierung der Medizinforschung insgesamt auf einen Anteil von ca. 10%. Gemeinnützige Organisationen und Stiftungen tragen dazu nur zu unter 1% bei, sodass im Wesentlichen die öffentliche Finanzierung von staatlichen Fördermittelgebern kommt. Ebenso stellt sich auch die Situation in Deutschland dar. Das Bild bleibt lückenhaft, wenn wir nicht auf die Verteilung der Mittel aufgrund der methodisch bedingten sehr unterschiedlichen Kosten eingehen. So

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bezieht sich der Löwenanteil der 6 Mrd. Euro an Aufwendungen für Medizinforschung wie schon angesprochen auf die regulierte präklinische und klinische Forschung, d. h. im Wesentlichen auf die Finanzierung klinischer Studien, während die experimentelle Forschung im Labor und die tierexperimentellen Grundlagenarbeiten wenig über 10% dieser Summe liegen. Die Kosten für nichtexperimentell tätige Fachgebiete betragen wiederum nur einen geringen Anteil hiervon (ebenfalls ca. 10%). Was haben wir unter der regulierten präklinischen und klinischen Forschung zu verstehen? Sie umfasst viele voneinander abhängige Entwicklungsetappen sowie als Meilensteine eine große Zahl von Prüfungen und Zertifikaten, die zu erwerben sind. Die präklinische Forschung mündet in einen Herstellungsprozess für das Therapeutikum unabhängig davon, ob es sich um ein Medikament oder auch um ein zelluläres Produkt handelt. Dieser Herstellungsprozess muss im Einzelnen in Vorschriften – so genannten Standard Operation Procedures – festgelegt werden. Den Behörden müssen Probeläufe demonstriert werden und als Endergebnis erfolgt eine behördliche Herstellungsgenehmigung. Ferner muss die Verträglichkeit in einer Vielzahl von ebenfalls regulierten Testverfahren laborexperimentell im Bereich von Kleintier- und Großtiermodellen untersucht und ebenfalls standardisiert aufgeführt und protokolliert werden. Alle diese Ergebnisse werden für die Behörden in einem Investigatorenhandbuch zusammengefasst und bilden die Grundlage für die Durchführung von klinischen Studien, die in einer Stufenfolge aufeinander aufbauen. In der Studienphase I wird die Arzneimittelsicherheit geprüft, in der Phase II die Wirksamkeit, in der Phase III erfolgt eine umfassende Wirksamkeits- und Nebenwirkungskontrolle. Meistens sind diese Studien multizentrisch und multinational und umfassen zumeist mehr als 1.000 Patienten. Sie sind die Voraussetzung für die Erteilung einer Zulassung, wobei diese Zulassung für neue Medikamente heute im Allgemeinen eine europäische Zulassung durch die European Medicines Agency (EMA) ist. Darüber hinaus erfolgen nach dem Markteintritt Beobachtungen zur Anwendung, um weitere seltene Nebenwirkungen aufzuklären. Die Aufwendungen für klinische Studien in Europa hatten 2008 ein Gesamtvolumen von über 20 Mrd. Euro mit jährlichen Steigungsraten von 10 % in den letzten Jahren. Am häufigsten wurden diese klinischen Studien in Großbritannien, Deutschland und der Schweiz durchgeführt mit einer sehr ähnlichen Verteilung der verschiedenen Wirkstoffgruppen, die sich in den verschiedenen Phasen der klinischen Prüfung befinden. Vielfach taucht in der Betrachtung klinischer Studien der Begriff „Sponsor“ auf. Dieser Begriff bezeichnet den Verantwortungsträger in einer genau vorgeschriebenen Rollenverteilung, die bei den klinischen Studien vorgeschrieben ist. Der Sponsor organisiert die klinische Studie, benennt den leitenden Prüfarzt und besorgt die Haftpflichtversicherung für die Probanden. Der Sponsor muss nicht identisch mit dem Kostenträger der Studie sein, ihm obliegt aber die Kontrol-

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le der ordnungsgemäßen Durchführung. Bei der überwiegenden Mehrzahl der klinischen Studien sind allerdings die Pharmaunternehmen die Sponsoren. Ausnahmen sind die sogenannten Investigator-driven Studies, bei denen Mediziner an forschungsaktiven Kliniken – zumeist Hochschulkliniken – die treibenden Organisatoren sind und in diesem Fall entweder das Klinikum oder die Universität als Sponsor auftritt. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass dabei die Gesamtkosten für die Entwicklung neuer Medikamente stetig ansteigen. Während 1975 im Mittel 200 Mio. Euro bis zu deren Marktzulassung aufgebracht werden mussten, sind es mittlerweile über 1 Mrd. Euro, wobei hier natürlich alle Kosten eingerechnet sind für die vielen Ansätze, die auf dem langen Weg durch die Instanzen und Prüfungen an irgendeiner Stelle abstürzen. Diese hohen Kosten werden zunehmend zu einem Innovationshemmnis, weil neue Ideen nicht mehr entwickelt werden. Sie führen auch zu Selektivität bei der privaten Finanzierung, die mitunter zufällig erscheint. Dies betrifft vor allem risikoreiche Entwicklungen, wobei die Risiken durch die Neuheit oder die Höhe des Innovationssprungs bedingt sein können oder durch Risiken während oder nach der Entwicklung, z. B. in Entwicklungsbereichen, wo hohe Haftungsrisiken bestehen und dadurch die Versicherungsprämien den kalkulierten Unternehmensgewinn übertreffen. In solchen Fällen – wie vor einigen Jahren bei verschiedenen Impfstoffentwicklungen zu beobachten – nimmt die Industrie von dem Gesamtthema Abschied, was dann dazu führt, dass Neuentwicklungen aufgegeben werden und der Staat mit Förderprogrammen diese Aufgabe übernehmen muss. Neue Themen und innovative Therapieansätze leiden auch besonders unter dieser Entwicklung, weil die Industrie sich auf sichere Bereiche und kleine Innovationsschritte zurückzieht, d. h. Kombinationspräparate oder leichte Modifikationen am Präparat bevorzugt, weil hier das Risiko eines Schutzes der Entwicklung wesentlich geringer ist. Dabei entsteht eine Lücke, in der bei steigenden Kosten innovative Ansätze nicht mehr in die Klinik eingeführt werden können, zumindest nicht unter der gesetzlich vorgeschriebenen Beachtung aller Regelwerke, die zwingend vorgeschrieben sind. Davon sind vor allem seltene Krankheiten mit kleinen Märkten betroffen, für die sogenannte „orphan drugs“ erforderlich sind. Diese „Waisenkinder“ verursachen die gleichen Aufwendungen für Entwicklung und Zulassung wie die „blockbuster“, bringen aber viel weniger Umsatz und Erlös. Deshalb werden bei orphan drugs Beratungs- und Zulassungsgebühren reduziert. Damit bewegen wir uns in der Problemzone der medizinischen Forschungsangelegenheiten, d. h. bei den Grenzen der privaten Finanzierung der Medizinforschung. Eine dieser Grenzen wird zweifellos durch Marktmechanismen gesetzt. Die Pharma- und Biotech-Industrie konzentriert sich zunehmend auf große Märkte und Blockbuster. Wo bleiben dann – so müssen wir fragen – die innovativen und naturgemäß risikoreichen Neuentwicklungen bei seltenen Erkrankungen, besonders risikoreichen Entwicklungen oder gänzlich neuen Ansätzen?

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Ein weiterer Trend kommt hinzu: In den letzten zehn Jahren hat die Großindustrie ihre eigenen Forschungskapazitäten in erheblichem Maße umstrukturiert, teilweise aus Europa ausgelagert und reduziert. Sie ist dazu übergangen, statt Eigenentwicklungen mit langen und risikoreichen Vorlaufzeiten lieber Aquarien mit vielen bunten Fischlein zu beobachten – nämlich kleine Unternehmen, die häufig mit nur einem Produkt hochrisikoreiche Entwicklungsarbeit leisten – und dabei diejenigen rechtzeitig zu erkennen, die ein erfolgreiches Produkt haben. Dann kann das Unternehmen übernommen oder das Produkt getrennt verwertet werden. Dabei werden die Sitten rabiater. Zuweilen ist es viel billiger, aus einem insolventen Unternehmen Spezialisten, Know-how und Patente herauszukaufen und das, was wir in den letzten Wochen bei Opel und Quelle erlebt haben, spielt sich im Kleinen in der medizinischen Forschung ebenfalls ab. Aus der Sicht der Medizinforschung erhebt sich dabei die Frage, welche Konsequenzen mittel- und langfristig entstehen, wenn wirtschaftlich labile KMUs, die unter erheblichem Finanzierungsdruck stehen, verlässliche Partner für die ethische und juristisch sensible Medizinforschung sein können. Eine zusätzliche Grenzlinie der privaten Finanzierung von Medizinforschung betrifft verschiedene Interessenkonflikte. Wir haben schon festgestellt, wie beträchtlich die Summen sind, mit denen die klinisch regulierte Medizinforschung umgeht. Dies bringt Versuchungen und die Gefahr von Abhängigkeiten mit sich. Immer wieder gibt es einzelne schwarze Schafe und dies sollte uns veranlassen, die durchaus vorhandenen Verhaltensregeln und Kontrollen nicht nur genau zu beachten, sondern auch in verschiedenen Punkten weiterzuentwickeln. In letzter Zeit gab es einige Aufsehen erregende Fälle von Verfälschungen von Studienergebnissen zu Gunsten bestimmter Medikamente (Rofecoxib, Fa. Merck). Möglicherweise sind es bisher nur Einzelfälle geblieben. Aber bedeutsamer ist wahrscheinlich, dass auf verstecktem Wege die wissenschaftliche Objektivität Schaden nimmt, wenn z. B. negative Studienergebnisse zurückgehalten werden. Einem Artikel in The Journal of the American Medical Association zufolge wurde bei der Untersuchung von 74 klinischen Studien über Antidepressiva festgestellt, dass von 38 Studien mit positiven Ergebnissen 37 publiziert wurden. Von den 36 Studien mit negativen Ergebnissen hingegen wurden 33 entweder erst gar nicht veröffentlicht oder aber in einer Form, die einen positiven Ausgang vermittelte. 2 Es gibt auch einige Kritik an den Modalitäten mancher Phase IV-Studien. Dies sind die sogenannten Anwendungs- oder Beobachtungsstudien, bei denen zuweilen das Marketingbestreben der Industrie zu überhöhten Zuwendungen oder Einflussnahmen führt. Speziell im deutschen System mit der Mischfinanzierung der Hochschulklinika gibt es eine mangelnde Trennschärfe in den Finanzierungssystemen. Die 2

Quelle: Angell, M. Industry-Sponsored Clinical Research: A Broken System. JAMA. 2008;300(9):1069 – 1071.

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Krankenkassen hegen den Verdacht, dass verbotenerweise mit den Beiträgen ihrer Versicherten klinische Forschung finanziert wird, während andererseits die öffentlichen Fördermittelgeber für Medizinforschung den Verdacht hegen, dass mit ihren Forschungsmitteln Defizite bei der Krankenbehandlung querfinanziert werden. Es ist nicht immer leicht, durch diese Ansprüche einen geraden Weg zu steuern. Eine ganz offenkundige Konsequenz ist, dass mittlerweile in den letzten Jahren alle kleinen Graubereiche in der Klinikfinanzierung weggedrückt worden sind, mit denen ein Klinik- oder Institutsdirektor mit Haushaltsmitteln noch forschen konnte. Man mag dies als Transparenz feiern, allerdings ist damit auch der Humus und Nährboden nahezu verschwunden, aus dem heraus tatsächlich kleine neue Pflänzchen gezüchtet werden können, die erste Hinweise für neue Ansätze bringen. Denn ohne Vorarbeiten ist heutzutage auch kein Drittmittelprojekt mehr einzuwerben. Schließlich soll aus gegebenem Anlass nicht vergessen werden, auf die Rolle der Universitäten einzugehen. Letztlich ist kein anderer Gralshüter weit und breit in Sicht, der die medizinisch-wissenschaftliche Kompetenz seiner Professoren und Mitarbeiter in Verbindung mit der erforderlichen Unabhängigkeit einbringen kann. Die Finanzierung können die Universitäten allenfalls in kleinen Teilbereichen erbringen, aber sie können Objektivität der Experten zusichern. Dies ist ein gewichtiges Argument gegen die Privatisierung von Medizinischen Fakultäten. 1998 gab es nach einer Pressemitteilung der Universität Berkeley eine große Bewegung in den USA und auch Kritik an der Universität, die einen Vertrag abgeschlossen hatte, der ihr wesentliche Mittel zuführte, dafür aber auch die Ausschließlichkeit an der Nutzung bestimmter Forschungsergebnisse und die Abgabe von Vermarktungsrechten von Patenten beinhaltete. 3 Ich will diesen besonderen Fall gar nicht qualifizieren und bewerten, aber möchte fragen, ob unsere Universitäten denn tatsächlich in der Lage sind, dem Verhandlungsgeschick in der professionellen Privatwirtschaft bei diesen Vertragsschlüssen gewachsen zu sein. Wohlgemerkt: Dies ist keine grundsätzliche Kritik. Vielleicht bleibt uns in der Zukunft gar kein anderer Weg, aber dann muss natürlich auf beiden Seiten gleiche Verhandlungsmacht gewährleistet sein. Das gleiche gilt für das intellektuelle Eigentum an Entwicklungen. Ich fände es sehr erstrebenswert, wenn Universitäten ihre Patente selbst professionell vermarkten könnten. Welche Schlussfolgerungen sind nun zu ziehen? In Bezug auf die Interessenkonflikte und die im Wesentlichen persönliche Verantwortung gilt es, Grundsätze zu beachten, die nicht neu sind, aber immer wieder in die Erinnerung zurückgerufen und im Einzelfall durchgesetzt werden müssen. Sie betreffen die Qualität, die Unabhängigkeit des Principal Investigators, die Transparenz der 3 Quelle: Pressemitteilung der University of California Berkeley: Swiss pharmaceutical company Novartis commits $25 million to support biotechnology research at UC Berkeley. 23. 11. 1998. http://berkeley.edu/news/media/releases/98legacy/11-23-1998.html.

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Verbindungen zum Auftraggeber, die Befolgung eines vorher festgelegten Protokolls, d. h. die Vermeidung von Nachjustierungen im laufenden Studienprozess, die Registrierung von klinischen Studien, um eine lückenlose Übersicht zu erhalten. Dies ist der Anfang auch zur Offenlegung von negativen Ergebnissen, die über vertraglich geregelte Publikationsverpflichtungen gewährleistet werden könnte. Auch für die Abwicklung der Finanzierung gibt es seit langem klare Regeln, sie müssen allerdings auch befolgt werden.

Quelle: Eigene Darstellung.

In Bezug auf die Finanzierung sind die Ministerien aufgerufen, intelligente Wege zu finden, um den Defiziten und Grenzen der privaten Finanzierung medizinischer Forschung zu begegnen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung beispielsweise hat eine Strategie entwickelt, mit der die modulartige und stufenweise Entwicklungsachse in der geregelten präklinischen und klinischen Forschung abgebildet wird, um Entwicklungsengpässe aufzufangen. Es versteht sich von selbst, dass wegen der Größe der erforderlichen Summen in den späteren Entwicklungsphasen nur Kofinanzierungen in Betracht kommen. Hier gilt es, in Zukunft mehr als bisher inhaltliche Prioritäten zu setzen, beispielsweise in Bezug auf die zuvor aufgezeigten Problemzonen, und die Vertragsgestaltung der Kofinanzierungen weiterzuentwickeln. Wir dürfen nicht auf eine unabhängige Medizinforschung und einen Grundsockel öffentlicher Finanzierung verzichten. Die Unabhängigkeit der verantwortlichen Personen – nicht nur, aber vor allem des Principal Investigators – muss

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gesichert sein und die international gültigen Regeln für die regulierte klinische Forschung müssen durchgesetzt und in einigen Punkten weiterentwickelt werden. Es ist eine Herausforderung für die Medizinischen Fakultäten und die Universitäten – vielleicht ihre wichtigste und größte –, die führende Rolle und die Fachkompetenz bei der präklinischen und klinischen Forschung zu sichern.

Neue Ansätze zur Steuerung und Finanzzierung translationaler Forschung Die „Pharma-Initiative für Deutschland“ des BMBF setzt sich aus einer übergreifenden Entwicklungsstrategie und Maßnahmen für die gezielte Förderung auf dem Weg von der Forschung bis zur Marktreife zusammen. Öffentliche Forschung Biotechnologie-Unternehmen Klinik Pharma-Unternehmen Grundlagenforschung

TargetValidierung

LeitsubstanzGenerierung

Krankheitsmechanismen aufklären

präklinische Studien

klinische Studien

Zulassung + Vermarktung

Stärkung der klinischen Forschung

Unterstützung gründungsbereiter Forscherteams

Stärkung des Produktionsstandortes

Initiativen zur Wirkstoffentwicklung Kooperationen zwischen Unternehmen Neue, übergreifende Entwicklungsstrategien

Die übergreifende Entwicklungsstrategie: BioPharma – Der Strategiewettbewerb für die Medizin der Zukunft Fördervolumen 2007–2011: 100 Mio. Euro

Quelle: Eigene Darstellung.

Literatur Adler, Guido / Schölmerich, Jürgen (2004): Umgang mit Drittmitteln für die klinische Forschung, Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Bundesärztekammer (Hrsg.) (2006): Finanzierung patientenorientierter medizinischer Forschung in Deutschland, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 31 –32, S. A2130A2131. Pfluger, Thomas / Biedermann, Andreas (2008): Finanzierung von F&E im Bereich Medizin / Life Sciences in der Schweiz, in: Gebert Rüf Stiftung (Hrsg.): Rahmenstudie 1/2008 Basel. Schneider, Nils / Lückmann, Sara Lena (2008): Pharmasponsoring in der ärztlichen Fortund Weiterbildung, in: Zeitschrift für Allgemeine Medizin, Heft 84, S. 516 –524.

Forschungsfinanzierung in den Biowissenschaften. Das Beispiel Sachsen Von Anja Landsmann und Annette G. Beck-Sickinger 1

I. Einleitung Forschung, besonders die natur- und lebenswissenschaftliche Forschung, kostet sehr viel Geld. Nicht nur müssen die Labore (gebaut und) mit einer Vielzahl von Geräten ausgestattet und Personen eingestellt werden, die eine Reihe von Experimenten durchführen, bevor eine Erkenntnis als gesichert in einer Publikation bekanntgegeben werden kann. Die Labore müssen zudem beheizt werden, verbrauchen Wasser und Elektrizität. Es muss Computer und Internetanschlüsse geben, Verbrauchsmaterialien in Form von Chemikalien, Aminosäuren, Blutund Gewebeproben, aber auch Handschuhe und Druckerpapier werden benötigt. Wissenschaftler vom Professor bis zum Doktoranden sollen auf Konferenzen ihre Ergebnisse vorstellen können, müssen zu Kooperationspartnern reisen und Fachzeitschriften einsehen. Das alles sowie die Verwaltung dieser Forschungsprojekte und der normale Lehrbetrieb an den Universitäten kostet viel Geld. Sehr viel und in der Grundlagenforschung meist öffentliches Geld. An den ostdeutschen Universitäten kam zu diesen allgemeinen und weltweiten Problemen der biowissenschaftlichen Forschung hinzu, dass nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten die veraltete Ausstattung der Laboratorien grundlegend erneuert werden musste. Dieser Umstand, 40 Jahre Nachholbedarf gegenüber den alten Bundesländern, der anfangs wie ein Nachteil gegenüber den etablierten Universitäten in Westdeutschland schien, kehrte sich im Laufe der letzten Jahre allerdings ins Vorteilhafte, da durch die aktive Einwerbung von Drittmitteln, Investitionsbeihilfen des Bundes und durch Gelder aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) eine moderne Forschungsinfrastruktur aufgebaut werden konnte, die den westdeutschen, aber auch vielen Universitäten weltweit voraus ist. Denn 1 Prof. Dr. Beck-Sickinger ist Inhaberin des Lehrstuhls für Biochemie und Bioorganische Chemie an der Fakultät für Biowissenschaften, Pharmazie und Psychologie der Universität Leipzig. Dipl.-Pol. Anja Landsmann ist Koordinatorin des Profilbildenden Forschungsbereichs „Molekulare und zelluläre Kommunikation: Biotechnologie, Bioinformatik und Biomedizin in Therapie und Diagnostik“ an der Universität Leipzig.

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durch die rasante Entwicklung in den Bio- und Lebenswissenschaften und ihrer experimentellen Gerätschaften in den letzten 20 Jahren veraltete die Ausstattung z. B. an den westdeutschen Forschungseinrichtungen schneller, als hier die neuesten Geräte angeschafft wurden. Deshalb gehören die ostdeutschen Forschungslabore heute mit zu den modernsten in Deutschland, ja vermutlich in Europa. Dies ist nicht nur ein eindeutiges Zeichen der erfolgreichen Lobbyarbeit der ostdeutschen Politiker und Kommunen bei den zuständigen Bundesministerien und der Europäischen Kommission. Es ist auch ein Zeichen für den zunehmenden Erfolg der hiesigen Wissenschaftler, denen es gelungen ist, mit herausragenden Forschungsergebnissen internationale Sichtbarkeit zu erlangen und auf dieser Basis zusätzliche Forschungsgelder einzuwerben. Dieser Weg war nicht immer einfach und ist für ein ostdeutsches Bundesland wie Sachsen mit begrenzten eigenen Mitteln nicht immer einfach zu gehen, da Budgetrestriktionen einer intensiveren (finanziellen) Unterstützung der hiesigen Forschungslandschaft oft entgegenstehen. Trotz dessen setzte sich Sachsen früh das Ziel, den Freistaat in eine wissens- ja, wissenschaftsbasierte Wirtschaftsregion 2 zu wandeln und kann heute durchwachsene, aber sichtbare Erfolge zeitigen. Dieser Beitrag soll verdeutlichen, dass sich durch die finanzielle Förderung von Forschung und Entwicklung (F&E) in Sachsen, besonders in den Biowissenschaften, eine vielfältige Forschungslandschaft entwickelt hat, die grundlegend für die weitere wissenschaftliche und auch wirtschaftliche Entwicklung des Landes sein wird. Es sollen die Mechanismen der Forschungsfinanzierung, Geber, Empfänger und die Effekte der finanziellen Unterstützung sowohl für die Universitäten und Forschungseinrichtungen als auch die erhofften Effekte für Wirtschaft und Gesellschaft im Allgemeinen dargestellt werden. Teil II. wird sich mit der Einordnung der Forschungsfinanzierung in das öffentliche Aufgabenspektrum beschäftigen und die Dimensionen des finanziellen Engagements aufzeigen. Im dritten Abschnitt wird begründet, warum gerade die Universitäten als umfassende und allerdings auch schwerfällige Forschungsinstitutionen ins Zentrum der Forschungsförderung gestellt werden sollten. Abschnitt IV. beleuchtet die derzeitige Situation der Biowissenschaften im Freistaat Sachsen, stellt einzelne Projekte und Trends exemplarisch vor. Abschließend (Abschnitt V.) soll die Entwicklung in den Biowissenschaften beurteilt und insbesondere mit dem Ziel Sachsens, eine wissenschaftsbasierte Wirtschaftsregion zu werden, kontrastiert werden. Nebenbemerkung: Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes soll die Forschungsfinanzierung in den Biowissenschaften an den sächsischen Universitäten stehen. Unter 2 So und ähnlich mehrfach die damalige Staatsministerin Dr. Eva-Maria Stange in verschiedenen Ansprachen. Ministerpräsident Tillich arbeitet mit dem Begriff Wissenschaftsland. So zuletzt in der Regierungserklärung von Ministerpräsident Tillich: „Sachsen will 2020 wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen“ vom 11. 11. 2009 (vgl. http://www .ministerpraesident.sachsen.de/14743.htm, Download vom 21. 11. 2009).

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Biowissenschaften werden im weitesten Sinne alle Forschungsgebiete der Biotechnologie, Biochemie, Biomedizin und Bioinformatik gefasst. Aus Gründen der statistischen Validität werden auch andere zusammenfassende Bezeichnungen, wie Lebenswissenschaften oder Life Science, unter diesem Label betrachtet, da diese Forschungsfelder – so differierend ihre Materie im Einzelnen auch ist – wichtige methodische und organisatorische Merkmale, aber auch Problemstellungen gemein haben, die es rechtfertigen, sie gebündelt im Hinblick auf die öffentliche Forschungsfinanzierung zu betrachten.

II. Finanzierung von Forschung in Deutschland Forschung in Deutschland wird zu einem großen, aber nicht überwiegendem Teil aus öffentlichen Haushalten bezahlt. Warum das so ist, ist nicht für jeden (Steuerzahler) sofort einsichtig und ist oft grundlegend für jegliche Kritik hinsichtlich Verschwendung und Ergebnislosigkeit an Forschern, Universitäten und der Forschung im Allgemeinen. Zwar bringt die Wirtschaft rund zwei Drittel der Kosten für F&E auf, doch ein Drittel, immerhin rund 18 Mrd. Euro, steuern öffentliche Haushalte, vor allem Bund und Länder, aber auch die Kommunen bei. Spätestens seit dem 2. Weltkrieg und noch zunehmend im Kalten Krieg wird die Förderung von Forschung und Entwicklung zur Stärkung der heimischen Wirtschaft, der Schaffung von Wohlstand, aber auch zur Sicherung des Landes als öffentliche Aufgabe angesehen. So forderte im Jahr 1945 der damalige Präsidentenberater Vannevar Bush explizit in einem Bericht an Präsident Roosevelt: „The Federal Government should accept new responsibilities for promoting the creation of new scientific knowledge and the development of scientific talent in our youth.“ 3 Besonders die U.S.-amerikanische Förderung spezieller kriegswichtiger Forschungsprojekte (bspw. Entwicklung des Penicillins sowie des Radars und der Atombombe) während des Krieges und der Anteil, der diesen wissenschaftlichen Erfolgen am militärischen Sieg über das Deutsche Reich und Japan beigemessen wurde, verhalfen dieser Forderung zum Durchbruch. Die sicherheitspolitischen Überlegungen 4 wurden jedoch von Anfang an mit der zivilen Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die aus einer Förderung entstehen sollten, zusammengedacht. Die damaligen Ziele der Forschungsförderung unterschieden sich nicht sehr von den heutigen: Förderung 3

Bush (1945), S. 31 (Hervorhebung der Autorin). Auch der Systemgegner, insbesondere die Sowjetunion, setzte auf Forschungsförderung vor allem aus sicherheitspolitischen Erwägungen und finanzierte Forschung in einem Maße, das bisher nicht wieder von einem anderen Land erreicht werden konnte. Vgl. die interessante Studie von Graham (1998). Auch Graham gelingt es zu zeigen, wie wichtig die finanzielle Ausstattung für den Erfolg von Forschung ist. 4

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der Wirtschaft und Stärkung des Wohlstands der Nation, Schaffung von Arbeitsplätzen 5 (u. a. für Kriegsheimkehrer) und besonders in der medizinischen Forschung Heilung bzw. Ausrottung von Krankheiten. 6 Diese Vorschläge betrafen nicht nur die anwendungsorientierte Forschung, sondern zielten explizit auch auf die Grundlagenforschung als „general knowledge and [...] understanding of nature and its laws“. 7 Diese Aufgabe dem Staat zuzuweisen, gründet auf zwei unterschiedlichen Sichtweisen. Einerseits wird hier dem freien Markt ein potentielles Versagen vorgeworfen, da der öffentliche Charakter von Wissen (Nichtausschließbarkeit, keine Rivalität im Konsum) 8 und die unklare Nachfrage nach den Ergebnissen dieser Forschung verhindert, dass Unternehmen in (Grundlagen)Forschung investieren, da sie von den Ergebnissen nicht profitieren bzw. andere nicht am Nutznießen dieses Wissens hindern können. Ein zweiter Ansatz betont den eher evolutionären Charakter der Forschung und der daraus entstehenden potentiellen Anwendungsergebnisse. Es wird konstatiert, dass der Staat / die Region die heimische Wirtschaft dahingehend unterstützen sollte, dass sie durch die Finanzierung von Forschung (und nicht nur der Grundlagenforschung) die Menge an Wissen und technologischen Lösungen erhöht, sodass die Unternehmen und potentielle Unternehmensgründer aus einer größeren Anzahl von Angeboten die erfolgversprechendste Lösung für ihr Problem oder auch nur ihre Geschäftsidee wählen können. Besonders letzterer Ansatz geht zu Recht davon aus, dass man Grundlagenforschung nicht fernab von der Anwendbarkeit der Erkenntnisse ansehen sollte. Gerade auf dem Gebiet der Biotechnologie hat sich gezeigt, dass Firmen in hohem Maße von den Erkenntnissen, die aus öffentlicher Forschung hervorgehen, profitieren. 9 Zu dieser hier kurz angeschnittenen Frage nach dem Warum des öffentlichen Handelns in Bezug auf Forschung kommt die Unsicherheit über die schwierige Prognostizierung potentiell marktfähiger Technologien. Auch klare Problemstellungen in der Wissenschaft lassen nicht immer das Kommerzialisierungspotential im Voraus erkennen, Forschungsansätze können falsch sein oder eine Forschungsrichtung wird durch die Anwendung einer anderen Lösung desselben Problems und einer schnelleren Kommerzialisierung und Standardisierung dieser Lösung obsolet. Aufgrund begrenzter Mittel müssen die öffentlichen Haushalte entscheiden, in welche Forschungsgebiete es zu investieren gilt, um die höchsten Erträge für die heimische Wirtschaft zu erbringen. Dies ist weniger problematisch im sogenannten Technologie- und Wissenstransfer, wo bspw. universitäre Forschungsprojekte bereits so weit vorangeschritten sind, dass es „nur“ noch dar5 6 7 8 9

Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 5. Ebd., S. 17. Vgl. zur Frage, wann der Staat handelt: u. a. Blankart (1997), S. 53 ff. Vgl. McMillan / Narn / Deeds (2000).

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um geht, einen Partner aus der Wirtschaft zu finden, der das Produkt oder die Technologie tatsächlich an den Markt bringt. Viel schwieriger ist die Frage nach der erfolgreichsten Technologie der nächsten Generation. Derzeit gelten sowohl die Nano- als auch die Biotechnologie als die heißesten Kandidaten, einer Region nachhaltiges Wachstum zu bescheren. Dabei gilt die vom technologischen Standpunkt her etwas ältere Biotechnologie in einigen Kreisen bereits als Enttäuschung, da sich nur wenige tragfähige Cluster weltweit entwickelt haben, die in ihrer Region tatsächlich zusätzliche Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen haben. Aus diesen Bewertungsproblemen heraus entwickeln sich meist Fördertrends. Keine Region kann (und will) es sich leisten im globalen oder auch nur deutschlandweiten Wettbewerb zurückzustecken und z. B. Biotechnologie nicht aktiv zu fördern. Die High-Tech-Strategie der Bundesregierung 10 beispielsweise wird ergänzt durch das Ziel Sachsens, eine wissensbasierte Wirtschaftsregion zu werden, und beide gehen auf in der Lissabon-Strategie, Europa zur führenden Wissensökonomie der Welt zu machen. 11 Die bundesweiten 12 Programme der letzten Jahre werden sowohl durch Landesprogramme 13 verschiedener Größe und Zielrichtung ergänzt, als auch durch die entsprechenden Themengebiete des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU, deren gemeinsame Annahme es ist, das Bio- und Nanotechnologie Methoden, Produkte und Technologien entwickeln, die die regionale Wirtschaft aufnehmen und vermarkten kann. Für die Forscher in den genannten – und anderen „populären“ – Gebieten hat dies den Vorteil, dass es eine Reihe von potentiellen Geldgebern für Vorhaben des Faches gibt. Forscher und auch die Nachwuchsentwicklung in diesen Fächern folgen diesen Trends und richten ihre Projekte nach den Anforderungen der Geldgeber aus. Im Folgenden sollen einige Zahlen die Größenordnung der öffentlichen Forschungsfinanzierung in Deutschland und speziell in Sachsen verdeutlichen. In Deutschland beträgt der Anteil von Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2,54%. 14 Dies entspricht immerhin einer Summe von 61,5 Mrd. Euro. Allerdings liegt diese Summe noch immer unter dem in der Agenda 10 Sie wurde im August 2006 durch die Bundesregierung ins Leben gerufen. (Vgl. http ://www.ideen-zuenden.de/de/350.php, Download am 20. 11. 2009). 11 In der Lissabon-Agenda 2010, verabschiedet 2000, streben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das Ziel an, die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. (Vgl. u. a. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lissabon) vom 23. und 24. März 2000 unter: http://www .consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/00100-r1.d0.htm, Download am 18. 07. 2009). 12 Exemplarisch für die Förderung der biotechnologischen Forschung und der Kommerzialisierung ihrer Ergebnisse sind z. B. Maßnahmen wie GO-Bio, BioRegio, BioChance, BioFuture u. a. Eine Übersicht findet sich auf den Websites des BMBF (http://www .bmbf.de/de/962.php, 24. 11. 2009). 13 Z. B. durch die im Jahr 2000 verabschiedete Biotech-Offensive des Freistaates. 14 Diese und die folgenden Zahlen aus: Statistisches Bundesamt (2009).

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von Lissabon angestrebten Ziel, einen Anteil von 3 % 15 in F&E zu investieren. Dieser politisch verhandelte Anteil wird als notwendig angesehen, um die wettbewerbliche Position Europas durch F&E-Förderung nachhaltig zu seinen Gunsten zu verändern. Die Wirtschaft trägt von diesem Anteil den größten Teil. Sie finanziert F&E in Höhe von rund 43 Mrd. Euro. Die öffentliche Förderung ist weitaus geringer. Nur 0,41 % des BIP (10 Mrd. Euro) gehen direkt an die Universitäten; 0,35 % (8,54 Mrd. Euro) in andere F&E-Einrichtungen und Aufgaben. Die öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Deutschland erreichten damit 2007 den Stand von 18,54 Mrd. Euro. Im Freistaat Sachsen flossen (2007) 832 Mio. Euro in öffentliche Forschungseinrichtungen, davon wurden ca. 613 Mio. Euro direkt für Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten verwendet. Finanziert werden davon 8.977 Beschäftigte an öffentlichen Forschungseinrichtungen. Rund zwei Drittel dieser Personen arbeiten direkt in der Forschung. 16 Die sächsischen Hochschulen hatten Ausgaben (2007) 17 von 1,8 Mrd. Euro zu verzeichnen. Finanziert wurden diese durch 1 Mrd. Euro Grundmittel (größtenteils für Lehre und Verwaltung), 578 Mio. Euro Verwaltungseinnahmen und immerhin 246 Mio. Euro Drittmittel. Der überwiegende Anteil der eingeworbenen Drittmittel fließt in Forschungsprojekte und kann damit die Forschungslandschaft Sachsen tiefgehend verändern und strukturieren. In Abschnitt 3 wird diesem Einfluss näher nachgegangen.

III. Universitäten als Zentren der Forschung Im Zentrum dieses Beitrages stehen die Universitäten als regionale und nationale Zentren von Wissenschaft und Forschung, die durch ihre ganz besondere und gegenüber den spezialisierten Forschungsinstitutionen umfassendere Tätigkeit eine entscheidende Rolle in der Strategie, durch Forschung wirtschaftliche Entwicklung zu induzieren, spielen. Diese Merkmale sollen an dieser Stelle überblicksmäßig aufgezeigt und diskutiert werden. Der Anlass dieses Kongresses, die Gründung der Universität Leipzig vor 600 Jahren, macht ein Argument für die herausragende Bedeutung der Universitäten 15 Der Europäische Rat vereinbarte das Ziel, 3 % des BIP in Forschung und Entwicklung zu investieren auf seiner Frühjahrstagung 2002 in Barcelona. Vgl. Europäische Kommission (2002) und unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM :2002:0014:FIN:EN:PDF (Download vom 18. 07. 2009). 16 Vgl. ebd. – Zahlen für den Anteil von F&E an den Gesamtausgaben lassen sich oft nur durch Koeffizienten errechnen, da sich gerade an Universitäten der Anteil dessen, was Forschungsaufgaben sind und was nicht, selbst im Einzelfall schwer bestimmen lässt. 17 Statistisches Bundesamt (2007), S. 17.

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in der regionalen Forschungslandschaft am anschaulichsten: die erstaunliche Persistenz der Institution „Universität“ in Europa und mittlerweile auch weltweit. Trotz aller organisatorischen Unterschiede im Einzelnen, hat sich das Modell der europäischen Universität, wie sie im Mittelalter entstand und sich im Laufe der Moderne gewandelt und verfestigt hat, über verschiedene Systeme und Kulturen hinweg bestätigt und sich immer wieder den Gegebenheiten angepasst. Auch wenn gerade die Universität Leipzig durch den Auszug der Scholaren aus Prag vor 600 Jahren ein Stück weit das Gegenteil beweist: im Allgemeinen und (eben fast) allen Fällen können Universitäten expandieren oder auch schrumpfen, aber sie gehen nicht einfach woanders hin. Sie bleiben am Ort Ihrer Gründung und sind damit eine der beständigsten Institutionen einer Region. 18 Allein daraus lässt sich ihr wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Einfluss erahnen. Die Universitäten wuchsen und wandelten sich zusammen mit der regionalen Wirtschaft und Gesellschaft, etablierten mehr oder weniger enge institutionelle Strukturen mit allen Interessengruppen. Es gelang den Universitäten in der Mehrheit der Fälle, zum Zentrum der intellektuellen und wissenschaftlichen Kreise einer Region zu werden und diese Position dauerhaft zu halten. Eine Universität zieht Wissenschaftler und Studenten, aber auch andere – außeruniversitäre und betriebliche – Forschungseinrichtungen an. Es ist kaum vorstellbar, dass ein neugegründetes Forschungsinstitut in eine Stadt ohne universitäre Einrichtungen, d. h. ohne bereits vorhandene Forschungsinfrastruktur, zieht, es sei denn sein spezielles Forschungsgebiet erfordert dies. Institutionen, wie die Max-Planck-Institute und Helmholtz-Zentren, haben wiederum nicht nur auf professoraler Ebene personell enge Bindungen zu den Universitäten. Die Forschung dieser weltweit bekannten Einrichtungen wird – wie auch die universitäre Forschung – oftmals mit Hilfe von Doktoranden durchgeführt. Das Promotionsprivileg der Fakultäten bringt sie in eine gewisse Abhängigkeit zu den Universitäten, was allerdings durch den speziellen Lehrauftrag der Universitäten – der auch in der Promotionsphase wirksam wird – gerechtfertigt ist. Das Organisationsmodell Universität unterstützt Vielfältigkeit innerhalb der Forschungsfelder und erlaubt einen graduellen Wandel der Fachgebiete im Einklang mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und der Wirtschaftsentwicklung. Lehrstühle können im Sinne von aufkommenden Forschungsrichtungen umgewidmet werden, Professoren haben durch den Beamtenstatus mehr Möglichkeiten fachliche und inhaltliche Grenzen ihrer Forschung auszuloten, ohne an eine kommerzielle Verwertbarkeit jedes Experimentes denken zu müssen. Gleichzeitig ist die Universität eine recht schwerfällige Institution, da der Professorenstatus eine inhaltliche Umwidmung des Lehrstuhls vor der Emeritierung des Lehrstuhlinhabers verhindert. Dies beugt in gewissem Maße dem Verfolgen jedes Forschungstrends vor. 18

Vgl. zu diesem Argument auch: Kitson / Howells / Braham / Westlake (2009).

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Die Forschung an Universitäten ist andererseits auch Begrenzungen ausgesetzt, die aus ihrem öffentlichen Auftrag im Studienbetrieb entstehen. Dies wird oft als größtes Hindernis für die Forschung beklagt, da die Betreuung der Studierenden und die Lehre zu Recht als zeitraubend angesehen werden. Doch Studierende und noch viel mehr Doktoranden bewältigen oftmals einen nicht geringen Teil der praktischen Arbeit in den Forschungsprojekten. Ohne sie würde Forschung an Universitäten wie auch an vielen außeruniversitären Instituten nicht funktionieren. Zu den beiden klassischen Aufgaben der Universität – der Erschaffung und Weitergabe von Wissen – sind in den letzten Jahrzehnten weitere Aufgaben hinzugekommen. Der bereits erwähnte Anspruch, Forschung an Universitäten solle die regionale Wirtschaft unterstützen und für technologischen Fortschritt sorgen, ist eine sogenannte „third mission“ 19-Aktivität. Andere nicht immer klare Zielsetzungen sind hinzugekommen. Klar ist der Anspruch, zusätzliche Mittel für schrumpfende Universitätshaushalte einzuwerben, durch kompetitive Einwerbung von Drittmitteln, aber auch durch Einwerbung von Spenden, Hinwendung zu Alumni, Öffentlichkeitsarbeit, Internationalisierung und erweiterter Kommunikation und Transparenz erhofft man sich neue Kontakte und Einnahmequellen. Diese Erwartungen erfüllen sich jedoch bisher höchstens moderat. 20 Diese Ansprüche, die von anderer Seite, aber auch den Universitäten selbst, meist diffus und unter Nutzung von Schlagwörtern als (neue) Bedürfnisse der Gesellschaft dargestellt werden, führen oft zu unberechtigter Kritik an den Universitäten und Forderungen nach einem neuen Gesellschaftsvertrag 21, der alle diese Aufgaben neu regelt, aber den Universitäten nicht notwendigerweise mehr Mittel zur Verfügung stellt. Zusammengefasst müssen die Universitäten als eminent wichtige Zentren der Forschung in einer Region gesehen werden, unabhängig davon, ob sie tatsächlich im Einzelnen die meisten und größten Forschungsprojekte durchzuführen imstande sind. Im Einzelfall können sie auch als Koordinator, Netzwerker, intellektuelles Zentrum oder auch nur als Fixpunkt für Forschungsvorhaben (und auch die Ansiedlung von forschungsintensiven Branchen) gelten, da sie ein hohes Maß an Expertise in vielen verschiedenen Fachgebieten bereitstellen und zudem einen regelmäßigen Output an Absolventen unterschiedlicher Fachrichtungen gewährleisten, der die Rekrutierung von Personal durch die Industrie vereinfacht. Die Überforderung mit weiteren Aufgaben muss eher kritisch für die Intensivierung von Forschungsarbeit gesehen werden.

19

Vgl. Laredo (2007); Göransson / Maharajh / Schmoch (2009). Vgl. Krücken / Meier / Müller (2009). 21 Vgl. Samarasekera (2009). Kritisch dazu: Vavakova (1998); Hessels / van Lente / Smits (2009). 20

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IV. Die Forschungsfinanzierung in den Biowissenschaften in Sachsen und an den sächsischen Hochschulen Nach der Beschreibung der allgemeinen Situation an den Hochschulen und ihren Problemen, allen Anforderungen, die heute – mehr oder weniger explizit – an sie gestellt werden, gerecht zu werden, soll im folgenden Abschnitt konkret auf die biotechnologische Forschung in Sachsen und speziell an den sächsischen Universitäten eingegangen werden. In Sachsen gibt es fünf staatliche Universitäten 22, von denen an vier Universitäten biowissenschaftliche Forschung und Ausbildung betrieben wird. An diesen Universitäten und einigen Fachhochschulen kann man sich in 17 Studienprogrammen biotechnologisch ausbilden lassen, sowohl auf Bachelor- (8 Programme) als auch auf Masterniveau (11 Programme). Zudem existieren momentan 7 neueingerichtete strukturierte Doktorandenprogramme, die sich explizit mit biotechnologischen Inhalten befassen. Hier, bei den Promovierenden, beginnt auch die eigentliche Forschung und die Aufgabe der Forschungsfinanzierung, da ein großer Teil der Drittmittel für die Bezahlung von Doktoranden und die Durchführung ihrer Forschungsvorhaben, oft im Rahmen von Verbundprojekten, benötigt wird. Forschung wird überwiegend in Form von Drittmitteln finanziert. Das sind alle Mittel (unabhängig vom Geldgeber), die Forscher / Universitäten / Forschungseinrichtungen über ihren regulären Haushalt hinaus zugewiesen bekommen. Sie können als zusätzliche Einnahmen betrachtet werden. Diese Drittmittel können zugewiesen oder kompetitiv eingeworben werden, können Spenden oder Vergütung bspw. durch eine Industriekooperation sein. Die Drittmitteleinnahmen der sächsischen Hochschulen in Höhe von 245,9 Mio. Euro (2007) setzen sich zusammen aus Einnahmen über Wirtschaftskontakte (24 %), Einnahmen von den Gebietskörperschaften (Bund 33%, Land 5%) und der EU (9 %) und Einnahmen aus anderen meist öffentlichen Quellen, vor allem der DFG (24 %) und sonstigen Stiftungen (privat und öffentlich in Höhe von 5 %). 23 In der Folge soll vor allem die Finanzierung durch öffentliche Haushalte diskutiert werden da diese in Sachsen bisher die bedeutendste Rolle im Rahmen der Entwicklung in den Biowissenschaften spielt.

22 Den vier großen sächsischen Universitäten (Dresden, Leipzig, Chemnitz und Freiberg) gleichgestellt ist das Internationale Hochschulinstitut Zittau, welches auch einen biotechnologischen Masterstudiengang anbietet. Die Technische Universität Bergakademie Freiberg bietet kein biowissenschaftliches Studium im engeren Sinne an. 23 Eigene Berechnungen nach: Statistisches Bundesamt (2007), S. 28.

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1. Förderung durch die Gebietskörperschaften Öffentliche Geber sind die Gebietskörperschaften, Stiftungen und andere Förderinstitutionen. Von den Gebietskörperschaften sind die landeseigene Förderung, Gelder aus dem Bundeshaushalt und das Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union, derzeit ist es das 7. Forschungsrahmenprogramm, finanziell relevant. Zusammen finanzieren Sie fast 50 % 24 der Forschung an den Hochschulen und einen großen Teil der außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Im Folgenden sollen einige Beispiele die verschiedenen Arten von Förderung und ihre Effekte zeigen. Einzelne Beispiele sollen nur schlagwortartig vorgestellt werden und aufzeigen, welche Art von Maßnahmen und Finanzierung am Aufbau der hiesigen forschungsrelevanten Infrastruktur beteiligt war und was aus diesen – meist unkoordinierten – Maßnahmen im Gesamtbild entstanden ist. Auch die Zuordnung zu den gliedernden Unterpunkten behauptet keine Ausschließlichkeit der Finanzierung durch eine Ebene. In den meisten Fällen setzt die Finanzierung einer Maßnahme, z. B. durch den Bund, Eigenmittel des Landes und / oder der Kommune voraus. Oft wird die Finanzierung unter den Gebietskörperschaften aufgeteilt. Hier spielen politische Kriterien der regionalen Förderung eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Im Gegensatz dazu fördern bspw. die weiter unten aufgeführten anderen Förderinstitutionen nach anderen – mehr wettbewerblichen – Kriterien, die vor allem verstärkter Aktivität der Wissenschaftler und eines Nachweises von Exzellenz bedürfen. Aufgrund der beabsichtigten Leuchtturmfunktion dieser Maßnahmen werden hier fast ausschließlich die beiden Universitäten in Leipzig und Dresden vermerkt, da sie eine deutliche Profilierung in den Biowissenschaften bereits erreicht haben. a) Förderung aus landeseigenen Mitteln Der Freistaat Sachsen hat seit den 1990er Jahren auf vielfältige Weise die Entwicklung in den Biowissenschaften gestärkt. Hier sollen exemplarisch zwei Maßnahmen herausgegriffen werden: die Gründung der Biotech-Inkubatoren in Dresden und Leipzig und die (nicht universitätsbezogene) Förderinitiative „biosaxony“. Auf Initiative des Landes wurden in Dresden und Leipzig jeweils ein Businessinkubator 25 im Biotechnologiebereich mit Beteiligung der jeweiligen Universitäten vor Ort eingerichtet, indem sich junge Unternehmen zu günstigen Bedingungen ansiedeln können und gleichzeitig die Universitäten ein zusätzliches Biotechnologie-Zentrum mit neuester Ausstattung und je sechs zusätzliche Professorenstellen im biotechnologischen Bereich erhielten. Finanziert wurden beide 24 25

Ebd.; 47 % der Drittmitteleinnahmen (ca. 111 Mio. Euro) erfolgt über diese Geber. Leipzig: BIOCity; Dresden: BioInnovationsZentrumDresden.

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Inkubatoren durch Land, Bund, EU und die kommunalen Haushalte Dresdens und Leipzigs. Die Einbindung der Zentren 26 in die Universitäten gelang durch die Anbindung der Professuren an die beteiligten Fakultäten. Hier wird das Zusammenwirken der verschiedenen Gebietskörperschaften und der Universitäten mit dem Ziel der Wirtschaftsförderung besonders deutlich. Beide Inkubatoren konnten schnell Firmen in ihren Räumlichkeiten ansiedeln. Die wirtschaftlichen Effekte durch Nutzung der Synergien und Bestrebungen der Förderung von Ausgründungen aus der Universität zeigen sich langsam, da gerade Spin-offs von Universitäten schwer zu kreieren sind. Auch die Sächsische Koordinierungsstelle für Biotechnologie „biosaxony“ 27 ist eine Initiative des Freistaates Sachsen. Hier wird nicht Forschung an sich gefördert, sondern die Einrichtung dient als Motor, Motivator, Lobbyist und Koordinator verschiedenster Maßnahmen, die die Biotechnologie und die Ansiedlung forschender Biotechnologie-Unternehmen in Sachsen fördern soll. Gegründet im Rahmen der Biotech-Offensive des Landes baut und betreut sie ein Netzwerk aus Unternehmen und Forschungseinrichtungen. 28 Auch diese universitätsferne Maßnahme unterstützt Forschung durch Vermittlung von Kontakten, Veranstaltungen und einer verstärkten Werbung für den Standort, was wiederum auch den Universitäten zugutekommt. b) Bundesförderung Aus der Bundesförderung soll an dieser Stelle lediglich ein Beispiel herausgegriffen werden, welches für den Aufbau eines Forschungsclusters in der Region mitentscheidend ist: die Einrichtung des Translationszentrums für Regenerative Medizin (TRM) in Leipzig durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Das TRM ist eine zentrale Einrichtung der Universität und wurde im Oktober 2006 gegründet, um neuartige Diagnostik- und Therapieformen der Regenerativen Medizin zu entwickeln, zu analysieren und die Erkenntnisse in die klinische Anwendung zu überführen. Finanziert wird auch diese Maßnahme durch Bundes- und Landesgelder und einen Eigenbetrag der Universität. Im Folgenden wird noch zu sehen sein, dass gerade die Regenerative Medizin einen starken Schwerpunkt in Sachsen bildet, das TRM bildet ein Element dieses Clusters. 26

Leipzig: Biotechnologisches-Biomedizinisches Zentrum (BBZ); Dresden: Biotechnology Center of the TU Dresden (biotec). 27 Im Dezember 2009 gründete sich auf diese öffentliche Maßnahme fußend und mit Unterstützung staatlicher Stellen der Verein „biosaxony e.V.“, der zukünftig die Koordinierung von Maßnahmen zur Förderung der Biotechnologie in ganz Sachsen übernehmen wird. Vgl. Pressemitteilung des SMWK vom 18. 12. 2009 unter http://www.medienservice .sachsen.de/medien/news/37854. 28 Vgl. http://biosaxony.com/de/biosaxony/info sowie Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit (2009).

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c) Das Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union Das Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union fördert verschiedene Arten von Forschungsvorhaben auf individueller Forscherebene, in Netzwerken und Ausbildungskooperationen und durch die Finanzierung von Verbundprojekten. Die Verbundförderung (im Teilgebiet „Kooperation“) umfasst zwei Ausschreibungsthemen, die für die biowissenschaftliche Forschung relevant sind: das Programm „Gesundheit“ für biomedizinisch ausgerichtete Projekte und das Programm „Ernährung, Landwirtschaft, Fischerei und Biotechnologie“. Die Universitäten in Dresden und Leipzig beziehen ca. 10 % ihrer Drittmittel aus Programmen der Europäischen Union, mit steigender Tendenz. 29 Durch die Schaffung der Stelle eines EU-Koordinators (Leipzig) bzw. eines personell umfassender angelegten European Project Centers (Dresden) bemühen sich beide Universitäten durch Information, Beratung und Unterstützung der Wissenschaftler diese Art der Einwerbung von Drittmitteln weiter zu steigern. Die TU Dresden wirbt sogar einen großen Teil ihrer Drittmittel in den Lebenswissenschaften über das 7. Forschungsrahmenprogramm ein, Leipzig ist hier hingegen bisher weniger engagiert. 30 Zusätzlich kann der Freistaat Sachsen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung Mittel einwerben und seit 2007 sind auch Universitäten antragsberechtigt für Gelder des Europäischen Sozialfonds. Dadurch konnten eine Reihe von Landesinnovationspromotionen, Forschergruppen, Industriekooperationen (für Promotionen) und andere Maßnahmen in der Forschung gefördert werden. Aufgrund der Phasing-out-Position der Region Leipzig werden hier in Zukunft jedoch weniger Gelder fließen. Die Einwerbung von Mittel aus dem 7. Forschungsrahmenprogramm ist stark kompetitiv und beruht vor allem auf den Kriterien Exzellenz und Neuheit des Projektes. Hier Erfolge vermelden zu können, zeigt deutlich die ausgezeichnete Entwicklung der hiesigen Arbeitsgruppen. Politische Kriterien spielen nur für die Festsetzung der sehr breitgefassten Forschungsthemen eine Rolle. Für die Bewerbung um Mittel aus dem EFREund ESF-Programm sind jedoch politische Kriterien der regionalen Entwicklung sowie Prioritäten des Landes entscheidend, da sowohl die Empfängerregionen beider Fonds anhand von politisch festgelegten Kennzahlen definiert werden, als auch die Region – hier der Freistaat Sachsen – Förderprioritäten festlegen kann.

29

Vgl. Jahresberichte der TU Dresden und der Universität Leipzig. Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2009), S. 97. In den letzten beiden Jahren (2008/2009) konnte die Universität Leipzig jedoch deutlich mehr Drittmittel über die Europäische Union einwerben. 30

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2. Forschungsfinanzierung durch andere Förderinstitutionen In Deutschland finanziert eine Reihe von Stiftungen und Institutionen Forschung und forschungsnahe Projekte kleinerer oder größerer Art. Dazu gehören neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (siehe weiter unten) auch gemeinnützige Stiftungen und Vereine, die allgemein Forschungsprojekte oder bspw. Konferenzen unterstützen oder sich für besondere Fragestellungen und Probleme (z. B. in der Krebsforschung, der Popularisierung von Wissenschaft, der Förderung des Wissenschaftsjournalismus, Schule und Wissenschaft u. a.) engagieren. Diese anderen Institutionen spielen – außer in der biomedizinischen Forschung – für die Finanzierung von Forschungsprojekten eine untergeordnete Rolle und sollen hier keine weitere Erwähnung finden, da ihr Fördervolumen weitaus geringer und spezialisierter ist. Herausgehoben werden sollen stattdessen zwei für Sachsen und in der Biotechnologie besonders wichtige Förderwege – die DFG-Förderung und die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder – und ihre Auswirkungen, da hier die Datenlage auch inhaltliche Aussagen zur fachlichen Entwicklung der Biowissenschaften in Sachsen zulässt. a) DFG-Förderung Der größte Einzelförderer von Forschung und Wissenschaft in Deutschland ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). 31 Sie wird durch Zuwendungen des Bundes, der Länder und von privaten Spendern finanziert. Der größte Teil des Etats (99,7 %) von rund 2 Mrd. Euro kommt aus öffentlichen Quellen (dem Bund und den Bundesländern). 32 Sie fördert deutsche (und ausländische) Wissenschaftler in einer Reihe von unterschiedlichen Programmen und durch die Verleihung prominenter Preise. Diese Förderung reicht von Investitionsbeihilfen und Einzelförderung eines Wissenschaftlers über Forschergruppen bis hin zu großen Verbundprojekten wie den Sonderforschungsbereichen (SFB), deren Förderetat mehrere Millionen Euro pro Jahr umfasst. Die DFG-Förderung für Sachsen erreichte 2007 fast 57 Mio. Euro 33 und ist vergleichbar mit dem Anteil der Drittmittel aus Wirtschaftskooperationen. Nur der Bund förderte Forschungsvorhaben in Sachsen stärker. In Sachsen fördert die DFG derzeit neun Sonderforschungsbereiche und zwei Transregio-Sonderforschungsbereiche. In 31 Erstgründung 1920 als „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“. Diese Einrichtung wurde 1949 nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches erneut gegründet und nach der Fusion mit dem „Deutschen Forschungsrat“ 1951 in Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) umbenannt. Die DFG ist ein eingetragener Verein. 32 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2008), online verfügbar unter: http://www .dfg.de/jahresbericht, Download vom 20. 06. 2009. 33 Statistisches Bundesamt (2007), S. 28.

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den Biowissenschaften sind dies der SFB 655 in Dresden (Von Zellen zu Geweben: Determination und Interaktionen von Stammzellen und Vorläuferzellen bei der Gewebebildung), der SFB 610 in Leipzig (Protein-Zustände mit zellbiologischer und medizinischer Relevanz, gemeinsam mit der MLU Halle) und der gemeinsame Transregio 67 (Funktionelle Biomaterialien zur Steuerung von Heilungsprozessen in Knochen- und Hautgewebe – vom Material zur Klinik) in Leipzig (Sprecheruniversität) und Dresden. In der Nachwuchsförderung finanziert die DFG in Sachsen neun Graduiertenkollegs, von denen sich zwei mit biowissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigen. Dies sind das GRK 1097 in Leipzig (Interdisziplinäre Ansätze in den zellulären Neurowissenschaften – InterNeuro) und das GRK 1401 in Dresden (Nano- und Biotechniken für das Packaging elektronischer Systeme). Zudem befindet sich eines von nur sechs DFG-Forschungszentren deutschlandweit seit 2006 in Dresden (Regenerative Therapies: From cells to tissues to therapies – Engineering the cellular basis of regeneration). Mit insgesamt 253 Mio. Euro Forschungsförderung und gemessen an der Zahl der geförderten Vorhaben an den vier sächsischen Universitäten (Dresden, Leipzig, Chemnitz, Freiberg) liegt Sachsen im Mittelfeld im bundesweiten Vergleich. Im Ranking der Universitäten auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften erreicht Dresden Rang 22, Leipzig Rang 28. 34 Fachlich betrachtet reüssiert die Universität Leipzig vor allem in der Grundlagenforschung und im Schwerpunkt Medizin, während das Förderprofil der TU Dresden sich im Raum zwischen der (biomedizinischen) Grundlagenund ingenieur- und materialwissenschaftlicher Forschung bewegt. 35 b) Exzellenzinitiative Trotz der häufig geäußerten Enttäuschung in Sachsen über das Ergebnis des Landes in der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder lässt sich feststellen, dass die sächsischen Universitäten mitnichten ein Schlusslicht im Reigen der deutschen Hochschulen darstellen. Zwar gibt es im Freistaat keine Spitzenuniversität, deren Zukunftskonzept gefördert worden wäre, doch das Exzellenzcluster und die beiden Graduiertenschulen zeigen, dass gerade die Entwicklung in den Biowissenschaften und verwandten Disziplinen durchaus Erfolge zeigen kann. So urteilte auch die DFG in ihrem in diesem Jahr veröffentlichten Förderranking zu den Jahren 2005 –2007: „Die TU Dresden konnte ihr bislang relativ technisch geprägtes Profil im Zuge der Exzellenzinitiative durch ein Exzellenzcluster und eine Graduiertenschule im Bereich der Lebenswissenschaften verstärken.“ 36 Die beiden geförderten Dresdner Projekte, die Graduiertenschule „Dresden Inter34 35 36

Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2009), S. 92. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 128.

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national Graduate School for Biomedicine and Bioengineering“ und das Cluster „Regenerative Therapies: From Cells to Tissues to Therapies: Engineering the Cellular Basis of Regeneration“ zeigen eine deutliche Schwerpunktsetzung zwischen Grundlagenforschung und der Applikation dieser Kenntnisse auf konkrete medizintechnische Fragestellungen im Bereich der Gewebewiederherstellung. Die in Leipzig geförderte Graduiertenschule „Leipzig School of Natural Sciences – Building with Molecules and Nano-objects“ ist zwar nicht in erster Linie biowissenschaftlich ausgelegt, doch auch hier findet ein beachtlicher Teil der Forschung auf dem Gebiet der Anwendung nanotechnologischer Methoden und Materialien für die Biotechnologie statt. Der zweite Teil der öffentlichen Förderung durch andere Institutionen als staatliche Einrichtungen zeigt, dass auch unabhängig von politischen Verteilungskriterien und der besonderen Behandlung der ostdeutschen Universitäten in den letzten beiden Jahrzehnten eine Forschungslandschaft entstanden ist, die aus eigener Kraft, hier im Sinne von wissenschaftlicher Exzellenz, Forschungsvorhaben kreieren und den Standort immer weiter stärken kann.

V. Diskussion: Ökonomisierung der Wissenschaft oder Wirtschaftsentwicklung durch Forschungsförderung Insgesamt lässt sich konstatieren, dass sich die biowissenschaftliche Forschung in Sachsen etabliert hat und selbst an der zuvor eher ingenieurwissenschaftlichorientierten TU Dresden sehr erfolgreich Kapazitäten entstanden sind, die weitere komplementäre Einrichtungen im Freistaat zu Kooperationen und Projekten anregen werden und weitere Forschungsprojekte und auch Wissenschaftsinstitutionen nach Sachsen zu holen imstande sind. 37 An mehreren Standorten – hervorzuheben sind Leipzig und Dresden – ist eine ausbaufähige und deutschlandweit (teilweise sogar international) wettbewerbsfähige Forschungsinfrastruktur mit starken Arbeitsgruppen und klarem Profil in den Bio- und Lebenswissenschaften entstanden. Dies gilt allerdings nur für die akademische Forschung in Sachsen, komplementäre Forschungseinrichtungen der Industrie gibt es, bis auf wenige kleine forschende Biotechnologieunternehmen, bisher nicht. Die getätigten Investitionen in die Forschung zahlen sich im Hinblick auf eingeworbene Drittmittel und damit auch auf geschaffene Arbeitsplätze aus, was hier nur anhand von Einzelbeispielen und generalisierten Aussagen verdeutlicht werden konnte. 38 37 Es muss an dieser Stelle nach einmal darauf hingewiesen werden, dass sich die vorliegende Arbeit nur mit der biowissenschaftlichen Forschung beschäftigt. Die sächsischen Ingenieurswissenschaften sind sogar – auch traditionell – noch stärker und können weit mehr Spill-Over-Effekte in die regionale Wirtschaft erzeugen.

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Das Ziel des Freistaates Sachsen ist es, eine wissenschaftsbasierte Wirtschaftsregion zu werden. Die Förderung der bio- und lebenswissenschaftlichen Forschung ist einer der Wege, die dafür beschritten werden. Biotechnologie wird dabei sowohl als Schlüssel- als auch als Querschnittstechnologie für die Entwicklung der Wirtschaft angesehen, da erwartet wird, dass sie neben ihrer Eigenschaft als Motor der Wirtschaft durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Biotechnologiebranche auch transferierbare Methoden und Materialien entwickeln wird, die in auf den ersten Blick fremden Branchen Effekte zeitigen, die neue Produkte hervorbringen oder die Herstellung von Produkten rationalisieren könnte. Dieses Programm befindet sich in Harmonie und gleichzeitiger Rivalität mit gleichen oder ähnlichen Zielen anderer Bundesländer und über- bzw. untergeordneter Gebietskörperschaften, wie der Bundesrepublik und der Europäischen Union. 39 Dies ändert nichts am legitimen Anspruch des Bundeslandes, seine Wirtschaft zu entwickeln und zu fördern und dies – wie andere auch – durch die direkte Förderung von Forschung und die Vermittlung von Forschungsfinanzierung anderer Geber zu forcieren. Wirtschaftliche Entwicklung ist, wie im ersten Abschnitt kurz dargestellt, seit vielen Jahren der Sinn und Zweck von Forschungsförderung und wird als solches von beiden Seiten – den Behörden und den Forschungseinrichtungen – anerkannt. Auch der Wunsch nach Anwendung von Forschungsergebnissen auf dem Markt und mit dem Ziel, Fortschritt und damit auch Wohlstand zu induzieren, ist nicht neu. Grundlagenforschung forscht zwar keinesfalls zweckfrei, aber ist von der Kommerzialisierung von Produkten und Technologien meist noch weit entfernt. Trotz dessen schafft sie Werte, die zwar manchmal Jahrzehnte bis zu ihrem Durchbruch benötigen, aber starke Ideengeber für Unternehmen oder Unternehmensgründer sind. Dieses immer wieder neue Wissen umfasst auch aktuelle Techniken und neuartige Methoden. Diese sollten die Hochschulen durch ihre Absolventen, aber auch in Eigenregie, noch stärker und aktiver der Industrie anbieten. Die Weiter- und Fortbildung von Fachwissenschaftlern in der Industrie durch Fachwissenschaftler an den Hochschulen muss zukünftig integrativer und zielgerichteter organisiert werden, um erworbenes Know-how langfristig in der Region zu sichern. Diese Schulungsfunktion auch jenseits des Erststudiums wird von den Universitäten bisher 38 Am aussagekräftigsten sind hier die Jahresberichte der beiden großen Universitäten, die zeigen, dass in Leipzig rund ein Drittel der Beschäftigten aus Drittmitteln bezahlt wird (1.165 Personen im Vgl. zu 2.054 Haushaltstellen, Jahresbericht 2007/2008, S. 166 f. Einsehbar unter: http://www.zv.uni-leipzig.de/uni-stadt/universitaet/rektorat-und -senat/rektorat.html). In Dresden ist das Verhältnis laut Rektoratsbericht 2008 (erhältlich unter: http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/rektoratskollegium) sogar nahezu 1:1 (2.160 Haushaltsstellen im Vgl. zu 2.290 drittmittelfinanzierten Stellen, S. 61 und S. 95). Allerdings werden hier die wissenschaftlichen Hilfskräfte in der Berechnung der drittmittelfinanzierten Stellen, nicht jedoch in die der Haushaltsstellen miteinbezogen. 39 Vgl. oben: Bemerkungen zur High-Tech-Strategie der Bundesregierung und zur Lissabon-Strategie der EU.

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wenig wahrgenommen und könnte den Hochschulen sogar zusätzliche Einnahmequellen erschließen. Die Wissenschaft und die Universitäten werden damit nicht ökonomisiert, sondern dienen ihrem genuinen Ziel des Fortschritts durch Schaffung neuen Wissens. Denn in der Wissenschaft bedeutet schon Stillstand einen Rückschritt.

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Verarmung des Wissens durch Evaluation? Effekte des Qualitätsmanagements in der Soziologie Von Richard Münch 1 Max Weber hat in seiner Kategorienlehre das für die Soziologie besonders charakteristische Spannungsverhältnis zwischen zwei Welten der Wissenschaft auf den Punkt gebracht. Nach seiner klassischen Definition ist die Soziologie eine Wissenschaft, „welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“. 2 Die Soziologie soll also beides sein, Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft zugleich, sie soll die soziale Wirklichkeit wie die Geschichtswissenschaft in ihrer konkreten Gegebenheit erfassen, aber auch analytisch zerlegen und in abstrakten Modellen kausale Zusammenhänge ermitteln. Soziologische Forschung soll an den Kriterien der Sinnadäquanz und der Kausaladäquanz gemessen werden. Diese Position in der Mitte zwischen zwei Welten der Wissenschaft wirkt sich unmittelbar auf die Art der Forschung, ihre Organisation und die Publikation ihrer Ergebnisse aus. In diesem Spannungsfeld sind auch verschiedene Aufgabenstellungen der Soziologie zu unterscheiden, die ebenso im Publikationsverhalten reflektiert werden. Wie sich das in der deutschen Soziologie darstellt, soll im Folgenden gezeigt werden. Dabei bietet sich ein Vergleich mit der amerikanischen Soziologie an, weil sich in diesem Vergleich die Eigenarten der deutschen Soziologie besser erklären lassen und Möglichkeiten der Entwicklung besser zu erkennen sind.

I. Der Stellenwert von Buch, Buchbeitrag, Zeitschrift, Konferenzbeitrag und Online-Veröffentlichungen Die Soziologie ist eine sehr vielfältige Disziplin mit deutlichen Differenzen im Publikationsverhalten verschiedener Teilgebiete und Aufgabenstellungen. Neben den Kerngebieten der Soziologischen Theorie, der Sozialstrukturanalyse, der 1 Prof. Dr. Richard Münch ist Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie II an der Universität Bamberg. 2 Weber (1922,1976), S. 1.

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Methoden der empirischen Sozialforschung, der Makrosoziologie, Organisationssoziologie und Mikrosoziologie gibt es eine Vielzahl von Speziellen Soziologien, die sich über ihren Gegenstand definieren und selbst in die Praxis ihres Gegenstandsbereichs hineinwirken, zu ihr in einem reflexiven, sich gegenseitig beeinflussenden Verhältnis stehen. Religion, Familie, Jugend, Geschlecht, Stadt und Region, Wirtschaft, Arbeit, Beruf, Industrie, Betrieb, Recht, Medizin und Kriminalität sind nur einige Beispiele dafür. Was die Aufgabenstellung betrifft, lassen sich im Anschluss an eine vielbeachtete presidential address von Michael Burawoy 3 auf der Jahrestagung der American Sociological Association (ASA) im Jahre 2004 grundlegend mindestens vier mit eigenem Gewicht nennen: Die Professionelle Soziologie ist auf die Produktion soziologischer Erkenntnis für Soziologen spezialisiert. Ihr Kennzeichen ist besonders hoher methodischer Aufwand, um möglichst enggefasste spezielle Fragen der Soziologie zu beantworten. Dabei spielt die praktische Relevanz keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die typische Publikationsart der Professionellen Soziologie ist der begutachtete Fachzeitschriftenaufsatz. In diesem Publikationsmedium dominiert die methodisch gesicherte empirische Sozialforschung, wobei die quantitative Variante einen Vorrang vor der qualitativen hat. Eine Auszählung der mit dem Thyssen-Preis ausgezeichneten Aufsätze in den deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften hat für die 2000er Jahre 57,7% (14 an der Zahl) empirisch-quantitative, 26,9 % (7) empirisch-qualitative, 11,5% (3) theoretisch / ideengeschichtliche und 3,9 % (1) methodische Artikel ergeben. 4 Die Kritische bzw. Theoretische Soziologie macht sich die Soziologie, ihr begriffliches und theoretisches Instrumentarium, ihre Methodik und ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis im Hinblick auf Sinn, Zweck und weitere Folgen und Nebenfolgen selbst zum Untersuchungsgegenstand. Diese Selbstreflexion der Soziologie findet sich breiter über verschiedene Publikationsarten verstreut, größte Beachtung findet sie jedoch in der Gestalt von Monographien, die Leitlinien für das soziologische Denken setzen. Die Maßstäbe dafür haben die Werke der soziologischen Klassiker gesetzt. Die Aufgabe der Policy-orientierten Soziologie ist die Begutachtung und Beratung der Praxis in einer Vielzahl von Handlungsfeldern. Viele Spezielle Soziologien sind aus dieser Aufgabenstellung hervorgegangen. Hier ist der Ort der Auftragsforschung für öffentliche und private Auftraggeber. Die typischen Publikationsarten dieser Soziologie sind der Forschungsbericht und das Gutachten. Diese Publikationsform strahlt auch auf die Publikationen aus, die sich an ein fachliches oder auch breiteres Publikum richten. Die Fragestellungen beziehen sich auf die soziale Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität und lassen sich deshalb nicht in analytisch exakt geschnittene Forschungsprobleme umsetzen. Sie passen nicht in 3 4

Vgl. Burawoy (2005). Vgl. Alber / Fliegner / Nerlich (2009).

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die Kernzeitschriften der Soziologie, eher in entsprechende, Theorie und Praxis vermittelnde Spezialzeitschriften, wie z. B. die Zeitschrift für Sozialreform. Ein großer Teil dieser Literatur erscheint darüber hinaus in Sammelbänden. Die Öffentliche Soziologie behandelt Fragen von größerer Kulturbedeutung, gesellschaftlicher Relevanz und Aktualität. Sie wendet sich nicht an Soziologen als Soziologen und auch nicht an spezielle Auftraggeber, sondern an die breite Öffentlichkeit oder an Teilöffentlichkeiten. Publikationen zu aktuellen Problemen, Konflikten und Wandlungstendenzen der Gesellschaft, z. B. zu Armut, Ungleichheit, Religiosität, Ethnizität, Identität in der Gegenwartsgesellschaft, zu gesellschaftlichem Wandel im Kontext der Globalisierung und Europäisierung der Lebensverhältnisse repräsentieren diesen Typus von Soziologie. Es handelt sich dabei um zeitdiagnostische Werke. Ihre typische Erscheinungsform ist die Monographie, die sich an ein breiteres Publikum richtet. Die Teilgebiete der Soziologie haben jeweils eine gewisse Nähe zu einem der vier Typen der Soziologie. Die größere Zahl der Speziellen Soziologien neigt mehr zur Policy-orientierten Soziologie. Allerdings gibt es dazu auch jeweils die professionelle, in Fachzeitschriften erscheinende, weniger jedoch die öffentliche und die kritische Variante der Soziologie. Die Aufteilung der soziologischen Publikationen auf die verschiedenen Publikationsarten sagt etwas über die Anteile der verschiedenen Typen an der Soziologie insgesamt aus. Nach der 2008 veröffentlichten Pilotstudie des Wissenschaftsrates zum Forschungsrating Soziologie verteilten sich die Publikationen der deutschen Soziologie im Zeitraum von 2001 bis 2005 wie folgt: Sammelbandbeiträge 45,2 %, Zeitschriftenaufsätze 34,4 %, Monographien 7,3%, Sammelbände 6,8 %, Rezensionen 6,3 %. Die Zeitschriftenaufsätze haben sich auf über 1000 verschiedene Zeitschriftentitel verteilt. Davon wurden wiederum 375 als peer reviewed journal eingestuft. In dieser Kategorie ist demnach nur ein kleinerer Teil der erfassten Texte erschienen. 5 In dieselbe Richtung weist der Befund von Hornbostel / Klingsporn / von Ins, dass nahezu zwei Drittel der Referenzen im Jahrgang 2006 der Zeitschrift für Soziologie keine Zeitschriftenartikel waren. 6 Nicht berücksichtigt in der Pilotstudie des Wissenschaftsrates wurden Texte, die nicht in einem Verlag erschienen sind. Dazu gehört der größere Teil von Texten der Policy-orientierten Soziologie in Gestalt von auftragsgebundenen Forschungsberichten und Gutachten. Schätzungsweise handelt es sich dabei um eine erhebliche Menge an Literatur, die in der Pilotstudie des Wissenschaftsrates gar nicht in die Bewertung der Forschungsqualität der Forschungseinheiten eingeflossen ist. Darin kommt ein Problem der Evaluation soziologischer Forschung zum Ausdruck, das sich darin verdichtet hat, dass der begutachtete Fachzeitschriftenaufsatz in der Pilotstudie des Wissenschaftsrates mit großem 5 6

Vgl. Wissenschaftsrat (2008), S. 445. Vgl. Hornborstel / Klingsporn / von Ins (2008), S. 20.

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Abstand vor allen anderen Publikationsarten den größten Teil der Varianz in der Beurteilung der Forschungsqualität erklärt. In der Pilotstudie hat demnach der begutachtete Fachzeitschriftenaufsatz einen Vorrang bei der Bestimmung von Forschungsqualität erhalten, den er in der Publikationspraxis (noch) nicht hat und dem auch die Aufteilung der Soziologie in vier Typen mit je eigenen Aufgabenstellungen nicht entspricht. Die Präferenz für den begutachteten Fachzeitschriftenaufsatz in der Pilotstudie des Wissenschaftsrates erklärt sich maßgeblich daraus, dass es bei der Evaluation großer Datenmengen nicht möglich ist, die Qualität der Publikationen ohne externe Hilfe zu beurteilen. Weil begutachtete Fachzeitschriftenaufsätze schon evaluiert sind, vertraut man diesem Urteil und wertet alle anderen, nicht vorevaluierten Publikationstypen in vielen Fällen zu Unrecht ab, in mindestens ebenso vielen Fällen aber auch zu Recht. Die mangelnde Belohnung guter Sammelbände müsste am Ende dazu führen, dass sie vom Markt verschwinden und stattdessen der Zeitschriftenmarkt expandiert. 7 Zur großen Zahl von Sammelbandbeiträgen hat die deutlich gestiegene Zahl von Konferenzen beigetragen. Da die Veranstalter gegenüber ihren Förderern ihre Ergebnisse dokumentieren müssen, finden sich viele Konferenzbände mit nur halbwegs ausgearbeiteten Beiträgen unter der großen Menge an Sammelbänden. Weil alle darum wissen, ist ihr Wert jedoch äußerst gering. Auch das geht zu Lasten von qualitativ hochwertigen Konferenzbänden. Der von den Herausgebern und Autoren betriebene Aufwand wird in standardisierten Evaluationsverfahren nicht honoriert. Der noch in den Anfängen steckende Markt für Online-Publikationen wird aller Wahrscheinlichkeit nach diesem Trend folgen. Mit der wachsenden Menge an Publikationen gewinnen standardisierte Selektionsverfahren an Bedeutung. Es zählt dann weniger die Qualität eines Textes per se und mehr das in der Scientific Community anerkannte Gütesiegel in Gestalt der Reputation bzw. des Impacts der Zeitschrift oder des Verlags sowie in Gestalt von Begutachtungsverfahren als Vorselektion für die Rezipienten. Letztere können von den Vorselektionen gar nicht mehr abweichen, weil sie zu einer sozialen Tatsache geworden sind. Die Pilotstudie des Wissenschaftsrates fördert diese Entwicklung. Sie setzt Leitlinien, deren Befolgung die Publikationspraxis in der deutschen Soziologie mehr in die Richtung des begutachteten Fachzeitschriftenaufsatzes und dementsprechend in die Richtung der Professionellen Soziologie auf Kosten der Kritischen und Theoretischen, der Policy-orientierten und der Öffentlichen Soziologie verschieben wird. Herausragende Leistungen der Kritisch-Theoretischen, Policy-orientierten und Öffentlichen Soziologie finden unter dem Regime der Professionellen Soziologie nicht mehr die Anerkennung, die sie einmal hatten. 7

Vgl. Akerlof (1970).

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Dabei muss man wissen, dass die Professionelle Soziologie ihre theoretische und methodische Stringenz nur dadurch erreicht, dass sie nicht auf unmittelbare praktische Relevanz und gesellschaftliche Bedeutung zielt.

II. Die Bedeutung internationaler Publikationsorte bzw. -medien Von den in der Pilotstudie des Wissenschaftsrates erfassten Publikationen der Jahre 2001 bis 2005 sind nur 15,6% im nicht-deutschsprachigen Ausland, ganz überwiegend in englischer Sprache erschienen. 8 Das bringt einen im Vergleich zu den Naturwissenschaften und diesen nacheifernden gesellschafts- und humanwissenschaftlichen Disziplinen – wie die Volkswirtschaftslehre und die Psychologie – anscheinend sehr niedrigen Internationalisierungsgrad der Soziologie zum Ausdruck. Sie steht in dieser Hinsicht Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft und der Jurisprudenz näher als der Ökonomie. Das hat zunächst etwas mit dem in der Soziologie nach wie vor bedeutsamen Wissenschaftsverständnis zu tun. Nach diesem Verständnis ist die Soziologie eine Wirklichkeitswissenschaft, die soziale Phänomene in ihrer an einem Ort und zu einer Zeit gegebenen konkreten Gestalt untersucht, z. B. den Korporatismus und die Deutschland AG als spezifische Formung des deutschen Kapitalismus oder das konservative Wohlfahrtsregime in Deutschland. Daran sind z. B. amerikanische Soziologen in der Regel nicht interessiert. Es hat sich jedoch die vergleichende Sozialforschung stark entwickelt, in deren Rahmen die deutschen Varianten von Kapitalismus und Sozialstaat international verglichen werden. 9 Dazu gehört auch die vergleichende Untersuchung des Wandels nationaler Institutionen im Kontext der Globalisierung und Europäisierung der Lebensverhältnisse. Einen starken Beitrag zu dieser Entwicklung hat die international vergleichende Lebenslaufforschung geleistet, die z. B. Bildungs- und Berufskarrieren, Übergänge von der Ausbildung in die Beschäftigung und von der Beschäftigung in den Ruhestand untersucht. Maßgebliche Beiträge zu dieser Entwicklung kommen aus Deutschland. 10 Dieses Forschungsfeld ist stark internationalisiert. Dementsprechend werden die deutschen Forschungsergebnisse ganz überwiegend in englischsprachigen Fachzeitschriften und Sammelbänden publiziert. Diese Forschung bewegt sich in einer sehr fruchtbaren Symbiose von Professioneller Soziologie und Policy-orientierter Soziologie. Sie ist stark international in Kooperation mit ausländischen Partnern vernetzt. Die Forschungsrahmenprogramme der Europäischen Union haben dazu wichtige Unterstützung 8

Vgl. Wissenschaftsrat (2008), S. 445. Vgl. Streeck / Thelen (2005). 10 Vgl. Mayer (2004); Blossfeld / Mills / Bernardi (2006); Blossfeld / Hofmeister (2006). 9

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geleistet. Zusammenschlüsse wie das European Consortium for Sociological Research und Fachzeitschriften wie die European Sociological Review (ESR) haben Grundlagen für eine stärkere europäische Vernetzung der empirischen Sozialforschung geschaffen. Dadurch ist in Europa ein gewichtiges Pendant zur seit Ende des Zweiten Weltkriegs dominanten amerikanischen Soziologie entstanden. Letztere hat vor allem die Entwicklung der Professionellen Soziologie, konzentriert in den führenden amerikanischen Fachzeitschriften – American Journal of Sociology (AJS), American Sociological Review (ASR) und Social Forces (SF) – vorangetrieben. Die breite Ausdifferenzierung der Soziologie in den großen amerikanischen Departments bringt es jedoch mit sich, dass auch ein Markt für Monographien existiert. Für deren Autoren gibt es die Kennzeichnung „book-people“. In der englischsprachigen Literatur sind die führenden Fachzeitschriften wie auch die führenden Universitätsverlage zu marktbeherrschenden Qualitätssiegeln geworden. Sie machen den riesigen Markt für die Rezipienten übersichtlich. In gewissem Maß ist das eine Monopolstellung, die das Potenzial für Innovationen beschränkt. Je mehr sich die Soziologie internationalisiert, umso mehr wird die von den führenden amerikanischen (nur zum Teil auch britischen) Fachzeitschriften und Verlagen repräsentierte Wissensordnung global verbindlich. Was international anerkannt werden will, muss sich in dieses System einfügen. Problematisch daran ist die Tatsache, dass jedoch insbesondere die amerikanische Soziologie gemessen an ihrer Rezeption nicht-amerikanischer Literatur überhaupt nicht internationalisiert ist. Das bedeutet auch, dass sich amerikanische Soziologen in eine ihnen weitgehend fremde Welt begeben, wenn sie zu Besuch nach Deutschland kommen. Die dominante Stellung der amerikanischen Soziologie resultiert in erheblichem Maße aus der Größe und Integration des amerikanischen Publikationsmarktes und der Nutzung des Englischen als internationale Wissenschaftssprache. Deswegen kann die Publikation in englischer Sprache nicht per se als Kennzeichen der Internationalität verwendet werden. Ein fairer Indikator der Internationalisierung müsste sich aus zwei Komponenten zusammensetzen: dem Import und dem Export von Publikationen, unabhängig von ihrer Sprache. Der Impact einer noch jungen Fachzeitschrift wie der European Sociological Review (ESR) ist noch meilenweit von demjenigen der American Sociological Review (ASR) oder des American Journal of Sociology (AJS) entfernt. Während es die beiden amerikanischen Zeitschriften im Jahr 2003 auf 5607 bzw. 4980 Zitationen gebracht haben, erreichte die europäische gerade einmal 160, etwa das Niveau der beiden führenden deutschsprachigen Zeitschriften, der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZSS) bei 224 und der Zeitschrift für Soziologie (ZfS) bei 138. Dementsprechend schwer wird es die von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) gegründete German Sociological Review haben. Ganz ähnlich wie für die deutsche stellt sich die Situation für die französische Soziologie dar. Die deutsche und die französische Soziologie haben mit den Klas-

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sikern Weber, Simmel und Durkheim maßgebliche und bleibende Grundlagen der Soziologie überhaupt gelegt und sind noch heute international bedeutende Träger der klassischen Traditionen und ihrer Weiterentwicklung. Wesentliche Paradigmen der theoretischen Soziologie wie die Kritische Theorie und die Systemtheorie in Deutschland und der Strukturalismus und Poststrukturalismus in Frankreich haben in anderen Ländern kein vergleichbares Pendant. Das bedeutet aber auch, dass sie in anderen Ländern selbst nur sehr wenig gepflegt werden. Das gilt insbesondere für die USA und für Großbritannien. Die entsprechende Literatur erscheint deshalb nach wie vor überwiegend in deutscher bzw. französischer Sprache. Es kann auch nur sehr begrenzt von Erfolg gekrönt sein, die entsprechenden Texte in englischer Sprache zu veröffentlichen. Das heißt, ein größerer Teil insbesondere der kritisch-theoretischen Soziologie lässt sich nur sehr begrenzt in den englischsprachigen Diskurs übersetzen. Auch darin zeigt sich, dass die Gleichung „Englisch = International“ in der Soziologie so allgemein nicht gilt. Ähnlich ist die Situation für die Öffentliche Soziologie und die Policy-orientierte Soziologie. Sie beziehen sich überwiegend auf Diskurse der nationalen Öffentlichkeit und auf Probleme nationaler Auftraggeber. Deswegen können deutsche Zeitdiagnosen und Forschungsberichte zu deutschen Problemen in englischer Sprache gar nicht die Resonanz erfahren wie in deutscher Sprache. Die renommierten Verlage lehnen entsprechende Publikationsangebote mit der Auskunft ab, dass es dafür in der englischsprachigen Welt keinen Markt gäbe. Wenn sie dort nicht erscheinen, zeugt das keineswegs von minderer Qualität, wie auch umgekehrt nicht alles, was in diesen Verlagen publiziert wird, von höherer Qualität ist. Die verschiedenen Aufgabenstellungen der Soziologie sind demnach für Internationalisierung und englischsprachige Publikationen unterschiedlich zugänglich. Am stärksten ausgeprägt ist die Internationalisierung der Professionellen Soziologie, bei einer noch bestehenden und sich nur langsam angesichts europäischer Vernetzung abschwächenden Dominanz der Vereinigten Staaten. Dagegen sperren sich die Kritisch-theoretische, die Policy-orientierte und die Öffentliche Soziologie gegen diese Form der Internationalisierung. Je mehr jedoch die Professionelle Soziologie die anderen Typen der Soziologie verdrängt, umso stärker wird sich die Soziologie als internationalisiert präsentieren, dies jedoch paradoxerweise auf Kosten einer Verengung ihres Denkhorizontes. Das ist ein kaum aufzulösendes Dilemma.

III. Traditionen der Einzel- und Ko-Autorenschaft Nach der Untersuchung von Hornbostel / Klingsporn / von Ins wurden 63 % der Artikel des Jahrgangs 2006 der Zeitschrift für Soziologie von einem einzelnen

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Autor veröffentlicht, 26% von zwei Autoren und 11 % von drei Autoren. Im American Journal of Sociology halten die von einem einzelnen Autor veröffentlichten Aufsätze auch noch die knappe Mehrheit von 51 %; 30 % wurden von zwei Autoren, 14 % von drei Autoren und 5% von vier Autoren verfasst. Das American Journal of Sociology steht etwa in der Mitte zwischen historischen und physikalischen Fachzeitschriften, die Zeitschrift für Soziologie steht den historischen Zeitschriften noch deutlich näher. 11 Die wachsende Dominanz der Professionellen Soziologie bringt eine Tendenz zur Vermehrung der Autoren mit sich. Das hat eine funktionale und eine strategische Seite. Funktional können mehrere Autoren eine Fragstellung arbeitsteilig differenzierter und tiefgehender bearbeiten. Strategisch können sie sich gemeinsam besser gegen mögliche Gutachtereinwände absichern, und sie verfügen zusammen über mehr soziales Kapital, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, auf positiv eingestellte Gutachter zu treffen und eine größere Zahl von Rezipienten zu finden. Außerdem kann eine größere Zahl von Autoren im gleichen Zeitraum mehr Artikel veröffentlichen als eine kleinere Zahl von Autoren. Und sie können sich in größerer Zahl selbst zitieren. Je größer die Publikationszahl, die Platzierung von Publikationen in Zeitschriften mit hohem Impact und die erreichte Zitationsquote zum Erfolgskriterium für die wissenschaftliche Karriere wird, umso größeres Gewicht erhält die strategische Seite. Es kann deshalb prognostiziert werden, dass sich Ko-Autorenschaften unter diesen Bedingungen in der Zahl über die funktionale Notwendigkeit hinaus vermehren. Im American Journal of Sociology ist das schon deutlicher zu erkennen als in der Zeitschrift für Soziologie. Die wachsende Bedeutung der Professionellen Soziologie wird diesen Trend auch in Deutschland verstärken. Es ist auch klar ersichtlich, dass die am weitesten professionalisierten Forschungseinrichtungen immer größere Datenmengen verwalten und eine daran beteiligte größere Zahl von Autoren diese Daten für gemeinsame Publikationen verwenden. Dabei trägt sich das System der Datengenerierung und –analyse zunehmend von selbst, so dass der individuelle Beitrag der Autoren kaum noch zu erkennen ist. In einem solchen Forschungsverbund können auch durchschnittlich kreative Forscherinnen und Forscher hohe Publikations- und Zitationsquoten erreichen. Eine ganz eigene Form der Ko-Autorenschaft ist in dem großen Anteil von 34,4 % der Sammelbandbeiträge an allen Publikationen zu erkennen. In einer größeren Zahl der Sammelbände bringen die Herausgeber mehrere Autoren zusammen, um ein Thema in unterschiedlichen Aspekten zu untersuchen. Eine spezielle Variante davon sind international vergleichende Untersuchungen, bei denen Forscher aus mehreren Ländern zusammenarbeiten. Auch diese Koopera11

Vgl. Hornborstel / Klingsporn / von Ins (2008), S. 15.

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tionen haben eine funktionale und eine strategische Seite. Dabei verschwindet hinter dem gemeinsamen Forschungsrahmen tendenziell die kreative Leistung der einzelnen Kooperationspartner. Die Rolle der führenden Wissenschaftler solcher Forschungsverbünde verlagert sich von der kreativen Forschung weg und hin zum Forschungsmanagement. Es wird dann ein einmal gefundenes Programm aufgrund seines Erfolgs in verschiedenen Variationen fortgeführt. Durch das starke Gewicht koordinierter Programme in der Forschungsförderung der DFG und der EU ergibt sich auch in der Soziologie eine Tendenz zur Verdrängung individueller Forscherpersönlichkeiten durch Großkollaborationen in Forschungsverbünden. Dafür gibt es einerseits funktionale Gründe der arbeitsteiligen Forschung, andererseits erfolgt aber auch die strategische Nutzung solcher Kollaborationen zur sichtbaren Positionierung in der Scientific Community.

IV. Anforderungen an das Publikationsverhalten in einzelnen Karrierestufen Die klassische Karriere führte in der Soziologie wie in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen von der Veröffentlichung der Dissertation über die Veröffentlichung der Habilitationsschrift plus einer sichtbaren Zahl von Beiträgen in Fachzeitschriften und Sammelbänden im besten Fall zur Professur, mangels verfügbarer Professorenstellen aber auch in jahrelang unsichere Beschäftigung. Dissertation und Habilitationsschrift wurden beide als Monographien verfasst. Die Habilitationsschrift sollte die Qualität eines umfangreichen und tiefschürfenden Werkes haben. Sie sollte die imposante Leistung eines jungen Gelehrten sein, der mit seiner Persönlichkeit einen prägenden Einfluss auf das Fach ausüben kann. Nach der Berufung auf einen Lehrstuhl haben die Lehrtätigkeit, die Betreuung von Diplomanden, Doktoranden und Habilitanden, Vorträge bei Konferenzen, die Pflege von Kooperationen und Austauschbeziehungen, die Teilnahme an der akademischen Selbstverwaltung und die Übernahme von Aufgaben für die soziologische Profession im Speziellen (Gutachtertätigkeit, Herausgeberschaft von Fachzeitschriften) und für die Forschungsorganisation im Allgemeinen ein so großes Gewicht bekommen, dass nur wenige Professoren während ihrer gesamten Karriere ein hohes Publikationsniveau aufrechterhalten können. Nur sehr wenige publizieren weiterhin Monographien und Fachzeitschriftenaufsätze. Für die große Mehrheit sind die Herausgabe von Sammelbänden und erbetene Beiträge zu Sammelbänden die typische Publikationsform. Die Vorträge bei Konferenzen sollen in einem Konferenzband veröffentlicht werden, außerdem kommen ständig Einladungen zu Sammelbandbeiträgen. Wer sich diesem Publikationszwang nicht entziehen oder ihn geschickt bewältigen kann, ist als Autor von Fachzeitschriftenaufsätzen oder Monographien verloren. Man könnte die Zahl von Einladungen zu solchen Publikationsprojekten als Reputationsbeweis werten. Die Pilotstudie des Wissenschaftsrats hat davon je-

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doch auch mangels Daten Abstand genommen und statt dessen ganz überwiegend Qualität anhand des begutachteten Fachzeitschriftenaufsatzes gemessen, ungeachtet der Tendenz, dass bei der zunehmenden Zahl von Autoren der einzelnen Aufsätze und der kooperativen Verwertung großer Datenmengen die einzelne Forscherpersönlichkeit hinter dem Verbundprodukt verschwindet. Das wird die schon zu beobachtende Tendenz zur Publikationspraxis der Professionellen Soziologie verstärken. Die Tendenz geht dahin, dass auch die Doktoranden versuchen sollten, aus dem Kontext ihrer Dissertation vor Abschluss und nach Abschluss des Promotionsverfahrens zwei bis drei Fachzeitschriftenaufsätze zu veröffentlichen, im Einzelfall auch einzelne Kapitel daraus, im besten Fall in englischer Sprache, was im Falle der in der Regel deutschsprachigen Dissertation auch gut möglich ist. Strukturierte Doktorandenprogramme wie die DFG-Graduiertenkollegs oder neuerdings die Graduiertenschulen befördern ein solches Publikationsverhalten, auch durch die Förderung von Konferenzteilnahmen, bei denen jeweils Papiere präsentiert werden, aus denen Aufsätze hervorgehen können. Typischerweise schließt sich an die Promotion immer weniger direkt eine Habilitationsphase mit einer Sechsjahresperspektive an, sondern eine offene Postdoktorandenphase, bei der sich in zwei bis drei Jahren entscheidet, ob es mit der akademischen Karriere weitergeht. Diese Entscheidung ergibt sich zunehmend aus der erfolgreichen Publikation von Fachzeitschriftenaufsätzen. Damit ist der Weg zur kumulativen Habilitation vorgezeichnet, zumal es kaum machbar ist, schon frühzeitig mit Fachzeitschriftenaufsätzen auf dem Publikationsmarkt sichtbar zu sein und quasi nebenher eine große Monographie zu verfassen, zumal die Zufriedenstellung der Gutachter bei den eingereichten Fachzeitschriftenaufsätzen angesichts der zunehmenden Ablehnungsquoten immer aufwändigere Revisionen verlangt. Um auf diesem Markt erfolgreich bestehen zu können, ist die strategische Nutzung von Ko-Autorenschaften ein erheblicher Wettbewerbsvorteil. Daraus folgt, dass bei den kumulativen Habilitationen der Anteil von in Kollaboration mit einem, zwei oder noch mehr Autoren verfassten Aufsätzen wächst. Wer sich in diesem Wettbewerb durchsetzt und auf einen Lehrstuhl berufen wird, ist in einer Position, in der er oder sie kollaborative Forschung in größerem Stil betreiben kann. Er oder sie wird die eingeübte Praxis der Publikation in Ko-Autorenschaft in mehr oder weniger großen Verbünden weiter pflegen können. Der Bruch zwischen der Qualifizierungsphase und der Reifephase wird weniger dramatisch ausfallen. Einen zunehmenden Einfluss auf das Publikationsverhalten hat in den vergangenen 25 Jahren die wachsende Drittmitteleinwerbung ausgeübt. Sie hat im besten Fall eine Datenbasis geschaffen, die sich kollaborativ für eine größere Zahl von Publikationen nutzen lässt. In vielen Fällen ist dadurch aber auch ein circulus vitiosus der Drittmitteleinwerbung zur Beschäftigung von Mitarbeitern entstanden. Das Schreiben von Texten erschöpft sich weitgehend in einer An-

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trags- und Berichtsprosa, die auf dem Publikationsmarkt gar nicht erscheint. Die daran beteiligten Projektmitarbeiter werden auf diesem Markt gar nicht sichtbar und haben keine akademischen Karrierechancen. Je mehr die etatmäßigen Mitarbeiter neben der Lehre in dieses Einwerbungsgeschäft einbezogen sind, umso weniger können sie sich durch Publikationen qualifizieren. Zusammen mit den aus Studiengebühren finanzierten Lehrkräften wächst ein Mittelbau heran, der kaum auf dem Publikationsmarkt erscheint. Das Rennen bei Berufungsverfahren machen deshalb immer häufiger Kandidaten, die von diesem Geschäft befreit waren und sich ganz auf die Positionierung auf dem Publikationsmarkt konzentrieren konnten, sei es in außeruniversitären Forschungseinrichtungen, sei es mit Hilfe von Promotions-, Postdoc- und / oder Habilitationsstipendien. Ihre geringe Lehrerfahrung verlangt dann wieder die Unterstützung durch eine größere Zahl von Lehrkräften. So verlaufen Forschung und Lehre zunehmend in getrennten Bahnen. Durch die frühere und schärfere Trennung der beiden Funktionen gehen für beide Seiten Talente verloren und beide Seiten können sich weniger gegenseitig befruchten.

V. Unterschiede zwischen üblichen Verfahrensweisen in Deutschland und verschiedenen anderen Weltregionen Im internationalen Vergleich setzen die USA die „Benchmark“. Die American Sociological Association (ASA) wurde 1905 gegründet und hat gegenwärtig mehr als 14 000 Mitglieder, die 1909 gegründete Deutsche Gesellschaft für Soziologie nur rund 1800. Bei einer etwa dreieinhalbfach größeren Einwohnerzahl übersteigt die Mitgliederzahl der ASA diejenige der DGS um das Achtfache. Die ASA hat 44 Sektionen mit insgesamt 21 000 Mitgliedern. Sie gibt zehn Fachzeitschriften bzw. Magazine heraus. Die jährlich stattfindenden Kongresse besuchen mehr als 6000 Teilnehmer. Die DGS hat 34 Sektionen und verfügte bis 2010 nur über ein Mitteilungsheft, das viermal pro Jahr erscheint. Erst ab 2011 wird eine eigene Fachzeitschrift publiziert. Zu den im Rhythmus von zwei Jahren durchgeführten Kongressen kommen etwa 1700 Teilnehmer (zuletzt in Jena 2008). Das sagt sehr viel über das Marktvolumen, die Differenzierung in ausreichend große Teilmärkte bzw. communities von Spezialisten und die Chancen, für spezielle Beiträge auch genug Rezipienten zu finden, um zumindest auf einem Teilmarkt sichtbar zu sein. Amerikanische Soziologen sind deshalb auch nicht darauf angewiesen, außerhalb der USA Rezipienten zu finden bzw. selbst Literatur von außerhalb zu rezipieren. Sie erreichen dementsprechend auf dem amerikanischen Publikationsmarkt allein schon aufgrund ihrer Zahl den achtfachen Impact im Vergleich zu deutschen Soziologen auf dem deutschen Publikationsmarkt. Ein Jahrgang der beiden führenden amerikanischen Fachzeitschriften wird sogar 22bis 41-mal häufiger zitiert als ein Jahrgang der beiden führenden deutschen Fach-

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zeitschriften. 12 Das erklärt sich nur in geringem Maße aus der um gut ein Drittel höheren Zahl der darin enthaltenen Aufsätze. Der weitaus größere Teil findet in der in den USA und weltweit ausgebreiteteren Rezeption der beiden amerikanischen Fachzeitschriften im Vergleich zu den deutschen seine Erklärung. Das liegt einerseits an der globalen Durchsetzung des Englischen als internationale Wissenschaftssprache, andererseits an der Größe des integrierten amerikanischen Publikationsmarktes wie auch an der Größe und Ausdifferenzierung der amerikanischen Soziologie-Departments und an der damit zusammenhängenden Anziehungskraft der amerikanischen Universitäten. Nachwuchswissenschaftler aus aller Welt finden in jeglicher Hinsicht von der Alltagssprache, dem Alltagsleben über die jeweils vorhandenen communities von Immigranten bis zu den Annehmlichkeiten des Campus-Lebens an den amerikanischen Universitäten viel leichter Zugang zur amerikanischen Soziologie-Welt als an deutschen Universitäten zur deutschen. Dazu kommen die großen Unterschiede im Studienaufbau und in der Personalstruktur. 13 Auch in dieser Beziehung sagt die Tatsache sehr viel, dass die Bevölkerung der USA diejenige von Deutschland um das Dreieinhalbfache übersteigt, die Zahl der ASA-Mitglieder diejenige der DGS-Mitglieder jedoch um das Achtfache. Das ergibt sich daraus, dass die Mitglieder in aller Regel Professorenstatus haben. In den USA beginnt dieser Status mit der Tenure-trackPosition des Assistant Professor nach der Promotion. Infolgedessen sind durchschnittlich 75 % des wissenschaftlichen Personals an amerikanischen Departments Professoren. In Deutschland ist es genau umgekehrt. Ein amerikanisches Soziologie-Department kann sich aus 30 bis 40 Professoren zusammensetzen, denen persönlich keine Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Lediglich vorübergehend werden sie für spezifische Lehraufgaben oder Forschungsprojekte von Doktoranden als teaching oder research assistants für fünf bis zehn Stunden in der Woche unterstützt. Im Unterschied zu etatmäßig oder in Projekten beschäftigten Mitarbeitern von Professoren in Deutschland sind die Assistant Professors in den USA selbständige Anbieter und Rezipienten auf dem Publikationsmarkt. Unterhalb dieser Qualifikationsstufe bietet das institutionalisierte Promotionsstudium eine breite und international attraktive Grundlage für die Rekrutierung von Assistant Professors. Auch das fehlt in Deutschland noch weitgehend. Erst über die Graduiertenkollegs und Graduiertenschulen finden sich hier Ansätze, die dem amerikanischen Modell folgen, allerdings noch mit großen Startschwierigkeiten, insbesondere deshalb, weil es für die Promovierenden kein mit den USA vergleichbares Karrieremuster wie das amerikanische Tenure-track Modell gibt.

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Vgl. Münch (2007), S. 161 – 204. Vgl. Münch (2009), S. 95 – 104.

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Diese Unterschiede haben erhebliche Konsequenzen für die Breite der Ausdifferenzierung des Faches, insbesondere in interdisziplinäre Bereiche hinein, und für das entsprechende Publikationsverhalten. In den USA können sich Nachwuchswissenschaftler in einem Spezialgebiet mit einer in einem führenden Universitätsverlag erschienenen Dissertation und einigen Fachzeitschriftenaufsätzen für eine Professur im Tenure-track Verfahren qualifizieren. Bei 30 bis 40 Professoren an einem Department gibt es dafür den nötigen Spielraum. In Deutschland können sie mit einer Spezialisierung außerhalb der Kerngebiete und außerhalb des mainstreams an einem Institut mit durchschnittlich fünf Professoren nicht zum Erfolg kommen, weil es dafür keine Professuren gibt. Der deutschen Soziologie fehlt deshalb in einer Vielzahl von Spezialgebieten die kritische Masse, um mit der amerikanischen Soziologie mithalten zu können. Spezielle Soziologien wie die Wirtschaftssoziologie, die Rechtssoziologie, die Familiensoziologie oder die Bildungssoziologie verfügen deshalb in Deutschland im Vergleich zu den USA über zu wenig kritische Masse, um international sichtbar zu sein. Dementsprechend gibt es auch weniger Potenzial für die Professionalisierung von Speziellen Soziologien in einem Markt von Fachzeitschriften, so dass sie weitgehend von Auftragsforschung absorbiert werden, die im professionellen Kern der Disziplin nicht sichtbar wird und dort keine Wirkung entfaltet. Es gibt zwar eine Vielzahl von Projektmitarbeitern, die in dieser Forschung tätig sind. Aus ihrer Antrags- und Berichtsprosa entstehen jedoch keine international sichtbaren Publikationen. Wo in den USA Spezialgebiete der Soziologie für junge und ältere Wissenschaftler – oft in gleichberechtigter Ko-Autorenschaft – einen größeren Markt für professionelle Publikationen bilden, herrscht in Deutschland das Modell vor, dass der Professor durch eine Vielzahl von Verpflichtungen sowie durch das Projektmanagement und die Mitarbeiter durch das Verfassen von Anträgen und Berichten vom professionellen Publikationsmarkt ferngehalten werden. Nur in wenigen Ausnahmefällen gelingt es, sich diesen Zwängen zu entziehen und sich dem amerikanischen Modell zu nähern. International ist das amerikanische Modell führend geworden. Es profitiert sowohl von der Größe des amerikanischen Publikationsmarktes und seiner Teilmärkte als auch von der internationalen englischen Wissenschaftssprache, maßgeblich aber auch von den Vorteilen der Personalstruktur und des Promotionsstudiums. Die Vernetzung der europäischen Soziologien hat bei weitem noch nicht einen dem integrierten amerikanischen Publikationsmarkt nahe kommenden integrierten europäischen Publikationsmarkt geschaffen, der außerdem einen ähnlichen weltweiten Einfluss ausübt. Das ist unmittelbar an dem 31bis 35-fach höheren Zitationsaufkommen des American Journal of Sociology und der American Sociological Review im Vergleich zur European Sociological Review abzulesen. Das bedeutet, dass die übrigen Weltregionen weitgehend dem amerikanischen Modell folgen und dadurch dessen hegemoniale Stellung unterstützen.

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VI. Besonderheiten des Faches im Vergleich zu anderen Disziplinen Die Soziologie steht im Spannungsverhältnis zwischen geisteswissenschaftlicher Hermeneutik und naturwissenschaftlicher Kausalanalyse, zwischen der Erfassung der konkreten sozialen Wirklichkeit wie in der Geschichtswissenschaft und der abstrakten Modellbildung wie in der Ökonomie. Sie kann als Wirklichkeitswissenschaft und als analytisch verfahrende Kausalwissenschaft betrieben werden. Das hat nachhaltige Auswirkungen auf das Publikationsverhalten. Auf der einen Seite steht die Präferenz für den Typus des Gelehrten klassischer Art, für Monographien in Alleinautorenschaft, von der Dissertation über die Habilitationsschrift bis zum opus magnum. Auf der anderen Seite steht die Professionelle Soziologie des begutachteten Fachzeitschriftenaufsatzes, deren Anforderungen aus funktionalen und strategischen Gründen fast nur noch von Forschungsverbünden und Mehrfachautorenschaften erfüllt werden können. Je mehr die Professionelle Soziologie die Oberhand gewinnt, umso mehr verschwindet der gelehrte Soziologe / die gelehrte Soziologin und umso schwerer wird es, die kreativen Köpfe aus den üblichen Autorennetzwerken herauszufinden. Der gelehrte Soziologe / die gelehrte Soziologin wird in die Philosophie, die Geschichtswissenschaft oder die Literaturwissenschaft abgedrängt oder auch in die Rolle des Schriftstellers oder Feuilletonisten. Jeweils geht dabei der Bezug zum professionellen Kern der Soziologie verloren. Auffallenderweise bietet die erwähnte breite Ausdifferenzierung der amerikanischen Soziologie auch für den Typus des / der Gelehrten in Gestalt der „book people“ einen guten Nährboden, während es dafür in Deutschland mit der wachsenden Bedeutung der Professionellen Soziologie zunehmend weniger Platz gibt. Als eine dezidiert der Unterstützung von kreativen Forscherpersönlichkeiten verpflichtete Fördereinrichtung kann die Alexander von Humboldt-Stiftung maßgeblich dazu beitragen, dass auch in der Soziologie dieser Typus des Forschers und der Forscherin innerhalb und außerhalb der Verbundforschung überlebt. Strukturell bedarf es dazu einer erheblichen Verbreiterung und Ausdifferenzierung soziologischer Forschung auf Professorenebene durch eine grundlegende Personalreform. Dann gibt es auch ein viel breiteres Potenzial an interessanten Kooperations- und Diskussionspartnern für ausländische Soziologinnen und Soziologen.

VII. Schlussbemerkungen Die deutsche Soziologie ist neben der französischen und der amerikanischen eine der großen Gründerinnen der Soziologie überhaupt und ihrer weltweiten

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Verbreitung. Auch heute noch gehört sie weltweit zu den gewichtigsten Trägern der Disziplin. Die schiere Größe des amerikanischen Publikationsmarktes, die Durchsetzung des Englischen als internationale Wissenschaftssprache und die Vorteile der amerikanischen Personal- und Studienstrukturen drohen jedoch die deutsche Soziologie in eine marginale Position zu drängen, wenn es nicht gelingt, durch eine Reform der Personalstruktur und die damit einhergehende Vergrößerung des Potenzials von Beiträgen zu den internationalen Publikationsmärkten ein breiteres Spektrum soziologischer Spezialgebiete in genügender kritischer Masse zu etablieren. Daraus würde sich eine breitere internationale Präsenz der deutschen Soziologie sowohl auf den Märkten für Fachzeitschriften als auch auf den Märkten für Monographien ergeben. Ebenso wäre es besser möglich, den verschiedenen Aufgabenstellungen der Soziologie zugleich gerecht zu werden, wie auch das Spannungsverhältnis zwischen Hermeneutik und Kausalanalyse nicht zugunsten der Kausalanalyse aufgelöst werden müsste.

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Weber, Max (1922/1976): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen. Wissenschaftsrat (Hrsg.) (2008): Forschungsleistungen deutscher Universitäten und außeruniversitärer Einrichtungen der Soziologie, Köln.

Zur Problematik der Forschungsevaluation Von Stefan Hornbostel 1

I. Einleitung Als vor rund 30 Jahren die ersten Forschungsevaluationen in Großbritannien aufkamen, waren sie vor allem von Misstrauen in die Selbststeuerungsfähigkeit des Wissenschaftssystems geprägt. „Value for money“ war der Kampfruf, den Margaret Thatcher auch der Wissenschaft entgegen schleuderte. In den kontinentaleuropäischen Versionen spielte hingegen von Anfang an ein stärker formatives Element eine größere Rolle: Evaluation als systematische Reflexion des eigenen Handelns und die Bereitstellung von Fremdreferenz für strategische Entwicklungsentscheidungen. Beide Elemente sind auch heute noch erhalten, allerdings haben sich die Randbedingungen erheblich verändert. Evaluationen sind nicht nur ubiquitär geworden, auch die Folgen wirken tief in inhaltlich-strategische und ressourcenbezogene Entscheidungen hinein. Parallel dazu sind die Instrumente, Verfahren und Indikatoren ausgefeilter geworden und teilweise auch einem Laienpublikum ohne Weiteres zugänglich. Das hat Konsequenzen für das Management von Wissenschaft, für die Handlungsstrategien von Wissenschaftlern, für die Macht- und Konfliktkonstellationen in und zwischen Disziplinen, für die Entwicklung von Wissen und auch für die Wissenschaftspolitik. Es gilt daher vorsichtig zu bilanzieren, welche intendierten und welche nicht-intendierten Effekte mit der Ausweitung der Forschungsevaluation eingetreten sind.

II. Evaluation als business Evaluation – verstanden als systematische und organisierte Bewertung von Sachverhalten, Erkenntnisansprüchen oder Organisationsleistungen – ist keineswegs neu. Die Spur zieht sich vom sechzehnten Jahrhundert, in dem die „Indexkongregation“ der katholischen Kirche mit dem „Index der verbotenen Bücher“ ein erstes großes, sich an die juristischen Praktiken anlehnendes Evaluations1

Prof. Dr. Stefan Hornbostel ist Leiter des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (iFQ) Bonn.

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Stefan Hornbostel

verfahren zur theologischen Dogmenkompatibilität auf den Weg brachte, über die Wissenschaft im siebzehnten Jahrhundert, wo in der britischen Royal Society organisierte Evaluationsprozesse in Gestalt des an ständischen Ehrenkodizes orientierten „Peer Review“ zur Prüfung wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche eingeführt wurden, die zugleich als Legitimationsbasis für die Befreiung von staatlicher Zensur dienten, bis hin zur Ökonomie, wo mit dem Aufkommen von Börsen und Aktienunternehmen seit dem neunzehnten Jahrhundert auch Ratingagenturen zur Bewertung von Unternehmen betrieben werden. 2 In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten sich Evaluationsverfahren in fast allen gesellschaftlichen Bereichen relativ schnell weiter, so dass Programmevaluationen in den USA bereits in den 1950er Jahren weit verbreitet waren und in den späten 1960er Jahren Evaluation schon als eine „growth industry“ bezeichnet wurde, die sich in den 1970er Jahren als „Evaluationsforschung“ in den USA auch als eigenständiges akademisches Feld innerhalb der Sozialwissenschaften etablierte. 3 In Europa fand diese Entwicklung etwas verzögert statt; spätestens seit den 1980er Jahren haben sich Evaluationen – im weitesten Sinne – aber auch in Europa über fast alle gesellschaftlichen Bereiche ausgebreitet, was Michael Power 1997 mit dem plakativen Begriff der „Audit-Society“ kennzeichnete. Ein wesentlicher Antrieb für die jüngste Ausbreitung (auch auf dem Gebiet der Wissenschaft) lag in vielen europäischen Ländern in der Einführung neuer Steuerungsmodelle für die staatliche Administration, die verstärkt mit Wirkungskontrollen und einer Verschiebung von der inputorientierten Steuerung hin zu einer OutputSteuerung operierte. 4 Die starke Nachfrage nach Evaluation hat auch im engeren Bereich der Forschungsevaluation zu einer ganzen Reihe von Gründungen sowohl kommerzieller wie auch non-profit Agenturen und Gesellschaften geführt. Am deutlichsten sichtbar wird der sich derzeit vollziehende Wandel aber bei den kommerziellen Anbietern von wissenschaftlicher Fachinformation. Wer heute im „Web of Science“ – besser als Science Citation Index bekannt – nach Literatur sucht, wird schnell bemerken, dass der Verkauf von Literaturnachweisen längst zu einem Nebengeschäft geworden ist. Die beiden großen Anbieter Thompson Reuters (Web of Science) und Elsevier (Scopus) haben sich inzwischen auf ein Geschäftsfeld kapriziert, das man mit ‚Managementinformation für Wissenschaftler‘ umschreiben könnte. Die Angebote beruhen zwar auf den gesammelten Nachweisen wissenschaftlicher Literatur, verkauft werden aber nicht die Literaturnachweise, sondern strukturelle Informationen, die aus den Daten generiert werden.

2 3 4

Vgl. Hornbostel (2007), Power (1997), Biagioli (2002). Rossi / Lipsey / Freeman (2004). Vgl. Hornbostel (2010).

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„Science research is now such a large enterprise and the substance of scientific research is so complex and specialized that personal knowledge and experience are no longer sufficient tools for understanding trends or for making decisions“, 5 heißt es im White Paper zum Umgang mit Bibliometrie von Thompson Reuters. Im zugehörigen Produkt (InCites) finden sich – ganz im Stil graphisch ansprechend gestalteter betriebswirtschaftlicher Managementinformationssysteme – eine Fülle von Indikatoren, benchmarks und Entwicklungsverläufen, die zur Bewertung von wissenschaftlichen Einrichtungen ebenso wie zur Beurteilung einzelner Wissenschaftler anempfohlen werden. Während Thompson Reuters im White Paper noch ausdrücklich vor Verabsolutierungen warnt – „publication and citation analysis is meant to be a supplement to peer review“, 6 bewirbt es auf den eigenen Internetseiten das Produkt mit dem Vorzug unzweifelhafter Objektivität: „Base your crucial decisions on accurate, objective information and sound metrics: track research performance; establish benchmarks; make funding decisions; look for transfer opportunities; formulate strategies“. Elsevier bewirbt sein Produkt (SCIVAL), das ebenfalls sehr stark an betriebswirtschaftlichen Informationstools orientiert ist, entsprechend mit wettbewerbsorientierten Managementslogans: „Academic Executives need accurate research performance insight to make appropriate funding decisions and develop strategic blueprints that will lead their institutions to valuable breakthroughs“. 7 Neben diesen kommerziellen Anbietern wird seit gut zehn Jahren auch das Internet (insbesondere die von Google gesammelten Informationen) systematisch genutzt, um diverse Performance-Indikatoren für Wissenschaftler zu berechnen. Das wohl bekannteste Beispiel ist die von der australischen Professorin für internationales Management Anne-Wil Harzing unterhaltene Internetseite „Publish or perish“, 8 die die Literaturnachweise aus Google Scholar als Datenbasis nutzt. Wurden derartige Angebote lange Zeit eher als Kuriosität behandelt, da die zugrunde liegende Datenkollektion – anders als bei den kommerziellen Anbietern – durch kaum rekonstruierbare Auswahlprozesse zustande kommt und die Zitierungen ebenfalls auf wenig durchsichtige Weise (und mit intransparenten Verfahren der Qualitätskontrolle) ermittelt werden, ist inzwischen sowohl die Datenqualität wie auch die Nutzung dieser nach wie vor als „fuzzy“ zu bezeichnenden Verfahren massiv gestiegen. Zu den Nutzern zählen dabei nicht nur Wissenschaftler, die regelmäßig kontrollieren, ob sich ihr h- oder g-Index bewegt hat, vielmehr nutzen auch seriöse Forschungseinrichtungen dieses Instru5

Pendlebury (2008). Ebd. 7 Vgl.http://www.info.spotlight.scival.com/documents/files/content/pdf/prospectus.pdf, abgefragt am 20. 3. 2010. 8 Publish or Perish, version 2. 8. 3644, online verfügbar unter: www.harzing.com/pop .htm. 6

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ment inzwischen, um den Output ihrer Wissenschaftler zu kontrollieren und zu bewerten. 9 Derartige im weitesten Sinne scientometrische Verfahren haben zwar das klassische Peer Review in der Manuskriptbegutachtung, in der Begutachtung von Forschungsförderungsanträgen, in institutionellen Evaluationen oder in Ratingverfahren nicht vollständig ersetzt, sie werden aber immer häufiger entweder in Kombination mit dem Peer Review oder auch anstelle derart aufwändiger Begutachtungsprozesse eingesetzt.

III. Indikatoren als Qualitätsurteil? Die wissenschaftsphilosophische Frage nach der Qualität von Forschungsergebnissen wird mit scientometrischen oder bibliometrischen Indikatoren nicht beantwortet, sondern ersetzt durch Informationen, die verschiedene Aspekte wissenschaftlicher Aktivität und des „Erfolges“ dieser Aktivität sichtbar machen. „Erfolg“ ist dabei im Wesentlichen eine operationale Definition, die je nach Ermittlungsverfahren anders ausfällt. Während ökonomische Indikatoren meist auf standardisierte Wertgrößen zurückgreifen können, die im Marktgeschehen selbst produziert werden, konstruieren Wissenschaftsindikatoren derartige standardisierte „Zahlungseinheiten“ aus expliziten Bewertungen (Peer Review) oder impliziten Anerkennungen im Rahmen wissenschaftlicher Kommunikation (Zitate), um Erkenntnisproduktion quantitativ zu erfassen und qualitativ zu verorten. 10 Dabei entstehen Indikatoren, die einerseits eine Informationsbasis nutzen, die deutlich über das hinausgeht, was einzelnen Gutachtern an Wissen zur Verfügung steht. Diese „Quasi-Objektivität“ war es auch, die bibliometrischen Indikatoren – im Verein mit der Kritik an den Unzulänglichkeiten des Peer Review – zur derzeit zu beobachtenden schnellen Verbreitung verholfen hat. Andererseits stellen diese bibliometrischen Indikatoren Konstrukte dar, deren Interpretation eine sehr gute Kenntnis der Messtheorie und -praxis voraussetzt. Ohne eine angemessene Fehlerlehre ist es daher insbesondere für Laien kaum möglich, inhaltliche Aussagekraft, Stabilität, potentielle Fehler, disziplinäre Besonderheiten und mögliche technisch bedingte Verzerrungen zu beurteilen. Mit der schnellen Popularisierung, Kommerzialisierung und Verfügbarkeit der Wissenschaftsindikatoren droht daher gerade die kritische Interpretationskompetenz verloren zu gehen, so dass Indikatoren unversehens eine objektive Abbildung wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit zugesprochen wird. Wissenschaftsindikatoren sind damit aus einer zunächst völlig unspektakulären Nutzung im Rahmen akademischer, wissenschaftssoziologischer Forschung 9 10

So beispielsweise das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Vgl. Hornbostel / Klingsporn / von Ins (2008).

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unversehens in das Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt. Sie dienen inzwischen als Orientierungswissen in wissenschaftspolitischen Steuerungsprozessen und verändern damit die traditionellen Aushandlungsspielräume zwischen Wissenschaft und Politik, sie beeinflussen wissenschaftsinterne Prozesse der Reputationszuweisung und wirken in den Randzonen des Wissenschaftssystems (Forschungsförderung, Fachzeitschriften), sie verändern möglicherweise die Interaktionsbeziehungen zwischen Akteuren in inner- und außerwissenschaftlichen Systemkontexten und sie erzeugen öffentlich zugängliche – von den wissenschaftlichen Akteuren nicht kontrollierbare – Leistungsvergleiche, die empfindlich auf die Reputation und damit indirekt auf die Ressourcenakquisition wirken können. 11 In jüngster Zeit lassen sich allerdings zwei gegensätzliche Trends beobachten: Auf der einen Seite werden derartige Metriken sehr detaillierten wissenschaftlichen Analysen unterzogen, 12 auf der anderen Seite werden Indikatoren zunehmend unbedenklich als steuerungsrelevante Kennzahlen eingesetzt. 13 Die verstärkte Nutzung quantitativer Informationen hat allerdings auch einen ganz pragmatischen Hintergrund. Die enorme Ausdehnung von Evaluationen und Begutachtungsverfahren in allen Teilen des Wissenschaftssystems führt tendenziell zu einer Überlastung des Peer Review-Systems. Da als Peers herausragende Fachwissenschaftler gesucht werden, ist das Potential begrenzt und die Gefahr, durch Überlastung oder Ausweichen auf weniger geeignete Personen die Qualität von Begutachtungen abzusenken, nicht von der Hand zu weisen.

IV. Peers und Indikatoren Die immer wieder thematisierte Differenz zwischen qualitativen (Peer Review) und quantitativen Verfahren (Indikatoren) beruht zumindest teilweise auf einem grundlegenden Missverständnis sozialwissenschaftlicher Daten. Sogenannte qualitative Daten unterliegen ähnlichen Anforderungen an Validität und Reliabilität wie dies für statistische und bibliometrische Daten oder Drittmittelstatistiken gilt. Zudem gehen auch die quantiativen Daten letztlich immer auf Entscheidungen von Peers zurück, die Manuskripte akzeptieren oder Drittmittelanträge befürworten. Insofern ist mit der Differenz zunächst nicht mehr bezeichnet als die Nutzung unterschiedlicher Methoden, die für die jeweilige Fragestellung mehr oder weniger geeignet sind. Die Probleme beider Verfahren ähneln sich durchaus. Sie betreffen auf der Seite qualitativer Verfahren vor allen Dingen die Notwendigkeit, einen subjektiven Urteilsbias kontrollierbar zu machen, auf der Seite der quantitativen Verfahren das Problem, die aus weitgehend 11 12 13

Ebd. Moed et al. (2004), van Raan (1988). Vgl. Weingart (2003); Hornbostel (2005); Butler (2003).

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Stefan Hornbostel

entkontextualisierten Informationen und einer voraussetzungsreichen Operationalisierung generierten Indikatoren auf ihre Aussagefähigkeit und Eignung zu prüfen. 14 In der Praxis setzen sich daher zunehmend Mischverfahren durch, wie etwa das „informed peer review“, die sich gezielt eines Methodenmix bedienen, um Schwächen und Stärken der jeweiligen Verfahren austarieren zu können. Für die USA beschreibt Michelson 15 den Trend in der Forschungsevaluation folgendermaßen: „First, the standardization and harmonization of performance assessment methodologies has begun to spread across various federal R&D funding agencies. [...] Second, there has clearly been a turn toward employing quantitative methodologies as a major part of performance assessment initiatives. [...] Third, the growing use of quantitative bibliometric indicators is also being paired with a renewed focus on utilizing qualitative indicators in an effort to create more appropriate hybrid methodologies that can capture a wider range of variables related to a program’s performance.“ Inwieweit Gutachter sich indikatorisierter Informationen bedienen oder derartiges in Erwägung ziehen, ist sehr stark disziplinabhängig. Eine Befragung der Fachkollegiaten der DFG ergab hinsichtlich einer potentiellen Nutzung von Zitationsindizes folgendes Ergebnis: vgl. Abb. 1. Während in der Medizin, wo die Nutzung bibliometrischer Informationen im Rahmen von Verfahren leistungsorientierter Mittelvergabe inzwischen Standard ist, der überwiegende Teil der DFG-Fachkollegiaten eine Bereitstellung von Zitationsdaten für eine hilfreiche Unterstützung bei der Begutachtung von Drittmittelanträgen hält, zeigt sich in den Geisteswissenschaften genau das umgekehrte Bild. Der größere Teil der Fachkollegiaten verspricht sich keinen Nutzen von der Bereitstellung derartiger Informationen. Ein eher unentschlossenes Bild bieten die Ingenieure, wo immerhin knapp 40% der Befragten Zitationsangaben bei der Erstellung eines Entscheidungsvorschlags für hilfreich halten. 16 Die Fachkollegiaten gehen dabei von einer durchaus kritischen Einschätzung des Peer Review-Verfahrens aus. Da ein wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit darin besteht zu kontrollieren, ob die Gutachten zu den Anträgen auf Forschungsförderung den allgemeinen und fachlichen Standards entsprechen, kommt den Urteilen dieser – aus den jeweiligen Disziplinen gewählten – Experten besonderes Gewicht zu.

14 15 16

Vgl. Hornbostel (2010). Michelson (2006). Vgl. Hornbostel / Olbrecht (2007).

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Quelle: Hornbostel / Olbrecht (2007). Abb. 1: Erwarteter Nutzen von Zitationsangaben zu den Veröffentlichungen des Antragstellers für eine Bewertung 17

Wie die Abb. 2 18 zeigt, gehen die Fachkollegiaten davon aus, dass rund ein Viertel der Gutachten nicht den Qualitätserwartungen entspricht. 19 Fehleinschätzungen von Forschungsleistungen sind also keineswegs ein Privileg indikatorisierter Bewertungen, die umfangreiche Literatur zur Kritik am Peer ReviewVerfahren legt davon Zeugnis ab. 20

17 Fragentext: „Wären aus Ihrer Sicht Zitationsangaben zu den Veröffentlichungen des Antragstellers zusätzlich für eine Bewertung und Formulierung eines Entscheidungsvorschlages hilfreich?“. 18 Fragetext: „Wie hoch schätzen Sie in Ihrem Fachkollegium den Prozentsatz an Gutachten mit einer angemessenen Qualität ein?“ (Angaben in %). 19 Vgl. Hornbostel / Olbrecht (2007). 20 Vgl. De Vries / Marschall / Stein (2009); Overbeke / Wager (2003); Weller (2001).

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Stefan Hornbostel

Quelle: Hornbostel / Olbrecht (2007). Abb. 2: Schätzung des Prozentsatzes von Gutachten mit einer angemessenen Qualität durch DFG Fachkollegiaten

Aber auch bei sorgfältigem Peer Review und mit Bedacht gewählten bibliometrischen Indikatoren konvergieren Indikatoren und Expertenurteile meist nur am oberen und am unteren Ende einer Verteilung problemlos; dies sind zugleich die Bereiche, in denen die Gutachterübereinstimmung am höchsten ausfällt, ein hinreichend breites Qualitätsspektrum vorausgesetzt. Im Mittelfeld (und darum geht es bei der Bewertung von Forschungsleistungen meist) fällt nicht nur den Experten eine Urteilsbildung deutlich schwerer, auch Indikatoren liefern – wenn man eine gewisse Fehlermarge einkalkuliert – wenig trennscharfe Ergebnisse. Auch hinsichtlich der prädiktiven Validität werden Indikatoren wie Experten unter solchen Bedingungen unsicherer. Ein Beispiel für einen solchen Fall ist das Emmy Noether Postdoc-Programm der DFG. Die Antragsvoraussetzungen sind hoch, so dass die Antragsteller keinen repräsentativen Querschnitt aller Postdocs darstellen, sondern eine leistungsmäßig sehr starke Gruppe. 21 Vergleicht man nun die aufgrund des Begutachtungsverfahrens geförderten mit den abgelehnten Antragstellern, zeigt sich zwischen beiden Gruppen kein signifikanter Unterschied (im Hinblick auf Publikationen 21

Vgl. Böhmer / Hornbostel / Meuser (2007); Böhmer / Hornbostel (2009); Bornmann / Daniel (2004); Melin / Danell (2006); Van den Besselaar / Leydesdorff (2007).

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und Zitationen), und zwar weder vor noch nach der Förderung (vgl. Abb. 3). Es fällt allerdings schwer zu entscheiden, ob hier im Auswahlverfahren Fehleinschätzungen entstanden sind oder ob die Gutachter anderen Kriterien als den Publikationen und Zitationen größeres Gewicht beigemessen haben. Für letzteres spricht eine deutlich höhere Berufungsquote der geförderten Antragsteller.

Durchschnittliche Anzahl an Publikationen pro Person pro Jahr

Durchschnittliche Anzahl der Zitationen pro Publikation

Quelle: Böhmer / Hornbostel / Meuser (2008). Abb. 3: Durchschnittliche Anzahl an Publikationen pro Person pro Jahr – Medizin (full counts)

V. Disziplinspezifische Nutzbarkeit von Forschungsindikatoren Die Gründe für die oben ausgeführte disziplinspezifisch sehr unterschiedliche Wertschätzung bibliometrischer Indikatoren liegen a) im disziplinär unterschiedlichen Publikationsverhalten hinsichtlich der bevorzugten Formate (Monographien, Aufsätze usw.), b) in der unterschiedlich starken Hierarchisierung von Zeitschriften und der Konzentration der relevanten Beiträge auf einzelne Journale, c) in den disziplinär unterschiedlichen Abdeckungsgraden der einschlägigen Datenbanken und d) der gewählten Publikationssprache.

72

Stefan Hornbostel Tabelle 1 Publikationen australischer Universitäten, 1999 – 2001 Anzahl der Publikationen

Abdeckungsgrad der ISI Datenbanken

Forschungsgebiet

Total Zeitin den Datenschriften- banken artikel erfasste Zeitschriftenartikel

Anteil der Publikationen in Zeitschriften

in % aller % aller ZeitPublikaschriften- tionen artikel

Chemie

1759 1703

1580

97

93

90

Physik

1772 1612

1502

91

93

85

Biologie

2422 2136

1893

88

89

78

Medizin

9469 8439

6952

89

82

73

Mathematik

1488 1273

1018

86

80

68

Agr.- Vet.- und Umwelt

1578 1257

1011

80

80

64

Erdwissenschaften

1124 921

720

82

78

64

Psychologie

903

487

74

73

54

Ingenieurwissenschaften

4765 2425

1929

51

80

40

Philosophie

336

218

107

65

49

32

Ökonomie

1004 615

269

61

44

27

Gesellschaftswissenschaften

554

363

125

66

34

23

Informatik

1218 384

669

253

32

66

21

Politikwissenschaften 548

244

108

45

44

20

Geschichte

644

338

114

52

34

18

Betriebswirtschaftslehre

1585 952

255

60

27

16

Erziehungswissenschaften

1039 598

148

58

25

14

Sprachwissenschaften 654

357

91

55

25

14

Kunstwissenschaften

182

86

23

47

27

13

Kommunikationswis- 117 senschaften

53

11

45

21

9

Architektur

318

138

28

43

20

9

Rechtswissenschaften 913

637

53

70

8

6

Quelle: Butler / Visser (2006).

Zur Problematik der Forschungsevaluation

73

Während in den Natur- und Lebenswissenschaften die Monographie zur Kommunikation von Forschungsresultaten (fast) nicht mehr existiert und durch Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften und mehr und mehr in Form elektronischer Pre-prints abgelöst worden ist, spielen in den Ingenieurwissenschaften und der Informatik Beiträge zu wissenschaftlichen Tagungen (Conference Proceedings) eine große Rolle, in den Sozial- und Geisteswissenschaften stehen hingegen Buch und Sammelband mindestens gleichwertig neben dem Zeitschriftenaufsatz. 22 Sehr deutlich werden diese Unterschiede, wenn man, ausgehend von der Gesamtheit aller Publikationen, danach fragt, welche dieser Publikationen etwa im Web of Science erfasst sind. Für die australischen Universitäten konnte diese Frage sehr genau untersucht werden, weil aufgrund eines formelbasierten Finanzierungssystems sehr zuverlässige Angaben zu den Publikationen der Universitätswissenschaftler vorliegen. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse einer derartigen Analyse. Erkennbar sind zunächst die disziplinären Publikationsgepflogenheiten. Während in den Naturwissenschaften und in der Medizin der Zeitschriftenaufsatz dominiert und diese Zeitschriftenartikel auch fast vollständig erfasst sind, zeigt sich in den Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch in der Informatik und den Ingenieurwissenschaften, dass erstens der Anteil der Zeitschriftenartikel an allen Publikationen deutlich niedriger liegt und zusätzlich ein deutlich geringerer Teil dieser Zeitschriftenartikel auch in der Datenbank erfasst ist. Da Monographien und Sammelbände gar nicht oder nur rudimentär erfasst und auch Conference Proceedings nur sehr unvollständig aufgenommen werden, ergibt sich für letztere Disziplinen ein Abdeckungsgrad, der schnell unter ein Drittel aller Publikationen fällt. Da es sich hier ausschließlich um englischsprachige Publikationen handelt, muss bei nicht englischsprachigen Publikationen von einem weiteren Absinken des Erfassungsgrades ausgegangen werden. Man kann der gleichen Frage auch dadurch nachgehen, dass man kontrolliert, welche der in den Literaturlisten der im Web of Science aufgenommenen Artikel aufgeführten Quellen ihrerseits im Web of Science aufgeführt sind (als sog. source items). Das Ergebnis solcher Analysen ist den oben genannten Befunden sehr ähnlich. Während in den Naturwissenschaften über 80 % der in den Artikeln zitierten Literatur (Referenzen) in der Datenbank auffindbar sind, lassen sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften weniger als 40 % der Referenzen in der Datenbank wieder finden. 23 Zu den disziplinären Unterschieden gehören auch die Kooperationsstrukturen bzw. die Konventionen, die die Autorschaft eines Beitrages regeln. Wer im Falle intramuraler Kooperationen als Autor genannt wird, welche Art von Beitrag (Text, Daten, Tiermodelle, Analytik, Bereitstellung von Materialien oder Geräten usw.) zur Nennung als Autor führt, in welchem Maße „Gastautorschaften“ ge22 23

Vgl. Weingart et al. (1991). Vgl. Moed (2006).

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Stefan Hornbostel

duldet werden und in welchem Maße internationale Koautorschaften üblich sind, all das ist in hohem Maße durch disziplinäre Üblichkeiten geregelt. 24 Die Folge ist, dass insbesondere in den Lebenswissenschaften, aber auch in den Naturwissenschaften Beiträge von einem einzelnen Autor die Ausnahme bilden (dafür aber mehr als zehn Autoren keineswegs unüblich sind), während in den Geistesund Sozialwissenschaften ein bis zwei Autoren die Regel sind. Der Trend zur Mehrfachautorschaft bildet sich dabei deutlich in den einschlägigen Datenbanken ab: Waren 1980 noch rund ein Viertel aller im Web of Science registrierten Zeitschriftenartikel von einem Autor verfasst, ließen sich im Jahre 2000 nur noch knapp 11 % derartiger „Ein-Autoren-Aufsätze“ nachweisen. Parallel stieg die durchschnittliche Autorenzahl von 2,6 auf 4,2. 25 Nicht nur die missbräuchliche Verwendung von Autorschaft 26, 27, stellt für Evaluationszwecke ein Problem dar, sondern auch die Frage, wie im Falle von Mehrfachautorschaft die einzelne Publikation den Autoren zugerechnet werden soll. Gegen die übliche Strategie, jedem Autor die Publikation vollständig anzurechnen, wurde schon sehr früh eingewandt, dass es sinnvoller sei „a class of fractional authors“ einzuführen, den Autoren also nur Bruchteile einer Publikation zuzurechen. 28 Solche fraktionalen Zählungen führen insbesondere im Vergleich von Disziplinen zu völlig anderen Ergebnissen als eine vollständige Zählung. 29

VI. Richtige Mittel für den falschen Zweck oder umgekehrt? Alle medizinischen Fakultäten in Deutschland verfügen über ein System leistungsorientierter Mittelvergabe (LOM). Gegen die grundlegende Idee, Forschungsleistungen zusätzlich zum disziplinären Renomee für die Forscher auch institutionell zu belohnen (materiell und ideell), ist nichts einzuwenden. Weitaus problematischer ist es aber, Indikatoren und eine Formel zu finden, die „gute Forschungsleistungen“ auch angemessen abbilden. Trotz aller Variationen und unterschiedlichen Gewichtungsfaktoren, die es unter den LOM-Systemen gibt, zeichnet sich ein Kernbestand an genutzten Forschungsindikatoren ab, nämlich Drittmitteleinwerbungen, bibliometrische Angaben und Promotionszahlen. Unter den bibliometrischen Indikatoren ist wiederum der Journal Impact Factor (JIF) (in aufaggregierter oder gemittelter Form) besonders beliebt. 30 24

Vgl. Katz / Martin (1997); Kretschmer (1994); Glänzel (2002). Vgl. Glänzel / Schubert (2004). 26 Viele Zeitschriften geben inzwischen detailliert an, worin der Beitrag der (Ko)Autoren bestand. 27 Vgl. Klingsporn / Hornbostel (2008). 28 Vgl. de Solla Price (1963). 29 Vgl. Hornbostel / Klingsporn / von Ins (2008). 30 Vgl. DFG (2004). 25

Zur Problematik der Forschungsevaluation

75

Der Journal Impact Factor (JIF) wurde zur Unterstützung von Anschaffungsentscheidungen in Bibliotheken konstruiert und charakterisiert die „Sichtbarkeit“ einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Er berechnet sich aus den Zitierungen der Publikationen der Fachzeitschrift und der Zahl der Publikationen in dieser Fachzeitschrift. Dabei werden inzwischen außer dem Standarduntersuchungszeitraum von zwei Jahren auch längere Publikations- und Zitierfenster angeboten. Für die Berechnung der JIFs für das Jahr 2008 werden in der Standardversion die Zitate der Artikel im Jahr 2008 in Relation zu der Zahl der Artikeln aus den Jahren 2006 und 2007 gesetzt. Genutzt wird der JIF dabei praktisch als zeitnahe Approximation der zu erwartenden wissenschaftlichen Resonanz, in der Annahme, dass die Aufnahme in eine „high impact Zeitschrift“ (das erfolgreiche Passieren des Peer Review-Verfahrens) entsprechende Aufmerksamkeit (und Zitate) garantiert. Die Konstruktion der JIFs wirft eine ganze Reihe von Problemen auf: Die „Citation peaks“ sind nicht nur zwischen Disziplinen recht unterschiedlich verteilt (ein Aufsatz aus der Mathematik wird i. d. R. über einen sehr viel längeren Zeitraum zitiert und erlebt zu einem späteren Zeitpunkt die höchste Aufmerksamkeit als ein Beitrag aus der Molekularbiologie), auch innerhalb der Medizin ergeben sich massive subdisziplinäre Unterschiede. Diese Unterschiede im zeitlichen Abstand zwischen Publikation und Reaktion in der scientific community führen zu Verzerrungen zugunsten der „schnelllebigeren“ Publikationskulturen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus den unterschiedlichen Zitierungsraten der Publikationstypen. Viele Zeitschriften veröffentlichen neben eigentlichen Forschungsaufsätzen auch Übersichtsartikel (Reviews), sowie auch begleitende Materialien wie Editorials, Letters, Technical Notes, Discussions oder Meeting Abstracts. Häufig werden dabei Übersichtsartikel deutlich höher zitiert als Originalartikel. Dadurch werden Zeitschriften benachteiligt, die hohe Anteile von Originalartikeln publizieren, obwohl die Originalartikel die eigentlichen Forschungsleistungen und Resultate wiedergeben. Benachteiligt sind auch Zeitschriften in Forschungsgebieten, in welchen die „zitierende Literatur“ im Web of Science mangelhafte Abdeckungsgrade aufweist oder auch „industrienahe“ oder „anwendungsnahe“ Zeitschriften und Gebiete, in denen die Leserschaft die Artikel sehr wohl rezipiert, aber deutlich seltener eigene Resultate in zitierfähigen Artikeln publiziert. Schließlich wirkt sich die unterschiedliche Berücksichtigung von Dokumententypen in Zähler und Nenner der JIF-Formel aus: Als Quellenartikel werden nur Originalartikel, Review-Artikel, Meeting Abstracts und Technical Notes angesehen. Allerdings werden Zitationen auch aus anderen Dokumentententypen einbezogen (etwa „Letters“, die zwar zitiert werden, jedoch nicht als Quellenartikel berücksichtigt werden). So wird der JIF derjenigen Zeitschriften in die Höhe getrieben, die eine hohe Anzahl an „sonstigen“ Dokumenttypen veröffentlichen. Ein Umstand, der gelegentlich für gezielte Manipulationen des JIF genutzt wird. 31 31

Vgl. Adler / Ewing / Taylor (2009).

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Stefan Hornbostel

Weitaus problematischer als diese konstruktionsbedingten Eigenheiten ist aber der Umstand, dass einer kleinen Menge hoch zitierter Publikationen eine große Zahl unzitierter oder wenig zitierter Arbeiten gegenüber steht, was verteilungsabhängige (parametrische) Maße wie etwa Durchschnittswerte methodisch höchst problematisch und schwer interpretierbar macht. 32 Die folgende Tabelle zeigt, dass die Wahl „robuster“ Indikatoren, wie der „Anteil der unzitierten Publikationen“ oder Median der Zitierungen, zu völlig anderen Ergebnissen führt als die Nutzung der JIFs: Tabelle 2 JIF-Werte, Mediane der Zitierungen und Anteil der unzitierten Publikationen in Lancet (2002) und Physical Review B (2002) Journal

Zit / Publ. (JIF)

Median Zit

% uncited

Physical Review B

11,8

7

4,5%

Lancet

27,6

2

37,3%

Quelle: Eigene Berechnungen nach Web of Science; (Zitate bis Sept. 2007).

Ein zufällig herausgegriffener Artikel aus dem „high impact journal“ Lancet wird danach wahrscheinlich deutlich weniger zitiert, als ein Artikel aus Physical Review B, obwohl der JIF von Lancet mehr als doppelt so hoch ist. Ein Rückschluss von der Zeitschrift auf einen einzelnen Artikel ist also eine äußerst fehleranfällige Charakterisierung des einzelnen Artikels. Für die ursprünglich angezielte Verwendung des JIF als Charakterisierung einer Zeitschrift (für bibliothekarische Beschaffungsentscheidungen) mag dieser Fehler noch verkraftbar sein, wird der JIF aber zur Charakterisierung der wissenschaftlichen Güte einzelner Artikel, Personen oder kleiner Arbeitsgruppen genutzt, entsteht schnell ein verzerrtes Bild. So wundert es nicht, dass der Erfinder des JIF (Eugene Garfield) sich von derartigen Evaluationspraxen distanziert: „We never predicted that people would turn this into an evaluation tool for giving out grants and funding“. 33 Zu welch unvorhersehbaren Ergebnissen die Nutzung des JIF bei der Bewertung einzelner Forscher führt, mag exemplarisch die folgende Zusammenstellung zufällig ausgewählter Nachwuchswissenschaftler aus dem Emmy Noether-Programm der DFG demonstrieren. 34 Ein Ranking der sieben Wissenschaftler nach JIF und tatsächlich erhaltenen Zitaten führt zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen. 35 32 33 34 35

Vgl. Seglen (1992). Eugene Garfield, nach Monastersky (2005). Böhmer / Hornbostel / Meuser (2007). Vgl. Seglen (1997).

Zur Problematik der Forschungsevaluation

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Tabelle 3 Effektive Zitaterate und durchschnittlicher JIF ausgewählter Emmy Noether-Antragsteller im Fach Medizin mittlerer JIF

mittlere Zitationszahl

Antragsteller

Wert

Rang

Wert

Rang

1

10,9

2

9,1

7

2

6,1

6

22,8

5

3

7,0

4

41,5

2

4

21,4

1

49,4

1

5

6,7

5

21,6

6

6

8,6

3

26,4

3

7

5,3

7

22,8

4

Quelle: Böhmer / Hornbostel / Meuser (2008). Zitate pro Publikation (2 Jahre nach Publikation)

JIF

Quelle: Böhmer / Hornbostel / Meuser (2008). Abb. 4: Tatsächliche Zitate pro Artikel (mean) und durchschnittlicher JIF von Emmy Noether Antragstellern im Fach Physik 36

36

Zitationsfenster: Erscheinungsjahr plus zwei Jahre.

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Aber selbst der Vergleich von größeren Gruppen (hier die abgelehnten und die geförderten Antragsteller aus dem Emmy Noether-Programm der Jahre 1999 – 2006) ergibt nicht nur massive Fehleinschätzungen, was die tatsächliche Zitationshäufigkeit anbetrifft, sondern führt auch zu unterschiedlichen Trenddiagnosen, wenn man die Entwicklung über die Zeit betrachtet. Das oben genannte Problem fraktioneller Zählungen wird bei der Nutzung von JIF-Summen als Indikator ebenso wenig berücksichtigt, wie der Umstand, dass insbesondere in den medizinischen und biologischen Fachrichtungen die Erst- und Letztautorschaft oftmals eine besondere Bedeutung haben. So wird etwa in den „Empfehlungen zu einer ‚Leistungsorientierten Mittelvergabe‘ an den Medizinischen Fakultäten“ 37 vorgeschlagen, die Erst- und Letztautorschaft mit je einem Drittel zu berücksichtigen und das verbleibende Drittel auf die weiteren Autorennamen zu verteilen. Auch diese Methode wird allerdings nicht einheitlich verwendet und ist keineswegs unumstritten. Der praktische Einsatz des Journal Impact Factor ist insofern ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie ein Indikator für Zwecke genutzt wird, für die er weder konstruiert wurde, noch methodisch geeignet ist.

VII. Resümee und Ausblick Evaluationen von Forschungsleistungen, Monitoring und Controlling von Forschungsaktivitäten, mit Indikatoren bewehrte Ziel- und Leistungsvereinbarungen u.Ä. sind aus dem Forschungsalltag nicht mehr wegzudenken. In einem international kompetitiven Wissenschaftssystem ist auch für die Zukunft zu erwarten, dass die Bedeutung von Informationen über Forschungsperformanz, Forschungsthemen und -akteure, Netzwerke oder „emerging fields“ weiter steigen wird. Die Verwendung derartiger Informationen verschiebt sich dabei zunehmend von einer Informationsfunktion in Richtung einer Allokationsfunktion. Zugleich wird der Zugang zu komplexen bibliometrischen Indikatoren immer einfacher, so dass die Nutzung von Forschungsindikatoren in Verwendungszusammenhänge vordringt, in denen weder eine kompetente Nutzung sichergestellt ist, noch ein hinreichendes Reflexionspotential für die Abschätzung der Auswirkungen verfügbar ist. Die Folge ist ein wachsendes Unbehagen, wie es sich – pars pro toto – in der jüngsten Initiative der DFG „Qualität statt Quantität“ artikuliert. Ziel der neuen Regelungen zur Verwendung von Literaturangaben in Förderanträgen, Abschlussberichten und im curriculum vitae ist es, der „seit Jahren steigenden Bedeutung quantitativer Faktoren im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Pu37

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blikationen entgegen[zu]wirken. ‚Ob bei der leistungsorientierten Mittelvergabe und bei Habilitationen und Berufungen oder auch bei den Bewertungen von Förderanträgen – überall haben numerische Indikatoren wie der Hirsch-Faktor oder der Impact-Faktor immer mehr Gewicht bekommen. Oft lautet die erste Frage eben nicht mehr, was jemand erforscht hat, sondern wo und wie viel er publiziert hat. Das übt einen außerordentlich starken Druck auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus, möglichst viel zu publizieren. Und es verleitet immer wieder zu Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, in denen falsche Angaben zum Stand einer Veröffentlichung gemacht werden. Das alles schadet der Wissenschaft‘, betonte der DFG-Präsident“. 38 Zukünftig dürfen daher im CV nur noch maximal fünf Veröffentlichungen, im Antrag pro Jahr der Förderperiode nur zwei Veröffentlichungen mit direktem Bezug zum jeweiligen Projekt angegeben werden. Niemand wird der Forderung nach stärkerer Qualitätsorientierung widersprechen wollen, gleichwohl stellen sich doch Zweifel ein, ob mit einer quantitativen Begrenzung den „quantitativen Faktoren“ entgegengewirkt werden kann, nicht nur, weil wissenschaftliches Fehlverhalten relativ unabhängig von Publikationsdruck und der Verwendung von Indikatoren stattfand und stattfindet, sondern auch deshalb weil, − kaum ein Gutachter darauf verzichten wollen wird, einen Blick auf das gesamte Œuvre eines Antragstellers zu werfen, zumal fünf umfangreiche Monographien in der Philosophie etwas anderes repräsentieren als fünf sehr kurze Artikel in der Mikrobiologie, − für die Prüfung der Befangenheit von Gutachtern auch zukünftig auf vollständige Publikationslisten zurückgegriffen werden muss, um die Koautoren zu identifizieren, − Gutachter Indikatoren zu Rate ziehen, weil sie entweder wegen der Flut von Begutachtungen keine Zeit mehr zum Lesen finden oder sich über die weltweite Resonanz der Publikationen in einem Spezialgebiet unsicher sind, − das Problem nicht eigentlich „numerische Indikatoren“ sind (die die Wissenschaft ja selbst beständig produziert und nutzt), sondern das Problem vielmehr in der Qualität der Indikatoren und der Kompetenz für ihre Interpretation liegt. Vielleicht wäre es einfacher, unbürokratischer und hilfreicher gewesen, wenn man die Antragsteller einfach gebeten hätte, einige ausgewählte Publikationen den Gutachtern zur Lektüre anzuempfehlen. Es wird insgesamt kaum möglich sein zum Status quo ante zurückzukehren, dafür hat sich die Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr verändert und keineswegs nur zum Schlechten. Man wird aber sicherlich das 38

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tun müssen, was in der Wissenschaft eigentlich selbstverständlich ist, nämlich die Weiterentwicklung einer angemessenen Indikatorik betreiben. Das ist kein grundsätzlich anderer Prozess als die Entwicklung von Indikatoren in der Medizin, der Chemie, der Ökonomie oder der Biologie, wo Zeit und Forschungskapazität sowohl für die Entwicklung einer anspruchsvollen Indikatorik, wie auch für die Entwicklung von Anwenderkompetenz benötigt wurde. Das Besondere einer Wissenschaftsindikatorik liegt jedoch in der Vagheit des zu indizierenden Phänomens „wissenschaftliche Qualität“ und in der Reaktanz der Indikatoren, denn Wissenschaftler waren in der Vergangenheit und sind auch heute auf der Suche nach Ressourcen und nach Anerkennung für ihre Arbeit und nutzen dazu die jeweils verfügbaren Mittel, um innerhalb und außerhalb ihrer community sichtbar zu werden. Davon zeugen – lange bevor die „quantitativen Faktoren“ relevant wurden – manch unfruchtbare Modewelle in der Wissenschaft und manch vollmundiges, aber uneingelöstes Versprechen durch die Wissenschaft.

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Wissenschaftsdidaktik zwischen Kompetenzaufbau und Bildungsauftrag für die Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft Von Wolfgang Nieke 1

I. Zur Rede von Ökonomisierung und Wissensgesellschaft Um das Folgende in den Kontext einzuordnen, sei kurz darauf verwiesen, dass in den Reden über Ökonomisierung und Wissensgesellschaft charakteristische Verkürzungen zu bemerken sind: Die Rede von der Wissensgesellschaft enthält zwei Argumente: (1) Es muss Geheiminformation sorgsam gehütet und weitergegeben werden, um in der Globalkonkurrenz einen kleinen Vorsprung für den Betrieb zu erhalten. (2) Das technisch relevante Produktionswissen muss aufwendig inkorporiert, d. h. gelernt werden, so dass es sinnvoll ist, in das Humankapital der Mitarbeiter zu investieren. Entsprechendes gilt volkswirtschaftlich für die Gesamtbevölkerung, also für den Anteil der Bildungsausgaben am Inlandsprodukt. Dies ist Ausdruck der ubiquitären Szientifizierung, da dieses Wissen abstrakt ist und nicht nebenbei und kurz gelernt und angewendet werden kann. Hier muss also genau zwischen Information, die technisch gespeichert und auch verarbeitet werden kann, und Wissen, nämlich der Einordnung von Information in einen Sinnzusammenhang, unterschieden werden. Wissen ist üblicherweise an Menschen gebunden. In Sonderfällen, etwa bei Assistenzsystemen der künstlichen Intelligenz, wird ebenfalls aus Informationen ein Wissen erzeugt. In vielen Diskursen über Wissensgesellschaft geht es jedoch gar nicht um Wissen, sondern um die Hütung und Verwaltung von konkurrenzrelevanten Informationen.

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Prof. Dr. Wolfgang Nieke ist Gründungsprofessor des Lehrstuhls für Allgemeine Pädagogik an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock.

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Die Rede von der Ökonomisierung der Wissenschaft greift nur einzelne der verschiedenen Begriffe von Ökonomie auf. Es wird nicht verwendet: − Ökonomie als sorgsame Verwendung zu knapper Ressourcen mit dem Prinzip der Effizienzmaximierung; − Ökonomie als social entrepreneurship; − Ökonomie als Privatisierung von Universitäten, verstanden als Dienstleistungsunternehmen, das am Markt teilnimmt – das gilt vielen als effektiver denn die staatliche Finanzierung durch Transferleistungen. Es geht allein um die Anwendung von Wettbewerb und Outputsteuerung zur Motivsteuerung und Motivsteigerung. Dass Wettbewerb zur Leistungssteigerung führe, wird zwar von vielen fraglos geglaubt, ist aber eine vulgärpsychologische Vorstellung von menschlicher Motivation, die durch aktuelle Forschungen als grundlegend widerlegt angesehen werden muss. Die Outputsteuerung eignet sich für Produktionsbereiche, in denen normierte Stücke problemlos in ihrer Qualität beurteilt werden können. Sie versagt schon dort, wo sich verborgene Mängel erst später zeigen (aktuelles Beispiel sind die Rückrufaktionen von Autos, in denen Bauteile eingebaut wurden, deren Schäden durch eine direkte Endkontrolle nicht entdeckt werden können), erst recht bei komplexen Dienstleistungen mit Koproduktionen und Interaktionen mit den „Kunden“. Also muss ein Verständnis von Ökonomie, das sich nur auf diese beiden Steuerungsmedien für Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen bezieht, in Frage gestellt werden. Ein anderes Bild würde sich ergeben, wenn auch andere Aspekte der Ökonomie einbezogen würden.

II. Neue Aktualität der akademischen Lehre Die universitäre Lehre erhielt ihre erste Aufmerksamkeit vor vierzig Jahren im Gefolge der weltweiten Jugendrevolte und der Kritik der Studenten an veralteten Lehrformen. Ohne dauerhafte Reformen wurde es danach lange Zeit wieder still darum, und alle Steuerungsmedien für die Universitäten konzentrierten sich auf den Output in der Forschung. Die Lehre lief dabei ohne besondere Förderung nebenher. Das ändert sich derzeit: Erstens wird bemerkt, dass dem Wettbewerbskonzept der Exzellenzinitiative zur Unterstützung hervorragender Forschung ein Gegenstück für die zweite Aufgabe der Universität, die wissenschaftliche Lehre, fehlt. Das zeigt sich gerade durch den verschärften Wettbewerb, der mit solchen Instrumenten für die erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln und die Präsentation von Forschungsergebnissen in Patenten, Ausgründungen und internationalen, d. h. faktisch englischen Publikationen erzeugt wird. Das führt unvermeidlich dazu, dass die verfügbare

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Zeit des Universitätspersonals von der Lehre abgezogen und verstärkt hierauf verwendet wird, wenn es nicht ein gegenwirkendes Steuerungsmedium gibt. Da es jedoch keinerlei allgemein akzeptierte Messverfahren für die Qualität von akademischer Lehre gibt, die denen der Messung von Forschungsleistung auch nur annähernd gleichwertig wären, muss man sich einstweilen mit dem ungenauen Instrument der Preisauslobung begnügen, etwa dem Preis für gute Hochschullehre Ars legendi der Hochschulrektorenkonferenz und des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft. 2 Zweitens erfordert die neu akzentuierte Kompetenzorientierung der akademischen Lehre im Gefolge der Bologna-Reform für die Zwecke einer Berufsausbildung der Professionen eine entsprechende Didaktik. Hier wirkt das angelsächsische 3 Vorbild: Ein großer Teil der Bachelor-Studiengänge im angelsächsischen Bereich entspricht der Ausbildung an Berufsfachschulen in Deutschland (da es dort keine Berufsschulen gibt), und von solchen Ausbildungskonzeptionen sind Kompetenzorientierung und Modularisierung in das deutsche Reformmodell übernommen worden, und zwar nicht freiwillig durch die Universitäten, sondern staatlich verordnet über Regelungen der Kultusministerkonferenz zu verbindlichen Auflagen für eine erfolgreiche Akkreditierung. Hier geht es also nicht um forschendes Lernen im Nachvollzug und Mitwirken an der Forschungsaufgabe der Universität, sondern um eine wissenschaftsbasierte Berufsausbildung. Naheliegenderweise orientieren sich also wissenschaftsdidaktische Konzeptionen zum Aufbau einer so bestimmten professionellen Kompetenz mit Outputmessung am Ende einer genau definierten curricularen Einheit, die beliebig mit anderen in beliebiger zeitlicher Reihenfolge kombiniert werden kann (das Baukastenmodell der Berufsbildung, konkretisiert in Modulen) an der Didaktik der angelsächsischen Berufsbildung. Dabei ist bisher die Frage ungeklärt, ob dies dem kontinentaleuropäischen Universitätssystem in Deutschland und Frankreich angemessen ist, ob sich dieses System dem angelsächsischen anpassen soll und, falls ja, aus welchen Gründen. Hier wird zunächst nur konstatiert, dass es diese Bestrebungen faktisch an vielen Stellen gibt. Es war von jeher eine Aufgabe der Universitäten, die dort in Professionen ausgebildeten Fachleute zugleich so zu bilden, dass sie eine hervorgehobene gesellschaftliche Verantwortung tragen können. Deshalb steht diese Aufgabe auch weiterhin als Aufgabe der Universitäten in den Landeshochschulgesetzen. Von der Umsetzung ist jedoch oft nicht viel zu sehen. Ein traditioneller Rest fand sich bis vor kurzem noch in dem fachunabhängigen Studium generale. Dieses 2

Vgl. http://www.hrk-bologna.de/de/projekte_und_initiativen/3001.php. Gemeint ist hier die Gesamtheit der Länder, die englischsprachig sind oder sich an diesen orientieren. Dabei gibt es zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten von Amerika als den kulturellen Leitnationen große und markante Differenzen im Detail, was hier jedoch nicht im Einzelnen berücksichtigt werden kann. 3

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zeigte aber eine thematische Beliebigkeit, die diesem Ziel nicht (mehr) entsprach und auch die Studierenden kaum ansprach. An seine Stelle sind nun general studies getreten, die zwar auch fachunabhängig sind, nun aber im Sinne der Kompetenzorientierung auf employability zumeist extrafunktionale Qualifikationen vermitteln, und dies oft auf einem praktizistischen Niveau, für welche die Universität der falsche Ort ist (z. B. didaktisch fragwürdige Präsentationstechniken mit der Software eines dominierenden Konzerns). Die Studierenden der reformierten Studiengänge spüren diese Fehlerhaftigkeit der Konstruktion sehr deutlich und lehnen diese Lehreinheiten daher stark ab. Hier ist also ein noch ganz uneingelöster Reformbedarf der universitären Lehre zu konstatieren, der durch die Fokussierung auf das Modell der angelsächsischen Berufsausbildung an den Universitäten zugerechneten Colleges und Professional Schools ein wenig aus dem Blick geraten ist.

III. Die drei Aufgaben der universitären Lehre Die universitäre Lehre hat drei Aufgaben oder gesellschaftliche Funktionen: 1. Die Nachwuchsförderung für die Wissenschaft. Entsprechend enthalten die darauf bezogenen Studiengänge eine Disziplinorientierung mit explizitem Verzicht auf jedwede praktische Verwendung des zu Lernenden außerhalb des Wissenschaftssystems. Der hier durchaus auch vermittelte Praxisbezug ist die Anwendung der Forschungsmethoden auf Fragen der Grundlagenforschung. Die Disziplinorientierung verbietet jede Vermischung mit anderen Disziplinen, wie sie heute mit dem Schlagwort der Interdisziplinarität 4 eingefordert wird. Disziplinorientierung entwickelt sich über einen kontinuierlichen, längeren Prozess der Auseinandersetzung und der Aneignung einer spezifischen Perspektive auf die Welt, wie sie charakteristisch für eine der akademischen Disziplinen ist. Diese Perspektivität beschreibt mehr und anderes als der alte Differenzierungsversuch nach Gegenstand und Methode. 2. Die Grundlegung für eine professionelle Berufsausbildung in den disziplinbezogenen Berufsfeldern. Hierbei ist festzuhalten, dass es sich nicht um die 4

Diese Forderung entstammt der anwendungsorientierten Forschung aus dem Grenzbereich von Ingenieurwissenschaften und Naturwissenschaften, wo sich die Kooperation von zunächst durchaus monodisziplinär ausgebildeten Fachleuten als synergetisch erweisen kann. Daraus abzuleiten, die Ausbildung müsse grundsätzlich von Anfang an interdisziplinär sein, verkennt völlig, dass eine interdisziplinäre Kooperation eine langjährige Einsozialisation in eine spezifische Fachperspektive voraussetzt. Eine auf employability orientierte Kombination geeigneter Teilbereiche von Fächern entspricht hingegen nicht dem Konzept der Interdisziplinarität, sondern dem funktionalen Eklektizismus der Berufsbildung, wie er auch an Fachhochschulen praktiziert wird.

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gesamte Berufsausbildung handelt, sondern um die Grundlegung, da die Einübung in komplexe Handlungsmuster in der Berufseinführungsphase – entweder informell wie bei Ingenieuren oder Diplom-Pädagog / innen oder formell in einer zweiten Ausbildungsphase wie bei Juristen und Lehrer / innen – stattfindet. Die Professionalität des Studiums ist weitaus mehr als eine Ausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage, die Aneignung des gegenwärtig aktuellen wissenschaftlichen Wissens zur Anwendung in späterer Berufspraxis. Das wäre semiprofessionelle Berufsausbildung, die es auch gibt und geben soll, die aber ihren Ort nicht an der Universität hat. Professionalität hingegen ergibt sich durch die Fähigkeit, selbst neues wissenschaftliches Wissen erzeugen zu können, mit anderen Worten durch den Erwerb von Forschungsfähigkeit in der studierten Disziplin. 3. Bildung zur Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft. So steht es, aus guten Gründen, in den Hochschulgesetzen der Länder, und damit ist angesprochen, dass die Universitätsabsolvent / innen künftig Verantwortung in herausgehobenen gesellschaftlichen Positionen übernehmen werden und sollen, für welche sie weder durch die Hochschulreife noch durch das Fachstudium hinreichend qualifiziert und kompetent sind. Die Universitäten haben diese Aufgabe jedoch derzeit zumeist vergessen.

IV. Der Reflexionsort für die Aufgaben der universitären Lehre ist die Bildungswissenschaft Hieran kann deutlich werden, dass die Gestaltung der universitären Lehre keineswegs allein eine Aufgabe der Fachwissenschaften sein kann, die inhaltlich nur für die erste Aufgabe zuständig und gerüstet sind. Bereits die selektiven inhaltlichen Anforderungen eines bestimmten Berufsfeldes können aus der Struktur der Disziplin heraus nicht überblickt und bewertet werden, da das nicht deren Aufgabe in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist. Vollständig gilt das für die dritte Aufgabe, die allein bildungswissenschaftlich bestimmbar ist. Die universitäre Lehre hat die Funktion und die Aufgabe, für alle drei Bereiche die erforderlichen Kompetenzen aufzubauen. Keine Bildungsinstitution, auch nicht die Universität, kann diesen Aufbau planmäßig herstellen und sein Ergebnis zuverlässig garantieren. Der Aufbau kann vorbereitet, angeregt, unterstützt und auch in seinem Ausmaß überprüft werden; geleistet muss er von den Studierenden selbst werden. Es ist deshalb fachlich unangemessen, von den Outputs und Outcomes der Studierenden Rückschlüsse auf die Qualität der Lehre ziehen zu wollen. Diese ist ein, wenngleich wichtiger, so doch nur ein Faktor unter anderem. Die Leistungsvarianz erklärt sich nur durch die Hinzunahme der anderen Bedingungen,

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die ceteris paribus gesetzt werden müssen, um den Effekt der Lehrqualität einschätzen zu können. Das ist aus der Schulforschung seit langem bekannt, aber diese Befunde scheinen aber einige Diskursteilnehmer in der Debatte über die Qualität der Lehre nicht zu kennen. Im Studium bauen die Studierenden ein komplexes Welt- und Selbstverhältnis auf (wie es der Bildungswissenschaft aus ihren Bildungstheorien geläufig ist und vielfältig in seinen Bedingungen, Abläufen und Möglichkeiten des Scheiterns analysiert wird), sie bilden sich also. Das ist weitaus mehr als Lernen, und deshalb ist die Referenzdisziplin für das Studium die Bildungswissenschaft (oder Erziehungswissenschaft) mit ihrem mehrdimensionalen Zugang zur Begründung von Zielen, Analyse von biographischen Bedingungen und Untersuchungen wirksamer Lernprozesse und ihrer Überprüfbarkeit. Die universitäre Lehre unterstützt diesen Bildungsprozess und greift dabei zum einen auf die Struktur der zu vermittelnden Disziplin zurück und zum anderen auf begründete Akzentuierungen und Auswahl von Fakten und Inhalten, die sich nicht aus der Struktur der Disziplin begründen lassen, sondern von den Zielen des Studiums her. Eine solche Begründung der Auswahl und zeitlichen Abfolge von Aneignungen von Inhalten wird Didaktik genannt, und in diesem Fall ist hier eine Wissenschaftsdidaktik 5 gefordert, und zwar spezifisch für jede Disziplin. Die Bildungswissenschaft kann hier viel beitragen, weil die Problematik im Bereich der weiterführenden Schulen als Wissenschaftspropädeutik seit langem behandelt wird. Ausgehend von der Allgemeinen Didaktik werden Fachdidaktiken entwickelt, und eine Variante davon ist die Wissenschaftspropädeutik. Viele der hierfür gewonnenen Einsichten lassen sich auf die Wissenschaftsdidaktik übertragen und entsprechend weiterentwickeln. Dabei ist eine Kooperation mit den jeweiligen Fachwissenschaften unverzichtbar. Nur in einer solchen Zusammenarbeit können die anstehenden Aufgaben der Wissenschaftsdidaktik angemessen bearbeitet werden.

Literatur Nieke, Wolfgang (2007): Ausdifferenzierung und Kapazitätsprobleme: Hauptfachstudiengänge der Erziehungswissenschaft, in: Erziehungswissenschaft, Heft 35, S. 25 –37. 5

Gegen den Terminus der Wissenschaftsdidaktik ist eingewendet worden, Wissenschaft werde nicht nur an Hochschulen vermittelt, sondern auch in der gymnasialen Oberstufe oder in der Weiterbildung, und deshalb wolle man genauer von Hochschuldidaktik sprechen. Das ist zwar zutreffend, aber der Terminus Hochschuldidaktik suggeriert, es könne eine fachunabhängige allgemeine Didaktik der Hochschullehre geben. Eben dies ist jedoch unmöglich, so dass hier trotz des Einwandes von Wissenschaftsdidaktik gesprochen wird.

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Nieke, Wolfgang (2008): Was ist exzellente Lehre? – die Antwort der Erziehungswissenschaft: Wissenschaftsdidaktik statt Hochschuldidaktik, online verfügbar unter: http:/ /www.ewft.de/files/08-%20Exzellenz%20der%20Lehre%20-%20Wissenschaftsdidak tik%20statt%20Hochschuldidaktik.pdf.

„Forschendes Lernen“ als Hochform aktiven und kooperativen Lernens Von Johannes Wildt 1

I. Forschendes Lernen – Revival eines Studienreformansatzes Warum – so lässt sich angesichts der Wiederentdeckung des „Forschenden Lernens“ fragen – warum ausgerechnet heute das Revival eines in die Jahre gekommenen Studienreformkonzepts? Warum setzt sich der Wissenschaftsrat 2 schon für die Herausbildung eines „Forschenden Habitus“ in den „Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Lehre und Studium“ (2008) ein? Warum haben Hochschulen „Forschendes Lernen“ in den Wettbewerb um mehr „Ehre in die Lehre“ in Stellung gebracht? Warum widmen Stiftungen diesem Thema ganze Tagungen ? 3, 4 Warum nimmt eine Hochschule wie die TU Dortmund „Forschendes Lernen“ in ihr Leitbild auf und setzt sich zum Ziel, in 13 der 16 Fakultäten „Forschendes Lernen“ oder verwandte Studienkonzepte wie problembezogenes, fallorientiertes oder an Projekten orientiertes Studieren in mindestens zwei Modulen in der Studieneingangsphase und der Phase vor der Abschlussarbeit ins Bachelor-Studium zu implementieren? Warum also greift man zurück in eine in Vergessenheit geratene Schublade aus der Zeit der Wende von den 60er zu den70er Jahren und entstaubt ein Konzept einer versunkenen Reformepoche? Warum geschieht das gegen Endes des Bologna-Prozesses, der in der BolognaKonvention 1999 auf das Ende dieses Jahrzehnts projektiert war? So neu, wie sie oft daher kommt, ist freilich Bologna 1999 und der daran anschließende Bologna-Prozess allerdings auch nicht. Was hier aufgetischt wird, vermittelt dem Beobachter der Szene so manches Déjà-vu. Die Wahrnehmung aus den Fugen geratener Bezüge zwischen Hochschulbildung und Gesellschaft, insbesondere dem Beschäftigungssystem, bildete schon 1963 den Hintergrund 1 Prof. Dr. Johannes Wildt ist Inhaber der Professur für Hochschuldidaktik und Leiter des Hochschuldidaktischen Zentrums an der Universität Dortmund. 2 Vgl. Wissenschaftsrat (2008). 3 Vgl. Körber-Stiftung (2008). 4 Vgl. Huber / Hellmer / Schneider (2009).

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Johannes Wildt

für Georg Picht’s Diagnose einer „Deutschen Bildungskatastrophe“. 5 Der erste populäre Plan zur Einführung eines gestuften Studiensystems findet sich in Ralf Dahrendorf’s „Bildung als Bürgerrecht“. 6 In der Kritik der politischen Ökonomie der Gesamthochschule wird im Gegenzug die „Illusion der Chancengleichheit“ 7 entzaubert und dem vermeintlichen Aufstieg durch Bildung die Differenzierung zwischen „Rezeptemachern“ und „Rezepteanwendern“ 8 in der „Untertanenfabrik“ 9 als Funktion eines gestuften Studiensystems unterlegt. Bekanntlich blieb es nicht bei der Idee zur Umsetzung gestufter Studiengänge. Verschiedene Varianten der sogenannten „Integrierten Gesamthochschule“ in der ersten Hälfte der 70er Jahre hielten (bis auf die Universität Kassel) dem Ansturm der Gegenreform jedoch nicht stand. Auch Bologna 1999 mit seiner zweigestuften Studienstruktur nimmt die Figur der Reform auf der Ebene der einzelnen Institutionen nicht auf, führt aber im Gegenzug auf der Systemebene eine ubiquitäre Gesamthochschule wieder ein. Warum dann nicht auch in Anknüpfung an das Gründungsdokument der Hochschuldidaktik in der Bundesrepublik Deutschland, als das die programmatische Schrift der Bundesassistentenkonferenz 10 angesehen werden kann?

II. „Forschendes Lernen“ – Anknüpfen an einer akademischen Lehr- und Studienkultur im Bologna-Prozess? Der Entwurf des „Forschenden Lernens“ kann als Versuch betrachtet werden, den Modernisierungsbedarf in der Hochschulbildung durch deren Situierung in ein Lernen „im Medium der Wissenschaft“ 11 zu begegnen, das die Aktivität und Kooperation von Studierenden in den Mittelpunkt stellt. In der Kritik an einer vorwiegend auf die Vermittlung von Wissenschaftsinhalten abstellenden Lehre, die vorwiegend durch rezeptives Lernen oder doch mindestens stark auf dozentenzentrierte Steuerung des Studiums ausgerichtet war, sollten die Studierenden als eigenständige Akteure und Kooperanden in das Kerngeschäft von Wissenschaft und Forschung einbezogen werden. Wenn man Humboldt nicht nur mit der Brille einer aus der Wissenschaftsfreiheit begründeten „Einheit von Forschung und Lehre“ sieht, sondern den aktiven Part der Studierenden an dem 5

Picht (1965). Dahrendorf (1965). 7 Bourdieu / Passeron (1971). 8 Hickel (1970). 9 Leibfried (1967). 10 Vgl. Bundesassistentenkonferenz (BAK) (1970). 11 Asdonk / Kröger / Strobl / Tillmann / Wildt (2002). 6

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Humboldt zufolge immer als unfertig gedachten Forschungsprozess 12, durch den sich Hochschule von Schule unterscheidet, hervorhebt, wird die Einheit von Forschung und Lehre mit der „Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden“ am Wissensprozess zur Leitschnur der Hochschulentwicklung. Es ist im Übrigen nicht nur interessant, bei der BAK nachzulesen, wie dieses Studienkonzept bildungstheoretisch begründet und fachspezifisch ausgestaltet, sondern ihm auch die Entwicklung derjenigen Kompetenzen zugeschrieben wird, die im heutigen Bologna-Prozess als „methodische, soziale und personale Schlüsselkompetenzen“ bezeichnet werden. „Forschendes Lernen“ wird damit zur Leitfigur und Höchstform eines hochschulgerechten Begriffs akademischen Lernens. Was lässt dieses Konzept neuerdings wieder attraktiv werden? Der BolognaProzess, in dem in kaum vorhergesehenem Tempo die zweigeteilte Studienstruktur nahezu flächendeckend umgesetzt und die Studiengänge mit Modulen, Workloads, Leistungspunkten, Supplements weitgehend parametrisiert worden sind, droht an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Im Resultat – so heute eine weitverbreitete kritische Wahrnehmung – hat dies zur Kompression der Studieninhalte im Korsett der neuen Rahmenvorgaben, zu einer Reglementierung des Studiums, einer starken Zunahme von administrativen Aufgaben in der Lehre und einem exorbitanten Anstieg der Prüfungsbelastung durch die Art der Umsetzung des studienbegleitenden Prüfungssystems geführt. Die Studierenden kritisieren heute in den aufgeflammten Protesten eine Verschulung des Studiums, die kaum Raum für ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Lernen gibt. Die Eskalation der Unzufriedenheit war vorauszusehen. Angesichts der Beobachtung, dass der Bologna-Prozess in Deutschland an dem „Shift from Teaching to Learning“ einer lehrendenzentrierten zu einer studierendenzentrierten Auffassung von Lehre und Studium vorbeilief, hatte die vormalige Arbeitsgemeinschaft für Hochschuldidaktik (AHD) und heutige Deutsche Gesellschaft für Hochschuldidaktik (dghd) bereits 2005 eine „Zweite Welle der Reform“ 13 postuliert. Mittlerweile wird die seit 2003 erhobene rückläufige Akzeptanz der Bologna-Reform unter den Studierenden aus Sicht der Hochschulforschung bestätigt. 14 Auch viele Lehrende befürchten die Reduktion des Hochschulstudiums auf eine Sekundarstufe III. Inzwischen hat auch die HRK 15 eine deutliche Kurskorrektur angemahnt und daher aktives und kooperatives Lernen in einer studierendenzentrierten Ausrichtung in den Mittelpunkt ihrer Entstehung zur Reform der Lehre an Hochschulen gestellt. Aber auch die Argumentationslage hat sich 12 13 14 15

Vgl. von Humboldt (1964), S. 30f. Arbeitsgemeinschaft für Hochschuldidaktik (AHD) (2005). Vgl. Bargel (2009). Vgl. HRK (2008).

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geändert. Wurde noch zum Zeitpunkt des Erscheinens der BAK-Schrift „Forschendes Lernen“ im Wesentlichen normativ bildungstheoretisch begründet, so liegt heute ein empirischer Fundus an Erkenntnissen vor, die es hochschuldidaktisch stützen. 16

III. Forschendes Lernen: Lernen im „Format“ der Forschung Im Begriff „Forschendes Lernen“ werden mit „Forschen“ auf der einen Seite, und „Lernen“ auf der anderen Seite zwei Aufgabenbereiche der Hochschule zusammen gefügt, die dort institutionell gewöhnlich voneinander getrennt bearbeitet werden. Zwar wird nicht zuletzt von denjenigen, die sich die Wissenschaftlichkeit von Lehre und Studium auf ihre Fahnen geschrieben haben, vielfach die „Einheit von Forschung und Lehre“ beschworen. In der Tradition eines „Humboldtianismus“ 17 wird dies aber in erster Linie als Einheit in dem Sinne verstanden, dass die Lehrinhalte aus der Forschung generiert und begründet werden. Wie diese aber mit dem Lernen zusammenhängen, wird dabei zumeist nicht thematisiert. Wenn dies geschieht, so zuvörderst im Sinne einer klassischen Rollenkonfiguration, nach der der Lehrende als „Professor“ in der lateinischen Wortbedeutung von profiteri: „Wissen verkünden, öffentlich zugänglich machen“, die Wissenschaftsinhalte nach den Regeln der wissenschaftlichen Kunst, also theoretisch und methodisch geprüft präsentiert und den Studierenden überlassen bleibt, sich diese „aus eigenem Eifer anzueignen“, d. h. zu studieren, ebenfalls im lateinischen Wortsinnes eines „studere“. 18 In dieser Rollenkonfiguration erscheinen didaktische Reflexion und Gestaltung, die die Lehre vom Lernen her denkt, nicht nur unüblich oder unerheblich, sondern dem wissenschaftlichen Diskurs abträglich. Werden infolge dessen mit „Forschen“ und „Lernen“ nicht zwei Aufgabenbereiche miteinander vermischt, deren disjunkte Bearbeitung gerade institutionell mit Bedacht vorgesehen ist? Wird mit einer solchen Vermischung nicht eine zweifache Beeinträchtigung angelegt, nämlich der Forschung einerseits wie auch des Studiums andererseits? Vor dem Hintergrund dieser Fragen sehen sich Konzepte Forschenden Lernens einer doppelten Kritik ausgesetzt: von Seiten der Forschung, da der Forschungsbegriff durch die Konnotierung mit Lernen verwässert werde, von Seiten des Studiums, da durch die Zentrierung auf Forschung die Thematisierung der Lernqualität – mithin die eigentliche didaktische Frage – aus dem Blick gerate. Zu

16 17 18

Vgl. Schaeper / Wildt (2009). Bartz (2007). Wildt (2002).

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beiden Fragerichtungen ist es erforderlich, die hochschuldidaktische Argumentationslinie klar zu markieren. Die Kritik, die den Forschungsbegriff gegen hochschuldidaktische Übergriffe in Schutz nehmen will, wird markant wohl immer wieder von Mittelstraß 19 vertreten, der sich auch zuletzt auch auf dem Hamburger Forum gegen die „inflationäre Verwendung des Forschungsbegriffs“ wandte. Huber 20 hat dem gegenüber schon 1999 aus hochschuldidaktischer Sicht den von der Forschung unterschiedenen Eigensinn des Lernens hervorgehoben, der aber nicht daran hindere, forschungstypische Tätigkeiten in den Lernprozess zu integrieren. Er zeigt vielmehr, dass viele theoretische und methodische Tätigkeiten in Projekten Forschenden Lernens analog auch in Forschungsprojekten aufzufinden sind. Dies belegen einmal mehr die Fallbeispiele der Hamburger Tagung. 21 An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass Forschung und Forschendes Lernen aus einer gemeinsamen Quelle schöpfen. Beide werden von der Triebkraft in Gang gesetzt und gehalten, neues Wissen zu generieren, dessen Hervorbringung durch theoretisch und methodisch geleitete Erkenntnisvorgänge gesteuert wird. So können die Projekte Forschenden Lernens und Forschungsprojekte sui generis mit Kategorien des Forschungshandelns übereinstimmend beschrieben werden. Sie unterscheiden sich jedoch durch die Bezugssysteme, vor denen die gewonnenen Erkenntnisse interpretiert werden: zum Bezugssystem des individuellen Lerngewinns einerseits oder dem Bezugssystem des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns andererseits. Neu ist im Falle der didaktischen Betrachtung die Erweiterung des individuellen Wissens. Forschungsprojekte und deren Ergebnisse haben sich jedoch gegenüber dem Bezugssystem des „state of the art“ des wissenschaftlichen Erkenntnisgebiets bzw. der Disziplinen als originär neu zu legitimieren. Es ist deshalb nicht zwingend, gleichwohl aber möglich und in vielen Fällen auch wohl so, dass Forschendes Lernen über den individuellen Wissenszuwachs auch zur Wissenschaftsentwicklung beiträgt. Umgekehrt ist es auch nicht unwahrscheinlich – wenngleich nicht intentional angelegt –, in Forschungsprojekten auch das individuelle Wissen zu erweitern. Es kann vielmehr regelmäßig als spin off von Forschung betrachtet werden, dass sich gleichzeitig mit dem Fortschreiten der Forschungsarbeiten auch die Kompetenz der Forscher in ihrem Metier weiterentwickelt, also Lernen durch Erkenntnis stattfindet. 19 20 21

Vgl. Mittelstraß (1996). Vgl. Huber (1999). Vgl. Huber / Hellmer / Schneider (2009).

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Genauso ernst zu nehmen wie die Kritik aus der Warte der Forschung ist jedoch auch die didaktische Kritik am Forschenden Lernen, wenngleich diese bislang nicht prägnant zur Sprache gekommen ist. Dem Sinn des Studiums als Lernveranstaltung würde es nämlich auch entgegenstehen, wenn die Studierenden in Forschungsprojekten lediglich zu ausführenden Organen des Designs degradiert werden würden, ohne dass daraus für sie ein erkennbarer Lerngewinn entstünde. Manche Vorhaben, die unter dem Titel des „Forschenden Lernens“ firmieren, scheinen nicht mehr als Maßnahmen zur Erweiterung der Forschungskapazität und das studentische Engagement lediglich als Einsatz kostenfreier Hilfskräfte betrachtet zu werden. Der Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft mag dabei hoch, der Lerngewinn für die Studierenden jedoch gering ausfallen. Die Aufgabe einer Lehre, die „Forschendes Lernen“ realisiert, besteht jedoch darin, in dieser Forschungspraxis Lernmöglichkeiten aufzutun. Forschung bildet in diesem Sinne das „Format“, d. h. den Handlungsrahmen, in dem das Lernarrangement des Forschenden Lernens getroffen wird. 22

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 1: Forschendes Lernen entsteht durch die Zusammenfügung von Forschen und Lernen durch eine didaktische Transformation in Forschendes Lernen

IV. Zur Kombination der Zyklen des Forschens und Lernens im „Forschenden Lernen“ Schneider / Wildt 23 haben diese didaktische Transformation in der Kombination von Forschung und Lernen ausgearbeitet. Der Transformation liegt die 22 23

Vgl. Wildt (2006). Schneider / Wildt (2009).

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Einsicht zugrunde, dass Forschungsprojekte der Methodologie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung folgend typische Zyklen von Forschungshandlungen durchlaufen, die mit einem dazu synchron konzeptualisierten Lernzyklus korrespondieren. In der Ausgestaltung der Beziehungen dieser Zyklen zueinander besteht die eigentliche hochschuldidaktische Leistung. 1. Zum Forschungszyklus Die folgende Darstellung zeigt einen typischen Zyklus von Forschungstätigkeiten, wie er in der empirischen Sozial- bzw. Bildungsforschung durchlaufen wird.

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 2: Forschungszyklus

In dieser Betrachtungsweise starten Forschungsvorhaben auf der Basis eines „state of the art“ mit der Entwicklung einer Forschungsfrage, die auf erkenntnisleitenden Interessen basiert. Diese Forschungsfragen werden nicht immer durch die Forscher allein generiert, sondern entstehen im Aushandlungsprozess mit an der Forschung interessierten oder davon betroffenen Personen, Gruppen oder Einrichtungen und ggf. in Abhängigkeit von deren Entwicklungsprogrammen. Aus der Analyse des Forschungstandes werden unter Hinzuziehung von theoretischen und methodischen Ansätzen dann in einem zweiten Schritt Hypothesen entwickelt, die es im Forschungsprozess zu überprüfen gilt. Die Hypothesen werden dann in einem Forschungsdesign operationalisiert und in eine überprüfbare Struktur gebracht. Diese Struktur umfasst nicht nur die Ausarbeitung der Beobachtungs- bzw. Messinstrumente oder Experimentalanordnungen, sondern auch deren Einpassung in die Handlungskontexte, in denen die Forschung ausgeführt werden soll. Erst auf diesen dritten Schritt folgt als vierter die Durchführung der

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Untersuchung, in der die Erhebung stattfindet. Als fünfter schließt sich daran die Auswertung an, die sechstens in eine Interpretation mündet. Häufig wird mit diesem sechsten Schritt der Forschungszyklus durch eine schriftliche Darstellung abgeschlossen. In einer zyklischen Betrachtung kann jedoch an diesem Schritt die Vermittlung und die Anwendung der Erkenntnisse in der Praxis anschließen, um von den Erfahrungen, die dabei gewonnen werden, erneut in den Forschungszyklus einzutreten. Wie leicht zu erkennen ist, folgt diese Darstellung den üblichen Verfahren der empirischen Sozial- oder Bildungsforschung, Es soll jedoch an dieser Stelle ausdrücklich hervorgehoben werden, dass je nach Forschungsansatz bzw. der beteiligten Disziplinen der konkrete Forschungszyklus durchaus variieren kann. In jedem Fall muss der Forschungszyklus auf den jeweiligen Kontext des studierten Fachs bzw. der studierten Fächer hin konkretisiert werden. 2. Zum Lernzyklus Zur Konzeptualisierung der Lernprozesse im Format der Forschung haben Schneider und Wildt auf den „Learning Cycle“ sensu Kolb 24 zurückgegriffen, der den Denktraditionen des angelsächsischen Pragmatismus entstammt.

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 3: Learning Cycle sensu Kolb

Ausgangspunkt des Lernprozesses ist demnach die „experience“, die mehr ist als Alltagserfahrung, indem sie im Dewey’schen Sinne „continuity“, also die Kohärenz der Erfahrung in der Alltagswelt, herstellt. Der Lernprozess wird angetrieben durch eine Distanznahme zur „experience“, die auf vielfältige Anläs24

Vgl. Kolb (1984).

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se zurückgehen kann. Insbesondere Unstimmigkeiten, Widersprüche, Probleme, Rätsel, Unsicherheiten, die in der „experience“ virulent werden, führen zu deren „Reflexion“. Die Reflexion wiederum kann zu neuen Sichten der Wirklichkeit führen, die veränderte Wirklichkeitskonzeptionen enthalten. In einem weiteren Schritt werden diese dann im praktischem Handeln („Experiment“) überprüft. Dabei gewonnene Erfahrungen gehen wiederum in die „experience“ ein, aus der durch neuerliche Anstöße der Lernprozess erneut in Gang gesetzt und der Learning Cycle ggf. neu wiederholt in einem spiralförmig sich aufbauenden Erkenntnisgewinn durchlaufen wird. 3. Lernen im Format der Forschung Projiziert man nun den Learning Cycle in den Forschungszyklus, so werden in der Abfolge analoge Schritte sichtbar, die sich für eine Synchronisierung anbieten.

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 4: Der Learning Cycle im Format des Forschungsprozesses

Ist die „experience“ der vorfindlichen Praxis zuzuordnen, so entsprechen die daraus zu entwickelnden bzw. auszuhandelnden Fragestellungen der Reflexionsphase, die mit der Konstruktion von Hypothesen und Forschungsdesigns in die kognitive Rekonstruktion einmünden. Die Durchführung und Auswertung sowie Interpretation lässt sich der Phase des Experimentierens und der Gewinnung neuer Erfahrungen zuordnen, die in der Vermittlung und Anwendung wiederum in die experience einmünden, aus der dann wieder synchrone Lern- und Forschungszyklen entstehen können. Eine didaktische Ausgestaltung, die den Bezug zwischen den einzelnen Phasen des Forschungsprozesses und den Lernmöglichkeiten der Studierenden elaboriert, wird an dieser Stelle nicht eigens vorgenommen, da entsprechende Hin-

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weise auf die Gestaltung forschender Lernprozesse in den folgenden Beiträgen aus unterschiedlichsten Perspektiven und Disziplinen dargestellt werden.

V. „Forschendes Lernen“ als „Hochform“ aktiven und kooperativen Lehrens und Lernens Mit dem Rückgriff auf eine lernpsychologische Rekonstruktion des hochschulischen Lernens mit dem Kolb’schen „Learning Cycle“, der jüngst von Brall 25 in seiner Dissertation weiterentwickelt worden ist, gewinnt „Forschendes Lernen“ Anschluss an den didaktischen Diskurs über Konzepte aktiven und kooperativen Lernens: − aktives Lernen, insoweit im Erfahrungslernen die Aktivität der Lernenden im Durchlaufen der Lernstadien gefordert und als selbstorganisiertes Handeln angelegt wird; − kooperatives Lernen insofern, als Projekte „Forschendes Lernen“ zwar nicht zwingend – und z. B. in Form von Abschlussarbeiten auch nur ausnahmsweise (für die Ingenieurwissenschaften vgl. Junge 26) – in kooperativer Form durchführen, während es aber im Laufe des Studiums vorwiegend in Zusammenarbeit von Studierenden in Gruppen stattfindet. Reichhaltiges Material haben dazu Roters u. a. 27 im Forschenden Lernen in Praxisstudien der Lehrerbildung, das HDZ Dortmund im Journal Hochschuldidaktik 28 und die erwähnte Tagung der Körber-Stiftung 29 in einer Vielzahl unterschiedlicher Studienfächer mit repräsentativem Anspruch dokumentiert. Dabei zeigen die einzelnen Projekte viele Affinitäten zu didaktischen Konzepten, mit denen aktives und kooperatives Lernen strukturiert wird: entdeckendes, problemorientiertes, projektbezogenes und fallorientiertes Lernen. Reichhaltiges Material dazu liefert das Neue Handbuch Hochschullehre. 30 Sofern diese didaktischen Konzepte Lernen durch wissenschaftliche Erkenntnis theoretisch und empirisch vorantreiben, führen sie zu „Forschendem Lernen“, das sich gemäß der folgenden Darstellung als „Hochform“ aktiven und kooperativen Lernens erweist. Diese Kennzeichnung ergibt sich aus der Formenvielfalt und ihrem inneren Zusammenhang, wie sich in Abb. 5 darstellen lässt. Dabei sind die verschiede25 26 27 28 29 30

Vgl. Brall (2009). Vgl. Junge (2009). Vgl. Roters / Schneider / Koch-Priewe / Thiele / Wildt (2009). Vgl. Hochschuldidaktisches Zentrum der TU Dortmund (2009). Vgl. Körber-Stiftung (2008). Vgl. Berendt / Voss / Wildt.

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nen Konzepte ausgehend vom erfahrungs- und handlungsorientierten Lernen in eine Reihung gebracht, die sich durch eine zunehmende Komplexitätssteigerung aufgrund schrittweiser Anreicherung der didaktischen Konzeptionierung mit charakteristischen didaktischen Gestaltungsmerkmalen auszeichnet. 31 1. Zwischen Erfahrungs- und Forschendem Lernen in Formaten aktiven und kooperativen Lernens Die Komplexitätserweiterung ergibt sich daraus, dass jeweils bestimmte typische Merkmale identifiziert werden können, die den Übergang von einem Konzept zum anderen markieren. Die folgende Darstellung ist allerdings insoweit idealtypisch angelegt, als im alltäglichen Sprachgebrauch die jeweiligen Merkmalszuordnungen nicht immer konsistent gehandhabt werden.

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 5: Konzepte des aktiven und kooperativen Lernens

Die Stufenfolge der hochschuldidaktischen Konzepte liest sich folgendermaßen: Auf der Stufe des Erfahrungslernens baut das „Entdeckende Lernen“ auf, in dem die Lernenden beim Durchlaufen des Zyklus’ Spielräume für eigenverantwortliches, selbstorganisiertes und -gesteuertes Lernen erhalten. Auf der nächsten Stufe tritt die Planung der Lernhandlungen in den Vordergrund, die sich auf die Intentionen und Arbeitsschritte einzelner Vorhaben erstreckt. Auf der darauf aufbauenden Stufe des problemorientierten Lernens werden die Handlungspläne, die sich auf die Bewältigung von Aufgaben beziehen, in ihrem methodischen Gehalt elaboriert. Häufig werden die Konzepte problem- und projektorientierten Lernens begrifflich nicht klar voneinander getrennt. Während beim problemorientierten Lernen die Aufgabenstellung oft mehr oder weniger vorgegeben ist, wird im projektorientierten Lernen die Entwicklung der Aufgabenstellung un31

Vgl. Wildt (2005).

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ter dem Gesichtspunkt der Relevanz der Ergebnisse zentraler Bestandteil des Lernens selbst. Im fallorientierten Lernen wird dann zusätzlich besonders Wert darauf gelegt, in welchen Kontext die Ergebnisse der Lernprozesse gestellt werden. Forschendes Lernen schließlich legt den Akzent auf die theoretische und empirische Steuerung der Lernprozesse. 2. Schlussbemerkung: Rollen und Rollenbeziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden Kompetenzentwicklung in solchen Lernkonzepten wird allerdings nur schwer möglich, wenn sich nicht mit dem „Shift from Teaching to Learning“ auch ein nachhaltiger Wandel in den Lehrauffassungen der Lehrenden vollzieht. Kember / Kwan 32 haben in einer Metastudie zu Lehrauffassungen fünf Stufen zwischen den Polen einer lehrenden- und einer studierendenzentrierten Lehrauffassung unterschieden:

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 6: Unterschiedliche Lehrauffassungen

Dem dozentenzentrierten Pool werden Lehrende zugerechnet, die ihre Lehre als Vermittlung wissenschaftlicher Information behandeln. Im Mittelpunkt steht die Darstellung von Wissenschaftsinhalten, die sich an den theoretischen und methodischen Standards des Wissenschaftsgebiets orientiert. Eine davon unterschiedene didaktische Grundhaltung verfolgen Lehrende, die bemüht sind, ihre Lehrinhalte so zu strukturieren, dass sie den kognitiven Voraussetzungen und Reichweiten ihrer Studierenden angepasst sind. Treten dagegen Lehrende mit Studierenden in Interaktion, vergewissern sich über deren Lernerfolge und holen Feedbacks darüber ein, wie ihre Lehre sich auf das Lernen der Studierenden auswirkt, so lassen sich diese der Mitte der Skala zwischen beiden Polen zuord-

32

Vgl. Kember / Kwan (2000).

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nen. Näher dem studierendenzentrierten Pol sind da schon Lehrende, die ihre Lehrtätigkeit an den Verstehensprozessen der Studierenden orientieren. In einer studierendenzentrierten Sicht werden dabei die Lernprozesse von Studierenden zum Ausgangspunkt gemacht und das Lehrverhalten lernförderlich gestaltet. Von dieser Lehrauffassung als „Facilitator“ von Lernen lässt sich dann auf dem studierendenzentrierten Pol noch eine fünfte Gruppe hervorheben. Sie sieht ihre zentrale Aufgabe darin, epistemische Neugier der Studierenden zu wecken, sie intellektuell herauszufordern und zum kritischen Denken anzuregen. Die Verwirklichung einer studierendenzentrierten Lehrauffassung erfordert eine Erweiterung des didaktischen Repertoires über eine lediglich instruktionsorientierte Lehre hinaus – wenngleich die Darstellung von Theorien, Methoden und Gegenstandskonzeptionen der studierten Wissenschaften regelhaft Teil der Lehre bleiben wird – zur Schaffung von Lernarrangements und Lernumgebungen, die selbstverantwortetes Lernen der Studierenden ermöglichen. Die Tätigkeit der Lehrenden verschiebt sich damit von der instruktionalen Seite hin zur Übernahme von Aufgaben einer Lernberatung bzw. Lernbegleitung. Der Dozent wird zum „Coach“. 33 Die Forschung über Studierende hat viel Evidenz dafür gefunden, dass eine studierendenzentrierte Lehrauffassung der Förderung eines tiefenorientierten Lernens und der Entwicklung intrinsischer, d. h. an der Sache orientierter Motivation dient. 34 Aus hochschuldidaktischer Sicht lässt sich hinzufügen, dass der Wandel in den Lehrauffassungen nachhaltig durch die Förderung von Lernprozessen von Lehrenden unterstützt werden kann. Gibbs / Coffey 35 etwa konnten in einer internationalen Vergleichsstudie zeigen, dass hochschuldidaktische Weiterbildung zu einem stabilen Wandel der Lehrauffassung in Richtung zunehmender Studierendenzentriertheit führt, während ohne hochschuldidaktische Weiterbildung Lehrende dazu neigen, dozentenzentrierte Lehrauffassungen auszuprägen. Mit den verschiedenen Lehrauffassungen korrespondieren unterschiedliche Konzeptualisierungen der Rollen von Studierenden. In Ansätzen neuer Steuerungsverfahren zur Hochschulentwicklung erscheinen Studierende häufig in der Rolle als „Kunden“. Wenn darunter Lehr-Lernverhältnisse verstanden werden, bei denen es lediglich darum geht, in der Wissenschaft gewonnenes bzw. überprüftes Wissen individuell zu erwerben, entspricht dies einer Lehrauffassung der ersten und zweiten Kategorie auf der erwähnten Skala. Davon unterscheidet sich eine Konzeption der Rolle der Studierenden als „Klienten“. Sie setzt schon eine Professionalisierung der Lehrenden voraus, die diese befähigt, den Studierenden als „Klienten“ zu ihrem Recht auf Bildung zu verhelfen. Bildung wird dabei 33 34 35

Blom (2000). Vgl. Trigwell / Prosser (1999). Vgl. Gibbs / Coffey (2002).

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als eigenverantwortlicher Prozess verstanden, den die Lehrenden durch Interaktion (Stufe 3) und Unterstützung des Verstehens (Stufe 4) beratend begleiten. In einer weitergehenden Rolleninterpretation lassen sich Studierende allerdings auch als Ko-Konstrukteure des wissenschaftlichen Wissens betrachten. Lehrende, die dem studierendenzentrierten Pol der Skala von Lehrauffassungen zugeordnet werden, richten sich darauf aus, die Studierenden in der Entwicklung einer forschenden Lernhaltung zu unterstützen.

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Aspekte der Bildung eines allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses Von Rolf Dubs 1

I. Die Finanz- und Wirtschaftskrise Richtig ist, dass eine Minderzahl von Manager / innen, deren Denken und Handeln ausschließlich auf eine kurzfristige Gewinnmaximierung ihrer Unternehmungen ausgerichtet war und zum Teil noch heute ist, für die Finanz- und als Folge davon für die Wirtschaftskrise weitgehend verantwortlich ist. Besonders verwerflich sind dabei ihre Maßlosigkeit und die persönliche Gier nach hohen Vergütungen und Bonuszahlungen, die von niemandem korrigiert wurden. Viele Aufsichtsräte hätten ihre Kontrollaufgabe angesichts der Profitgier vieler Manager / innen ernsthaft wahrnehmen und korrigierend eingreifen müssen. Viel ärgerlicher sind jedoch jetzt in der Krisensituation die vielen Reaktionen in der breiten Öffentlichkeit, welche allesamt nichts zur Überwindung der Vertrauenskrise beitragen. Zu denken ist in erster Linie an die verbreitete und übergeneralisierende Sündenbockpolitik, der jede Differenzierung abgeht: Alle Banken und alle Manager / innen sind schlecht und verantwortungslos, und bewiesen ist jetzt, dass eine freie Wirtschaft nur Egoist / innen dient und soziale Ungerechtigkeiten verstärkt. Aber auch die vielen Patentlösungen, welche vor allem von einzelnen Politiker / innen zur Überwindung der Krise vorgeschlagen werden, sind sehr häufig nur Ausdruck eines kurzfristigen populistischen Denkens, das nicht geeignet ist, die wirtschaftlichen Probleme unserer Tage zu lösen. Die erneut aufkommende Sündenbockpolitik und das populistische Denken lassen sich nur überwinden oder wenigstens abschwächen, wenn die gesamte Bevölkerung willens und fähig wird, über die größer werdenden gesamtwirtschaftlichen und unternehmerischen Probleme zu reflektieren.

1 Prof. Dr. Dres h.c. Rolf Dubs war Inhaber der Professur für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen und ist heute als Berater in Schulfragen und Unternehmensentwicklung tätig.

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II. Längerfristige Gefahren für die Demokratie und die Marktwirtschaft Je komplexer das Geschehen in der Gesellschaft und Wirtschaft wird, je mehr sich Politik und Wirtschaft vernetzen und je stärker sich die technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen verändern, desto weniger verstehen viele Menschen, was sich in der Wirtschaft genau abspielt. Dieses Nichtverstehen von Vorgängen sowie der politischen und unternehmerischen Entscheidungen, denen sie täglich begegnen und die sie häufig persönlich treffen (z. B. Kurzarbeit, Reduktion der Sozialleistungen, Mehrwertsteuererhöhungen), verunsichert sie. Je stärker sie sich aus ihrer Sicht negativ betroffen fühlen und sie keine Reaktionsmöglichkeiten sehen, desto mehr beschleicht sie ein Gefühl des nicht mehr Ernstgenommenseins und der Ohnmacht. Dieses Gefühl führt, je weniger das Geschehen verstanden wird, zu zwei möglichen Verhaltensweisen. Entweder suchen solche Menschen nach Verantwortlichen und machen sie mit allen anderen Gleichgestellten (Manager / innen, Politiker / innen) zu Sündenböcken, welche alle behaupteten Fehlentwicklungen und Missstände zu verantworten haben. Oder sie suchen nach vermeintlich guten Lösungen, die ihnen einigermaßen plausibel erscheinen sowie ihren Wunschund Zielvorstellungen am besten entsprechen. Nicht selten stellen aber solche Lösungen Patentlösungen dar, d. h. sie werden häufig so präsentiert, als wenn sie nur Vorteile und keine Nachteile hätten. Sündenbockpolitik und Patentlösungen tragen die Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung in sich, denn sie beinhalten in vielen Fällen eigene Interessen und Standpunkte, die nicht auf eine differenzierte Problemlösung ausgerichtet sind, sondern eigenen Interessen und der eigenen Machtentfaltung dienen. Je größer nun die Zahl der Menschen ist, welche sich in ihrem Denken durch eine Sündenbockpolitik und Patentlösungen leiten lässt, desto größer werden die Enttäuschungen und das Gefühl der Ohnmacht. Denn nach einer gewissen Zeit erkennen die Fehlgeleiteten, dass die Probleme mit den Patentlösungen nicht beseitigt worden sind. Die Folge davon ist entweder eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber politischen und wirtschaftlichen Fragen, oder es kommt erst recht zu einer sich verschärfenden Auseinandersetzung über neue Patentlösungen, welche häufig zu dogmatischen und ideologischen Kontroversen führen und differenzierte Lösungen immer mehr abwehren. Diese Entwicklung verstärkt sich zunehmend durch massenpsychologisch wirksame Einflüsse der Medien, welche sich häufig nicht um eine Versachlichung der Diskussion bemühen, sondern die Standpunkte von Menschen und Institutionen, die hinter ihnen stehen, als beste Lösung verkaufen und damit die Polarisierung weiter vorantreiben. Auf diese Weise wird es immer schwieriger, langfristig tragfähige Lösungen zu finden, was die Polarisierung, aber auch die Ohnmacht und Gleichgültigkeit nochmals verstärkt und längerfristig den Fortbestand einer glaubwürdigen, von allen getragenen Demokratie gefährdet. Dieser Prozess lässt sich bestenfalls unterbinden, wenn es gelingt, allen Menschen

Bildung eines Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses

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denjenigen politischen und wirtschaftlichen Sachverstand zu vermitteln, der sie befähigt, von Interessenkreisen propagierte Patentlösungen zu durchschauen und tragfähige Problemlösungen zu unterstützen und durchzusetzen. Voraussetzung dazu ist das Verständnis von Zielkonflikten im wirtschaftlichen Geschehen einer hochentwickelten und globalisierten Wirtschaft.

III. Zielkonflikte als Wesensmerkmal der modernen Wirtschaft Die meisten politischen und ökonomischen Probleme unserer Zeit stellen Zielkonflikte dar (siehe Abb. 1), d. h., sie lassen sich nicht mit einer einzigen richtigen Lösung beseitigen, sondern es sind mehrere Lösungen denkbar, von denen keine absolut richtig ist, sondern jede Vorteile und Nachteile hat, die es abzuschätzen gilt. 2

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 1: Zielkonflikte

Langfristig denkende politisch Verantwortliche und Führungskräfte in der Wirtschaft zeichnen sich deshalb nicht mehr durch das Propagieren und Durchsetzen von ihnen kurzfristig passenden Patentlösungen aus, sondern sie verstehen es, mit Zielkonflikten umzugehen, indem sie bei jeder möglichen Lösung eines Problems zwischen Vorteilen und Nachteilen abwägen, sich für die Variante mit den meisten Vorteilen entscheiden, zugleich aber darüber nachdenken, wie sie proaktiv mit den Nachteilen umgehen sollen. Die Ermittlung der Vorteile und Nachteile setzt Kriterien voraus. Aus der Finanz- und Wirtschaftskrise sollten die Manager / innen lernen, dass die Gewinnmaximierung nicht mehr das grundlegende Entscheidungskriterium sein darf, sondern an seine Stelle das Ziel eines Gewinnes unter Nebenbedingungen treten sollte. Zu den Nebenbedingungen zählen Maßnahmen für die langfristige Erhaltung der natürlichen Grundlagen dieser Welt sowie das Bestreben um eine vertretbare soziale Gerechtigkeit. 3 2 3

Vgl. Dubs / Euler / Rüegg-Stürm / Wyss (2009), S. 239. Vgl. Dubs (2001).

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Das Modell eines Gewinns unter Nebenbedingungen ist allerdings nicht unbestritten. Vertreter des Neoliberalismus sind der Auffassung, dass wirtschaftliche Fehlentwicklungen nicht auf ein Marktversagen, sondern auf ein Politikversagen zurückzuführen seien. Deshalb müsse der Staat bessere Rahmenbedingungen schaffen, welche auch Grenzen für die unternehmerische Freiheit setzen, damit die Unternehmungen innerhalb solcher Begrenzungen frei nach dem Gewinnmaximum streben können, was wirtschaftliche Sicherheit für alle schafft: gute Arbeitsbedingungen, sichere Arbeitsplätze, bessere Umweltschutzmaßnahmen usw. Vertreter mit gegenteiliger Auffassung sind der Meinung, die Wirtschaft sei viel stärker zu regulieren, und das Verhalten der Unternehmungen sei mit „Codes of Conduct“, welche Verhaltensvorgaben als Richtlinien vorsehen, unter eine ethisch vertretbare Kontrolle der breiten Öffentlichkeit zu stellen. Allerdings scheiden sich die Geister an der Frage, welche Normen zugrunde zu legen sind, und welche Rolle der Gewinn in Zukunft spielen soll. Schon diese Kontroverse ist äußerst komplex und bietet Zündstoff, der zu umso stärkeren dogmatischen Positionen führt, je weniger politische und wirtschaftliche Sachkompetenz die Diskussion prägt. Die Fähigkeit zum Umgang mit Grundfragen der Ziele des Wirtschaftens und mit Zielkonflikten stellt nicht nur eine neue Herausforderung für Manager / innen dar. Ebenso bedeutsam wird sie für alle Bürger / innen, damit sie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit besser verstehen, nicht der Sündenbockpolitik anheimfallen und nicht unsinnigen Patentlösungen nacheifern. Dieses Ziel lässt sich umso eher erreichen, je besser die wirtschaftliche Bildung an unseren Schulen umgesetzt wird. Allerdings darf aber auch diese Forderung nicht als Patentlösung verstanden werden (siehe später).

IV. Wirtschaftliche Bildung an Schulen Noch immer halten es viele Bildungspolitiker / innen und Lehrpersonen nicht für nötig, in Schulen eine systematische wirtschaftliche Bildung anzubieten. Angeführt werden seit langem immer wieder die gleichen Argumente: Gewisse Kreise meinen, wirtschaftlicher Unterricht führe die junge Generation schon früh auf die falschen Wege des egoistischen wirtschaftlichen Denkens, das durch Rücksichtslosigkeit geprägt sei. Wichtiger für die Schule sei es, die Jugend zum Guten und Wahren zu erziehen. Andere Skeptiker / innen meinen, das Leben lehre die Wirtschaft noch früh genug, so dass sich ein Unterricht im Fach Wirtschaft erübrige. Und nicht wenige Gymnasiallehrer / innen glauben auch heute noch, Wirtschaftslehre gehöre an die Berufsschulen und nicht an das Gymnasium. Schließlich vertreten noch immer viele Menschen die Auffassung, der Wirtschaftsunterricht eigne sich im Gegensatz zu anderen Fächern wie Latein oder Mathematik nicht für die Denkschulung. Diese Auffassung ist längst widerlegt. Richtig unterrichtet eignet sich jedes Lerngebiet zur Denkförderung. 4

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Viele pädagogische Missverständnisse lassen sich darauf zurückführen, dass bei der Gestaltung des Wirtschaftsunterrichts nicht zwischen wirtschaftsberuflicher Bildung und Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses unterschieden wird (siehe Abb. 2). Aufgrund der einleitenden Überlegungen wird hier die Auffassung vertreten, dass alle Schüler / innen einen Unterricht zur Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses erhalten müssen, damit Jedermann wirtschaftspolitische und unternehmerische Probleme mit ihren vielen Zielkonflikten mit Sachverstand beurteilen kann. Die bei der Verwirklichung dieser Forderung entscheidende Frage betrifft die normative Grundlegung (Sinn- und Wertorientierung) einer Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses. Vor allem Lehrkräfte befürchten, ein solcher Unterricht könnte unter dem Druck von Politik und Wirtschaft zur Indoktrination von wirtschaftlichen Interessenstandpunkten führen. Und die Wirtschaft selbst reagiert nicht selten kritisch, weil sie befürchtet, Lehrkräfte könnten diesen Unterricht zum Tummelfeld alternativer Ideen und antiwirtschaftlicher Parolen machen und damit der Polarisierung erst recht Vorschub leisten.



Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 2: Wirtschaftliche Bildung

Weder das eine noch das andere ist erwünscht. Eine gesellschaftspolitisch differenzierend und ausgleichend wirkende Bildung des allgemeinen Wirtschaftsund Gesellschaftsverständnisses darf sich nicht an einer eindimensional funktionalistischen und / oder gar an einer abstrakten und werturteilsfreien Gesellschaftsund Wirtschaftstheorie orientieren, sondern sie muss Politik, Wirtschaftspolitik und Unternehmensführung mit normativen Zielvorstellungen (wirtschaftsethi4

Vgl. dazu die vielen Untersuchungen zur Förderung des Denkens (z. B. Steiner (2001), S. 198).

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schen Überlegungen) zu einer Ganzheit zusammenführen. Ihr Ziel muss es also sein, die ökonomische Rationalität mit einem normativen Denken zu verbinden, indem immer wieder gefragt wird, wie jedes wirtschaftliche Tun legitimiert (normativ begründet und gerechtfertigt) werden kann. Diese Legitimierung muss in der heutigen pluralistischen Gesellschaft durch Reflexion und Argumentation über alles wirtschaftliche Handeln (Diskursethik) gefunden werden. Dabei sollte als Grundregel gelten, dass alle privaten Interessen und das darauf beruhende Handeln legitim sind, wenn sie die Prüfung des Vorranges der Würde des Menschen und der Grundrechte aller Betroffenen bestanden haben. Dabei sind die Würde und die Grundrechte immer wieder neu zu überdenken. Aufgrund aller bisherigen Überlegungen sind die Voraussetzungen für die Zielsetzung einer Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses gegeben: − Sie muss der jungen Generation dasjenige volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Wissen vermitteln, das sie befähigt, gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Zusammenhänge zu verstehen, aktuelle Probleme und Streitfragen in ihrer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interdependenz zu erkennen und zu definieren, darin liegende Zielkonflikte zu erfassen und sie einer reflektierten Lösung zuzuführen. − Es darf nicht indoktriniert werden, sondern die Lernenden müssen fähig werden, zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen in freiem Urteil zu einer eigenen widerspruchsfrei begründeten Meinung zu gelangen, welche einer wirtschaftlichen Sachlogik nicht widerspricht, zugleich aber normativ legitimiert ist. − Die reflektierten Erkenntnisse sollen sich auch im alltäglichen Denken und Handeln niederschlagen. − Insgesamt sollen die Lernenden am Ende des Unterrichts ihren eigenen gesellschaftlichen Standort gefunden und erkannt haben, dass eine demokratische Gesellschaft und eine freie Wirtschaft nur solange funktionstüchtig bleiben, als alle ihre Angehörigen sich im sachkompetenten Diskurs um nachhaltige Lösungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme bemühen und bereit sind, die Regeln einer wandelbaren Rechtsordnung als Grenzen ihres Denkens und Tuns zu akzeptieren. Sie sollen zudem motiviert sein, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen und die Folgen dieses eigenen Verhaltens immer wieder selbstkritisch zu beurteilen.

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V. Didaktische und methodische Aspekte einer Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses 1. Betriebswirtschaftliche und / oder nur volkswirtschaftliche Inhalte Viele Befürworter / innen der Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses wollen sich inhaltlich ausschließlich auf volkswirtschaftliche und wirtschaftspolitische Themenbereiche beschränken mit der Begründung, betriebswirtschaftliche Inhalte würden ausschließlich die wirtschaftsberufliche Bildung betreffen. Diese Auffassung ist falsch, denn alle Menschen werden im Alltag als Mitarbeitende in Betrieben oder freiberuflich mit grundsätzlichen betriebswirtschaftlichen Fragen konfrontiert. Insbesondere während Krisenzeiten tragen unternehmerische Entscheidungen wie Betriebsverlagerungen und -stilllegungen, Entlassungen, Teilzeitarbeit usw. noch stärker zu oft undifferenzierten Beurteilungen und polarisierender Kritik an Unternehmensleitungen bei. Ausgewogene Urteile sind nur mit grundlegenden betriebswirtschaftlichen Kenntnissen möglich. Deshalb muss modellhaft betriebswirtschaftliches Wissen vermittelt werden, ohne jedoch eine wirtschaftsberufliche Vertiefung anzustreben. Es kann nur von Vorteil sein, die Einbettung der Unternehmung in die ökonomische, technologische, soziale und ökologische Umwelt mit einem Managementmodell darzustellen, was eine Einführung in die Grundzüge des normativen und strategischen Managements problemlos ermöglicht. 5 Mit dem Wissen über die Wertvorstellungen der Unternehmensführung und über die langfristigen Ziele einer Unternehmung lernen die Schüler / innen die vielen Zielkonflikte zu erkennen, mit welchen sich Manager täglich zu beschäftigen haben. Dadurch können sie grundlegende unternehmerische Probleme auch mit Sachkompetenz und genügender Differenziertheit beurteilen (z. B. die Frage, ob Entlassungen in einer Unternehmung im Interesse des Fortbestandes der Unternehmung gerechtfertigt sind, oder ob im Interesse der Gewinnmaximierung Arbeitsplätze abgebaut werden, ohne dass dazu ein Sachzwang besteht). Mit einem integrierten Management-Modell wie dem St. Galler Management-Modell lassen sich auch mit einer geringeren Lektionenzahl viele Einsichten erarbeiten. Eine Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses muss also sowohl betriebswirtschaftliche als auch volkswirtschaftliche Lerninhalte umfassen, wobei den volkswirtschaftlichen Themen mehr Gewicht beizumessen ist. Für die Wirksamkeit dieses Unterrichts ist in beiden Teilgebieten ein genügendes theoretisches Grundlagenwissen zu vermitteln, das ausreichen muss, um aktuelle wirtschaftliche Fragen mit ausreichender Sachkompetenz zu 5

Vgl. Dubs / Euler / Rüegg-Stürm / Wyss (2009).

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bearbeiten. Verzichtet werden sollte auf reine modelltheoretische und mathematisierte Unterrichtskonzepte, denn mit ihnen wird nicht nur das Ziel der Erziehung zum Wirtschaftsbürger nicht erreicht, sondern viele Lernende werden durch eine stark mathematisierte Wirtschaftsbürgerkunde mangels genügendem Können in der Mathematik wenig motiviert. 2. Der Stellenwert des Wissens und der Struktur des Unterrichts Noch immer ist der Unterricht in Wirtschaftsfächern vielerorts stark auf die Vermittlung von Wissen ausgerichtet. Dieses Wissen bleibt bei vielen Schüler / innen träges Wissen 6, d. h. sie haben es in Anwendungssituationen nicht mehr spontan verfügbar, sondern sie brauchen die Unterstützung der Lehrperson, um es wieder in Erinnerung zu rufen. Viele Lehrkräfte versuchen deshalb, ihren Unterricht auf aktuelle Probleme auszurichten, welche diskutiert werden, und sie messen dem Wissen keine große Bedeutung mehr bei, weil sie glauben, die Wissensvermittlung sei angesichts des abnehmenden Halbzeitwertes des Wissens sowie der Möglichkeit, fehlendes Wissen über Informationssysteme abzurufen, nicht mehr bedeutsam. Deshalb gewinnen neue Auffassungen über „guten“ Unterricht immer mehr an Bedeutung: Mit Modulen wird der Unterricht immer stärker auf problemorientierte oft interdisziplinäre Themen ausgerichtet, in welchen die systematische Wissenserarbeitung zu sehr vernachlässigt wird. Oder mit einem großen Missverständnis über den Konstruktivismus, der fälschlicherweise als Methode und nicht als Theorie der Wissenskonstruktion verstanden wird, herrscht die Gruppenarbeit vor, bei der dem Wissensaufbau nachweislich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die heute immer häufiger zu beobachtende Vernachlässigung des Aufbaus von Wissensstrukturen behindert das Lernen massiv. Wer nicht über ein breites, gut strukturiertes Grundlagenwissen verfügt, mit welchem neues Wissen erschlossen werden kann, ist weder ein guter Problemlöser, noch kann er intellektuell kreativ sein. Wer nichts weiß, ist nicht fähig, Probleme zu erkennen und zu definieren. Und wer nichts weiß, kann auch keine innovativen Problemlösungen entwerfen. Allerdings muss sich die Schule in Hinsicht auf die Wissensvermittlung verändern. Noch immer wird in vielen Schulen zu viel Faktenwissen, das heute abrufbar ist, vermittelt und zu wenig Strukturwissen aufgebaut, d. h. vernetztes Begriffswissen in strukturierter Form, in welches die Fülle des abrufbaren Faktenwissens eingeordnet und erweiterte Wissensstrukturen aufgebaut werden können. Besonders im Unterricht zur Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses ist ein breites Strukturwissen, das häufig auch als Ori6

Vgl. Renkl (1998).

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entierungswissen bezeichnet wird, von größter Wichtigkeit. Wer nicht über ein solches Orientierungswissen verfügt, ist nicht fähig, in wirtschaftlichen Sachverhalten die Probleme zu erkennen, über Lösungsmöglichkeiten zu reflektieren und sachlich konsistente Lösungen zu finden, welche auch mit normativen Gegebenheiten übereinstimmen. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen immer deutlicher, dass ein gut strukturiertes, jederzeit verfügbares und anwendbares Grundlagenwissen als Orientierungswissen für jedes Lernen, insbesondere auch das spätere selbständige Lernen, unabdingbar ist. 7 Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht. Will jemand verstehen, warum in Zeiten von Deflationsgefahren eine Notenbank mit verschiedenen Mitteln den Wechselkurs so beeinflusst, dass eine Aufwertung verhindert wird, dabei aber bei der Wahl der Mittel über mögliche spätere Inflationstendenzen nachzudenken hat, so muss er über die Störungen des Geldwertes, über die Wirkungen der Wechselkurse und die Instrumente der Notenbank sowie über die Zahlungsbilanz informiert sein. Andernfalls wird es ihm nicht gelingen, richtige Schlüsse zu ziehen. Deshalb lassen sich die Ziele der Bildung eines allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses nur erreichen, wenn die Lernenden über ein genügend breites, gut strukturiertes Grundlagenwissen verfügen, welches in vernetzter Form so angewandt werden kann, dass Probleme beurteilt werden können, um im freien Urteil zu einer eigenen sachgerechten Meinung zu gelangen. 3. Breite versus Tiefe bei der Gestaltung der Lehrpläne Immer wieder wird in Wirtschaftsfächern angesichts der Fülle der möglichen Lerninhalte eine Konzentration des Lehrplans auf einige wenige, repräsentative Lernthemen gefordert. Mit anderen Worten wird vorgeschlagen, das Prinzip des exemplarischen Unterrichts, das Wagenschein 8 für den naturwissenschaftlichen Unterricht entworfen hat, auf den Wirtschaftsunterricht zu übertragen. Dieses für den naturwissenschaftlichen Unterricht entwickelte Konzept will an ausgewählten Themenbereichen mit Beispielen in die Denkweise, die wissenschaftlichen Paradigmen und die wissenschaftlichen Arbeitsmethoden einführen, um damit Einsichten in das Wesen der jeweiligen Wissenschaft zu vermitteln. Dazu bedarf es keiner inhaltlichen Breite; an ausgewählten Inhalten, die vertieft werden, lässt sich dieses Ziel erreichen. Für die Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses eignet sich aber das exemplarische Lernen nicht. Für die realen wirtschaftlichen Probleme, die immer in einen größeren Zusammen7 8

Vgl. Dubs (2009) und die dort zitierte Literatur. Vgl. Wagenschein (1973).

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hang gestellt werden müssen, damit sie wirklich verstanden werden, benötigen die Lernenden ein breites Orientierungswissen, das sie anwenden können. Deshalb muss in den Lehrplänen und im Unterricht eine genügende Breite angestrebt werden. 4. Systematischer versus themenorientierter Aufbau des Lehrplans Infolge vieler Fehlentwicklungen im Wirtschaftsunterricht mit wissenschaftssystematisch aufgebauten Lehrplänen (deren Systematik immer wissenschaftlich willkürlich festgelegt wird), die häufig zu einem ausschließlich darbietenden Unterricht mit einer additiven Wissensanhäufung ohne rechte Problemorientierung geführt haben, treten heute immer mehr Pädagog / innen für eine thematische (kasuistische) Lehrplangestaltung ein. Wissenschaftlich ist jedoch bis heute immer noch nicht abschließend geklärt, welche Form die lernwirksamere ist. 9 Viele der Diskussionen über diese Streitfrage werden leider weiterhin sehr dogmatisch geführt. Aufgrund der eigenen Unterrichtserfahrung neigt der Autor dazu, im Anfängerunterricht einen systematischen Lehrplanaufbau zu wählen, damit den Wissensstrukturen genügend Sorgfalt beigemessen wird und der Unterricht nicht zu einer problemorientierten Aktualitätenschau verkommt. Ein interessanter Unterricht, der sich nur an aktuellen Problemen orientiert, entwickelt sich immer dann zu einem Palaver und verstärkt nur vorgefasste Meinungen, wenn das Orientierungswissen für eine ganzheitliche Problemerkennung und Reflexion fehlt. Zudem eignet sich ein systematischer Aufbau von Wissensstrukturen für schwächere Schüler / innen bedeutend besser. Deshalb sollte sich eine Einführung in das allgemeine Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis anfänglich stärker an einer zu bestimmenden begrifflichen Systematik und weniger an Themenbereichen orientieren. Im fortgeschrittenen Unterricht muss hingegen auf Themenbereiche umgestellt werden, für welche die Wissensstrukturen im Sinne von Vorwissen verfügbar sind. Solche Themenbereiche sollen dann auch interdisziplinär angegangen werden, d. h. es muss versucht werden, die Themen oder Problemfelder nicht mehr nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus politischer, kultureller und psychologisch-soziologischer Sicht anzugehen, nicht zuletzt deshalb, weil die Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich gemacht hat, wie rein ökonomische Modell-Theorien in die Irre führen. 5. Lehrplan- und Unterrichtsgestaltung Leider wird immer wieder behauptet, eine an einer zu bestimmenden Systematik orientierte Lehrplangestaltung mit der Beachtung von Strukturwissen verleite 9

Vgl. Dörig (2003).

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zu einem bloß darbietenden Unterricht mit einem Schwergewicht auf der Wissensvermittlung und vernachlässige das aktive Lernen der Schüler / innen. Diese Gefahr besteht tatsächlich dann, wenn Lehrkräfte keine klaren Vorstellungen über die Lehrplangestaltung und die verschiedenartigen Unterrichtsansätze haben. Zu unterscheiden ist zwischen der curricularen Mesoebene und der unterrichtlichen (instruktionalen) Mikroebene. Ein Lehrplan kann durchaus systematisch und disziplinenbezogen (hier bezogen auf die Wirtschaftswissenschaften) aufgebaut werden, im alltäglichen Unterricht jedoch problem- oder handlungsorientiert umgesetzt werden. Konkreter ausgedrückt werden die einzelnen Lektionen innerhalb des systematischen Lehrplans auf kleinere, konkrete Problemstellungen ausgerichtet, an denen das notwendige Strukturwissen angewandt wird, für die das notwendige Vorwissen und erste Erfahrungen vorhanden sind. In einem solchen Fall kann man von einem Lehrplan der Inselbildung sprechen, wie es in Abb. 3 gezeigt wird. Anhand einer Problemstellung wird das notwendige Wissen erarbeitet und abschließend an ihr angewandt und vertieft. Auf diese Weise lässt sich jeder systematische Lehrplan problem- oder handlungsorientiert aufbauen sowie in gezielter Weise aktualisieren. Auch ist es bereits an Fragestellungen solcher einfacheren Probleme möglich, die Schüler / innen im Umgang mit Zielkonflikten zu stärken.

Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 3: Lehrplan der Inselbildung

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6. Werterziehung im Unterricht der Wirtschaftsfächer (normative oder ethische Aspekte) Gegner / innen des Wirtschaftskunde-Unterrichts führen immer wieder an, dieser Unterricht fördere nur das rationale Denken hin bis zu einer radikalen Rücksichtslosigkeit auf der Idee der Gewinnmaximierung. Die hier vertretene Auffassung einer Wirtschaftstheorie mit der Vorstellung eines Gewinnes unter Nebenbedingungen sowie der Einführung in die Reflexion von Zielkonflikten dürfte deutlich machen, dass solche Vorstellungen über den WirtschaftskundeUnterricht nicht mehr zutreffend sind. Die Auseinandersetzung mit Problemen und Zielkonflikten stellt eine Anwendung der kognitiv orientierten Werterziehung dar, wie sie von Kohlberg eingeleitet, und von Oser und Beck 10 fortgeführt wird. Den Lernenden werden moralische Dilemmata (gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme, welche Zielkonflikte beinhalten) vorgelegt, die sich allein rational nicht lösen lassen, sondern Wertkonflikte beinhalten, über die zu reflektieren und zu entscheiden ist. Längst ist belegt, dass sich mit diesem didaktischen Ansatz die Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit der Lernenden stärken lässt, auch wenn das ewige Kernproblem jeder Werterziehung nicht endgültig gelöst ist, nämlich die Tatsache, dass das Wissen über Werte nicht mit Sicherheit zu einem besseren Verhalten führt. Die Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses darf also nicht wertneutral erfolgen. Die Schüler / innen müssen fähig werden, sich offen und differenziert mit Wertfragen auseinanderzusetzen. Andernfalls erfüllt die Schule ihren erzieherischen Auftrag in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft nicht. Nicht selten fehlt Lehrkräften der Mut zur Auseinandersetzung mit umstrittenen Fragen, weil sie Interventionen von Behörden und Eltern fürchten. Nicht angreifbar sind Lehrer / innen, wenn sie die moralischen Dilemmata mit Arbeitsblättern für die Lernenden dokumentieren, in denen die Vielseitigkeit der Argumentation ersichtlich ist. Und Mut machen sollten die Erkenntnisse aus einer alten Studie 11, nach welcher diejenigen Lehrkräfte im Unterricht besonders geschätzt sind, welche (1) strittige Fragen unter Beachtung des Vorwissens und des Erfahrungsschatzes der Lernenden in den Unterricht einbringen, (2) die Reflexion in neutraler Weise moderieren, (3) abschließend ihre eigene Meinung einbringen und (4) die Klasse auch darüber diskutieren lassen.

10 11

Vgl. Kohlberg (1981); Oser (1986); Beck (1996). Vgl. Hemmer (1971).

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VI. Umfang der Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses Vor allem Kreise aus der Wirtschaft wünschen eine Verstärkung des wirtschaftlichen Unterrichts an allen Schulen. Sie vergessen dabei die Begrenzungen durch die verfügbare Unterrichtszeit. Jedes Fachgebiet fordert mit allen möglichen Begründungen mehr Unterrichtszeit, und die Tendenz immer mehr Lerninhalte auf frühere Schulstufen vorzuziehen, lässt sich überall beobachten. Trotz vieler wissenschaftlicher Versuche ist es bislang nicht gelungen nachzuweisen, welches für bestimmte Lerninhalte mit den entsprechenden Lernzielen die optimale Lektionenzahl ist, denn die wichtigen Einflussfaktoren wie Qualität und Inhalt des Lehrplans, Intensität der Lernarbeit im Unterricht und Motivation der Lernenden sind sehr heterogen. Aufgrund langer Erfahrung in der Lehrplanarbeit, als Lehrbuchautor und als Lehrer gelangt der Autor zu den folgenden Erkenntnissen: Die Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses sollte der Sekundarstufe II vorbehalten bleiben, weil erst auf dieser Stufe die Reflexionsfähigkeit ohne einen zu großen Lektionenaufwand gefördert werden kann. Will man den Wirtschaftsunterricht schon auf der Volksschul- und der Sekundarstufe I einführen, so sollte man sich auf einfachere Lernbereiche beschränken, z. B. die Führung des Haushaltes (insbesondere Haushaltsbudget, Konsum und Werbung, Berufseinstieg). Andernfalls entstehen die Gefahren einer Simplifizierung des Unterrichts und vor allem der Wiederholung gleicher Lehrstoffe auf den verschiedenen Schulstufen. Wesentlich im Interesse einer gesunden Weiterentwicklung der Demokratie ist jedoch, dass die Bildung des allgemeinen Wirtschaftsund Gesellschaftsverständnisses an allen Schulen der Sekundarstufe II (Gymnasium, Berufsschulen) fester Bestandteil der Lehrpläne werden muss und das Fach gleichermaßen wie die übrigen bedeutsamen Fächer in das schulische Beurteilungssystem eingeht.

VII. Begrenzungen Viele Hochschullehrer aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften meinen festzustellen, dass Lernende mit einer vertieften wirtschaftlichen Bildung am Gymnasium in unteren Semestern im wirtschaftswissenschaftlichen Studium nicht besser seien als Studierende ohne wirtschaftliche Bildung auf der voruniversitären Stufe. Sie vermuten, diese Lerninhalte ließen sich auf der Sekundarstufe II nicht erfolgreich unterrichten, weil sie nicht altersgemäß seien. Diese Auffassung ist widerlegt. Schon vor langer Zeit konnte gezeigt werden, dass für die Wirksamkeit des Unterrichts nicht das Alter, sondern das Vorwissen und die Vorerfahrungen sowie die Unterrichtsgestaltung maßgeblich sind. Zudem

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übersieht die Aussage der unwirksamen wirtschaftlichen Bildung für das Hochschulstudium die unterschiedlichen Ziele. Ein volks- und betriebswirtschaftliches Studium ist zunehmend mathematisiert, während die Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses der Bildung des Wirtschaftsbürgers dient. Deshalb werden bei dieser Behauptung ungleiche Zielvorstellungen verglichen. Zwei Begrenzungen dürfen aber nicht übersehen werden. Auf die Problematik, dass moralisches Wissen meistens nicht in Verhalten umschlägt, wurde bereits verwiesen. Deshalb bleibt die während der Wirtschaftskrise immer wieder gehörte Forderung, ein nur auf ethische Fragen ausgerichteter Unterricht müsste in Zukunft verstärkt werden und auf Sachfragen könnte verzichtet werden, eine unrealistische Vorstellung. Ein Unterricht mit moralischem Dilemma muss mit wirtschaftlichem Sachwissen verknüpft werden. Dies in der Hoffnung, dass dieser allenfalls bei einzelnen Schüler / innen auf einen fruchtbaren Boden fällt. Solange aber alle Bevölkerungsschichten den Wunsch nach immer Mehr in den Vordergrund stellen und laufend mehr Geld (höhere Löhne, höhere Renten, geringere Krankenkassenprämien) fordern, bleibt die Schule weitgehend machtlos. Im Weiteren ist zu vermuten, dass die Fähigkeit zum Umgang mit Zielkonflikten und zur differenzierten Beurteilung und Entscheidungsfindung von den individuellen Fähigkeiten abhängig ist. In einem Schulversuch mit unterschiedlichen Lehrplanmodellen und Unterrichtsansätzen ergaben sich keine signifikant unterschiedlichen Lernleistungen. Wohl aber haben alle Schüler / innen mit guten Ergebnissen in einem Wirtschaftsfähigkeitstest bei allen Ansätzen signifikant bessere Lernleistungen erbracht. Dieses Ergebnis ist ernüchternd; denn es setzt der Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses deutliche Grenzen.

VIII. Die Lehrendenfrage Vielerorts ist es üblich geworden, für den Wirtschaftsunterricht Geschichtsund Geografielehrer / innen ohne umfassende wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung einzusetzen. Dies in der naiven Vorstellung, jede Lehrperson habe die Wirtschaft in irgendeiner Form erlebt. Deshalb könne sie Anfänger auch ohne Weiteres unterrichten. Längst weiß man aber, dass ein erfolgreicher Unterricht insbesondere von den wissenschaftlichen Kenntnissen und Fähigkeiten im zu unterrichtenden Fachgebiet abhängig ist. Im jeweiligen Fachgebiet wissenschaftlich ungenügend ausgebildete Lehrkräfte sind – wie die praktische Ausbildung von Lehrkräften immer wieder zeigt – meistens nicht in der Lage, die Lernenden in das Geschehen in der Wirtschaft und insbesondere in den Umgang mit Zielkonflikten einzuführen.

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IX. Nachwort Didaktisch und methodisch ist die Gestaltung des Lehrplans und die Unterrichtsführung einer Wirtschaftskunde in der Form der Bildung des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses außerordentlich anspruchsvoll. Lehrer / innen benötigen nicht nur eine hohe wirtschaftswissenschaftliche Kompetenz, sondern sie müssen mit der politischen und wirtschaftlichen Aktualität vertraut sein. Auch dürfen sie nicht den einfachen Weg des Darbietens von Orientierungswissen wählen, sondern sie müssen handlungs- oder problemorientiert unterrichten und sich vor allem darum bemühen, schwächere Schüler / innen in ihren Unterricht einzubeziehen. Ob es mit einem solchen Unterricht gelingt, Menschen in ihrem ökonomischen Denken und Handeln weiterzubringen, damit sie sich nicht von unrealistischen Patentlösungen leiten und durch eine Sündenbockpolitik irreführen lassen, bleibt letztlich eine Hoffnung, welche sich bei einzelnen Lernenden erfüllt und bei anderen nicht. Den pädagogischen Optimismus dürfen jedoch Lehrkräfte nie verlieren, ansonsten wirken sie für die junge Generation immer unglaubwürdig und tragen überhaupt nichts zur Entwicklung unserer Gesellschaft bei.

Literatur Beck, Klaus et al. (1996): Zur Entwicklung moralischer Urteilskompetenz in der kaufmännischen Erstausbildung, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZBW), Beiheft 13, S. 187 – 206. Dörig, Roman (2003): Handlungsorientierter Unterricht, Stuttgart. Dubs, Rolf (2001): Grenzen ökonomischer Prinzipien aus pädagogischer Sicht, in: Wüthrich, Hans A. / WolfgangB. Winter / AndreasF. Philipp (Hrsg.): Grenzen ökonomischen Denkens, Wiesbaden, S. 289 – 303. Dubs, Rolf (2009): Lehrerverhalten. Ein Beitrag zur Interaktion von Lehrenden und Lernenden, 2. Aufl., Zürich. Dubs, Rolf / Euler, Dieter / Rüegg-Stürm, Johannes / Wyss, Christina (Hrsg.) (2009): Einführung in die Management-Lehre, 2. Aufl., Bern. Hemmer, Adrian (1971): Einflüsse des Staats- und Wirtschaftskundeunterrichts auf das Verhältnis des gewerblichen Berufsschülers zur Politik, Dissertation, St. Gallen. Kohlberg, Lawrence (1981): Essays on Moral Development, New York. Mayer, Dennis P. et al. (2000): Monitoring School Quality: An Indicators Report, Washington, DC. Oser, Fritz K. (1986): Moral Education and Values Education: The Discourse Perspective, in: Wittrock, Merlin C. (Hrsg.): Handbook of Research on Teaching, New York, S. 917 – 941.

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Renkl, Alexander (1998): Träges Wissen, in: Rost, Detlef H. (Hrsg.): Handwörterbuch pädagogische Psychologie, Weinheim, S. 514 – 520. Steiner, Gerhard (2001): Lernen und Wissenserwerb, in: Krapp, Andreas / Bernd Weidenmann (Hrsg.): Pädagogische Psychologie, Weinheim, S. 139 –205. Wagenschein, Martin (1973): Verstehen lernen. Genetisch-Sokratisch-Exemplarisch, Weinheim.

Zur Kapitalisierung des Bildungsbegriffs Von Wolfgang Hörner 1

I. Das terminologische Problem Bevor man das Problem der „Kapitalisierung“ von Bildung erörtern kann, muss man sich erst einmal darauf verständigen, was Bildung sei. Aus der Fülle der Definitionen nehme ich eine prägnante Formulierung heraus, die dem uns seit dem 19. Jahrhundert vertrauten Bildungsbegriff sehr nahe kommt: „Bildung ist die subjektive Seinsweise der Kultur, die innere Form und die geistige Haltung der Seele.“ 2 Wir verbinden diesen Begriff von Bildung als „innere Form“ gewöhnlich mit dem Namen Wilhelm von Humboldt. Allerdings ist dieses Bildungsverständnis weit entfernt von unserem Alltagsverständnis, wenn wir heute z. B. von „Bildungspolitik“ reden. Wie kommt das? Um die Entwicklung zu verstehen, müssen wir zuerst klären, was Wilhelm von Humboldt unter Bildung verstanden hat. 3

II. Der neuhumanistische Bildungsbegriff Unter Bezug auf den klassischen antiken Bildungsbegriff – Cicero hatte die griechische paideia mit dem lateinischen Begriff humanitas wiedergegeben, d. h. das, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht – kritisiert Humboldt, dass die Aufmerksamkeit seiner Zeit (des beginnenden 19. Jahrhundert mit der einsetzenden Industriellen Revolution) mehr auf Sachen als auf Menschen, mehr auf Massen von Menschen als auf Individuen gerichtet sei. Dagegen setzte er die Bildung des Menschen als Individuum, nicht als Funktionsträger. Die Konzentration auf die Bildung des Menschen, die sich dieser „neue Humanismus“ durchaus in der Tradition der Antike, aber auch der Wiederentdeckung des Einzelnen in der Renaissance am Ende des Mittelalters zum Ziel setzte, kann als 1 Prof. Dr. Wolfgang Hörner war bis 2010 Inhaber der Professur für vergleichende Pädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. 2 Nohl (1949). 3 Vgl. zum Folgenden auch Hörner (2008), S. 16 – 19.

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ein kühner Versuch gewertet werden, die Entfremdung aufzuheben, die von den gesellschaftlichen Zwängen der Zeit verursacht wurde. Da es aber gerade um die Aufhebung der Zwänge von außen gehen sollte, war die Bildung, die hier in den Mittelpunkt gestellt wurde, nicht Bildung zu etwas, also die Bildung des Funktionsträgers, sondern Selbstbildung, die Bildung der eigenen Persönlichkeit, um den Zwängen der Funktionalisierung zu widerstehen. Bezogen auf den konkreten Bereich der Schule haben diese bildungstheoretischen Prämissen konkrete Konsequenzen. Wenn der Wert der erhaltenen Bildung nicht im Stofflich-Funktionalen liegt, sondern in ihrer Bedeutung für die universelle Menschenbildung, dann kann Humboldt kühn formulieren: „Auch Griechisch gelernt zu haben, könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz sein, als Tische zu machen dem Gelehrten“. 4 Allerdings, so fährt Humboldt fort, muss man mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Menschen dann doch die stoffliche Seite stärker gewichten. 5 Wenn die Bildung der Persönlichkeit zum vollen Menschsein dann erreicht ist, der so gebildete Mensch also weiß, was das ihm Eigene ist, was seine Möglichkeiten und Grenzen sind, kann er nicht nur Mensch, sondern auch Bürger sein. Er kann in sozialen Zusammenhängen handeln, aber er hat auch immer die Möglichkeit, dazu in Distanz zu gehen (Rollendistanz zu üben, wie die Sozialisationstheorie dies später nennen wird). Dieser bildungstheoretische Primat des Menschen über den gesellschaftlichen Rollenträger hat konkrete Folgen für die Konstituierung von Bildungsinstitutionen. Der Gedanke der allgemeinen Menschenbildung, die sich gerade deutlich von einer Standesbildung abhebt, bringt Humboldt dazu, die allgemeine Menschenbildung als Ziel aller derjenigen Schulen zu definieren, die nicht nur einen einzelnen Stand betreffen, sondern alle Stände. Humboldt erklärt: „Alle Schulen, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation oder der Staat für diese annimmt, müssen eine allgemeine Menschenbildung bezwecken.“ 6 Denn, so argumentiert er, „es gibt gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnung und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf einen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist.“ 7 Wenn diese Grundlage durch den Schulunterricht gelegt ist, erwirbt dieser Mensch die besonderen Fähigkeiten, die der Beruf später erforderlich macht, sehr leicht. Der Mensch erhält sich bei einer solchen 4 5 6 7

von Humboldt (1809/1964a), S. 24. Vgl. ebd. von Humboldt (1809/1964a), S. 23. von Humboldt (1809/1964b), S. 218.

Zur Kapitalisierung des Bildungsbegriffs

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breiten Grundlage zudem die Freiheit, den Beruf auch zu wechseln, wenn es notwendig sein sollte. Die reine Menschenbildung soll also auch die Abhängigkeit des Menschen von einzelnen Berufen und vorgegebenen Lebenssituationen verringern. Die Organisation der Schulen bekümmert sich deshalb nach Humboldt „um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe“, auch nicht die „Gelehrtenkaste.“ 8 Der allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen schlechthin ein. Der kastenunabhängige Unterricht hat curriculare Konsequenzen, denn der universelle Anspruch der allgemeinen Menschenbildung hat, wie schon anklang, sozial integrierende Konsequenzen: „Dieser gesamte Unterricht kennt daher auch nur ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüt ursprünglich gleich gestimmt werden...“. 9 Das aber, was für die spezifischen Bedürfnisse des einzelnen oder die eines zukünftigen Gewerbes notwendig ist, wird später in der speziellen Bildung zu vermitteln sein. Damit tritt Humboldt gegen den Trend seiner Zeit für eine klare inhaltliche und zeitliche Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung ein, die in Deutschland bis heute die Organisation des Bildungswesens bestimmen sollte. Humboldt spezifiziert seine Argumente so: „Beide Bildungen – die allgemeine und die spezielle – werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden; durch die spezielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten.“ 10

III. Die Soziologisierung des Bildungsbegriffs 1. Der unverstandene begriffliche Wandel Humboldts Antagonismus zwischen der allgemeinen Menschenbildung als Persönlichkeitsbildung und der (Spezial-)Bildung des Funktionsträgers mutet heute eher wie ein Exotismus an, auch wenn das volkstümliche Verständnis den Bildungsbegriff noch unmittelbar mit Humboldt assoziiert. In der Tat hat in Deutschland zwischen Humboldt und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tiefgreifende semantische Verschiebung des Begriffs Bildung stattgefunden, die es wert ist, näher betrachtet zu werden, weil sie, wie noch zu zeigen sein wird, neue Anschlussmöglichkeiten für den Bildungsbegriff bot. 11

8

von Humboldt (1809/1964b), S. 188. von Humboldt (1809/1964a), S. 24. 10 von Humboldt (1809/1964a), S. 23. 11 Vgl. zum Folgenden auch Hörner (2008), S. 38 – 41. 9

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So ist mehreren namhaften Autoren 12 aufgefallen, dass die heute gebräuchlichen Komposita des Bildungsbegriffs – Bildungspolitik, Bildungsökonomie usw. – mit dem entwickelten Humboldt’schen Bildungsbegriff nicht mehr abgedeckt werden können. Der Begriff Bildung, so ihre Folgerung, sei konturenlos geworden und habe ausgedient. Bei näherer Betrachtung ist diese Bedeutungsveränderung des Bildungsbegriffs allerdings keineswegs ein Indiz für die Sinnentleerung des Begriffs. Die Wurzel des Missverständnisses liegt einfach in einem begrifflichen Wandel, der von diesen Autoren nicht wahrgenommen wurde. Diese semantische Verschiebung war von außen veranlasst. Ursprung war die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erfolgte Rezeption des anglo-amerikanischen Begriffs education und zusammen damit die Rezeption der Grundideen anglo-amerikanischer Erziehungswissenschaft (educational studies). Die neu-humanistischen Bedeutungskomponenten des „klassischen“ deutschen, anthropologisch fokussierten Bildungsbegriffs, wie sie sich z. B. in der Formulierung Nohls niederschlugen („... die innere Form und geistige Haltung der Seele, die alles was von draußen an sie herankommt, mit eigenen Kräften zu einheitlichem Leben in sich aufzunehmen (...) vermag“), 13 waren diesem angloamerikanischen Begriff education verständlicherweise fremd. Besonders im amerikanischen, aber auch im britischen Sprachgebrauch schwang in dem Begriff education die Komponente der formalen Qualifikation (für bestimmte Aufgaben) mit. Der englische Begriff wurde mit seinen Konnotationen zusammen mit der Rezeption der amerikanischen Arbeiten zur Bildungssoziologie (sociology of education), zur Bildungsökonomie (economy of education) und ihrer Anwendung in der Bildungsplanung (educational planning) in den 1950er/60er Jahren in Westdeutschland so mit übernommen. 2. Die gesellschaftliche Dimension von Bildung Diese Rezeption fand auf dem Hintergrund eines Wandel im deutschen Gesellschaftssystem statt, in dem die Bildung (oder genauer: die Rolle der Institutionen, die Bildung vermittelten, nämlich die Schulen und Hochschulen), einen neuen gesellschaftlichen Stellenwert bekam. Der erziehungswissenschaftliche Diskurs in der alten Bundesrepublik Deutschland entdeckte die Schule als zentrale Instanz der Zuteilung von Sozial- und Lebenschancen 14 und, logisch darauf aufbauend, Bildung als Bürgerrecht. 15 Beide Bewegungen waren so mit einander verschränkt.

12 13 14 15

Vgl. z. B. Luhmann / Schorr (1979), S. 83. Nohl (1949), S. 140f. Schelsky (1957). Dahrendorf (1965).

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Für Schelsky war die Öffnung der bisherigen selektiven höheren Bildungsgänge eine wichtige Voraussetzung, um soziale Unterschiede in der Gesellschaft, in seinen Augen Relikte der alten Ständegesellschaft, abzubauen. Ein konsequenter Ausbau der Bildungsangebote war notwendig, da die technisch-ökonomische Entwicklung einen generellen Anstieg der beruflichen Qualifikation volkswirtschaftlich erforderlich machte. Bildung wird in diesem Sinne zum entscheidenden Kriterium für die Bestimmung des sozio-professionellen Status und damit zum Motor für die Aufstiegsmobilität. Aus diesen stark ökonomisch inspirierten Gedankengängen leitete Dahrendorf in einer eher sozialpolitischen Argumentationslinie das Bürgerrecht auf Bildung ab, ein soziales Grundrecht aller Bürger. Dies machte natürlich die Herstellung von Chancengleichheit beim Zugang zur Bildung erforderlich, der durch den Abbau der Zugangsbarrieren und durch eine quantitative Expansion sozial höherwertiger Bildungsgänge für die bisher unterrepräsentierten gesellschaftlichen Gruppen erleichtert werde sollte. Dahrendorf ging es so vor allem um die politische Dimension der angestrebten Bildungsexpansion. Der neue deutsche Diskurs über Bildung war, das zeigen diese Beispiele deutlich, weit entfernt vom neuhumanistischen Bildungsbegriff. An die Stelle der philosophisch-anthropologischen Prägung trat eine soziologische. „Bildung wird nicht mehr nur als Eigenschaft, Zustand, Statusmerkmal des Einzelnen gesehen, sondern als Funktion der Gesellschaft.“ 16 Diese Gesellschaft verteilt über die Bildung Lebens- und Sozialchancen. Deshalb ist Bildung in einer demokratischen Gesellschaft in der Tat als Recht aller Bürger anzusehen. Das, was sich vollzogen hat, ist „eine Soziologisierung des Bildungsbegriffs“. 17 Unter Einbeziehung des Qualifikationsaspekts wird Bildung in diesem Kontext zu einer der Grundfunktionen der menschlichen Gesellschaft, deren Aufgabe es ist, diese Gesellschaft dadurch lebensfähig zu erhalten, dass sie die nachfolgende Generation befähigt, die in der modernen Industriegesellschaft notwendigen Rollen zu übernehmen. Zu diesen Rollen gehört nicht nur die Erzeugung und Verteilung von Gütern, sondern auch die Ordnung und Deutung der Welt, d. h. auch Recht, Kunst und Religion. 18 Da dazu schwerpunktmäßig der kognitiv akzentuierte Erwerb von Qualifikationen gehört, ist die Übernahme des deutschen Begriffs Bildung für das beschriebene gesellschaftliche Phänomen legitim und naheliegend. Der normativ gefärbte Begriff „Erziehung“ (alternativ für das engl. education) hätte in diesem Kontext falsche Konnotationen suggeriert. Die Bedeutungsverschiebung des Bildungsbegriffs in Richtung auf gesellschaftlich relevante Aspekte von Bildung als Qualifikation erlaubt dann auch 16 17 18

Lemberg (1963), S. 24. Ebd. Vgl. Lemberg (1963), S. 34.

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die sprachliche Konstruktion von Komposita, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Aspekte des neuen Bildungsbegriffs zum Ausdruck kommen, wie Bildungsplanung, Bildungspolitik, Bildungssoziologie, Bildungsökonomie. Soweit Erziehungswissenschaft diese gesellschaftlichen Implikationen von Bildung untersucht, wird ein neuer Begriff dafür geprägt, die Bildungsforschung. Mit diesem Begriff ist die Untersuchung des Bildungswesens als gesellschaftliche Institution und mit allen seinen gesellschaftlichen Aspekten angesprochen. 19 In dem in der Reformeuphorie der 1960er Jahre in Berlin gegründeten „Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung“ findet dieser Gedanke zudem bis heute seinen institutionellen Ausdruck.

IV. Die konzeptionelle Konsequenz: Bildung als Kapital Die Soziologisierung des Bildungsbegriffs hat, wie die wissenschaftliche Disziplin Bildungsökonomie schon andeutet, auch ökonomische Konsequenzen. Bildung hat in diesem Verständnis für die Gesellschaft nämlich eine unmittelbare ökonomische Relevanz, sie wird zur ökonomischen Ressource. Dieser Gedanke wird vor allem über den Begriff des Humankapitals vermittelt, dem eine analoge Bedeutung zugeschrieben wird wie dem Finanzkapital. Der Begriff wurde zentral für die seit Ende der 1950er Jahre stark expandierte Bildungsökonomie. 20 1. Das Humankapitalkonzept Der Begriff des Humankapitals bedeutet ganz allgemein das Gut, das in Menschen investiert wird, um wirtschaftliche Werte schaffen zu können. Er beruht auf der Prämisse, dass in modernen Gesellschaften „die Produktivität auf Schaffung, Verbreitung und Nutzung von Wissen beruht“. 21 Für Gary Becker, einen der eifrigsten Verfechter des Humankapitalkonzepts, umfasst der Begriff „Wissen und Fertigkeiten der Menschen, ihren Gesundheitszustand und die Qualität ihrer Arbeitsgewohnheiten“. 22 Der Begriff ist also sehr weit gefasst. Darunter ist außer der beruflichen Qualifikation im engeren Sinne auch die Gesamtheit der Arbeitsgewohnheiten, aber auch der sonstigen Lebensgewohnheiten zu verstehen, im positiven (Arbeitstugenden wie Fleiß und Pünktlichkeit) wie im negativen Sinn (Suchtgewohnheiten wie Rauchen und Trinken, die die Produktivität der Arbeitskräfte einschränken). 19 20 21 22

So der Untertitel von Lemberg (1963); in neuester Zeit noch Tippelt (2005), S. 9f. Vgl. zum Folgenden auch Hörner (2008), S. 41 – 47. Becker (1996), S. 220. Ebd.

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Das Humankapitalkonzept geht weiter von der zentralen Vorstellung aus, „der einzelne entscheide unter Abwägung von Kosten und Nutzen über seine Bildung, Berufsausbildung, medizinische Versorgung und andere Verbesserungen seiner Kenntnisse und seiner Gesundheit“. 23 Zu dem Nutzen gehören aber nicht nur die Verbesserung der Einkommenschancen, sondern auch kulturelle und andere immaterielle Vorteile (z. B. Status und Sozialprestige), die Kosten sind dagegen die finanziellen Aufwendungen für die Bildung sowie die investierte Zeit und Arbeit. 24 Der Begriff Humankapital hat somit zwei Dimensionen. Er kann sowohl unter volkswirtschaftlicher – also der Makroebene – als auch unter individueller („betriebswirtschaftlicher“) Perspektive – also der Mikroebene – betrachtet werden. Die Mikroebene ist die Bereitschaft des Einzelnen bzw. die seiner Familie, in Bildung zu investieren, um dadurch später bessere Verdienstmöglichkeiten und einen höheren sozialen Status zu haben. Von diesem investierten Kapital (durchaus auch im Sinne von finanziellen Aufwendungen) kann man eine bestimmte Rendite (rate of return) erwarten. Der einzelne muss abwägen, ob die zu erwartende Rendite, die das Humankapital abwirft, den Aufwand „lohnt“. Für die volkswirtschaftliche Ebene gilt eine ganz ähnliche Logik: es gilt rechtzeitig in den Infrastruktursektor des Bildungswesens (also in Humankapital auf der Makroebene) zu investieren, um innerhalb der „Wissensgesellschaft“, in der das erworbene Wissen in der Form des Humankapitals ökonomisch produktiv gemacht wird, die Volkswirtschaft auf Wachstumskurs zu bringen bzw. zu halten. Auch hier ist unter nüchternen ökonomischen Gesichtspunkten die Rendite der volkswirtschaftlichen Investition im Auge zu behalten. Der ökonomische Nutzen dieser Investition muss zuerst einmal politisch transparent gemacht werden, um ein günstiges „Investitionsklima“ zu schaffen. Dazu gehört es im Umkehrschluss auch, die volkswirtschaftlichen Kosten der Nicht-Investition in die Gesamtrechnung einzubeziehen: Zu diesen volkswirtschaftlichen Kosten gehören z. B. die sich aus mangelnder Investition in Bildung ergebende hohe Schulabbrecherquote und die strukturell von Arbeitslosigkeit bedrohten „negativ ausgelesenen“ Jugendlichen, die sich aus einer hohen Schulabbrecherquote ergeben, die die Volkswirtschaft unnötig belasten. Der Begriff Humankapital hat in der deutschen Gesellschaft noch bedeutende Akzeptanzprobleme, wie die Tatsache zeigt, dass der Begriff in Deutschland im Jahr 2004 zum „Unwort des Jahres“ gewählt wurde. Laut Erklärung der Jury wurde das Wort gewählt, um eine scharfe Kritik an der Ökonomisierung aller möglichen Lebensbezüge auszudrücken, nachdem es auch in programmatischen Verlautbarungen der EU zu einem wichtigen Begriff wurde. 25 Die Kritik richtet 23 24 25

Becker (1996), S. 29. Vgl. ebd. Vgl. Schlosser (2005).

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sich gegen die Abwertung des Menschlichen, weil hier Menschen mit Maschinen gleichgesetzt würden. Humankapital, so die Begründung der „Unwort-Jury“, degradiere nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen. Bildung als ökonomische Investition aufzufassen, statt als Aneignung von Kultur, ist für Pädagogen auf den ersten Blick in der Tat befremdlich. Dass mit diesem Begriff neben Sachkapital und Finanzkapital menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten eigens gewürdigt werden sollten, wie die Vertreter der Humankapitaltheorie erklären, wird auch von der Unwort-Jury anerkannt. Zugleich wird aber angezweifelt, dass die positiven Konnotationen dieses Begriffs in der sozialen Praxis der Betriebe überhaupt ernst genommen werden. Dagegen sprächen hemmungslose Massenentlassungen, die das „Humankapital“ von Millionen von Menschen im Interesse einer höheren Rendite für die share-holder ohne Zögern entwerten. 2. Die symbolischen Kapitalien bei Pierre Bourdieu Eine kritische Sicht des Begriffs Humankapital veranlasst Pierre Bourdieu, seinerseits eine Konzeption „symbolischer Kapitalien“ zu entwerfen. Bourdieu 26 geht von einem weiten, aber im Kern durchaus klassischen Kapitalbegriff aus: „Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form.“ 27 Allerdings kann man nach Bourdieu dem Funktionieren der gesellschaftlichen Welt nur gerecht werden, wenn man den Begriff des Kapitals in all seinen Erscheinungsformen berücksichtigt und nicht nur in der aus der Ökonomie bekannten Form. Hier liegt eine erste implizite Kritik auch an der Theorie des Humankapitals. Bourdieu unterscheidet dagegen drei grundlegende Kapitalsorten: „Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form des Eigentumsrechts; das kulturelle Kapital ist unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln; das soziale Kapital, das Kapital an sozialen Verpflichtungen oder „Beziehungen“, ist unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von Adelstiteln“. 28

26 27 28

Vgl. z. B. Bourdieu (1983). Bourdieu (1983), S. 183. Bourdieu (1983), S. 185.

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Im hier zu behandelnden Zusammenhang ist vor allem das kulturelle Kapital von Interesse: Es geht um das, was im Französischen als culture bezeichnet wird, das heißt das, was sich der einzelne im Bildungsprozess angeeignet hat. „Das kulturelle Kapital kann in drei Formen existieren: − in verinnerlichtem, inkorporierten Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus − in einem objektivierten Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten und Maschinen − in institutionalisiertem Zustand, in Form von Diplomen, Titeln usw.“ 29

Der Begriff des kulturellen Kapitals erlaubt es, die Ungleichheit der schulischen Leistungen von Kindern aus verschiedenen sozialen Milieus ohne Rekurs auf einen nativistischen Begabungsbegriff zu erklären. Es wird so möglich, den Schulerfolg, der sonst nur der natürlichen Begabung zugeschrieben wird, auf „die Verteilung des kulturellen Kapitals zwischen den Klassen und Klassenfraktionen“ 30 zurückzuführen. Bourdieu kritisiert in diesem Zusammenhang die Theoretiker des Humankapitals. Diese hätten zwar als erste die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis die durch Bildungsinvestition und die durch ökonomische Investition erreichten Profite stünden, der von ihnen benutzte Maßstab aber berücksichtigte nur solche Investitionen, die sich in Geld ausdrücken ließen, also z. B. Studienkosten oder die für das Studium aufgewendete Zeit (die an die Stelle von möglicher Erwerbsarbeit tritt). Zudem kann die Humankapitaltheorie weder die relative Bedeutung der verschiedenen ökonomischen und kulturellen Investitionen für die verschiedenen Akteure erklären, noch die Struktur der unterschiedlichen Gewinnmöglichkeiten auf verschiedenen „Märkten“ berücksichtigen. Schließlich bleibt ihre Analyse der Investitionsstrategien der Eltern in Bildung isoliert vom Gesamtzusammenhang der anderen Erziehungsstrategien. Dadurch, so Bourdieu weiter, bleibt ihnen die sozial wirksamste Investition verborgen, nämlich die Transmission des kulturellen Kapitals in der Familie. So übersehe z. B. Becker in seinen Überlegungen zu Begabung und Bildungsinvestition, dass Begabung auch das Produkt einer (familialen) Investition in kulturelles Kapital ist. 31 Der Hauptvorwurf Bourdieus geht aber dahin, dass die ökonomistische Verkürzung von Bildung den Beitrag des Bildungssystems zur Reproduktion der 29 30 31

Ebd. Bourdieu (1983), S. 185. Bourdieu (1983), S. 186.

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Sozialstruktur ignoriert, der in der Weitergabe des kulturellen Kapitals besteht. Der Humankapitalansatz übersieht, dass der ökonomische und soziale Ertrag des erworbenen schulischen Titels, von dem durch die Familie weitergegebenen kulturellen Kapital, aber auch von dem gleichermaßen ererbten sozialen Kapital abhängt, das zur Unterstützung des kulturellen Kapitals eingebracht wird. 32 Was soll man sich unter den verschiedenen Formen des kulturellen Kapitals vorstellen? Das inkorporierte kulturelle Kapital setzt einen Prozess der Verinnerlichung voraus, der (Lern-)Zeit erfordert. Durch den Prozess wird Kultur angeeignet, akkumuliert. Es entsteht ein Produkt „Bildung“ (franz.: culture). Dieser zeitaufwendige Prozess muss persönlich erfolgen. Ein Stellvertreterprinzip scheidet hier aus. Im Bildungsprozess wird in erster Linie Zeit investiert, das hat schon die Humankapitaltheorie festgestellt. Deshalb ist die Dauer des Bildungserwerbs auf den ersten Blick der objektivste Maßstab, um kulturelles Kapital zu messen. Inkorporiertes kulturelles Kapital wird zum Besitztum, zum festen Bestandteil einer Person, zu ihrem Habitus, in Bourdieus Terminologie: „aus ‚Haben‘ ist ‚Sein‘ geworden“. 33 Das inkorporierte Kapital ist nach dem bisher Gesagten an die Person und ihre biologischen Fähigkeiten gebunden. Es stirbt mit der Person und mit dem Verlust des Gedächtnisses. Gleichwohl wird es sozial vererbt, allerdings in einer sehr versteckten Form. Auch wenn es so nur ein „symbolisches Kapital“ darstellt, ist seine tatsächliche Wirksamkeit nicht zu unterschätzen. Wer über eine besondere Kulturkompetenz verfügt, z. B. über die Fähigkeit des Lesens in einem Milieu von Analphabeten, „gewinnt aufgrund seiner Position in der Verteilungsstruktur des kulturellen Kapitals einen Seltenheitswert, aus dem sich Extraprofite ziehen lassen“. 34 Die besondere Wirksamkeit des inkorporierten kulturellen Kapitals ergibt sich aus der Art seiner Übertragung. Seine Akkumulation ist sozusagen von dem Grundstock an kulturellem Kapital abhängig, der in der gesamten Familie verkörpert ist. Diese Akkumulation von kulturellem Kapital findet nun aber von frühester Kindheit an im Wesentlichen in denjenigen Familien statt, die bereits über einen Fundus von kulturellem Kapital verfügen: die frühkindliche Sozialisation ist also zugleich eine Zeit, in der kulturelles Kapital akkumuliert wird. Die Übertragung von Kulturkapital ist demnach eine der am besten verschleierten Formen der erblichen Übertragung von Kapital. Sie gewinnt um so mehr an Bedeutung, je mehr die direkten, sichtbaren Formen der „Vererbung“ des gesellschaftlichen Status sozial missbilligt werden. 32 33 34

Vgl. ebd. Bourdieu (1983), S. 187. Bourdieu (1983), S. 187f.

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Das objektivierte, also gegenständlich gewordene Kulturkapital kann seine Wirkung erst in Verbindung mit dem inkorporierten, verinnerlichten Kulturkapital entfalten. Materielle Träger von kulturellem Kapital wie Gemälde, Bücher usw. lassen sich zwar leicht vererben, ihr juristischer Besitz kann seine „bereichernde“ Wirkung aber nur entfalten, wenn der Besitzer die Fähigkeiten hat, den kulturellen Nutzen daraus zu ziehen, also etwa die intellektuellen oder ästhetischen Kompetenzen, das Buch oder Kunstwerk zu verstehen. Dies aber setzt das inkorporierte Kulturkapital voraus. Um das objektivierte Kulturkapital als „Produktionsmittel“ für neues Kapital zu nutzen, muss der Besitzer sich das erforderliche Kulturkapital (also z. B. das wissenschaftlich-technische Wissen, um eine Maschine adäquat einsetzen zu können) selbst erwerben oder die Dienste anderer in Anspruch nehmen, die dieses inkorporierte Kapital haben. Die Institutionalisierung von inkorporiertem kulturellem Kapital in Form von Titeln schafft aber den deutlichen Unterschied zum Autodidakten, der ständig beweisen muss, dass er dieses Kapital besitzt. Die Titel gelten formell unabhängig von der Person des Trägers: „Der schulische Titel ist ein Zeugnis für die kulturelle Kompetenz, der seinem Inhaber einen dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert überträgt“. 35 Das impliziert, dass der Titel auch relativ unabhängig von dem inkorporierten kulturellen Kapital gilt, das der Träger zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich besitzt. Der (schulische oder akademische) Titel verleiht dem Kulturkapital einer Person eine institutionelle Anerkennung. Dadurch werden diese Personen in gewissem Sinne (auf dem Arbeitsmarkt) austauschbar, sie können füreinander die Nachfolge antreten. Der Erwerb des Titels als institutionalisiertes kulturelles Kapital ist, genau wie beim Humankapital, mit einem gewissen Aufwand an ökonomischem Kapital verbunden. Diese Konvertibilität muss in gewissem Sinn auch in umgekehrter Richtung gelten, das kulturelle Kapital muss auch wieder in ökonomisches Kapital umgewandelt werden können. Denn nur wenn diese Umkehrbarkeit zumindest zum Teil erwartet werden kann, hat die Bildungsinvestition einen ökonomischen Sinn. Hier liegt nun in der Tat ein gewisses „Restrisiko“, denn der ökonomische Gewinn, den ein solcher Titel auf dem Arbeitsmarkt erzielen kann, hängt natürlich von seinem Seltenheitswert und der Nachfrage ab. Durch die Bildungsexpansion, die in den meisten Ländern stattgefunden hat, hat sich so auch der „Wechselkurs“ zwischen institutionalisiertem kulturellem Kapital und ökonomischem Kapital nach unten verändert. So wie zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital eine gewisse Konvertierbarkeit besteht, ist auch das soziale Kapital (die „Beziehungen“) in andere Kapitalsorten verwandelbar. Zudem kann es die Umwandlung von kulturellem in ökonomisches Kapital wirksam unterstützen. Das zeigt sich deutlich an den 35

Bourdieu (1983), S. 190.

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Unterschieden in den Erträgen, die zwei mit gleichem kulturellem Kapital (gleichen Titeln), aber mit unterschiedlichem Sozialkapital ausgestattete Personen auf dem Arbeitsmarkt erzielen. 36 Unter den Kapitalsorten ist das institutionalisierte kulturelle Kapital in Form von schulischen Abschlusszeugnissen nicht direkt durch Erbfolge übertragbar (wie der Adelstitel) und auch nicht direkt käuflich (wie der Börsentitel). Das erworbene Kulturkapital muss durch das Bildungssystem sanktioniert und damit in institutionalisiertes Kulturkapitals umgewandelt werden. Seine „Vererbung“ wird durch das Bildungssystem kontrolliert und entzieht sich dadurch dem direkten Zugriff der Eigner von ökonomischem oder sozialem Kapital. Diese können lediglich auf indirekte Weise (durch „Protektion“ usw.) möglichen Sanktionen durch das Bildungssystem mit seiner relativen Autonomie gegensteuern. 37 Am Anfang der Schullaufbahn kann das vorhandene kulturelle Kapital der Familie seine Wirkung deshalb entfalten, weil die von der Schule vermittelten Bildungsgüter und das vermittelnde Instrument, die Unterrichtssprache, das bereits vorhandene kulturelle Kapital widerspiegeln. Die Schule setzt also weitgehend das voraus, was sie zu vermitteln vorgibt. Sie besitzt eine eigene relative Autonomie, die darin besteht, dass sie in ihrem Bereich, nämlich dem Unterricht, ihre eigenen – pädagogischen – Gesetze machen kann, nach denen sie funktioniert. Diese relative (pädagogische) Autonomie dient nach Bourdieu nur zur Verschleierung ihrer sozialen Selektionsfunktion. Die scheinbar rein pädagogischen Kriterien der Selektion, die sie zur Anwendung bringt, sind nämlich in sozialer Hinsicht nicht neutral, da der Erwerb der kulturellen Kapitalien bereits einen Grundstock an kulturellem Kapital (das durch die Familie vererbt wurde) voraussetzt. Allerdings ist das Bildungssystem auch alleiniger Kontrolleur der Gültigkeit des kulturellen Kapitals und dadurch auch für die Privilegierten als Instanz zur Verteilung von Lebenschancen nicht zu übergehen.

V. Fazit Man kann sich am Ende dieser Ausführungen die Frage stellen, ob die Kapitalisierung des Bildungsbegriffs nun einen Verlust an humaner Substanz oder eine Profilierung angesichts einer drohenden Diffusität von Bildung bedeutet. Ausgehend von einer verbreiteten modernen und deshalb von deutschem Idealismus weitgehend unbelasteten Definition Adornos, „Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ 38 (wobei diese Definition, 36 37 38

Vgl. Bourdieu (1983), S. 191, Anm. 12. Vgl. Bourdieu (1983), S. 198. Adorno (1959/1972), S. 94.

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interessanterweise dennoch einige Elemente der eingangs zitierten Definition Nohls aufgreift) kann man Folgendes festhalten: Das Konzept der Bildung als Humankapital trifft zwar eine wichtige Bedeutungskomponente von Bildung, verkürzt den Bildungsbegriff aber unzulässigerweise auf eine rein ökonomische Dimension, eine Verkürzung, die nicht nur bei Pädagogen, die sich humanistischen Idealen verschrieben haben, auf Unverständnis trifft. Die Ausdifferenzierung der symbolischen Kapitalsorten bei Bourdieu dagegen erscheint als sinnvolle Form, um einer komplexen sozialen Wirklichkeit gerecht zu werden und die Wirksamkeit von Bildung zu beschreiben. Dieser große Vorteil der Mehrperspektivität erlaubt die Berücksichtigung der sozialen, einschließlich der sozialpolitischen Implikationen des Bildungsbegriffs. Damit wird es möglich, den kritischemanzipatorischen Kern des neuhumanistischen Bildungsbegriffs, der Humboldt so teuer war, zu bewahren. Bildung als kulturelles Kapital in Bourdieus Sinn schließt Humboldts Konzeption von Bildung nicht von vornherein aus. Die Parallelisierung von Bildung und kulturellem Kapital schlägt darüber hinaus eine Brücke von der gesellschaftlichen Funktion zur pädagogischen Wirklichkeit der Schule, eine Brücke, die den Begriff des kulturellen Kapitals als analytischen Begriff für die Erziehungswissenschaft besonders attraktiv macht.

Literatur Adorno, Theodor W. (1998 [1959]): Theorie der Halbbildung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I, Darmstadt, S. 93 –121. Becker, Gary S. (1996): Familie, Gesellschaft und Politik, hrsg. von Ingo Pies, Tübingen. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen, S. 183 –198. Dahrendorf, Ralf (1965): Bildung ist Bürgerrecht: Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg. Hörner, Wolfgang (2008): Bildung, in: Hörner, Wolfgang / Barbara Drinck / Solvejg Jobst (Hrsg): Bildung, Erziehung, Sozialisation. Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft, Opladen & Farmington Hills, S. 9 – 69. von Humboldt, Wilhelm (1964a): Bildung des Menschen in Schule und Universität, Heidelberg. von Humboldt, Wilhelm (1964b): Werke, Bd. 4: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart. Lemberg, Eugen (1963): Von der Erziehungswissenschaft zur Bildungsforschung. Das Bildungswesen als gesellschaftliche Institution, in: Lemberg, Eugen (Hrsg.): Das Bildungswesen als Gegenstand der Forschung, Heidelberg, S. 21 –100. Luhmann, Niklas / Schorr, Karl-Eberhard (1979): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Stuttgart.

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Nohl, Herman (1949): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 3. Aufl., Frankfurt / M. Schelsky, Helmut (1957): Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft, Würzburg. Schlosser, Horst Dieter (2005): Generelle Stellungnahme zum Unwort des Jahres „Humankapital“, online verfügbar unter: www.unwortdesjahres.org/2004.html (Abruf vom 20. 03. 07). Tippelt, Rudolf (2005): Handbuch Bildungsforschung, Wiesbaden.

Körperliche Bildung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung Von Alfred Richartz und Volker Schürmann 1 Es ist kein Widerspruch, nicht einmal ein Paradox in der Behauptung enthalten, dass einer schlecht praktiziert, was er vorzüglich predigt. Gilbert Ryle

I. Das Problem körperlicher Bildung Das Themenfeld der körperlichen Bildung, seine öffentliche Wahrnehmung und die Debatten darum sind durch einige Charakteristika ausgezeichnet, die dafür sorgen, dass die notorische Sprachverwirrung um den Bildungsbegriff hier noch übertroffen wird. Es geht nämlich nicht nur um die Frage, was Bildung sei und wie sie möglich gemacht oder gar erzeugt werden kann – es geht sofort im Kern darum, was mit „dem Körper“ gemeint sei, und was es also heißen könnte, ihn zu bilden. Was der Körper sei ist zunächst eine merkwürdige Frage, weil unserem Alltagsverständnis in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass es sich hierbei um das handelt, was wir dem Arzt überantworten, wenn Symptome, Schmerzen oder Funktionsausfälle auftreten. Diesem Alltagsverständnis stillschweigend vorausgesetzt ist der cartesische Dualismus von körperlich-physischer Existenz einerseits und bewusstseinsmäßiger andererseits, der das Körperverständnis in modernen Gesellschaften prägt. Ein solches Verständnis scheint heute altmodisch, aber dieser Konservatismus kann ins Feld führen, dass eine kategorial und empirisch fundierte Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen physischen und psychischen Prozessen im Subjekt immer noch aussteht. 2 1 Prof. Dr. Alfred Richartz ist Inhaber des Lehrstuhls für Sportpädagogik an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Prof. Dr. Volker Schürmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie, insbesondere Sportphilosophie an der Deutschen Sporthochschule Köln. 2 Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio hält in seinem Werk sehr sorgfältig zwei Beschreibungsebenen auseinander: die Ebene physischer Ereignisse und die Ebene der Vorstellungen, die in der deutschen Übersetzung als „geistige“ Existenz bezeichnet

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Neben diesem naturwissenschaftlichen Bild des Körpers existiert ein zweites Assoziationsfeld, das nicht minder einflussreich ist: Der „Körper“ ist darin geradezu der Hort des „Anderen der Vernunft“. 3 Der kategoriale Schnitt trennt hier die sachliche, moralische und soziale Vernunft auf der einen Seite von allen Erscheinungsformen der Natur, des Leibes, der Phantasie, des Begehrens und der Gefühle auf der anderen – „oder besser all dies, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können“. 4 Weil diese verschiedenen Körperbegriffe sich überlagern und unterschiedliche Resonanzen auslösen, werden in den Diskursen über den Körper und seine Bildung, den sprichwörtlichen Eisbergen gleich, erhebliche Sinnanteile unter der Oberfläche transportiert. Ein beredtes Beispiel für die Scheinplausibilitäten, die sich derart erzeugen lassen, ist die bekannte Formel des „mens sana in corpore sano“. Sie wird von Bildungsbeflissenen vorgebracht und verstanden als Beleg, schon im Altertum sei bekannt gewesen, dass ein gesunder Körper sich auf die geistige Gesundheit mindestens positiv auswirke, wenn nicht gar seine Voraussetzung sei. Heute kann jeder Leser mühelos und ohne die Textquelle aufzusuchen erfahren, dass hier eine grob verfälschende Zitation mit Täuschungsabsicht vorliegt. 5 Interessant an der ungebrochenen Popularität des Diktums 6 ist, dass die empfundene Plausibilität offenbar mühelos die kritische Aufdeckung der Täuschung überdauert. Der Rückgriff auf die Antike geschieht in legitimatorischer Absicht – als eine „alte Weisheit“ soll eine Ganzheitsvorstellung gegen den Körper-Seele-Dualismus in Anschlag gebracht werden, gleichzeitig wird an eine diffuse „Natürlichkeit“ und damit verbundene „Gesundheit“ appelliert. Damit sind die kategorialen „Problemfälle“ des Diskurses um die körperliche Bildung seit dem 18.Jahrhundert benannt. Aber es geht um mehr als um theoretische Konzepte. Es geht auch um die gesellschaftlich normierten Verwendungsweisen des Körpers: Wie antworten Fürsorgepersonen auf die körperlichen Artikulationen von Kindern? Welche Äußerungen von Körpervorgängen, von Emotionen, Bedürfnissen, Begehren, Berührungen sind in welchen Öffentlichkeiten in welcher Form erlaubt, möglich, wird. Er betont, dass dieses Vorgehen gerade nicht einem unwissentlichen Rückfall in den cartesischen Dualismus geschuldet ist, sondern gedanklicher Hygiene: Die Lücke zwischen beiden Ebenen kann heute noch nicht überbrückt werden; vgl. Damasio (2000), S. 388. 3 Böhme / Böhme (1985). 4 Böhme / Böhme (1985), S. 13. 5 „Ut tamen et poscas aliquid voveasque sacellis exta et candiduli divina tomacula porci, orandum est ut sit mens sana in corpore sano.“ – „Willst Du durchaus aber beten und Gaben dem Tempel versprechen, Eingeweide und Opferfleisch vom rosigen Ferkel, sollst Du gesunden Geist in gesundem Leibe erflehen.“ (Juvenal; zitiert nach Lenzen (1985), S. 226). 6 Vgl. Krüger (2008).

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geboten? Mittels welcher Techniken, Instrumente und Vorgehensweisen wird der Körper als Angriffspunkt für die Formung und Disziplinierung von Subjekten verwandt? Norbert Elias (1969), Michel Foucault (1976) und die ihnen nachfolgenden Sozialwissenschaftler haben die historisch-kulturellen Zusammenhänge einer körperlichen Bildung aufgezeigt; sie sind für die Reflexion unserer Fragen unabdingbar, aber im Rahmen dieses Beitrags lediglich benennbar. Weil der emphatische, klassische Bildungsbegriff die vernunftorientierte Subjektwerdung betont sowie ihre Funktion „den Menschen gegenüber den Verhältnissen, in denen er lebt, frei zu machen“, 7 scheint zunächst wenig einleuchtend, welche Bedeutung die Rede vom „Körper“ in diesem Zusammenhang haben solle: Körperliche Bildung bedarf – nach wie vor – einer legitimierenden Begründung. Warum soll Sport im Schulunterricht stattfinden und nicht nur in der Pause, in der Nachmittagsbetreuung oder auch ganz außerhalb der Schule? Die traditionellen Antworten darauf vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhundert variieren einige wenige Motive: − eine Kritik an einer einseitig intellektualistischen Bildung − eine Vorstellung von Gesundheit, die sowohl die physische Funktionsfähigkeit wie auch − eine normativ-moralische seelische Gesundheit beinhaltet, erworben als planmäßige Abhärtung gegen eine weichliche, ängstliche, flaue, zweifelnd-zögernde Haltung und gegen sinnliche Begierden, − eine Vorstellung von Männlichkeit, die mit Disziplin, Härte und Wehrhaftigkeit einhergeht. In modernen Konzepten der Körper- und Bewegungsbildung hat die Vorstellung von Gesundheit als physisch-psychische Funktionsfähigkeit ihren Platz verteidigt. Die Diskussionen über die motorischen Fähigkeiten und die körperliche Verfassung von Kindern und Heranwachsenden zeigen den unveränderten Stellenwert dieses Motivs. Hinzugetreten ist die Vorstellung einer allgemeinen Entwicklungsförderung als Verbesserung von Intelligenz, Leistungsmotivation, Beziehungsfähigkeit, Selbstvertrauen, Konzentrationsfähigkeit u.ä. 8 Auch die normativ-moralischen Bildungsziele sind weiterhin aktuell, nun in einem entsexualisierten Sinne, z. B. in der Olympischen Erziehung oder in der Erwartung, Sporttreiben beuge sozialen Abweichungen vor oder kuriere sie. Problematischerweise lässt sich eine Begründung für den modernen Sport als genuines Bildungsgut aus diesen Motiven nur schwerlich gewinnen, weil sie eine Nutzenfunktion von Bildung unterlegen. 9 Bei Protagonisten eines klassischen Bildungsbegriffs wie von Hentig findet sich körperliche Bildung berücksichtigt als „Wahrneh7 8 9

von Hentig (2008), S. 14. Vgl. Funke-Wieneke (2004). Dagegen ausführlicher Schürmann (2009).

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mung von Geschicklichkeit, Übung und Schärfung unserer sinnlichen Wahrnehmung“ und „Befreundung mit unserem Körper“. 10 Aktuell stilbildend für die Bildungsforschung ist das „pragmatische“ Konzept eines Kerncurriculums von Jürgen Baumert, in dem (schulische) Bildung als Kultivierung von Modi der Weltbegegnung gefasst wird. Körperliche Bildung ist auch hier eingeschlossen, und zwar unter der Rubrik „ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung“. 11 Weltbegegnung im Sportunterricht wird damit als „physische Expression“ verstanden. 12 Es ist also zu konstatieren, dass bei einem „klassischen“ wie einem „pragmatischen“ Bildungsbegriff ein Verständnis von körperlicher Bildung vorherrscht, das dem modernen Sport nur in einem schmalen Ausschnitt gerecht wird. Wie sich schon abzeichnete, ist das Themenfeld körperlicher Bildung durch eine Fülle von Ambivalenzen geprägt. Auf körperliche Bildung zu setzen, hat einen kritischen, in der Regel emanzipatorischen Stachel, gerichtet gegen die Vereinseitigungen und Ausgrenzungen intellektualistischer Bildung. Eine zentrale Ambivalenz liegt darin, dass sich dieser emanzipatorische Stachel dem Wortlaut nach genauso in antiemanzipatorischen Körperpolitiken wiederfindet. Die Kritik an einer einseitig intellektualistischen Bildung hat zwei Aspekte: Zunächst ist solche Kritik schlicht das Plädoyer einer quantitativen Ausweitung auf einen vermeintlich oder tatsächlich vernachlässigten Bereich. Zweitens aber, und letztlich entscheidend, wird mit dem Verweis auf körperliche Bildung die Spezifik eines, wie auch immer gefassten, nicht-diskursiven Modus von Bildung eingeklagt. Diese „andere“ Bildung kann sich beziehen auf nicht-sprachliche Symbolbildung, wie dies bei Baumert intendiert ist, erschöpft sich aber darin nicht, wenn man an die Kultivierung der spielerischen Beherrschung des eigenen Körpers oder von Spielobjekten (Bällen usw.), die Kultivierung körperlicher Kampfszenarien (Judo) oder der spielerischen Verbindung beider (Fußball) denkt. Die Eigenart körperliche Bildung verweist auf einen Tatbestand, der durchaus auch bereits für die intellektuelle Bildung gilt: Dass Bildung nicht darin aufgeht, über bewusstes „Wissen, dass“ zu verfügen, sondern wesentlich ein Können ist, ein prozedurales Wissen, das möglicherweise nie bewusst war. Am sinnfälligen Beispiel Tanz gesprochen: Tanzen zu können, ist sicher falsch beschrieben, wenn man es als Umsetzung eines Wissens in das Tun beschreibt. Es ist erheblich plausibler, hier die Logik auf den Kopf zu stellen: Man kann tanzen auch und gerade dann, wenn man sich und anderen keine Rechenschaft darüber ablegen kann, warum man wann welche Bewegung vollzieht – sich darüber Rechenschaft ablegen zu können, ist eine nachträgliche, zusätzliche Kunst – der Tanz selber funktioniert auch ohne solches Wissen. 10 11 12

von Hentig (2008), S. 14. Baumert (2002), S. 113. Baumert (2008), S. 19.

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Und exakt hier, in diesem Anliegen, einen nicht-diskursiven Modus von Bildung einzuklagen, liegt die Ambivalenz: Gegen alle Emanzipationsbemühungen blühen hier nämlich die Unmittelbarkeitsanrufungen. In aller Regel, geradezu zwanghaft und scheinbar alternativlos wird aus der Differenz von Seele und Körper die Differenz von diskursivem Verstand und unmittelbarer Leiberfahrung, oder verallgemeinert: von kulturellen Vermitteltheiten und der Unmittelbarkeit eines Natürlichen. Der für jede kritische Distanznahme definitive Bruch im Erfahrungsfluss ist mit solchen Unmittelbarkeitszumutungen abgeschafft. Der Körper gerät dann unter dem Titel körperlicher Bildung zu einem Vehikel von Disziplin, Gehorsam und Funktionserfüllung eines (austauschbaren) vorgegebenen Zwecks. Oder anders gesagt: Das antiintellektualistische Plädoyer für körperliche Bildung ist strukturell dafür anfällig, zur gegenaufklärerischen Kulturkritik zu geraten. Wie schnell hier ein emanzipatorisches Interesse umkippen kann, kann man sich an den entsprechenden Lehr- / Lernformen der in Frage kommenden unterschiedlichen Wissensformen sehr leicht klar machen: Der Unterschied von „Wissen, dass“ und Können ist immer auch ein Unterschied in der Aneignung solchen Wissens. 13 Die Wissensform des Könnens ist an ein Einüben gebunden. Die moderne Expertiseforschung bestätigt eine Auffassung, die in der sportlichen, aber auch in der tänzerischen, musikalischen oder sonst körper- und könnensbezogenen Ausbildung als Gemeinplatz gilt: Dass allein die dauerhafte, zielgerichtete und systematische Wiederholung definierter Übungen zu guten und sehr guten Leistungen in diesen Domänen führt. 14 Aber wie ein Einübeprozess in der Weise organisiert werden kann, dass er nicht zu einem kritiklosen und diszipliniertem Nachvollzug eines vorgegebenen Inhalts gerät, sondern auch als Einübung auf freier Zustimmung basiert, ist alles andere als evident. Im Gegenteil: Aussichtsreiches Üben ist nach Ericsson u. a. gekennzeichnet durch Anleitung, Anstrengung sowie die Abwesenheit unmittelbarer Belohnungen oder inhärenter Freude. Es scheint deshalb alles auf den diszipinierter Nachvollzug der Anweisung von Wissenden hinauszulaufen, wenn man derartiges Können erwerben will. 15 Die Sachlage des Zwischen (Aufklärung und Gegenaufklärung) ist für das Themenfeld körperliche Bildung insofern durch einen Dreischritt charakterisiert: 1. Ausgangspunkt ist die Unterscheidung von Seele und Körper: So sehr wir das heute beinahe nur noch als old school hören, und so sehr diese Unterschei13 Eine grundlegende Sichtung des theoretischen und empirischen Status Quo zu diesem Problem leistet Neuweg (2001). 14 Vgl. Ericsson / Krampe / Tesch-Röder (1993). 15 Sowohl für den Nachwuchs- und Spitzensport wurde allerdings in neueren Studien die langfristige Bedeutung von Spiel und Freude in Trainingsprozessen gezeigt, vgl. z. B. Willimczik / Kronsbein (2005).

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dung auch tatsächlich oft einem sicher falschen Dualismus das Wort redet, so ist doch zunächst darauf zu beharren, dass es sich dabei um eine kategoriale Unterscheidung handelt, die man notwendigerweise getroffen hat, wenn man überhaupt von Emanzipation resp. Mündigkeit redet: ‚Seele‘ steht als Problemtitel für das bewegende oder steuernde Prinzip, ‚Körper‘ steht als Problemtitel für dasjenige, was bewegt oder gesteuert wird. – Das Plädoyer für körperliche Bildung ist ein jeweils konkret-historisch situiertes Plädoyer dafür, hier eine historischbestimmt praktizierte Grenzziehung zu verschieben. In der klassischen Version: Typischerweise wird der menschliche Verstand, das Denken, die Handlungsabsicht als steuernde Instanz genommen – in einer solchen historisch-kulturellen Großwetterlage ist das Plädoyer für körperliche Bildung ein Plädoyer, z. B. die Sinnlichkeit oder die Emotionen aus ihrem Status des bloß Gegebenen, des bloß Gesteuerten zu befreien und diesen ‚körperlichen‘ Instanzen selber eine Steuerungsfunktion zuzubilligen. 2. Die eigentliche Pointe des Plädoyers für körperliche Bildung liegt in dem Beharren auf einer Besonderheit: Das Körperliche (was immer jetzt konkret historisch darunter fällt) habe nicht nur überhaupt eine Steuerungsfunktion, sondern eine solche, die in gänzlich anderer Weise steuert (das Körperliche ist jetzt also eine Binnendifferenzierung des Seelischen): das Körperliche steuere den Menschen, obwohl es dem direkten wollenden Zugriff gerade entzogen ist – es sei ein Irrglauben, Steuerung mit bewusst-willentlicher Steuerung zu identifizieren. 3. Die Preisgabe des emanzipatorischen Anspruchs ist mit der suggestiven Identifikation einer solchen nicht-bewusst-willentlichen Steuerung mit „unmittelbarer Steuerung“ vollzogen: Damit ist die Differenz zwischen Steuerung und Getriebensein, und folglich der emanzipatorische Gedanke der Selbststeuerung preisgegeben. Ein sichtbarer Indikator dieser Preisgabe liegt in einer unscheinbaren Verschiebung der Metaphorik resp. der gewählten Problemtitel: Dort wird die Seele-Körper-Unterscheidung mit der Unterscheidung von Kultur und Natur identifiziert: Seele=Kultur als Titel für das durch den Menschen Gestaltete vs. Körper=Natur als Titel für das dem Menschen Vorgegebene. Der Kampf um körperliche Bildung findet also, so gesehen, gleichsam an zwei Fronten statt: 1. Wo verläuft die Grenze zwischen steuernder und gesteuerter Instanz? – Dass es eine solche Grenze gibt, ist mit jeder Rede vom mündigen Menschen gesetzt. Hier liegt das notorische Folgeproblem jedes strikten Monismus von Körper und Seele. 2. Worin liegt die Besonderheit des Körperlichen? Welcher Status kommt ihm zu? – In dieser Hinsicht ist der Streit zwischen den Intellektualisten und den Körperlichen oft nur ein Gezänk, denn beide Seiten unterstellen in der Regel, dass das Körperliche im Status des unmittelbar Natürlichen vorliegt – was dann von den einen gefeiert und den anderen als irrational bekämpft wird.

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Subtile Kategorien wie eine Hegelsche vermittelte Unmittelbarkeit oder eine Plessnersche natürliche Künstlichkeit finden selten Eingang – höchstens werden sie gelegentlich selber zu plakativen Formeln im Diskurs. Das Konzept einer prinzipiellen Vermitteltheit menschlichen Tuns müsste die duale Unterscheidung von Körper und Seele umstellen auf eine Dreiheit von Binnen-, Außen- und Mitwelt: mind, body, spirit. Bei der ausgesprochen verwickelten Problemlage scheint es aber nützlich, auch eine gleichsam zweite intellektuelle Strategie in Augenschein zu nehmen. Der Körper-Seele-Dualismus hat offenbar durch das historisch-kulturelle Erbe im menschlichen Denken und vor allem durch seine alltagstheoretische Evidenz eine außerordentliche Plausibilität. Damit nicht genug, lässt sich zeigen, dass die entwicklungspsychologisch außerordentlich folgenschwere und notwendige Herausbildung einer Theory of Mind und die intuitive Unterscheidung belebter von unbelebten Objekten dazu führen, dass sich in der Subjektgenese selbst ein übermächtiger intuitiver Dualismus etabliert: 16 „We all act as Dualists“, konstatiert der Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga (2008). Es stellt sich deshalb die Frage, ob wissenschaftliche Arbeit an Kategorienklarheit gegen diese Kategoriengewohnheit eine faire Chance hat. Zudem hätte eine Kategorie, die „das Steuernde“ im Subjekt insgesamt umfassen soll, nach heutiger Befundlage eine außerordentlich komplizierte Aufgabe. Konnte Sigmund Freud noch das Unbewußte als Triebhaftes oder Verdrängtes denken und damit als Naturhaftes der Kulturerrungenschaft des Ichs gegenüberstellen („Wo Es war soll Ich werden“), wissen wir heute, das weite Teile der menschlichen Informationsverarbeitung, der Entscheidungsfindung, der Motivierung und Handlungssteuerung, der Interpretation und Bewertung von Wahrnehmungen dem Unbewussten angehören. 17 Teile dieser Prozesse können bewusst werden, andere nicht. Die bewussten Anteile entstehen häufig genug post faktum und sind also nachträgliche Interpretationen des Geschehens, obwohl dies dem Subjekt selbst kaum durchschaubar ist. Gazzaniga (1989) hat dies in vielen Experimenten gezeigt und die Existenz eines neuronalen Interpreter-Moduls plausibel gemacht. Der Interpreter ist ständig und geradezu zwanghaft damit beschäftigt, Kausalzusammenhänge in Wahrnehmungen der Außenwelt aber auch der Innenwelt zu entdecken. Dass diese Interpretationsleistungen erbracht werden, ist für Menschen offenbar unausweichlich, verbürgt aber nicht deren Triftigkeit – auch nicht, wenn es sich um Introspektion handelt. 18 Schwerer wiegt allerdings noch der Gedanke, dass eine Einheitlichkeit, die „das Steuernde“ sein könnte, eine problematische Vorstellung ist. Hatte schon Freud entdeckt, dass das subjektive Gefühl der personalen 16

Vgl. Bloom (2004). Vgl. Damasio (1999), Wilson (2002), Gigerenzer (2007), Roth (2007), Gazzaniga (2008). 18 Salopp-spöttisch bezeichnet Gazzaniga das Interpreter-Modul gern als „know-itall“, als Schlauberger. 17

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Identität als eine permanent wiederhergestellte Syntheseleistung von konfligierenden Instanzen begriffen werden muss, so hat sich diese Einsicht weiter vertieft. Gerhard Roth 19 spricht von einer „Multi-Zentralität“ der Persönlichkeit und unterscheidet vier Ebenen als abgegrenzte Komponenten – die vegetativ-affektive Ebene, die Ebene der emotionalen Konditionierung, das individuell-soziale Ich und das kognitiv-kommunikative Ich. Andere Forscher gehen noch weiter: In ihren Modellen bestehen die Hirnfunktionen aus sehr vielen verschiedenen Modulen 20 oder neuralen Systemen 21, die hauptsächlich automatisch und parallel arbeiten. Jedes einzelne Modul entwickelt sich lebensgeschichtlich aus der Verarbeitung von Transaktionen zwischen genetisch angelegter Vorverdrahtung und Erfahrungsfeedback. Die Reichweite der einzelnen Module, dies ist ein entscheidender Aspekt, ist dabei viel geringer, als die „großen“ Kategorien wie „Körper“, „Verstand“, „Gefühl“ usw. erwarten lassen: So unterscheidet Gazzaniga 22 allein im Bereich des moralischen Urteils u. a. die Module „Reziprozität“, „Mitleiden“, „Hierarchie“, „In-Group / Out-Group-Unterscheidung“ und „Reinheit“. Das handelnde und das gefühlte Selbst muss deshalb verstanden werden als je aktuelle Syntheseleistung dieser modularen Vielfalt oder als Verknüpfung eines „Netzes“ 23 von Teilsystemen – möglicherweise als Ergebnis von Emergenz auf einer höherliegenden von vielen kontigenten Wirklichkeitsebenen. 24 Der Ausfall von Modulen oder Teilsystemen kann deshalb zu dramatischen Veränderungen im Syntheseergebnis führen. Aus dieser Perspektive scheint zumindest die Gefahr groß, mit Festhalten an den überkommenen Kategorien „Körper“, „Geist“ und „Seele“ Missverständnissen und Sprachverwirrungen in die Hände zu spielen. Aussichtsreicher scheint dann, ihnen geradezu aus dem Weg zu gehen und „kleinere Brötchen“ zu backen, die sich auf konkretere Zusammenhänge beziehen lassen. Diese zweite Strategie ist freilich dem Einwand ausgesetzt, nicht hinreichend zwischen Kategorien und empirischen Begriffen zu unterscheiden. Die für das Backen von kleinen Brötchen je schon notwendige Inanspruchnahme von bereitetem Teig werde geleugnet, indem notwendige kategoriale Rahmungen durch empirische Begriffe ersetzt werden sollen. 25 In den folgenden Abschnitten wollen wir diese programmatische Skizze anhand einiger Beispiele historisch und systematisch stärker konturieren.

19 20 21 22 23 24 25

Roth (2007), S. 90ff. Vgl. Gazzaniga (2008). LeDoux (2003). Gazzaniga (2008), S. 132ff. LeDoux (2003). Vgl. Gazzaniga (2009). Vgl. Schürmann (2007).

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1. Der, an dem sich die Geister scheiden: Rousseau Jean-Jacques Rousseau (1712 –1778) ist die Stiftungsfigur moderner Sportpädagogik. Er ist der, neben Herder, wohl exponierteste Vertreter jener marginalen Fraktion der Aufklärer, die in der Mündigkeit des Einzelnen mehr und anderes vermutet als die Fähigkeit des Selbst-Denkens. Rousseau klagt die Rolle des Körpers in und für die individuelle Entwicklung ein, festgemacht an Sinnlichkeit, Emotionen und Leidenschaften. Eine Reduktion auf die Bildung des Verstandes komme gleichsam zu spät; der Verstand könne nur das steuern und regulieren, was körperlich-eigensinnig schon eine eigene Richtung hat 26 – und eine Erziehung, der es tatsächlich um Emanzipation geht, soll diese Eigensinnigkeit der je einmaligen Person pflegen. Es ist freien Menschen nicht würdig, vorgegebenen Entwicklungsrichtungen zu folgen. 27 Eine Erziehung in emanzipatorischer Absicht hat, so die Emphase Rousseaus, eine „negative Pädagogik“ zu sein, denn jede positive Pädagogik gibt das Erziehungsziel vor und ist insofern nicht an der Entwicklung der zu Erziehenden, sondern am eigenen Interesse des Erziehenden orientiert. Das ist der emanzipatorische Rousseau, der Theoretiker der Französischen Revolution, der emphatische Aufklärer. Aber Rousseau spielt auch mindestens zwei andere Rollen: a) die Rolle des Stifters des Rousseauismus, der Kulturkritik: Rousseaus Emile beginnt mit einem Paukenschlag: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ 28 Nimmt man diese Aussage allzu wörtlich – und die Geschichte der Kulturkritik kann man dadurch definieren, diese Aussage allzu wörtlich genommen zu haben –, dann wird Rousseau zur Anrufungsinstanz all derjenigen, die ein Problem mit den Vermitteltheiten der Kultur haben und sich zurück zur vermeintlichen Unschuld eines natürlich Gegebenen sehnen; b) die Rolle des Patriarchen: Das verbale Bekenntnis zur Selbst-Entwicklung der zu Erziehenden ist in dieser Rolle einfach nur die effektivere Variante der Fremdsteuerung durch den Erziehenden: Es ist sozusagen klüger, dem Kind die Illusion zu geben, es selber sei im Erziehungsprozess der Bestimmer. „Durch diese und ähnliche Mittel brachte ich ihn in der kurzen Zeit, in der ich ihn betreu26 „Der Irrtum der meisten Moralisten war schon immer, den Menschen für ein im wesentlichen vernünftiges Wesen zu halten. Der Mensch ist aber nur ein fühlendes Wesen, das einzig und allein seine Leidenschaften beim Handeln befragt, und dem die Vernunft nur dazu dient, um die Dummheiten auszubügeln, die er ihretwegen begeht“ (Rousseau (1977), S. 278). 27 „Ich predige dir, mein junger Erzieher, eine schwere Kunst: Kinder ohne Vorschriften zu leiten und durch Nichtstun alles zu tun“ (Rousseau (1762a), S. 104). 28 Rousseau (1972a), S. 9.

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te, dahin, daß er alles tat, was ich wollte, ohne Vorschriften, ohne Verbote, ohne Predigten und Ermahnungen, ohne nutzlose und langweilige Belehrungen.“ 29 Diese beiden zuletzt genannten Rollen sind sowohl in den Texten Rousseaus als auch in der Rezeptionsgeschichte extrem aufdringlich, und deshalb wird Rousseau unter emanzipatorisch gesinnten Menschen auch völlig zu Recht nur noch mit spitzen Fingern angefasst oder gleich wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Es verbietet sich zudem (bei emanzipatorischer Absicht) jeder eklektische Umgang mit Rousseau: Wer den Aufklärer Rousseau einstreichen will, der bekommt den Kulturkritiker und Patriarchen frei Haus. Es hilft nicht, es aufklärerisch zu meinen, denn es ist sachlich zwingend, das Konzept der negativen Pädagogik zu spezifizieren. Wenn man, wie auch Rousseau es tut, eine negative Pädagogik von einem bloßen pädagogischen Nichtstun unterscheiden will, dann muss die programmatische nicht-Vorgabe eines fixen Erziehungsziels gleichwohl verträglich gemacht werden mit legitimen pädagogischen Eingriffen. Und in dieser Hinsicht sind die kulturkritische und die paternalistische Option in der Sache naheliegende ‚Auswege‘. Der Verweis auf eine Unschuld der Natürlichkeit legitimiert das Tun des Erziehers als aktives Nichttun, das die Verbildung des Zöglings durch die Kultur verhindere; der Verweis auf die faktische Asymmetrie der Beziehung Erziehender / zu Erziehender kann unter Verweis auf die guten Absichten eines guten Erziehers jeden Paternalismus rechtfertigen. Es liegt daher nahe, diese Rezeptionsgeschichte „gegen den Strich“ zu lesen. Was geschieht, wenn man den Aufklärer Rousseau ernst nimmt? Dann sind seine Texte Lerngelegenheiten, denn dann kann man, bei emanzipatorischem Interesse, an ihnen studieren, warum und an welchen Orten sie in jene beiden arg unsympathischen Rollen umkippen. Man lernt dann die Folgeprobleme kennen, die ein Plädoyer für körperliche Bildung in emanzipatorischer Absicht wird lösen müssen. Das kann jetzt hier nur thesenartig geschehen: 1. Die beiden genannten anti-emanzipatorischen Rollen hängen auf das Engste miteinander zusammen. Beide betreffen sie die Frage, woher man den Maßstab nimmt, eine individuelle Entwicklung als eine gute Entwicklung zu beurteilen. 2. Der Paukenschlag einer vermeintlichen Entgegensetzung von menschengemachter Kultur und unschuldiger Natur darf bei Rousseau auf gar keinen Fall wörtlich genommen werden. Der Verweis auf Natur ist bei Rousseau identisch mit dem Verweis auf einen gesuchten Maßstab der Beurteilung kulturellen Tuns. Natur ist hier sozusagen als terminologische Metapher zu nehmen, und es ist der Sache nach die Figur eines kontrafaktisch anzusetzenden Ideals. Natürlichkeit verweist bei Rousseau auf angestrebte Verbindlichkeit des Ideals, nicht 29

Ebd., S. 110.

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aber – auch explizit nicht 30 – auf ein von Natur aus Gegebenes, was Menschen nur hinnehmen, nicht aber gestalten könnten. 3. Die eigentliche Schwäche von Rousseau liegt darin, dass jener Maßstab bei ihm nicht intersubjektiv, nicht öffentlich ausgewiesen, begründet, umstritten ist, sondern privat durch einen einzelnen selbsternannten guten Erziehenden gesetzt wird. Exakt deshalb muss der Erziehungsprozess den genannten patriarchalen Zug bekommen. Es ist der patriarchale Rousseau, der Bekenntnisse schreibt, der also nicht mit anderen streitet, was gute Erziehung sein könnte, sondern der selbstgefällig, eitel, narzistisch nur mit sich selber ins Gericht geht. Zwischenfazit Eines der zentralen Folgeprobleme jeder Rede von körperlicher Bildung in emanzipatorischer Absicht ist die Begründung resp. Legitimierung des Maßstabes zur Beurteilung guter Bildungsprozesse. Diese normative Dimension kann schlechterdings nicht allein empirisch bestimmt werden: Prozesse sagen nicht selber, wie sie beurteilt werden wollen – das müssen wir schon selber tun. Die minimale Bedingung bei emanzipatorischer Absicht ist – dies kann anhand der Texte Rousseaus gelernt werden –, dass dieser Maßstab keine individuelle Geschmacksfrage bleibt, sondern sich in öffentlicher Auseinandersetzung legitimiert. Oder als Formel: Die jeder Rede von körperlicher Bildung zugrunde liegende Unterscheidung von Seele und Körper muss bei emanzipatorischer Absicht in eine kategoriale Dreiheit von Seele – Körper – Geist (spirit, not mind; Mitwelt) transformiert werden – jedenfalls, wenn man an diesen Kategorien festhalten will und ihnen nicht, wie in der zweiten Strategie vorgeschlagen, vorsichtshalber aus dem Weg geht und andere analytische Kategorien in den Mittelpunkt stellt. 2. Ein klarer Fall: Philanthropismus als Körperdisziplinierung Pädagogisches Nichtstun ist nicht Sache der Philanthropen. Sie bestellen den von Rousseau bereiteten Boden einer Körperpädagogik, halten sich aber mit den Ambivalenzen des Anliegens nicht weiter auf. Sie wollen wieder eine positive Pädagogik, weil sie unter „negativer Pädagogik“ nichts anderes bereit sind zu verstehen als ein Plädoyer, gar nicht in den Erziehungsprozess einzugreifen. Ihre Propaganda geht gezielt an Rousseaus Anliegen vorbei – mit dem wirkmächtigen Effekt, das Problemfeld gänzlich anders zu akzentuieren. ‚Plötzlich‘ ist nicht mehr im Blick, dass fixierte Erziehungsziele ein prinzipielles Problem je30

Vgl. exemplarisch Rousseau (1755), S. 23 und 33.

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der Erziehung zur Mündigkeit sind, sondern nunmehr ist nur noch Thema, wie Erziehungsprozesse ‚besser‘, mithin restlos operationalisiert werden können. Die Parole ist jetzt, dass negative Pädagogik die Talente der Individuen brach liegen lasse, die es aber stattdessen zielgerichtet auszubilden gelte. Philanthropen verschmähen das freie Spielen; in den Philanthropinen gibt es nur noch nützliche, pädagogisch ‚wertvolle‘ Spiele und, in erster Linie, methodisch geleitete Übungen, die sich das Material der feudalen Exerzitien zunutze machen. Der Charakter des Philanthropismus schnurrt auf eine Formel zusammen, die GutsMuths geprägt hat: Gymnastik ist Arbeit! Beschönigt wird das durch den Zusatz: Arbeit im Gewande jugendlicher Freude. Gymnastik hat somit einen Nutzen für einen (austauschbaren) fixierten Zweck zu erbringen. Gymnastik im Geiste des Philanthropismus soll den Körper und dessen Eigensinn ruhig stellen und disziplinieren. 31 Das Motto lautet: Wer Gymnastik treibt, kommt nicht auf dumme Gedanken. Das Motto besteht bis heute, die Inhalte kommen und gehen. Damals: Wer Gymnastik treibt, der onaniert nicht. 32 Heute: Wer Sport treibt, der lässt sich nicht hängen. Wenn es wieder einmal gilt, die gesellschaftliche Irrelevanz körperlicher Bildung oder gar den „Verfall“ der körperlichen Kräfte der Jugend zu beklagen, dann sind die Philanthropen eine beliebte und allererste Referenzadresse: Sie hätten die „Einheit von Körper und Seele“ und damit die Relevanz des Körpers herausgestellt. Ein einziger Blick hinter die Kulissen genügt jedoch, um auch dort die reine Nutzenfunktion des Körpers begründet zu finden. Schon der Beginn des Buches von Villaume (1787) sagt alles. Der Körper ist im Vergleich zur Seele ohne eigene Dignität: Er ist endlich, sterblich und hinsichtlich seiner Kräfte nur sehr begrenzt entwicklungsfähig. Demgegenüber ist die Seele unsterblich; sie ist zwar nicht unendlich in ihrer Kraft, aber doch „unbestimmbar“. 33 Darin liegt eine feine Unterscheidung: Im Unterschied zu Gott ist die Seele des Menschen nicht perfekt (= nicht von unendlicher Kraft, d. h. nicht allwissend und allmächtig), aber doch derart, dass jede je konkret erreichte und realisierte Kraft überboten werden kann (= unbestimmbar). Es gibt daher keine prinzipielle Schranke ihrer Verbesserungsfähigkeit. Die „unbegrenzte Verbesserbarkeit“, die Perfektibilität, von der die Philanthropen reden, bezieht sich also bei Villaume nicht auf den Körper, sondern auf 31

Der körperliche Niedergang der bürgerlichen Jugend, im Vergleich zu Gesundheit und Stärke der „Naturvölker“, sei wegen des „Zusammenhangs zwischen Moralität und Körperbeschaffenheit“ gleichzeitig Symptom einer um sich greifenden Lasterhaftigkeit und Verdorbenheit, schreibt GutsMuths. Seine körperlichen Übungen konzipiert er als Teil einer umfassenden Lebensführung mit kühlen Betten, mäßigem Essen, beständiger Tätigkeit und körperlicher Abhärtung – von einem solchen Gesamttableau erwartet er die segensreichen Wirkungen körperlicher Bildung (GutsMuths (1793)). 32 Richartz (1992b), Meyer-Drawe (2004). 33 Villaume (1787), S. 6.

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die Seele. Die Kräfte des Körpers kann man zwar verbessern, aber doch nur sehr begrenzt: „Gesetzt er könne die Muskelkraft des Pferdes bekommen – er wird doch nimmermehr den Elephanten erreichen.“ 34 Genau dieser Beschränktheit unterliegt die Seele aber nicht: „Aber die Seele kann mit ihrem Verstande, den Elephanten bändigen.“ Und Villaume stellt die rein rhetorische Frage: „Wo ist der Punkt, von welchem man sagen könnte: Weiter kann der Mensch nicht kommen!“ 35 „Seele“ bedeutet dort also zweierlei, und beides zugleich: Zum einen ist es ein Titel für das, was den Menschen von allen anderen Dingen der Natur unterscheidet, was in der Aufklärung typischerweise die ratio, der Verstand ist. Zum anderen, und beides wird genauso typisch miteinander identifiziert, bezeichnet ‚Seele‘ dasjenige, was sich bei allen Veränderungen des Menschen als das Identische erweist, das den Menschen zum Menschen macht. Der Körper des Menschen ändert sich permanent, aber er ändert sich in einer solchen Weise, dass es dabei ein menschlicher Körper bleibt, der in all seinen Veränderungen nicht zum Tier, Engel, Teufel oder Gott wird. Erst der Tod ist dann eine ganz andere Sorte von Veränderung des Körpers. Solange der Körper aber lebt, solange ist die Seele das „Unsterbliche“ des Körpers, denn sie verändert sich bei all diesen körperlichen Veränderungen nicht. Leibniz hatte das so ausgedrückt, dass die „Monaden“ nur mit einem Schlag entstehen und vergehen können, sich also nicht allmählich verändern. In diesem Sinne ist die Seele „das Wesen des Menschen“, 36 und daher ist es den Philanthropen möglich, jene aufgezeigte Perfektibilität der Seele mit der Perfektibilität des Menschen gleichzusetzen, denn die Seele, nicht aber der Körper, macht dort den Menschen zum Menschen. Der Körper ist dort grundsätzlich nur Mittel, nur Werkzeug. Wie schon erwähnt, betont Villaume ausdrücklich die Differenz zwischen Mensch und Gott: „Unendlich ist ihre [der Seele] Kraft freilich nicht, aber doch unbestimmbar.“ 37 Für Villaume stimmt also nicht, wenn Eugen König 38 behauptet, die Philanthropen würden dem Menschen uneingeschränkte Mächtigkeit, ja „geradezu göttliche Allmacht“ zusprechen. Die Philanthropen waren viel zu brav, um so ketzerisch sein zu können: Gott ist ja bereits allmächtig, also braucht und kann er sich auch gar nicht verbessern. Verbessern kann und muss sich nur der Mensch. Dann jedoch – auf der Basis dieser klaren und eindeutigen, und auch nirgends wieder zurück genommenen Asymmetrie von Körper und Seele – postuliert 34 35 36 37 38

Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Villaume (1787), S. 5. Ebd., S. 6. König (1993), S. 25.

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Villaume auch eine umgekehrte Abhängigkeit der Seele von der Entwicklung des Körpers: Die Seele, besser: ihre Kräfte (denn sie selbst entwickelt sich gar nicht, da sie unsterblich ist) könne sich nur durch die Tätigkeit des Körpers entwickeln. „Freilich ist die Seele das Wesen, die eigentliche Kraft, der Leib ist nur Werkzeug. Aber er ist Werkzeug, einiges und universales Werkzeug, wodurch einzig und allein die Kräfte der Seele entwickelt werden und sich äußern können. Und ohne gutes Werkzeug kann der geschickteste Künstler nichts verrichten.“ 39 Und Villaume betont im direkten Anschluss selbst den entscheidenden Punkt: „Man bedenke dieses wohl – nicht bloß Werkzeug der Thätigkeit, sondern Werkzeug der Entwickelung und Vervollkommnung der Kräfte!“ 40 Das bedeutet, dass der Körper nicht nur das notwendige Werkzeug ist, um die Vorstellungen der Seele in die Wirklichkeit umzusetzen. Das wäre banal und nicht eigens der Rede wert; in der Analogie: Es ist nicht besonders aufregend zu betonen, dass jeder Maler einen Pinsel benötigt, um malen zu können. Was aber weder banal noch selbstverständlich wäre, ist die These, dass der Gebrauch des Pinsels, also das Malen selbst, das Mittel ist, diejenige Vorstellung erst zu bilden, die der Maler von dem hat, was er malen will. Das aber ist in der Analogie das, was Villaume in Bezug auf das Verhältnis von Seele und Körper behauptet: Dass erst der Mittelgebrauch, also das körperliche Tun, dazu führt, die Kräfte der Seele zu entwickeln und zu vervollkommnen. Also: Die These von Villaume ist nicht die Banalität, dass Menschen einen Körper benötigen, um ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen, sondern dass sich im körperlichen Vollzug jene „Kräfte der Seele“ erst bilden. Das richtet sich kritisch gegen das damalige Schulwesen, das die körperliche Betätigung angeblich völlig vernachlässige und die Schüler nur mit Buchwissen vollstopfe. Körperliche Entwicklung bekommt also ein großes Gewicht; aber nur deshalb, weil der Körper ein Mittel, ein Werkzeug ist. Zwar sei er nicht nur ein Mittel der Ausführung, sondern ein Mittel der Bildung der Seele (ohne körperliche Betätigung würden die Kräfte der Seele „ewig unentwickelt darin schlummern“), 41 aber es geht nicht eigentlich darum, den Körper zu bilden. Dennoch redet Villaume davon, den Körper nicht „ungebildet“ 42 zu lassen. Der Körper zu bilden, heißt dort aber nichts anderes, als ihn zu üben, 43 d. h. seinen Werkzeugcharakter zu optimieren. Die sog. Bildung des Körpers bei Villaume ist nichts, was sich (im Sinne eines Herderschen Bildungsbegriffs) ergibt, sondern was aktiv hergestellt werden muss.

39 40 41 42 43

Villaume (1787), S. 7. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 9.

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Der Körper müsse gebildet werden, damit 1. „die Seele durch ihn ihre Kräfte entwickeln könne“; 2. damit er guter und funktionierender Befehlsempfänger der Seele sein kann; und 3. damit er wohlgeordnet und gesittet-diszipliniert ist: damit er die Seele nicht „durch Schmerzen, durch übermäßige Gefühle und Wallungen des Blutes“ und überschäumende Leidenschaften störe. 44 In Bezug auf den Körper ist die oben zitierte Charakterisierung von Eugen König also durchaus zutreffend. Philanthropen meinen, den Körper rein nach eigenem Bilde formen zu können. In Bezug auf den Körper wähnen sie den Erzieher gleichsam in Gottes Position: Den Körper nicht so zu bilden und nicht so zu beherrschen, wie man es sich vorgenommen hat, ist dort prinzipiell ein Zeichen von Schwäche und Versagen. Der ursprüngliche passivische Kerngehalt der Leidenschaften – dass Leidenschaften vom Menschen Besitz ergreifen und nicht umgekehrt – wird vollständig umgekehrt zu einem Modell der Beherrschung der Leidenschaften. Das wird u. a. und sehr schön auch daran sichtbar, dass Philanthropen keine Krankheiten als Schicksalsschläge kennen, die einem einfach zustoßen, ohne dass man für sie verantwortlich wäre. Die Notwendigkeit des Einsatzes von Medizin und Heilkunst gilt den Philanthropen immer als ein Zeichen mangelnder oder verfehlter (Vor-)Sorge. 45 Zwischenfazit Wer in emanzipatorischer Absicht an körperlicher Bildung interessiert ist, kann an die falschen Bündnispartner geraten. Die Formel von der „Einheit von Körper und Seele“ ist zum Beispiel eine Einladung zur Disziplinierung von Körpern, weil sie auf einer bloßen Dualität fußt. 3. Ein umstrittener Fall: Das Jahnsche Turnen Eine Analyse des Jahnschen Turnens verlangt von vornherein zwei unterschiedene Perspektiven. Es ist einerseits eine soziale Bewegung – die Turnbewegung als Teil der Nationalbewegung 46 –, die Eigentümlichkeiten aufweist, die ihr als soziale Bewegung zukommen. Solche Eigentümlichkeiten sind nicht reduzierbar auf das Handeln, gar auf die Motive der einzelnen Mitglieder der Bewegung, und seien diese noch so bedeutsam für die Bewegung. Eine soziale Bewegung ist in der Regel ein außerordentlich komplexes System, das lebendig gehalten wird von einem kontinuierlichen Fluss von öffentlich kommunizierten Sinnangeboten, Umarbeitungen, Umdeutungen und Koexistenzen unterschiedlicher Interpretati44 45 46

Ebd., S. 25. Vgl. König (1993), S. 42f. Vgl. exemplarisch Düding (1997).

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onsgemeinschaften. Das Gefühl von Verbundheit und Gemeinsamkeit sowie die Abgrenzung gegen andere kollektive Subjekte zeichnet soziale Bewegungen aus. Es ist bisher noch im Wesentlichen ungeklärt, welche Prozesse dafür verantwortlich sind, dass die fortlaufende soziale Produktion der präsentativen oder sprachlichen Expressionsformen von Bewegungen gelingt und wie diese Prozesse in Gang kommen. Aus philosophischer Perspektive sind soziale Bewegungen als Einheit des „objektiven Geistes“ zu analysieren, wie es so unterschiedliche Denker wie Hegel, Marx, Dilthey oder Simmel eindringlich herausgestellt haben. Aus sozialwissenschaftlich-psychoanalytischer Perspektive handelt es sich um die dynamische gemeinsame Produktion von Sinnangeboten mit erheblichem latentem Anteil, die Zugehörigkeit genauso wie Abgrenzung und Gegnerschaft emotional erlebbar machen. 47 Zugleich aber – und dies verlangt eine komplementäre Perspektive – hat die Turnbewegung in klarer und unstrittiger Weise eine Stiftungsfigur, nämlich Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852). Das bedeutet nicht, dass Jahn auf imposante Weise wichtig war. Beinahe im Gegenteil: Auch er war nur einer von Vielen, ohne die es keine Turnbewegung gegeben hätte. Gleichwohl gilt, dass der Gehalt der Turnbewegung ohne Jahn nicht das wäre, was er eben war. Daher sind beide Perspektiven nötig: Die Turnbewegung, die man methodisch verfehlt, wenn man sie als das Ergebnis des Wirkens von Individuen in den Blick nimmt, ist als Turnbewegung nur durch Analyse des Tuns von Jahn verständlich. 48 Es wäre eine eigene methodische Anstrengung, beide Perspektiven aufeinander zu beziehen, die freilich den Rahmen dieses Beitrags überschreitet. In der ersten Perspektive des Turnens als sozialer Bewegung wird die bedeutsame Rolle des „Turnvaters“ für die Turnbewegung nicht bestritten. 49 Aber in dieser Perspektive wird die Person Jahn nicht als Erklärungsgrund in Anspruch genommen, weil und insofern es um Strukturelemente der Turnbewegung geht. Diese Strukturelemente sind relativ klar; es sind diejenigen, die, bei allem Streit im Einzelnen, mit der „Hasenheide“ konnotiert werden, dem berühmten ersten Turnplatz vor den Toren Berlins, der zur Ursprungszelle der Bewegung wurde: 1. die Körperkultur wird institutionalisiert: Turnen findet in Vereinigungen statt, die sich obrigkeitlicher Kontrolle entziehen, eigene Normen, Zugehörigkeitszeichen und Rituale entwickeln und später zu bürgerlichen Vereinen ausdifferenzieren;

47

Vgl. Richartz (1992a). Die Rolle einer Stiftungsfigur spielt Jahn sicher nicht aufgrund seiner Schriften, sondern aufgrund seines praktischen Tuns – Husserl als Stiftungsfigur der Phänomenologie auszumachen, ist in dieser Hinsicht weniger vertrackt. 49 Vgl. exemplarisch Eisenberg (2000). 48

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2. die Körperkultur wird, im Vergleich mit den Philanthropinen, in sozialer und symbolischer Hinsicht geöffnet: heraus aus der sozialen und räumlichen Enge elitärer Privatschulen hinaus in die frische Luft öffentlicher Anlagen; 3. das Turnen rehabilitiert gegenüber der philanthropischen Gymnastik das freie Spielen und Toben; 4. die Turner beschwören, gegen vermeintlich bloß „äußeren“ und förmlichen Zusammenschluss, die Sozialform einer Gemeinschaft, die durch gemeinsame „innere“ Verbundenheit („Gesinnung“) gebildet wird und aufrecht erhalten werden soll, und in der die Eigentümlichkeiten der Einzelnen hinter gleichermaßen grauer Kleidung nach Außen verdeckt bleiben und nicht recht hervorleuchten sollen. Als soziale Bewegung ist das Jahnsche Turnen damit eine Absage an philanthropische Körperdisziplinierung (3.), eine Rehabilitierung des Anliegens von Rousseau (2., 3.) und, vor allem, eine Weiterentwicklung im Hinblick auf das sachliche Folgeproblem der Körperpädagogik Rousseaus: Dort, wo Rousseau noch privatistisch bleibt – plakativ: Rousseau schreibt „Bekenntnisse“ –, dort tritt in der Turnbewegung die Öffentlichkeit ein (1., 2.). Damit ist die Frage des Maßstabes einer guten Entwicklung nicht mehr durch die einsame Entscheidung des einzelnen, ach so gütigen Erziehenden zu beantworten, sondern dem Prinzip und der Möglichkeit nach eine Frage der öffentlichen Auseinandersetzung. Dass diese Möglichkeit in der Sozialform der Gesinnungsgemeinschaft (4.) de facto durch Jahns Narzißmus und Dominanzgebaren, durch den Generationenabstand zwischen ihm und den „Vorturnern“ sowie deren Bewunderungswünsche konterkariert wird, ändert nichts an der entscheidenden Weiterentwicklung des Prinzips. Die Öffentlichkeit im „Bruderstaat“ der Turnerschaft löst allerdings das Problem der mystifizierenden Naturalisierung inhaltlich nicht – im Gegenteil. Die antiaufklärerischen Aspekte der Turnbewegung werden grell beleuchtet, wenn man ihre Erziehungsziele in Augenschein nimmt: „... vergiß in keinem Augenblick Deiner Jugend, daß des deutschen Knaben und Jünglings heiligste Pflicht ist, ein Deutscher Mann zu werden und es, geworden, zu bleiben.“ 50

Die Naturalisierung von Geschlechtscharakteren wird hier mit einer ebenfalls naturalisierenden Nationalisierung verknüpft (Deutsche als Urvolk). Der aggressive Nationalismus der Turnbewegung, ihre Leibfeindlichkeit im Hinblick 50 Jahn / Eiselen (1816), S. 252. Jahn fand an dieser Formulierung offenbar besonderen Gefallen. Sie findet sich wörtlich auch in Briefen an jugendliche Turner. Als weitere Verhaltensregel wird den Turnern z. B. verordnet: „... nichts Unmännliches mitmachen; sich auch durch keine Verführung hinreißen lassen, Genüsse, Vergnügungen und Zeitvertreib zu suchen, die dem Jugendleben nicht geziemen ... (wie) faulthierisches Hindämmern, brünstige Lüste und hundswüthige Ausschweifungen ...“ (ebd).

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auf Sinnlichkeit und ihr antiaufklärerisches Frauenbild sind allesamt kein äußeres Beiwerk, sondern integraler Bestandteil jenes Vorstellungshorizonts von Männlichkeit, Körperlichkeit und Nation, der die Bewegung als soziale zusammenhält. 51 Untersucht man allerdings die körperlichen Praktiken der frühen Turnbewegung näher, erweitert sich das Bild. Am Anfang und im Zentrum des Turnens stehen nämlich keineswegs jene diszipliniert-schmerzhaften Körperübungen an Geräten, schwindelerregenden Mutproben oder drillartigen Gruppenformation, die man erwartet. Turnen ist zunächst vor allem ein abenteuerliches und spannendes Spielen. Im Vordergrund stehen dabei Spielformen, die die Kinder und Jugendlichen aus der eigenen Straßensozialisation kennen und bevorzugen. Es handelt sich vor allem um Kriegsspiele sowie um Rauf- und Tobespiele 52 – also um „rough-and-tumble-play“, jene Art symbolischer Spielformen, die in der pädagogisch unregulierten Alltagswelt von männlichen Kindern und Jugendlichen eine außerordentlich hohe Anziehungskraft genießen und denen deshalb eine bedeutende sozialisatorische Funktion zugeschrieben wird. 53 Die frühe Turnbewegung schließt in ihren körperlichen Praktiken also an die – häufig verpönten – Symbol- und Sinnfiguren der Kinder und Jugendlichen an, gibt diesen einen zunehmend institutionalisierten Raum und lädt sie mit politischem und gesellschaftlichem Sinn auf. Dieser Zusammenhang wird durch das politische Verbot des Turnens zerschlagen. Das spätere Schulturnen hat damit kaum noch etwas gemein – es ist viel stärker als praktische Umsetzung philanthropischer Körperkonzepte zu verstehen. 54 4. Die Jahrhundertwende und die „neue Körperkultur“ Grob gesprochen mit der Wende zum 20. Jahrhundert macht sich in Deutschland ein neues gesellschaftliches Konzept vom Körper bemerkbar. Das Turnen dominiert noch die Körperkultur, auch das konkurrierende Konzept des englischen Sports ist längst eingewandert und kann bereits halb soviele Aktive zählen wie die Turnerschaft. 55 Doch daneben entsteht ein breites Feld von Reformbestrebungen, die, miteinander verschlungen und sich wechselseitig beeinflussend, eine neue Bildung des Körpers als gemeinsamen Referenzpunkt beanspruchen: Rhythmische Gymnastik, Kleidungs- und Ernährungsreform, Licht- und Luft51 52 53 54 55

Vgl. Richartz (1992a). Ebd. Vgl. Oswald (1997), Maccoby (2000). Vgl. Düding (1997), Krüger (2005). Vgl. für einen Überblick: Eisenberg (1999).

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bäder, Bodybuilding und Fitnessbewegung, Yoga-Schulen, Naturheilkunde usw. Die Körperkulturbewegung ist personell, theoretisch und in ihren Körperpraktiken eng mit der Lebensreformbewegung verflochten und grenzt sich von Turnen und Sport scharf ab. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich als außerordentlich heterogen in ihren Körperpraktiken, Zielen und ihrem Selbstverständnis. Sie rückt Körperübungen in den Mittelpunkt, die nicht zum Kanon von Sport und Turnen gehören, sie lehnt den Konkurrenz- und Leistungsbezug des sportlichen Wettkampfs weitgehend ab und organisiert sich betont getrennt von Vereinen und Verbänden der Turner und Sportler. Bei Bedarf bedient sie sich aber freizügig aus deren Übungsgut und Spielrepertoire. Dominant in ihrem Selbstverständnis ist ein volkserzieherischer Anspruch: Körperkultur sei „die Erziehung oder planvolle Bildung des Menschen durch Arbeit am Körper“. 56 Nicht nur wegen dieses dezidierten Bildungsanspruch ist die Bewegung für unsere Fragestellung interessant. In verblüffender Weise schließt sie nämlich einerseits an zentrale Motive der philanthropische Programmatik an und nimmt andererseits bereits jene Formen der Körperkultur vorweg, die für den aktuellen Freizeit- und Gesundheitssport maßgeblich sind: − Fitnessprogramme zur Körperformung, − gesundheitsorientierte Vorsorge und Rehabilitationsverfahren, − körperorientierte Selbsterfahrung, häufig kombiniert mit der Rezeption asiatischer Körper- und Autosuggestionspraktiken, − individualisierte körperorientierte Freizeitaktivitäten ohne Wettkampfcharakter − und verknüpft dies alles mit Regeln zu Ernährung, Kleidung und Hygiene zu einem neuen körperorientierten Lebensstil. 57 Die Körperkulturbewegung stellt offenbar in vieler Hinsicht eine Brücke dar zwischen älteren Programmen körperlicher Bildung und aktuellen Trends. Keine der Strömungen der Körperkulturbewegung kommt ohne die gängigen Motive zeitgenössischer Kulturkritik aus: Eine mechanisch-wissenschaftliche, naturwidrige industriell-städtische Zivilsation habe den Menschen von seiner natürlichen Ganzheit entfremdet und eine körperliche, geistige und sittliche Degeneration herbeigeführt. Dieser Niedergang sei nur über eine umfassende körperorientierte Reform aufzuhalten. Die verlorene „Einheit von Körper, Seele und Geist“, die Wiedergewinnung eines „natürlichen Körpers“, „natürlicher Beweglichkeit“, „der Rhythmus unverdorbener Naturmenschen“ sei nur durch gezielte, dauerhafte Erziehung des Körpers wiederzuerlangen. Die Strömungen der Bewegung verordnen dazu unterschiedliche Körperpraktiken: Rhythmische und Heilgymnastik, Kraft- und Fitnesstraining, Aufenthalt in frischer Luft und 56 57

Wedemeyer-Kolwe (2004), S. 13. Vgl. ebd.

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Sonne, Abhärtung und Reinigung in und mit Wasser usw. Als Gemeinsamkeit lässt sich festhalten, dass der natürliche Körper und die natürliche Bewegung paradoxerweise vor allem durch strenge Disziplin im Nachvollzug vorgegebener Bewegungs- und Übungsformen erreicht werden soll. Dies gilt für die Rhythmusund Gymnastikbewegung 58 ebenso wie für Bodybuilding und Fitnesstraining. Die Selbstdisziplinierung in den Körperübungen wurde in allen Strömungen ergänzt durch einen ausgreifenden Vorschriftenkatalog für die alltägliche Lebensführung. Sie beziehen sich auf die Ernährung, Kleidung, Abstinenz von Genussmitteln und sexuelle Enthaltsamkeit. Mit erstaunlicher Rigidität werden diese Vorschriften in Schulen der Gymnastikbewegung z. B. von Isadora Duncan oder Hedwig von Rohden in ein minutiöses Tagesregime umgesetzt. 59 Die Körperübungen werden ebenso wie die Vorschriften zur Lebensführung entwickelt und vorgegeben von Gründerfiguren, die den Status von exklusiv Wissenden beanspruchen. Schülerinnen und Schüler hatten den Anweisungen zu folgen, um am Wissen der Meister teilzuhaben und es sich anzueignen. Im Bodybuilding werden die Gründerfiguren schon von Zeitgenossen als „Propheten“ verspottet, aber auch in der Rhythmischen Gymnastik und der Freikörperkultur dominieren hierarchisch aufgebaute Bünde, Logen und Schulen. Autoritäre Meister-Strukturen sind also im Rahmen der Bewegung formbestimmend auf allen Ebenen von Bildung: Für die einzelnen Übungsprozesse, für die Organisationsstrukturen der Bildungsanstalten, für die langfristige Integration von Schülerinnen oder Schülern auf unterschiedliche Initiationsstufen, für Inklusions- und Exklusionssowie Entscheidungsprozesse und die Konturierung des weltanschaulich-gesellschaftlichen Selbstverständnisses der Gruppierungen. Die Position des Meisters ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass er über exklusives Wissen verfügt, das einer diskursiven Infragestellung schon deshalb nicht ausgesetzt werden kann, da es diskursiv nicht verfügbar ist: Das Wissen des Meisters kann nicht reflektiert werden, da es nicht sprachlich vorliegt; es muss nachvollzogen werden. Diese Charakteristika der Bewegung bestätigen sich, wenn man berücksichtigt, dass häufig esoterisch-okkulte Theorien, Rassenlehren, die Rezeption asiatischer Lehren und Körperpraktiken in den Gruppierungen eine wichtige Rolle spielten und die Führungsfiguren darüber mit einer quasi-religiösen, sakralen Aura ausgestattet wurden – oder sich diese auch bewusst aneigneten. Diese autoritären Elemente spiegelten sich durchaus auch in politischen Utopien der Körperkulturbewegung. Sie besaß einen beträchtlichen völkisch-rassistischen, radikal antidemokratischen Flügel. Die „linken“, sozialistisch oder demokratisch 58 Vorführungen von Schülern des Gymnastik-Meisters Rudolf Bode etwa beurteilt Carl Diem, selbst bekanntlich körperlicher Disziplin keineswegs abhold, 1930 so: „Die sonst so geschmeidigen jugendlichen Körper machten alle rhythmischen Übungen höchst ungeschickt und verspannt, (...) mühsam dem irgendwo Geschauten nachgeahmt“ (zit.n. Wedemeyer-Kolwe (2004), S. 101). 59 Vgl. Wedemeyer-Kolwe (2004), S. 70 und 73.

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gesinnten Gruppierungen zeigen allerdings die Ambivalenz der Bewegung: Inhaltliche Grundmotive wie „Ganzheit“, „Natürlichkeit“ und „Gesundheit“ sowie viele Körperpraktiken konnten also durchaus unterschiedlichen politischen Konzepten assimiliert werden. Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass die ideologisch antiaufklärerischen Elemente des Jahnschen Turnens in gesteigerter Form wiederkehren und im Hinblick auf die Diätetik auch die philanthropische Körperbeherrschung aufgefunden werden kann. Wie kam es aber, dass trotz dieser autoritären Binnenstrukturen und Bildungsformen die Bewegung doch eine von Zeitgenossen geradezu als rasant erlebte gesellschaftliche Öffnung hin zu liberaleren, pluraleren und optionsreicheren Lebensstilen im Hinblick auf Körperlichkeit und Bewegung erreichte? WedemeyerKolwe führt an, 60 dass die Bewegung trotz aller antimodernistischen Redeweisen und Lebensmodelle im Grunde wesentliche Werte der säkularen Modernisierung vertrat: Leistung, Durchsetzungsvermögen, Ausdauer, Disziplin, Flexibilität und Attraktivität. Zusätzlich und vielleicht gravierender muss man berücksichtigen, dass die enorme Vielfalt und Konkurrenz von Körperpraktiken, Lebensführungsratgebern und Sinnangeboten ein ausgesprochen reichhaltiges Marktangebot darstellte, zwar nicht aus der Binnenperspektive der jeweiligen hierarchisch organisierten Gruppe, aber doch aus der Perspektive der „Abnehmer“ und Kunden. Denn die Protagonisten und Gruppierungen waren durch ihre vereins-, verbands- und staatsferne Organisationsform zu dieser Marktgängigkeit geradezu verdammt – in Form von Ratgeber- und Anleitungs-Literatur, Produkten für einen reformorientierten Lebensstil, Sportgeräten, Kursen, Ausbildungsangeboten, Vorführungen usw. Aus dieser Palette konnten die Adressaten als Kunden oder Klienten ganz nach Belieben Teilelemente wählen und sie in vielfältigen Kombinationen individuell zusammenfügen, ohne sich den jeweiligen Sekten, Schulen und Glaubensbekenntnissen anschließen zu müssen. Es fand so eine Entideologisierung der Körperpraktiken statt, und zwar sowohl über den kommerziellen Markt, den die Körperkulturbewegung früh entdeckte und in modernsten Distributionsformen nutzte, als auch über die Assimilierung vieler Körperpraktiken und -normen in die Sport- und Turnbewegung (Gymnastik, Yoga, Sportkleidung). Die antiaufklärerischen Elemente werden also wesentlich neutralisiert und umgeformt durch die schnelle Ausweitung der Sport- und Freizeitkultur in der Weimarer Republik. Sie stellt über die Mechanismen von Öffentlichkeit und Markt ein neues Verhältnis und eine neue Machtbalance zwischen „Anbietern“ und „Abnehmern“ von Körperkultur her.

60

Vgl. Wedemeyer-Kolwe (2004), S. 423ff.

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5. Körperliche Bildung und das „Arbeitsbündnis“: Ein Ausblick Eine solche Machtbalance existiert natürlich prima facie nicht in Bildungsformaten, denen die Abnehmer verpflichtend ausgesetzt sind. Der schulische Unterricht ist ein solches Format. Es ist deshalb interessant zu sehen, dass die fortgeschrittenen sport- und bewegungsdidaktischen Konzepte sich seit den 1970er Jahren wegbewegen vom disziplinierten Nachvollzug vorgenormter Bewegungen hin zur Inszenierung von Bewegungsangeboten. Sehr deutlich kommt dies etwa im „dialogischen Bewegungskonzept“ von Andreas Trebels (1992) zum Ausdruck. Der Erzieher hat darin drei Aufgaben: 61 Er inszeniert ein Bewegungsangebot, das einen „Bewegungsvorschlag“ enthält. Er begleitet ohne Vorschriften die Problemlösungsversuche und er erneuert und vertieft das Angebot, indem er die Problemaufgabe auf höherem, variiertem Niveau „in den Horizont des Lernenden bringt“. Eine solche theoretische und didaktische Fassung zielt offenkundig darauf, die autoritäre Position des „Meisters“ zu ersetzen durch die eines erfolgreichen Anbieters. Diese Positionsverschiebung lässt sich mit guten Gründen rechtfertigen, nicht nur auf der normativen Ebene einer der Aufklärung verpflichteten Bildung, sondern auch pragmatisch durch die moderne Unterrichtsforschung: Die vorliegenden empirischen Befunde lassen sich am besten in einem Modell von Unterricht integrieren, das ein dynamisches, prozesshaftes Angebot-Nutzungs-Wechselspiel unterstellt. 62 Allerdings sind damit die überkommenen didaktischen Probleme keineswegs per Federstrich abgeschafft. Die Konflikte von „Anbietern“, seien es Lehrer in der Schule oder Trainer im Wettkampfsport, mit den „Nutzern“ körperlicher Bildung brechen regelhaft dort auf, wo das Angebot nicht den unmittelbaren Nutzungsinteressen entspricht – sprich: immer dann, wenn die je augenblickliche Attraktivität des Angebots nicht ausreicht, um Interesse, Lerneifer und Anstrengungsbereitschaft in ausreichendem Maß zu mobilisieren. Auf dem Markt gehen Anbieter und Abnehmer bei einer solchen mangelnden Passung jeder seiner Wege. In der Zwangssituation „Unterricht“ jedoch brechen nun die sattsam bekannten (Disziplin-)Konflikte auf. Das „dialogische Bewegungskonzept“, so muss man feststellen, fußt stillschweigend auf der Voraussetzung, das Angebot könne bei ausreichendem Bemühen des Lehrers so attraktiv arrangiert werden, dass solche Passungsprobleme ausgeschlossen sind. Tatsächlich erfreut sich der Sportunterricht großer Beliebtheit. Dennoch überzeugt bereits ein beliebiger Unterrichtsbesuch davon, dass diese Attraktivitätserwartung übertrieben optimistisch geraten ist. Auch für Trainingsprozesse im Wettkampfsport, denen sich die Athleten im Prinzip ja aus freien Stücken aussetzen, muss man dies konstatieren. 63 61 62 63

Vgl. Funke-Wieneke (2003), S. 97. Vgl. Helmke (2009). Vgl. Richartz (2000).

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Der moderne Aufruf, man müsse Unterrichtsprozesse nur ausgeklügelt genug inszenieren, um Kinder, Jugendliche und Erwachsene zum Lernen zu „verführen“ statt zum Büffeln zu zwingen, 64 führt auch für den Sportunterricht in die Irre: Aktuelle Befunde belegen eine fachübergreifende und monotone Abnahme der durchschnittlichen Lernmotivation im Lauf der Schulkarriere. Jürgen Baumert (2008) warnt davor, diesen Tatbestand allein auf Mängel der Anbieterseite, also ungeschickte und unambitionierte Lehrer, zurückzuführen. Wenn das „Angebot“ also in systematischer Weise nicht so zugeschnitten werden kann, dass die Bildungsanlässe schon von sich aus die Interessen und Bedürfnisse von Schülern und Lehrern, Athleten und Trainern reibungslos zusammenfügen – was dann? Eine solche Situation scheint sich nur lösen zu lassen, indem zeitbezogene Übereinkünfte eingeführt werden über die Rollen im Bildungsprozess und die mit ihnen verbundenen legitimen Rechte und Pflichten. Für ein solches Vorgehen ist in der Psychoanalyse der Begriff des „Arbeitsbündnisses“ entstanden, der inzwischen auch in die erziehungswissenschaftliche Diskussion eingewandert ist. 65 Arbeitsbündnisse stellen explizite oder implizite Übereinkünfte dar. Sie enthalten für einen begrenzten Zeit- und Handlungsraum die Zuweisung unterschiedlicher Befugnisse und Pflichten. Kinder und Jugendliche haben im Sport und auch in der Schule fest umrissene und gut nachvollziehbare Vorstellungen von Arbeitsbündnissen, auch wenn diese eher implizit und damit nicht leicht verbalisierbar sind. 66 Die Ausarbeitung des Konzepts „Arbeitsbündnis“ könnte einen Lösungsweg eröffnen für zwei zentrale Problembereiche einer der Aufklärung verpflichteten körperlichen Bildung. Wie können Bildungsprozesse, die ein Wissen thematisieren, das nicht diskursiv präsentiert und problematisiert werden kann, körperbezogene Expertise also, so angelegt werden, dass die autoritären Fallstricke von „Meisterlehren“ vermieden werden? Wie können diese Bildungsprozesse zweitens dem Effizienz- und Zweckmäßigkeitsgebot genügen – wie können sie also tatsächlich den Weg zu jenem Könnensniveau ebnen, das die Lernenden mittelfristig anstreben (was eben auch gleichbedeutend mit „exzellent“ sein kann)? 67

II. Ein Fazit 1. Konzepte der körperlichen Bildung kämpfen mit einem enormen Ballast an Kategoriengewohnheiten. „Ganzheit“, „Natürlichkeit“, „Einheit von ...“ und 64

Vgl. Wernstedt / John-Ohnesorg (2008) als ein Beispiel unter vielen. Vgl. Meyer (2004). 66 Vgl. Richartz (2000); Richartz / Hoffmann / Sallen (2009). 67 Weitere Ansätze bietet Neuweg (2001); sie müssen allerdings auf das Gebiet körperlichen Bildung noch funktionsäquivalent „übersetzt“ werden. 65

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„Gesundheit“ erweisen sich aus ganz verschiedenen Gründen als schillernde und ambivalente Kategorien. Sie verfügen über eine hohe Plausibilität und mobilisieren durchschlagende Evidenzgefühle. Sie bleiben stets ambivalent-mehrdeutig: Kritische, aber genauso autoritär-rückwärtsgewandte Assoziationsfelder und Ressentiments können damit zur Resonanz gebracht werden. Es bieten sich zwei Strategien im Umgang damit an – einerseits die kritische Klärung der Kategorien. Wer von „Mündigkeit“ spricht, hat zwischen einer steuernden und einer gesteuerten Instanz, traditionell Seele und Körper, unterschieden. Statt von einer dualen sollten wir allerdings von vornherein von einer dreifachen Unterscheidung (Seele, Körper, Geist) ausgehen. Eine zweite Strategie würde diese Ebene beim wissenschaftlichen status quo von vornherein vermeiden und auf eine Begriffs- und Analyseebene „unterhalb“ dieser synthetisierenden Großbegriffe ausweichen. 2. Die Begründung von Bildung durch einen zu erbringenden Nutzen ist generell heikel – für den Gegenstand körperlicher Bildung aber im Besonderen. Gängige Bildungskonzepte geben Raum für eine „ästhetisch-expressive“ Bildung. Nur mit Mühe wird sich der Reichtum der Körperkultur mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der Weltbegnung darin abbilden lassen – es sei nur an die agonalen, sozialen, erlebnisorientierten Facetten des zeitgenössischen Sporttreibens erinnert. 3. Die Frage einer guten Entwicklung, erst recht die einer guten Erziehung zur Mündigkeit, sind unaufhebbar auch normative Fragen, die zivilgesellschaftlich in öffentlicher Auseinandersetzung, und nicht nur in Expertenkommissionen oder gar nur privat, verhandelt werden müssen. „Öffentlichkeit“ kann hier auch breiter verstanden werden als Austausch- und Interaktionsfeld von Akteuren mit ausgeglichener Machtbalance. Die Funktion einer solchen Balancierung kann durch implizite oder explizite Aushandlungsprozesse auch zeitlich versetzt erfolgen: Lehr-Lernprozesse im Bereich nicht-diskursiven Wissens können durch Arbeitsbündnisse solchen Aushandlungen ausgesetzt werden. 4. Wir haben und brauchen weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Steuerungsfunktionen menschlichen Tuns und zu den Syntheseleistungen, die damit verbunden sein müssen. 5. Wir brauchen logische Anstrengungen dazu, was eine „vermittelte Unmittelbarkeit“ von Handlungsprozessen sein soll.

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„Die Sprachen der Bildung“ – Chancen und Risiken semantischer Pluralität Von Andreas Poenitsch 1

I. Einleitung Unter diesem Titel soll nach wenigen einleitenden Bemerkungen zunächst die Formulierung von den „Sprachen der Bildung“ näher erläutert werden. Im zweiten Schritt werden in einem historischen Rückblick drei Stationen durchlaufen, die sich mit dem Problemzusammenhang von Sprache und Bildung wirkmächtig beschäftigt haben, und die eine, wenn auch nicht zwingende, so doch nicht beliebige Entwicklungslinie markieren. Deren Logik könnte man mit fortschreitender „semantischer Pluralität oder Pluralisierung“ benennen und damit u. a. Probleme demonstrieren, die im dritten und letzten Schritt unter der Überschrift „Chancen und Risiken“ zu diskutieren sein werden. Auf den ersten Blick liegt dieses Programm zwar einiger Maßen quer zu dem, was das Kongressthema „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft“ nahelegt bzw. was die Veranstalter angekündigt haben; allerdings weist der Untertitel des Kongressthemas, wo es um die Abwägung des Bedarfs an Ökonomie, also von Brauchen und Vertragen geht, in eine gedankliche Richtung, wo die Sprachen der Bildung, deren Chancen und Risiken, bedeutsam werden könnten. Auch weitgehend unbefragte Selbstverständlichkeiten, etwa die, mit der heute mehr als nur rhetorisch plakativ von einer „Wissensgesellschaft“ gesprochen wird, verlangen nach einer sprachbzw. bildungstheoretischen Überprüfung. „Rucke“, was genau darunter auch immer zu verstehen ist, sind in den letzten Jahren so manche durch dieses Land gegangen, und vielleicht werden noch andere dazukommen, wenn man nur etwa an die gegenwärtige Umstrukturierung der Studiengänge und der Hochschulen insgesamt denkt. 2 Dass auf diesem 1 Apl. Prof. Dr. Andres Poenitsch vertritt die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dresden. Der folgende Beitrag ist die erweiterte Fassung des Vortrags an der Universität Leipzig am 3. Dezember 2009. Der Vortragsstil wurde beibehalten, der Text um Literatur- und Quellenhinweise ergänzt. 2 Die berühmte Formulierung, dass ein „Ruck“ durchs Land gehen müsse, entstammt der Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, die unter dem Titel „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ am 26. April 1997 im Hotel Adlon gehalten wurde.

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Wege u. a. Bildung, wie beabsichtigt, ein so genanntes „Megathema“ geworden ist, lässt sich vielfach belegen, ohne dass damit sogleich deutlich würde, was denn genau ein Megathema ist. Vielleicht zeigt die Behandlung und öffentliche Thematisierung von Bildung heute eher Züge von einem „Hype“. Darunter versteht man zwar in erster Linie die zyklische Darstellung der Phasen öffentlicher Aufmerksamkeit gegenüber neu eingeführten Technologien, etwa aus dem IT-Bereich; die Anlehnung an diesen Begriff bietet sich hier aber aus zwei Gründen an. Zum einen, weil Bildung heute ebenfalls deutliche Züge einer Technologie bzw. technologischer Behandlung und Verbreitung trägt, zum anderen, weil die Unterscheidung und Benennung von Phasen der öffentlichen Aufmerksamkeit auch auf die Phänomene passt, die die angesprochene Studienreform seit einigen Jahren begleiten. Jackie Fenn, die Beraterin der amerikanischen Marktforschungsfirma Gartner Inc., spricht vom „Auslöser“ einer Technologie, vom „Gipfel der überzogenen Erwartungen“, von dem man in ein „Tal der Enttäuschungen“ fällt, aus dem auf dem „Pfad der Erleuchtung“ letztlich ein „Plateau der Produktivität“ erreichbar wird. 3 Man könnte trefflich spekulieren, ob sich in diesen Beschreibungen die Entwicklung und Wandlungen zumindest einiger der Sprachen der Bildung in den letzten zehn Jahren widerspiegeln. Zudem ließe sich darüber nachdenken, ob der so beschriebene Phasenverlauf Spuren der Bildungsgeschichte seit der Neuzeit aufscheinen lässt, und in welcher der Phasen sich die gegenwärtige Bildungsreform akut befände.

II. Die Sprachen der Bildung Wie die meisten Megathemen, so ist auch das Thema Bildung polyglott, hier zudem mit gleichsam babylonischer Tendenz. Ohne systematisch in die Tiefe zu gehen, lassen sich zunächst zwei Ebenen unterscheiden. Auf der einen ist Bildung das Objekt, der Gegenstand, über den gesprochen wird. Hier ist etwa die möglichst differenzierte, wissenschaftliche Terminologie von der meistens weniger differenzierten Alltagssprache abzuheben und die erste zudem als eine der Diskursarten neben die anderen, etwa politischer oder ökonomischer Herkunft, zu stellen. Auf der anderen Ebene ist Bildung das Subjekt und hat bzw. beansprucht zumindest maßgeblichen Anteil an dem, was man Bildungssprachen oder gebildetes Sprechen nennen könnte. In diesem Fall ist sie ein Kennzeichen von oder der Einsatzpunkt für sprachliche Verlautbarungen, möglicherweise auch solchen der ersten Ebene. Bei deutlich mehr systematischem Anspruch lassen sich drei linguistische und bildungstheoretisch bedeutsame Perspektiven unterscheiden, die auf den

3

Vgl. Spiegel Online vom 21. 10. 2006.

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einschlägigen Protagonisten Ferdinand de Saussure zurückgehen und sich gegenseitig überlagern: 4 In der ersten Perspektive gehen Sprache und Bildung eine quasi anthropologische Verbindung ein. Die Sprachlichkeit, die ‚langue‘, kennzeichnet, ja auszeichnet die Menschen in so radikaler Weise, dass keine der menschlichen Beziehungen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt – zusammengefasst als Bildung – außerhalb von Sprache vollständig zu denken ist. 5 Die auf Aristoteles zurückgehende Definition des Menschen als zoon logon echon, also als vernunft- und sprachbegabtes Wesen, durchzieht als Konstante, als Topos die Geschichte menschlicher Selbstbestimmungen und Selbstbeschreibungen als deren Bedingung der Möglichkeit. Sie markiert, wenn auch auf vielfältige Weise präzisiert bzw. relativiert, den erkenntnistheoretischen und bildungstheoretischen Stand, etwa in der Version einer Pädagogik, die die „Selbständigkeit im Denken“ oder mit anderen Worten die „selbstlose Verantwortung der Wahrheit“ als Ziel formuliert. 6 In der zweiten Perspektive, bei Saussure die ‚langage‘, kommen die konkreten Sprachen, die Einzelsprachen und Nationalsprachen, in den Blick. Dazu zählen auch die verschiedenen Diskurse und Terminologien oder die konkurrierenden und mitunter synonym verwendeten Nachbarbegriffe von Bildung, die eine entsprechende Verständigung, selbst in Fachkreisen, oft erschweren. Problematisch ist dabei einerseits, dass verschiedene Begriffe, etwa Bildung, Ausbildung, Erziehung, Entwicklung oder Lernen, bedeutungsgleich oder bedeutungsähnlich für eine Sache, besser ein Phänomen oder Problem, stehen und damit deren bzw. dessen möglichst präzise Ein- und Abgrenzung erschweren oder gar unmöglich machen. Problematisch ist zum anderen, dass die zahlreich im Umlauf befindlichen Bildungsbegriffe trotz ihrer denotativen Identität auf der konnotativen Seite immense Differenzen erzeugen, deren Ursprünge und Gründe u. a. in Traditionen, Konventionen, Intentionen oder Ambitionen liegen, und die maßgeblich beteiligt sind an der sachlichen Treffsicherheit, dem Passen im jeweiligen gedanklichen und argumentativen Kontext. 7 Aus der dritten Perspektive schließlich, der ‚parole‘, also der Rede und dem konkreten jeweiligen Sprechen, bekommt die Formulierung von den Sprachen 4

Vgl. de Saussure (1931). Vgl. Dörpinghaus / Poenitsch / Wigger (2009). 6 Ballauff (2004), Ruhloff / Poenitsch (2004). 7 Der sich durchhaltende Hinweis auf den sogenannten deutschsprachigen „Sonderweg“ in der internationalen Bildungsdiskussion erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig zu sein, denn einerseits gibt es nirgends kontextlose eins-zu-eins Übersetzungen, und andererseits bedeutet das Fehlen wörtlicher Übereinstimmungen nicht zugleich die begriffliche und kategoriale Problemlosigkeit in einer anderen Sprache. Vgl. hierzu Tenorth (1996). 5

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der Bildung ein anderes Gefahrenpotenzial, in Form weiterer begrifflicher Unschärfe und möglichem Präzisionsverlust. Das Extrem solcher Rede von Bildung ist das „Gerede“. Ohne in die Verzweigungen der einschlägigen Philologie bei Martin Heidegger einzusteigen, sind zwei Bedeutungen auseinander zu halten. 8 Zum einen bedeutet das Gerede ein leeres Reden über etwas, wo nichts Sinnvolles bei herauskommt, zum anderen bedeutet es so viel wie Gerücht. Im ersten Fall wendet man sich vom Gerede ab, weil das Beredete der Rede nicht wert zu sein scheint, oder umgekehrt, weil das wichtig zu Beredende nicht angemessen verhandelt wird. Im zweiten Fall stehen die Anerkennung und die Glaubwürdigkeit, die Integrität von Personen oder Sachen, mitunter bedrohlich auf dem Spiel. In beiden Fällen erzeugt das Gerede einen seltsamen Graubereich zwischen Kenntlichkeit und Unkenntlichkeit, zwischen Verständlichkeit und Unverständlichkeit. „Auf Dauer verleidet das Gerede die Sache, um die es sich dreht. Dementsprechend erzeugt Bildungsgerede Überdruss an Bildung.“ 9 Ein ausgeliehenes und leicht ergänztes Beispiel für ein fiktives Gerede über Bildung lautet etwa so: „Bildung hat etwas mit Zivilisation zu tun. Zivilisierte Menschen sind für mich gebildet. – Aber das reicht doch nicht aus. Sie müssen sich doch auch in der Kultur auskennen. Wer nichts von Kunst und Musik versteht, der ist doch nicht gebildet. – Und wie war es bei den Nazis? Wer fuhr denn zu den Festspielen nach Bayreuth? – Natürlich muss Bildung auch human sein. [Und ein Menschenrecht ist es überdies!] Es kommt gar nicht darauf an, viel zu wissen. Bildung ist etwas ganz Persönliches. – Ja, richtig! In der Bildung verwirklicht man sich selbst. Man muss vor allem auf sein Inneres hören. Fachidioten sind nicht gebildet. – Das hab ich doch immer schon gesagt. Aber man muss auch etwas von seinem Fach verstehen. Besonders heute. Wir sind ja ein rohstoffarmes Land. Im globalen Wettbewerb können wir uns nur mit Wissen behaupten. Also nachhaltige Bildung! – Genau! Man lernt nicht aus, und auch das Lernen muss man lernen ... [am besten lebenslang!]“ 10

Die so vielleicht etwas karikierend dargestellten Sprachen der Bildung, deren Perspektiven und Kontexte allerdings einem einschlägigen wissenschaftlichen Handbuchartikel entnommen sein könnten, sind nur ein anderer Ausdruck für das Phänomen der semantischen Pluralität oder Pluralisierung. Diese wiederum ist der gegenwärtige Stand einer historischen Entwicklung bzw. Verwicklung in der Relation von Sprache und Bildung, deren exemplarische und zugleich zentrale Stationen im Folgenden einigermaßen gerafft nachgezeichnet werden sollen.

8

Das Folgende im Anschluss an Ruhloff (2006). Ruhloff (2006), S. 288. 10 Ruhloff (2006), S. 288. 9

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III. Semantische Pluralität – Historische Erinnerungen Die drei Positionen, an denen die These von der Pluralisierung sprachlicher Bedeutung mit Blick auf Bildung festgemacht werden soll, sind Wilhelm von Humboldt, die bildungs- und sprachkritischen Ausführungen in den Frühschriften Friedrich Nietzsches, sowie die vergleichsweise junge Position der sogenannten Postmoderne, eingeschränkt auf deren Hauptvertreter Jean-Francois Lyotard. Alle drei Positionen stehen in einem systematischen Zusammenhang, der auch dann plausibel werden kann, wenn man sich den jeweiligen Theorien nicht vollständig ausliefert. 11 a) Wilhelm von Humboldt ist, entgegen manchen Stilisierungen, insofern nicht nur originell, als seine wirkmächtige Relationierung von Sprache und Bildung bereits im antiken Logos-Gedanken verankert ist. Der Logos ist in der Antike der zusammenfassende Begriff für Wort und Rede sowie die darin zur Sprache kommenden Dinge oder Sachverhalte in ihrer Bedeutung. Diesen Logos im Sinne des begrifflich Wesentlichen zu erfassen, ist der zentrale Gegenstand der paideia, einer noch nicht wie heute differenzierten Bildung und Erziehung. Mit Humboldt, der in Vielem an die griechische Antike anknüpft, kommt unter den Vorzeichen der Moderne eine Entwicklung in Gang, die bis heute entscheidend ist. Humboldt bestimmt den Menschen als Individuum und zunächst als in verschiedenen Relationen, nämlich zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst, verstrickt. Die als Aufgabe gesehene Ausgestaltung dieser Relationen, die Humboldt Bildung nennt, soll möglichst frei, rege und mannigfaltig sein. Strukturell geschieht dies als Wechselwirkung und zwar so, dass jede bildende Situation, jeder Bildungsprozess, alle bzw. alles daran Beteiligte verändert. So wie ein Individuum verändernd auf die Welt oder andere Menschen einwirkt, so verändern diese das Individuum. Ausgezeichnetes Medium, Bindeglied in solchen Situationen oder Prozessen der Bildung als Wechselwirkung ist die Sprache, denn keine der drei Relationen könnte die Sprache entbehren. So wie der erkennende Zugang zur Welt, zu Sachverhalten und Dingen, nicht ohne Bestimmung durch Wort und Begriff denkbar ist, so sind Gemeinsamkeit und Geselligkeit nicht ohne Gespräch und Kommunikation denkbar; auch das individuelle, reflexive Selbstverhältnis ist als ein innerer Dialog an die Sprache, wenn auch nicht die verlautbarte Sprache, gebunden. Entscheidend ist nun, dass Humboldts Sprachauffassung auf allen Ebenen, die Saussure differenziert hat, geeignet ist, ja als Auslöser verstanden werden kann für Relativierungen bzw. Pluralisierungen sprachlicher Eindeutigkeit bzw. Verbindlichkeit. Auf der sprach-anthropologischen Ebene etwa bedeutet das zwar 11

Vgl. zum Folgenden ausführlich Poenitsch (1992).

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traditionell und konventionell definierte, aber prinzipiell unendlich kombinierbare Repertoire der sprachlichen Möglichkeiten die je einzigartige und ungeteilte, individuelle Sprachlichkeit. Es erzeugt die sprachliche Individualität und hat, gleichsam im Umkehrschluss, die radikale Pluralität der zu äußernden Gedanken bzw. zu sprechenden Sätze zur Folge. Auf der Ebene der Sprachenvielfalt, der zahlreichen Einzelsprachen, der Terminologien, auch der Soziolekte und Dialekte, ist Humboldts zentraler Gedanke, dass jede Sprache eine eigene, andere Weltansicht und Lebensform sei. Für ihn selbst bedeutete dies den Drang, möglichst viele fremde Sprachen zu erlernen, um sich in möglichst vielen, dadurch ermöglichten Ansichten von Welt bewegen zu können. Die Pluralität der Weltansichten bedeutet zugleich die konsequente Perspektivität. Auf der dritten Ebene relativiert Humboldt die Eindeutigkeit und Verbindlichkeit konkreter sprachlicher Verständigung wie auch jeder hermeneutischen Näherung mit seinem berühmten Satz: „Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein NichtVerstehen.“ 12 Er macht damit zum einen deutlich, dass die menschlichen Selbst-, Welt- und Fremdrelationen aufgrund der vermittelnden Rolle der Sprache weder allgemeingültig, noch eindeutig und verbindlich eingegangen bzw. ausgefüllt werden können; zum anderen bedeutet dies, dass Bildung prozesshaft und deshalb prinzipiell unabschließbar, gleichsam mit einem Restrisiko aufzufassen ist. Mit dieser Auffassung von Sprache und Bildung, die gebunden ist an humanistische und idealistische Voraussetzungen, auf die hier nicht näher einzugehen ist, steht Humboldt am Beginn einer Entwicklung, die die Sprache auf allen drei Ebenen, als erkenntnistheoretische Sprachlichkeit, als Einzelsprache oder als konkrete Rede, mit Blick auf deren Eindeutigkeit und Verbindlichkeit hin relativiert und damit deren Referenzfunktion pluralisiert. b) Nietzsches Philosophie, gerade in den frühen Schriften, kann über weite Strecken als eine Theorie und Philosophie der Sprache gelesen werden. Das ist bereits zu seinen Lebzeiten, etwa von Fritz Mauthner, hervorgehoben worden. 13 Zugleich war Nietzsche ein scharfsinniger und vorausblickender Kritiker und Skeptiker mit Blick auf Bildung und Schulbildung, zunächst als deutlicher Befürworter des von Humboldt ausgearbeiteten humanistischen Bildungsdenkens, später als dessen prominenter Antipode. Gegen die Tendenz des 19. Jahrhunderts, die Sprache in empirisch-einzelwissenschaftlichen Untersuchungen zu zergliedern, knüpft Nietzsche an die von Humboldt angeregte Sprachwissenschaft und philosophische Sprachreflexion wieder an. Seine Sprachtheorie lässt sich vereinfacht in eine philologische und ästhetische sowie eine erkenntnistheoretische bzw. -kritische Richtung unterscheiden, die sich jedoch an vielen Stellen seines Werkes gegenseitig durchdringen.

12 13

von Humboldt (1979), Bd. 3, S. 439. Vgl. Poenitsch (2009).

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Deutlich unter dem Einfluss von Arthur Schopenhauer beschäftigt sich Nietzsche zunächst skizzenhaft und ohne originellere Einsichten u. a. mit dem Problem des Sprachursprungs, der möglichen Entstehung der Sprache aus der Verbindung von Gebärde und Ton sowie, unter dem Eindruck von Richard Wagner, mit der Höhergewichtung musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber sprachlichen. Die intensive Auseinandersetzung Nietzsches mit der klassischen Bildung der Antike, speziell der griechischen Sprache, gipfelt in „David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller“, der ersten der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, in dem nicht ohne Pathos formulierten Appell, „dass die Sprache ein von den Vorfahren überkommenes und den Nachkommen zu hinterlassendes Erbstück ist, vor dem man Ehrfurcht haben soll als vor etwas Heiligem und Unschätzbarem und Unverletzlichem.“ 14 Diese Einstellung durchzieht Nietzsches wiederholt vorgetragene pädagogische Appelle, etwa wenn er in seiner Kritik am Zustand des gymnasialen Deutschunterrichts fordert: „Nehmt eure Sprache ernst!“ 15, wenn er die „sprachliche Selbstzucht“ 16, also einen stilistisch und grammatikalisch korrekten Gebrauch der Muttersprache in Schule und Unterricht, einfordert, oder wenn er die dort um sich greifende „vollendete Stillosigkeit“ 17 beklagt. In solchen und weiteren Zitaten erscheint der Bildungskritiker Nietzsche auf der Höhe wohl nicht nur seiner Zeit; entsprechend werden seine philologisch-ästhetischen Untersuchungen, vor allem seine Aussagen zur Rhetorik, heute breit diskutiert. 18 Von theoretisch weiter reichender Bedeutung, gerade für den hier verhandelten Zusammenhang, ist allerdings der zweite Strang von Nietzsches Sprachphilosophie, die erkenntnistheoretische bzw. -kritische Richtung, weil sie im Zusammenhang steht mit der Kritik der gesamten abendländischen MetaphysikTradition. Deren Zentrum ist das Wahrheitsverständnis, und Nietzsches entscheidende Frage in der nachgelassenen Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ lautet demgemäß, ob die Sprache „der adäquate Ausdruck aller Realitäten“ 19 sei. Dagegen spricht vor allem die Vielfalt der Sprache, d. h. der Wort- und Begriffsverwendungen, so dass Nietzsche die „Conventionen der Sprache“ 20 primär als an- und verwendungsorientierte bzw. lebensdienliche Weisen der Realitätsfälschung bezeichnen kann; „Conventionen zu lügen“ 21 nennt er das. Begriffsbildung bedeutet für Nietzsche deshalb konsequent die weitgehend beliebige, weil „nicht aus dem Wesen der Dinge“ 22 oder aus der 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Nietzsche (1980), Bd. 1, S. 235. Ebd., S. 676. Ebd., S. 684. Ebd., S. 681. Vgl. Kopperschmidt / Schanze (1994) und von Seggern (2009). Nietzsche (1980), Bd. 1, S. 878. Ebd. Ebd., S. 881. Nietzsche (1980), Bd. 1, S. 879.

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Sache stammende Fixierung von Eigenschaften und Abgrenzung von Dingen mittels sprachlicher Zeichen auf dem Wege gleichsam metaphorischer Übertragungen. Nietzsche folgert demgemäß: „Logisch geht es jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.“ 23 Nur durch ein „Uebersehen des Individuellen und Wirklichen“ 24 in den an individuelle Erlebnisse gebundenen Worten, sowie deren sprachliche Gleichmachung und Anpassung an ungleiche, aber „zahllose, mehr oder weniger ähnliche [...] Fälle“ 25, entstehen nach Nietzsche die Begriffe: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.“ 26 Die Sprache wird damit für Nietzsche zu einer Verführerin 27, weil die zentralen philosophischen Begriffe der europäischen Überlieferung, etwa Sein, Einheit, Identität, Erkennen, Subjekt, Substanz, Wahrheit, und in dramatischer Nähe dazu auch der Bildungsbegriff, an die indoeuropäischen Sprachstrukturen gebunden sind. Die gesamte überlieferte Metaphysik wird demzufolge zur „Sprach-Metaphysik“ 28 im Sinne eines folgenreichen „Irrthums, [der] unsre Sprache zum beständigen Anwalt“ 29 hat. Jeder Denkende ist nach Nietzsche deshalb „in den Netzen der Sprache eingefangen“. 30 Deren Rolle als Fundament für Wissenschaft und Erkenntnis ist folgenreich in Frage gestellt, wenn Nietzsche die Sprache als „vermeintliche Wissenschaft“ 31 bezeichnet und im irrtümlichen Glauben an die Sprache den Grund für die Illusion wissenschaftlicher Wahrheit erkennt. Trotz aller Kritik und Skepsis gegenüber dem Glauben an die Erkenntnismöglichkeiten der begrifflichen Sprache sieht Nietzsche gleichwohl deren Unverzichtbarkeit, wenn er schreibt: „Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn.“ 32 Die generelle Kritik an der Kluft zwischen Sprache und Wirklichkeit ist auch das Resultat einer bildungstheoretischen Wende bzw. einer Ambivalenz, in der 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd. Nietzsche (1980), Bd. 1, S. 880. Ebd., S. 879f. Ebd., S. 880. Vgl. Nietzsche (1980), Bd. 5, S. 279. Nietzsche (1980), Bd. 6, S. 77. Ebd. Nietzsche (1980), Bd. 7, S. 463. Nietzsche (1980), Bd. 2, S. 30. Nietzsche (1980), Bd. 12, S. 193.

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Nietzsche den Menschen einerseits als einen konstruktiven und schöpferischen Sprachkünstler, andererseits als einen Sprachfälscher sieht, der notgedrungen, d. h. in undurchschauter Abhängigkeit von metaphysischen Traditionen und Konventionen, zum außermoralischen Lügner wurde. Diese zweite Perspektive breitet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer wirkmächtigen Sprachskepsis aus, die in der heraufkommenden Sprachphilosophie und dem von ihr ausgelösten berühmten „linguistic turn“ bis heute spürbar anhält. 33 In der sogenannten Postmoderne und bei deren Protagonisten Jean-Francois Lyotard spitzt sich diese sprachphilosophische Wende folgenreich zu. c) Die philosophische Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich kann nur plakativ und in Umrissen mit Begriffen wie Poststrukturalismus, Postmoderne oder Dekonstruktion charakterisiert werden. Sie ist maßgeblich bestimmt von sprachtheoretischen und -philosophischen Überlegungen und verschärft den Umgang mit dem Sprachproblem in einer Weise, die Nietzsches Einfluss allenthalben transparent werden lässt. Die Beschränkung auf den Namensgeber der Postmoderne, den französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard, bietet sich an, weil dessen mittlerweile klassische Hauptwerke häufige Verweise auf Fragen und Zusammenhänge der europäischen Bildungstradition und im erweiterten Sinne bildungstheoretische Problemstellungen enthalten. 34 Der neben Nietzsche andere maßgebliche, wenn auch modifizierte Einfluss auf das Denken Lyotards ist die kritische Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, vor allem dessen später Gedanke des Sprachspiels. 35 Dieser mitunter missverstandene Begriff soll zum einen die Mannigfaltigkeit möglicher Spielzüge, d. h. die gleichsam unbegrenzte Vielfalt der Sprache in ihren Ausdrucksmöglichkeiten bzw. Verwendungsweisen, deutlich machen, zum anderen die Gebundenheit dieser Mannigfaltigkeit an ein begrenztes und vorausgesetztes Gerüst von Regeln betonen. Beides zusammen genommen erzeugt die Spannung zwischen etwa grammatischer Regelnotwendigkeit bzw. -bestimmtheit und semantischer oder rhetorischer Zufälligkeit bzw. Unbestimmtheit bei der Anwendung der Regeln. Die Bedeutung von Wörtern und der Sinn von Sätzen lassen sich demnach weder vorgreifend und endgültig definieren, noch erschöpfend und unmissverständlich bestimmen, sondern nur in deren Gebrauch, d. h. im Zusammenhang der Verwendung eines Sprachspiels und dessen Pragmatik, näherungsweise verorten und aufweisen. Da das Sprachspiel der Ausdruck einer Lebensform, d. h. einer gemeinschaftlichen menschlichen Handlungsweise ist, nennt Wittgenstein es unvorhersehbar, nicht begründbar, weder vernünftig, noch unvernünftig, sondern ereignishaft vorkommend, geschehend, faktisch. „Es steht da – wie unser Leben“ ist der berühmte Satz in „Über Gewissheit“. 36 33 34 35 36

Vgl. Rorty (1992). Vgl. Lyotard (1986, 1987). Vgl. Wittgenstein (1984), Bd. 1, S. 250. Wittgenstein (1984), Bd. 8, S. 232.

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Lyotard erweitert nun diesen Gedanken, die sprachliche Faktizität gleichsam als letzte Instanz zu nehmen, zunächst um das Moment des Agonalen. Damit soll deutlich werden, dass das Sprechen als Abfolge sprachlicher Spielzüge als eine Art Kämpfen zu verstehen ist, ein Wetteifern um Zustimmung, soziale Anerkennung und um Geltungsansprüche. Ein weiteres Kennzeichen der Vielfalt von Sprachspielen und Diskursarten, wie Lyotard differenziert, ist deren Heterogenität und Unübersetzbarkeit untereinander. 37 Demnach ist beispielsweise das Sprachspiel der Erkenntnisgewinnung in der wissenschaftlichen Pädagogik generell unübersetzbar in und inkommensurabel mit demjenigen einer narrativ oder rhetorisch belehrenden, praktischen Pädagogik; ähnlich heterogen sind Sprachspiele der Belehrung gegenüber solchen des Wünschens und Hoffens. Die wissenschaftlich-pädagogische, bildungstheoretische Diskursart prallt danach disharmonisch und unüberbrückbar heterogen auf die ökonomisch-politische oder ausbildungstheoretische, wenigstens hinsichtlich ihrer originären Intentionen, Zwecke und Ansprüche. Ihre zunächst logische, sogleich aber auch soziale Zuspitzung bekommt diese Theorie dadurch, dass alle Sprachspiele und Diskursarten zwar als vielfältig und heterogen, dabei aber als gleichwertig und gleichberechtigt bestimmt werden. Die zwingende Folge davon ist, dass kein Sprachspiel und keine Diskursart denkbar sind oder bestehen, die im Sinne eines Metasprachspiels oder einer übergeordneten, höherwertigen Diskursart gleichsam wie ein Schiedsrichter geeignet wären, die streitend aufeinander treffenden Ansprüche mehrerer oder gar aller Beteiligten dauerhaft zu schlichten. Die Schlichtung wäre immer eine künstliche, weil um den Preis der Unterdrückung einseitiger Ansprüche erzeugte Harmonisierung, ein gewaltsam herbeigeführter und deshalb ein fauler Kompromiss. Entscheidend ist dabei, dass mögliche Fragen und Problemstellungen der einen Diskursart in der anderen nicht nur nicht beantwortet oder gelöst werden können, sondern dass sie dort gar nicht erst auftauchen und gestellt werden. Aus sprachlogischer Perspektive entsteht dadurch ein unauflösbarer Widerstreit, auf der sozialen Ebene äußert sich dieser Widerstreit als Ungleichheit und manifestiert sich vielfach als Unrecht. 38 Die Übertragung sprachanalytischer bzw. sprachlogischer Resultate auf das im weiteren Sinne normative Feld sozialen Handelns und umgekehrt dessen Reduktion und Verkürzung allein auf sprachliche Strukturen durch Lyotard ist in der früh einsetzenden Diskussion ebenso ausführlich kritisiert worden wie Lyotards eigene Andeutungen ethischer oder ästhetischer Bewältigungen dieser Probleme. Man kann und hat nicht übersehen, dass im unvermittelten, vielleicht unvermittelbaren Aufeinandertreffen solcher und ähnlicher pluralitäts- und heterogenitätstheoretischer Rigidität etwa mit den kommunikationstheoretischen 37 38

Vgl. Lyotard (1987) und Fromme (1997). Vgl. Koller (1999).

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Idealen oder Appellen die Verabschiedung modernen Denkens durch postmodernes oder radikal modernes Denken auf dem Spiel stehen könnte. 39 Die philologischen Durchgänge zusammenfassend könnte man die These formulieren, dass die postmoderne Situationsbeschreibung der Sprachen der Bildung als Höhepunkt der angedeuteten Entwicklungslinie semantischer Pluralisierung von Humboldt über Nietzsche bis in die Gegenwart zu lesen ist. Mit diesem Resultat, so ließe sich die These weiterdenken, ist die heutige Lage in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über Bildung angemessen und auch treffsicher beschreibbar. Das hier nur skizzenhaft nachgezeichnete postmoderne Denken hat jedoch mit der Diagnose umfassender faktischer Pluralität mit Blick auf die Sprachen der Bildung zugleich eine offensichtliche Problemlage im Umgang mit dieser Pluralität entstehen lassen, die abschließend unter der Überschrift „Chancen und Risiken“ in Ansätzen diskutiert werden soll.

IV. Chancen und Risiken Semantische Pluralität und Mehrdeutigkeit sind tendenziell wohl auch außerhalb der beschriebenen Entwicklungslinie, ihrer Markierungen und Zuspitzungen, anzutreffen, und ihre Faktizität heute dürfte kaum hintergehbar sein. Aus der einen Sicht erscheint es als ein Merkmal, ja eine Errungenschaft gegenwärtiger und liberaler Gesellschaften, dass in ihnen eine Pluralität von widerstreitenden, konkurrierenden und dissonanten Bedeutungen, Wertvorstellungen, Leitbildern, Idealen, Weltorientierungen, Lebensentwürfen und manchem anderen vorherrscht. Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob man diese Pluralität als einen Verlust von Eindeutigkeit und Verbindlichkeit bzw. als Risiko der Beliebigkeit beklagt, oder stattdessen als eine Ressource gesellschaftlicher Kreativität, d. h. als Gewinn und Chance begrüßt. Ungeachtet solcher Bewertung handelt es sich, noch einmal betont, nicht um eine denkmögliche oder wünschbare, sondern um eine historisch entwickelte, eine faktische Pluralität, die nicht ohne Verlust an oben erwähnter Liberalität zugunsten einer wie auch immer gearteten Einheit, Eindeutigkeit und Verbindlichkeit überwunden oder aufgegeben werden kann. Aus einer anderen Sicht erscheint die Pluralität der Sprachen der Bildung allerdings zwei Gefahren ausgesetzt zu sein, die eng beieinander liegen. Die eine Gefahr ist, gleichsam von innen, das Risiko des Referenzverlustes, die andere, gleichsam von außen, das Risiko der Depluralisierung. Kaum jemand wird heute daran festhalten, nur einen Begriff von Bildung so zu favorisieren, dass er für jeden Kontext angemessen wäre und alleinige Gültigkeit beanspruchen könnte. In der gegenwärtigen Diskussion dieses „Megathemas“ ist der Begriff allerdings in derart inflationärer Weise in Verwendung, dass mitunter nicht nur 39

Vgl. Habermas (1988).

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für Fachleute unkenntlich wird, was damit gemeint ist bzw. welche Lage oder welches Problem als Referenzpunkt denn nun – erinnert sei an die Kritik am Bildungsgerede – verhandelt wird. Was in Pädagogik, Soziologie und Psychologie, zudem in Politik, Recht und Wirtschaft bis hin zur öffentlichen Diskussion Unterschiedliches, in vielen Fällen Gegenläufiges bedeuten kann, bedeutet letztlich gar nichts mehr, es wird eine bedeutungsleere Worthülse, die ihre Herkunft vergessen und ihren Sinn, ihre Referenz verloren hat. Entsprechendes gilt für die Gefahr der Depluralisierung. Die Rede von Bildung ist gegenwärtig zwar Gegenstand verschiedener Sprachspiele und Diskursarten, an die Stelle des von Lyotard vorausgesetzten bzw. beanspruchten Gleichgewichts ist allerdings eine deutlich erkennbare Gewichtsverlagerung bzw. eine Hierarchie getreten, die aus Pluralität Uniformität und Einseitigkeit hat werden lassen. Ein offensichtliches Beispiel hierfür ist die alles andere als selbstverständliche Dominanz und Hegemonie der ökonomischen Diskursart, d. h. der auf Verwertbarkeit, Steuerbarkeit und Effektivität abzielenden Thematisierung von Bildung als Ausbildung, und zwar nicht allein gegenüber anderen Diskursarten, sondern zunehmend auch innerhalb der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Diskussion. Die wenn nicht exklusive, so doch primäre Sicht auf Bildung unter ökonomischen Voraussetzungen, Erwartungen und Folgen bedeutet einen eklatanten Pluralitätsverlust und damit einen Rückfall hinter die erreichte Vielfalt als Chance. Die lauter werdende Kritik am Bologna-Prozess, insbesondere in den gegenwärtigen studentischen Protesten, scheint auch von einem Gespür für diesen Verlust, für Einseitigkeit und Ausschließlichkeit, angetrieben zu sein. Wer angesichts solcher Problemlagen semantische Gehalte bzw. Semantikverschiebungen im Feld von Bildung als bloß konjunkturabhängige Phänomene und Prozesse herunterspielt, der leistet zum einen dem weiteren Referenzverlust Vorschub, zum anderen belegt und verfestigt er die Hegemonie einseitigen ökonomischen Denkens und dessen weitestgehend unbestrittener Definitionsmacht. Die knappe Diskussion der Chancen und Risiken einer so dargelegten „semantischen Pluralität“ kann sowohl Bedarf wecken als auch Platz schaffen für eine andere Auffassung von Bildung, die zwar nicht neu ist, gemessen an den vorherrschenden Perspektiven aber eher defensiv wirkt. 40 Die aufgezeigte Spannung zwischen der heute nicht mehr möglichen semantischen Eindeutigkeit auf der einen Seite und den Risiken von Referenzverlust und Rückfall hinter den erreichten Stand von Vielfalt auf der anderen Seite verlangt eine radikale Infragestellung und Problematisierung. In dieser Problematisierung könnten Chancen liegen für eine relativierende und perspektivische, skeptische und kritische Deutung von Bildung, die sich nicht in Hierarchien ein- bzw. unterordnen lässt, sondern ihrerseits die gegenwärtige Spitzenposition und Alleinherrschaft ökonomischen Vorstellens als bloß vermeintliche Selbstverständlichkeit durchdenkt 40

Vgl. Fischer (1989), Fischer / Ruhloff (1993), Ruhloff (1996).

„Die Sprachen der Bildung“

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und entlarvt. Anders formuliert geht es um eine Bildung als „Selbständigkeit im Denken und Sprechen“ 41, die den historisch und systematisch erreichten Problemstand nicht dadurch unterbietet, dass sie semantische Gehalte einseitig setzt und verabsolutiert und damit andere an den Rand drängt oder, wie es gegenwärtig verbreitet geschieht, machtvoll und nur zögerlich widersprochen ausblendet.

Literatur Ballauff, Theodor (2004): Pädagogik als Bildungslehre, 4. Auflage aus dem Nachlass, hrsg. von Andreas Poenitsch und Jörg Ruhloff, Baltmannsweiler. Dörpinghaus, Andreas / Poenitsch, Andreas / Wigger, Lothar (2009): Einführung in die Theorie der Bildung, 3. Aufl., Darmstadt. Fischer, Wolfgang (1989): Unterwegs zu einer skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik. Ausgewählte Aufsätze 1979 – 1988, Sankt Augustin. Fischer, Wolfgang / Ruhloff, Jörg (1993): Skepsis und Widerstreit. Neue Beiträge zur skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik, Sankt Augustin. Fromme, Johannes (1997): Pädagogik als Sprachspiel. Zur Pluralisierung der Wissensformen im Zeichen der Postmoderne, Neuwied. Habermas, Jürgen (1988): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt / M. von Humboldt, Wilhelm (1979): Werke in fünf Bänden, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart. Koller, Hans-Christoph (1999): Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne, München. Kopperschmidt, Josef / Schanze, Helmut (Hrsg.) (1994): Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, München. Lyotard, Jean-Francois (1986): Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz und Wien. Lyotard, Jean-Francois (1987): Der Widerstreit, München. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München. Poenitsch, Andreas (1992): Bildung und Sprache zwischen Moderne und Postmoderne, Essen. Poenitsch, Andreas (2004): Bildung und Relativität. Konturen spätmoderner Pädagogik, Würzburg. Poenitsch, Andreas (2009): Sprache, in: Niemeyer, Christian (Hrsg.): Nietzsche-Lexikon, Darmstadt, S. 333 f. Rorty, Richard McKay (Hrsg.) (1992): The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago. 41

s. Fn. 5.

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Ruhloff, Jörg (1996): Bildung im problematisierenden Vernunftgebrauch, in: Borrelli, Michele / Jörg Ruhloff (Hrsg.): Deutsche Gegenwartspädagogik, Bd. 2, Baltmannsweiler, S. 148 ff. Ruhloff, Jörg (2006): Bildung und Bildungsgerede, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, Heft 82, S. 287 ff. Ruhloff, Jörg / Poenitsch, Andreas (Hrsg.) (2004): Theodor Ballauff – Pädagogik der „selbstlosen Verantwortung der Wahrheit“, Weinheim und München (Pädagogische Klassiker des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Volker Ladenthin und Jürgen Rekus). de Saussure, Ferdinand (1931): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin und Leipzig. von Seggern, Hans-Gerd (2009): Rhetorik, in: Niemeyer, Christian (Hrsg.): NietzscheLexikon, Darmstadt, S. 305. Tenorth, Heinz-Elmar (1996): Normalisierung und Sonderweg – Deutsche Erziehungswissenschaft in historischer Perspektive, in: Borrelli, Michele / Jörg Ruhloff (Hrsg.): Deutsche Gegenwartspädagogik, Bd. 2, Baltmannsweiler, S. 170 ff. Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt / M.

Spiritualität oder ökonomisches Kalkül – was brauchen moderne Unternehmen und Führungskräfte? Von Marcelo da Veiga 1 Ein Wirtschaftsunternehmen muss, um nachhaltig zu bestehen, sich am Markt behaupten und seinen Gewinn maximieren. Es muss seine Produkte und Dienstleistungen am Bedarf der Kunden orientieren und darum bemüht sein, entweder seine Kundschaft zu halten oder neue Kunden zu gewinnen. Kein Wirtschaftsunternehmen kann diese Logik umgehen. Es kann mittel- und langfristig nur bestehen, wenn es dieses Prinzip beachtet. Wer nicht geschäftstüchtig ist, verspielt zwangsläufig auch die Möglichkeit bzw. die Fähigkeit, Geschäfte zu machen, denn er hört auf zu bestehen. Um die Geschäftsfähigkeit zu erhalten, ist ökonomisches Kalkül erforderlich. Das ökonomische Kalkül, aus dem Wenigsten das Meiste zu machen oder mit knappen Ressourcen so effizient wie möglich umzugehen, ist eine Herausforderung, die sich im täglichen Geschäftsbetrieb stets aufs Neue stellt und die den Bestand und die Fortentwicklung eines Unternehmens sichern hilft. Das Streben nach Vorteil und Gewinn ist eine wichtige Triebfeder im Wirtschaften. Jeder Betrieb, aber auch jeder Kunde will möglichst für sich vorteilhafte Geschäfte machen. In einem Unternehmen oder Betrieb betrifft das nicht nur den Einsatz der Produktions- und Betriebsmittel, sondern auch den Einsatz der Mitarbeiter: Ein klug geleitetes Unternehmen wird nur so viel Material einkaufen und lagern, wie es tatsächlich für die Produktion benötigt, und es wird auch nur die Maschinen und Betriebsmittel anschaffen, die für die Warenerzeugung und die Ermöglichung ihres Absatzes erforderlich sind. Es würde, dem ökonomischen Kalkül folgend, im Normalfall nicht einfach Maschinen kaufen, um eine andere Firma zu fördern. Es hat ökonomisch in der Regel auch keinen Sinn, Mitarbeiter zu beschäftigen, wenn kein Bedarf besteht, es sei denn, das ökonomische Kalkül ergibt, dass es sich nur um die Überbrückung eines kurzfristigen Deltas handelt und der Mitarbeiter mittelfristig doch gebraucht wird. Wenn die Kosten, sich 1 Prof. Dr. Marcelo da Veiga ist Rektor der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Der folgende Beitrag ist die erweiterte Fassung des Vortrags an der Universität Leipzig am 3. Dezember 2009. Der Vortragsstil wurde beibehalten, der Text um Literaturund Quellenhinweise ergänzt.

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später einen neuen Mitarbeiter zu suchen, höher sind als die Kosten, ihn für die Zeit zu halten, in der keine Arbeit anfällt, dann ist es ökonomisch sinnvoll, so zu verfahren. Das ökonomische Kalkül scheint somit ein ebenso nüchternes, fast mechanisches Prinzip zu sein wie etwa auch der weit verbreitete Grundsatz, immer das Billigste zu kaufen und somit ethische oder rein menschliche Erwägungen auszuschließen. Ich verzichte an dieser Stelle auf die Diskussion über Definitionen der Ethik als z. B. der philosophischen Disziplin, die das menschliche Handeln untersucht und normative Kriterien für das gute bzw. schlechte Handeln aufstellt. Das würde hier nicht erheblich weiter führen, da es mir an dieser Stelle eher darum geht, eine eigene inhaltliche Positionierung vorzunehmen. Menschlichkeit und Ethik sind Kategorien, die sich auf das Denken und Handeln des Menschen anwenden lassen, und insofern das Denken eine bestimmte Form des Handelns ist, könnte man sie auch nur auf das Handeln beschränken. In Situationen, in denen nicht gehandelt wird oder kein Handeln gefordert ist, hat die Frage nach ethischen Kriterien keinen Sinn. Es ist aber dennoch nicht immer ganz leicht, eindeutig zu sagen, worin ethisches oder menschliches Tun und Verhalten genau besteht oder bestehen könnte. Negativ gesehen könnte man etwa sagen, dass ethisches Handeln nicht darin bestehen kann, jemandem oder etwas zu schaden oder gar etwas um der Zerstörung willen zu zerstören oder, insofern es einen eigenen Willen hat, ohne vernünftige Gründe über es zu verfügen. (Mögliche Gründe über jemanden zu verfügen könnten sein, dass ein unmündiges Kind Dinge tun will, die es schädigen, oder dass ein Erwachsener eingesperrt wird, weil er für andere eine Bedrohung ist oder er zuvor, z. B. bei einer Operation, darin eingewilligt hat.) Positiv könnte man umgekehrt ethisches Handeln darin sehen, sich einem Ding, einer Situation oder einem Wesen gegenüber so zu verhalten, dass es durch dieses Verhalten in seiner Existenz und der Entwicklung seiner Eigenart seinem Wesen entsprechend gefördert bzw. seine Selbstbestimmung geschützt und ermöglicht wird. Das ist natürlich nur ein ungefähres Kriterium, um eine Richtung anzudeuten, da man sich m. E. letztlich mit Aristoteles damit abfinden muss, dass es auf dem Gebiet der Ethik eine mathematische Genauigkeit nicht gibt. Die Frage nach dem richtigen Handeln ist nämlich komplex und nimmt auch unterschiedliche Gestalt an, je nachdem, ob man es mit einem Artefakt (z. B. einem Kühlschrank), einer Pflanze, einem Tier oder einem Menschen zu tun hat. Sie kann sich aber auch anders stellen, je nachdem, wer jeweils handelt. Wie differenziert auch immer man die Sache betrachten mag, man wird nur dann von menschlichem oder ethischem Handeln sprechen können, wenn man

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sich zu den Dingen und Wesen so zu verhalten sucht, dass man dabei die jeweilige Beschaffenheit, Natur oder die Wesensmerkmale des anderen in das eigene Handeln aufnimmt und den Dingen nicht einfach die eigene Beschaffenheit, die eigenen Absichten oder den eigenen Zustand aufzwingt. Das Richtige für das Tun ergibt sich – und das macht die theoretische Unschärfe der Ethik aus – immer nur aus und in der konkreten Situation, in der das Handeln stattfindet, und auch nur mit Blick auf die Akteure und Betroffenen. Es kann daher nur bedingt verallgemeinert werden. Das soll jedoch nicht heißen, dass kategorische Verbote unter bestimmten Bedingungen nicht erforderlich und hilfreich wären, aber Handlungen zielen nicht darauf, etwas zu vermeiden, sondern sie wollen etwas erreichen und bewirken. Weit wichtiger als Regeln des Unterlassens und Tuns ist es daher, Interesse am und Erkenntnis des Anderen zu entwickeln und eine sensible Geistesgegenwart für seine Möglichkeiten und Beschränkungen. Das Richtige zu tun, bleibt stets ein situatives Problem, für das es keine theoretische Lösung gibt. Theorie ist aber insofern wichtig und hilfreich, als sie den geistigen Hintergrund kultiviert, aus dem unser Tun hervorgeht. In der Goldenen Regel, dem weltgeschichtlich wohl frühesten universellen Moralprinzip, sind diese Gesichtspunkte wirksam und auch in dem spezifisch christlichen Gebot der Nächstenliebe (Mt 7, 12 und Lk 6, 31). Allerdings wird die Goldene Regel häufig in einem negativen Sinne, als Unterlassungskriterium interpretiert, das sagt, was man nicht tun soll: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu“, während das christliche Gebot zwar nicht im Einzelnen sagt, was zu tun ist, aber doch einen positiven Appell an die schöpferische Phantasie darstellt, im Einzelfall entsprechende Handlungen zu erfinden und auszuführen. Das ökonomische Kalkül ist als handlungsleitendes Prinzip, wie gesagt, aus meiner Sicht nicht prinzipiell unethisch, denn es liefert eine gewisse Richtschnur für das, was nützlich ist und so dazu beiträgt, den Bestand eines Unternehmens zu sichern. Es ist aber für sich gesehen lediglich ein formales Prinzip, sozusagen ein Gerippe, das, wenn es nicht in einen inhaltlichen Kontext gestellt wird, nackt und gespenstisch wirkt. Es steht daher zu Recht unter Verdacht, blind zu sein für die Komplexität der Wirklichkeit und daher anfällig dafür, den Menschen, aber auch andere Wesen nicht in ihrer jeweiligen Eigenart zu beachten. In Bezug auf seinen Zweck, größtmögliche Effizienz zu erreichen, sieht es in allem nur ein Mittel oder ein Hindernis. Das ökonomische Kalkül bedarf daher der inhaltlichen Ergänzung durch Gesichtspunkte, die seinen eigenen, vergleichsweise engen Horizont übersteigen. Eine solche Ergänzung kann beispielsweise ein ökologisches oder soziales Anliegen sein, in Form des Ideals, z. B. die Naturgrundlage zu bewahren und nicht unnötig zu strapazieren oder den Menschen mit guten Produkten wirtschaftlich

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zu dienen. Das ist aber nur ein Anfang. Weitaus stärkere Richtkräfte erwachsen aus dem Versuch, umfassendere Ideen und Anschauungen auszubilden, die Natur und Mensch in einen größeren Entwicklungs- und Sinnzusammenhang zu stellen vermögen. Ich komme an dieser Stelle zum zweiten Aspekt meines Beitrags, zum Thema Spiritualität. Spiritualität ist ein Ausdruck, der durch seinen geradezu inflationären Gebrauch inzwischen leider etwas unpräzise erscheint, weshalb man sich zunächst darauf verständigen muss, was man damit meint. In dem Wort Spiritualität steckt das lateinische Wort spiritus, also Geist. Der Geist gerät in den Blick, wenn man einen Sinn für umfassende und letzte Fragen entwickelt. Das ist vor allem möglich durch Ideenbildung. Ideen sind inhaltliche Perspektiven und Hinsichten auf große Horizonte. Wer Ideen entwickelt, sieht das Mögliche, das noch nicht ist, aber auch den umfassenden Zusammenhang, in den die Dinge gestellt sind. Ideen sind Geist. Geist eröffnet sich aber auch durch den Blick auf das Allgemeine und Schöpferische in den Dingen, wie etwa im Falle der goetheschen Urpflanze, einer Idee, die das den einzelnen Pflanzen zugrunde liegende allgemeine Prinzip ihrer Bildung meint. Ich gebrauche also das Wort Spiritualität nur zur Bezeichnung einer menschlichen Haltung, die Offenheit und Interesse für umfassende Ideen und für den Geist im Sinne des Schöpferischen und Beweglichen in den Dingen meint. Das Wort Geist ist nicht nur eine Metapher für das Schöpferische, für das Bildende, Gestaltende und Ermöglichende. Es meint auch das Subtile und Sublime in der Wirklichkeit, das sich dem groben Blick entzieht und eine besondere Form des Hinsehens und Hinhörens erfordert. In seiner mystischen Bedeutung ist es das Profunde und Verborgene in den Dingen, das Seelenvertiefung beim Betrachter erfordert, um erfahren zu werden. In den Ideen gewinnt der Geist Gestalt im menschlichen Denken. Sie befähigen den Menschen in der Erkenntnis zur Überschau und dazu, große Zusammenhänge zu sehen. Im Handeln ist die Idee die Fähigkeit zur realistischen Vision im Sinne eines Blicks für das, was in Zukunft sein soll oder sein kann. Ideen nehmen die Zukunft vorweg oder organisieren und orientieren individuelles und kollektives menschliches Handeln. Vorstellungen sind hingegen konkret und limitiert und bestimmen das Handeln im Kleinen. Als Beispiel mag die Idee der Freiheit dienen: Freiheit ist kein Ding oder Gegenstand, Freiheit ist ein ideeller Gehalt, den ich denken und fühlen muss. Erst dann wird sie erlebbar und in diesem Sinne auch real. Freiheit liegt nicht als materielle Realität irgendwo vor, sondern ist eine beständige Herausforderung, die materiell umgesetzt werden muss, und insofern ist sie eine Richtkraft für das individuelle und gesellschaftliche Leben. Auf Freiheit und Selbstbestimmung beruht die Würde des Einzelnen; in ihrem Namen haben sich die Menschen im Jahre 1789 bewegen lassen, das alte Regime in Paris zu stürzen. Motiviert durch die Idee der Freiheit waren aber auch die, die 1989 die Berliner Mauer durchstoßen haben. Freiheit treibt auch den Pubertierenden, sich von seinen Eltern zu lösen, um selbstständig zu werden.

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Eine andere große Idee ist die der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist das erhabene Ziel der platonischen Staatslehre, aber unabhängig von Platon wird man wohl zugestehen, dass Gerechtigkeit als Leitbild und Richtkraft in menschlichen Gesellschaften unverzichtbar ist. Gerechtigkeit ist ein umfassendes ideelles Prinzip, das einerseits einen Vorgang oder Zustand beschreiben kann, aber weitaus häufiger ist es eine Richtkraft, die angibt, wohin sich ein Zustand entwickeln muss. Ideen können aber, wie gesagt, nicht nur das Handeln des einzelnen Menschen bewegen und ausrichten, sondern sie verbinden auch die Menschen zu Wertgemeinschaften. In einer Idee wie der der Freiheit können sich Menschen in ihrem Handeln verbunden fühlen, und zwar gleichermaßen in Bezug auf die Grundlage wie auf das Ziel ihres Handelns. Die verbindende und verknüpfende Funktion von Ideen wird jedoch besonders klar ersichtlich im Fall der Erkenntnisideen. Die Idee der Evolution ist ein Organ, ein Instrument, um eine unendliche Vielfalt von Wesen und Vorkommnissen aufeinander zu beziehen und als zusammengehörig zu betrachten. Im Lichte der Evolutionsidee gibt es nicht nur nebeneinander bestehende Einzelwesen und Arten, sondern Entwicklungen, in denen eine aus der anderen hervorgeht. Evolution denken heißt, eine große Menge von Fakten zusammen zu denken. In gleicher Weise überträgt die Idee der geistigen oder kulturellen Entwicklung den Gedanken der Evolution der biologischen Arten auf das Individuum oder ganze Völker und Gesellschaften in ihrem kulturellen Werden. Sie ist eine Erkenntnisidee, die darauf zielt, Sinn und Zusammenhang, aber auch Bedeutung in die Lebensereignisse zu bringen. Das gilt generell für alle Erkenntnisideen. Sie bringen Ordnung und Zusammenhang in die Vielfalt der Erscheinungen. Sie erklären Tatsachen und verknüpfen Einzelheiten zu einem sinnvollen Ganzen. Mit Spiritualität sind also die Offenheit und der Sinn für die zugrunde liegenden und übergreifenden ideellen Aspekte des Lebens gemeint. Als Haltung gedacht, ist sie Bereitschaft zu einer aktiven Suche nach dem, was über das Faktische und Momentane hinausführt und die großen Zusammenhänge im Sinne von Ordnungs-, Bedeutungs- und Wertkontexten sichtbar macht. Wer also in diesem Sinne spirituell, d. h. sensibel ist für Geistiges, der interessiert sich nicht nur für die analytische Seite des Denkens, den Verstand, welcher die Dinge nach Maß, Zahl und Gewicht oder nach Dauer und Geschwindigkeit usw. mathematisch bestimmt und voneinander unterscheidet, sondern auch für die verbindende und Zusammenhang stiftende Kraft des Denkens, also die Vernunft. Er sucht nach dem Sinn und der Bedeutung dessen, was er erlebt. Insofern der Zusammenhang dafür verantwortlich ist, dass der Mensch Sinn und Bedeutung empfindet, führt der Sinn für das Geistige dazu, dass solche Qualitäten für die Lebensführung relevant werden.

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Der technisch-mathematische Verstand ist heute vorherrschend. Verbindet er sich mit dem ökonomischen Kalkül, dann kann er in der Gestaltung solcher Arbeits- und Leistungsgemeinschaften, wie Unternehmen es ja letztlich sind, insofern zum Problem werden, als dann nur noch die Verwertbarkeit von Dingen und Menschen im Hinblick auf das zum Selbstzweck gewordene Wachstumsund Profitstreben berücksichtigt wird. Wachstum und Profit können ein probates Mittel des Wirtschaftens sein, aber sie sind nicht sein Zweck. Das wäre ungefähr so, wie wenn jemand nicht äße, um sich zu ernähren, sondern lediglich, um zu essen. Eine Wirtschaft, die um ihrer selbst willen betrieben wird, ist ungesund und produziert auch entsprechende Krankheitssymptome, die natürlich auch verdrängt werden können, wie uns das aus dem ungesunden persönlichen Verhalten auch bekannt ist. Das Grundproblem, das hierbei entsteht, ist, dass der, dem die Wirtschaft dienen soll, zu ihrem Diener wird: der Mensch. Die Symptome der fehlgeleiteten Wirtschaft sind an den großen, die künftige Menschheit bedrohenden Krisen zu studieren. Ich will hier nur − die ökologischen Krise − die soziale Krise − die Finanzkrise − die Kulturkrise erwähnen und sie später kurz erläutern. Zunächst möchte ich meine Grundthese vorausschicken: Wirtschaft braucht einen wertbildenden Bezugsrahmen, den sie selbst nicht erzeugen kann. Wirtschaft selbst hat ausschließlich die Aufgabe, bei knappen und endlichen Ressourcen, denen aber sich stets erneuernde Bedürfnisse gegenüberstehen, das materielle Überleben des Menschen möglichst effizient so zu organisieren, dass sie entsprechende bedarfsgerechte Güter und Dienstleistungen erzeugt und den Konsumenten zuführt. Mehr nicht! Dass die Wirtschaft stattdessen zu einem Prozess geworden ist, der den Menschen vielfach verachtet, ihn bloß benutzt und letztlich sich sogar selbst zersetzt, liegt weniger an der Wirtschaft, als daran, dass kein ausreichendes Bewusstsein davon besteht, dass eine Relativierung des einseitigen Strebens nach materiellem Gewinn und Profit nur aus dem Erleben kraftvoller ideeller Kulturwerte erwachsen kann. Aber nun zunächst kurz zu den Krisen: Man kann sie aus meiner Sicht als Ausdruck mangelnder spiritueller Kompetenz im obigen Sinne verstehen. Die ökologische Krise resultiert aus der Unfähigkeit oder Weigerung, den Zusammenhang ins Auge zu fassen zwischen dem, was die Menschen seit ca. 250 Jahren industriell und wirtschaftlich mit der Natur tun, und seinen Konsequenzen für die jetzigen und künftigen Generationen. Man hat in der Industrialisierung und im Verfolgen des wirtschaftlichen Fortschritts lange nur auf die unmittelbare Verwertung der Natur für die momentanen materiellen Bedürfnisse des Menschen geblickt. Der wirtschaftliche Aufschwung der westlichen Welt verdankt

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sich sogar der Tatsache, dass das Konsum- und damit das Einkaufbedürfnis der Menschen zunächst künstlich aufgeheizt und schließlich sogar zum lifestyle erhoben worden ist. Der materielle Fortschritt wurde so zum Selbstzweck und am Ende zur sozialen Notwendigkeit hochstilisiert: Wer konsumiert, kurbelt die Wirtschaft an, schafft auf diese Weise Arbeitsplätze und ist folglich sozial. Wer sparsam ist und nicht oder nur wenig konsumiert, dämpft die Konjunktur und ist asozial. Wer viel Geld ausgibt, ist ein Freund seiner Mitmenschen, wer sparsam ist, ist Egoist. So lautet die sozial verbrämte Formel des Konsumismus. Für die Natur und den Menschen bedeutet die Konsumspirale zwangsläufig Raubbau, der sich dadurch zunehmend beschleunigt, dass die rasant angewachsene staatliche und private Verschuldung der letzten Jahrzehnte stets neues und höheres Wachstum fordert, um die alten Schulden mit neuen Schulden in Schach zu halten. Hier fehlt offenbar der Blick vom Ganzen der Idee auf das Einzelne. Andererseits löst man die ökologische Krise auch nicht allein damit, dass man sich darauf beschränkt, Naturverschleiß zu vermeiden, indem man fortfährt wie bisher und dabei lediglich Ressourcen schonender vorgeht. Das ist ja die zurzeit praktizierte Lösung: stetiges Wachstum, aber mit tatsächlich oder vermeintlich erneuerbaren Ressourcen. Ein wirklich vertieftes Verständnis der Natur wird hiermit immer noch verfehlt, denn eine solche Haltung versäumt es, die Natur als Ort einer geistigen Entwicklung des Menschen zu begreifen, und ferner mangelt ihr die Einsicht, dass der Mensch nicht durch materiellen Konsum reicher wird, sondern durch geistige Produktivität, d. h. durch immaterielle Kultur. Aus einem solchermaßen erweiterten Blickwinkel hingegen würde man begreifen, dass die Natur nicht nur für den momentanen materiellen Konsum die Ressourcen liefert, sondern auch die Grundlage für die geistige Entwicklung des Menschen überhaupt darstellt. Mit einer solchen Idee könnte es zu einer grundsätzlich anderen Haltung kommen, die auch zeigt, dass der bloße Naturerhalt ebenso unsinnig ist wie die Naturausbeutung. Die soziale Krise innerhalb einzelner Gesellschaften, aber vor allem in der globalen Gesellschaft ist die Folge der gleichen Bewusstseinsverweigerung und Ideenblindheit auf einem anderen Feld. Sie ergibt sich aus der Annahme, dass Wirtschaftssysteme grundsätzlich nach einem Wettkampfprinzip funktionieren, wobei es darauf ankommt, dass der Einzelne Reichtum und Wohlstand entweder ererbt oder sich mit ein bisschen Fortune erarbeiten soll. Für gute Startbedingungen sind entweder familiäre oder staatliche Strukturen erforderlich, die eine entsprechende Bildung ermöglichen, die allein wiederum den Erfolg in der Wissensgesellschaft garantieren kann. Hieraus entsteht ein allgemeiner Wettlauf, bei dem nicht das Leistungsprinzip das Falsche ist, sondern die Tatsache, dass die große Mehrheit auf der Stecke bleibt. Die Wirtschaftssysteme sind darauf angelegt, dass der Sieger besser ist als alle anderen. Es gibt wenige so genannte Sieger aber sehr, sehr viele Verlierer, vor denen die Sieger dann geschützt werden sollen – etwa durch die Zäune zwischen den USA und Mexiko oder in Nordafrika,

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durch die Patrouillen im Mittelmeer oder durch drakonische Strafen. Ein solches Verständnis von Bildung als Mittel, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und wirtschaftlich erfolgreicher zu sein als andere, verkürzt den Geist wiederum auf seine zweckrationale Nutzung für den materiellen Wohlstand und raubt ihm somit die Kraft, als etwas Verbindendes zu wirken. Die gegenwärtige, durch beispiellos neue staatliche Verschuldungsprogramme kaschierte Finanzkrise 2 beruht auf der Loslösung der Finanzströme von den realen wirtschaftlichen Gegebenheiten. Vor dem Horizont der materialistischen Perspektivenarmut ist das Geldmachen ohne wirkliche Wertschöpfung eine konsequente und logische Folge. Wenn es nur oder vor allem darum geht, wirtschaftlichen Profit zu machen, dann erscheint ein solches Vorgehen auch durchaus naheliegend. Nur die Vorstellung, dass am Ende keiner mehr gewinnt, könnte in dieser Logik zum Umdenken zwingen. Wirkliches Umdenken wird aber auch hier erst dann stattfinden, wenn man Finanzwirtschaft im größeren Kontext zu betrachten versucht und sich nach dem Sinn des Geldes und der Funktion und dem Stellenwert von Wirtschaft für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft fragt. Die beschriebene Loslösung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft betrifft auch den staatlichen Sektor, denn auch ganze Staaten stellen seit längerem immer häufiger Wechsel auf eine sehr ungewisse Zukunft aus. Was realwirtschaftlich zu erwarten ist, ist angesichts der ökologischen und sozialen Krisen nur schwer absehbar. Allerdings ist eines klar, dass nämlich ständiges Wachstum auf einem begrenzten Planeten nur schwerlich als aussichtsreiche Lösung gelten kann. Aber auch die wählende Bevölkerung beteiligt sich an dem Hasardspiel, denn sie zwingt die Politik zu immer neuen Versprechungen, die möglicherweise auf unsicheren Grundlagen kurzfristig zu erreichen sind, sich langfristig jedoch als finanzwirtschaftliches Kartenhaus herausstellen werden. Die weltweite Überschuldung der Staatshaushalte baut die heutige Weltwirtschaft auf dem Treibsand einer permanenten Umschuldung von Krediten, die nie mehr zurückgezahlt werden können. Es ist wie ein Blutkreislauf, der immer schneller fließen muss, um die letzten Reste an Sauerstoff zu befördern. Hinter diesen Krisen aber steht – so abwegig es vielleicht klingen mag, aber ich nehme mir die akademische Freiheit, es dennoch auszusprechen – m. E. eine Kulturkrise. Denn Kultur findet sich im Wie des Umgangs des Menschen mit sich selbst, den anderen und seiner Umgebung. Wenn materieller Wohlstand das Ziel ist und Bildung darauf zielt, sich im weltweiten Wettlauf Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, dann wird Kultur geistlos und dadurch öde und leer. Alles tritt in den Dienst einer als Selbstzweck betriebenen Wirtschaft und wird allein durch seine Tauglichkeit, ihr zu dienen, legitimiert. Nun geht es nicht darum, auf materiellen Wohlstand zu verzichten, sondern darum, ihn in den Dienst von etwas anderem zu stellen, und das ist m. E die 2

Vgl. Eichhorn / Sollte (2009).

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Bildung des Menschen zum Menschen; man könnte sie auch die geistige Selbstschöpfung des Menschen durch Kunst, Wissenschaft und Religion nennen. Die Kulturkrise ist nicht durch die Wirtschaft verursacht, sondern umgekehrt: Die kulturelle Schwäche hat die beschriebenen Probleme zur Folge. Am Umgang mit der Wirtschaft und sozialen Fragen würde sich etwas ändern, wenn es hier zu einem Umdenken käme. Die Kulturkrise, auf die ich zum Abschluss kurz verweisen möchte, ist lange Zeit latent geblieben, hat aber nunmehr eine gefährliche Erscheinungsform im West-Ost-Konflikt angenommen. Hinter dem fundamentalistischen Terrorismus steht die Forderung, der Anspruch, der verzweifelte Versuch, der westlichen existentiellen Leere durch bedingungslose Unterwerfung unter ein religiöses Dogma zu entkommen. Im Fundamentalismus werden Wahrheiten einfach aufgestellt und verkündet. Der Westen stellt dem Fundamentalismus aber gegenwärtig keinen aufgeklärten Geist gegenüber, sondern nur eine Liberalismus genannte konsumistische Geistlosigkeit. Die Folge ist die wechselseitige Aufstachelung der beiden Extreme zu immer neuen Gewalt- und Überwachungsspiralen. Der Fundamentalismus setzt dem westlichen Überleben um des vergänglichen Daseins willen das Sterben um eines vermeintlich unvergänglichen Seins willen entgegen. Spiritualität, im Sinne des oben beschriebenen besonnenen Interesses für das Geistige, ist eine Fähigkeit, die m. E. immer wichtiger werden wird, um mit den Fragestellungen und Herausforderungen der heutigen Zeit fertig zu werden. Führungspersonen und ihre Unternehmen oder Einrichtungen werden immer mehr von den beschriebenen Krisen eingeholt und müssen damit umgehen können. Eine bewusste Vorbereitung darauf oder eine systematische Pflege entsprechender Fähigkeiten gibt es bislang nicht. Eine Führungskraft steht aber heute vor der Herausforderung, das ökonomische Kalkül durch spirituelle Fähigkeiten zu ergänzen, wenn es darum geht, dem Menschen und seinen besonderen Entwicklungsbedingungen gerecht zu werden.

Literatur Eichhorn, Wolfgang / Sollte, Dirk (2009): Das Kartenhaus Weltfinanzsystem, Frankfurt/M.

Sinn geben und / oder Sinn finden? Zur Orientierungssuche in der Wissensgesellschaft Von Matthias Petzoldt 1 Wenn in wirtschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen die Sinn-Frage gestellt wird, ist das ein bemerkenswerter Tatbestand. 2 Auf diesem Kongress ist ausdrücklich hierfür Track 5 eingerichtet worden „Kultur & Sinngebung“. Dass dazu Vertreter aus der Philosophie und Theologie eingeladen werden, kommt nicht von ungefähr. Auf diesen Zusammenhang werde ich noch zu sprechen kommen. Ich stelle mich dieser Aufgabe als Theologe. Dass die Sinnfrage thematisiert wird, zeigt einen Orientierungsbedarf an. Ich behaupte: Mit der Orientierungssuche selbst steigen wir schon in die Sinnfrage ein. Dass es sich so verhält, soll mit dem folgenden Aufzeigen von Zusammenhängen sowie mit dem Vornehmen von Differenzierungen deutlich gemacht werden. Differenzierungen sind bereits angesagt, wenn – wie auf dem Kongress – die Gesellschaft unter dem Markenzeichen des Wissens zum Thema erhoben wird. Seit etwa zwei Jahrzehnten hat Jürgen Mittelstraß die Unterscheidung zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen in die Diskussion eingebracht. 3 Alte, klassisch gewordene Unterscheidungen wie die zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, die für heutige Verstehensbedingungen oft wenig plausibel erscheinen, werden mit dieser Unterscheidung weiterentwickelt. Mittelstraß erklärt: „Sach- und Verfügungswissen ist ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel...“; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebe1

Prof. Dr. Matthias Petzoldt ist Inhaber des Lehrstuhls für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Der folgende Beitrag stellt die erweiterte Fassung des Vortrags an der Universität Leipzig am 3. Dezember 2009 dar. Der Vortragsstil wurde beibehalten, der Text um Literatur- und Quellenhinweise ergänzt. 2 Ich erlebe dies nicht zum ersten Mal. Im Sommersemester 1999 habe ich mit Kollegen aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig ein interdisziplinäres Seminar durchgeführt zum Thema „Macht Geld Sinn – Geld als ökonomisches, soziologisches und theologisches Problem“. 3 Vgl. Mittelstraß (1989); Mittelstraß (1992); Mittelstraß (1994); Mittelstraß (2001).

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nen Zwecken zur Verfügung stellen. „Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele“ 4; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren, z. B. als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen, aber auch solche, die das Leben orientieren und damit den „Sinn“ des eigenen Lebens ausmachen). „Sach- und Verfügungswissen ist ein positives Wissen, Orientierungswissen ist ein regulatives Wissen.“ 5 In jeder Wissenschaft findet sich beides: Verfügungs- wie Orientierungswissen. So umfasst zum Beispiel die Physik Kenntnisse (etwa über Begriffe, Definitionen, Gesetze und Verfahren) und Fähigkeiten (etwa die Beherrschung fachlicher Methoden zu Messungen usw.), die insgesamt ein instrumentelles Wissen ausmachen; ein Verfügungswissen, das beispielsweise in der Technik zur Anwendung gelangt. Physik umfasst aber auch Orientierungswissen, Kenntnisse etwa über die Eingriffsmöglichkeiten des Menschen in die Natur dank des Verfügungswissens und Fähigkeiten, etwa kommunikative Fähigkeiten, nämlich über die Auswirkungen solcher menschlichen Eingriffsmöglichkeiten in die Zusammenhänge der Natur sich austauschen zu können. 6 Wenngleich also Verfügungs- und Orientierungswissen zusammengehören, zeigen sich dennoch in den Wissenschaften charakteristische Schwerpunktsetzungen. So dominiert in den Naturwissenschaften das Verfügungswissen, insofern hier die Zusammenhänge der Natur den Untersuchungsgegenstand bilden, um dieselben sich zunutze machen und darüber verfügen zu können. In den Geisteswissenschaften hingegen bilden menschliche Kulturprodukte den Forschungsgegenstand: Texte, Artefakte verschiedenster Künste usw. Sie zu untersuchen geschieht mit der Zielstellung, (weit formuliert:) sie zu verstehen; also sich darüber auszutauschen und miteinander zu verständigen, wie Texte zu verstehen sind, aber auch wie Musik oder Bilder oder Skulpturen auf mich und auf andere wirken. Als Ziel wird hierbei verfolgt, im Orientieren an den verschiedensten Verstehensbemühungen sich miteinander zu verständigen. Ja, das Verständigungsmedium als solches – die Sprache – wird auf unterschiedlichste Art und Weise der Untersuchung unterzogen und nimmt einen großen Raum in den Geisteswissenschaften ein. Aus diesen Wissenschaften sind Philosophie und Theologie unter dem Gesichtspunkt herauszuheben, dass sie unter den Artefakten menschlicher Kultur in besonderer Weise Texte zum Gegenstand der Untersuchung machen, welche die menschliche Orientierungssuche selbst zum Inhalt haben und insofern mit ihren verschiedenen Lösungsangeboten Sinnpotentiale bereitstellen. Oft liegen solche Texte geschichtlich weit zurück. Denken wir nur an die heiligen Schriften 4 5 6

Mittelstraß (2001), S. 75 f. Mittelstraß (2001), S. 76. Vgl. hierzu Muckenfuß (2006), S. 58 – 72.

Sinn geben und / oder Sinn finden?

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der Weltreligionen oder an die Werke großer Philosophen wie Konfuzius, Platon oder Aristoteles. Die Beschäftigung mit alten Texten wirkt auf diejenigen befremdlich, welche vorrangig mit dem Medium des Verfügungswissens zu tun haben. Denn bei ihnen zählen die Kenntnisse der neuesten Forschungsdaten und die Publikationen der neuesten Hypothesen. Den Erkenntnissen des Verfügungswissens ist unter dieser Dynamik eine schnelle Verfallsdauer eigen. Umso mehr erscheint es aus dieser Sichtweise kurios, wie andere Wissenschaften sich mit Texten befassen, die möglicherweise tausende von Jahren zurückliegen. Was soll das in der Gegenwart? Wer so fragt, übersieht leicht, dass in den Wissenschaftsdisziplinen Philosophie und Theologie sehr wohl immer neue Texte entstehen, weil immer neue Überlegungen zur Orientierung in einer sich ständig verändernden Welt angestellt werden. Doch knüpft das Orientierungswissen direkt oder indirekt an klassisch gewordenes Gedankengut aus alter Zeit an. Solche Texte gilt es im kulturellen Gedächtnis zu halten, weil sie auch in einer Welt von Nanotechnologie, steigender und sinkender Aktienkurse und bildgebender Verfahren in den Neurowissenschaften wertvolle Sinnangebote bereithalten. Vielleicht sind beim Zuhören schon Überlegungen darüber in Gang gekommen, wo die Wirtschafts- wie auch die Sozialwissenschaften einzuordnen sind: eher beim Verfügungswissen oder eher beim Orientierungswissen? Ich werde mich mit einer Erklärung zurückhalten. Wahrscheinlich fällt die Antwort unterschiedlich aus, je nachdem ob die Perspektive mehr auf die Einsichten – etwa in Marktmechanismen oder in das Zusammenspiel gesellschaftlicher Strukturen – als effektiv zu nutzender Kenntnisse fällt oder ob derartige Einsichten aus anderer Perspektive kritisch hinterfragt werden. Jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Verfügungs- und Orientierungswissen zusammengehören. Vorläufiges Fazit dieser Überlegungen: Verfügungswissen und Orientierungswissen greifen ineinander sowohl innerhalb einer Wissenschaft als auch im Konzert der verschiedenen Wissenschaften, die je für sich unterschiedliche Gewichte setzen, dafür aber umso mehr des interdisziplinären Zusammenspiels bedürfen. Verfügungs- und Orientierungswissen gehören wissenschaftsorganisatorisch zusammen, weil beides zusammen das Wissen unserer Lebenswelt ausmacht. Die Sinnfrage, wie sie im Orientierungswissen gestellt und zu beantworten versucht wird, ist in unserer Lebenswelt verankert. Letztlich geht es immer um ein und dasselbe Medium: um das Wissen, einmal unter dem Gesichtspunkt des Verfügens, andermal unter dem Aspekt des Orientierens. 7 Bis hierhin ist jener Zusammenhang aus einer sehr freundlichen Perspektive beschrieben worden. Die Beobachtungen von Mittelstraß fallen allerdings viel kritischer aus: „Daß es mit einem Orientierungswissen heute nicht zum Besten 7

Vgl. Mittelstraß (2001), S. 16.

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bestellt ist, pfeifen die Spatzen, nicht nur die philosophischen, von allen Dächern. Die moderne Welt weiß immer mehr, und sie wird gleichwohl immer orientierungsschwächer.“ 8 Werden mit diesem Zitat Verwerfungen in unserer Gegenwart angesprochen, so will ich jetzt freilich nicht weiter den Analysen von Jürgen Mittelstraß folgen. Sie weisen in wissenschaftstheoretische Zusammenhänge. Unter dem hier anstehenden Thema der Sinnfrage im Kontext der Ökonomisierung der Wissensgesellschaft lohnt es sich vielmehr, einigen Denkspuren der Philosophie und Gesellschaftsanalyse von Jürgen Habermas zu folgen. Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981 entwickelt eine sprachtheoretisch begründete Gesellschaftstheorie. Darin eingebettet ist eine Unterscheidung zwischen Zweckrationalität und kommunikativer Rationalität. Begreiflicherweise spielt die später von Mittelstraß eingeführte Differenzierung von Verfügungs- und Orientierungswissen hier noch keine Rolle. Diese Differenzierung im Wissen lässt sich aber mit jener Differenzierung von Rationalitäten koppeln. Denn nach Habermas unterscheiden sich die Rationalitätsbegriffe „in der Art der Verwendung des propositionalen Wissens. Unter dem einen Verwendungsaspekt erscheint instrumentelle Verfügung, unter dem anderen kommunikative Verständigung als das der Rationalität innewohnende Telos.“ 9 Sprechakttheoretisch wird die performative Pragmatik der kommunikativen Rationalität als ein regulatives Wissen analysiert, das menschliches Handeln auf Verständigung orientiert. Damit ist sprachanalytisch jene Pragmatik angesprochen 10, die sich im Medium Wissen als die regulative Ausrichtung des Orientierungswissens niederschlägt, die Zweckrationalität hingegen im Medium Wissen als die Ausrichtung des Verfügungswissens. Mit dem Sich-Ausrichten nach Zwecken ist aber zugleich das Wissen unter dem Gesichtspunkt der Orientierung berührt. Wir werden damit wieder des Zusammengehens von Verfügungs- und Orientierungswissen ansichtig. Allerdings lauert hier auch eine Gefahr. Im Orientieren geht es ja nicht nur um Zwecke und Ziele, sondern auch um die Suche nach Sinn. Wo aber das Sich-Orientieren an Zwecken zur alleinigen Ausrichtung wird, verkümmert die Sinnfrage im Orientierungswissen. Die Funktionslogik des gesellschaftlichen Teilsystems Wirtschaft kann dafür besonders anfällig sein. Zu betonen ist hier der Konjunktiv. Die Wirtschaft muss nicht automatisch in Ausschließlichkeit der Zweckrationalität verfallen. Die kritischen Diskussionen der letzten Jahre in der Wirtschaft und in den Wirtschaftswissenschaften 11 um die Einseitigkeit des Denkmodells „homo oeco8

Mittelstraß (2001), S. 44. Habermas (1981), Bd. 1, S. 30. 10 Vgl. Habermas (1981), Bd. 1, S. 369 – 452. 11 Vgl. z. B. Ulrich (1993). Von Ulrich wird Habermas’ Theorie der kommunikativen Rationalität für die Wirtschaftsethik weiterbedacht. 9

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nomicus“ 12 zeigt, wie das Wissen und Denken im Kontext der Ökonomie nicht zwangsläufig der Zweckrationalität erliegt. Wo freilich das tägliche Leben sich dieser Rationalität unterwirft, da kommt es – wie Habermas erklärt – zu einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ 13 durch das Teilsystem Wirtschaft. Bevor wir die Auswirkung dieser Entwicklung auf die Sinnfrage in den Blick nehmen, muss noch ein wenig der weitere Theoriehintergrund der Habermasschen Gesellschaftsdiagnose ausgeleuchtet werden. Mit den Stichworten „System“ und „Lebenswelt“ wird die kritische Anknüpfung an der Systemtheorie von Niklas Luhmann 14 und Talcott Parsons 15 berührt. Stand Habermas um die Zeit seiner Ausarbeitung der Theorie des kommunikativen Handelns noch stark in der kritischen Auseinandersetzung mit jener Soziologie 16, bewegt er sich dagegen in den letzten Jahren auf deren Analyse des modernen Pluralismus auf dem Hintergrund der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autopoietische Subsysteme zu. Dieser Ausdifferenzierungsprozess sei für unsere Überlegungen hier ganz kurz an markanten Punkten erläutert: 17 Am Ausgang des Mittelalters löst sich die Politik aus dem Einfluss der Religion. Umgekehrt verselbständigt sich auch die Religion gegenüber der Politik. Die Reformation hat jenen Prozess maßgeblich vorangetrieben. Sie legte Wert darauf, dass Geistliches von Weltlichem geschieden werde, damit beides nicht vermischt werde. So widmete sie kirchliches Eigentum (Ländereien, Immobilien usw.) in weltliche 12 Kirchgässner (2008); Manstetten (2000); Rost (2009); Ulrich (1993), S. 234 –243; Werhahn (1989). 13 Habermas (1981), Bd. 2, S. 522 – Dort beschreibt Habermas die „Bedingungen einer Kolonialisierung der Lebenswelt“: „die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind; von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation“ (ebd.). 14 Einige Literatur von Niklas Luhmann s. unter Fn. 17. 15 Parsons (1967); Parsons (1977). 16 Vgl. Habermas / Luhmann (1974); Habermas (1981), Bd. 2, S. 295 –444. – Die Abgrenzungen zur Systemtheorie sind bei Habermas vielfältig. Hier sei sie nur an zwei Punkten festgemacht: 1. Für die Habermas’sche Kapitalismuskritik richtet sich die These von „Kolonialisierung der Lebenswelt“ zusammen auf „Macht“ und „Geld“, die als Steuerungsmedien des „Systems“ den Menschen eine von gemeinsamen kulturellen Werten und Normen abgelöste Handlungslogik aufzwingen. Auf diese Weise kommt es zu einer Entkoppelung von „System“ und „Lebenswelt“. „Heute dringen die über die Medien Geld und Macht vermittelten Imperative von Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die irgendwie kaputt gehen, wenn man sie vom verständigungsorientierten Handeln abkoppelt und auf solche mediengesteuerten Interaktionen umstellt“ (Habermas (1985), S. 189). 2. Für Habermas stellt sich in jenen Jahren die Religion nicht als ein unersetzbares autopoietisches Subsystem der Gesellschaft dar, wie dies von der Luhmann’schen Systemtheorie gesehen wird. 17 An dieser Stelle wäre auf zahlreiche Publikationen von Niklas Luhmann hinzuweisen. Ich beschränke mich hier nur auf Luhmann (1984); Luhmann (1982); Luhmann (1992); Luhmann (1994); Luhmann (2000).

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Nutzung um. Säkularisierung wurde das genannt. Ländereien zu bewirtschaften, das habe nichts mit dem kirchlichen Auftrag – wir sagen heute: nichts mit der religiösen Funktion – zu tun. Also sollten aus Klöstern Hospitäler, Schulen oder Universitäten werden. In diesem Sinne betrieb die Reformation auch die Säkularisierung geistlicher Fürstentümer in weltliche, sprich: die Umwandlung von Fürstbistümern in weltliche Staaten. Mit der Verselbstständigung der Politik gegenüber der Religion und der Religion gegenüber der Politik kommen weitere gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse in Gang: Die Wirtschaft emanzipiert sich von der Religion. Denken wir an das Beispiel, wie das kirchliche Zinsverbot verschwindet. Diese Emanzipation der Wirtschaft gegenüber der Religion vollzieht sich in gleichzeitiger Emanzipation der Wirtschaft aus der Kontrolle der Politik. Und immer bedeutet solche Verselbständigung der Wirtschaft auch die Verselbständigung von Religion und Politik gegenüber der Wirtschaft. Auf ähnliche Weise verselbständigen sich in der Moderne die Teilsysteme Recht und Wissenschaft usw. Was wir hiermit in den Blick bekommen, ist die moderne Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme, deren gegenwärtig erlebter Pluralismus nur ein Durchgangsstadium in diesem Prozess darstellt. In der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gibt es keine gesellschaftliche Mitte mehr. Vielmehr agieren alle Teilsysteme nach der je eigenen Logik und lassen sich deshalb auch nicht gern von anderen Teilsystemen hineinreden. Der Verlust der gesellschaftlichen Mitte bedeutet aber nicht, dass mit solchem Pluralismus die Gesellschaft auseinander fiele. Sie wird vielmehr damit zusammengehalten, dass die gesellschaftlichen Teilsysteme über ihre jeweiligen Funktionen zusammenwirken. Freilich treten auch Szenarien in den Blick, welche Verwerfungen in den modernen Gesellschaften anzeigen. Politische Systeme wie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts versuchten die Mitte der Gesellschaft auszufüllen und alle Lebensbereiche zu beherrschen. Wenn wir uns hier mit dem Kongress im Teilsystem Wirtschaft bewegen, denken wir zum Beispiel an die Planwirtschaften im Ostblock. Die Politik versuchte, unter anderem auch die Wirtschaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Politik. Ein anderes Szenario: Religiöse Gruppierungen missverstehen Säkularisierung als einen Prozess des Abfallens von Religion. Ja sie werfen den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen Gottlosigkeit vor, weil religiöse Fragen oder religiöse Praxis in der Logik ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion nicht vorkommen. Und sie versuchen den Prozess zurückzudrehen hin zu einem System, in dem die Religion wieder die Mitte der Gesellschaft ausfüllt. Solche Bestrebungen können gar Züge von religiösem Fundamentalismus annehmen. 18 18

Vgl. Petzoldt (1998); Petzoldt (2009).

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In der funktionalen Ausdifferenzierung der Moderne gehört es aber nicht zu den Aufgaben der anderen Teilsysteme, religiösen Fragen nachzugehen oder religiöse Praxis auszuüben. Die Aufgabe des Teilsystems Recht ist zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden. Die Funktion des Teilsystems Wirtschaft ist, in der Knappheit der Güter die Güterbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Die Aufgabe des Teilsystems Wissenschaft ist, im je fachspezifischen Zugriff auf Sektoren der Wirklichkeit die Hypothesen der Theorien auf wahr und falsch hin zu überprüfen usw. usf. Da gehört nach der jeweiligen Logik der Subsysteme religiöse Praxis nicht hinein. Vielmehr ist die Pluralität der autonomen Teilsysteme darauf angelegt, dass zum Gesamtsystem der Gesellschaft auch das Teilsystem Religion hinzugehört, welches die religiöse Funktion in die Gesellschaft ausübt. Wo aus religiöser Perspektive dieser gesellschaftlich ausdifferenzierte Platz der Religion nicht wahrgenommen wird und stattdessen die Bemühungen darauf hinauslaufen, die Gesellschaft unter die Kontrolle organisierter Religion zurückzuholen, kommt eine Kolonialisierung der Lebenswelt durch Religion in Gang. Noch ein drittes Szenario: Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Wirtschaft. Wir waren schon darauf zu sprechen gekommen. Denn diese gesellschaftliche Verwerfung hat Habermas mit seinen Analysen besonders im Auge. Zu ihrer Illustration greife ich jetzt nur ein Zitat aus einer jüngeren Veröffentlichung 19 heraus, nämlich dass sich „Bürger wohlhabender und friedlicher liberaler Gesellschaften in vereinzelte, selbstinteressiert handelnde Monaden [verwandeln], die nur noch ihre subjektiven Rechte wie Waffen gegeneinander richten. Evidenzen für ein solches Abbröckeln der staatsbürgerlichen Solidarität zeigen sich im größeren Zusammenhang einer politisch unbeherrschten Dynamik von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft. Märkte, die ja nicht wie staatliche Verwaltungen demokratisiert werden können, übernehmen zunehmend Steuerungsfunktionen in Lebensbereichen, die bisher normativ, also entweder politisch oder über vorpolitische Formen der Kommunikation zusammenhalten worden sind.“ 20 Zu prüfen ist, wie unter der Steuerungsfunktion der Ökonomie womöglich auch der Wissenschaftsbetrieb und darüber hinaus das Medium Wissen in unserer Lebenswelt beherrscht wird. Die im Leitthema des Kongresses angesprochene Ökonomisierung der Wissensgesellschaft ist gerade auch unter dieser Perspektive kritisch zu befragen. Für die anstehende Sinnproblematik sind nunmehr die Konsequenzen in Augenschein zu nehmen. Wird ein ökonomisches Zweckdenken im Medium Wissen zur beherrschenden Rationalität, droht die Gefahr, dass in der Gesellschaft die im Orientierungswissen angelegte Suche nach Sinn Schaden nimmt. Solche Verkümmerung kann unterschiedliche Gestalt annehmen: 19 20

Habermas (2009). Habermas (2009), S. 112.

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− dass sich die Orientierung auf Sinn (z. B. in der Frage nach dem Sinn des Lebens) zu einem Zweckdenken verkürzt; − dass die in der gesellschaftlichen Erinnerung des Orientierungswissens gespeicherten Sinnangebote verloren gehen, und dass solches Vakuum mit gezielter Sinngebung zu kompensieren gesucht wird; − dass die Sinnfrage ganz verlöscht. Ein Problem tut sich an dieser Stelle unter der Frage auf: Wie steht es um die Wirkkraft der in der Kultur bereitstehenden Sinnpotentiale, die durch Artefakte unterschiedlichster Art, besonders aber durch Texte, überliefert sind und die wissenschaftlich besonders von Philosophie und Theologie immer wieder neu bedacht und für das gegenwärtige Verstehen übersetzt werden? Wie steht es um ihre Wirkkraft in einer – wie Habermas sagt – „postsäkularen“ Gesellschaft 21? Mit der Kennzeichnung unserer Gesellschaft als postsäkular ist eine Ambivalenz angesprochen. Einerseits ist sie säkular, insofern sich ein nachmetaphysisches Denken durchgesetzt hat, das die Transzendenzdimension in den überlieferten Werken nicht mehr als solche in die eigene Rationalität zu integrieren vermag, sondern das vielmehr auf eine Übersetzung in nachmetaphysische Verstehensweisen des Orientierungswissens angewiesen ist. Unter diesen Bedingungen ist es fraglich, ob die Sinnangebote religiöser Überlieferungen überhaupt noch als relevant wahrgenommen werden. Andererseits muss Habermas feststellen: Allein was die ethische Orientierung angeht, ist die Wissenschaft nicht in der Lage, als solche Ethos hervorzubringen. Ein erneuertes ethisches Bewusstsein kommt nicht als Produkt wissenschaftlicher Debatten zustande. Vielmehr ist das nachmetaphysische Zeitalter auf eine Koexistenz von Religion und säkularer Gesellschaft angewiesen. Deshalb spricht Habermas von einer notwendigen Kooperation, insofern die Religion in postsäkularer Gesellschaft 22 die Funktion übernimmt, angesichts einer „entgleisenden Modernisierung“ 23 für eine Stabilisierung der vorpolitischen moralischen Grundlagen eines freiheitlichen Rechtsstaates zu sorgen. 24 „Religiöse Überlieferungen besitzen für moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick auf sensible Formen eines humanen Zusammenlebens, eine besondere Artikulationskraft“. 25 Wir sehen an diesen Bemerkungen, wie sich Habermas’ Sicht von der gesellschaftlichen Rolle der Religion in den letzten Jahren gewandelt hat. Noch in Publikationen um die „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) vertrat er die Überzeugung, dass die Zeit von Religion vorbei sei; „die Moderne [...] 21 22 23 24 25

Habermas (2001), S. 12 – 15. Vgl. Habermas (2001), S. 12 ff. Habermas (2009), S. 111. Vgl. ebd., S. 106 – 118; vgl. Habermas / Ratzinger (2005), S. 15 –37. Habermas (2009), S. 137.

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muss ihre Normativität aus sich selbst schöpfen.“ 26 Deshalb müsse das Orientierungswissen der Religion in Diskursethik überführt werden. 27 In den letzten Jahren aber, besonders seit seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 28, hat sich in diesem Punkt die Sichtweise des Philosophen geändert. Zum einen wird die Leistungskraft der Wissenschaften nüchterner beurteilt. Das nachmetaphysische Denken kann aus sich selbst heraus keine verbindende Ethik hervorbringen. 29 Zum anderen ist für Habermas die Unverbrauchtheit religiösen Orientierungswissens deutlicher ins Blickfeld getreten. Deshalb ist das nachmetaphysische Zeitalter auf eine Koexistenz von Religion und säkularer Gesellschaft angewiesen. So argumentiert ein Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, der sich selber für „religiös unmusikalisch“ hält. 30 Eine Apologetik der Religion liegt ihm völlig fern. Umso aufmerksamer sollte seine Einschätzung zur gesellschaftlichen Rolle der Religion bedacht werden. Worin sieht er ihre unersetzbare Bedeutung? Mit dieser Frage nehmen wir wieder die Spur seiner Überlegungen auf. Habermas geht es nicht nur um die systemtheoretische Einsicht in die Notwendigkeit des Subsystems Religion in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Freilich wird die Habermassche Gesellschaftstheorie an dieser Stelle nun kompatibel mit Luhmanns Sichtweise von der Nichtersetzbarkeit des Teilsystems Religion, welches sich über seine Funktion der Kontingenzbewältigung in die moderne Gesellschaft einbringt. Die Ausdifferenzierung in autopoietische Subsysteme bringt eben auch die Verselbständigung des Teilsystems Religion mit sich, auf dessen Funktion die Gesellschaft unabdingbar angewiesen ist. Allerdings möchte Habermas „das Phänomen des Fortbestehens der Religion in einer sich weiterhin säkularisierenden Umgebung nicht als bloße soziale Tatsache ins Spiel bringen“ 31, nämlich als jenes Subsystem, welches die in den Teilsystemen verursachten Krisen seinerseits durch Bezugnahme der gesellschaftlichen Orientierung auf einen transzendenten Sinn zu kompensieren sucht. Habermas kommt es vor allem darauf an, dass die Wissenschaft das Phänomen des unverbrüchlichen Fortbestandes der Religion in der Moderne auch gleichsam von innen heraus „als eine kognitive Herausforderung ernst“ nimmt. 32

26 27 28 29 30 31 32

Habermas (1993), S. 16. Vgl. Habermas (1981), Bd. 2, S. 118 – 169. Vgl. Habermas (2001). Vgl. Habermas (2009), S. 115. Habermas (2001), S. 30; Habermas (2009), S. 118. Habermas (2009), S. 113. Ebd.

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Habermas spricht hier von einem „doppelten“, 33 nämlich „komplementären Lernprozess“ 34: In der modernen Gesellschaft müssen nicht nur die Religionen ein reflexives Bewusstsein ausbilden und sich darauf einstellen, dass sie in einer Umwelt leben, die sich anders versteht als sie selbst, sondern auch die säkulare Gesellschaft muss ein reflexives Bewusstsein ihrer selbst ausbilden. „Für den religiös unmusikalischen Bürger bedeutet das die keineswegs triviale Aufforderung, das Verhältnis von Glauben und Wissen aus der Perspektive des Weltwissens selbstkritisch zu bestimmen. Die Erwartung einer fortdauernden Nicht-Übereinstimmung von Glauben und Wissen verdient nämlich nur dann das Prädikat ‚vernünftig‘, wenn religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist. In der politischen Öffentlichkeit genießen deshalb naturalistische Weltbilder, die sich einer spekulativen Verarbeitung wissenschaftlicher Information verdanken und für das ethische Selbstverständnis der Bürger relevant sind, keineswegs prima facie Vorrang vor konkurrierenden weltanschaulichen oder religiösen Auffassungen.“ 35 Auf die Motivationspotentiale der Religion kann die moderne Gesellschaft nicht verzichten. Weder der säkulare Staat noch eine sich nachmetaphysisch verstehende Wissenschaft noch eine von den Marktmechanismen gesteuerte Wirtschaft verfügen selbst über derartige Formen der Lebensthematisierung. Die spannende Frage ist, „wie man sich die semantische Erbschaft religiöser Überlieferungen aneignen kann, ohne die Grenze zwischen den Universen des Glaubens und des Wissens zu verwischen.“ 36 „Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wach gehalten worden. Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann – ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge.“ 37

33 34 35 36 37

Ebd., S. 107. Ebd., S. 116. Ebd., S. 118. Habermas (2009), S. 218. Ebd., S. 115.

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Bei solchem religiösen Überlieferungsgut denkt Habermas zum Beispiel an die biblische Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. 38 Das Gedankengut des Glaubens verlangt allerdings nach „Übersetzung“ in die Verstehensmöglichkeiten nachmetaphysischen Denkens unserer Zeit. 39 An der Unterschiedlichkeit von Religion gegenüber anderer Rationalität darf bei der gewünschten Transformation nichts eingeebnet werden. Dennoch gelingt dieselbe erst, wenn der rettende Gehalt religiöser Sinnpotentiale in der nachmetaphysischen Denkweise artikuliert werden kann. „Die Übersetzung der Gottebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen ist eine solche rettende Übersetzung. Sie erschließt den Gehalt biblischer Begriffe über die Grenzen einer Religionsgemeinschaft hinaus dem allgemeinen Publikum von Andersgläubigen und Ungläubigen.“ 40 Wenn ich es recht sehe, sind diese wenigen Zeilen bisher die einzigen Ausführungen in seinen Publikationen geblieben, in denen sich Habermas substanziell auf religiöse Überlieferungen bezogen hat, in diesem Fall auf Inhalte der jüdisch-christlichen Tradition. Sonst beschränken sich seine Überlegungen auf die Struktur-Beschreibungen im Verhältnis von säkularem Staat und Religion unter den Bedingungen einer entgleisenden Modernisierung und im Verhältnis von Wissenschaft und Religion angesichts von Engführungen eines szientistischen Naturalismus. Man mag es bedauern, dass Habermas nicht umfassender auf Inhalte der religiösen Überlieferungen eingeht, um daran Beschreibung der gesellschaftlichen Rolle der Religion ausführlicher zu entwickeln. Ich meine jedoch, dass jene Zurückhaltung vielmehr die Konsequenz seiner Ansichten erkennen lässt. Als Philosoph, der den religiösen Standpunkt nicht teilt, möchte er gerade nicht zum Souffleur religiöser Inhalte werden, sondern deren Auslegung denen überlassen, die in solcher Tradition stehen. 38

Vgl. Habermas (2001), S. 29 – 31; Habermas (2009), S. 115 –116. Habermas (2001), S. 28 – 29: Die „profane, aber nichtdefaitistische Vernunft [...] weiß, dass die Entweihung des Sakralen mit jenen Weltreligionen beginnt, die die Magie entzaubert, den Mythos überwunden, das Opfer sublimiert und das Geheimnis gelüftet haben. So kann sie von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen. [...] Die postsäkulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort. Nun freilich nicht mehr in der hybriden Absicht einer feindlichen Übernahme, sondern aus dem Interesse, im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken. Der demokratisch aufgeklärte Commonsense muss auch die mediale Vergleichgültigung und die plappernde Trivialisierung aller Gewichtsunterschiede fürchten. Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemein Resonanz finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine rettende Formulierung einstellt. Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung.“ 40 Habermas (2009), S. 115 f. 39

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Deshalb werde ich jetzt als christlicher Theologe seine Berufung auf das Gedankengut der biblischen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen aufnehmen und sie auf die hier anstehende Sinnfrage beziehen. Dabei möchte ich die Problematik am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verdeutlichen. Die klassische Formulierung im ersten Artikel lautet bekanntlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Habermas sieht zu Recht die biblische Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen als normgebende Denktradition hinter dem modernen Rechtsbegriff von der unantastbaren Menschenwürde. Auch andere in Frage kommenden Denktraditionen wie die Kantsche Version – wonach der Mensch ein Zweck an sich selbst sei und deshalb nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf, also ein Mensch von einem anderen nicht bloß als Mittel für eigene Zwecke benutzt werden darf 41 – schöpft ihre unbedingte Normativität aus dem biblischen Gedankengut von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Kants Argumentation stellt selbst eine Übersetzung dieses biblischen Traditionsgutes in das neuzeitliche Autonomiebewusstsein des Menschen dar. Erst aus der transzendenten Begründung in der biblischen Denkweise erhält die Norm der Unantastbarkeit der Menschenwürde ihre Plausibilität. Das heißt zum einen: Die unbedingte Würde eines jeden Menschen ist kein deskriptiver Sachverhalt, der etwa naturwissenschaftlich festzustellen wäre. Denn sobald die Würde eines Menschen an vorfindliche Bedingungen geknüpft wird, beginnt die Suche nach den aufweisbaren Erfüllungen derselben; und schon ist sie nicht mehr unantastbar. Vielmehr handelt es sich bei der Menschenwürde um eine Zuschreibung. Zum anderen gerät aber auch ein solches Verständnis in die Gefahr, seine unbedingte Normativität zu verlieren, insofern menschliche Zuschreibungen vom Willen der Zuschreibenden abhängen. 42 Dem menschlichen Willen entzogen und damit unantastbar ist Menschenwürde erst als „transempirische“ Zuschreibung. 43 Eben diese Plausibilität erwächst aus der Gewissheit der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die biblische Überlieferung drückt diese Überzeugung im Alten wie im Neuen Testament aus. Aus dem Alten Testament haben besonders folgende Zeugnisse eine große Wirkungsgeschichte entfaltet. In 1 Mose 1,26 wird der Schöpfergott vorgestellt, der da spricht: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei...“. Und in Psalm 8,5 wendet sich der Beter dankbar zu Gott: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ Neutestamentlich wird die Rede vom Ebenbild Gottes auf 41 Kant (1983), S. 61: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 42 Vgl. Liedke (2008). 43 Anselm / Körtner (2003), S. 203.

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Christus bezogen (2. Kor 4,4): Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Durch seine vorbehaltlose Anerkennung werden die Menschen aus den belastenden Bindungen erlöst; und sie gewinnen die Freiheit gleich zu sein dem Bild des Gottessohnes (Röm 8,29). Durch sein Zugehen auf die Menschen finden sie seine Anerkennung. Die hier aufgeführten Zitate sind markante Beispiele der vielfältigen Rede der Bibel von der Gottebenbildlichkeit. So unterschiedlich dieses biblische Zeugnis auch ist – die Vielfalt ist gerade typisch für den poetischen Charakter der biblischen Glaubenszeugnisse – deutlich wird dabei doch Folgendes: Gottebenbildlichkeit wird nicht als etwas vorgestellt, das dem menschlichen Wesen substantiell inhärent sei und das den Menschen damit aus der sonstigen Welt dem Wesen nach herausheben würde. Die Menschen sind nicht an sich Gottes Ebenbilder. Vielmehr sind sie ein Teil der Schöpfung. Der biblischen Vorstellung entsprechend gehören sie wie die Tier- und Pflanzenwelt, ja wie „Himmel und Erde“ im Ganzen zur Schöpfung. Sie sind damit grundlegend verschieden vom Schöpfer. Die grundlegende Verschiedenheit der Menschen gegenüber Gott muss im Blick auf ihre Wesensbeschreibung festgehalten werden. Dass den Menschen darüber hinaus noch das Prädikat der Gottebenbildlichkeit beigelegt wird, begründet sich allein darin, dass Gott sie dazu beruft, dass er sie dazu einsetzt. Gottebenbildlichkeit ist also kein Wesensmerkmal des Menschen, sondern eine Zuschreibung Gottes: seine Anerkennung. Übersetzt in die Verstehenswelt einer nachmetaphysischen und zugleich postsäkularen Gesellschaft bedeutet dieses biblische Wissen die Gewissheit: Die Würde des Menschen hängt nicht ab von empirisch beschreibbaren Besonderheiten der menschlichen Gattung, welche deren Individuen z. B. gegenüber der Tierwelt auszeichnen würden, etwa in der Vernunftbegabung mit ihrer Fähigkeit zum Selbstbewusstsein. Demzufolge ist die Menschenwürde auch nicht ein Privileg derer, die einen Schulabschluss besitzen oder die ihren Arbeitsplatz auf einer Chefetage haben. Den genannten Beispielen kommt in gleicher Weise Menschenwürde zu wie Personen mit geistiger Behinderung oder wie demenzerkrankten Patienten, die schon vergessen haben, wie sie heißen und die auch ihre Angehörigen nicht mehr erkennen. Die Würde eines Menschen hängt ebenso wenig von der Anerkennung seiner Mitmenschen ab. Menschenwürde kommt dem gefeierten Star gleichermaßen zu wie dem Kind, das von seinen Eltern nicht gewollt ist, oder wie dem Kriminellen, der seine gerechte Strafe absitzt. Von den hier exemplarisch umschriebenen Bedingungen kann die Menschenwürde nicht abhängig gemacht werden; sie ist von empirischen Merkmalen wie empirischen Zuschreibungen nicht antastbar. Ist sie dann überhaupt? Ja, Menschenwürde ist: als transempirische Zuschreibung – unantastbar. Und aus dieser Begründung heraus ist somit jedem Menschen in unserer Erfahrungswelt, ganz gleich in welchem Zustand er sich physisch oder sozial befindet, diese Achtung entgegenzubringen.

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Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde hat die in Art 1 GG festgehaltene Wertorientierung einmal so kommentiert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ 44 Eben diese inzwischen vielfach diskutierte These hat Jürgen Habermas zum Ausgangspunkt seines hier schon referierten Nachdenkens über die Unersetzbarkeit der Religion in einer postsäkularen Gesellschaft genommen. Meine Überlegungen fasse ich abschließend in zehn Punkten zusammen. 1. Wo die Sinn-Frage aufbricht, ist alles Suchen darauf zu verweisen, dass zunächst einmal Sinn vorgegeben ist, und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen geschichtlich, insofern wir Menschen im Zeitalter der Moderne auf einen Wissensreichtum an Lebenserfahrungen zurückgreifen können, der uns in religiösen Überlieferungen vorliegt, und zum anderen epistemisch, insofern wir Menschen von transempirisch begründeten Sinnpotentialen zehren, die wir selbst nicht geschaffen haben, sondern aus denen wir schöpfen können. Sinn in dieser ganz grundsätzlich verstandenen und in der Frage nach dem Sinn des Lebens individuell auch sehr handgreiflich zu erfahrenen Weise ist ein Orientierungspotential, das es aufzufinden gilt. 2. Je mehr freilich dieses kulturelle Wissen in der Gesellschaft verblasst, desto mehr erwächst ein Bedürfnis, Sinn zu machen. Sinn geben, dieses verständliche Bestreben des Menschen, in der vorfindlichen Welt sich einzurichten und den Dingen wie den Strukturen eine menschliche Bedeutung zu geben, verkommt zur hohlen Phrase, wo ein Imperativ des Sinn-Machens das Vakuum des nicht mehr zu findenden Sinnes ausfüllen soll. Die Ambivalenz solcher Kultur wird beispielhaft in einigen philosophischen Werken von Friedrich Nietzsche 45 und Peter Sloterdijk 46 sichtbar. Die Macher-Mentalität in der Sinnfrage muss letztlich als kultureller Ausdruck dafür gewertet werden, jene menschliche Grundpassivität 47 im Sinn-Finden statt Sinn-Geben nicht aushalten zu können. 3. In aller Deutlichkeit muss aber eine Alternativsetzung von Sinn finden und Sinn geben ausgeschlossen werden. Je klarer menschlicher Orientierung Sinn vor Augen steht, desto entschlossener kann menschliches Entscheiden in den anstehenden Problemkonstellationen Prioritäten setzen, notwendige Richtungsänderungen vornehmen, unhaltbare Positionen aufgeben und in belasteten Beziehungen einen Neuanfang starten. Sinngebung ist geradezu ein Imperativ menschlicher Verantwortung. Wird diese aktive Seite betont, muss freilich in gleichem Atemzug vor einer Überforderung gewarnt werden. Sonst geht es dem 44 45 46 47

Böckenförde (1992), S. 112, dort der Satz in Kursivdruck. Vgl. z. B. Nietzsche (1999a), S. 343 – 651; Nietzsche (1999b). Vgl. Sloterdijk (1999), Sloterdijk (2001). Vgl. Stoellger (2010).

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Menschen wie in dem sarkastischen Ratschlag Friedrich Nietzsches: „Stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde!“ 48 Sinngebung wird leer, wo sie nicht aus vorgegebenem, vorgefundenem Sinn schöpfen kann. 4. Bei dem eben skizzierten Wissen, welches aus den Einsichten in vorgegebenen und zu setzenden Sinn erwächst, handelt es sich – wie wir schon von Mittelstraß hörten – um ein regulatives Wissen, also um ein Orientierungswissen. 49 5. Orientierungswissen, so hatten wir uns klargemacht, lebt nicht nur von den neuesten Erkenntnissen, sondern auch von Einsichten, die schon in alten Zeiten gewachsen sind und die „über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wach gehalten“ werden, wie Habermas erklärte. 50 6. Solches Wissen kann allerdings verblassen, weil Anderes, vor allem zweckdienlicher Erscheinendes stärker die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gerade deshalb sind Religionen mit ihren Überlieferungen wichtig, welche ihre Sinnpotentiale für die individuelle wie gesellschaftliche Orientierung wach halten. 7. Religiöse Überlieferungen stellen als ein Orientierungswissen zugleich ein Verfügungswissen dar, insofern jenes Gut von gewonnenen Einsichten lebenspraktisch angewendet und umgesetzt wird, etwa in der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung, in Initiativen individueller Nächstenliebe oder institutionalisierter Hilfsprogramme, in Bildungskonzepten wie im Alltag ihrer praktischen Umsetzung usw. usf. Auch an dieser Stelle zeigt sich ein erkennbarer Zusammenhang von Orientierungs- und Verfügungswissen, freilich mit einer deutlichen Gewichtung auf Seiten des Orientierungswissens. 8. Wo solches Orientierungswissen um letzten, transempirischen Sinn zur Diskussion steht, da täusche man sich über die Tragweite desselben nicht mit dem Hinweis auf die Kurzfristigkeit allen Wissens hinweg. Gerade das Beispiel der biblischen Überlieferung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und ihrer Transformation im Wissen um die unantastbare Menschenwürde zeigt jedoch folgenden Zusammenhang: Zwar treten unter den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik immer neue Problemstellungen auf. Doch schlägt die Wirkkraft jenes Gedankens immer wieder durch, − ob als Korrektiv gegen einseitiges Verstehen und Gebrauchen ökonomischer Theoriekonstrukte wie etwa des „homo oeconomicus“ als Menschenbild − oder als kritische Motivation im Streit um die Möglichkeiten der Bioethik

48 49 50

Nietzsche (1999c), S. 651. Vgl. Mittelstraß (2001), S. 76 (s. o. Fn. 5). Habermas (2009), S. 115 (s. o. Fn. 37).

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− oder als eine sich durchhaltende Überzeugung in dem Auf und Ab, Pro und Contra wechselnder Versuche, die Frage der Menschenachtung von empirisch nachprüfbaren Fakten abhängig zu machen. Für die Nachhaltigkeit religiöser Sinnpotentiale gibt es viele weitere Beispiele. Ich will hier nur noch die strikte Unterscheidung zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf, erwähnen. − Schon in der Antike wird die biblische Entmythologisierung religiöser Naturverehrung wirkmächtig 51 und hält sich bis heute durch in der Abwehr esoterischer Aufladung von Naturphänomenen als Orte und Gegenstände religiöser Verehrung. Diese biblisch grundgelegte Entmythologisierung bewahrt vor dem Abhängigwerden von Dingen der uns umgebenden Natur. − Die strikte Unterscheidung zwischen Gott und Welt entfaltet ihre Kraft ebenso in der Kritik an religiöser Verklärung von politischer Gewalt (vgl. die scharfe Kritik im Alten Testament an der Institution des Königtums in Israel oder den Widerstand der Christen gegen die göttliche Verehrung des Kaisers im römischen Kaiserkult und die strikte Unterscheidung der Reformation zwischen weltlich und geistlich, welche zusammen mit anderen kulturellen Kräften die moderne Trennung von Staat und Kirche vorbereitet hat). 52 − Als letztes Beispiel sei noch erwähnt, wie nachhaltig die strikte Unterscheidung zwischen Gott und Welt der quasireligiösen Auslieferung an ökonomische Mechanismen einen Riegel vorgeschoben hat. Schon die biblische Überlieferung schärft den Blick für die Gefahr einer Mammonisierung des Mediums Geld. 53 Und aus kirchlichen Denkschriften und Enzykliken ergeht die Warnung vor der Irrationalität etwa im Glauben an die Selbstregulierungskraft des Marktes oder an das alles (er)lösende Heilmittel Wachstum. 51 So werden im alttestamentlichen Schöpfungszeugnis von 1 Mos. 1,1 –2,4a, das jüdische Priester im sechsten vorchristlichen Jahrhundert während des babylonischen Exils entwickelt haben, die Gestirne nicht wie in der Religion Babylons als Götter verehrt, sondern sie werden nüchtern in ihrer Funktion als Leuchten am Himmel beschrieben, die Orientierung geben. 52 Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es auch zu vielen Beispielen unheilvoller Vermischung von Geistlichem und Weltlichem, Religion und Politik gekommen ist. Zu den Ursachen und Gründen gehört unter anderem das Bestreben der religiösen Instrumentalisierung des Politischen wie auch umgekehrt der politischen Instrumentalisierung von Religion, beides Denkweisen, die vom verheerenden Einzug einer Verfügungsrationalität in regulativen Orientierungen zeugen. Keine Religion ist vor solchen Abwegen gefeit. Umso wichtiger sind reformatorische Impulse innerhalb der Religionen, die derartige Verirrungen erkennen und die eigene Religion zur Umkehr befähigen. 53 Hier geht es nicht einfach um eine Kritik am Geld als solchem (etwa als „teuflisch“ usw.). Vielmehr wissen die christliche Religion und ihre wissenschaftliche Reflexion, das Geld als eine Kulturleistung zu schätzen. Christliche Geldkritik richtet sich gegen den verfehltem Umgang mit Geld, welcher dasselbe zu einer quasireligiösen Macht werden lässt, den Menschen in Abhängigkeiten treibt mit strukturellen wie individuellen Folgen von Ungerechtigkeit, Identitätsverlust usw. Vgl. Petzoldt (2001) und Petzoldt (2006).

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9. Die eben aufgeführten Beispiele legen nicht nur Zeugnis ab von der nachhaltigen Wirkkraft religiöser (hier: biblischer) Sinnpotentiale. Sie zeigen nebenher auch dies: Es handelt sich vorrangig um ein Orientierungswissen bei dem, was das Teilsystem Religion an Einsichten und Sinnressourcen in die moderne ausdifferenzierte Gesellschaft einbringt und was die kritisch-kontrollierende Reflexion auf Religion in der theologischen Wissenschaft an Erkenntnissen dem Kulturgut Wissen beisteuert. Das Erfahrungspotential der Religionen greift wie alles Orientierungswissen regulierend auf den Erkenntnisgewinn im Verfügungswissen und auf dessen Anwendung ein. Diese vorwiegend regulative Struktur kommt aber noch einmal innerhalb des Orientierungswissens selbst zum Tragen, insofern die Theologie diejenige Wissenschaft darstellt, welche im nie endenden wissenschaftstheoretischen Diskurs um die Paradigmen der Wirklichkeitswahrnehmung und die Kriterien gültigen Erkenntnisgewinns die transempirische Perspektive in die Diskussion einbringt. Je mehr nämlich die Philosophie unter Deutungskoordinaten eines nachmetaphysischen Denkens sich aus dieser Funktion zurückzieht, umso mehr wird der Theologie die Aufgabe zufallen, im Streit der Fakultäten die Sensibilität für die Transzendenzdimension der Vernunft wachzuhalten. 10. Was aber passiert – so die abschließende Frage –, wenn Wissen unter das Zweckdenken der Ökonomisierung gerät? Wissen unter dem Gesichtspunkt der Effizienz zu prüfen ist nicht erst ein Markenzeichen unserer modernen Gesellschaft. Heutzutage ist dieser Aspekt aber insofern von besonderer Brisanz, als – wie oben angesprochen – das Gleichgewicht der funktional ineinandergreifenden Teilsysteme aus den Fugen gerät, indem die Ökonomie zunehmend die Steuerungsfunktion in allen Lebensbereichen der Menschen übernimmt. Hierbei greift die ökonomische Rationalität nicht nur nach dem Verfügungswissen. Dieser Zusammenhang mag ja noch ganz plausibel erscheinen – einmal aus der Praxis heraus, insofern Förderungen von Forschungsprojekten wie z. B. in der Biochemie Gewinne in der pharmazeutischen Industrie erwarten lassen und in diesem Zusammenhang die Ökonomisierung von Wissen sich dann auch regelrecht auszahlt, und ein andermal aus der verwandten Zweckrationalität im Verfügungswissen selbst wie in der Logik der Ökonomie. Die Ökonomisierung hat zu einer enormen Mobilisierung der wissenschaftlichen Ressourcen beigetragen, die den Menschen zugute kommt. Dieser Vorteil sollte bei aller kritischen Problematisierung nicht übersehen werden. 54 Wie steht es aber um die Ökonomisierung von Orientierungswissen? Macht sie Sinn? An solcher von ökonomischem Nutzdenken geleiteten Frage werden wohl manche Anträge von

54 Zu Recht hat mich Kollege Ingo Pies, Professor für Wirtschaftsethik am Institut für Volkswirtschaftslehre und Bevölkerungsökonomie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in der Diskussion über meine Überlegungen auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht.

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Forschungsprojekten aus den Geisteswissenschaften scheitern. 55 Die Gefahr ist jedenfalls groß, dass in einer immer weiter um sich greifenden Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebes das Orientierungswissen unter die Räder kommt. Wir erinnern uns noch an die nüchterne Bilanz von Mittelstraß: „Die moderne Welt weiß immer mehr, und sie wird gleichwohl immer orientierungsschwächer.“ 56 Aber gerade in diesem Wissensbereich geht es um die Lebensfragen. Und eben deshalb ist die Frage nach dem Sinn jenes Entwicklungsprozesses, der hier auf dem Kongress als Ökonomisierung der Wissensgesellschaft thematisiert wird, von so großem Gewicht. Die Organisatoren des Kongresses seien beglückwünscht für ihre Wachsamkeit, absehbare Trends bei der Ökonomisierung des Wissensgesellschaft kritisch zu prüfen, mögliche Gefährdungen einer entgleisenden Modernisierung aufzuspüren, bei der kritischen Sichtung auch die Außenperspektiven anderer Wissenschaftsdisziplinen hinzuzuziehen und gar das Gedankengut anderer Rationalitäten wie die Sinnpotentiale religiöser Überlieferungen in die Überlegungen einzubeziehen.

Literatur Anselm, Reiner / Körtner, Ulrich H.J. (Hrsg.) (2003): Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1992): Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt / M. 55 Der gesellschaftliche Resonanzboden für Forschungsprogramme im Bereich des Orientierungswissens weist allerdings erhebliche Unterschiede auf. Nur mit vier Reaktionen sei das weite Spektrum angedeutet. 1) Weit verbreitet ist eine Zurückhaltung: Was bringen schon Fragestellungen und Ergebnisse von Untersuchungen des Orientierungswissens? Sie lassen sich nicht in gleicher lukrativer Weise für den Verbrauchermarkt anwenden und in Gewinn umsetzen wie Ergebnisse des Verfügungswissens. 2) Diesem Eindruck mag man mit dem Hinweis entgegentreten, dass es doch genug Beispiele für interdisziplinäre Forschungsprogramme gibt, wo regulative Problemstellungen mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen verbunden sind, z. B. die Forschungsprojekte in den Neurowissenschaften, welche in Zusammenarbeit mit Psychologie, Philosophie und Rechtswissenschaft die Frage der Willensfreiheit thematisieren. Hier wäre allerdings kritisch zu prüfen, inwieweit gerade solche Forschungsprojekte gefördert werden, welche die regulativen Problemstellungen des Orientierungswissens in der Verstehensweise eines szientistischen Naturalismus auf die Ebene des Verfügungswissens zu bringen suchen (vgl. Habermas [2009]). 3) Nicht zu übersehen ist aber, dass auch im Bereich des Orientierungswissens viele Forschungsprogramme laufen und (im bundesdeutschen Bereich besonders von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wie auch von Stiftungen) gefördert werden. 4) Das Hauptaugenmerk bei der Forschungsförderung muss selbstverständlich auf der Unterstützung von Projekten liegen, die den Zusammenhang von Orientierungsund Verfügungswissen im Blick haben. 56 Mittelstraß (2001), S. 44 (s. o. Fn. 8).

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Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände., Frankfurt / M. Habermas, Jürgen (1985): Kleine politische Schriften, Frankfurt / M. Habermas, Jürgen (1993): Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt / M. (1985). Habermas, Jürgen (2001): Glaube und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt / M. Habermas, Jürgen (2009): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt / M. (2005). Habermas, Jürgen / Luhmann, Niklas (1974): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt / M. Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph (2005): Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. Br. Kant, Immanuel (1983): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: ders.: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm von Weischedel, Bd. IV, Darmstadt, S. 7 –102. Kirchgässner, Gebhard (2008): Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen. Liedke, Ulf (2008): Wort und Würde. Ist Menschenwürde eine kommunikative Zuschreibung?, in: Beyer, Martin / Ulf Liedke (Hrsg.): Wort Gottes im Gespräch, Leipzig, S. 163 – 180. Luhmann, Niklas (1982): Funktion der Religion, Frankfurt / M. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt / M. Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt / M. Luhmann, Niklas (1994): Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt / M. Luhmann, Niklas (2000): Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt / M. Manstetten, Reiner (2000): Das Menschenbild in der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg / München. Mittelstraß, Jürgen (1989): Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt / M. Mittelstraß, Jürgen (1992): Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt / M. Mittelstraß, Jürgen (1994): Der unheimliche Ort der Geisteswissenschaft, in: Engler, Ulrich (Hrsg.): Orientierungswissen versus Verfügungswissen. Die Rolle der Geisteswissenschaften in einer technologisch orientierten Gesellschaft, Stuttgart, S. 30 –39. Mittelstraß, Jürgen (2001): Wissen und Grenzen. Philosophische Studien, Frankfurt / M. Muckenfuß, Heinz (1995): Lernen im sinnstiftenden Kontext. Entwurf einer zeitgemäßen Didaktik des Physikunterrichts, Berlin, 2. Druck 2006.

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Wirtschaft neu denken – das Alnatura Modell Von Götz E. Rehn 1

I. Die Geschichte vom Bienenschmaus Vor zwei Jahren hatte eine Kollegin bei Alnatura die Idee, für bedrohte Bienenvölker eine spezielle Saatgutmischung von Blütenpflanzen zu entwickeln. Infolge der agrarindustriellen Landwirtschaft ist die Vielfalt der Flora so eingeschränkt, dass die Bienen oft nicht genug Blüten finden, um existieren zu können. Die Kollegin war davon überzeugt, dass viele Kunden das Alnatura Saatguttütchen kaufen und dann im eigenen Garten oder in der freien Natur kleine Oasen für die Bienen anlegen würden. Es bedurfte einiger Überredungskunst, um mich für die Idee „Alnatura Bienenschmaus“ zu begeistern. In den vergangenen zwei Jahren haben wir 120.000 Tütchen Bienenschmaus verkauft. Die Menge reicht für 420.000 Quadratmeter Blumenfelder als Bienenweide. Darüber hinaus flossen aus dem Verkaufserlös des Tütchens über 60.000 Euro als Spende an die Bieneninitiative Mellifera e.V. Dieses Beispiel zeigt, dass die Menschen heute ein neues und wacheres Bewusstsein für die Zeitsituation haben und interessiert und bereit sind, bei der nachhaltigen Gestaltung der Erde mitzuwirken. Wir beobachten eine tiefgreifende Veränderung unserer Gesellschaft. Immer mehr Menschen wenden sich von der nur am materiellen Wohlstand orientierten Handlungsweise ab und suchen nach Sinn im Leben, nach sozialer Erfüllung. Dies zeigt sich auch im Einkaufsverhalten der Menschen: An die Stelle der Überspezialisierung tritt das Interesse an einfachen, funktionsfähigen Artikeln. Die Menschen wollen in der Region einkaufen, aus der Hektik der Leistungsgesellschaft aussteigen und sehnen sich nach authentischen Produkten, die sinnvoll für Mensch und Erde sind.

1 Prof. Dr. Götz E. Rehn ist Geschäftsführer der Alnatura Produktions- und Handels GmbH und Honorarprofessor der Alanus Hochschule in Alfter. Der folgende Beitrag ist die erweiterte Fassung des Vortrags an der Universität Leipzig am 3. Dezember 2009. Der Vortragsstil wurde beibehalten, der Text aber um Literatur- und Quellenhinweise ergänzt.

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II. Ganzheitlich denken – nachhaltig handeln Der radikale Paradigmenwechsel von einer auf Ökonomisierung ausgerichteten Gesellschaft hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft ist nur möglich, wenn der gesamte soziale Organismus in seiner Komplexität gedacht wird. Der Mensch ist dann nicht mehr als ein zufällig entstandenes Gattungswesen, sondern als geistige Individualität zu begreifen, die ein einmaliges Schicksal hat und nach Selbstgestaltung und Freiheit sucht. Die Erde wird nicht mehr als bloßes Rohstofflager begriffen und missbraucht, sondern vielmehr als ein lebendiger Organismus verstanden, der nach dem Prinzip eines homöostatischen Systems immer wieder neue Gleichgewichtskonstellationen schafft. Damit ist es die Aufgabe der Menschen, im Einklang mit der Natur die Wirtschaft zu gestalten. Schließlich gilt es auch, die Vorstellung vom Unternehmen als einer Maschine zu überwinden. Jeder Betrieb, wie auch die ganze Wirtschaft, ist ein lebendiger sozialer Organismus, dessen Gestalt permanent von den Menschen neu entwickelt wird und werden muss. Denn ein sozialer Organismus gestaltet sich nicht nach den Gesetzen der Natur; er wird vielmehr von seinen Mitgliedern und Organen gestaltet. Nur ein alle Dimensionen der Realität umfassendes Handeln der Menschen kann die Herausforderung der Zukunft meistern. Es geht darum, die komplexe Wirklichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen zu erkennen und dementsprechend jeweils situativ, aber stets im Sinne des Ganzen zu handeln. Dies setzt voraus, dass man das heute noch oft nur eindimensionale, materielle Wirklichkeitsverständnis überwindet und die Realität als geistdurchwoben und materiell begreift. Alles Sein hat eine ideale und eine physische Seite. Diese Beobachtungen hat Rudolf Steiner in seiner Erkenntniswissenschaft entwickelt. Sie stellt die Grundlage der Unternehmensphilosophie von Alnatura dar. Dies drückt das Unternehmensmotto „Sinnvoll für Mensch und Erde“ aus. Es ist Ausdruck für eine in allen relevanten Dimensionen um Nachhaltigkeit bemühte Denk- und Arbeitsweise.

III. Alnatura – Sinnvoll für Mensch und Erde Die Vision „Alnatura – Sinnvoll für Mensch und Erde“ enthält im Kern unseren ganzen Denkansatz. Der Anspruch, etwas Sinn-volles für andere tun zu wollen, verlangt danach, zuerst den Sinn zu erkennen. Die Handlung muss dann demjenigen, auf den sie sich bezieht, gerecht werden, also ihm in seiner Eigenart entsprechen.

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Ein sinnvolles Handeln ist immer ein bewusstes Handeln. Die jeweilige Sinngebung für das Handeln kann nur durch den Menschen erfolgen. Die Natur für sich genommen macht Sinn und ist sinnvoll. Eine Sinngebung im sozialen Kontext ist jedoch nur durch die bewusst erfolgende menschliche Tat möglich, d. h. wir müssen unser Handeln immer wieder neu am „Sinn“ ausrichten.

IV. Sinnmaximierung als Unternehmensziel Wenn das höchste Produktionsziel eines Unternehmens die Ermöglichung der geistigen Freiheit der Menschen darstellt und alles Handeln dieser Maxime unterstellt wird, können sich die wesentlichen Ziele des Unternehmens nicht in wirtschaftlichen Kategorien (Ertragsmaximierung, Marktanteilsführerschaft etc.) ausdrücken. Gemäß unserer Vision „Alnatura – Sinnvoll für Mensch und Erde“ wollen wir aus einem ganzheitlichen Verständnis für Mensch und Erde beste Produkte und Leistungen für unsere Kunden entwickeln. Wir begreifen den Kunden als Partner, mit dem wir im Dialog unsere Leistung laufend weiterentwickeln, seine Ideen und Vorstellungen in unsere Arbeit einbeziehend. Ein laufend neu im Dialog mit den Kunden entwickeltes Angebot verlangt nach einer Arbeitsgemeinschaft, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbstverantwortlich und intelligent im Sinne des Ganzen handeln wollen und können. Die Förderung und Unterstützung der Mitarbeiter / innen im Hinblick auf selbstverantwortliches Denken und Handeln leitet sich deshalb unmittelbar aus der Alnatura Vision ab.

V. Die Qualitätsentwicklung als Kulturaufgabe Eine Sinngebung der Produkte und Dienste verlangt nach einer unabhängigen Beurteilung zum Beispiel der Produktqualität. Deshalb haben wir bei Alnatura die Entscheidung über die Qualität unserer Produkte in die Hände eines unabhängigen Gremiums „Arbeitskreis Qualität“ gelegt. Gemäß unserer Mission „Beste Qualität zum günstigsten Preis“ entscheiden die Qualitätsfrage nicht die Produktmanager oder Marketingverantwortlichen im Unternehmen, sondern die Fachleute im „Arbeitskreis Qualität“. Sie entscheiden letztlich als Vertreter eines unabhängigen Organs des Kulturlebens über die Beschaffenheit, die Rezepturen und Verpackungen unserer Produkte. Damit messen wir der Qualitätsfrage uneingeschränkte Priorität bei. Ist die Qualität eines Produktes definiert, beginnt der eigentliche wirtschaftliche Organisationsprozess durch die Kollegen von Alnatura in Zusammenarbeit mit den verschiedensten Partnern, die zur Verwirklichung des Artikels beitragen.

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Wirtschaften bedeutet, miteinander für andere tätig sein zu wollen. Dementsprechend gestalten wir mit unseren Kooperationspartnern auf der Seite der Hersteller und Landwirte wie auf der Seite der Handelspartner den gesamten Wertbildeprozess eines Artikels in enger Abstimmung.

VI. Innovationen durch Kundendialog Die Kundinnen und Kunden von Alnatura gestalten ständig an den Produkten und Diensten mit, die wir ihnen zum Kauf anbieten. Durch das enge Abstimmungsverhältnis ist es uns gelungen, dass von zehn eingeführten Produkten maximal ein Artikel nicht erfolgreich ist. Viele Produktentwicklungen gehen auf die Ideen unserer Kunden zurück. Im Frühjahr 2009 haben wir erstmals den Versuch gewagt, unsere Kunden zu bitten, im Rahmen eines Wettbewerbs die Verpackungsgestaltung für acht Alnatura Artikel zu entwerfen. Insgesamt erreichten uns über 1.000 hochinteressante und größtenteils realisierbare Designvorschläge für die Alnatura Produkte. In einem langwierigen Entscheidungsprozess haben wir acht Entwürfe ausgewählt. Die gestalteten Produkte haben wir im Rahmen unseres 25-jährigen Jubiläums als Sonderserie „Alnatura Kundenedition“ aufgelegt und mit Erfolg verkauft. Besonders beeindruckt waren wir von dem Entwurf eines sechsjährigen Mädchens. Ihr Bild für eine 250g-Tafel Schokolade hat in kurzer Zeit die Herzen der Kunden erobert und den Artikel zu einem Bestseller gemacht. Einen Teil der Erlöse, die aus dem Verkauf der acht Kundenedition-Artikel stammen, werden wir für die Alnatura Zukunftsinitiative für mehr Bio-Bauern einsetzen. In mehreren Veranstaltungen, die von dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau konzipiert und organisiert werden, bieten wir in verschiedenen Regionen Deutschlands konventionellen Bauern einen Beratungstag Öko-Landbau an. Insgesamt wurden im Jahr 2009 über 100 Bauern informiert. Zehn dieser Bauern haben seitdem bereits mit der Umstellung auf Öko-Landbau begonnen. Das Projekt Kundenedition, verbunden mit der Alnatura Initiative für mehr Bio-Bauern, zeigt, wie Kunden heute als Partner in sinnvoll wirtschaftenden Unternehmen aktiv an einer Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft mitwirken.

VII. Der Kommunikationsstil Ein persuasiver, auf Überredung angelegter Werbeansatz wird von aufgeklärten Kunden abgelehnt. Die Menschen wollen nicht mehr durch emotionale Botschaften manipuliert und in ihrer Urteilsfindung bevormundet werden.

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Vielmehr haben die Menschen ein Interesse an nachvollziehbaren und authentischen Informationen, die es ihnen selbst erlauben, ein Urteil zu fällen. Der mündige Verbraucher will sich aktiv informieren und setzt dabei verstärkt auf die Informationen anderer Verbraucherinnen und Verbraucher. Erfahrungsberichte zu Produkten wie auch Informationen über Unternehmen und ihre Arbeitsweise finden sich heute in vielfältigster Form im Internet. Über dieses Medium werden Botschaften in kürzester Zeit verteilt und von vielen Kunden für eine Kaufentscheidung herangezogen. Deshalb ist auch der Kommunikationsstil, den ein Unternehmen pflegt, vollständig neu zu denken und neu zu entwickeln. An die Stelle einer persuasiven Werbung sollte eine evozierende, zum Mitdenken und Mitmachen anregende Information treten. Je authentischer und erfahrungsgetränkter die Information ist, umso eher sind die Kunden dazu bereit, sich mit dem Unternehmen bzw. seinen Produkten und Dienstleistungen zu beschäftigen.

VIII. Mitarbeiterentwicklung durch Kunsterfahrung Alnatura verfolgt ein ganzheitliches Bildungs- und Ausbildungskonzept. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter soll die Möglichkeit haben, sein eigenes Potenzial zu erkennen und seine Fähigkeiten, Fertigkeiten und Fantasiekräfte zu entdecken und selbst zu entwickeln. Dementsprechend verfolgen wir drei unterschiedliche Intentionen durch unsere Mitarbeiterentwicklungsaktivitäten. Einerseits geht es natürlich um das Vermitteln von Fachwissen im Bereich Naturkost. Genauso wichtig ist er aber, aus eigener Erfahrung lernen zu können. Gerade im Bereich der Lehrlingsbildung geht es darum, durch Selbsterfahrung eigene Erkenntnisse zu ermöglichen. Dementsprechend arbeiten die Alnatura Lehrlinge nach kurzer Einweisung selbstverantwortlich. Sie nehmen konkrete Aufgaben in einem Team wahr. Schließlich ist die Förderung der Fantasie durch Kunsterfahrung von besonderer Bedeutung. Regelmäßige Theater-Workshops der Lehrlinge, aber auch eine freiwillige Theatergruppe im Unternehmen unterstützen diese Intention. Weitere Kunstangebote wie Malen, Chorsingen und Plastizieren ergänzen das Bildungsangebot von Alnatura. Neben den verschiedenen Bildungsinitiativen des Unternehmens gibt es die Möglichkeit für die Mitarbeiter, eigene Bildungsinitiativen zu begründen. Zum Beispiel hat ein Kreis von 20 Mitarbeitern eine Alnatura Bienen-Initiative gegründet. Nach Zustimmung durch das Unternehmen (Kostenübernahme etc.) wurde mit einer Demeter-Imkerin Kontakt aufgenommen und ein geeigneter Platz im Garten des Unternehmens für die Aufstellung von Bienenkörben gesucht. Nachdem die Körbe aufgebaut waren, kamen die ersten Bienenvölker zu uns. Heute haben wir im Sommer über 200.000 Bienen auf unserem Gelände, die auf dem nahe gelegenen Acker, der mit „Bienenschmaus“ eingesät ist, viel-

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fältige Nahrung erhalten. Die Mitarbeiter betreuen die Bienen unter Anleitung der Imkerin. Sie ernten den Honig und berichten über ihre Beobachtungen im Alnatura Bienen-Blog. Die Kunst in ihren verschiedenen Ausdrucksformen stellt eine „Sprache“ dar, die jeder versteht, ohne dass er es möglicherweise in Worten so exakt auszudrücken vermag. An und durch die Kunst lernen wir, uns individuell auszudrücken. Dies ist die Basis für eine Ästhetisierung unserer Umwelt. Ohne künstlerische Erfahrung und das Üben der künstlerischen Fähigkeiten gelingt es z. B. nicht, den Kunden schöne Läden zu präsentieren. Wechselnde Aktionen in den Läden überraschen die Kunden. Seit Mitte November 2009 können die Kunden die Abbildung eines großen Gemäldes von Botticelli, aber auch verschiedene Ausschnitte von Botticelli-Bildern in jedem der Alnatura Märkte erleben. Diese Aktion wurde gemeinsam mit dem StädelMuseum in Frankfurt unter der Leitung von Max Hollein entwickelt. Der Kurator der Botticelli-Ausstellung des Städel-Museums hat einen Folder konzipiert, der über das künstlerische Werk von Botticelli informiert. Diesen Folder verschenken wir an interessierte Kunden.

IX. Nachhaltige Ladengestaltung Die 53 Alnatura Super Natur Märkte zeichnen sich durch eine besondere Ladengestaltung aus. Die Böden sind mit Terrakotta-Fliesen belegt, die Wände mit Kalk-, Sand- oder Marmormehl verputzt. Die Decke ist plastisch, das heißt wellenförmig gestaltet. Das hierfür verwendete Material ist recyceltes Aluminium-Profilblech. Die Regale und Aktionsmöbel sind aus Holz hergestellt, das mit Naturfarben lasiert wurde. Die Information der Kunden über Angebote und Ähnliches erfolgt auf Tafeln, die mit Kreide beschriftet werden. Die Energie, mit der wir unsere Geschäfte wie auch die Serviceeinheit in Bickenbach betreiben, stammt zu 100% aus regenerativen Quellen. Türen vor den Kühltheken in den Läden sparen gegenüber offenen Möbeln 60 % des Energieverbrauchs ein. Unsere Druckerzeugnisse sind auf Papier gedruckt, das zu einem namhaften Anteil aus Holz aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern bzw. aus Altpapier gewonnen wurde. Weitere Optimierungsmöglichkeiten im Sinne der Nachhaltigkeit werden fortlaufend gesucht und umgesetzt.

X. Das Kooperationsprinzip Die moderne Arbeitsteilung ermöglicht eine besonders effiziente und sparsame Produktion. Sie impliziert jedoch, dass das Kooperationsprinzip Beachtung findet. Es geht nicht darum, möglichst viel selber zu machen, sondern heraus-

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zufinden, wie wir miteinander im Unternehmen, aber insbesondere auch mit anderen Unternehmen für unsere Kundinnen und Kunden tätig sein können. Dementsprechend hat Alnatura vom Beginn vor 25 Jahren bis heute immer konsequent das Kooperationsprinzip angewendet. Die 940 Alnatura Produkte werden von über 100 Herstellern für Alnatura produziert. Die Entwicklung und das Management, das Design wie auch der Vertrieb liegen in den Händen von Alnatura. Die Rezeptentwicklung, Produktion und Verpackung obliegt – nach prinzipieller Freigabe durch den Alnatura Arbeitskreis Qualität – dem jeweiligen Hersteller. Alnatura arbeitet mit sieben filialisierten Handelsunternehmen (Budni, Cactus, dm Deutschland, dm Österreich, Globus, Hit, tegut) zusammen. Alle Produkte und Dienste, die wir in den zusammen 2.800 Filialen unserer Handelspartner anbieten, sind zuvor besprochen und gemeinsam entwickelt worden. Auch hier findet das Kooperationsprinzip uneingeschränkt Anwendung. Anfang November 2009 haben wir unser neues Verteilzentrum in Lorsch (Südhessen) bezogen. Das 20.800 Quadratmeter große und 14 Meter hohe Gebäude wurde von einem Projektentwickler nach unseren Vorstellungen gebaut und von uns angemietet. In dem daneben stehenden Bürogebäude arbeiten vier Firmen unter einem Dach. Neben Alnatura hat dort auch unser Logistikpartner, der das Lager betreibt, Quartier bezogen. Darüber hinaus haben die Spediteure, die die Vorhol- und Ausrolllogistik für Alnatura wahrnehmen, einen Arbeitsplatz in unserem Haus. In enger Abstimmung miteinander ist der gesamte logistische Prozess gestaltet, der physisch komplett von unseren Partnern geleistet wird. Die konsequente Gestaltung der Prozesse nach dem Kooperationsprinzip stellt eine große Effizienzquelle dar, die durch kein anderes Verfahren der Zusammenarbeit übertroffen werden kann.

XI. Wertschätzung und Wertschöpfung Der Wert eines Unternehmens ist weniger der materielle Wert seines Anlageund Umlaufvermögens. Vielmehr wird der Wert durch die Wertschätzung, das Interesse der Kunden an den Produkten und Leistungen eines Unternehmens bestimmt. Je stärker die Kunden die Leistungen eines Unternehmens schätzen und nachfragen, umso größer ist der Wert, den das Unternehmen hat, und umso stärker kann sich das Unternehmen entwickeln. Insofern ist die Wertschätzung der Kunden entscheidend für die Wertschöpfung des Unternehmens. Je nachdem wie groß das Interesse der Kundinnen und Kunden ist, gelingt es, eine Wertschöpfung zu realisieren, die nach Abzug aller

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Leistungen, die zu ihrer Generierung nötig waren, „Saatgut“ für neue Investitionen übrig lässt.

XII. Ideal und Wirklichkeit Alnatura ist ein Unternehmen, das ich in seiner sozialorganischen Ideengestalt, viele Jahre bevor das Unternehmen überhaupt mit seiner praktischen Tätigkeit begann, entwickelte. Die Idee, etwas Sinnvolles für Mensch und Erde zu gestalten, entspringt aus einer Weltauffassung, die alle Dimensionen der Wirklichkeit einzubeziehen versucht. Dementsprechend geht es um die Erkenntnis des Physischen, Lebendigen, Seelischen und Geistigen. Ich bin davon überzeugt, dass hinter allem Materiellen auch ein Geistiges steht und dass die Idee damit die Quelle für die jeweilige physische Erscheinung darstellt. Die Alnatura Vision „Sinnvoll für Mensch und Erde“ ist wie ein Leitstern zu begreifen, an dem wir uns orientieren. Zugleich ist es unsere Aufgabe, in größter Wachsamkeit alle Veränderungen, die sich im Verhalten, Denken und Fühlen unserer Kunden vollziehen, aufzunehmen und unsere Produkte und Leistungen permanent so zu verwandeln, dass sie in der jeweiligen Situation die Zustimmung der Kunden finden. In der Spannung von Ideal und Wirklichkeit entfaltet sich der reale Unternehmensprozess wie in einem Gegenstrom. Ausgehend von der jeweiligen Situation und beleuchtet von unseren Idealen entwickeln wir in einer offenen und engagierten Arbeitsgemeinschaft unsere Leistungen permanent neu. Dabei versuchen wir, die Rahmenbedingungen für die aktive und selbstverantwortliche Mitwirkung der Mitglieder unserer Arbeitsgemeinschaft zu schaffen und damit eine Arbeitsgemeinschaft zu sein, die im Dienst von Mensch und Erde wirksam ist. Das Alnatura Modell zeigt, dass Wirtschaft neu gedacht und neu gemacht werden kann. Ein Paradigmenwechsel hin zum Sinn-vollen Wirtschaften ist möglich, wenn der soziale Organismus in allen Dimensionen gedacht und bewusst sinnvoll gestaltet wird. Nur ein solches Denken und Handeln kann die Herausforderungen der Zukunft meistern.

Literatur Rehn, Götz (2010, i. E.): Die Befreiung der Führung, in: Werner, Götz W. / Peter Dellbrügger (Hrsg.): Sammelband zu Führung (Arbeitstitel), Karlsruhe. Rehn, Götz (1979): Modelle der Organisationsentwicklung, Bern. Rehn, Götz (2007): Wirtschaft neu Denken, unveröffentlichter Aufsatz zur Antrittsvorlesung an der Alanus Hochschule, Alfter.

Wirtschaft neu denken – das Alnatura Modell

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Steiner, Rudolf (1918): Die Philosophie der Freiheit, Berlin. Steiner, Rudolf (1968): Geisteswissenschaft und soziale Frage, Dornach. Steiner, Rudolf (1931): Nationalökonomischer Kurs, Dornach. Witzenmann, Herbert (1998): Sozialorganik – Ideen zu einer Neugestaltung der Wirtschaft, Pforzheim.

Ökonomisierung der Wissensgesellschaft – eine Kette von Missverständnissen Von Cornelius Weiss 1 Dieser Beitrag ist weniger Grundsatzreferat denn besorgter Zwischenruf. Der Zwischenruf eines Naturwissenschaftlers, der in der DDR fast 30 Jahre an einer zentralistisch geleiteten und den Interessen der Volkswirtschaft fast völlig untergeordneten Universität gearbeitet hat, der Anfang der 90-ger Jahre zusammen mit vielen engagierten Gleichgesinnten aus Ost und West der Freiheit der Wissenschaft an der Universität Leipzig zum Durchbruch verhelfen wollte – wir nannten das damals „geistige und strukturelle Erneuerung“ – und der nun mit Unverständnis und Sorge beobachtet, dass den deutschen Hochschulen erneut ganz ähnliche Strukturen verordnet werden wie vormals in der DDR. Ich möchte in diesem Beitrag die These aufstellen und zu belegen versuchen, dass die zur Zeit in Deutschland stattfindende Debatte zur Rolle von Wissenschaft und Wissen in der Gesellschaft leider zunehmend von einer Reihe schwerwiegender Missverständnisse, Irrtümer und Vorurteile dominiert wird. Von Missverständnissen und Vorurteilen, die zum Teil auf die simple Unkenntnis der Natur und der Antriebskräfte der Wissenschaft zurückzuführen sind, die zum Teil aber auch gezielt gepflegt und verbreitet werden: sowohl von der Politik, um von ihrem langjährigen Versagen abzulenken, als auch von der Wirtschaftslobby, um eigene wissenschaftsfremde Interessen durchzusetzen. Diese Missverständnisse werden der Wissenschaft schweren Schaden zufügen und müssen folglich alsbald ausgeräumt werden. Die Wissenschaft darf nicht mehr nur andere über sich reden und verfügen lassen, sondern muss endlich von sich aus offensiv den Dialog oder notfalls den Streit mit der Politik und der Wirtschaft und auch den Medien suchen und sich in den für sie essentiellen Fragen selbstbewusst und nachdrücklich zu Wort melden. Fast täglich kann man von Politikern aller Ebenen und aller couleur die mit bedeutungsschwerer Stimme getroffene Aussage hören, dass Wissen zur wichtigsten Ressource der Zukunft geworden sei und die Wissenschaft folglich eine 1 Prof. Dr. Cornelius Weiss war Professor an der Fakultät für Chemie der Universität Leipzig und von 1991 – 1997 Rektor der Universität Leipzig. Von 1994 bis 1999 war er Vizepräsident für Studium und Lehre der Deutschen Hochschulrektorenkonferenz.

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entscheidende Rolle für die weitere Entwicklung der Gesellschaft spiele. Dieser Satz ist per se durchaus richtig, aber er ist eher trivial und rennt offene Türen ein. Die Entwicklung der Menschheit wurde, seit es sie gibt, von Wissen – sei es durch zunächst unbewusst aus der täglichen Erfahrung gewonnenes oder später bewusst durch forschende Tätigkeit gewonnenes Wissen – getragen. Dieses uralte Wechselspiel zwischen Lernen, Wissen und produktiver Nutzung von Wissen hat Ende des vorigen Jahrhunderts durch die atemberaubend schnelle Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung und -übermittlung in der Tat qualitative, fast revolutionäre Veränderungen erfahren. Zugleich stehen die westlichen Industriegesellschaften heute vor ihrer größten Herausforderung seit der Erfindung der Dampfmaschine und des mechanischen Webstuhls. Die Trümpfe der klassischen material-, energie- und arbeitsintensiven Großindustrie sind weitgehend ausgereizt, weil es für ihre Produkte kaum mehr expandierende Märkte gibt. Die traditionellen Industrieprodukte können heute fast überall in der Welt hergestellt werden, häufig sogar deutlich billiger: u. a. wegen der niedrigeren Lohnkosten und der weniger strengen Umweltauflagen (ein Zustand, den ich übrigens aus moralischen Gründen für sehr bedenklich halte). In der Wirtschaft findet daher eine signifikante Verschiebung der relativen Gewichte weg von den materiellen hin zu den geistigen Ressourcen statt. Bereits jetzt ist Information zum wichtigsten Rohstoff geworden und Forschungs- und Entwicklungskompetenz zur strategisch entscheidenden Ressource einer Volkswirtschaft. Denn das mit Hilfe dieser Kompetenz aus Informationen durch Selektion, Kombination, Kondensation und Abstraktion abgeleitete neue Wissen stellt bereits einen möglicherweise entscheidenden Wettbewerbsvorteil dar. Und Exklusivwissen, Wissen also, über das andere nicht verfügen, ist inzwischen ein wichtiger Handels- und Exportartikel: entweder in materialisierter Form als innovatives oder billiger hergestelltes Produkt oder in ideeller Form als Lizenz oder Patent. Genau deswegen sprechen insbesondere Politiker und Wirtschaftsmanager heute ja gern (wenn auch etwas vollmundig) von der „Wissensgesellschaft“.

I. Missverständnis Nr. 1 Allerdings sind in diesem Zusammenhang oft zwei Aussagen zu hören, die zeigen, dass einige dieser Wortgewaltigen nicht genau wissen, wovon sie reden. So wird gern behauptet, dass sich gegenwärtig alle fünf bis sieben Jahre das Menschheitswissen verdoppelt. Dies wird ebenso simpel wie falsch aus der Tatsache geschlossen, dass die Zahl der mit der Herstellung von Wissen Beschäftigten – also der Wissenschaftler – ebenso wie die Menge der von ihnen produzierten und veröffentlichten Materialien exponentiell zunimmt. (Zur Zeit etwa erscheint weltweit ungefähr alle vier Sekunden eine Fachpublikation, wo-

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bei allerdings bewusste und unbewusste Doppel- und Mehrfachpublikationen ein und desselben Sachverhalts sowie Veröffentlichungen nach dem Prinzip der kleinsten publizierbaren Einheit mitgerechnet sind.) Daraus aber abzuleiten, dass sich auch unser Wissen im selben Tempo vermehrt, ist ein Trugschluss. Nicht das Wissen wächst exponentiell an, sondern zunächst lediglich die Menge der verfügbaren Daten und Informationen. Daraus methodisch strukturiertes, gewichtetes und gesichertes Wissen zu extrahieren, ist ein ganz anderer Prozess, ein Prozess, der – je weiter die Wissenschaft in die Geheimnisse der belebten und der unbelebten Natur und des Geistes eindringt – ideell und materiell immer aufwändiger, also teurer wird. Wirklich relevantes neues Wissen wird deshalb immer seltener und kostbarer.

II. Missverständnis Nr. 2 Auf einem ähnlichen Irrtum beruht eine zweite oft zu hörende und eigentlich höchst arrogante Aussage: dass nämlich unser Wissen eine immer kürzere Halbwertszeit besitze, also immer schneller veralte. Schon die Verwendung des aus den Naturwissenschaften – nämlich der Kernphysik – stammenden und streng definierten Begriffs Halbwertszeit ist in Bezug auf Wissen semantischer Unsinn. Die Halbwertszeit ist die Zeit, in der von einer ursprünglich vorhandenen Menge radioaktiver Atome die Hälfte zerfallen ist. Nach dem Ablauf von zehn Halbwertszeiten ist also von der Anfangsmenge nur noch knapp ein Tausendstel, nach weiteren zehn Halbwertszeiten weniger als ein Millionstel übrig. Wenn also Wissen eine – völlig beliebige – endliche Halbwertszeit besäße, würde es irgendwann vollständig verschwunden sein. Richtig ist lediglich, dass jede neue Erkenntnis unweigerlich zu neuen Fragen führt. Oder wie schon Johann Wolfgang v. Goethe es ausdrückte: „mit dem Wissen wächst der Zweifel“. Aber dass auf die neuen Fragen, die unvermeidlich aus neuem Wissen erwachsen, stets neue Antworten gesucht und gefunden werden, bedeutet gewiss nicht, dass das bereits vorhandene systematische Wissen regelmäßig antiquiert oder wertlos wird, sondern dass es laufend weiterentwickelt, vertieft und verfeinert wird. Was tatsächlich immer schneller verschleißt, sind die Arbeitsmittel, das Handwerkszeug, mit dem aus Daten und Informationen Wissen gewonnen wird, also Hypothesen, Theorien und Modelle (im Klartext: Vermutungen und Hilfskonstruktionen) sowie die experimentellen Techniken, vor allem dann, wenn sie auf sehr spezifische Fragestellungen zugeschnitten sind. Wobei sogleich einschränkend zu bemerken ist, dass auch ältere, für bestimmte aktuelle Probleme unzureichende Theorien und Methoden bei anderen Fragestellungen durchaus zu richtigen Resultaten führen können. So hat das Theoriengebäude der klassischen Physik seine Bedeutung nicht verloren, nachdem die Quantenmechanik entwickelt wurde, und die Valenzstrichschreibweise der Chemiker ist nicht generell falsch, weil es die moderne Elektronentheorie der chemischen Bindung gibt.

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Es kommt allerdings darauf an, bei der Benutzung eines bestimmten Modells oder einer Versuchsanordnung deren Anwendungsbereiche und -grenzen genau zu beachten. Dazu muss man diese kennen, und das ist eben auch wertvolles Wissen. Die stete Erweiterung und Verfeinerung des methodischen Arsenals ist im Übrigen wissenschaftsimmanent, der Mensch betreibt sie kontinuierlich, seit er versucht, seine Welt zu erkennen, zu beschreiben und daraus Nutzen zu ziehen. Trotzdem scheint es mir aus den oben genannten Gründen durchaus gerechtfertigt zu sein, von einem Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensoder besser Informationsgesellschaft zu sprechen. Die Gesellschaft ist deshalb mehr als jemals zuvor dafür verantwortlich und sollte (jedenfalls wenn sie nicht nur im heute lebt sondern auch an morgen denkt) mehr denn je daran interessiert sein, ihren Bürgern und insbesondere der jungen Generation alle Möglichkeiten des Wissenserwerbs, also des Zugangs zu einer gediegenen Bildung, offen zu halten. Und zwar keineswegs nur aus vordergründig wirtschaftlichen Überlegungen. Die Bildungsfrage ist vielmehr zum Schnittpunkt einer zukunftsorientierten und gerechten Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik geworden. Denn Bildung entscheidet einerseits immer mehr über Lebensperspektiven und Teilnahmechancen eines jeden Einzelnen. Und andererseits bedarf die demokratische Gesellschaft insgesamt, um das von der Menschheit akkumulierte Wissen optimal zu ihrem Wohle und ihrer Weiterentwicklung nutzen zu können, ja, um überhaupt funktionieren zu können, gebildeter Bürger. In Kurzform: Bildung ist und bleibt ein gemeinnütziges öffentliches Gut. Wenn die Politik diese Sachverhalte, wie sie in ihren Sonntagsreden immer wieder behauptet, wirklich verinnerlicht hätte, sähe es heute in der deutschen Bildungs- und Forschungslandschaft wohl anders aus. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt wäre nicht von 6,9 % im Jahr 1995 auf 6,2 % 2006 zurückgegangen, Deutschland stünde in Europa nicht an drittletzter Stelle bezüglich seiner Aufwendungen für Bildung, die Hochschulen wären nicht seit drei Jahrzehnten extrem überlastet und unterfinanziert, die Investitionslücke bei der Hochschulsanierung würde nicht von Jahr zu Jahr größer. Aber die meisten Politiker, gefangen in ihren beschränkten Sach- und Zeithorizonten, haben nicht verstanden oder wollen gar nicht mehr verstehen, was Wissenschaft wirklich ist, wie sie funktioniert und was sie für die Gesellschaft bedeutet. Anders ist nicht zu begreifen, dass seit Jahren die Mahnungen des Wissenschaftsrates, dass Deutschland zu wenig für Bildung und Wissenschaft tut, ignoriert werden, anders ist nicht zu begreifen, dass die Politik zwar regelmäßig mit großem Aufwand sog. Bildungsgipfel, Exzellenzinitiativen, Hochschulpakte und ähnliche öffentlichkeitswirksame Aktionen inszeniert, den Hochschulen aber zeitgleich immer neue Mittel- und Stellenkürzungen zumutet. Anders ist auch das unkritische Nachbeten der vor allem aus einflussreichen Wirtschaftsverbänden stammenden und von einer breiten Öffentlichkeit unglücklicherweise inzwischen übernomme-

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nen neoliberalen Weisheiten von Wettbewerb, Profilbildung, Qualitätssicherung, Leistungskontrolle und Leistungsanreizen, Effizienz, und – natürlich – Exzellenz nicht zu begreifen.

III. Missverständnis Nr. 3 Inzwischen scheint die Politik angesichts der von ihr selbst leichtfertig – Stichwort Steuersenkungswahn – leer geplünderten öffentlichen Kassen und unter dem Druck der Wirtschaftslobby vollends zu resignieren und sich unter dem Deckmäntelchen „Mehr Autonomie für die Hochschulen“ aus der Verantwortung stehlen zu wollen. Die jüngere Hochschulgesetzgebung in Bund und Ländern jedenfalls öffnet einer feindlichen Übernahme der Hochschulen durch die neoliberalen sog. Reformer Tor und Tür. Nach deren Vorstellungen sollen nun die Gesetze des Marktes ungeahnte Kräfte freisetzen und die angeblich „im Kern verrotteten“ Universitäten mit ihren „verkrusteten Strukturen“ und „faulen Professoren“ entfesseln und retten. Bildung – ursprünglich nach allgemeinem Konsens ein wichtiges Bürgerrecht – soll zur Ware, die Studierenden sollen zu Kunden gemacht werden, die angeblich unvermeidliche Einführung von Studiengebühren – in mehreren Bundesländern sind sie bereits gesetzlich vorgeschrieben – soll den Wettbewerb unter den Hochschulen ankurbeln und damit die Qualität des Studienangebots verbessern. Zugleich soll dadurch der erwünschte nachfrageund preisorientierte Steuerungseffekt auf die Hochschulen entstehen. Vermutlich ist dies schon kein Missverständnis mehr, sondern eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit. Denn die ökonomische Grundregel, wonach ein höherer Preis die Nachfrage senkt, gilt natürlich auch auf dem angestrebten Bildungsmarkt. Tatsächlich haben nach einer Studie des Hochschul-InformationsSystems HIS im Jahr 2006 rund 18000 Abiturienten – vor allem Frauen und junge Leute aus den sozial schwachen und bildungsfernen Schichten – nur deshalb auf ein Studium verzichtet, weil sie die geforderten Studiengebühren nicht aufzubringen vermögen. Damit werden nicht nur kostbare geistige Ressourcen verschenkt, sondern die für die Stabilität und Entwicklung der demokratischen Gesellschaft wichtigen sozial- und bildungspolitischen Aufgaben des Staates klar konterkariert. Zudem birgt das permanente Schielen auf den Markt die Gefahr, dass die Hochschulen, betriebswirtschaftlichen Überlegungen und modischen Trends folgend, der Verlockung erliegen, kostenintensive Studiengänge wie die Naturwissenschaften oder die Medizin sowie die schwächer nachgefragten sog. kleinen Fächer („Orchideenfächer“) am Bedarf der Gesellschaft vorbei zugunsten der kostenarmen Massenfächer abzubauen. Die daraus resultierende geistige Armut der Gesellschaft bis hin zum Banausentum ebenso wie akuter Fachkräftemangel auf (auch volkswirtschaftlich) wichtigen Gebieten ist abzusehen.

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Es kommt hinzu, dass die weiteren originären Aufgaben und Angebote der Hochschulen – die primär zweckfreie Suche nach Erkenntnis und Wahrheit, die Befriedigung des angesichts der kaum noch beherrschbaren Datenflut wachsenden gesamtgesellschaftlichen Bedarfs an geistiger Orientierung, die Moderation des Dialogs der Denkrichtungen, Kulturen und Traditionen sowie des Gesprächs der Generationen, ihre Funktion als Zentren des Geisteslebens der Gesellschaft – ohnehin nicht marktfähig gemacht werden können, da sie weder quantitativ messbar noch vordergründig „verwertbar“ sind.

IV. Missverständnis Nr. 4 Inzwischen hat auch der Hauptprotagonist der aktuellen neoliberalen Hochschul-Reformwut, das vom Bertelsmann-Konzern gegründete und jährlich mit Millionen Euro geförderte Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), wohl begriffen, dass über die Qualität von Forschung nicht das Verhältnis von Angebot und Nachfrage Aufschluss geben kann. Es hat daher das Hochschul- und Fakultäts-Ranking als Fiktion für den Marktwettbewerb entdeckt. Das Ranking ist der Versuch, durch die Abfrage bestimmter Daten – von Drittmitteln und Publikationen pro Wissenschaftler, von Ausstattungsmerkmalen, von subjektiven Beurteilungen durch Professoren und Studenten sowie durch die Personalchefs von Betrieben, die Absolventen der Hochschulen beschäftigen, etc.- Qualität in Zahlen auszudrücken und damit Objektivität und Vergleichbarkeit vorzuspiegeln. Wie zweifelhaft sowohl die methodischen Grundlagen als auch die Ergebnisse dieser Art der Qualitätsbewertung trotz aller Erweiterungen und statistischen Raffinessen sind, wurde auf dieser Tagung bereits mehrfach belegt. Wir sollten uns lieber darauf verlassen, dass die Angehörigen der Scientific Community in der Regel sehr gut beurteilen können, wie es um die Qualität der Forschung sowohl der mit ihnen entweder kooperierenden oder konkurrierenden engeren Fachkollegen als auch ganzer Fakultäten und Hochschulen steht, ganz einfach weil auf jedes irgendwo publiziertes Forschungsergebnis irgendwann zurückgegriffen wird und dabei sein Wahrheitsgehalt ebenso wie seine Relevanz automatisch an den Tag kommt.

V. Missverständnis Nr. 5 Natürlich müssen entsprechend der neuen Wettbewerbsideologie auch die Hochschulen „unternehmerisch“ agieren, dazu brauchen sie nach Ansicht der Marktradikalen keine oder nur höchst eingeschränkte Mitwirkungsrechte der Hochschulangehörigen und keine Bottom-up-Strukturen demokratischer Willensbildung und Interessenvertretung, in denen angeblich jede geplante Neuerung zerredet und nur bürokratische Hemmnisse aufgebaut werden. Sie brauchen viel-

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mehr streng hierarchische Unternehmensstrukturen möglichst nach dem Vorbild einer Aktiengesellschaft, ein „modernes professionelles Management“ mit fast unbegrenzten Entscheidungsbefugnissen, das von der Spitze aus bis in die letzte Verzweigung des „Unternehmens Hochschule“ straff durchregiert, mehr oder weniger selbstherrlich die strategischen Entscheidungen trifft und dem „Personal“ – gemeint sind die Wissenschaftler – ohne lange Diskussion quasi per Dekret vorgibt, was zu tun und was zu unterlassen ist, wie die Ressourcen einzusetzen sind, welches Wissens- oder Lehrgebiet Marktchancen hat und daher zu fördern ist und welches nicht. Die dieser Logik folgende Gesetzgebung schreibt inzwischen in fast allen Bundesländern die rigorose Beschneidung der Kompetenzen oder sogar die völlige Abschaffung der wichtigsten Gremien der akademischen Selbstverwaltung wie z. B. des Konzils – also des Parlaments der Hochschule – vor. In diesem Zusammenhang macht es schon sehr nachdenklich, dass kürzlich ein Ministerpräsident und Landesvorsitzender einer großen Volkspartei vor Studierenden erklären konnte, dass Demokratie, weil angeblich ineffizient, nicht in die Hochschulen gehöre. Ja, natürlich, Demokratie ist teuer, anstrengend und oft genug sehr zeitaufwendig. Und die Parlamente können für die Regierenden durchaus lästig werden, da sie deren immanente Selbstherrlichkeit und Eigenmächtigkeit begrenzen. Aber gerade das ist ja der Sinn und die Stärke der Demokratie, gerade dadurch kann sie dazu beitragen, Fehlentwicklungen zu vermeiden. Sie aus Gründen einer falsch verstandenen Effizienz in Frage zu stellen – hier hätte ich einen Aufschrei der Öffentlichkeit oder wenigstens deutlichen Widerspruch von Seiten politischer Institutionen oder etwa der Hochschulrektorenkonferenz erwartet. Ich halte es jedenfalls für einen groben Verstoß gegen unsere Sorgfaltspflicht für die nächste Generation, die Demokratie ausgerechnet an den Hohen Schulen der Nation, wo junge Menschen sie erfahren, üben und leben sollten, mit welcher Begründung auch immer zu diskreditieren, einzuschränken oder gar vollends abzuschaffen. Im Übrigen lehrt jahrhundertlange Erfahrung, dass Wissenschaft nicht von oben gelenkt oder gar befohlen werden kann. Kein Manager, und sei er noch so hoch bezahlt, gebildet und erfahren, kein Politiker, keine Kommission, nicht einmal ein ggf. mit der Evaluierung beauftragter ausgewiesener Fachkollege kann ein bestimmtes Forschungsvorhaben besser verstehen als die konkret damit befassten Wissenschaftler. Und selbst diese können nur sehr selten beurteilen, ob, wie und wann dieses Vorhaben in irgendeiner Weise Früchte tragen, also zu relevanten neuen Erkenntnissen oder gar zu wirtschaftlich verwertbaren Innovationen führen wird. Wissenschaft ist und bleibt ein mit Risiken und Irrtümern verbundener chaotischer Prozess, sie geht verschlungene, manchmal sogar spielerische Wege und braucht einen langen Atem. Ihre Ergebnisse lassen sich prinzipiell nicht rational planen. Was sich planen lässt, ist lediglich das schon grundsätzlich Bekann-

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te, sind bestenfalls Präzisierungen und Weiterentwicklungen. Dagegen wurden fast alle bahnbrechenden Entdeckungen in der Geschichte eher zufällig und unerwartet gemacht, sie waren Früchte des unruhigen Geistes und des selbst bestimmten (Quer-)Denkens und Forschens und mussten sich häufig erst in langen z.T. schmerzhaften Auseinandersetzungen gegen die bis dahin herrschende Lehrmeinung (die Basis jeder „Planung“ also) durchsetzen. Jede Art von „Kommandowissenschaft“ ist daher ein Widerspruch in sich.

VI. Missverständnis Nr. 6 Natürlich soll das neu etablierte Hochschulmanagement auch die erforderlichen Leistungskontrollen veranlassen und durch geeignete materielle Leistungsanreize die Effizienz von Forschung und Lehre verbessern. So und nur so könne letztendlich Exzellenz erreicht werden. Mit derartigen Aussagen offenbaren die Apologeten des Marktes ihr absolutes Unverständnis für die wahren Antriebskräfte der Wissenschaft und für ihre bewährten Kontroll- und Selbststeuerungsmechanismen und ihr tiefes Misstrauen gegenüber den Wissenschaftlern. Sie verkennen völlig, dass die wichtigste Motivation für den leidenschaftlichen Forscher die produktive Neugier ist, der zutiefst menschliche Drang, bisher Unbekanntes zu erkunden, zu sehen, was hinter dem Horizont ist, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist es, was ihn gelegentlich Feierabend, Familie und die eigene Gesundheit vergessen lässt. An zweiter Stelle steht der verständliche Wunsch, innerhalb der engeren oder weiteren Wissenschaftsfamilie bekannt zu sein und Ansehen zu genießen. Erst ganz zuletzt kommen die finanziellen Anreize. Und wer nicht vom Feuer der Wissenschaft erfasst ist, wer nicht den Drang kennt, sein Wissen mit anderen zu teilen, und die Studierenden nicht als Partner schätzt, wird auch durch ein Traumgehalt nicht zu einem erfolgreichen Forscher und guten Hochschullehrer. Ganz im Gegenteil droht die Gefahr, dass Menschen an die Hochschulen gelockt werden, die eben nicht in die Wissenschaft gehören, die weniger nach Erkenntnis denn nach Karriere und sicherem Auskommen streben und sich geistig zur Ruhe setzen, sobald sie sich eine Professur verdient haben.

VII. Missverständnis Nr. 7 Damit der Wettbewerb zwischen den Hochschulen auch richtig funktioniert, muss schließlich dafür gesorgt werden, dass der Einfluss von Staat und Politik auf ein Minimum reduziert wird. Den Parlamenten, die eigentlich für die Wahrung gesamtgesellschaftlicher Interessen gegenüber den Hochschulen verantwortlich sind, ist die Rolle von bloßen Zahlmeistern zugedacht, sie haben nur noch die staatlichen Zuschüsse zu gewähren und Finanzierungssicherheit bis zum Ende der jeweiligen Legislaturperiode zu garantieren.

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Als Organ der Finanz- und auch Fachaufsicht wird dem Management der Hochschule nach dem Vorbild einer Aktiengesellschaft eine Art Aufsichtsrat gegenübergestellt. Dieser sog. Hochschulrat ist mit weit reichenden, die Interessen und Aufgaben der Hochschulen direkt tangierenden Kompetenzen ausgestattet und besteht in der Regel mehrheitlich aus Vertretern der Wirtschaft, des öffentlichen Lebens und des zuständigen Ministeriums, also aus eher wissenschaftsfernen Personen. Geradezu skandalös für einen demokratischen Rechtsstaat ist die Tatsache, dass dieser Hochschulrat keiner irgendwie legitimierten Instanz gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Seine Mitglieder entscheiden vielmehr, auch wenn sie dies nach bestem Wissen und Gewissen tun, über das Schicksal der ihnen anvertrauten Hochschule und damit über das Geld der Steuerzahler allein und ohne persönliches Risiko nach ihrem subjektiven wissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen Gusto. Die versprochene Hochschulautonomie erweist sich also als glatter Etikettenschwindel. Die bisherige Fremdsteuerung durch die Ministerialbürokratie wird lediglich gegen die Fremdsteuerung durch den Hochschulrat und die ausufernden Bürokratien der Evaluierer, Akkreditierer und Zertifizierer ausgetauscht. Mit dem Unterschied, dass die neue Fremdsteuerung für die Hochschulen deutlich teurer wird als die alte. Und mit dem gravierenden Nachteil, dass die Hochschulen in absehbarer Zeit nicht mehr primär gesamtgesellschaftlichen Interessen, sondern vor allem denen der Wirtschaft dienen werden.

VIII. Das Wissenschaftssystem der DDR In diesem Zusammenhang ist übrigens ein Blick auf die Organisation der Forschung und des Hochschulwesens in der DDR sehr lehrreich. Wissenschaft wurde in der DDR rein utilitaristisch als Produktivkraft verstanden, die sich strikt an den Bedürfnissen der Volkswirtschaft zu orientieren hatte. Selbst die Grundlagenforschung sollte möglichst „anwendungsorientiert“ erfolgen und wurde zunehmend zugunsten der Auftragsforschung vernachlässigt. Die Forschung galt grundsätzlich als planbar und war Teil der Volkswirtschaftspläne. Die strategischen Grundsatzentscheidungen fielen in der Abteilung Wissenschaft beim ZK der SED, im Ministerrat und im Forschungsrat der DDR. Die Planung, Leitung, Termin- und Ergebniskontrolle der in sog. Pflichtenheften fixierten konkreten Forschungsaufgaben erfolgte einerseits durch die Auftraggeber aus der Industrie bzw., soweit es sich um Themen der angewandten Grundlagenforschung handelte, streng zentralistisch über sog. Hauptforschungsrichtungen (HFR) und die ihnen untergeordneten Forschungsrichtungen (FR). Als Anreizsystem diente der „sozialistische Wettbewerb“ zwischen den einzelnen Forschungseinrichtungen, also auch zwischen den Hochschulen ebenso wie zwischen deren Substrukturen, sowie ein System von Erfolgsprämien und leis-

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tungsbezogenen Gehaltszuschlägen (LAZ = leistungsabhängiger Zuschlag, LOZ = leistungsorientierter Zuschlag), die von den jeweils höheren Ebenen an die Berichtspflichtigen vergeben werden konnten. Die wichtigsten Kriterien für die Qualität von Forschung waren die Wirksamkeit in der Produktion und die Einhaltung der geplanten Termine. Das Ganze war verbunden mit einem umfangreichen bürokratischen Antrags- und Berichtswesen, das viel Papier und Arbeitskapazität verbrauchte. Auch die innere Struktur der Hochschulen folgte dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“. Der Rektor wurde nicht frei gewählt, sondern der Hochschule nach jahrelanger Vorbereitung im „Kaderentwicklungsprogramm“ und nach Auswahl und Prüfung durch den Partei- und Staatsapparat „vorgeschlagen“ und im Konzil per Akklamation bestätigt. Er und die Prorektoren besaßen in allen Fragen von Forschung und Lehre Weisungsrecht gegenüber allen Hochschulangehörigen, also auch gegenüber den Sektionsdirektoren und Wissenschaftsbereichsleitern. Ein – ebenfalls nicht gewählter – „Gesellschaftlicher Rat“ aus Vertretern der Wirtschaft und des Partei- und Staatsapparates hatte in etwa die gleichen Vollmachten wie die heutigen Hochschulräte.

IX. Fazit Es scheint nach den schlechten Erfahrungen mit der Wissenschafts- und Hochschulpolitik der DDR paradox, aber die Analogien zwischen dem damaligen und dem heute wieder weit verbreiteten grundsätzlichen Unverständnis für das Wesen der Wissenschaft, zwischen den ebenso hilflosen wie untauglichen Versuchen der Planung und Lenkung von Forschung damals und heute und zwischen der Struktur der DDR-Hochschulen und dem heute propagierten marktwirtschaftlichen Leitbild der Hochschulen sind unübersehbar. Die von der Wirtschaft und der Politik mit geradezu missionarischem Eifer verbreiteten neoliberalen Heilslehren und Patentrezepte zur Förderung der „Effizienz“ wissenschaftlichen Arbeitens erweisen sich also in Wahrheit als alte Hüte und haben ihre Untauglichkeit bereits zur Genüge bewiesen. Es ist an der Zeit, dass wir, in der besonderen Verantwortung für die Freiheit und die Entwicklung der Wissenschaft in unserem Lande, uns entschieden gegen die von blanker Ignoranz und privaten Interessen getragenen Zumutungen und Einmischungen der selbsternannten „Hochschul-Reformer“ und die damit unweigerlich verbundene Trivialisierung und Barbarisierung des Wissens zur Wehr setzen. Es würde den ostdeutschen Hochschulen mit ihren noch relativ frischen Erinnerungen an die Zeit der Plan- und Kommandowissenschaft gut zu Gesicht stehen, hierbei mutig voran zu gehen.

Ökonomisierung der Wissensgesellschaft – pro Von Bruno S. Frey 1 Herzlichen Dank für die freundliche Einleitung. Es ist natürlich eine riesige Ehre, an einer Universität zu sein, die 600 Jahre alt ist oder genauer 600 Jahre Zukunft hat. Ich komme selbst von einer Universität – genau wie Herr Schefold von der Universität Basel – und wir finden, wir sind eine sehr alte Uni, aber wir sind nur 550 Jahre alt. Sie schlagen uns um glatte 50 Jahre und man merkt es wohl auch. In welcher Richtung auch immer, das weiß ich nicht so genau. Ich finde eine Ökonomisierung der Wissensgesellschaft völlig richtig. Es ist genau das, was man tun muss, aber das Problem ist, man muss es richtig machen und heute wird es total falsch gemacht. Es findet eine Ökonomisierung der Wissensgesellschaft statt, wobei die Ökonomisierung eine Pfahlbauernökonomie ist, mit der moderne Ökonomen nichts mehr zu tun haben oder mindestens haben sollten. Ich werde also plädieren, Ökonomisierung ist gut, aber man muss dazu die richtige Ökonomie verwenden und die ist eben anders als diejenige, die im Moment angewandt wird und das führt auch zu einem ganz anderen Vorgehen. Das heutige Verständnis von Ökonomisierung bedeutet, dass man den materiellen Output, das materielle Resultat, das zählbare, das unmittelbar zählbare Resultat maximiert. Das klingt noch abstrakt, aber wenden Sie es auf Bildung an! Das bedeutet, die beste Bildung ist diejenige, die nachher zum höchsten Einkommen verhilft. Einkommen kann man gut messen und zählen, jeder versteht es und dann ist eben das Studium am besten, welches einem nachher das höchste Einkommen verschafft. Das bedeutet selbstverständlich, dass man nur noch Betriebswirtschaftslehre studieren sollte oder vielleicht Ingenieurswissenschaften, aber ganz sicher nicht Archäologie oder Philosophie oder andere Fächer. Ich finde, wenn man schon Outputmaximierung macht, dann muss man es richtig machen und nicht so halb. Da gibt es solche, die sagen, ja, jetzt müssen wir die Hochschule mal wirklich ökonomisieren – dann sollten Sie die Konklusion auch ziehen und alle Fächer abschaffen, die nichts bringen. Ich finde diese Konsequenzen natürlich, wie Sie sicher schon gemerkt haben, nicht gerade sehr 1 Prof. Dr. Bruno S. Frey ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und außermarktliche Ökonomik der Universität Zürich. Der folgende Beitrag entspricht dem Vortrag an der Universität Leipzig am 4. Dezember 2009. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

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sinnvoll. Was es für den Studienbetrieb bedeutet, ist auch klar: Man muss möglichst schnell, möglichst gezielt und direkt das Studium absolvieren und ja nicht irgendetwas anderes nebenbei noch anschauen. Ich möchte aber nicht allgemein bei der Wissensgesellschaft bleiben, sondern eine konkrete Anwendung versuchen, und zwar eben die falsche Ökonomisierung an den Universitäten wie z. B. an dieser hier. Und da gibt es ja zwei große Bereiche. Der erste Bereich ist in der Lehre und ich habe hier hingeschrieben, was das bedeutet. In der Lehre bedeutet diese Outputmaximierung ganz einfach, dass die Studierenden ihre Anrechnungspunkte akkumulieren müssen und das bedeutet, dass die Studierenden auf eine Punktejagd geschickt werden und das ist z. B. der Grund, weshalb die Studenten auch nicht hier anwesend sind. Wir haben das vorher besprochen, und vielleicht sollte man das nicht sagen, aber ich glaube, das ist einfach die Wahrheit. Ist doch ganz simpel: Wenn sie hier wären, gäbe das erstens keinen Punkt und würde ja zweitens nicht geprüft. Warum sollten sie denn hier sein? Wir haben es ihnen ja beigebracht. Dann sollten wir auch nicht erstaunt sein, wenn sie eben rational sind, sich ökonomisch verhalten und dann eben nicht kommen! Genauso, wenn wir an der Universität einen Gastredner einladen: Sei er auch noch so prominent, es kommt natürlich kein Student. Warum sollten sie auch? Wir haben ihnen ja gesagt, es zählen nur diese Pünktchen. Und das machen sie. Insofern bin ich ein überzeugter Ökonom. Die Studierenden verhalten sich rational, eigennützig, ökonomisch, weil wir es ihnen auch entsprechend diktiert haben. Aber ich möchte nicht über Lehre sprechen, sondern ich möchte in meinem Vortrag verstärkt auf Forschung eingehen, weil auf diesem Feld auch sehr viel passiert. Und was heute das Typische ist: Eine Universität wird als Unternehmung angesehen. Und für viele klingt das ganz toll. Unternehmung, da läuft doch was, da geschieht was. Und dann soll sich eben auch eine 600 Jahre alte Institution entsprechend wie eine Unternehmung verhalten. Die Universität sollte eine Unternehmung sein, an der Spitze ein Chief Officer und es gibt einen Chief Financial Officer und jemanden, der die Universität nach außen verkauft usw. Ein bisschen übertreibe ich, aber nicht sehr viel. Ich kenne mehrere Universitäten, wo das genau so gemacht wird. Das heißt, es wird das New Public Management auf die Universität angewandt. Was könnte das bedeuten? Das ist die Übertragung dieser Prinzipal-Agenten-Theorie der Wirtschaftswissenschaft auf die Universität. Bei Firmen haben wir ja ein Problem, nämlich dass die Inhaber, die das ganze Risiko tragen, die das Geld eingebracht haben, enttäuscht darüber sind, dass die Manager oft etwas anderes machen. Das Problem besteht also darin, das Interesse der Manager und der Firmeninhaber, Aktionäre, in die gleiche Richtung zu lenken und das macht diese Prinzipal-Agenten-Theorie. Die Vorstellung ist, man muss die Manager genau überwachen, und wenn sie nicht genau das tun, was die Aktionäre wollen, müssen wir sie bestrafen und die Bestrafung ist üblicherweise, dass Einkommensein-

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bußen erfolgen. Das Instrument, welches dann unmittelbar auf die Universität angewandt wird, ist vor allem Leistungsentlohnung. Ein gefährliches Wort, denn was kann man schon gegen Leistungsentlohnung haben? Man kann ja nicht sagen, ich entlohne Sie für keine Leistung. Jeder Journalist und jeder Politiker findet deshalb Leistungsentlohnung etwas ganz Tolles, das müssen wir jetzt endlich mal an der Universität einführen. Das ist sowieso ein langweiliger Haufen da an der Uni, die leisten ja nichts, Leistungsentlohnung muss jetzt her. Wie wird die gemacht? Selbstverständlich, es wird gezählt, nämlich Publikationen. Das ist wirklich kein Witz, es werden heute Publikationen einfach zusammengezählt und dann wird gesagt, wer die meisten Publikationen hat, ist sozusagen der Beste. Und dann gibt es ein paar Leute, die sagen, ja, das ist dann doch ein bisschen oberflächlich, denn nicht jede Publikation ist genau gleich gut wie die andere, deshalb werden dann die entsprechenden Zitierungen angesehen. Zitierungen in anderen Fachzeitschriften. Und das wird heute oder seit vielen Jahren schon alles ganz, ganz präzise erfasst in Philadelphia vom ISI, sodass wir also die Zitierungen aller Wissenschaftler praktisch auf der ganzen Welt kennen. Und dann sagt man noch, ja, Zitierungen, ist ja schon recht, aber jetzt müssen wir noch eine Stufe weitergehen. Zitiert werden in einer wichtigen Zeitschrift ist wichtiger als in einer unwichtigen Zeitschrift. Und dann nimmt man die Impact Factors. Der Impact Factor zählt ganz einfach, wie oft eine Zeitschrift im Durchschnitt zitiert wird. Und das dient dann als Gewichtung. Sie sehen also, die Leistung wird jetzt unmittelbar und ganz direkt zählbar gemacht und dann werden die Leute entsprechend entlohnt. Und es gibt bereits im deutschen Sprachraum Universitäten, die ihren jungen Leuten 3.000 und 5.000 Euro für einen Artikel in einer guten Zeitschrift zahlen. Das ist dann Leistungsentlohnung. Jetzt kommt aber die nächste Stufe und die ist vielleicht noch wichtiger: Jetzt werden nämlich die Dinge zusammengezählt. Und zwar wird dann gezählt, wie viele Publikationen, Zitierungen usw. eine bestimmte Universität hat. Das ist heute schon Gang und Gäbe. Es gibt genaue Rangfolgen von Universitäten, ich weiß jetzt nicht, wo die Universität Leipzig in solchen Rankings steht, aber ich weiß, dass z. B. die ETH in Zürich sehr stolz darauf ist, dass sie – wie ich glaube – unter den Top 50 der Welt ist usw. Blickt man auf einzelne Fachbereiche, ist auch da in der Innensicht heute genau bekannt, welcher Fachbereich im Moment z. B. in meinem eigenen Fach, in den Wirtschaftswissenschaften, der beste im deutschsprachigen Raum ist, auf welcher Stufe er in Europa und dann auf der ganzen Welt ist. Und dann werden, das ist dann das ultimative Ranking, einzelne Personen eingestuft, ganz genau. Man weiß also von jedem Kollegen inzwischen, welche Nummer er ist und wenn eben eine höhere Nummer in den Raum kommt, dann hört man ihm nicht mal mehr zu, denn der hat ja nichts zu melden. Oder die Dame hat nichts zu melden, denn der Kollege ist ja Nr. 37 oder 85 oder 1.253. Ein bisschen übertreibe ich, aber nicht sehr viel. Es kommt immer darauf an, wo man sich bewegt. Und wenn man sich wirklich dort bewegt, wo die Leute glauben, dass man sich bewegt, wenn

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man wichtig ist in der Wissenschaft, dann läuft das alles heute so. Weitgehend mindestens. Und dann kommen noch, das ist mein privates Hobby, Exzellenz-Universitäten. Ich glaubte, in Deutschland gibt es unterschiedliche Universitäten mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Längst vorbei. Es gibt nur zwei Universitäten. Solche, die es nicht geschafft haben und solche, die es geschafft haben. Und die Exzellenz-Universitäten, die haben es geschafft und die anderen sind eben nicht so exzellent. Punkt. Und was geschieht dann? Diejenigen, die ExzellenzUniversitäten sind, das ist ja jetzt gerade vor etwa einem Jahr oder so entschieden worden, die sind jetzt schon in vollem Lauf, sich diesen Status zu erhalten. Ich habe mit einem Professor von der Universität Heidelberg gesprochen und er hat gesagt: „Mir wäre es lieber, und der Universität Heidelberg hätte es auch besser getan, nicht exzellent zu werden, denn jetzt müssen sie sich intensiv bemühen, diesen Rang nicht zu verlieren.“ Denn das ist das Allerschlimmste, was auf Gottes Erden passieren kann: Zuerst exzellent zu sein und dann abzusteigen. Aber einige müssen ja absteigen, sonst hätte man ja schon vor 600 Jahren solche Exzellenz-Universitäten festlegen können. Es muss also dann ersetzt werden. Mit anderen Worten: Die Wissenschaftler beschäftigen sich nicht mehr mit Wissenschaft, sondern mit dem Schreiben von Programmen, mit Zukunftsvisionen, die dem Wissenschaftsrat oder wer immer das beschließt gut gefallen. Und die Aktivität ist nicht mehr, sich hinzusetzen und zu forschen, sondern die Aktivität ist, solche schönen Programme zu entwickeln, die alle in die Luft geschrieben sind. Ich habe mir das zum Vergnügen gemacht, mir so etwas mal anzusehen. Es gibt so ein Büchlein, ich glaube, das hat der Wissenschaftsrat rausgegeben, mit schönen vielen bunten Bildern, ist ganz wichtig, und es muss schön aussehen, Hochglanz, hat sicher sehr viel Geld gekostet. Und darin steht von jeder Exzellenz-Universität, warum sie exzellent ist. Jede schreibt genau das Gleiche, interdisziplinär muss man sein, man muss die Jungen fördern und vermutlich die Alten loswerden und so Zeug. Bei allen steht genau das Gleiche. Und von Inhalt keine Spur. Rankings, Exzellenz-Universitäten. Ich möchte weitergehen und diese Rankings mal ein bisschen schildern. Die Rankings, also die Einstufungen der einzelnen Wissenschaftler, dann Fachbereiche, Fakultäten und Universitäten, die werden auf Grundlage von Gutachten gemacht. Heute heißt das Peer Review, durch Gutachten anderer Wissenschaftler. Jetzt möchte ich betonen, ich halte das für genau das Richtige, und zwar, weil der Markt schlecht oder gar nicht darüber entscheiden kann, welche Forschung gut ist. Weil das zu lange dauert. Es kann jemand etwas sehr Interessantes, Wichtiges entwickeln, aber das dauert dann vielleicht 20, 30 oder 50 Jahre, bis es sich auf dem Markt niederschlägt und sichtbar wird. Die einzigen, die bestenfalls die Arbeiten in der Wissenschaft beurteilen können, sind andere Wissenschaftler. Also, soweit bin ich völlig einverstanden. Aber jetzt muss man auch die Probleme sehen. Das erste Problem, was ich da aufgeführt habe, ist geringe Einigkeit

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zwischen den Gutachtern. Sie sehen hier, die Korrelation ist nicht gerade hoch: 0,09 bis bestenfalls 0,5. Das heißt, normalerweise beurteilen in meiner Wissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, mindestens zwei Leute einen Aufsatz, der in einer wissenschaftlichen Zeitschrift eingereicht wird. Und da ist die Korrelation also so. Wenn es drei sind, sinkt natürlich die Gesamtkorrelation noch mehr und wenn es vier und fünf sind, wie das zum Teil in der Betriebswirtschaftslehre der Fall ist, ist kaum mehr Einigkeit vorhanden. Interessanterweise ist die Einigkeit etwas höher, wenn es um schlechte Papiere geht. Da können sich die Wissenschaftler besser einigen, was ein schlechtes Papier ist, aber wenn es um neuartige gute Papiere geht, ist die Einigkeit gering. Daraus resultiert dann aber auch geringe prognostische Qualität. Das bedeutet, prognostische Qualität kann man dadurch erfassen, dass man sagt, wir schauen uns an, wie die Gutachter ein Papier beurteilen. Bringt es etwas, ist es zukunftsorientiert, ist es interessant, und dann schaut man die nachherigen Zitierungen an. Die Zitierungen, die sich über die Zeit akkumulieren. Und da zeigt sich sehr wenig Übereinstimmung. Also, die Wissenschaftler, selbst die Wissenschaftler, haben große Probleme vorauszusehen, welche Aufsätze nun wirklich diejenigen sind, die ein paar Jahre später als bedeutend angesehen werden, auch wieder unter Wissenschaftlern. Dann gibt es noch die verzerrte Wahrnehmung. Neue, unkonventionelle Ideen haben fast keine Chance in einem solchen herkömmlichen Gutachterprozess und ein Grund – es gibt verschiedene Gründe – ist, dass man heute ja sehr viele Gutachten schreiben muss. Wer ein bisschen etabliert ist in einem Fach, kriegt sehr, sehr viele Anfragen. Also, z. B. ich kriege etwa jeden Tag eine Anfrage. Das kann ich natürlich nicht bearbeiten, ist ja klar. Was macht man? Man gibt es den Doktoranden weiter und sagt, schauen Sie doch das bitte mal an. Und jetzt müssen Sie sich mal das Kalkül dieser armen Menschen anschauen. Wenn jemand mit einem schönen braven Artikel kommt, den er beurteilen soll, wo nur sein Epsilon geändert ist, dann kann der Doktorand sagen, ja, das ist gut, das ist korrekt, da ist die Mathematik richtig und die statistischen Schätzverfahren sind in Ordnung und gibt das seinem Professor oder seiner Professorin weiter. Aber wenn jemand mit einer neuen Idee kommt, was soll dann der arme Doktorand sagen, denn er weiß ja nicht, was sein Meister denkt oder seine Meisterin. Infolge dessen ist es viel klüger von ihm, zu sagen, ja, diese neue Idee ist zwar ganz interessant, aber noch nicht ausgereift, die ist noch nicht soweit, dass sie publiziert werden könnte und dann schreibt das der Meister dahin und das bedeutet, dass originelle Ideen praktisch keine Chance haben. Und wenn Sie sich die großen Wissenschaftler anschauen, also die wirklich großen Wissenschaftler in unserer Vergangenheit, die wären wohl alle an einem solchen Verfahren gescheitert. Denn sie haben ja Dinge gesagt, die eben unkonventionell waren, die eben von den meisten Leuten damals als falsch angesehen wurden, aber eben zukunftsträchtig waren. Dann sind Gutachter natürlich normale Menschen, nicht besonders böse Menschen, sondern ganz normale Menschen. Und ganz normale Menschen sind

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ziemlich eitel. Und wenn jemand einen Artikel einreicht, bei dem man viel zitiert ist, das hat man ganz gern und dann ist die Chance sehr viel besser. Dann kommt es natürlich zu Tauschhandel: Wenn ich in meinem Aufsatz Sie zitiere, dann werden Sie mich doch in Ihrem Aufsatz zitieren usw. Alles völlig rational. Und so läuft es dann auch. Auf der anderen Seite gibt es einige technische Mängel bei diesem ReviewVerfahren: Namen. Wenn man einen einfachen Namen hat, hat man Glück, aber wenn man aus Indien stammt mit einem so ellenlangen Namen und vielen H’s und P’s und die so durcheinander gehen, das schaffen die Computer nicht oder wenigstens die Leute, die das eintippen, schaffen es nicht. So passieren bei Leuten mit komplizierten Namen erstaunlich viele Fehler. Man denkt immer, im 21. Jahrhundert könne so was nicht passieren. Nein, ist nicht wahr. Etwa 30 % der Namen sind irgendwie falsch und dann ist natürlich die Einschätzung nicht mehr richtig auf der Ebene der Rankings. Dann ist auch nachgewiesen, ganz praktisch nachgewiesen: Wenn man die Klassifikation ein ganz kleines bisschen ändert, kommen ganz andere Ergebnisse raus. Dann ein weiteres Problem, eher methodisch, ist schon etwas grundsätzlicher. Bei den Zitierungen ist es natürlich etwas Anderes, aber wenn die Zahl der Publikationen angesehen wird, werden nur Zeitschriftenartikel in ganz bestimmten Zeitschriften gezählt. Es geht zwar um tausende, aber sobald man in einem anderen Fach publiziert, z. B. wenn ein Ökonom so unvernünftig wäre und würde auch mal in einer juristischen Zeitschrift oder in einer soziologischen Zeitschrift veröffentlichen, zählt das nicht. Denn wir schauen nur, was in den ökonomischen Zeitschriften veröffentlich ist. Von Büchern nicht zu reden oder anderen Veröffentlichungsmöglichkeiten. Der Matthäus-Effekt, der ist enorm stark geworden in diesem System. Sie müssen immer sehen, wir leben jetzt in diesem System, in dem nur die Rankings zählen. Und die Leute passen sich an und da kommen dann Dinge rein, die mit Wissenschaft furchtbar wenig zu tun haben. Der Matthäus-Effekt bedeutet, dass man bestimmte Dinge auf Knopfdruck zitiert. Das heißt, zu irgendeinem Thema gibt es die etablierte Literatur und die muss zitiert werden, weil sonst der Doktorand, der das begutachtet, findet: ach, der kennt das ja nicht mal. Dabei kennt es ja jeder, man könnte es ja weglassen, aber nein, das muss man zitieren. Und das bedeutet, wenn man Glück hat und mal da drin ist, dann wächst das und wächst das. Dann falsche Zitate. Als Nichtwissenschaftler, als Nichtwissenschaftlerin, würde man doch denken, dass Wissenschaftler Wert auf Qualität legen. Aber ganz plötzlich, bei Zitierungen, vergessen sie alles. Da wird nämlich nur die Zitierung gezählt – ob da im Text steht, das ist die dümmste Idee, die es je gab, die sollte nie jemand anschauen oder ob jemand schreibt, das ist nun wirklich eine tolle Idee und dann steht unten dann das Zitat und wessen Idee das ist. Das wird alles gleich gezählt. Und das in der Wissenschaft!

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Also, eine ganz abstruse Geschichte. Dann natürlich auch – und hier sind wir wirklich alle beteiligt, also mindestens ich bin da auch dabei – kommt es vor, dass ich Dinge zitiere, die ich mal gelesen habe, vor 20, 30 Jahren. So ungefähr weiß ich noch, was da drin steht, aber nicht genau. Aber es wird zitiert, denn man muss ja zitieren. Es könnte ja der Gutachter sein, also zitiert man darauf los. Also, ein wirklich einfacher Punkt. Der Impact Factor, der ist ja für Zeitschriften, der gilt für die Zeitschrift, für eine bestimmte Zeitschrift. Aber der einzelne Artikel, der in diesen Zeitschriften drin ist, der hat eine völlig andere Zitierhäufigkeit und es ist sehr gut nachgewiesen, dass viele Aufsätze in den führenden Fachzeitschriften praktisch nie zitiert werden und Beiträge in schlechten Zeitschriften, heute spricht man ja von ABCD-Zeitschriften, z. B. also in einer C-Zeitschrift, viel mehr Aufmerksamkeit bringen und mehr geschätzt werden von den Kollegen als eine Publikation in den allerbesten. Dennoch wird jeder Aufsatz, der in einer Spitzenzeitschrift veröffentlicht wird, mit diesem Impact Factor der entsprechenden Zeitschrift gewichtet. Das ist natürlich auch eine komische Sache. Und dann gibt es schließlich diese großen Unterschiede zwischen den Disziplinen. Es gibt Disziplinen, da ist es einfach Tradition, dass man sehr viel zitiert und es gibt andere, in denen wenig zitiert wird, aber wenn dann in Zwischendisziplinen einfach nur die Zahl der Publikationen verglichen wird, führt das natürlich zu unsinnigen Ergebnissen. Jetzt komme ich aber zu dem meines Erachtens wichtigsten Problem der Rankings-Mania, nämlich die Reaktionen. Und hier bin ich jetzt sehr Ökonom. Wenn etwas so läuft wie ich es zu beschreiben versucht habe, dann reagieren die Betroffenen systematisch darauf. Ich habe es schon einige Male anklingen lassen und möchte das jetzt noch ein bisschen vertiefen. Wenn es also etabliert ist, dass Rankings so zentral wichtig sind, dann bemühen sich die individuellen Forschenden, in diesen Rankings gut auszusehen und verhalten sich entsprechend. Zum Beispiel existiert das Multiple-Tasking-Problem, das ist der Fachausdruck in meiner Wissenschaft, wenn mehrere Aufgaben zu bewältigen sind. Jetzt aber haben wir diese Rankings. Man würde sagen, eine Professorin hat doch verschiedene Aufgaben: in der Lehre, der Selbstverwaltung, Kontakte zur Öffentlichkeit, Beratung und Forschung, also mindestens fünf Sachen. Das ist doch eine Professorin, wie wir sie uns vorstellen. Jetzt wird aber ausschließlich die Leistung einer Professorin danach beurteilt, wie viel sie veröffentlicht, also nur in Bezug auf den materiellen zahlenmäßigen Forschungsoutput. Was macht ein vernünftiger Mensch? Ist ja völlig klar: Er minimiert die Lehre bis zum absoluten Minimum. Er macht natürlich keine Selbstverwaltung mehr. Er kümmert sich nicht mehr um die Öffentlichkeit. Sie müssen mal sehen, wenn jemand 5.000 Euro kriegt für einen Aufsatz, warum sollte er dann einen kleinen Artikel in der Lokalzeitung schreiben? Warum sollte er sich längere Zeit mit einem Studierenden unterhalten, mehr als absolut notwendig ist? Ist alles daneben. Und das zeigt sich natürlich und am deutlichsten wurde mir das, als ein Kollege von mir einen Riesenpreis gewonnen hat, ich glaube den Leibnitz-Preis oder so, Millionen von

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Euro. Und dann kam ein Journalist und hat gesagt: „Jetzt haben Sie so viel Geld bekommen, was machen Sie jetzt mit dem Geld?“ Und dann schaut der Kollege und sagt: „Ich reduzier’ meine Lehre auf Null!“ Das war das Schönste, was sich dieser junge Mann vorstellen konnte. Und das heißt auf Deutsch nichts anderes als: Jeder, der noch lehrt, ist ein totaler Trottel. Aber ist doch nicht erstaunlich. Da funktioniert die Ökonomie hundertprozentig. Wenn man den Leuten sagt, es zählt nur, was sie an Artikeln veröffentlichen, dann rückt die Lehre nach unten, ist doch völlig klar. Und dann darf man nicht erstaunt sein, man darf auch keinen Vorwurf machen, sondern das sind wirklich die institutionellen Bedingungen oder das System, das dazu führt. Dann eine ganz ähnliche Sache: Heute publiziert niemand mehr einen Aufsatz, der etwas Umfassendes analysiert und verschiedene Aspekte berücksichtigt, sondern es wird die kleinste publizierbare Einheit gesucht. The least publishable unit, und da sind die jungen Leute hervorragend. Die überlegen sich von allem Anfang an: Wie viele Aufsätze kann ich aus einer Idee rausquetschen? Und da sind sie sehr erfindungsreich und das ist zu belobigen. Statt nur einen Aufsatz fünf zu machen, das ist auch eine Leistung, aber ob das die Wissenschaft wirklich so nach vorne treibt, glaube ich nicht. Dann etwas viel Aktiveres noch: Da ist ein System und das bemüht man sich, zu überlisten, auf englisch „beat the system“. Das ist es, was man heute tut und dazu zählt z. B. das, was ich als akademische Prostitution bezeichne. Nehmen wir z. B. folgendes Phänomen: Wenn man einen Aufsatz einreicht, dann kommen ja schriftliche Gutachterberichte und da steht dann so: „Wir schlagen den Autoren vor“. Oder, da ja heute alles auf Englisch geht: „We suggest to the author. Was heißt „suggest“, was heißt „vorschlagen“? Wenn das nicht gemacht ist, haben Sie null Chancen, den Aufsatz zu veröffentlichen, außer Sie haben unglaublich gute Argumente, dass das, was der Referee sagt, falsch ist. Aber das können Sie höchstens unter den 10 Punkten, die ein Referee anführt, in einem halben Punkt machen, sonst sind sie sowieso auch schon draußen. Sie können doch einem Referee nicht sagen, alle ihre 10 Punkte sind idiotisch und ich möchte den Aufsatz so veröffentlichen. Völlig klar und das wissen alle. Also passt man sich an. Und es gibt empirische Evidenz – und das ist schon recht erstaunlich – von einem amerikanischen Management-Spezialisten. Der hat rausgefunden, dass 25% der Befragten zugegeben haben, dass sie Änderungen in ihre Papiere reingebracht haben, von denen sie fanden, sie seien falsch. Da stehen praktisch in jedem Aufsatz, den Sie lesen, Dinge drin, die der Autor gar nicht richtig findet, aber sie stehen unter seinem oder ihrem Namen. Dann, und das wissen die jungen Leute heute schon alles perfekt, muss man offensichtlich strategisch zitieren. Bloß nicht negativ zitieren. Darum ist das alles so eine schöne wunderbare Welt, niemand kritisiert mehr den anderen, denn es könnte ihm ja passieren, dass der mal Gutachter wird, und dann sind Sie erledigt. Also, man sagt höchstens „we could consider“ oder so was, man könnte

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in Erwägung ziehen, dass das vielleicht auch anders gesehen werden könnte. Das ist das Maximum an Kritik, das man sich heute leistet und ansonsten natürlich zitiert man darauf los. Jeder, der ein bisschen was geschrieben hat, sollte zitiert werden, denn er könnte Referee werden. Es geht aber noch strategischer. Das fängt schon bei der Auswahl der Forschungsthemen an. Man denkt doch, es gibt Probleme in der Realität. Es gibt Probleme in der Wirklichkeit und da könnten z. B. wir Sozialwissenschaftler uns ja solchen Problemen widmen. In diesem System überhaupt nicht mehr, sondern man muss hinten beginnen. Wo möchte ich publizieren? Wo ist es wichtig für meine Karriere, zu publizieren? Und da geht man rückwärts und in meiner Wissenschaft, die ist empirisch orientiert, ist das Ergebnis eigentlich immer: Wenn ich tolle Daten zur Verfügung habe – und tolle Daten sind heute Paneldaten – kann ich damit arbeiten. Aber selbst Daten zu suchen, was zwei Jahre oder ein Jahr in Anspruch nimmt, ist eine Riesenverschwendung. Macht man nicht mehr oder macht man nur unter besonders günstigen Bedingungen. Aber im Prinzip schauen die jungen Leute, wo es die guten Daten gibt und dann überlegen sie sich, was sie jetzt eigentlich mit diesen Daten machen könnten. Wirklich, es ist so – was könnte ich jetzt mit diesen Daten machen und dann wird rumgerechnet. Irgendetwas kommt schon raus. Ich meine, die Welt geht nie unter. Aber es ist nicht mehr so, dass die Probleme von draußen kommen. Und dann sagt man: Ja, jetzt probiere ich, mich irgendwie damit zu beschäftigen, vielleicht kriege ich ja gar kein tolles Ergebnis, aber mich interessiert das Thema. Das ist vorbei. Dann gibt es auf der Institutionenebene eine weitere dysfunktionale Reaktion, die interessant ist. Diese Rankings bedeuten ja, alles ist ganz genau in Zahlen festlegbar. Ich kann sagen, wie z. B. die Fakultät oder Abteilung für Soziologie an der Universität Bamberg oder Leipzig eingestuft ist. Kann ich genau nachsehen, ohne jeglichen Aufwand. Und das machen natürlich Politiker, Bürokraten und die Medien ganz genau. Und das bedeutet aber, dass die Politiker und Bürokraten enorme Eingriffsmöglichkeiten in die Wissenschaft kriegen. Und das Dumme ist, dass wir Wissenschaftler ihnen diese Grundlagen erst noch liefern. Das ist nicht besonders klug. Anstatt zu sagen, die Wissenschaft ist ein autonomes System, es ist eine Art von wissenschaftlicher Republik, die eben genau nicht so funktioniert wie eine Unternehmung und nicht so funktioniert wie die Politik. Es zählen die guten Argumente und der Austausch von Argumenten und nicht der Preis, Geld oder wie in der Politik die Stimmen. Und das sehe ich als große Gefahr an. Dann – ich glaube, ich kann das jetzt hier sagen aus verschiedenen Gründen, u. a. weil ich fortgeschrittenen Alters bin, kann ich sagen, was ich will – aber das Interessante ist: Im persönlichen Gespräch sagt Ihnen praktisch jeder Wissenschaftler, jede Wissenschaftlerin die Probleme, die ich mit ihnen diskutiert habe. Das sieht man und die jungen Leute sehen das auch, aber sie hören niemanden

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in einer offiziellen Veranstaltung so reden. Denn, wenn man das tut, ist man erledigt. Denn wenn man z. B. sagt, ich entziehe mich diesem Ranking-System, ich will nicht eingestuft werden, ich mache meine Sache, ich forsche, ich strenge mich an und bemühe mich und bin motiviert, etwas herauszufinden – dann sagen sofort die anderen Kollegen: Aber das geht doch nicht, wir müssen doch das Ranking haben, damit unsere Abteilung gut gerankt ist usw. Dann kommen Sie sofort unter Druck. Und wer sich zu entziehen sucht, bei dem entsteht sofort die Vermutung, der ist schlecht gerankt. Und deshalb will er sich entziehen. Also, die Leute sind eingesperrt. Darum machen fast alle mit und dann sieht es aus, als wenn alle einverstanden wären, aber es ist praktisch niemand einverstanden mit diesem System, also eine ganz seltsame Geschichte. Dann, ich habe diesen Ausdruck von einem Philosophen übernommen: Die Forscher sprechen übereinander und nicht mehr miteinander. Man spricht übereinander, über die Rankings, und wenn Sie die jungen Leute auf Konferenzen treffen, ist das wirklich enorm. Angenommen, es hätte früher eine Konferenz gegeben, sagen wir mal, eine Konferenz in Leipzig. Da hätten sich die jungen Ökonomen auch darüber unterhalten, wie hoch jetzt die Arbeitslosigkeit ist und was gibt es für Probleme in Leipzig und Umland und wie ist es mit der Finanzsituation der Stadt Leipzig. Heute – wirklich – geht es nach zwei Minuten nur noch darum, wie publiziere ich wo am besten, wen muss ich kennen, mit wem muss ich reden, um zu publizieren? Also eine völlige Veränderung der Tätigkeit, aber wiederum bitte ist das keinerlei Kritik an den jungen Leuten, sondern die reagieren eben nur systematisch auf Anreize. Genau, was Ökonomen immer schon gesagt haben. Dann: Forschung wird vereinheitlicht. Außenseiter haben in einem solchen System sehr wenige Chancen und das ist auch empirisch nachgewiesen. In England gibt es auch eine solche Rankings-Mania mit der Research Exercise oder Research Evaluation Exercise, und da ist nachgewiesen, dass die Außenseiter in einem bestimmten Gebiet mehr oder weniger rausgeschmissen wurden aus ihrer Universität, weil die zu wenig Zählbares in die Universität reinbringen. Und genau das, von dem ich meine, was eine Universität oder ein Universitätssystem ausmacht, nämlich die Breite, die unterschiedlichen Dinge, die unterschiedlichen Meinungen, die auch harten Dispute, verschwindet dadurch. Dann etwas vom Wichtigsten: In einer Universität ist heute die Medienwirksamkeit viel wichtiger als gute Forschung. Ist das bisschen Forschung, das man hat, gut zu verkaufen? Das wissen alle Rektoren, wieder kein Vorwurf, aber so läuft es heute. Jetzt möchte ich aber doch kurz sagen, was jetzt die Alternative ist: Ich glaube, wir sollten eine modernere Ökonomie betrachten und eben nicht diese Pfahlbauernmethode auf die Universität anwenden. Und eine modernere Ökonomie ist eben psychologisch und auch soziologisch angereichert, aber ich möchte mich jetzt mehr konzentrieren auf das Psychologische. Man hat gemerkt, dass die Psychologie in Bezug auf das menschliche Verhalten außerordentlich

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Wichtiges beizutragen hat und die Herausforderung ist, dieses in die Ökonomie so einzubringen, dass es für unsere Fragen, für unsere Interessen wichtig ist. Und dazu zählt jetzt in dem Zusammenhang mit der Wissensgesellschaft und vor allem den Universitäten die Motivation. Die herkömmliche Ökonomie hat strikt nur eine Motivation, die extrinsische. Die Leute tun etwas, weil sie dafür Geld kriegen. Das stimmt. Das tun sie meistens. Das ist schon nicht falsch und dass sich die Ökonomie darauf konzentriert hat, ist auch richtig, weil andere, z. B. die Psychologen, das nicht getan haben. Also, ich bin nicht dagegen, das ist sehr wertvoll, aber das Entscheidende ist, dass es eben auch andere Motivationen gibt und man kann zwei wichtige unterscheiden. Die extrinsische und die intrinsische. Und die intrinsische ist, dass man etwas tut, ganz einfach, weil man es tun will, aus dem Bauch heraus, aus sich raus, man will es einfach tun. Es gibt Leute, die spielen – also erwachsene Männer, Frauen nicht – erwachsene Männer, die spielen mit der Eisenbahn, einfach weil sie Freude daran haben und andere lesen schöne Literatur. Einfach weil sie Freude daran haben und nicht weil jemand sagt, sie müssten oder weil jemand sagt, wenn Sie den Lyrikband gelesen haben, kriegen Sie 10 Euro oder irgend so einen Unfug. Man tut es einfach. Das ist intrinsisch. Man kann es auch ein bisschen erweitern und sagen, internalisierte Normen können auch intrinsisch sein, also wenn man Dinge, die man aus der Jugendzeit von den Eltern, von der Gesellschaft beigebracht gekriegt hat, wirklich voll in sich aufnimmt, die dann zu einem Teil von einem selbst werden, das bedeutet dann auch intrinsische Motivation. Und das jetzt Entscheidende ist: Diese outputorientierten Rankings, die heute so zentral geworden sind, die verdrängen genau die intrinsische Motivation, aber die intrinsische Motivation brauchen wir entscheidend für die Forschung. Das ist nicht nur eine Behauptung, das ist auch wirklich empirisch und auf psychologischer Ebene nachgewiesen. Zunächst mal wurden da Experimente gemacht und da wurde den Leuten gesagt, wenn Sie eine neue Idee haben, dann kriegen Sie 100 Dollar oder was auch immer. Und dann haben die Leute schon so Mini-Ideechen, sie wollen ja möglichst viele produzieren, damit sie möglichst viel Geld kriegen. Aber etwas fundamentalere Dinge erhalten Sie, das ist das Ergebnis dieser empirischen Forschung, wenn Sie den Leuten den Raum geben, die intrinsische Motivation auszuleben. Also intrinsische Motivation ist wirklich eng verknüpft gemäß psychologischer Analysen mit neuen Ideen, Innovationen, ungewöhnlichen Gedanken. Und wir wissen das auch, wenn wir die Leben der großen Forscher anschauen, da waren doch fast alle intrinsisch motiviert. Natürlich, so am Rande dann, wenn sie älter werden, sind sie natürlich am Geld interessiert. Auch Goethe hat hervorragend seine Werke verkauft, aber man kann doch nicht sagen, er hat den Faust geschrieben, weil er Geld gekriegt hat, zumindest nicht Faust I, bei Faust II vielleicht ..., aber im Großen und Ganzen ist es das. Eines der größten Ziele der traditionellen Ökonomen ist immer, irgendwo noch zu finden, dass irgendwo Geld noch eine Rolle gespielt hat. Natürlich tut es das, das wissen wir doch alle. Aber ob die Essenz der Sache

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durch einen extrinsischen Anreiz hervorgerufen wurde oder eben aus sich heraus kam, das ist doch das Entscheidende und ich würde sagen, das sollten wir unbedingt aufrechterhalten! Und dann – ganz eng verknüpft damit – die unerwünschte Selektion, die solche outputorientierten Rankings hervorrufen. Natürlich, wenn das Universitätssystem klar macht, ein guter Wissenschaftler ist nur jemand, der möglichst viel publiziert und damit dann auch viel Geld verdient, weil ja jede Publikation Geld bringt, dann ziehen wir natürlich genau solche Leute in den Wissenschaftsbereich und Leute, die intrinsisch motiviert sind, gehen dann nicht mehr in die Wissenschaft rein. Wir haben einen starken Selektionseffekt. Genauso wie in den Banken haben Sie halt Leute, das ist der Selektionseffekt, die vor allem an Geld interessiert sind. Was kann man machen? Ich glaube, man kann schon etwas machen. Das erste ist, wir müssen sorgfältig auswählen und diese sorgfältige Auswahl bedeutet vor allem auch, dass geschaut wird, wer an der Sache, an der Wissenschaft selbst interessiert ist. Und dazu müssen wir uns Zeit lassen und man muss auch in die Wissenschaft sozialisiert werden, allerdings, hoffe ich, in eine vernünftige Wissenschaft. Ich meine, die Alternative, wenn ich das kurz sagen darf, wäre wirklich, dass eine Stelle ausgeschrieben wird und dann kommen die Bewerbungen rein und dann nimmt man eine Sekretärin und die zählt dann die Zahl der Publikationen und gewichtet sie mit dem Impact Factor und dann kriegt diejenige Bewerbung, die die meisten Punkte hat, die Professur. Ein bisschen extrem, es würde sicher niemand sagen, es wird jetzt schon genauso gemacht, aber ziemlich genauso. Und ich bin eben der Meinung, man muss da viel mehr Aufmerksamkeit auf das wirkliche Interesse an der Wissenschaft legen. Nehmen wir mal Garry Becker, das ist für uns Ökonomen ein Begriff, das ist derjenige, der wirklich alles mit extrinsischer Motivation erklärt und dafür den Nobelpreis gekriegt hat, ein ganz hervorragender Ökonom. Den habe ich mal gefragt: „Hätten Sie lieber einen Assistenten, der extrinsisch motiviert ist oder einen, der intrinsisch motiviert ist?“ Und ich hatte natürlich gedacht, der würde sagen extrinsisch, das ist ja sein Ding. Und da schaut er mich groß an und sagt: „Wie können Sie auch nur die Frage stellen, selbstverständlich will ich jemanden, der an der Sache interessiert ist, am intrinsischen!“ Also selbst dort gilt das. Dann, glaube ich, können wir nicht alles mit Rankings entscheiden. Wir müssen zu inhaltlichen Fragen wieder Stellung nehmen. Mit Diskussionen, mit unterschiedlichen Meinungen, die konfrontiert werden. Dann schlage ich das vor, was bisher an deutschsprachigen Universitäten üblich war: dass jeder Professor, z. B. jeder Ordinarius, bestimmte Mittel bekommt und dann sagt man, so, jetzt haben Sie die Mittel, jetzt forschen Sie mal. Und nicht dieses dauernde Rennen nach Drittmitteln. Heute, wenn Sie eine Professur kriegen, dürfen Sie nicht meinen, dass Sie sich dann hinsetzen und forschen können. Dann müssen Sie Drittmittel reinkriegen! Der Rektor sagt, wir müssen Drittmittel haben, da-

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mit wir hochgerankt werden. Und der Wissenschaftsrat benützt Drittmittel als Rankingfaktor. Also, ich bin der Meinung, fixe Ressourcen, das ist was ganz Sinnvolles. Ich würde sofort zugeben, etwa 5% machen nichts damit. Die sitzen dann da und trinken Kaffee und tun nichts mehr, aber das ist in jedem System so. In jedem gibt es 5 bis 10%, die versagen. Ich finde, wir müssen nach den anderen schauen, nach den 90 bis 95% anderen, die was Vernünftiges machen können. Darf ich da vielleicht eine persönliche Geschichte erzählen? Ich habe also solche Ressourcen an der Universität Zürich zur Verfügung gehabt und dann habe ich mich immer gewundert, warum das Sozialprodukt so im Zentrum war. Alles wurde so mit dem Sozialprodukt gemessen und dann habe ich von Psychologen gehört, dass man Glück messen kann. Und da habe ich natürlich gedacht, was für ein Unsinn, das können auch nur Psychologen und so. Und dann habe ich mir das mal angeschaut und hab dann herausgefunden, oh das macht Sinn. Wenn ich meine Kollegen hätte fragen müssen: „Darf man als Ökonom über Glück forschen?“, hätten die gedacht, jetzt ist es wirklich Zeit. Und heute ist es ein akzeptiertes Gebiet geworden und sogar eigentlich das InGebiet der Ökonomie. Jeder will heute Glücksforschung machen. Es ist eine wirklich spannende Geschichte, aber das kann man nur, wenn man unabhängig ist. Und natürlich hatte ich Glück, dass ich da vielleicht etwas den Nerv getroffen habe, aber ich würde eben allen zugestehen wollen, dass sie das machen, was ungewöhnlich ist und dann nicht sofort abgeschnitten werden und sagen, oh, für so was haben wir kein Geld. Nein, sollen sie doch, auch wenn es 5 Jahre, oder 7 oder 8 Jahre dauert, bis etwas rauskommt. Dann würde ich schließlich Auszeichnungen lieber haben als Geldanreize. Also, diese 3.000 oder 5.000 Euro pro veröffentlichtem Artikel, das gefällt mir überhaupt nicht. Auszeichnungen sind doch was Besseres. Eine Auszeichnung wird öffentlich vergeben und da sagt jemand, Sie haben toll gearbeitet, ich freue mich darüber, jetzt kriegen Sie da eine Medaille, kostet 1,20 Euro und das war’s. Und das freut die Leute natürlich viel mehr. Anerkennung ist es, was die Leute wollen, nicht Geld. Geld sagt bestenfalls indirekt in bestimmten Berufen etwas über die Anerkennung aus und nicht umgekehrt. Ich würde also viel mehr mit Auszeichnungen arbeiten. Also, meine Folgerung ist, wir sollten wegkommen von dieser falsch verstandenen Ökonomisierung der Wissensgesellschaft und besonders der akademischen Forschung, weil sie wirklich schwerwiegende negative Auswirkungen hat. Wir sollten uns mehr einer moderneren psychologischen Ökonomie bedienen, die eben genau diese Dinge, die viele Leute fühlen, eben die intrinsische Motivation, ins Zentrum stellt. Und ich glaube, in diesem Sinne ist eine Ökonomisierung eine tolle Sache. Ich bedanke mich.

Ökonomisierung der Wissenschaft – contra Die Wissensgesellschaft zwischen Wissenswirtschaft und neuem Humanismus Von Bertram Schefold 1

I. Der Austausch des Wissens Wissenskulturen hat es unter Menschen stets gegeben, da es ihn ja auszeichnet, dass er kulturelle Prägungen über mehrere Generationen weitergibt. 2 Von einer Wissensgesellschaft möchte ich sprechen, wenn sich zur Entwicklung und Tradierung irgendwelcher Wissensinhalte besondere Strukturen arbeitsteilig herausbilden, was sich in traditionsgebundenen Stammesgesellschaften schon abzeichnet und in Schriftkulturen ausgeprägte Formen annimmt. Ein bedeutendes Beispiel für viele: der große arabische Gelehrte Ibn Khaldun hat in seinem Buch Muqqadima im vierzehnten Jahrhundert die klassische Darstellung vom Aufstieg und dem Niedergang der Nationen gegeben. Seine Erfahrungen in den maghrebinischen Fürstentümern an der Küste Nordafrikas verallgemeinernd, schilderte er den Niedergang von Staaten, deren führende Dynastien und Oberschichten, an Luxus gewöhnt, ihre Untertanen mit schweren und verschiedenartigen Steuern belasteten, so dass unternehmerisches Handeln entmutigt, das Handwerk geschwächt, die Stadt korrumpiert und das Land – die Bauern – übervorteilt werden. Aber in kargen Steppen und der Wüste sah er Nomadenstämme herumziehen, deren Lebensweise und Stammesverwandtschaft Tapferkeit und Treue begünstigten. War die Stadt schwach geworden, wurde sie von einem Stamm erobert, dessen Häuptling sich zum Fürsten aufschwang. Mit seiner Familie und seinen Anhängern stellte er die Ordnung im Staat wieder her. Dank der mäßigen Ansprüche der neuen herrschenden Schicht wurden die Steuern gesenkt, die Handwerker arbeiteten wieder regelmäßig, die Bauern wurden beschützt und fanden sicheren Absatz, der Handel erschloss den Verkehr mit den benachbarten Ländern, und es setzte ein Wachstumsprozess ein, bei dem alle gewannen. Aber schließlich ließ sich auch die neue Oberschicht vom Reichtum verführen, sie 1 Prof. Dr. Bertram Schefold ist Inhaber des Lehrstuhls für Ökonomische Theorie im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt / M. 2 Vgl. Fried / Stolleis (2009).

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hob die Steuern und wurde bestechlich. Der neue Niedergang führte zu neuer Eroberung; der ganze Zyklus zog sich über mehrere Generationen hin. Khalduns an scharfsinnigen ökonomischen Beobachtungen überaus reiche Beschreibung verband den Gedanken des Zyklus’ nicht mit dem eines ihn überlagernden langfristigen Wachstumsprozesses, sondern er entwarf das Bild von Schwankungen um ein im langfristigen Durchschnitt ungefähr konstant zu denkendes Niveau. Nur eines vermehrte sich ständig, wie der arabische Gelehrte emphatisch hervorhob: das in den Bibliotheken gespeicherte Wissen von Religion und Dichtung, von Geschichte, Philosophie und Rechtswissenschaft, von Sprachen, Astronomie und so fort. Dem entsprach der umfassende Charakter seiner eigenen Bildung, die er vor dem neuen Weltenherrscher Timur Lenk (Tamerlan) anlässlich ihrer dramatischen Begegnung 1401 bei der Belagerung von Damaskus ausbreitete. Wie den antiken Philosophen, wie den Mandarinen in China, wie den Gelehrten in noch anderen Schriftkulturen stellte sich Ibn Khaldun das ganze wechselvolle Leben als dienender Unterbau einer in immer mehr Büchern gerinnenden geistigen Entfaltung dar. 3 Ganz anders das unvollendete Projekt der modernen Wissenswirtschaft, das wir auf vier Ebenen beschreiben. Hier ist Wissen erstens das Humankapital des Einzelnen: der Ausbildungsaufwand wird unternommen, um in höhere Einkommensschichten aufzusteigen und aus den Erträgen eine Alterssicherung zu erlangen. Der Begriff „Humankapital“, dem ökonomischen Laien ein Greuel, ist in dieser oder ähnlicher Form unentbehrlich, um Lohnunterschiede zu erklären. 4 Spezialisiertes Wissen ist zweitens das Mittel der Unternehmen, um mit neuen Produktionsmethoden und Produkten Marktvorteile zu erlangen, die 3

Vgl. Schefold (2000); Schefold (2004). In seiner für die Humankapitaltheorie bahnbrechenden Presidential Address an die American Economic Association mußte TheodoreW. Schultz noch entschuldigend bemerken (hier: S. 2): „The mere thought of investment in human beings is offensive to some among us. Our values and beliefs inhibit us from looking upon human beings as capital goods, except in slavery, and this we abhor. ... Hence, to treat human beings as wealth that can be augmented by investment runs counter to deeply held values. It seems to reduce man once again to a mere material component, to something akin to property. And for man to look upon himself as a capital good, even if it did not impair his freedom, may seem to debase him. ... But ... there is nothing in the concept of human wealth contrary to the idea that it exists only for the advantage of people. By investing in themselves, people can enlarge the range of choice available to them. It is one way free men can enhance their welfare.“ – Marx führte Lohnratenunterschiede auf die Kosten der Ausbildung „komplizierter Arbeit“ zurück. Heute gelten als Ausbildungskosten vor allem die während der Ausbildung entgangenen Einkommen, die ohne diese hätten erzielt werden können; hinzuzurechnen sind sonstige Ausbildungskosten. Als Ertrag kann man das durch die Ausbildung ermöglichte höhere Einkommen bezeichnen. Unter Vernachlässigung anderer Faktoren wie die Minderung des Risikos der Arbeitslosigkeit und sonstiger, konsumtiver Vorteile der Ausbildung gilt dann als private Bildungsrendite der Zinsfuß, bei dem die Kosten den erwarteten Erträgen entsprechen. Als fiskalische Bildungsrendite bezeichnet man die Verzinsung der für einen Studienplatz in einem Bildungsgang ein4

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überdurchschnittliche Gewinne ermöglichen, bis Nachahmer gleichzuziehen und zu unterbieten beginnen. Allgemeines Wissen wird drittens gezielt gefördert in nationalen Innovationssystemen. Jedes Land lässt auf seine Weise universitäre Forschung, durch Staat und Stiftungen alimentierte Forschung, durch Subventionen gestützte private Forschung, unternehmenseigene Forschung über Märkte, staatliche und halbstaatliche Forschungseinrichtungen und persönliche Kommunikation (wie beispielsweise an Tagungen) sich verzahnen. Die Traditionen einzelner Länder unterscheiden sich nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch durch die Form der Einbettung der Wissenschaft; die nationalen Innovationssysteme weisen ein von auf Einheitlichkeit erpichten internationalen Forschungsorganisationen als hinderlich empfundenes Beharrungsvermögen auf. Der Wissensaustausch wird viertens global. Er rationalisiert nicht nur, sondern wird selbst auf allen Stufen einem Rationalisierungsprozess unterworfen, dessen Entstehung und Funktionsweise, dessen Folgen für den Wissensbetrieb und für die Gesellschaft wir zu untersuchen haben. Die Ausrichtung der Wissenswirtschaft bedeutet, dass andere Verwendungen des Wissens zur Bildung oder zum kulturellen Genuss als Konsum erscheinen, damit als Abzug von privaten, unternehmerischen, staatlichen und zwischenstaatlichen Erwerbs- und Wachstumszielen. 5 Historisch besehen erscheint Wissenswirtschaft also als ein Projekt, weil die Subordination unter Ertrags- und Wachstumsziele weder abgeschlossen ist noch allgemein als erwünscht gilt; sie wird sozusagen nie fertig. Ihr Gefühl sagt wohl den meisten, das Wissen entziehe sich monetärer Bemessung. Gewiss ist es kein homogenes ökonomisches Gut und kann nie ganz wie ein solches behandelt werden. In der Theoriegeschichte wird zwar seit alters her von verwandten Begriffen wie Ausbildung, Forschung, Technik gesprochen, aber kaum vom Wissen als solchem, und in der aktuellen Diskussion über die Wissensgesellschaft herrscht eine selbst für die Sozialwissenschaften erstaunlich große und anhaltende Begriffsverwirrung. Nur Bruchstücke können wir zu ihrer Auflösung sammeln. Wir wollen von der antiken Debatte über den Wert der Bildung über die Schulung und Forschung historisch den Weg zu den erwähnten Innovationssystemen suchen und damit gesetzten staatlichen Aufwendungen, wobei der Ertrag in den durch die höheren Löhne erhöhten Steuern besteht. Bei der Berechnung sozialer Bildungsrenditen versucht man, außerdem externe Effekte zu berücksichtigen. Vgl. Ammermüller / Dohmen (2004). 5 Nach der in der Fußnote zum Humankapital aufgeführten Studie von Ammermüller / Dohmen (2004), S. 46, liegen die privaten Bildungsrenditen in so gut wie allen Studien über den fiskalischen, was sich durch die Vernachlässigung der externen Effekte rechtfertigen ließe. Die privaten Bildungsrenditen sind besonders niedrig und zum Teil negativ in geisteswissenschaftlichen Fächern, für die Bildung wesentlich „Konsum“ bedeutet. Sie sind hoch in der Medizin – besonders Zahnmedizin (über 11%) –, und sie sind ansehnlich in den reinen Naturwissenschaften (ca. 7 %), der Jurisprudenz (ca. 9%) und der Betriebswirtschaftslehre (ca. 6 %).

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die Genese des Projektes der Wissenswirtschaft verfolgen, um sie zuletzt mit der zu Unrecht als altmodisch angesehenen Frage nach der Bildung in ihre Grenzen zu verweisen. Der Streit um die Ökonomisierung der Wissenskultur, also um die Anfänge einer Wissenswirtschaft, geht zurück auf die Anfänge abendländischer Wissenschaft. Sokrates, wie er uns in der Apologie, in den Dialogen Platons und im Bericht Xenophons entgegentritt, nahm für die Gespräche mit seinen Jüngern, die doch Wege zur Erkenntnis, zu einem richtigeren und besseren Leben, also eine Unterrichtung darstellten, kein Geld, wohl aber die Sophisten, die Redekünstler. Immer wieder macht sich Platon mit Spott und Ironie über diese Meister der Überredung lustig, die sich anheischig machen zu zeigen, wie man vor Gericht und der Volksversammlung siegt und die nebenher die verschiedensten Künste, von der Tugendlehre bis zum Fechten in voller Rüstung, vermitteln. Fürchterlich geben sie damit an, – ein Hippias vor allem – wie viel sie von ihren reichen Schülern einnähmen und wie man dank ihrem Unterricht in ganz Griechenland glänzen könne 6 – Anpreisungen so schön, wie wenn man heute von Exzellenzinitiativen hört. Aber warum nimmt Sokrates kein Geld? In Xenophons Memorabilien 7 erklärt er, er nehme keines, weil er sonst einen Schüler, der bezahlte, auch dann unterrichten müsste, wenn ihm der zuwider würde. Dieser Sokrates nimmt Armut in Kauf. Ihm geht es um die Bewahrung seiner Freiheit, nur mit denen zu verkehren, die seine Lehren aufzunehmen wirklich bereit sind; mit ihnen pflegt er das sokratische Gespräch, das nicht nur Wissensvermittlung, sondern, damit untrennbar verbunden, Ausdruck von Freundschaft, von Lebensgemeinschaft ist. Streng mit sich selbst darf er auch mahnen und erziehen. Platon lässt seinen Sokrates sich über die Sophisten mokieren, die sich mit ihrem Unterrichtserfolg brüsten und zugleich sich beklagen, dass einige Schüler die Bezahlung schon empfangenen Unterrichts verweigern. Da der Unterricht in einer Vermittlung von Tugend besteht: was kann er wert sein, wenn der Schüler nicht einmal lernt, dass man seine Schulden zu bezahlen hat? Ein Sophist aber, Protagoras, weiß eine Antwort. 8 Er, der so erfolgreich gewesen sein soll, dass er einer antiken Anekdote zufolge eine massive Goldstatue seiner selbst in Delphi aufstellen lassen konnte, nannte den Schülern den Preis, den sie für seinen Unterricht zu bezahlen hätten. Er stellte ihnen allerdings frei, wenn sie diesen zu zahlen nicht bereit waren, zu einem Tempel zu gehen und dort öffentlich und unter Eid zu erklären, wie viel der Unterricht für sie wert gewesen sei; diesen Betrag dann wirklich zu geben, wurden sie verpflichtet. Das Verfahren passte offenbar zur athenischen Tradition des öffentlichen freiwilligen Gebens für den Staat zur Finanzierung kultureller Leistungen wie von Theaterchören oder kriegerischen wie der Aus6 7 8

Vgl. Platon (o.J.), Hippias major 282 d-e. Vgl. Xenophon (1987), I.6.5. Vgl. Platon (o.J.), Protagoras 328 b-c.

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rüstung von Schiffen: bei den Liturgien gab es einen Wetteifer des Gebens um der Ehre und des damit verbundenen Einflusses in der Stadt willen. 9 Ungeachtet der sokratischen Reserve entstanden in Athen die Philosophenschulen, die bis in die Spätantike Studierende aus allen Teilen der griechisch beeinflussten und später der römischen Welt anlockten und deren Unterrichtskosten durch Gebühren gedeckt wurden. 10 Auch Aristoteles richtete eine Schule ein. Aber auch er meinte, für die Wahrheit könne es keinen Preis geben. 11 Offenbar müssen wir unterscheiden. Vom Nutzen des Erwerbs bekannter Künste und Fertigkeiten können wir uns ein Bild machen, und wenn ein Lehrer sie zu entsprechenden oder geringeren Kosten anderen vermitteln konnte, wird es auch bei einem selbst möglich sein, so dass sich beide Seiten unter Heranziehung der Erfahrung einigen können. Auf die Dauer – wenn sich die Übertreibungen eines Hippias erledigt haben – bildet sich ein Lohnniveau für vertrauenswürdigen Unterricht. Für die aristotelische reine Wahrheit gibt es keinen Preis, aber für die wiederholte Vermittlung von Wahrheiten. Je bedeutender der Wissenszuwachs, je tiefer die Bildung im Sinne einer Reifung und Veränderung der Persönlichkeit, desto komplexer die Vermittlung und desto schwieriger die Einschätzung ihres Werts, und es bleibt nur der Weg des Protagoras, auf die Ehre zu setzen, oder der noch radikalere des Sokrates, ohne Dazwischenkunft des Geldes auf den geistigen Austausch zwischen Meister und Jünger zu hoffen. Es mag überraschen, aber die Vermittlung des Wissens als Gabentausch findet in elementaren Formen alltäglich und überall statt, wie ich kurz erläutern möchte – auf die erhabenere Form der Bildung des Jüngers durch den Meister kommen wir am Schluss zurück. Mit Gabentausch meinen wir die unter Ethnologen viel diskutierte Tatsache, dass in Stammes- und archaischen Gesellschaften und in anderen Kulturen bis zu unserer in manchmal sehr elaborierten traditionellen Formen Gaben getauscht werden, die typisch in verschiedene Ränge oder 9

Vgl. Schefold (1989). Die Philosophen verstrickten sich auch in römischer Zeit noch in Widersprüche, wenn es um das Bezahlen ging. Die Stoa verlangte vom Weisen, dass er sich nicht vom Geld abhängig mache. Und doch empfahl Chrysipp, wie Plutarch, die Zeitgenossen im Blick, bezeugt, Lohn von den Schülern entgegen zu nehmen, und zwar erst nach einiger Zeit, weil dies das vornehmere Verfahren (eugnomonesteron) sei. Allerdings sicherer (asphalesteron) erschien ihm das Einfordern zu Beginn (Nickel 2008, S. 766 f.). Mit der den Epikuräern geziemenden Heiterkeit spricht dagegen Philodem von der Wünschbarkeit, Vermögen zu besitzen – es erwerben oder nur vermehren zu müssen, empfindet er schon als Gefährdung der durch Vermeidung aller Beschwerlichkeit lustvollen Lebensführung. Wie es anlegen? In der Vermietung von Häusern oder Sklaven? Nur, wenn es mit Anstand geschieht. Schöner ist der Landbesitz: die Landbesitzer finden sich allabendlich beim gebildeten Gespräch in der Laube beisammen. Am schönsten (kalliston) aber sei es, wenn der Weise sein Geld mit wahrhaftigen, Spitzfindigkeiten und Zank vermeidenden Reden vor dafür empfänglichen Männern verdienen könne (Hartung 1857, S. 55). 11 Vgl. Hénaff (2002), S. 140 f. 10

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Klassen fallen, derart dass, wenn ich eine Gabe eines bestimmten Typs einem anderen gebe, erwarten darf, dass ich eine entsprechende Gegengabe früher oder später erhalte. Solche Tauschakte unterscheiden sich vom Verkauf einer Ware in mehrerer Hinsicht. 12 Für die Waren gibt es keine Ränge. Ihr Wert lässt sich stufenlos in Geld bemessen, und wenn die Ware verkauft wurde, sind die Kontrahenten aller Verpflichtungen ledig. Sie begegneten sich dabei, ungeachtet ihres sozialen Status, als Gleiche, und sie lernen durch die Transaktion übereinander nur, dass der andere wenigstens kein Räuber war. Die wesentliche Wirkung des Gabentauschs besteht dagegen darin, dass die beiden – Gastfreunde etwa – sich künftig einander verpflichtet fühlen. Die Ethnologie hat viel gerätselt, woraus die Verpflichtung zur Gegengabe wirklich erwächst und weshalb sie so mächtig ist, dass sie in der Regel tatsächlich erfolgt. 13 Sie hat dazu beispielsweise die Angehörigen von Jäger- und Sammlerkulturen befragt, um den Zusammenhang mit religiösen, magischen, rechtlichen Vorstellungen zu erkunden. Aristoteles, der den Gabentausch ebenfalls behandelt, hält es für das größere Wunder, dass beim Geben einer vorangeht, und er empfindet die Tatsache, dass die Spontaneität des Gebens immer wieder auftaucht, als göttlich – um ihretwillen stelle man den Chariten, den Göttinnen der Anmut und des Dankes, Altäre auf. 14 Zu den höchsten Tugenden zählt bei ihm die der großen Seele. 15 Wer über sie verfügt, wird gerne und in großartiger Form zu geben wissen, sich treulich stets erinnern, was er von anderen empfing, aber bald vergessen, was er selber einmal gab. Diese megalo-psychia gibt es glücklicherweise in der Wissenschaft auch. Sie besitzt der Forscher, der von seinen Ergebnissen frühzeitig anderen Mitteilung macht und dann hoffen darf, dass auch sie gelegentlich mit ihren neuen Geheimnissen herausrücken. Er ist bereit, viel Zeit für die Beratung seiner Schüler zu opfern und denkt dabei dankbar an die Lehrer, von denen er dieselbe Gunst einmal empfing. Zum Lob gehört auch der gelegentliche Tadel und zur Güte die Strenge, die zu ertragen der Schüler bereit sein muss. In solcher Freiwilligkeit (lateinisch: liberalitas) besteht die Freiheit überhaupt, meinte Aristoteles, denn den Sklaven wird befohlen. Vieles, was bei den alten Griechen noch vorwiegend über Gabe und Gegengabe geregelt wurde, vollzieht sich heute über den Kauf und Verkauf von Dienstleistungen, aber es scheint klar, dass eine monetäre Bewertung des angedeuteten Wissensaustauschs nicht immer effizient wäre. Denn was soll ich bezahlen für ein Wissen, das ich noch gar nicht kenne? Zu Waren eignen sich am besten Gegenstände, die offen da liegen, so dass sich ihr Gebrauchswert erkennen lässt. Oft ist der Gebrauchswert aber nicht so leicht zu ergründen. 12 13 14 15

Vgl. Gregory (1982). Vgl. Sahlins (1972). Vgl. Schefold (1989). Vgl. Schefold (1998).

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Ein beliebtes Beispiel ist seit alters die Preisbildung auf dem Pferdemarkt: ein Pferd mag schön aussehen, aber vielleicht lässt es sich nur schwer bändigen und der betrogene Käufer wird abgeworfen. Die heutigen Lehrbücher beziehen sich auf den Markt für gebrauchte Autos; vielleicht fahren sie noch jahrelang, vielleicht lassen sie sich schon morgen nicht mehr starten. In solchen Fällen ist die Information, wie der Ökonom derzeit sagt, zwischen Käufer und Verkäufer asymmetrisch verteilt, und wenn der Käufer fürchtet, der Verkäufer verheimliche ihm den Mangel der Ware, kommt kein Handel zustande. Das erstbeste Gegenmittel besteht darin, dass der Verkäufer sich den Ruf der Ehrlichkeit erwirbt. Diese Lösung nannte schon Cicero in De officiis, 16 und die Moderne hat seither keine bessere, höchstens eine kompliziertere Theorie gefunden. Wo aber ist die Information asymmetrischer verteilt als beim neuen Wissen? Wissen wird also nie, wie manche befürchten, zu einem handelbaren Gut wie jedes andere. Da beim neuen Wissen sonst kein Markt zustande kommt, wird die Spontaneität des Gebens zum Produktionsfaktor – ein Ergebnis, das der Wissenswirtschaft für alle Zeiten eine Schranke setzt. Die Gegengabe der Öffentlichkeit wird nicht immer erbracht – wird sie es, so besteht sie vorzugsweise in der Ehre. Das Thema der Gegenseitigkeit beim Wissenstausch lässt sich noch ausspinnen. Der Philosoph Ricoeur hat darauf hingewiesen, der Gabentausch bedeute eine wechselseitige Anerkennung. Er setzt Vertrauen und einen sittlichen Rahmen schon voraus. 17 Oft sind wir aber auf einen Dienstleistungshandel angewiesen, wo wir uns als einander Fremde mit einem gewissen Misstrauen begegnen. Über welches Wissen verfügt der Anwalt, dem ich die Vertretung in meinem meine Existenz bedrohenden Prozess anvertraue? Wenn mir sein Ruf keine genügende Sicherheit bietet, besteht eine Lösung in der Übernahme einer Haftung, die der seinerseits misstrauische Anwalt allerdings wieder durch Klauseln zu beschränken suchen wird. Haftungsregeln sind wissenswirtschaftliche Notbehelfe, um etwas in das Schema des Warentauschs zu pressen, dem die erste Eigenschaft der Ware, ein Ding zu sein, fehlt. Der Markt der Wissenswirtschaft ist nicht einfach da, sondern muss, so gut es geht, organisiert werden. Schließlich gibt es noch weitere Hindernisse für den marktlichen Verkehr des Wissens. Es gibt das sogenannte implizite Wissen, das auf Erfahrungen beruht und das sich nicht oder wenigstens nicht innert nützlicher Frist und in überzeugender Weise anderen mitteilen lässt, das aber nichtsdestoweniger zur Erfüllung gewisser Aufgaben nötig ist – Wissen also, wie es fähige Mitarbeiter einer Unternehmung besitzen, die sich nur schwer ersetzen lassen und deren Abwerbung die Unternehmung als unangenehm empfinden würde. Auch diese Wissensform spielt seit jeher eine wichtige Rolle; wir unterscheiden vier Formen. Es gibt erstens sachliches Wissen, das sein Träger nicht in 16 17

Vgl. Schefold (2001). Vgl. Ricoeur (2004).

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Worten zu vermitteln weiß, wie das eines Handwerkers mit seinen besonderen Instrumenten, seinem Geschick und seinen Handwerksgeheimnissen. In der Aufklärung versuchten die Enzyklopädisten Diderot und d’Alembert, sowohl die bloße Bewunderung der Kunstfertigkeit als auch die intellektuelle Verachtung der Handarbeit zu überwinden und die „mechanischen“ Produktionsprozesse zu analysieren, die zu erklären den Handwerkern selbst schwer fiel, weil sie es gewohnt waren, ihr Wissen mehr durch Zeigen als durch Reden ihren Lehrlingen zu vermitteln. 18 Infolge der Systematisierung der dazu geeigneten Herstellungsprozesse trieben daraufhin die auf ein abstraktes Wissen gestützte Technik und die sich systematischem Vorgehen entziehende Kunst auseinander. Wir kennen zweitens ein Erfahrungswissen, das auf der Fähigkeit beruht, vor neuen Entscheidungen die Ergebnisse früheren Handelns in anderen Lagen im Gedächtnis aufrufen und daraus Schlüsse ziehen zu können. Erfahrung kann im Unterricht durch Geschichte und Fallstudien erleichtert und ergänzt, aber nicht völlig ersetzt werden. Es gibt drittens eine psychologische Kenntnis von Personen und ihrem Zusammenwirken als Grundlage eines Führungswissens: einem Leiter gelingt es, seiner Mannschaft viel abzuverlangen und trotz großer Anstrengung sind sie zufrieden; dieselben müssen bei einem Anderen weniger leisten und maulen doch. Viertens die Vorausschau: Prognosen lassen sich begründen, es lässt sich über sie streiten, aber nur wenige machen einen guten Gebrauch davon. Nur weil sie Glück haben? Das glauben wir kaum; wir vertrauen also darauf, dass es eine besondere Begabung zur Prognose gibt, ohne dessen stets sicher zu sein. Implizites Wissen geht auf allen hier unterschiedenen Ebenen, besonders aber der letzten, in Intuition über und ist deshalb nie ganz zu vermitteln, so dass man sich auch fragen kann, ob überhaupt von „Wissen“ gesprochen werden soll, da es am bestätigenden Nachvollzug fehlt. Jedenfalls kann sich der Austausch des Wissens nur in seinen banaleren Formen bemächtigen. Implizites Wissen ist allenfalls indirekt, über die es tragenden Personen, handelbar. Wenn es an Institutionen, an bürokratische Apparate gebunden erscheint, wenn also nicht nur das implizite Wissen Einzelner, sondern Vieler, mit der entwickelten und bewährten, keinem Vorsitzenden ganz bekannten Form ihres Zusammenwirkens ins Spiel kommt, stellen sich seiner Übertragung noch größere Hindernisse entgegen. Das auf Personen und Institutionen verteilte implizite Wissen erscheint wie eine Ganzheit, ein „soziales Kapital“, oder, im Bildungszusammenhang, ein „kulturelles“. 19

18 19

Vgl. Poni (2009). Bourdieu (1979).

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II. Wachstum und Vermittlung des Wissens Wir wollen nun Stationen in der Entstehung der modernen Wissenswirtschaft beleuchten, indem wir uns einigen der nicht so zahlreichen Reflexionen über sie in der ökonomischen Dogmengeschichte zuwenden. Adam Smith zeigte in seiner „Theory of Moral Sentiments“ und in kleineren Schriften, dass er sich in der ganzen abendländischen Wissenstradition auskannte, aber in seinem „Wealth of Nations“, dem ökonomischen Buch, behandelt er nur eine eingeschränkte Form der Wissenswirtschaft: den Unterricht. Die Finanzierung des Unterrichts an Schulen und Hochschulen nach antikem Vorbild durch Beiträge der Studenten hält er für weit überlegen. 20 Die alten englischen Universitäten, zuvorderst Oxford, mit den festen Bezügen der Fellows in den Colleges, hält er für verrottet; kein ernst zu nehmender Unterricht findet mehr statt. Gemischte Systeme, mit Professoren, die ein Grundgehalt beziehen und darüber hinaus Hörergeld, stellen einen vernünftigen Kompromiss dar, wenn nur sichergestellt wird, dass die Studenten tatsächlich zwischen verschiedenen Veranstaltungen wählen können und nicht institutionell gezwungen werden, bei bestimmten Professoren zu hören, denn bei Zwangsveranstaltungen beziehen die Professoren auch auf dem Weg über das Hörergeld im Grunde ein festes Einkommen, und die Qualität ihrer Darbietungen wird bald abnehmen. Ehr- und Pflichtgefühl können monetäre Anreize ergänzen, aber der Autor des „Wealth of Nations“ traut ihnen keine genügende regulierende Kraft zu. Verglichen mit dem bürokratischen Evaluierungs-, Examens- und Belohnungssystem, in das die gegenwärtige Universität sich verstrickt hat, waren die Hörergelder in der Tat von bestechender Einfachheit. Der deutsche Student wählte sich noch vor 60 Jahren seinen Professor, indem er zwischen den Universitäten verglich, denn zu wechseln war ganz einfach. So evaluierten die Hörer, und ihre Einschätzung schlug sich unmittelbar im Einkommen des Professors nieder. Nicht nur in diesem Beispiel stellt sich die geschmähte Ökonomisierung der Universität nicht als Vordringen des Marktes dar – den hatten die alten Universitäten aufgrund der Hörergelder – sondern als Misslingen eines bürokratischen Interventionismus. Andere Gesichtspunkte wie die Forschungsleistung – im alten deutschen System belohnt durch die Zulagen bei Berufungen – werden von Smith merkwürdigerweise nicht in Betracht gezogen. Er sieht den wirtschaftlichen Fortschritt in der Verfeinerung der Arbeitsteilung und der Entwicklung der Maschinen, deren Entwicklung sich für ihn aus der Praxis ohne Bezug zu einer Grundlagenforschung ergibt. Die Rolle der Wissenschaft als Produktivkraft wurde in der deutschen Tradition besser erfasst, mit praktischen Folgen. Die Kameralisten, die Fürstenberater 20 Der alte Hagestolz behauptete sogar, in seinem Jahrhundert erhielten die Frauen den besten Unterricht, weil er ganz in der Familie stattfände, damit bestens auf die späteren Aufgaben vorbereitete und jeder staatliche Einfluss unterbliebe. Vgl. Smith (1976), 4. Buch, 1. Kapitel, Teil 3.

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schon des 17. Jahrhunderts, die oft noch Latein schrieben, waren über die primitive Überlegung, wie dem Staat möglichst viele Steuern zuzuleiten seien, bald hinaus gelangt und waren überzeugt, durch Förderung der Glückseligkeit der Untertanen auch für den Fürsten das Beste zu leisten, weil dann die allgemeine Wohlfahrt und sein Steueraufkommen stiegen. 21 Dazu war in öffentliche Einrichtungen zu investieren wie die Bewässerung des Landes und die Bewirtschaftung der Wälder, und selbst Theater sollten errichtet werden, um die besseren Unternehmer mit ihren Familien in die Hauptstadt zu locken. 22 Deshalb wurden dann auch Fachschulen für die den verschiedenen Produktionszweigen dienenden Wissenschaften gefordert. Bergwerksakademien entstanden und Lehrstühle zur Förderung der Landwirtschaft, auch Lehrstühle zur Unterrichtung und Vertiefung des Kameralismus selbst. Man begriff, was in der neueren Wachstumstheorie seit den 1980er Jahren wiederentdeckt werden musste: dass es eigentlich zweierlei für die Produktion relevantes Wissen gibt: ein spezielles zur Herstellung bestimmter Produkte, dessen Verfahrensweisen erst einfach geheim gehalten werden, dessen Anwendungen dann geschützt werden durch fürstliche Privilegien und später durch Patente, und ein allgemeines Wissen, das sich wegen seines Charakters nicht privatisieren lässt, sondern das sich in der Gesellschaft verbreitet und zur Grundlage der privat verwerteten Einzelfortschritte wird; dem dienten in jener Epoche die Gründungen von Akademien. Jedes Land musste seine eigenen Ressourcen und sein eigenes Wissen entwickeln. 23 Heinrich Friedrich von Storch, aus dieser Tradition hervorgehend, führte dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Differenzierung des Güterbegriffs ein. Er sprach von inneren Gütern, um die immateriellen kulturellen und damit auch das öffentliche Wissen zu erfassen. Innere Güter, meinte er, könnten nicht veräußert werden und hätten keinen Preis, denn sie würden in den Köpfen der Konsumenten durch die Arbeit des Unterrichtens erst erzeugt, und diese Arbeit werde, wie andere Dienstleistungen, entlohnt. Trotz der Verankerung des Wissens im Subjekt schreitet Storch fort zur Vernetzung des Wissens in der Kultur. Darin nimmt sein Ansatz die Wissenssoziologie Bourdieus vorweg. 24 In den Händen Friedrich Lists wurde daraus die berühmte Theorie von den produktiven Kräften eines Landes, die sich im Rahmen eines gegliederten Bildungssystems in einer nationalen Anstrengung entwickelten. Es kam darauf an, nicht nur Werte zu produzieren, sondern die Produktivkraft zu steigern. Um die Stufe der Industrialisierung zu erreichen, mussten die jungen Industrien nachholender Länder vorübergehend geschützt werden, und List zeigte historisch, wie das seit Smith den Freihandel predigende England selbst in den Jahrhunderten davor extreme 21 22 23 24

Vgl. Klock (2009); Schefold (2009). Vgl. Justi (1993); Schefold (1993). Vgl. Hörnigk (1997); Schefold (1997). Vgl. Jakob (2004); Schefold (2004a); Bourdieu (1979).

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Formen des Protektionismus betrieben hatte. List forderte: „Die Nation muß materielle Güter aufopfern und entbehren, um geistige oder gesellschaftliche Kräfte zu erwerben“. 25 Er forderte also für sein nationales System der Volkswirtschaft die Förderung der produktiven Kräfte und dazu nicht nur den Ausbau der Infrastruktur, sondern des Bildungssystems auf allen Stufen, denn: „Im Manufakturstaat wird die Industrie der Massen durch die Wissenschaften erleuchtet und die Wissenschaften und Künste werden durch die Industrie der Massen ernährt“. 26 Man weiß, dass die rasch nachholende Industrialisierung in Deutschland von besonderen Vorzügen des Bildungssystems begünstigt wurde, darunter dem hohen Anspruch des altsprachlichen Abiturs ohne Vernachlässigung der Naturwissenschaften, dem Wetteifer der Universitäten unter der Hoheit verschiedener Länder, der differenzierten Ausgestaltung der Berufsbildung und der Gründung der technischen Hochschulen. Unter dem Eindruck des deutschen Idealismus, der deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, allerdings wohl auch der Siege im deutsch-französischen Krieg, begannen nicht nur die Engländer, Deutsch zu lernen. Sie suchten den Zugang zur deutschen Wissenskultur, nicht nur den zur deutschen Wissenswirtschaft; Beobachter bewunderten, wie die einen mehr durch Theorie und die Anstrengungen auch der Geisteswissenschaften, die anderen mehr durch praktische Tätigkeit, je nach Neigung und Begabung, einen Aufstieg zustande brachten, der in nationalem Überschwang vielleicht überschätzt wurde, der sich aber nach den Ergebnissen der neueren Wachstumsforschung 27 tatsächlich in deutlich höheren Zuwächsen des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zwischen 1870 und 1910 als in Frankreich, England und Italien niederschlug. Die Deutschen glaubten hoffen zu dürfen, das Wachstum werde zuletzt alle Schichten ergreifen und in die Höhe tragen, und zwar nicht nur in materieller, sondern auch in – wie man das damals nannte – sittlicher und kultureller Hinsicht. Zumindest für die Anhänger der historischen Schule war der Fortschritt eben nicht nur eine Angelegenheit von technischen Erfindungen, ökonomischer Zweckorientierung und politischer Institutionenbildung, sondern sollte von einem gemeinsamen Geistigen getragen werden, das aus der deutschen Klassik nachwirkte. Die für solche Entwicklung maßgebenden Werte schienen sich aufzudrängen; nicht so sinnlich erfahrbar erschienen die Werte wie bei Epikur, der behauptete, Werte könne man erkennen, wie man seinen Honig schmecke, 28 aber neue Normen schienen aufgrund alter Werte doch aus der Entwicklung sich zu ergeben. Der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft entsprach eine komplexere Ethik. Das Wachsen des Wissens nur unter dem Gesichtspunkt des Wachstums 25 26 27 28

List (1959), S. 152. Ebd., S. 194. Vgl. Maddison (1995), S. 194. Vgl. Epikur (2003), S. 70 ff.

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der Wirtschaft zu sehen, kam damals auch für hartgesottene Ökonomen nicht in Frage. Zwei Außenseiter möchte ich nennen, die das Vertrauen auf das gemeinsame Wachstum von Technik und Wirtschaft, Wissen und Sittlichkeit nicht teilten. Der eine, uns allen als solcher sogleich präsent, war Marx, der zwar nie von einer Wissenswirtschaft sprach, der aber oft die Produktivkraft der Wissenschaft betonte, soweit sie nicht zu ideologischen und apologetischen Zwecken eingesetzt wurde. Die Tendenz zur Subsumption von Technik und Naturwissenschaft unter die Bedürfnisse der Kapitalakkumulation lag in der Konsequenz seines Denkens. Er respektierte die Leistungen unabhängiger Wissenschaftler, wie die eines Ricardo oder, auf anderen Feldern, eines Liebig oder Darwin, besonders, wenn sie seinem materialistischen Ansatz entgegenkamen. Aber wo die historische Schule die Einkommen der Arbeiter steigen und ihre Bildung zunehmen sah, diagnostizierte er Ausbeutung und gesellschaftlichen Verfall, denen die Organisation des Proletariats entgegenzusetzen war. Das ist bekannt. Als einen anderen Außenseiter sehe ich Max Weber, was vielleicht in diesem Zusammenhang eher überrascht. Man weiß, dass er der wertgeladenen Fortschrittsthese der Schmollerschule seine Forderung einer wertfreien Wissenschaft entgegenstellte. 29 Für uns liegt es aber näher, seine These von der Rationalisierung im modernen Kapitalismus mit der Wissenswirtschaft in Verbindung zu bringen. Weber meinte bekanntlich, kapitalistische Tendenzen im Sinne eines leidenschaftlich verfolgten Erwerbsstrebens habe es in vielen Kulturen gegeben, aber die daraus folgende Tendenz zu anhaltender und konsequenter Kapitalakkumulation, unter Ausrichtung des Arbeitslebens auf den Beruf, mit der Rationalisierung auch des privaten Lebens unter Maximierung des Nutzens, ergab sich erst, als ein außerökonomisches Phänomen, der Aufstieg der calvinistischen Strömungen innerhalb des Protestantismus, den Boden dafür vorbereitet hatte. Früheren Kapitalismen fehlte diese Rationalität. Der antike Kapitalismus war politisch, die Merkantilperiode kam lange über einen Abenteuerkapitalismus nicht hinaus, und den Chinesen war der Konfuzianismus in seiner ursprünglichen Form ein Hindernis. Von Webers überaus komplexer Argumentation können wir hier nur dies in Erinnerung rufen: die strenge innerweltliche Askese der Berufsausübung wird im modernen Kapitalismus zur Bedingung der Selbstbehauptung im Wettbewerb. Die Rationalisierung im Beruf, gegeben die erst in der Neuzeit erreichte Trennung von Haushalt und Betrieb, ist dabei nur ein Aspekt eines umfassenderen Rationalisierungsprozesses, der alle Verkehrsformen ergreift. Die berühmte rationale Kalkulation des Unternehmers, der in der Buchhaltung den vermuteten Wert seiner Anlagen festhält, ersetzt beispielsweise die Bewertung durch den Markt, die wegen der Dauerhaftigkeit der Anlagen nicht erfolgen kann,

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Vgl. Nau (1996).

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durch eine neue betriebswirtschaftliche Technik. 30 Und in diese Perspektive lässt sich die Wissenswirtschaft einordnen. Wenn Berufungen und Universitätswechsel nicht ausreichen, um die Bedeutung eines Professors zu bestimmen, wird er evaluiert, wenn man die Studenten während des Bachelorstudiums gängelt und am Universitätswechsel hindert, vergrößert man das Bedürfnis, Studiengänge zu evaluieren, und wenn man die Geduld nicht hat, die Ergebnisse der Forschung reifen zu sehen, muss auch sie begutachtet und der Gutachter wieder begutachtet werden. Da die Perspektive der Fachgutachter enger ist als die der wissenschaftlichen Öffentlichkeit insgesamt, wächst damit die Gefahr, dass sich einseitige Wissenschaftstrends verfestigen. Auch die Einführung und Ausgestaltung des Patentwesens lässt sich als Rationalisierungsschritt in der Ausgestaltung des modernen Kapitalismus begreifen. Weber unterscheidet sich von Marx, indem er auslösende Momente der Entwicklung zuließ, die von den materiellen Determinanten weit ablagen, insbesondere einen autonomen Wandlungsprozess der Religion, aber mit einem dem Marx’schen nicht nachstehenden Pathos betonte er die Zwangsläufigkeit der nachfolgenden Entwicklung. Wenn er sagte, die Puritaner wollten ihren Beruf leben und wir müssten Berufsmenschen sein, können wir hinzufügen: die Griechen wollten aus der Erkenntnis das gute Leben gestalten, wir müssen heute Wissenschaft treiben, um nur zu überleben: im Konkurrenzkampf, in der sich auflösenden Gesellschaft, angesichts drohender Umweltkatastrophen.

III. Das Wissen in der ökonomischen Theorie Wir gelangen endlich zur modernen Analyse. Wir versuchen, zusammenfassend das neoklassische Bild der Wissenswirtschaft zu entwerfen, indem wir das vielleicht interessanteste Modell der neueren Wachstumstheorie von Romer kurz präsentieren. 31 Es zeigt, wie sich drei Wissensformen, die wir kennengelernt haben, in einer Wissenswirtschaft verbinden können. Da ist einmal das Wissen als ein öffentliches Gut, von dem niemand ausgeschlossen werden kann, wenn es nämlich in Schriften kodifiziert ist, die zugänglich sind, und sich im Gespräch oder sonstwie verbreitet. Das alte Beispiel des öffentlichen Guts ist der Leuchtturm, der allen vorbeifahrenden Schiffen zur Orientierung dient; kein Schiff, das ihn nutzt, beeinträchtigt die übrigen, wenn sie ihn ebenso nutzen (sog. Nichtrivalität). Es gibt ferner keinen Ausschluss anderer durch Privilegierung (sog. Nichtausschließbarkeit von Wissen, das sich nicht patentieren lässt). Und daraus folgt für den Ökonomen, dass dieses Wissen, weil es so gut wie unentgeltlich zu haben ist, erstens auf starke Nachfrage stößt, und dass es zweitens 30 31

Vgl. Schefold (2011). Vgl. Romer (1990); Barro / Sala-i-Martin (1995).

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von privater Seite nur unzureichend angeboten werden wird, weil eine private Produktion solchen Wissens nicht auf ihre Kosten kommt. Solches Wissen bedarf also auch von einem liberalen Standpunkt einer öffentlichen Förderung. Im Modell wird zweitens privat verwertbares Wissen berücksichtigt, das zur Herstellung besserer Produktionsmethoden eingesetzt werden kann und das den Ausschluss anderer ermöglicht, weil es sich patentieren lässt. Im Modell spielt drittens Humankapital eine Rolle, und zwar mit doppelter Wirkung: wer Humankapital akkumuliert hat, wird ein höheres Einkommen erzielen, wird aber auch mehr sparen können und deshalb im Alter einen höheren Konsum genießen. Die Idee der Wissensgesellschaft lässt sich damit wie folgt stilisiert darstellen: in einem ersten Sektor werden Konsumgüter hergestellt durch einfache Arbeiter, angeleitet durch mit Humankapital ausgestattete höherwertige Arbeit. Die Produktion stützt sich auf die Verwendung von Maschinen, die fortwährend verbessert werden. Der Einsatz zusätzlichen Kapitals würde sich bei gleichbleibender Arbeitsbevölkerung und gleichbleibender Landmenge immer weniger lohnen, wenn die Produktionsmethoden dieselben blieben, aber was der Ökonom als sinkende Grenzerträge bezeichnet, wird kompensiert durch die ständige Verbesserung der Maschinen. Diese verbesserten Maschinen werden in einem zweiten Sektor produziert. Sie können an den Konsumgütersektor zu Monopolpreisen verkauft werden, weil jede einzelne Maschine einen neuen Typus darstellt, der, so lange er neu ist, konkurrenzlos dasteht und bis zur nächsten Erfindung keine Konkurrenz zu fürchten braucht. Die Monopolgewinne aber bleiben nicht bei den Herstellern der Maschinen, sondern müssen, weil sich die Hersteller bei ihrer Nachfrage nach Ideen konkurrenzieren, abgeführt werden an die Erfinder der neuen Produktionsmethoden. Diese sind ebenfalls mit Humankapital ausgestattet. Es ist die eine Bedingung ihrer Erfindungsfähigkeit. Die andere besteht im allgemeinen Wissen, das, wie bemerkt, ein öffentliches Gut ist und mit dem Wachstum zunimmt, aber nicht individuell angeeignet und verkauft werden kann. Je mehr öffentliches Wissen es gibt, desto mehr und desto bessere neue Maschinentypen können die mit ihrem Humankapital ausgestatteten Erfinder tätigen. Die Wachstumsrate der ganzen Wissenswirtschaft hängt deshalb wesentlich vom Wachstum dieses öffentlichen Wissens ab. Die Arbeiter beziehen einen Lohn, der ihrem Beitrag zur Produktion entspricht. Das Gehalt der mit Humankapital ausgestatteten Arbeiter im Konsumgütersektor richtet sich nach dem Einkommen der humankapitalbesitzenden Erfinder. In klassischer Tradition behauptete Storch, das Wissen als inneres Gut im Kopf eines Menschen, also auch eine Erfindung, habe einen Wert, der den Kosten der zur Erzeugung des inneren Guts aufzuwendenden Arbeit gleich sei. Die moderne neoklassische Theorie behauptet umgekehrt, dass der Wert der Erfin-

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derarbeit vom Wert der Erfindungen für die Konsumgüterproduktion abgeleitet werden müsse. Aus der Summe der nicht gesparten Einkommen werden die Konsumgüter gekauft, womit sich das Modell im Wesentlichen schließt. Wie stets in der Nationalökonomie ergeben sich aus Effizienzüberlegungen normative Schlussfolgerungen. Das öffentliche Wissen, das sich – ohne jemanden auszuschließen – spontan verbreitet und das – dies ist ein sogenannter externer Effekt – dadurch den Erfindern hilft, die neuen Maschinen zu ersinnen, vermehrt sich zwar als Nebenprodukt der Humankapitalverwendung, aber nicht in solchem Ausmaß, dass ein der Sparbereitschaft der Individuen angemessenes Wachstum zustande käme – daher die Forderung, das Wachstum dieses öffentlichen Wissens staatlich zu fördern. Die Modelle der neuen Wachstumstheorie legen so Regeln für die Rolle des Staates in der Wissenswirtschaft nahe. Das Humankapital führt zu höherem Einkommen, das die privaten Kosten des Humankapitalerwerbs durch entgangenen Lohn aus der während des Studiums nicht durchführbaren gewöhnlichen Arbeit übersteigen kann. Insoweit sollte man von den Studenten Studiengebühren verlangen, welche zur Deckung der öffentlichen Kosten des Humankapitalerwerbs beitragen. 32 Die Forschung, die zu in der Produktion verwertbarem und patentierbarem Wissen führt, ermöglicht Monopolgewinne und trägt sich insofern selbst. Jene Grundlagenforschung aber, welche das allgemeine Wissen vermehrt, sollte, obwohl sie zum Teil Nebenprodukt jeder Forschung ist, staatlich unterstützt werden. Gemischte Finanzierungen von Universitäten lassen sich so theoretisch begründen. Die empirische Anwendung stößt allerdings auf Grenzen. Wie sich zeigt, lassen sich die im Modell verwendeten Größen durch Indikatoren zwar durchaus – oft mehr schlecht als recht – für die empirische Anwendung quantifizieren, so dass die Modelle grundsätzlich ökonometrischen Test unterworfen werden können, aber es ergeben sich kaum verlässliche und stabile Beziehungen. Wird eine vor 30 Jahren in einem bestimmten Land vorgenommene Maßnahme der Humankapitalbildung wie durch Verbesserung des Schulsystems heute, eine Generation später, eine messbare Wirkung entfalten? Und lässt sich daraus ein verlässlicher Wert der Förderung ableiten? Wichtiger als ein solches Mäkeln an den Modellen, die ihre formale Eleganz immer durch eine gewisse inhaltliche Borniertheit erkaufen, scheint mir die richtige Charakterisierung des Wissenswirtschaftsprojekts im Verhältnis zur Wissenskultur zu sein. Nachdem wir uns eine theoretische Vorstellung erarbeitet haben, will ich im Vorgriff auf unsere nachfolgende Diskussion an einem Beispiel zeigen, mit welcher Konsequenz be32 Das ließe sich, streng genommen, so deuten, dass durch Studiengebühren die privaten und die fiskalischen Bildungsrenditen (vgl. Fn. 3) aneinander angenähert werden müssten, solange die sozialen Bildungsrenditen nicht umgekehrt für eine stärkere Subventionierung des Studiums sprächen.

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stimmte Prinzipien der Wissenswirtschaft durchgesetzt werden. Dazu möchte ich die Auswirkungen des Projekts der Wissenswirtschaft anhand einer Darstellung der europäischen Forschungsförderung beschreiben. 33

IV. Die europäische Wissensgesellschaft Die europäische Wissensgesellschaft erschien zuerst als ein nun knapp zehn Jahre altes Leitbild und Bestandteil der Lissabonner Strategie. Sie bezeichnet das Bestreben, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der europäischen Union in ihrer Gesamtheit auf das Innovations- und Wachstumsziel auszurichten. Damit wird ein normativer Bezugsrahmen für die Entwicklung der einzelnen Mitgliedsländer vorgegeben, um Wachstumsraten zu erreichen, die der Erhaltung des europäischen Gesellschaftsmodells dienen. Die Kommission legt dabei großes Gewicht auf die ökologische Nachhaltigkeit, die nicht auf dem Wege des Verzichts, sondern dank der Anwendung umweltgerechter neuer technischer Verfahren erreicht werden soll. Um die als notwendig angesehenen Transformationen zu erreichen, wird ein umfassendes Indikatoren- und Benchmark-System erzeugt; so will man die sozioökonomischen Entwicklungen der Mitgliedsländer beeinflussen, wenn nicht gar lenken. Der Bologna-Prozess mit der Vereinheitlichung der Studienverläufe im europäischen Raum kann als ein Anwendungsbeispiel dieser Strategie interpretiert werden. Zu den wesentlichen Zielen gehört aber auch die Herstellung eines europäischen Forschungsraums, der die Fragmentierung der Forschungstätigkeiten, Programme und Strategien in Europa überwinden und langfristig die Entwicklung einer einheitlichen europäischen Forschungspolitik gewährleisten soll. Die Kommission versucht, regionale und nationale Forschungsaktivitäten aufeinander abzustimmen. Zugleich spricht man von einem europäischen „Markt des Wissens“. Die Freiheit des einzelnen Wissenschaftlers bleibt grundsätzlich erhalten, aber die Anreize, welche Laufbahnen und Forschungsorientierungen bestimmen, dienen der Ausrichtung auf das Leitbild. Zur Zeit hat die EU ihr 7. Rahmenprogramm für Forschung und technische Entwicklung ausgeschrieben (FP 7); es läuft von 2007 – 2013 und umfasst ein Volumen von 50,5 Mrd. Euro, neben dem Euratom-Budget von 2,7 Mrd. Euro. Davon werden etwa 7,5 Mrd. Euro durch den europäischen Forschungsrat für hervorragende Einzelforschung vergeben, aufgrund von einzeln gestellten Anträgen, wobei auch hier der Anspruch erhoben wird, europäische Maßstäbe zu setzen. Der Wettbewerb ist scharf. So wurden 2008 für den Starting Grant (junge Wissenschaftler) 9167 Vorschläge eingereicht, zugeteilt wurden 299, also 3,3%. Projekte der klassischen Geisteswissenschaften finden sich unter den Gewinnern kaum; die Naturwissenschaften dominieren. Nur unter den Advanced 33

Die nachfolgenden Überlegungen zur europäischen Wissensgesellschaft stützen sich auf Schefold / Lenz (2008) und Schefold (2009a).

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Grants spielen die Geisteswissenschaften – wenigstens im weiteren Sinne – eine etwas breitere Rolle. Außer dem Budget des Europäischen Forschungsrats gibt es zwar Programme, welche die Forscherlaufbahnen (Program People; 4,7 Mrd. Euro) und besondere Orte der Forschung (Program Capacities; 4,2 Mrd. Euro), wie Regionen und mittlere und Kleinunternehmen, unterstützen. Im Übrigen geht der Löwenanteil an Programme der Zusammenarbeit (Co-operation; 32,4 Mrd. Euro), die für solche Schlüsselgebiete wie Information und Kommunikation (9,1 Mrd. Euro), Gesundheit (6 Mrd. Euro), Transport (4,2 Mrd. Euro) oder Energie (ohne Euratom; 2,3 Mrd. Euro) da sind, während die Programme für sozioökonomische und Geisteswissenschaften zusammen 0,6 Mrd. Euro vorsehen. Betrachtet man nun aber die letzten Projekte, stellt man fest, dass sie sich sämtlich in die aktuellen politischen Problematiken einordnen, dass sich also beispielsweise die Ethnologie in den Dienst der Klimaforschung stellt, wenn es sich darum handelt, die Änderungen der Verhaltensweisen verschiedener Gruppen in verschiedenen europäischen Ländern beim Gebrauch verschiedener privater und öffentlicher Transportmittel zu erfassen. Die Projektausschreibungen verlangen regelmäßig eine Kooperation mehrerer europäischer Universitäten in verschiedenen Ländern. Konsortien aus Forschergruppen in einem halben Dutzend verschiedener Sprachgebiete kommen häufig vor, und die Zahl der beteiligten Institute kann auch doppelt so groß sein. Bei der Projektbewertung wird auf die genaue Beachtung der Projektausschreibung, auf solide Planung des Managements der Forschergruppe und auf eine wirksame Politik der Verbreitung der erhofften Resultate Wert gelegt. Entsprechend lang und kompliziert sind die auszufüllenden Formulare – in englischer Sprache, so dass Konsortien, die Wissenschaftler englischer Muttersprache einschließen, es leichter haben – Osteuropäer reüssieren bisher wenig. Diese Forschungspolitik, weitgehend geschichtslos, stellt mit ihrem Griff nach der politischen Aktualität und dem Ziel, dem langfristigen Wirtschaftswachstum zu dienen, einen eigentümlichen Kompromiss zwischen ökonomisch motivierter und nach den Maßstäben der politischen Korrektheit ausgerichteter kultureller Integration dar. Die Forschungsziele ergeben sich nicht aus dem Bestreben, sich dem kulturellen Erbe einzufügen, es zu verstehen, es zu sichern und zu vermitteln, sondern aus aktuellen politischen Zielsetzungen, die einen historischen Rückgriff nur gelegentlich erlauben und die Interpreten in die Zwangsjacke der jetzt als korrekt angesehenen Wertungen einschnüren. Wem am Erhalt bestimmter Wissenstraditionen eines Landes liegt oder wer sonst für bestimmte nationale Strategien im Forschungs- oder Technologiebereich eintreten möchte, 34 wer 34 Der Konkurrenzdruck innerhalb Europas und der OECD geht von dem statistischen Vergleich aus. Es werden nicht nur die Leistungen evaluiert, sondern vorgängig die Aufwendungen, bei denen sich Deutschland nicht auszeichnet. Z. B. betrugen die Ausgaben pro Studienplatz für die Hochschullehre in den USA 2006 $ 19.467, im OECD-Durch-

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vielleicht aus sozialen oder umweltpolitischen Gründen besondere Wege empfiehlt, wer noch älteren Konzeptionen der Geisteswissenschaften huldigt, wird mit dem europäischen Einfluss zu rechnen haben. Die nationalen Geldgeber der Forschung der Europäischen Union und assoziierter Staaten sind seit 1992 zu EUROHORC zusammengeschlossen, um die Vermittlung zwischen europäischen und nationalen Forschungsorganisationen zu erleichtern. Deklariert wird das Ziel der Exzellenz, aber, realistisch besehen, handelt es sich um eine neue Normalwissenschaft, die manche Messgrößen tatsächlich anhebt, aber andere ältere Maßstäbe gänzlich vergisst.

V. Wissen und Bildung So haben wir für die erstrebte Wissenswirtschaft zu opfern, zu allererst und am offensichtlichsten, indem wir eine Schematisierung der Wissenschaft hinnehmen müssen. Mehr vom Gleichen, weniger Eigenart. Der Wissenschaftshistoriker wohl jeder Disziplin erinnert sich dagegen, dass die besten Leistungen oft an ganz unerwarteter Stelle auftauchen und von den Zeitgenossen lange nicht erkannt werden. Eine die Vielfalt reduzierende Förderung sogenannter Exzellenz könnte sich insofern selbst ad absurdum führen. Jedenfalls handelt es sich auch da nicht um eine Ökonomisierung durch den Rückgriff auf Marktmechanismen, sondern um administrative Zuteilung nach für die Bürokratie überprüfbaren Kriterien. Das Projekt der Wissenswirtschaft verbindet sich mit einer Untergrabung, ja Leugnung des Lebenszusammenhangs der Wissenschaft, wenn sie, im besten Fall nämlich, auch die Persönlichkeit bildet. Vielleicht ist es nützlich, dies mit den Worten der Ökonomen zu beschreiben, um die Grenzen des ökonomischen Weltbilds mit seinen eigenen Mitteln zu bezeichnen. Zum Schönen der Bildung gehören externe Effekte. Begegne ich einem gebildeten Menschen, lässt mich dieser im Gespräch, im persönlichen Umgang an seiner Welt teilhaben und meine innere Welt wird reicher. So verändern und erweitern sich zweitens auch meine Persönlichkeit und damit meine Bewertungen. Wissen, auf das ich einmal stolz war, wird relativiert, Neues gewonnen, ich finde Anerkennung für vorher nicht gekannte oder nicht genügend gewürdigte Standpunkte. Einigermaßen reduktionistisch spricht, wie erwähnt, auch der Soziologe von kulturellem Kapital. Die Wirkung der Bildung lässt sich also mit dem Jargon des Ökonomen und Soziologen beschreiben, aber eigentlich nur metaphorisch, weil sich nur die gröbsten der externen Effekte messen lassen. 35 schnitt $ 8.418, in Deutschland $ 7.339 (Institut der deutschen Wirtschaft (2009), S. 3). Die Exzellenz soll also auf der Basis einer unterdurchschnittlichen Ausstattung erzielt werden.

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Die Hauptleidtragenden in der Universität dürften die Geisteswissenschaften und ihnen nahestehende Gebiete wie die Wissenschaftsgeschichte oder die Morphologie sein. Sie haben schon selbst durch ihre Ausweitung das Wissen zwar gemehrt, aber seinen geistigen Nährwert sozusagen verdünnt. Der Kanon des abendländischen Wissens verliert sich an seinen Rändern durch Ausdifferenzierung. Charismatische Persönlichkeiten haben aber die geisteswissenschaftliche Tradition immer wieder belebt und erneuert. Sie haben den Blick auf neue Phänomene gelenkt und neue Sichtweisen und Interpretationen erschlossen. Vermittelt werden diese zumeist, ob wir nun von Hermeneutik oder Close reading sprechen, in einem engen Bezug zwischen Lehrer und Schüler. Vor einem Kreis persönlich bekannter Menschen wollen die jungen und noch die alten vor allem sich mit ihren Ideen und Schriften hervortun und bewähren, und mit Recht sieht ein junger Wissenschaftler oft die Zustimmung eines bewunderten älteren Lehrers als wichtigste Bestätigung an. Welcher Unsinn, davon abzulenken, indem der Erfolg bei fernen Zeitschriften in anonymisierten Referee-Verfahren bei Berufungen als allein entscheidender Maßstab aufgezwungen wird. Gewiss muss zugegeben werden, dass die bildende Kraft der Wissenschaft und insbesondere der Geisteswissenschaften schon im Klassizismus zu schwinden begann. Umso bedeutsamer wurden die Nischen, in denen sie sich gleichwohl wieder zeigte. Wohl jeder hier kennt dies aus der Literatur und, in bescheidenerer Form, aus eigenem Erleben. Als Dogmenhistoriker der Nationalökonomie habe ich mich mit verschiedenen solcher Kreise befasst: Ricardo und seine Schüler, Keynes und seine Schüler (diese, nämlich Joan Robinson, Piero Sraffa und Nicholas Kaldor, habe ich dann selbst als meine Lehrer erlebt). Besonders erforscht habe ich, etwas ungewöhnlich, die Ökonomen im George-Kreis. George beeinflusste die Geisteswissenschaften von der Jahrhundertwende bis zu einem Höhepunkt in der Weimarer Zeit, mit verborgenen Nachwirkungen, die weit in die Geschichte der Bundesrepublik hineinreichen. Das Faktum, dass auch die historisch gewendete Nationalökonomie dazu gehörte, war übersehen worden: etwa ein Dutzend zum Teil namhafter Staatswissenschaftler standen George nahe, teils direkt, teils in Vermittlung durch andere. Sie nahmen ernst, dass der George-Kreis einem sokratisch-platonischen Kreis von Meistern und Jüngern glich, und sie überlegten von daher, wie die zeitgenössische Wissenschaft erneuert und ihrer Aufgabe, dem Leben zu dienen, wieder näher gebracht werden könne. Über die Disziplinen hinweg entwickelte der George-Kreis seine Semantiken, um sich über die Anforderungen an solche Wissenschaft zu verständigen. Durch seine Staatswissenschaftler ergaben sich mir merkwürdige Verbindungen zwischen deutscher Geisteswissenschaft und Nationalökonomie; dank ihnen begriff ich zum Beispiel, wie wichtig das alte, schon für den Kameralismus typische 35 Die bei Ammermüller / Dohmen (2004), wie oben erwähnt, vorkommenden sozialen Bildungsrenditen messen – auch schon mangelhaft – Wirkungen auf Wachstum, insbesondere auf Produktivität, aber nicht auf die Kultur (Ausnahme: Reduktion der Kriminalität).

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Element anschaulicher Theorie als Gegenstück zur rationalen oder reinen Theorie in der deutschsprachigen Nationalökonomie gewesen ist und wieder werden könnte. 36 Jedenfalls gilt nicht nur für dieses, sondern auch für die anderen Beispiele wissenschaftlicher Kreisbildung, dass die menschlichen Strukturen eines Forschung und Lehre, geistige Orientierung und menschliche Bildung umfassenden Unterrichts immer wieder den alten, aus Antike und Humanismus bekannten Mustern gleichen. Wir dürfen hoffen, dass die menschlichen Kräfte stark genug sind, noch heute die Formung solcher Kreise zu ermöglichen, auch wenn die Wissenswirtschaft und positivistisches Wissenschaftsverständnis das nicht vorsehen. Es geht dabei nicht nur um das Interesse des Wissenschaftlers an seiner Lebenswelt, sondern um den Charakter der aus dieser hervorgehenden Wissenschaft. Zumindest in die Geistes-, in die Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften geht immer ein Element persönlichen Engagements und persönlicher Verantwortung ein, das wir durch Programmatik und Praktiken der Wissenswirtschaft in Frage gestellt sehen. Es mag ein banales Beispiel sein, aber ein Zeitschriftenaufsatz gilt offenbar schon deshalb mehr als der Beitrag zu einer Festschrift, weil letzterer, indem er auch einen persönlichen Bezug zum Ausdruck bringt, im Verdacht steht, von der reinen Sachlichkeit abzuweichen, obwohl er im günstigen Fall sonst verdeckte innere Abhängigkeiten zum Ausdruck bringt. Die Fragwürdigkeit neuer Praktiken der Bewertung wissenschaftlicher Leistungen werde kurz anhand der Wirtschaftswissenschaften dargelegt, um die Kontraste zu verdeutlichen. Wettbewerb ist gut, aber man kann auch die falschen Anreize setzen. Gegenwärtig gelten nur noch Zeitschriften, die durch Herausgeber und Gutachter die Autoren disziplinieren. Die Konzentration auf das Wesentliche wird mit dem Verzicht auf den geistvollen Exkurs erkauft. Wie das Zählen von Zitaten in die Irre führt, haben andere, besonders Bruno Frey, gezeigt: Wer häufiger zitiert wird, gilt mehr, auch wenn ihn viele nur zitierten, um ihn zu kritisieren. Es wird mit dem Rang der Zeitschriften 37 gewichtet, obwohl damit das Selbstlob innerhalb einer kumulativen Schulenbildung begünstigt wird und obwohl die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass die wirklichen Neuerungen oft an unerwarteter Stelle auftauchen. Intrinsische Motivation wird durch extrinsische verdrängt, der Forschungsbezug auf dem Papier verdrängt den persönlichen Umgang, und der Autor verlässt seine Überzeugungen, um seinen Gutachtern zu gefallen. 38 Berufungskommissionen setzen anonyme Messverfahren an die Stelle persönlich verantworteter Strenge. Problematischer noch scheint mir die 36 Vgl. Böschenstein / Egyptien / Schefold / Graf Vitzthum (2005). Zu den Ökonomen im George-Kreis vgl. Schönhärl (2009), zur anschaulichen Theorie vgl. Schefold (2004b). 37 Das Verfahren würde verbessert, wenn man auch die Zitate in Büchern einbezöge, aber das setzte deren aus anderen Gründen fragwürdige Digitalisierung voraus. 38 Vgl. Osterloh / Frey (2009).

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mit dem Bewertungssystem in Verbindung stehende Verstärkung des Trends zu einer Verengung der Methodenvielfalt und der disziplinären Ausrichtung. Was besser in Büchern gesagt wird als in Aufsätzen, also zum Beispiel die Diskussion historischer Entwicklungen, die zu ihrer angemessenen Erörterung eines ganzen Buchs bedürfen, wird so vergessen, 39 wie überhaupt die Technik der Modellbildung an die Stelle der Kultur der sprachlichen Erklärung tritt. Die Ökonomie greift durchaus auf Nachbargebiete aus, aber nach der Art des „ökonomischen Imperialismus“: Unter Festhalten an den eigenen Methoden, nicht von anderen lernend, sondern sie belehren wollend. Ganze Unterdisziplinen werden im Zuge methodischer Verengung aufgegeben; beispielsweise wandert die Sozialpolitik in die Soziologie ab – und Soziologen werden als Experten zur Beratung der Ministerien berufen –, oder die Theoriegeschichte wird den Wissenschaftshistorikern überlassen, die sich aber für ökonomische Theorie nicht recht erwärmen wollen. Dem überlagert sich die Tendenz, die für einige Universitäten sinnvolle Spezialisierung auf den Finanzsektor an vielen durchzuführen, mit der Konsequenz, dass man bald nicht mehr fähig sein wird, durch Berufungen die alte Breite des Fachs wiederherzustellen, selbst wenn man dies noch wollte. Eine empirische Studie bestätigt, dass die Neoklassik in der jungen Generation der akademischen Ökonomen in Deutschland vorherrscht, die Präferenz für sie aber mit dem Alter stark abnimmt, 40 während der Ordoliberalismus für die Älteren eine größere Rolle spielt. Doktoranden scheinen bei der Bewertung dessen, worauf es bei der Ökonomie als Wissenschaft ankommt, mit den Angelsachsen stärker überein zu stimmen als die älteren deutschen Kollegen: „American graduate programs thus seem to crowd out specific cultural characteristics“. 41 Diese Veränderungen nur unter dem Stichwort „Ökonomisierung der Wissensgesellschaft“ zu sehen, wäre eine Vereinfachung; ein Zusammenhang zwischen ihr und der Transformation des Bildungssystems besteht jedoch.

VI. Der Humanismus: eine Erinnerung Nach den Eingriffen des Nationalsozialismus, die die Volkswirtschaftslehre härter als die Betriebswirtschaftslehre trafen, 42 nach den Versuchen, in der noch jungen Bundesrepublik die alte deutsche Universität in der Demokratie und mit ausländischer Hilfe zu erneuern 43 und nach den auf die 68er Jahre folgenden 39 Die Unkenntnis der Wirtschaftsgeschichte und damit früherer Finanzkrisen hat zur Entstehung der gegenwärtigen beigetragen, und erst bei ihrer Bekämpfung begann man sich wieder zu erinnern. 40 Vgl. Frey / Humbert / Schneider (2009), S. 5. 41 Ebd., S. 16. 42 Dies zeigte sich besonders deutlich in meiner eigenen, der Goethe-Universität; vgl. Schefold (2004c) und Nörr / Tenbruck / Schefold (1994). 43 Vgl. Acham / Nörr / Schefold (1998).

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Universitätsreformen 44 haben wir es jetzt mit der vierten Umwandlung der Universität im deutschen Bildungssystem innerhalb weniger als eines Jahrhunderts zu tun. Wenn ich aufgefordert bin, in dieser Lage ein Gegenbild zur Ökonomisierung der Wissenskultur zu benennen, drängt sich ein Begriff auf, der die geschichtliche Verpflichtung, das Versäumnis vergangener Reformen und den Gegensatz zur Gewinn- und Wachstumsorientierung der Wissenschaftspolitik in Verbindung mit dem erzieherischen Auftrag gleichzeitig aufruft: der Humanismus. Es steht schlecht um ihn zur Zeit, ich weiß. Die einen sehen seine Angebote als Zeitverlust, die anderen als Ausdruck reaktionärer Gesinnung. 45 Erasmus formulierte seine Hoffnungen in den 1500 in Paris veröffentlichten Adagia, seiner dann in ganz Europa berühmten Sammlung antiker Redewendungen mit Erklärungen, beim Stichwort Delphikòn xíphos, delphisches Schwert. 46 Ein solches Schwert verwendete man sowohl um Opfertiere zu schlachten wie um Verbrecher hinzurichten. So allseitig verwendbar seien die litterae, die Wissenschaften: Delphikòn xíphos Nam litterae iuvenibus sunt necessariae, senibus iucundae, pauperibus opes suppeditant, opulentis adiungunt ornamentum, in rebus adversis solatio sunt, in secundis gloriae, claro natis genere splendorem augent, obscuro genere natis claritatis initium conciliant. Delphisches Schwert Denn die Wissenschaften sind den Jungen notwendig, den Alten erfreulich, sie bringen den Armen Unterstützung und fügen den Reichen den Schmuck hinzu, sie bringen im Unglück Trost, im Glück Ruhm, sie vermehren den Glanz der aus den im Licht stehenden Geschlechtern Geborenen, und gewähren den aus dem Dunkel Stammenden einen Eingang zur Berühmtheit.

Der Entfaltung der Persönlichkeit gemäß den Altersstufen und den sozialen Lagen also dient diese humanistische Wissenschaft. Der Vorgang entzieht sich der Wissenswirtschaft. Eine Rationalisierung durch Organisation eines Wissenshandels bei gegebenen Präferenzen wäre der eigentlichen Aufgabe, die Präferenzen zu bilden, gerade entgegengesetzt. Wenn an der Fachsprache etwas liegt, könnte man allenfalls sagen, es bildete sich in der Vernetzung ein soziales Kapital, gebunden an Individuen, mit ihren vermittelbaren und mit stillem Wissen, gebunden aber auch an Institutionen. Die Grenzen des Bildungswissens zur Kunst sind fließend. Daher werden die Wendungen solcher Wissenschaft von Individuen geprägt, ja erzeugt. Sie entdecken nicht nur unter der Oberfläche verborgene 44

Vgl. Acham / Nörr / Schefold (2006). Der schulische Erfolg altsprachlichen Unterrichts lässt sich jedoch nach wie vor belegen; vgl. z. B. Eberle (2009). 46 Erasmus (1663), S. 46. 45

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Wahrheiten, sondern schaffen unter Erneuerung der Sprache neue Gegenstandsbereiche, aus der Tradition hervorgebracht. Lernen heißt also, neu zu sehen. Da sich der Bildungsprozess zwischen Personen – nach dem alten Muster zwischen Meister und Jüngern – vollzieht, spielt er sich in kleinen Gruppen ab. Deshalb begann unsere Untersuchung mit dem sokratischen Gespräch. 47 Der Riesenapparat moderner Wissenschaft lässt ein Beziehungsgeflecht nur unter der Bedingung extremer Spezialisierung auf dem Niveau originärer Forschung zu. Wo sich die Gegenstandsbereiche sachlich trennen lassen, kann es dann ein glückliches Nebeneinander geben; der Friede erscheint gelegentlich gefährdet, wenn sich die Disziplinen vor allem nach den Methoden unterscheiden. Wir müssen die Realitäten akzeptieren, uns in den Nischen disziplinärer Verästelung und personenbezogener Schulenbildung einrichten; deshalb haben wir auch bei Berufungen zuweilen zwischen didaktischer Begabung, charakterlicher Eignung und wissenschaftlicher Fähigkeit abzuwägen. Die disziplinenübergreifenden Bezüge lassen sich für eine nach Ganzheit strebende Bildung dann nur unter Bezug auf verbindende Denktraditionen herstellen. Es gilt also, um der Ganzheit willen, einen Kanon gemeinsamer, den Ursprüngen verbundener Wissenschaft zu pflegen. Die Anbindung an die Überlieferung rechtfertigt sich ferner, wenn wir uns erinnern, dass es immer wieder der neue Blick auf alte Autoren war, der neues Sehen ermöglichte. Nationalökonomen insbesondere werden sich, so utopisch es vorerst klingen mag, der Geschichte wieder nähern müssen, wenn sie sich der Relativität ihres Wissens und ihrer Ziele bewusst werden wollen. Zur Zeit wird die Fixierung auf ein verengtes Menschenbild vor allem durch die ökonomische Verhaltensforschung und die experimentelle Spieltheorie herausgefordert, die zuweilen ihre Ergebnisse im interkulturellen Vergleich prüfen. Die deutsche Tradition vom Kameralismus bis zur historischen Schule aber hatte einen weiteren Atem und suchte hinter Ereignissen und Erscheinungen im wirtschaftliche Bereich den kulturellen Wandel und die Veränderungen der Denkweisen und Sitten zu verstehen, gestützt auf die hermeneutische Auslegung der Texte in den Originalsprachen. Unter der modelltheoretischen Oberfläche der Werke von Keynes 48 und Schumpeter findet man eine Max Webers Bemühungen verwandte Auseinandersetzung mit dem Menschenbild der Moderne. Sollen wir die Untersuchung dieser tieferen Schichten, die grundlegend sind für das Verständnis auch des Politischen, wirklich aus dem Studium ausschließen? Offenbar besteht durchaus ein Spielraum, innerhalb dessen wir uns eher zur technokratischen Wissenswirtschaft oder zu einer humanistischen Wissenskultur 47 Zum George-Kreis als Versuch einer sinnstiftenden Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Leben vgl. Ideal (2009). 48 Zu Keynes’ philosophischen Wurzeln vgl. Mini (1991). Ein Bezug zur historischen Schule bestand durch seinen Vater John Neville Keynes.

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hinbewegen können. Es wird immer wieder junge Menschen geben, die ihn nutzen wollen. Wir haben die Verantwortung, sie nicht auf beruflich aussichtslose Wege zu locken, aber wir sollten die Pforten zum geistigen Reich auch nicht verriegeln.

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Ökonomisierung der Wissenschaft – contra

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Podiumsdiskussion: Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissenschaft? 1 Prof. Dr. Ullrich Heilemann, Prof. Dr. Dr. h.c. Johannes Fried, Dr. Elisabeth Niggemann, Prof. Dr. Dres. h.c. Bertram Schefold Moderation: Prof. Dr. Werner Meißner Meine Damen und Herren, wir beginnen mit der Diskussion. Herr Frey konnte leider nicht teilnehmen. Wenn ich seinen Vortrag richtig verstanden habe, er hat sich ja sicher ökonomisch-rational verhalten, dann vermute ich, dass die Veranstalter mit Herrn Frey einen Vertrag gemacht haben, der nur den Vortrag abdeckte und nicht die Diskussion. Das ist eine Vermutung und keine Frage an die Veranstalter. Herr Heilemann, einer der Veranstalter hier, hat sich freundlicherweise bereiterklärt den Part der Ökonomie mit zu vertreten. Ansonsten kennen Sie schon Herrn Bertram Schefold, den Schweizer Ökonom, der Ihnen ja vorgestellt worden ist von Herrn Diedrich und der in seinem Eröffnungsreferat das Hin und Her der Wissensgesellschaft zwischen Wissenswirtschaft und – wie er sagt -„Neuem Humanismus“ beschrieben hat. Aus Leipzig und aus Frankfurt kommt Frau Dr. Niggemann, die Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek, also der Deutschen Bibliothek in Frankfurt und der Deutschen Bücherei in Leipzig und noch ein bisschen Berlin kommt dazu. Sie vertritt übrigens heute die Naturwissenschaften auf dem Podium. Sie ist diplomierte, promovierte Biologin. Mit ihr werden wir sprechen über Wissensspeicher in Büchern, in Archiven, in Bibliotheken, Ökonomisierung, Google versus Europeana. Da möchten wir mehr von ihr wissen. Und schließlich Prof. Johannes Fried. Wenn jemand 600 Jahre alt wird, dann darf auf dem Podium ein Historiker nicht fehlen. Herr Fried hat das Mittelalter zu seinem Arbeitsgebiet gemacht und zählt zu den bedeutendsten Mediävisten in Deutschland. Er kommt von der Goethe-Universität in Frankfurt, genau wie ich. Ich bin Ökonom dort. Nun wird Ihnen auffallen, dass ein bisschen viel Frankfurt hier auf dem Podium sitzt in Leipzig. Das ist kein Zufall. Beides sind bedeutende Messestädte, Buchstädte. In Zeiten der deutschen Teilung waren Frankfurt am Main und Leipzig Partnerstädte. Ansonsten, meine Universität wird in vier Jahren 100. Dann sind Sie 604 Jahre alt. Ökonomisierung, das hat sicher auch etwas mit Konkurrenz zu tun. Die 1

Dieser Abdruck beruht auf Tonaufnahmen der Diskussion am 4. Dezember 2009. Um deren Authenzität zu wahren, wurde der Text nur geringfügig bearbeitet.

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ersten Universitäten wurden in Prag von Karl dem IV. gegründet, dann haben es ihm die Habsburger in Wien sehr schnell nachgemacht, dann die Wittelsbacher in Heidelberg und da haben wir schon die ältesten deutschsprachigen. Das war sicher der Konkurrenzgedanke und inzwischen wissen wir es alle, das stand ja auch in den Zeitungen, warum Leipzig gegründet wurde – also eine Abspaltung von Prag, als dort die Sachsen, Polen und Bayern auszogen und nach Leipzig kamen. Und der Landesherr fand es sicherlich auch aus Konkurrenzgesichtspunkten gut, hier zu gründen. Die Ironie will es dann, dass Leipzig wirklich eine bedeutende Universität wurde und Prag immer die älteste geblieben ist, das kann ihr auch niemand streitig machen. Die jüngste bleibt man nicht lange, aber die älteste bleibt man sozusagen ewig. Aber an wissenschaftlicher Bedeutung, das sage ich hier mit allem Freimut, hat Leipzig die Prager natürlich überholt. Das ist historisch belegt. Also, die Konkurrenz trieb Blüten und treibt Blüten. Studieren in Fernost, das ist ja eine Geschichte, wo Ihr Rektor, Herr Häuser, sich mal kritisch geäußert hat, kürzlich in der Presse, habe ich gerne gelesen. Lehrer, Schulen, Universitäten werben, sie bieten die beste Wissenschaft, die bequemsten Studienbedingungen, die günstigsten Wohn- und Lebensmittelpreise, das lieblichste Klima, die schönste Landschaft, auch die herrlichsten Mädchen, alles im Superlativ. Das allerdings stammt aus der Feder eines Historikers, der sich mit Universitätsgründungen befasst hat. Er sitzt auf dem Podium. Was soll ich Ihnen hier vorlesen? Er kann ja selbst sprechen. Herr Fried, das haben Sie geschrieben und uns würde jetzt interessieren, wenn wir über Ökonomisierung sprechen, ob das nicht zum Beginn des Europäischen Universitätswesens eine oder die entscheidende Triebfeder war und was wir da heute daraus lernen. Prof. Fried: Das kann man durchaus sagen, denn das, woraus ich zitiert habe, sind Werbeschreiben für Universitätsgründungen, etwa Orléans, die als Konkurrenzgründungen zu Paris entstanden sind. Und aus diesen Schreiben – rhetorisch hochstilisiert – stammen diese Zitate. Das ist also durchaus am Anfang der Europäischen Universitäten im Mittelalter zu entdecken. Aber es gibt noch hübschere Konstellationen, etwa in Bologna. Sicher mit Paris zusammen die älteste Universität der Welt. Und in Bologna streiten sich die Juristen, nicht die Ökonomen, sondern die Juristen streiten. Und es führt zu tätlichen Angriffen auf der Straße. Ein Professor – berühmt – Placentinus, wandert dann aus, wird einer der Gründerväter für die Universität Montpellier. In Bologna aber wird er überfallen, geschlagen, geprügelt vom Pedellen des Konkurrenten. Es geht um finanzielle Vorteile, denn jeder Student hat zu zahlen, und zwar viel. In Bologna muss man enorm viel zahlen, um studieren zu können. Und das Geld fließt direkt, nicht an irgendeine Universität, nicht an staatliche Kassen, sondern direkt in die Kasse der Professoren. So streiten sie sich also um die Einkünfte, und ihre Einkünfte sind gewaltig. Sie übertreffen bei weitem das, was heutzutage die Spitzenmediziner verdienen. Wer einmal in Bologna war und dort das Rathaus gesehen hat, den großen Palazzo Accursio, der ahnt, was ein Bologneser Professor in der Blütezeit des 13. Jahrhunderts verdienen konnte. Das ist der größte Palast der

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Stadt überhaupt, heute ein Riesenkomplex. Da hat der Doktor der Rechte gelehrt, da hat er Studenten untergebracht und – seine Seele belastet, nämlich mit Zinsnahmen, unrechten Vermietungen, überteuerten „Gaben“, die ihn, theologisch gesprochen, in die Hölle gebracht hätten. Noch ein Beispiel, jetzt aus Paris. Peter Abaelard, der berühmte Mann (seine Eloise ist heute genauso berühmt), konkurriert mit seinem Lehrer an der Domschule in Paris, weicht aus auf das linke Seine-Ufer. Das ist der Anfang der Universität Paris, die mithin nicht bloß aus der dortigen Domschule hervorging, sondern aus dem Konkurrenzunterricht auf dem linken Seine-Ufer. Konkurrenz von Lehrern auch jetzt, und es geht abermals um Ruhm und Geld. Der in Abaelards Augen Unterlegene wich seinerseits aus, und gründete ein Stift, in das er sich zurückzog, als er mit Abaelard nicht mehr mithalten konnte. Oder noch einmal zurück nach Bologna. Die Kommune verlangt von den Rechtsprofessoren, um ein absolutes juristisches Lehrmonopol zu behalten, einen Eid nur in Bologna zu lehren. Sonst dürfen sie nicht Doktor Iuris oder Doktor Legum, Rechtsprofessoren, werden. Dieser Exklusivitätsanspruch lässt sich nicht durchhalten. Schon im Beginn des 13. Jahrhunderts verdeutlichen es Auswanderungen in andere Städte – nach Modena, Padua oder Vercelli, verdeutlichen also Konkurrenzgründungen das Scheitern des Monopols. Vergleichbare Konkurrenz durchzieht die gesamte europäische Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Man könnte vielleicht noch auf ein späteres Beispiel aus dem 19. Jahrhundert verweisen. Dem Philosophen Fichte werden in Jena die Fensterscheiben eingeschlagen, auch da spielt Konkurrenz und Neid eine Rolle; Goethe im nahegelegenen Weimar lästert: da habe man „dem absoluten Ich die Fenster eingeschlagen.“ Solches spiegelt die Kontinuität vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Und unsere wissenschaftliche Gegenwart streitet erst recht mit Gutachten, betrügerischen Forschungen, mit Neid und Gewalt gelegentlich mit Angriffen auf Ruf, Leib und Leben. Damit berühren wir ein heikles Problem. Denn die Wissenschaftsgesellschaft, die wir darstellen, kontrolliert sich teilweise über das Gutachterwesen selbst. Die Gutachter sind nicht selten Konkurrenten. Wie wird dann entschieden? Es ist ja in Ihrem Fall ganz gut entschieden worden. Ihr Forschungskolleg in Frankfurt hat erfolgreich gearbeitet. Ich weiß nicht, ob es verlängert wird. Herr Schefold war mit dabei. Es geht ja auch um die Verwaltung, um die Speicherung und die Verfügbarmachung von Wissen. Und wie sieht es denn da mit der Ökonomisierung aus, Frau Niggemann? Welche Rolle spielen denn inzwischen oder immer schon, vielleicht auf andere Art, kommerzielle Anbieter, also Verleger, Datenbankanbieter, Google, das lässt Sie ja zusammenzucken, das Wort? Oder nicht mehr? Auf der anderen Seite der Staat oder die Europäer mit ihrer Europeana. In all diesen Dingen sind Sie ja mit dabei, nicht nur bei der Europeana, sondern Sie sind auch in Stanford dabei. Also, Sie kennen sich aus. Wie ist denn da der Stand der Ökonomisierung in Ihrem Feld? Dr. Niggemann: Ich würde gerne bei der Konkurrenz anknüpfen. Die Europeana wurde, bevor sie überhaupt existierte, schon als Konkurrenzveranstaltung

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zu Google gesehen vor allem von denen, für die Google der große Feind, der Moloch im Hintergrund ist, die aber trotzdem Google täglich nutzen. Denn unabhängig davon, ob jemand Google als Konkurrenz, als Bedrohung, als Feind ansieht, ich kenne niemanden, der nicht trotzdem täglich genau auf diese Website geht, um seinen Informationsbedarf zu befriedigen. Ich kann überhaupt nicht darüber klagen, dass Europeana als Konkurrenzgedanke entstanden ist. Dieser Konkurrenzgedanke war für uns sehr positiv. Dadurch hat es viel, viel Geld gegeben. Ich glaube, es hätte niemals so viel Geld gegeben aus Brüssel zunächst einmal, aber in dieser Woche stand in allen Zeitungen, dass jetzt auch die Bundesregierung in einem Kabinettsbeschluss gesagt hat, dass sie die Deutsche Digitale Bibliothek fördern wird und noch auf einen entsprechenden Beschluss der Länder wartet, um das gemeinsam zu tun. Es gab und gibt viele Millionen Euro zur Bereitstellung von nicht nur Texten, also Büchern, Zeitschriften, sondern eben auch Multimedia, Musik, Film, Archivalien, alles, was letztendlich der Wissenschaft dann wiederum zugutekommt. Im Fall der Europeana wird allerdings auch die allgemeine Kulturvermittlung betont, das heißt, der Bürger, der lebenslang Lernende, der kulturell und wissenschaftlich interessiert ist, soll profitieren. Ohne diesen großen Konkurrenten Google, diesen Riesen im Hintergrund, hätte es das alles nie gegeben. Warum soll ich da klagen? Abgesehen davon glaube ich, dass solche Konkurrenten immer ein Anlass sind, zu wachsen, sich ihm anzunähern, nicht besser zu werden – so vermessen will ich da gar nicht sein – aber ihm ein Angebot zur Zusammenarbeit zu machen. Ich denke, da sind auch solche großen Anbieter sehr hellhörig und eine Konkurrenz, finde ich, kann insofern sehr erfrischend sein und kann eben auch zu sehr guten Zusammenarbeiten führen. Herr Schefold, ganz freundliche Worte zur Konkurrenz und zur Ökonomisierung. Nun haben Sie in Ihrem Referat ja geschlossen mit dem Gegensatz zwischen Wissenswirtschaft und neuem Humanismus, wie Sie gesagt haben. Und mir sind die letzten zwei Sätze noch besonders schön im Ohr. Offenbar besteht durchaus ein Spielraum, innerhalb dessen wir uns eher zur technokratischen Wissenswirtschaft oder zu einer humanistischen Wissenskultur hinbewegen können. Es wird immer wieder junge Menschen geben, die ihn nutzen wollen. Nun kommt der Satz, damit haben Sie geschlossen. Immer der erste und der letzte Satz sind besonders wichtig. Also der letzte Satz von Herrn Schefold: „Wir haben die Verantwortung, sie nicht auf beruflich aussichtslose Wege zu locken, aber wir wollen die Pforten zum geistigen Reich auch nicht verriegeln.“ Das ist ein gutes Wort. Was bedeutet das für die Universität? Wenn ich richtig sehe, sind hier drei Altrektoren im Raum. Einer sitzt auf dem Podium, dann noch Herr Weiß, Universität Leipzig, Herr Steinberg, Goethe-Universität, ein Wissenschaftsminister. Also dieser Satz. Was bedeutet der denn für die Universität und wie soll sie gestaltet werden bzw. wie soll sie sich ändern? Denn offensichtlich sind Sie mit dem gegenwärtigen Zustand nicht in allen Teilen zufrieden.

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Prof. Schefold: Ja, das ist die hochnotpeinliche Frage, die nötig war und auch nicht unerwartet. Denn wie soll man konkretisieren? Die Widersprüche sind deutlich genug. Nach meiner Auffassung hat wirkliche Wissenschaft immer etwas Elfenbeinturmartiges, da lässt sich nichts daran ändern. Andererseits haben wir eine weltweite, wenn man es böse sagen will, „Vermassung“ der Universität. Wie also sich in diesen und ähnlichen Widersprüchen bewegen? Zuerst zur Universität. Einen Aspekt, den ich im Referat genannt hatte, möchte ich gerne noch einmal hervorheben. Das ist die Disziplinenbildung. Das heißt einerseits, dass es kleine Disziplinen gibt, die sehr wertvoll sind, schon deswegen, weil sich innerhalb derselben dieser Widerspruch in viel geringerem Maße und mit geringerer Intensität darstellt. Die kleinen Disziplinen aber, das sehen wir andererseits, werden bedrängt. In Frankfurt wurde die Indogermanistik abgeschafft, in Heidelberg das Mittellatein u. ä. m. Die Altpräsidenten werden es genauer sagen können. Das Faktum ist jedenfalls wohlbekannt und unbestritten. Woran liegt es? Nun, man versucht offenbar, dem Massenanspruch dadurch gerecht zu werden, dass man die ganzen Ressourcen in die großen Fächer leitet. Das hat aber zur Folge, dass, wenn die großen Fächer Forschungsorientierung in Verbindung mit der Lehre aufrechterhalten wollen, mit dem menschlichen Bezug, der immer im Mittelpunkt stehen sollte, diese sich eigentlich auch wieder in kleinere Subdisziplinen aufspalten müssten. Das kann in diesen Fakultäten dann auch wiederum zu übertriebenen Formen der Spezialisierung führen, wie wir sie manchmal hatten, dass also jeder Professor sein Spezialgebiet definiert und nur an sich denkt, so dass es in diesen Fachbereichen dann keine Kooperation mehr gibt. Hier müssen Mittelwege gefunden werden. Aber warum ist es schwierig, sie zu finden? Wohl deswegen, weil dem Bedürfnis, sich in einem Einzelfach zu profilieren, der Allgemeinheitsanspruch gegenübersteht, den alle erheben, und weil mit diesem Allgemeinheitsanspruch eben leider nicht nur der Versuch verbunden ist, sich auch in allgemeineren Zusammenhängen ausdrücken zu können und Bücher zu schreiben, die einen übergreifenden Charakter haben und entsprechende Vorträge zu halten, sondern weil ein direkter Herrschaftsanspruch erhoben wird. Dieser Herrschaftsanspruch drückt sich dann in administrativen Verfahren aus, von denen wir im Vortrag von Herrn Frey einiges gehört haben. Man darf das nicht nur im Sinne eines Systems, das sich einfach so ergeben hat, nehmen, sondern man muss sehen, dass es handelnde Personen gibt, die ihre Interessen vertreten. Diesen muss man entgegentreten; insofern ist der Kampf um die Autonomie der Universitäten ein Kampf um die Autonomie der individuellen Universitäten, es ist aber auch ein Kampf um die Autonomie der einzelnen Wissenschaftler in den Wissenschaftszusammenhängen, in denen sie sinnvollerweise am besten stehen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Wie macht man das persönlich, beispielsweise: wie mache ich es in meiner Einführungsvorlesung? Ich habe jetzt in der Volkswirtschaftslehre die Verantwortung für die Anfänger des neuen Bachelorstudienganges, der in Frankfurt eingeführt worden ist. Dazu gehört leider, dass es kaum mehr Seminare im alten Sinne gibt, dass also diese wich-

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tigste alte und übrigens typisch deutsche Form der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden beschränkt wurde. In meiner Einführungsveranstaltung versuche ich nun, zum Ersatz die Nationalökonomie in ihren historischen Bezügen darzustellen, denn es muss einerseits jeder seinen eigenen Weg finden, um das, was er besonders gut kann, in einem allgemeineren Zusammenhang darzustellen. Ich kann natürlich nicht jedem vorschreiben, sich besonders mit Geschichte zu befassen, aber ein historischer Bezug und der Bezug auf einen gemeinsamen Kanon scheint mir notwendig – das ist auch ein Auftrag an die Schulen; wir können ja nur noch wenig gestalten, nachdem die jungen Menschen die Schulen schon durchlaufen haben. Die historische Herangehensweise in der Einführungsvorlesung dient aber andererseits noch spezifischeren Zielen; sie dient nicht nur der Bildung und einer persönlichen Vermittlung, sondern der Einführung in die verschiedenen Teildisziplinen der Volkswirtschaftslehre, die aus einem gemeinsamen Wurzelwerk hervor gewachsen sind, heute sich aber weit auseinander entwickelt haben. Früher lernte man in den Seminaren, diesen Zusammenhang des Fachs als eines ganzen zu sehen, in der Perspektive des Seminarveranstalters. Heute muss das in einer Großvorlesung versucht werden. Mein auf die eigene Person zugeschnittener Lösungsversuch besteht in der genannten historischen Herangehensweise. Manche erinnern sich an das Besondere solcher Veranstaltungen noch nach Jahrzehnten. Das war vielleicht ein bisschen unfair, dass ich nach Ihren Ratschlägen für Leiter und Lenker gefragt habe. Insofern ist es gut, dass Sie sozusagen auch hier ganz persönlich an uns zurückkommen. Mir scheint, dass es ja nicht untypisch ist, dass Sie sich einem Forschungsverbund angeschlossen haben, indem Sie wohl der einzige Ökonom sind? Prof. Schefold: Ja, das passiert mir immer wieder. Und dass Sie Ihre Aktivitäten sozusagen als Individualist über den ganzen Erdball verstreuen. Herr Diedrich hat Sie ja vorgestellt. Das war ja atemberaubend. Sie haben ja keinen Erdteil ausgelassen in Ihren Vorlesungen und Forschungskontakten. Das heißt, für den einzelnen Forscher gibt es wohl einen Ausweg und selbst wenn er sich in Einführungsveranstaltungen bei der Bachelorausbildung ein bisschen zwingen muss. Lassen wir diese Frage nach Leitung und Lenkung mal erst ruhen. Ich möchte Herrn Heilemann etwas fragen. Ökonomisierung ist ja was Gutes, haben wir von Herrn Frey gehört. Das ist wie diese Bücher: Fotografieren, aber richtig. Und er hat gesagt, Ökonomisieren, aber richtig! Und jetzt möchte ich den Ökonom fragen, den empirischen Wirtschaftsforscher, Ullrich Heilemann: Ist denn der Fortgang oder der Stand oder der Fortschritt der Ökonomie schon so, dass man sagen kann, hier gibt es eine andere Ökonomie und daraus ergibt sich auch eine andere Ökonomisierung und mit der ist dann alles gut? Prof. Heilemann: Das sind zweifellos sehr interessante Versuche, über die Herr Frey hier berichtet hat – psychologische Experimente, die (auch) für den

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vorliegenden Zusammenhang über Einstellungen und Verhaltensweisen und Einstellungen Auskunft geben sollen. Aber die relative Erklärungskraft dieser Experimente, erst recht ihr prognostisches Potenzial, also ihre Leistungsfähigkeit außerhalb der Laborbedingungen, ist noch gering und auch über die Stabilität der Befunde im Zeitablauf wissen wir noch wenig. Also etwa bei der Berufung aufgrund derartiger Erkenntnisse Aussagen zu machen, wo die Reise des Kandidaten nach der Berufung hingehen wird, sind vorläufig nicht seriös möglich. Bis zur Anwendungsreife bleibt hier noch viel zu tun und wenn es dann soweit ist, werden es erfahrungsgemäß zuerst die Bewerber sein, die solche Erkenntnisse zu nutzen wissen. In diesem Zusammenhang komme ich daher auch auf den Vortrag von Herrn Weiß zurück: Die Instrumentalisierung des Medaillenwesens klingt ja sehr nach DDR, wo derlei Prämierung offenbar eine große Rolle spielte. Wenn man sich im Podium und im Auditorium umschaut, so hätten sicher sehr viele, so sie nicht hanseatischen Verzicht geübt hätten, die Brust voller Medaillen und voller Ehrenzeichen. Kann dann noch von Auszeichnung und von Stimulierung des Wettbewerbs die Rede sein? Es wäre interessant, etwas über die Anreizwirkungen zu erfahren – die direkten und die indirekten! Zurzeit lässt die W-Besoldung, vor allem bei den jüngeren Kollegen, unmittelbar materielle Gratifikationen erfolgversprechender erscheinen. Motivierender als Orden wäre vielleicht die erbliche Nobilitierung von Wissenschaftlern, wie im 19. Jahrhundert üblich. Die richtigen Anreizsysteme, wenn es allgemein gültige gibt, scheinen mir jedenfalls noch im Dunkeln zu liegen. Das gilt ja auch zunehmend für vergleichbare Positionen in der Wirtschaft, wo diese Debatte offenbar nur an den Banken vorbeigegangen zu sein scheint. Andererseits frage ich mich, warum nicht die weitverbreitete Kritik an der Evaluation, die gestern und heute deutlich geworden ist, nichts an diesem Bewertungskanon ändert. Wir wissen, dass andere Kriterien, z. B. Monographien (die oft nicht „zählen“) wichtig sind, es bei referierten Zeitschriften, bei Zitierhäufigkeiten usw. oft nicht mit rechten Dingen zugeht. Aber trotzdem ändert sich nichts, von Sezession keine Spur! Wie so oft, die Therapie bleibt hinter der Diagnose zurück. Eine „sachgerechtere“ Ökonomisierung – wie immer sie aussehen würde – ist jedenfalls auf dieser Seite des Problems nicht in Sicht und so bekommen wir – nur in den Wirtschaftswissenschaften? – was wir messen und das nicht nur von denen, die buchstäblich darauf angewiesen sind.. Ökonomisierung hat was mit Erträgen und Kosten zu tun. Über die Erträge, zumindest für die einzelnen Professoren, haben Sie, Herr Fried, gerade sehr schön erzählt. Fürstlich gelebt haben sie. Wie sieht es denn mit den Kosten, wie sah es denn mit den Kosten aus und welche sehen Sie heute bei der Ökonomisierung von Universitäten? Prof. Fried: Als Mediävist schaut man ja weit in die Vergangenheit zurück, 1.000 Jahre zurück und kann dann vergleichen, was Wissenschaft damals gekostet hat, was sie heute kostet. Frage ich meine Frau, wie viele Bücher ich mir noch

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leisten darf, ist ihre Antwort kurz und bündig: „Keines. Wenn du dir noch eines kaufst, mußt du fünf rausschmeißen.“ Die berühmten Bologneser Professoren, von denen ich vorhin gesprochen habe – der große Accursius etwa – besaßen Bibliotheken von vielleicht 20 oder ein wenig mehr Büchern. Ein solches Buch kostete, über den Daumen gepeilt und auf heutige Kaufkraft übertragen, heute vielleicht 50.000 bis 100.000 €, ein Buch, eine Pergamenthandschrift mit einem der wichtigen juristischen Texte, dem Codex oder den Digesten. Um in der Karolinger Zeit, also im 8. / 9. Jahrhundert ein Buch zu produzieren, mußten man zu allererst über eine Schafherde verfügen. Ein Tier ergab eine Doppelseite in einer der großen Prachtbibeln der Epoche. Allein der Beschreibstoff also war teuer. Nicht minder das Schreiben der zuvor erwähnten juristischen Handschriften. Es kostete, im 13. Jahrhundert, solche Belege habe ich einmal gesammelt, den Lebensunterhalt für zwei Notare für ein Jahr oder auch zwei. Dazu die Kosten für das Pergament, die Schaf- oder Ziegenherde, die Arbeit des Pergamenterers, die Rohstoffe für Farben und Tinte. Das sind Primärkosten für die Wissenschaft damals. Wenn solche Kosten hochgerechnet werden, dann erscheint die Finanzleistung des Mittelalters in dieser Hinsicht ungeheuerlich. Durch sie wurde das Wissen von der Antike gerettet. Im Mittelalter wurde jedes Buch aus der Antike systematisch gesucht, zum Abschreiben ausgeliehen, produziert, verteilt, diskutiert. Ungeheure Kosten. Wer hat sie getragen? Eine Antwort verweist etwa auf Karl den Großen, der den Klöstern die Wissenschaftspflege und Buchproduktion zugewiesen hat. Der Mönch aber will eigentlich in die Einsamkeit gehen, im Eremus leben. Er bekam nun Aufgaben für die nichtklösterliche Öffentlichkeit zugewiesen, sollte Unterricht auch für Fremde erteilen, für den Königshof Bücher produzieren. Die Nonnenklöster übrigens genauso. – Ich will das hier nicht weiter ausmalen, aber noch einmal den Bogen schlagen, zu dem, was Herr Schefold vorhin sagte im Hinblick auf die Reduktion der kleinen Fächer. Das sind ja durchaus kostenrelevante Fragen. Ich möchte ein wenig Advocatus Diaboli spielen. Ich mußte einmal ein Gutachten machen über ein großes deutsches Forschungsunternehmen. Was mir vorlag, war eine eigentümlich Kalkulation: Das Unternehmen bestand seit ca. 50 Jahren, in dieser Zeit waren etwa 5 Prozent der zu erwartenden Arbeit geleistet. Das durfte man gar nicht hochrechnen. Das Unternehmen arbeitet auf erneuerter Zeitbasis weiter. Eine deutsche Akademie strich, ein weiteres Beispiel, das bis dahin betreute mittellateinische Wörterbuch aus ihrem Arbeitsprogramm. Es lohnte nicht mehr. Eine andere Akademie hat es dann zum Glück übernommen, weil dort ein sachkundiger Gelehrter an den Entscheidungen mitwirkte. Aber zunächst gestrichen. Warum? Der Verdacht besteht, dass es die Trends der Wissenschaften selbst sind, die solche Entscheidungen herbeiführen. Wie viele Editoren mittelalterlicher Texte gibt es noch? Müssen wir für diese wenigen so teure Unternehmungen fortlaufen lassen? Da besteht deutlich eine Diskrepanz zwischen Bedarf, Nachfrage und Kosten. Gleiches ließe sich für die Byzantinistik ausführen, gewiß ein kleines, ein sehr kleines Fach in Deutschland, das vielfach ums Überleben kämpft. Kosten-Nutzen-Relation

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zu den Bedürfnissen der jeweiligen Fachdisziplin sind heute beliebte Planspiele. Besonders bedauernswert empfinde ich die Reduktion der Rechtsgeschichte an den juristischen Fakultäten. Eine Folge kann ich mir zu Illustration darzustellen nicht verkneifen. Sie wurde mir aus meiner Heimatuniversität Frankfurt berichtet. Geprüft wurde Öffentliches Recht, eine mündliche Gruppenprüfung. Man kam auf die Weimarer Verfassung zu sprechen. Einer der Prüfer fragte fragte: „Na wann entstand sie doch gleich?“ „Oh“, meldete sich eine Kandidatin in glücklichem Wissensbesitz: „1905“. Der Prüfer war nicht einverstanden, fragte noch einmal. Ein Student noch glücklicher im Glauben an seine richtige Antwort: „1848.“ – Alle haben mit Prädikatsexamen abgeschlossen. Das sind die Juristen, die künftig in den Staatsdienst gehen können, die potenziellen künftigen Verfassungsrichter. Wie wollen die eine Verfassung beurteilen, wenn sie die Geschichte des Verfassungsrechtes nicht kennen, wenn sie über den Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Politik, Geschichte und Wissenschaft keine Ahnung haben, nie darüber nachzudenken gezwungen waren? Sind es also nicht der Gesetzgeber, nicht die Finanzbehörde, nicht die zentrale Universität, die das Geld verweigert, sondern sind es die Trends der Disziplinen, die Wichtiges obsolet erscheinen lassen? Eine Schafherde für ein Buch. Dann kam der Buchdruck und dann wurde es billiger und es gab mehr Bücher. Und jetzt gibt es die Budapester Erklärung zu Open Access. Die sagt eben, dass die wissenschaftliche Literatur kostenfrei allgemein zugänglich im Internet sein muss. Man kann lesen, herunterladen, kopieren, drucken, in ihnen suchen. In nationalen, internationalen Wissenschaftsorganisationen, Berliner Erklärung 2003/2004; immer gut, wenn man die Quelle rechts neben sich hat, also 2004. Die sagt, Open Access ist Teil der Förderpolitik, die DFG hat es 2006 gesagt, und auf der anderen Seite haben wir das Google Library Projekt. Google ist kommerziell, das führt aber zur Frage an Open Access, da entstehen ja auch Kosten. Frau Niggemann, wer bezahlt denn die? Dr. Niggemann: Letztendlich zahlen immer die gleichen, jedenfalls für Literatur im Umfeld von Wissenschaft und Erziehung. Es zahlt der Staat über seine Universitäten, seine Bildungseinrichtungen, seine Infrastruktureinrichtungen wie die Bibliotheken. Für mich ist Open Access zwar durchaus entstanden aus der Frage: Wie kann man Preistreiberei verhindern, wie kann man den Circulus Vitiosus irgendwie brechen? Aber grundsätzlich, glaube ich, wird heute wesentlich weniger emotional darüber diskutiert und stattdessen genauer hingesehen, welche Kosten entstehen und welche unnötig sind. Es geht mehr darum, an welcher Stelle wird denn bezahlt, denn es kostet so oder so. Es kostet auch, wenn von staatlicher Seite veröffentlicht und verlegt wird, wenn also ein Universitätsverlag entsteht und die Literatur verbreitet. Ich denke, die Frage bei Open Access konzentriert sich immer stärker auf die Frage: Zahlt derjenige, der als Autor daran ein Interesse hat, sein Wissen, seine Ergebnisse zu verbreiten und zahlt er es sozusagen als Eintrittsgebühr – egal ob in Form einer Subventionierung

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eines Universitätsverlages oder in Form einer Gebühr an einen kommerziellen Verleger? Oder zahlt der Leser, wenn er nämlich, egal ob durch ein privates Abonnement einer Zeitschrift oder die Abonnements einer Hochschulbibliothek dafür sorgt, dass die Publikation gelesen werden kann? Es gibt Hinweise darauf, dass das Modell – der Autor zahlt – grundsätzlich im Preis-Leistungsverhältnis günstiger ist, weil die Barriere wegfällt für den Leser. Das heißt, die Publikation wird häufiger gelesen. Aber ich denke, dass noch nicht feststeht, welches Modell wirklich günstig ist. Es gibt mittlerweile sehr viele Mischmodelle und Verlage, die damit experimentieren. Vorallem sollte man sehr vorsichtig sein, eine Kultur zu zerstören, die gerade in Deutschland noch sehr verbreitet ist, die Kultur der kleinen und mittleren wissenschaftlichen Verlage, die noch sehr mit Herzblut, mit hoher intrinsischen Motivation am Werke sind. Die Gefahr besteht gerade im Bereich der Geisteswissenschaften. In den NTM-Fächern, Technik, Naturwissenschaften, Medizin gibt es mehr von den großen globalen Konzernen, die mit ganz anderen Geschäftsmodellen an das Thema herangehen können. Ein weites Feld, und ich kann auf heute Nachmittag verweisen, wo Open Access von verschiedenen Seiten aus beleuchtet wird und Sie wesentlich intensiver etwas dazu hören können. Ich möchte aber noch zwei Bemerkungen zu den Kosten machen. Ich vertrete hier – Herr Meißner hat zwar gesagt die Naturwissenschaften, aber das ist ein Vierteljahrhundert her – die Infrastruktureinrichtung. Infrastruktureinrichtungen arbeiten die meiste Zeit im Verborgenen. Nur im Kontakt mit dem Nutzer, bei der Ausleihe, bei der Dokumentenbesorgung, bei der Informationsvermittlung sind wir sichtbar. Was darüber hinaus passiert, sieht keiner und alles was man nicht sieht, weiß man nicht wirklich zu schätzen. Wenn ich sage, was es kostet, Literatur dauerhaft zu archivieren und zur Verfügung zu stellen, dann bewirkt das meist ein ungläubiges Staunen. Das war schon, wenn ich erkläre, was es kostet, industriell gefertigtes säurehaltiges Papier zu entsäuern. Und das ist vor allem so, wenn ich erkläre, was elektronische Publikationen kosten, wenn man sie sicher archiviert. Archivieren ist nicht sexy, der Nicht-Fachmann sieht es nicht, er kann es nicht richtig einschätzen. Die Kosten für diesen wichtigen Bereich zu erläutern und das nötige Geld dafür einzuwerben, ist sehr mühsam. Aber es ist Teil der Wissenschaft. Ohne Archivierung wird eine kommende Generation nicht auf die Erkenntnisse von gestern und heute zugreifen können. Ein zweites Beispiel für Kosten, die ein Außenstehender nicht sieht, sind die Kosten für die Erschließung von Literatur. Auch diese Kosten sind sehr hoch, bei uns wie auch im internationalen Durchschnitt. da traue ich mich gar nicht, nicht einmal in diesem Hörsaal, zu sagen, was das kostet, ein Buch zu erschließen im internationalen Durchschnitt. Es ist schwierig, für diese internen Bereiche, die Teil der Infrastruktureinrichtung für die Wissenschaft sind, die notwendigen Mittel einzuwerben und damit dafür zu sorgen, dass verlässlich Literatur für die Wissenschaft bereitgestellt und archiviert wird. Vielen Dank, Frau Niggemann. Also wenn etwas viel kostet und man sich darauf bezieht, dann haben wir gelernt, das Schlüsselwort heißt: Sie haben Sie wohl

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nicht mehr alle? Kosten, Wissenswirtschaft und Humanismus – Herr Schefold, das Gespräch, das Sokrates mit seinen Jüngern oder Schülern, der Ausdruck Jünger fiel wohl auch bei Ihnen, führte, das war nicht so kostenträchtig. Heute ist Wissensproduktion allerdings, selbst in unserem Feld, in der Ökonomie, darüber könnte Herr Heilemann viel sagen, wird er auch tun heute Nachmittag in seinem Vortrag, sehr teuer. Wie fließt da Ihre Idee des Humanismus ein, wenn so viel Geld im Spiel ist? Prof. Schefold: Also, in dieser Allgemeinheit weiß ich jetzt nicht, was da sinnvoll darauf zu antworten wäre. Sie können die Frage ja verengen, so dass Sie antworten können. Prof. Schefold: Die konkrete Frage ist, wer diese Kosten tragen soll. So wie die Frage gestellt ist, werden die Kosten offenbar als gegeben betrachtet. Dann ist meine Antwort, nach dem, was ich zu sagen versucht hatte, eine doppelte. Einerseits gibt es eben jene Theorie der Wissenswirtschaft, die darauf hinweist, dass zu trennen ist zwischen einem allgemeinen Wissen und dem, das persönlich angeeignet wird (was in dieser Theorie der Wissenswirtschaft dann das Humankapital heißt). Dass die Kosten für dieses allgemeine Wissen von der Allgemeinheit getragen werden müssen, ist selbstverständlich. Die schwierige Frage, die dahinter steht, ist: In welchem Grade ist das Wissen, das individuell angeeignet wird, auch von der Allgemeinheit zu tragen? Das ist, glaube ich, die wirklich empfindliche Frage, und um ihretwillen sitzen so viele in den Universitäten und besetzen irgendwelche Räume. Da muss ich leider und vielleicht zu einer gewissen Überraschung sagen: es ist etwas dran, dass die Individuen etwas dazu beisteuern müssen. Das liegt in der Logik der Sache. Die Kosten des universitären Unterrichts werden in einem Ausmaß von der Allgemeinheit getragen, dass die Betreffenden, die diesen Unterricht genießen, Einkommensvorteile erlangen, weil sie zu diesen Kosten nicht das Angemessene beitragen, weder später durch Steuern, noch vorher durch Gebühren, die sie getragen haben. Es ist also eine unsoziale Situation. Sie machen den feinen Unterschied, Herr Schefold, zwischen, das Wort haben Sie gar nicht benutzt, man kann es aber aussprechen, Studiengebühren einerseits und Hörergeld andererseits. Also ich hab noch mit Hörergeld studiert. Das ist ja ein Unterschied, aber das Prinzip, dass sozusagen der private Teil der Ausbildung gezahlt wird, dafür haben Sie ja plädiert, ist mit Hörergeld ja viel gezielter. Wollen Sie das noch mal aufnehmen? Prof. Schefold: Ja, gut, das war der allererste Aufsatz, der von mir in einer kleinen Zeitschrift in Basel erschien, als ich Student war und die Studentenschaft zur Abschaffung der Hörergelder Stellung nehmen sollte. Ich bin damals tatsächlich dafür eingetreten, dass man die Hörergelder beibehält. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Es erfolgt durch sie eine sehr direkte Evaluierung. Den einzigen möglichen Missbrauch der Sache hat man schon bezeichnet, wenn man

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sagt: Wenn den Studenten vorgeschrieben wird, zu bestimmten Professoren in die Vorlesung zu gehen, ist es dasselbe, wie wenn man den Professoren ein festes Einkommen gibt. Natürlich braucht es zusätzlich auch gewisse ökonomische Anreize jenseits der intrinsischen, um eine große Anstrengung bei den Lehrenden hervorzurufen, das lässt sich nicht bestreiten. Wir versuchen, den Wert der intrinsischen Motivation zu heben, aber wir können die Funktion der extrinsischen Motivation auch nicht leugnen. Herr Heilemann, gestern hat Herr Mittelstrass in seinem Referat, was ja sehr viel Beachtung gefunden hat, gesag, dass Wissen als Ware betrachtet wird. Also, den Ökonomen wundert es etwas, denn es schließt an das an, was Herr Schefold uns sagte. Das Wissen wird ja hier den Studenten eigentlich frei, es wird ja nicht verkauft, sondern es wird ihnen frei gegeben und wenn Autoren, das hat Frau Niggemann gerade ausgeführt, veröffentlichen wollen, dann mussten sie früher sozusagen Druckkosten bezahlen, aber bei Open Access müssen die Autoren zahlen. Wo ist denn da der Charakter von Ware? Wenn es einen Preis hat, dieses Wissen, dann einen negativen Preis. Herr Heilemann, helfen Sie mir doch als Ökonom. Prof. Heilemann: Den angesprochenen Marx beiseite, will ich mich der Frage ein bisschen auf Umwegen nähern. Zunächst zur Erinnerung: Studenten studieren nicht für umsonst, d. h. kostenlos. Die Aufwendungen des Staates und ihre eigenen sind außerordentlich groß und die Ausgaben der Studenten für das Studium einschließlich Studiengebühren sind der geringere Teil, unter Berücksichtigung der entgangenen Einkommen kann es sich leicht verdoppeln. Dies wird sehr deutlich, wenn man sich die sogenannten Bildungsrenditen anschaut, also die Relationen zwischen dem was die Studenten aufwenden einschließlich entgangenen Einkommen und dem, was sie dafür später in Form von Einkommen erzielen. Wenn man diese Relationen, diese „Bildungsrendite“ betrachtet, die die Ware Bildung als Investition ansieht, dann müsste man sagen, dass alle Lehrer aufs Studium verzichten sollten, denn sie erzielen negative Bildungsrenditen (von den „Fehlinvestitionen“ der Studienabbrecher gar nicht zu reden) – aber vielleicht verdienen sie auch nur zu wenig und die Zahnärzte zu viel? Hypothetisch gesprochen, sollten jedenfalls alle Steuerberater oder Zahnärzte werden, denn sie erreichen Bildungsrenditen von 8 oder 10 Prozent auf das eingesetzte Kapital. Hier kann in der Tat im Sinne von Herrn Schefold von einem marktfähigen Wissen gesprochen werden, ob bei Zahnärzten und Steuerberatern auch von Bildungskonsum, sei dahingestellt. Das Wissen ist eben auch eine Ware, zugegeben eine sehr besondere, wenn man ihre intertemporale und personale Übertragbarkeit berücksichtigt und die wird auch gehandelt, nebenbei gesagt. Jeder ostdeutsche Student, der seinen Arbeitsplatz in Frankfurt findet, nimmt natürlich hier ein Humankapital von deutlich mehr als 100 000 Euro mit, das in Ostdeutschland aufgewendet, „erwirtschaftet“ wurde, aber dann in Frankfurt Früchte trägt oder Blüten treibt. Mit dem „Warencharakter“ der universitären

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Bildung kommt man jedenfalls in einem Teil der Ökonomisierungsdebatte recht weit und in diesem Teil sind die Differenzen der Beteiligten – der Nachfrager und Anbieter lukrativer Bildungspatente – letztlich gering. Hier liegen auch Berührungspunkte zu dem Weberschen Verständnis des Rationalisierungsprozesses, von dem Herr Schefold sprach: Wie weit kann diese Rationalisierung getrieben werden, ohne die Produktionsbedingungen von Wissenschaft zu zerstören? Dass er sie transformiert erleben wir ja schon seit langem. Auf der anderen Seite, ob wir es gerne hören oder nicht, allein schon wegen der schieren Größe und der tatsächlichen oder vermuteten Bedeutung des Bildungssektors oder der Wissensgesellschaft, wäre es eine Illusion, dass die Ware Bildung – und von „Forschung“ oder Baumolschem Gesetz war noch gar nicht die Rede – ebenso wie die Waren Gesundheit, Innere Sicherheit oder Mobilität anders produziert wird – und produziert werden muss – als vor 100 oder auch nur vor 50 Jahren. Ob „besser“, wird sich zeigen. Frau Niggemann, die schöne Welt von Open Access, wo jeder zugreifen kann – wie ist denn die andere Seite? Wenn es digitalisiert wird, ist es ja auch in hohem Maße zentralisiert und erfassbar und vielleicht auch sperrbar? Im Gespräch sagten Sie mir mal, vielleicht kommt das dann hinter Gitter. Dieses Bild haben Sie benutzt, daran denkt eigentlich niemand, eine Nationalbibliothekarin muss auch daran denken. Lassen Sie uns doch mal an Ihren düsteren Gedanken teilhaben. Dr. Niggemann: Das Zitat mit den Gittern stammt aus einem Gespräch über Public Domain Literatur. Public Domain ist alles das, was nicht mehr unter Urheberrechtsschutz steht. Es ist also frei und kann z. B. von einer Bibliothek jederzeit digitalisiert und frei zur Verfügung gestellt werden. Es müsste keine Hindernisse mehr geben. Häufig allerdings argumentiert der Unterhaltsträger, dass die Kosten der Digitalisierung und der Bereitstellung wieder eingenommen werden müssen über Nutzungsgebühren. Das heißt, es gibt ein Geschäftsmodell das sagt, wenn etwas in der Entstehung etwas kostet, dann darf es nur gegen Kostenerstattung weitergegeben werden, auch, wenn es sich um eine Einrichtung handelt, die aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Das finde ich persönlich bedauerlich und ich begrüße es, dass derzeit die Stiftung, die die Europeana trägt, an einer Charta arbeitet, die zum Ausdruck bringen soll, dass die Verbände der europäischen Museen, Archive, audiovisuellen Archive und Bibliotheken dafür eintreten, dass möglichst alles, was Public Domain ist, das heißt, was urheberrechtsfrei ist, nicht „hinter Gitter“ kommt, das heißt, dass es frei verfügbar bleibt – auch in einer digitalen Welt. Ähnliches kann ich mir vorstellen für Werke, die unter einer ganz offenen Creative Common Licence zur Verfügung gestellt werden. Hier könnte ein Autor, der zwar nicht auf sein Urheberrecht kann, sagen: „Ich bin damit einverstanden, dass dieses Werk auch von Dritten weiter verbreitet werden kann.“ Ich spreche nicht grundsätzlich über urheberrechtlich geschützte Dinge. Ich spreche auch nicht über urheberrechtlich geschützte verwaiste Werke, auch wenn sich über beide Bereiche viel sagen ließe. Mir geht

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es hier in den genannten Fällen, Public Domain Werke und Werke unter einer bestimmten Creative Commons Licence, darum, dass, wenn etwas frei ist, weil es aus dem Urheberrechtsschutz herausgefallen ist oder weil der Autor etwas freigibt, es niemand wieder hinter Gitter stellt. Herr Fried, es ist schon einige Jahre her und ich muss das betonen, damit ich nicht ganz so dumm aussehe, da trafen wir uns auf einer Konferenz als Referenten in Portugal. Da holten Sie Ihr Schlüsselbund heraus und daran hing ein kleines Ding und da sagten Sie, da sind alle meine Werke darauf. Ich sagte, Herr Fried, Sie haben so viel geschrieben, das kann doch gar nicht sein. Das war ein USB-Stick, wahrscheinlich mit 256 MB seinerzeit. Also, ich dachte, ein Mittelalter-Historiker und jetzt zeigt er dem Ökonomen, wie die Dinge gehen. Wie gehen Sie denn jetzt mit den modernen Büchern, nicht mehr von Schafherden, sondern mit so digitalisierter Information um, mit Ihren Veröffentlichungen, Ihren Quellensuchen in Ihrem Fach? Prof. Fried: Ich habe nicht mehr einen Stick, sondern ich habe 10 Sticks und die sind alle mit ich weiß nicht wie vielen Gigabytes. – Zur Sache! Ich bin dringend dafür, dass wir einen Open Access schaffen, aber wir dürfen deswegen, jedenfalls wir Geisteswissenschaftler, das ausgedruckte Buch nicht vergessen. Wir bleiben auf das Buch angewiesen. Ich glaube nicht, dass wir in 100 Jahren die Texte noch haben, die heute nur im Netz stehen. Bücher können 1.000 Jahre oder länger überdauern. Elektronische Texte müssten pausenlos transformiert, die Hardware müßte neben der Software archiviert werden, Spezialisten mit allem vertraut bleiben. Gedruckte Texte aber bleiben, einmal gedruckt, für immer. Gewiß, auch eine Bibliothek kostet Geld, aber ich glaube, nicht so viel wie jene Manpower, die nötig ist, um von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Ganze zu transformieren oder Spezialisten für überholte Software zu unterhalten. Und was die Planung betrifft, so meine ich, Wissen ist nie abgeschlossen und lässt sich schlechterdings nicht planen und kontrollieren, schon gar nicht für die Zukunft. Niemand kann sagen, was er morgen Abend weiß. Gewiß, wir können uns vornehmen, ein Gedicht auswendig zu lernen; vielleicht wird es tatsächlich geschehen. Aber was wir zusätzlich noch an Wissen erworben haben werden, kann niemand voraussagen. Wissen bleibt grundsätzlich offen für die Zukunft. Ich möchte es an einem wunderbaren Beispiel aus dem Mittelalter illustrieren. Da hieß es: Scientia donum Dei est, unde vendi non potest – Wissenschaft ist eine Gabe Gottes, deswegen darf sie nicht verkauft werden. Was machten jene großen Juristen daraus, die – wie übrigens auch Abaelard – ein Vermögen verdienen wollten? Sie fanden den Ausweg: Nein, Wissen würden sie nicht verkaufen, aber wenn sie in ihren Codices blätterten, Akten wälzten, um etwa einen Erbrechtsstreit zu entscheiden, dann sollte man diese Arbeit teuer bezahlen. Es gibt eben immer Auswege, auch wenn Ver- oder Gebote das Wissen lenken sollten. Als der Buchdruck aufkam, erkannte die Kurie schnell die Chancen, über einen Index das Wissen zu kontrollieren und zu lenken. Nach 20 Jahren war klar,

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dass dieses ganze Unternehmen weithin gescheitert war. Das Wissen ließ sich nicht indizieren. Dort freilich, wo die Indizierung strikter befolgt wurde, geriet die Wissenschaft bald ins Hintertreffen. Wissenschaft ist der Erneuerung und Erweiterung von Wissen bedürftig. Eine strikte Trennung zwischen Bildungswissen einerseits und technischem Nutzwissen andererseits lehne ich ab. Ich habe immer das Beispiel von Werner Heisenberg vor Augen, dem Sohn eines berühmten Byzantinisten. Er las fließend Altgriechisch in seiner Musezeit, las Platon auf Griechisch. Der Nobelpreisträger in Physik. Niemand kann zur Stunde sagen, was der Physiker der Platon-Lektüre verdankte. Anders formuliert: Wir wissen nicht, wie Kreativität gefördert, erreicht, gesteigert wird. Gewiß nicht nur durch einseitige, „fachenge“ wissenschaftliche Nabelschau. Kreativitätsförderung ist die entscheidende Aufgabe für Bildung, für Wissenschaft, für das, was wir an den Universitäten zu vermitteln haben. Eine Kreativität, die solche Flexibilität entfaltet, dass sie mit einer sich wandelnden Welt mithalten kann. Welches Wissen, das in seiner Gesamtheit auf den Erfahrungen der Vergangenheit beruht, können, dürfen wir da guten Gewissens beiseitelegen? Gerade das künstlerische „Wissen“, gerade das humanistische Wissen, von dem Herr Schefold sprach, scheint mir von herausragender Bedeutung zu sein, um solche Kreativität zu fördern, die Dinge anders zu drehen als bisher, anders sehen zu lernen als bisher. Meine Damen und Herren, wir müssen zum Schluss kommen, weil eine Pressekonferenz wartet, ist mir gesagt worden. Ökonomisierung der Wissensgesellschaft. Wir haben gehört, ja, wenn sie richtig betrieben wird. Wir haben von der Nationalbibliothekarin gehört, Konkurrenz ist gar nicht so schlecht, also Google ist nicht des Teufels. Wir haben gehört von Herrn Fried, dass die Konkurrenz am Beginn der Europäischen Universitäten stand und wir haben von Herrn Schefold den Zeigefinger gesehen und er hat diesen Zeigefinger sehr gut begründet. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, wenn ich die praktische Nutzanwendung daraus ziehe, muss es in der Wissenschaft auch die Leuchttürme, die Bewahrer geben und Herr Kollege Schefold ist sicherlich ein gutes Beispiel. Sie werden die Ökonomisierung, auch die richtige im Sinne von Herrn Frey, nicht aufhalten, aber doch begleiten und verankern und insofern kann man sagen, man kann die Hoffnung haben, dass alles nicht so schlimm wird.

Institutionen der Wissensgesellschaft

Die Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild der Universitätsverfassung Von Tim Drygala 1

I. Einleitung Pünktlich zum 600-jährigen Jubiläum der Universität Leipzig ist ein neues Sächsisches Hochschulgesetz in Kraft getreten. Dieses Gesetz führt mit dem Hochschulrat ein neues Gremium ein, das ersichtlich Gremienstrukturen aufnimmt, die aus Wirtschaftsunternehmen bekannt sind. Zudem werden die Rechte der Hochschulleitung gestärkt. Damit schließt sich Sachsen den schon in mehreren Bundesländern zu beobachtenden Tendenzen an, bei der Regelung öffentlicher Institutionen auf Regelungsinstrumente des Privatrechts zurückzugreifen. Dieser unter dem Begriff des New Public Management bekannt gewordene Ansatz verbindet sich mit Überlegungen, Erkenntnisse, die in der Diskussion über die Corporate Governance der Aktiengesellschaft gefunden wurden, auf öffentliche Institutionen zu übertragen (sog. Public Governance). Da sich zudem die Universität Leipzig in ihrem Jubiläumsjahr vorgenommen hat, das Thema der Ökonomisierung der Wissensgesellschaft näher zu beleuchten, besteht Anlass, gerade an dieser Stelle der Frage nachzugehen, ob und inwieweit aktienrechtliche Regelungen und Institutionen sich in den neuen Hochschulgesetzen wiederfinden und ob aktienrechtliche Regelungen zur Konkretisierung von hochschulrechtlichen Fragen herangezogen werden können.

II. Die Reform der Gruppenuniversität durch New Public Management 1. Von der Gruppenherrschaft zur Zielvereinbarung und Leitungsevaluation Nach der Abschaffung der Ordinarienuniversität und der Einführung der Gruppenuniversität in den 1970ern kamen einige Ansichten zu der Erkenntnis, dass 1

Prof. Dr. Tim Drygala ist Professor für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschaftsund Wirtschaftsrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig.

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Tim Drygala

auch dieser Organisationstypus gescheitert sei. 2 Geltend gemacht wurde, dass die Gremienstruktur den neuen Aufgaben der Hochschule nicht mehr gerecht werde. 3 Hauptursache hierfür sei die Tendenz zu Konsens auf kleinstem gemeinsamem Nenner und zu einer verantwortungslosen, da rechenschaftslosen, Blockadehaltung der Gruppen untereinander. 4 Angeführt wird außerdem eine Heterogenität von Wert- und Zielvorstellungen, die letztlich zu akademischem Individualismus und Qualitätsverlust führe. 5 Die Gremien- und Gruppenstruktur, die bisweilen als organisierte Unverantwortlichkeit 6 oder auch gelehrtenrepublikanisches Biotop 7 bezeichnet wird, wurde von dieser Kritik als ineffizient und zeitraubend bewertet. Es wurde daher gefordert, die Gruppenstruktur zu reduzieren und Entscheidungsprozesse zu verkürzen. 8 Mit dieser Kritik einher geht die Forderung, die Hochschule als Dienstleistungsunternehmen zu betrachten 9, das in Konkurrenz und Wettbewerb zu anderen Bildungseinrichtungen steht. 10 Diese Denkweise setzte Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Deutschland ein. In England begann sie schon ein Jahrzehnt früher. 11 Gefordert wird aus diesem Ansatz heraus eine differenzierte Profilbildung der Hochschulen sowie eine effiziente Leistungserstellung. Insbesondere steigende Studierendenzahlen 12 und knappe öffentliche Ressourcen 13 (Überforderung und Unterfinanzierung) sollen zu einer verantwortungsvolleren Ressourcenverwendung führen. 14 Oberstes Verwirklichungsprinzip ist hierbei der Rückzug des Staates aus der ex-ante-Detailsteuerung der Hochschule 15, die sich bisher in überregulier2 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 43 und 61; Müller-Böling / Fedrowitz (1998), S. 8; Klenk (2008), S. 90. 3 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 42; vgl. auch Meier (2009), S. 120 und 125. 4 Vgl. Lange / Schimank (2007), S. 535; vgl. auch Hartmer (2001), S. 481 f.; Schimank (2002), S. 25; Schröder (2008), S. 133 und 134. 5 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 43; Buckland (2004), p. 252 f. mit Verweis auf den Lambert Report, der gar von Inzestuosität spricht; Schelsky (1969), S. 39; Meier (2009), S. 112. 6 Wellbrock zitiert in Prußky (2000), S. 12; vgl. Klenk (2008), S. 53. 7 Müller-Böling (1999). 8 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 24; HRK (2004), S. 7. 9 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 24 ff.; Landtag Niedersachsen (2001), S. 63. 10 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 8; Lange / Schimank (2007), S. 540; Xuân-Müller (2008), S. 9 ff. 11 Buckland (2004), p. 251; Lange / Schimank (2007), S. 526. 12 Vgl. das Bonmot „Humboldt sei in der Masse erstickt“ von Erichsen (1992); vgl. Statistisches Bundesamt (2009), wonach es im Jahr 2008 die bisher höchste Studienanfängerzahl gab; Kempen (1999), S. 454 und 459; Baumgarten (1963), S. 6. 13 Vgl. Hartmer (2001), S. 480; Geis (2004), S. 18; Schenke (2005), S. 1000 f. 14 Vgl. Lange / Schimank (2007), S. 523.

Die Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild

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ten Hochschulgesetzen, zahlreichen Verordnungsermächtigungen und staatlichen Genehmigungsvorbehalten niederschlug. 16 Der Rückzug dabei muss im Zusammenhang mit einer effizienten Organisation des Hochschulbetriebes und einer flexiblen Entscheidungsstruktur stehen. 17 Autonomie der Hochschulen ist hierbei das geforderte Leitbild. Präferiert wird eine Mischung aus individueller Autonomie der Mitglieder sowie korporativer Autonomie der Korporation Hochschule selbst. 18 Mit dem Rückzug des Staates aus der prozessualen Detailsteuerung geht ein neues Verständnis über die staatliche Rahmensteuerung einher. 19 Diese erfolgt nun mittels Zielvereinbarungen zwischen Hochschulleitung und zuständigem Ministerium sowie Globalbudgets. Zielvereinbarungen sind dabei öffentlich-rechtliche Verträge im Gegenseitigkeitsverhältnis gem. §§ 54 ff. VwVfG, § 311 BGB. 20 Diese können aber auch auf den weiteren Ebenen, also zwischen Hochschulleitung und Fachbereichen / Fakultäten sowie zwischen Fachbereichen / Fakultäten und Lehrstühlen / Instituten geschlossen werden. Dabei soll sich die staatliche Lenkung auf die Bildung von Entwicklungszielen und Koordinationsaufgaben beschränken. Überwacht wird die Umsetzung von Effizienz und Effektivität vor allem durch Leistungsevaluationen. 21 Überschrieben werden kann diese Entwicklung letztlich mit den Begriffen der Ökonomisierung 22 und Managerialisierung 23 (New Public Management 24) der Hochschulen.

15 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 38 ff.; siehe auch Hartmer (2001), S. 482; Epping (2008), S. 423 und 426; Schröder (2008), S. 133 f. 16 Beispielhaft Landtag Nordrhein-Westfalen (2006), S. 2; Landtag Schleswig-Holstein (2006), S. 5; Lange / Schimank (2007), S. 525. 17 Vgl. Landtag des Freistaates Sachsen (2008), S. 1. 18 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 41; Sandberger (2002), S. 125; Meier (2009), S. 227 ff. 19 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 8. 20 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 58; Stoppel (2008), S. 75 ff.; Kilian (2005), S. 195 und 197. 21 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 9; vgl. Hessischer Landtag (2000), S. 30; Landtag Nordrhein-Westfalen (2006), S. 134; Schmoch (2008), S. 22 f.; Horstkotte (2001), S. 14 f.; Stoppel (2008), S. 79 ff.; Gärditz (2005), S. 407 ff.; kritisch: Hartmer (2001), S. 485. 22 Vgl. Hogrebe (2004), S. 19; Klatt / Koller (2008), S. 22 f.; Simon / Knie (2008), S. 21; Ahrndt-Herbst (2003), S. 26; Knoke (2008), S. 16; Stoppel (2008), S. 68 ff. und 92; vgl. auch Nagel (2008), S. 14 ff.; Hartmer (2001), S. 488. 23 Vgl. Landtag des Freistaates Bayern (2005a), S. 45; Knoke (2002), S. 14; Kehm / Lanzendorf (2008), S. 20. 24 Siehe dazu auch Hood (1991); OECD (1995); plakativ: Forssell (2002); Stoppel (2008), S. 61 ff.

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Tim Drygala

2. Kritische Stimmen Unumstritten sind die vorstehend wiedergegebenen Forderungen freilich nicht. Gegen den New Public Management-Ansatz werden insbesondere Bedenken vorgebracht, er führe zu einer tunnelartigen wissenschaftsfeindlichen 25 Verbetriebswirtschaftlichung, die das hochkomplexe Konstrukt Hochschule vereinfacht darstelle und letztlich monetären Erfolg über den Erkenntnisgewinn stelle. 26 Der staatliche Rückzug mit dem Ziel der Selbstorganisation der Hochschulen habe außerdem eine Zerfaserung von Staatlichkeit sowie eine Organisationsdiffusion zur Folge. 27 Kritisch wird demnach die „Privatisierung“ der Organisationsverantwortung betrachtet. 28 Insbesondere die Verringerung demokratischer Einflüsse der Gruppen, die mit dieser Entstaatlichung einhergeht, könne nicht akzeptiert werden. Auch sei das Ziel des NPM – Effizienz und Effektivität – nicht klar umrissen und aufgrund der Heterogenität der Universitäten auch nicht umreißbar. 29

III. Aktienrechtliche Analogie im Hochschulrecht? Die Sichtweise, die Hochschulen unter betriebswirtschaftlichen Aspekten als Unternehmen zu sehen, ist inzwischen weit verbreitet. 30 Angeführt werden hierfür die Buchwerte der Universitäten sowie jährliche Umsätze bzw. die verwendbaren Mittel 31 als auch die zumeist hohen Beschäftigtenzahlen. Daneben sind die Rechtshandlungen der Universitäten zu beachten. Sie schließen in gleichem Maße langfristige Verträge mit externen Anbietern 32 oder einmalige Kaufverträge zur Befriedigung des Sachbedarfs. Hingewiesen wird auch auf die verstärkte Wettbewerbssituation, in der sich Hochschulen befinden. Auch daraus wird die vergleichbare Interessenlage mit der unternehmerisch handelnden AG begründet. 33 25 26

Hartmer (2001), S. 478; vgl. Epping (2008), S. 423 und 427. Vgl. Nagel (2008), S. 14 f.; Hartmer (2001), S. 480, 483 und 490; Ipsen (2001),

S. 10. 27

Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 4 und 6. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 14 ff. m.w. N. 29 Vgl. Hartmer (2001), S. 485; Meier (2009), S. 155; Epping (2008), S. 423 und 444; Trute (2000), S. 134, 137 und 144 f. 30 Vgl. Buckland (2004), p. 251; vgl. Stoppel (2008), S. 71 ff.; a. A. Lüthje zitiert in: Dufner (2002), S. 16; Schipanski (2001), S. 12. 31 Warner in: Shattock (2006), S. x; Klenk (2008), S. 89; siehe auch schon Eulenburg (1909), S. 187. 32 Etwa Reinigungs-, IT-, Wartungsunternehmen. 33 Vgl. Warner in: Shattock (2006), S. ix. 28

Die Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild

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Weniger sicher ist, inwieweit aus diesem Befund rechtliche Konsequenzen zu ziehen sind. Denn sofern man die Universität als Großunternehmen sieht, wäre es denkbar, sich auch hinsichtlich ihrer rechtlichen Verfassung an der Organisation zu orientieren, die im Unternehmensrecht für Großunternehmen gedacht und vorgesehen ist, nämlich an der Aktiengesellschaft. Das gilt sowohl für den Gesetzgeber, der sich bei der Normierung der Hochschulverfassung an aktienrechtlichen Vorbildern orientieren könnte und dies zumindest sprachlich inzwischen auch tut. 34 Für den Rechtsanwender stellt sich die Frage, ob bei der Anwendung des neuen Hochschulrechts – etwa was die Arbeit in den neu geschaffenen Hochschulräten angeht – in Zweifelsfragen eine Orientierung an aktienrechtlichen Vorbildern möglich ist. Dazu müssten freilich die Verhältnisse in der (reformierten) Hochschule und der Aktiengesellschaft vergleichbar sein. Dieser Frage soll hier nachgegangen werden. 1. Interessenträger und Zielkonflikte a) Auf der Suche nach dem universitären Prinzipal Zweifel an der rechtlichen Vergleichbarkeit der beiden Organisationen ergeben sich aus der unterschiedlichen Interessenlage der beteiligten Akteure. Die aktienrechtliche Corporate Governance in ihrer heutigen Form wird überwiegend auf die Trennung zwischen Eigentum und Management zurückgeführt. 35 Aus dieser Trennung ergibt sich die Gefahr, dass sich das Management eigene, von der Zielsetzung der Eigentümer nicht gedeckte Handlungsspielräume eröffnet (hidden agenda) und Überwachungsdefizite zum eigenen Vorteil ausnutzt (moral hazard). 36 Es handelt sich um eine Problematik, die an die Interessenlage zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer erinnert und deshalb mit der sog. Prinzipal-Agenten-Theorie 37 erklärbar ist. Problematisch ist insoweit, dass Universitäten, was die beteiligten Interessen angeht, auf weitaus mehr Ebenen zu regieren haben als es in Unternehmen der Fall ist. 38 Zunächst ist festzustellen, dass Hochschulen keine Eigentümer oder Anteilseigner haben. 39 Daher ist der allgemeine Prinzipal im Sinne der Prinzipal-Agenten-Theorie, der ein legitimes Interesse am Erfolg der Organisation hat, nur schwierig zu identifizieren. 40 Des34

So werden in Baden-Württemberg inzwischen das Leitungsorgan der Hochschule als Vorstand, das Überwachungsorgan als Aufsichtsrat bezeichnet. 35 Grundlegend Jensen / Meckling (1976). 36 Vgl. Engert (2006), S. 2105 f.; eingehend Martinek in: von Staudinger (2006), Vorbem. zu §§ 662 ff. Rn. 73 f; Langenbucker (2008), Rn. 18. 37 Bearle / Means (1932). 38 Vgl. Shattock (2006), S. 1; vgl. auch Klenk (2008), S. 28. 39 Vgl. Shattock (2006), S. 2. 40 Vgl. Buckland (2004), p. 245 und 253.

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halb ist es auch nicht einfach, die Kontrollrechte in der Universität bestimmten Interessenträgern zuzuweisen. b) Handlungsgrenzen der Agenten Zweifel bestehen auch daran, ob sich die Hochschulleitungen ohne Weiteres mit dem Agenten im Sinne der Prinzipal-Agenten-Theorie gleichsetzen ließen. Eingewandt wird, dass Hochschulleitungspersonen in einem Bereich personeller Autonomie und pluraler Zielobjekte agierten. 41 In der englischen Literatur gesteht man zwar ein, dass einige HEIs (Higher Education Institutes) Unternehmensstatus und damit auch „Company-Boards“ aufweisen. 42 Jedoch stehen den Leitungsorganen Personen und Institutionen gegenüber, die stärker als die Mitarbeiter eines Unternehmens autonom und mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dies trifft zum einen auf das wissenschaftliche Personal als solches zu, dass hinsichtlich der Inhalte von Forschung und Lehre unter dem Schutz von Art. 5 Abs. 3 GG steht. Auch die Fakultäten sind selbst teilrechtsfähig im Rahmen der Angelegenheiten, die von Art. 5 Abs. 3 GG umfasst sind. 43 Dies verschafft ihnen die Möglichkeit der Abwehr von Eingriffen gegenüber anderen Hochschulorganen sowie dem Staat in treuhänderischer Funktion für die einzelnen Wissenschaftler 44 im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG. Von daher ergibt sich ein deutlicher Unterschied zum Vorstand einer Aktiengesellschaft 45, dem das arbeitsrechtliche Direktionsrecht gegenüber seinen Mitarbeitern unbegrenzt zusteht 46 und der diesen Anweisungen hinsichtlich des wo, wann und wie der Leistungserbringung erteilen kann, wenn er möchte, bis ins Tagesgeschäft hinein. Von daher ergibt sich eine deutliche grundrechtliche Überformung der Hochschulverfassung, die auch durch eine Analogie zu aktienrechtlichen Vorbildern nicht in Frage gestellt werden darf und einer Gesetzgebung Schranken setzt, die sich einseitig an wirtschaftsrechtlichen Vorbildern orientiert. c) Bestehende Gemeinsamkeiten Der vorstehend geschilderte Befund sollte aber nicht dazu verleiten, das unternehmensrechtliche Vorbild vorschnell für irrelevant zu erklären. Denn zum 41

Vgl. Shattock (2006), S. 3; ähnlich Knauff (2007), S. 380 und 392. Shattock (2006), S. 2 und 46. 43 Näher zur Rechtsnatur Knemeyer (2001), S. 539 und 546 f.; Lindner (2007), S. 254 und 359 ff.; Löwer / Sturm (2003), S. 308; Maurer (1977), S. 193 ff. 44 Lindner (2007), S. 254 und 277; Knemeyer (2001), S. 539 und 552. 45 Buckland (2004), p. 246. 46 Buckland (2004), p. 246; Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 16 f.; Raiser / Veil (2010), § 14 Rn. 1; vgl. auch Wiesner in: Hoffmann-Becking (2007), § 20 Rn. 14, 39 f. 42

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einen ist das Prinzipal-Agenten-Modell als Grundlage der Corporate Governance nicht unumstritten. Es gibt alternative Erklärungsansätze wie die StewardshipTheorie 47 oder den Ansatz, das Unternehmen als ein Netzwerk von Verträgen zu begreifen (Nexus of Contracts – Ansatz). 48 Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Ansätze bessere Erklärungen für das Zusammenwirken der Interessenträger in einer Hochschule liefern, als es der recht monokausale Erklärungsversuch der Prinzipal-Agenten-Theorie vermag; freilich kann das im Rahmen dieses Beitrags nicht vertieft werden. Zum anderen ist es auch in einem Unternehmen keine Seltenheit, dass die Leitung mit mehreren eigenständigen Interessenträgern konfrontiert wird. Das begegnet im deutschen Unternehmensrecht vor allem in Gestalt der Arbeitnehmerinteressen, die durch eine starke Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene gewährleistet werden, und die bei Aktiengesellschaften mit mehr als 500 Arbeitnehmern zudem auf der Unternehmensebene durch die Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat direkt auf die unternehmerischen Entscheidungen einwirken. Weiterhin ist nach nicht unbestrittener, aber überwiegender Meinung der Vorstand gehalten, sein Leitungsverhalten nicht allein an den Interessen der Anteilseigner, sondern auch an den Interessen sonstiger Beteiligter auszurichten. 49 Und drittens sind Unternehmen in Deutschland typischerweise nicht als Einzelunternehmen, sondern als Unternehmensgruppe (Konzern) verfasst. Im Konzern bestehen aber in Gestalt der Tochtergesellschaften eigenständige juristische Personen, über deren Interessen sich der Vorstand der Muttergesellschaft nicht schrankenlos hinwegsetzen darf. Das gilt vor allem, wenn es sich bei der Tochter ihrerseits um eine Aktiengesellschaft handelt, die (auch bei Bestehen eines Konzerns) von ihrem eigenen Vorstand nach dessen Ermessen geleitet wird (vgl. §§ 76, 311 AktG). 50 Daher ist gerade im deutschen Unternehmensrecht die Interessenpluralität keine wirkliche Besonderheit. Dann aber ist die Kritik, die in der englischsprachigen Literatur an dem unternehmensrechtlichen Modell geübt wird 51, möglicherweise nur deshalb nicht treffend, weil sie von einem unbeschränkt herrschenden Chief Executive Officer und einer alleinigen Ausrichtung der Leitung an den Aktionärsinteressen (Shareholder Value 52) ausgeht 47

Muth / Donaldson (1998), Vol. 6, No. 1. Vor allem Teubner (2002), S. 311 ff. 49 Sog. Unternehmensinteresse, vgl. Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 63 ff., 69 ff. m.w. N.; Schmidt (2002), § 28 II 1a, S. 805 f.; Blair (1995), S. 102 ff.; rechtsvergleichend Fleischer (2009), S. 185 ff. 50 Vgl. Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 45 ff.; Fleischer in: Spindler / Stilz (2007), § 76 Rn. 89 f.; Hüffer (2008), § 76 Rn. 19. 51 Siehe oben bei Fn. 40. 52 Vgl. Rappaport (1988), passim; zur bisherigen Dominanz dieser Theorie im englischen und amerikanischen Unternehmensrecht vgl. Blair (1995), S. 202 ff.; Groh (2000), S. 2153 ff. 48

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und dabei die Möglichkeit einer stärker plural verfassten Unternehmung außer Betracht lässt. Schließlich ist es weder erforderlich noch wünschenswert, die Hochschule insgesamt allein aus einem unternehmensrechtlichen Blickwinkel heraus zu betrachten. 53 Es genügt, dass sich Teilähnlichkeiten ergeben, die in Gestalt eines Organisationsrechts mit administrativen, ökonomischen sowie juristischen Aspekten 54 zweifellos vorhanden sind. Ebenso wird zugestanden, dass CorporateGovernance-Reformen in England maßgeblichen Einfluss auf die Verfassungen der Universitäten hatten. 55 Von daher lohnt es sich, der Frage nachzugehen, inwieweit die Organe im Einzelnen Bezüge zu aktienrechtlichen Vorbildern aufweisen. 2. Die Organe im Einzelnen a) Vorstand und Hochschulleitung Der Vorstand einer AG leitet diese in eigener Verantwortung, § 76 Abs. 1 S. 1 AktG, Ziff. 4.1.1 S. 1 Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK). Hierunter fallen originäre Führungsfunktionen, wie Unternehmenskoordinierung, -kontrolle und Besetzung von Führungspositionen. 56 Daneben gehört dazu das Treffen von Führungsentscheidungen, aber auch die Bearbeitung des Tagesgeschäfts. 57 Die Schaffung einer Compliance-Organisation wird nach neuerer Diskussion ebenso zu den Leitungspflichten gezählt. 58 Zu den weiteren Pflichten gehören die Vorbereitung und Ausführung von HVBeschlüssen nach § 83 AktG sowie die Berichterstattungspflicht aus § 90 AktG, außerdem die Aufgaben aus §§ 67, 91, 92, 110 Abs. 1, 118 Abs. 2, 119 Abs. 2 i. R. d. ungeschriebenen HV-Kompetenzen, §§ 121 Abs. 2, 124 Abs. 3, 161, 170, 245 Nr. 4 AktG. Die Übertragung dieser Leitungsaufgaben an andere, untergeordnete Ebenen sowie Dritte ist nach einhelliger Ansicht unzulässig. 59 Lediglich 53

Vgl. Shattock (2006), S. 54 f.; Kehm / Lanzendorf (2008), S. 21. Vgl. Kwickers (2005), p. 73 ff. 55 Vgl. Shattock (2006), S. 40 und 44; insbesondere Lambert Code, vgl. Buckland (2004), p. 243 f. 56 Vgl. Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 16.; Hüffer (2008), § 76 Rn. 8; Fleischer in: Spindler / Stilz (2007), § 76 Rn. 15 ff. 57 Vgl. Spindler in: Goette / Habersack (2009), Vor § 76 Rn. 40; Wiesner in: HoffmannBecking (2007), § 19 Rn. 14. 58 Vgl. Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 17; Schneider (2003), S. 645 ff.; Hüffer (2008), § 76 Rn. 8. 59 Vgl. Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 19; Mertens in: Zöllner / Noack (2010), § 76 Rn. 43; Fleischer (2003a), S. 1 f.; Bürgers / Israel in: Bürgers / Körber (2008), § 76 Rn. 8, 19 f.; Hüffer (2008), § 76 Rn. 7. 54

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vorbereitende Hilfsfunktionen können ausgelagert werden. 60 Der Vorstand ist zugleich Vertretungsorgan der AG, § 78 Abs. 1 S. 1 AktG. Er vertritt die Gesellschaft als Gesamtvorstand gerichtlich und außergerichtlich. Der Vorstand entscheidet unter Beachtung der Zuständigkeitsordnung, der Satzung und der Gesetze innerhalb eines unternehmerischen Ermessensspielraums. Sein Handeln hat er dabei am Unternehmensinteresse auszurichten (vgl. Ziff. 4.1.1 S. 2 DCGK), das nach überwiegender Auffassung sowohl shareholder- als auch stakeholder-Interessen umfasst. 61 Verstöße gegen diese Vorgaben an ein ordnungsgemäßes Leitungsverhalten können zur Schadensersatzhaftung des Vorstands nach § 93 AktG führen. Die neuen Hochschulgesetze haben zu einem Rückzug des Staates aus der Detailsteuerung geführt, der mit einer Stärkung der Leitung der Universitäten einhergeht. 62 Die Kompetenzen der Leitungsebene, d. h. Rektorat oder Präsidium, sind kontinuierlich erweitert und ihre Stellung gegenüber anderen Kollegialorganen erheblich gestärkt worden. 63 Ziel dessen ist eine Professionalisierung der zentralen Führungsorgane. 64 Im Mittelpunkt steht die strategische Führung 65 durch Präsidien und Rektorate, die mit durchsetzungsfähigen Führungspersönlichkeiten besetzt sind. Leitlinie der reformierten Aufgabenverteilung ist eine stärkere Trennung von operativen Aufgaben, d. h. solchen des Finanzwesens, der Wirtschafts- und Vermögensverwaltung sowie der Mittelverteilung, von Grundsatzund Kontrollaufgaben. 66 Den Leitungsorganen wird im neuen Staats-HochschulVerständnis die Aufgabe des Abschlusses von Zielvereinbarungen zugewiesen. 67 Damit legen diese den Grundstein für die weitere Finanzierung und Entwicklung der Hochschule auf vertraglicher Ebene mit den Ländern. Außerdem erstellen diese die Struktur- und Entwicklungspläne, die vom Hochschulrat zu beschlie60 Vgl. Fleischer (2003a), S. 1 und 11; Bürgers / Israel in: Bürgers / Körber (2008), § 76 Rn. 20. 61 Vgl. hierzu Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 64 ff., 76 ff.; Hüffer (2008), § 76 Rn. 12b; Hopt (1993), S. 534 und 536; Raiser / Veil (2010), § 14 Rn. 14. 62 BVerfG, NVwZ (2005), S. 315 und 318; Müller-Böling (2000), S. 38 ff; Hartmer (2001), S. 482; Epping (2008), S. 423 und 436; Schröder (2008), S. 133 f.; Meier (2009), S. 134 ff.; a. A. für die Landesgesetzgebung Stand 2002 Sandberger (2002), S. 125 und 136 ff.; ähnlich Kilian (2005), S. 195 und 199 f. 63 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 5; Landtag des Freistaates Sachsen (2008), S. 2; Landtag von Baden-Württemberg (2004), S. 2; Landtag des Freistaates Bayern (2005b), S. 4; Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (2002), S. 1 und 20; Landtag Hessen (2000), S. 29; Landtag des Freistaates Thüringen (2006), S. 2. 64 Vgl. Landtag Brandenburg (2008). 65 Müller-Böling (2000), S. 48; Klenk (2008), S. 93. 66 Vgl. Landtag Hessen (2000), S. 35; Landtag des Freistaates Sachsen (2008), S. 2 und 5. 67 Vgl. Baden-Württemberg, § 16 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 HG; Bayern, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 HG; Hamburg, § 79 Abs. 2 Satz 2 HG; Sachsen, § 83 Abs. 3 Nr. 3 HG.

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ßen sind. Als Stärkung der Leitung wird zudem die Normierung des Beschlusses über die Berufungsvorschläge auf Seiten der Leitung verstanden. 68 Die Leitung vollzieht darüber hinaus die Beschlüsse der zentralen Organe. 69 Den Präsidenten bzw. Rektoren wird eine Richtlinienkompetenz zugestanden. 70 Überdies sind sie für die Genehmigung von Satzungen außer der Grundordnung zuständig. Zudem wurde in einigen Bundesländern die Universitätsleitung als Dienstvorgesetzter des gesamten wissenschaftlichen und künstlerischen Personals eingesetzt. 71 Gegenüber den Dekanen bestehen Aufsichts- und Weisungsrechte, um die angemessene Aufgabenerfüllung in Forschung und Lehre auf der Arbeitsebene zu kontrollieren. Deutliche Zeichen für eine mittelbare Stärkung in akademischen Fragen sind aber Entscheidungsbefugnisse über Strukturänderungen unterhalb der zentralen Ebene. Der Senat nimmt hier meist nur noch Stellung zu derartigen Fragen. 72 Weiterhin kommt der Hochschulleitung eine Aufsichtsfunktion gegenüber den Gremien und Hochschulräten bzgl. deren Beschlüssen zu. Sind diese rechtswidrig, muss die Leitung dies beanstanden und die Umsetzung verweigern oder aussetzen. Auch Auflösungsbeschlüsse für die betreffenden Gremien sind möglich. 73 Die vorstehende Kompetenzbeschreibung verdeutlicht, dass die Hochschulleitung nach dem New Public Management-Ansatz (NPM) als unternehmerisch agierendes und mit Managementprinzipien vertrautes Organ verstanden wird. Dies wird auch gesetzgebungstechnisch umzusetzen versucht. 74 So wird vor allem der strukturelle Aufbau des Organs demjenigen eines Vorstands angeglichen. Es gibt einen Vorsitzenden – den Präsidenten oder Rektor –, der Vorstandsvorsitzaufgaben innehat. Zunächst ist dabei die Funktion des Vorsitzes an sich zu nennen. Er vertritt die Hochschule nach außen gerichtlich und außergerichtlich, hat außerdem eine Richtlinienkompetenz sowie die ausschlaggebende Stimme bei Stimmengleichheit. Er ist für die Geschäftsverteilung zuständig. Das Amt wird zumeist hauptberuflich ausgeübt. Eine weitere Angleichung besteht daneben in der öffentlichen Ausschreibung des Amtes, da dies auch die Bewerbung außeruniversitärer Interessenten zulässt. Es werden überdies Kollegialorgane teil68 So in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg (nach Übertragung), Bremen, Hamburg, Hessen (in Einvernehmen mit Ministerium), Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen. 69 Bspw. Baden-Württemberg, Saarland. 70 In Bayern, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen. 71 Etwa Sachsen, § 78 Abs. 2 Satz 3 HG. 72 Hessen, § 42 V LHG. 73 Vgl. Bayern, Art. 20 III 3 LHG. 74 Vgl. Landtag Niedersachsen (2001), S. 63 und 79 f.; Landtag des Saarlandes (2004), S. 80.

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weise unter Abschaffung des Kanzlers eingeführt. Dem Präsidenten steht hier häufig das Recht zu, einen starken Einfluss auf die weitere Besetzung des Leitungsorgans bis hin zum Kanzleramt zu nehmen. Dies soll Kooperationsfähigkeit und effizientes Arbeiten sichern. Grenzen ergeben sich jedoch hinsichtlich der Aufgaben des Gremiums. Trotz aller wirtschaftlicher Ausrichtung der Hochschulen ist es unumgänglich, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Freiheit von Forschung und Lehre zu beachten sind. Das führt zu einer Trennung von finanziell-organisatorischen Aufgaben und solchen, die das BVerfG als wissenschaftsrelevante Aufgaben 75 bezeichnet. Für den letzteren Bereich ist seit jeher der Senat der Hochschulen zuständig. Er ist traditionell das Organ, in welchem die Gruppenuniversität ihre stärkste Verankerung fand. Dies wurde auch trotz der NPM-Reformen beibehalten. Im Zuge der Forcierung auf eine einheitliche und starke Leitung wurden die Senate jedoch verkleinert. 76 Ihre Aufgaben wurden in stärkerem Maße auf ihre eigentlichen akademischen Angelegenheiten konzentriert. 77 Einzelne Aufgaben entfielen oder es wurden Zustimmungsvorbehalte in Stellungnahmen und Empfehlungen umgewandelt. Die bisher im Senat beratend tätigen Dekane wurden in einigen Bundesländern in die erweiterte Hochschulleitung umorganisiert. 78 Die Trennung zwischen einem finanziell-organisatorischen und einem akademischen Aufgabenbereich findet sich auch sonst in den Aufgaben der Hochschulleitung. In Unternehmen bzw. Aktiengesellschaften gibt es diese Trennung naturgemäß nicht. Vielmehr trägt der Vorstand die Verantwortung für beide Bereiche auf strategischer Ebene. In der Universität ist die Leitung im Kern auf den finanziell-organisatorischen Bereich sowohl operativ als auch strategisch begrenzt. Die akademische Verantwortung verbleibt hauptsächlich bei den gruppengeleiteten Gremien. Im Koordinatensystem der Zuständigkeiten überschneiden sich demnach diejenigen von Vorstand und Hochschulleitung nur auf der strategischen finanziell-organisatorischen Ebene. Ferner ist die Hochschulleitung stärker als der Vorstand einer AG darauf angewiesen, mit Hochschulräten oder Senaten oder gar beiden gleichzeitig in Form von Zustimmungsvorbehalten, Stellungnahmerechten oder Empfehlungsbefugnissen zusammenzuarbeiten. Diese sind stärker ausgeprägt als im Aktienrecht, das überwiegend vom Alleinführungsrecht des Vorstands geprägt ist. 79 Im finanziell-organisatorischen Bereich ist die Hochschulleitung aber als Entscheidungsorgan mit dem Vorstand der AG vergleichbar, da auch dieser Zustim75 76 77 78 79

BVerfGE Bd. 35, S. 79 und 91. In Bayern beträgt die Mitgliederzahl nur noch 9. Vgl. Landtag des Freistaates Sachsen (2008), S. 2. Bayern, Hessen, Saarland. Vgl. Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 76 Rn. 1; Hüffer (2008), § 76 Rn. 4.

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mungsvorbehalte des Aufsichtsrats (§ 111 IV AktG) und Stellungnahme- und Informationsrechte des Betriebsrats nach § 80 BetrVG beachten muss. 80 b) Aufsichtsrat und Hochschulrat aa) Aufgaben der Aufsichtsräte Der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft ist zur Erfüllung einer Vielzahl von Aufgaben verpflichtet. 81 Hervorzuheben sind jedoch die Personalkompetenz, § 84 AktG, die Vertretung der Gesellschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern, § 112 AktG, und die eigentliche Überwachungsaufgabe, § 111 Abs. 1 AktG. Die zuletzt genannte Aufgabe macht den Kern der Tätigkeit aus und unterscheidet den Aufsichtsrat von anderen Gremien, z. B. den im GmbH-Recht verbreitet anzutreffenden Beiräten. 82 Die Pflicht ist als Dauerobligation ausgestaltet, beinhaltet also die regelmäßige und dauerhafte Ausübung. 83 Erfasst sind alle Geschäftsführungsmaßnahmen, die für die weitere Entwicklung und Lage des Unternehmens eine maßgebliche Bedeutung haben 84 sowie alle weiteren Funktionen eines Vorstandsmitglieds. 85 Neben einer nachträglichen Kontrolle der Tätigkeit ist der Aufsichtsrat auch zu einer vorherigen, zukunftsgerichteten Beratung verpflichtet. Weisungsrechte gegenüber dem Vorstand kommen ihm hierbei jedoch nicht zu. 86 Verwirklicht wird die Erfüllung der Überwachungsaufgabe mittels eines umfassenden Berichtssystems, § 90 AktG. Der Vorstand unterliegt danach einer Bringschuld für überwachungs- und beratungsrelevante Informationen. Darüber

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In der Bewertung wie hier Ipsen (2001), S. 10. Dazu gehören neben den im Text genannten die Zustimmung zur Aufnahme von Wettbewerb und zum Abschluss bestimmter Verträge, §§ 88, 89, 114, 115 AktG, Aufgaben betreffend die Zusammensetzung und Delegation von Aufsichtsratsmitgliedern in den Vorstand, §§ 88, 89, 114, 115 AktG, Aufgabenzuweisung innerhalb des Aufsichtsrats, § 107 AktG, Entgegennahme des Jahresabschlusses und des Lageberichts, §§ 90, 170 AktG, Prüfung des Jahresabschlusses, Lageberichts, Konzernabschlusses, Konzernlageberichts und Gewinnverwendungsvorschlags, § 171 Abs. 1 AktG, Mitwirkung an der Feststellung des Jahresabschlusses, § 172 AktG, Billigung des Konzernabschlusses, § 171 Abs. 2 S. 5 AktG, Prüfung des Abhängigkeitsberichts, § 314 AktG und weitere in §§ 33 Abs. 1, 58 Abs. 2, 59 Abs. 3, 111 Abs. 2 S. 3, 124 Abs. 3, 161, 204 Abs. 1 S. 2 AktG geregelte Aufgaben. 82 Zu diesen Spindler / Kepper (2005), S. 1738 ff.; Bacher (2005), S. 465 ff.; Huber (2004), S. 772 ff. 83 Vgl. Spindler in: Spindler / Stilz (2007), § 111 Rn. 16; Mertens in: Zöllner / Noack (2010), § 111 Rn. 12; Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 18. 84 Hüffer (2008), § 111 Rn. 3; Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 19. 85 Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 24; Semler (1996), Rn. 122 ff. 86 Spindler in: Spindler / Stilz (2007), § 111 Rn. 16; Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 12, 29, 43; Hoffmann-Becking (2007), § 29 Rn. 26. 81

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hinaus stehen dem Aufsichtsrat ein Einsichts- und Prüfungsrecht gem. § 111 Abs. 2 S. 1, 2 AktG zu. Zur Durchsetzung der Überwachungsmaßnahmen stehen dem Aufsichtsrat sowohl repressive als auch präventive Instrumentarien zur Verfügung. Als repressiv sind beispielsweise die Inanspruchnahme aus § 93 Abs. 2 AktG 87 aber auch Stellungnahmen und Beanstandungen 88 zu werten. Ebenso sind die Möglichkeit der Abberufung aus § 84 Abs. 3 S. 1 AktG als auch die Einberufung einer HV nach § 111 Abs. 3 AktG zum Zwecke des Vertrauensentzuges hierzu zu zählen. Die Billigung des Jahres- und Konzernabschlusses kann verweigert werden. Eine Klage, die gegen rechtswidriges Vorstandshandeln gerichtet ist, soll hingegen ausscheiden. 89 Präventiv wirkt die Verankerung von Zustimmungsvorbehalten. Die Ausübung der Geschäftsordnungsbefugnis nach § 77 Abs. 2 S. 1 AktG kann ebenfalls lenkende Wirkung haben. Der Aufsichtsrat handelt mit dem Ziel, den Vorstand zu einer sorgfältigen Leitung des Unternehmens mit dem Leitbild des Unternehmensinteresses zu führen. Den Maßstab bilden sowohl die Rechtmäßigkeit als auch die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Vorstandshandelns. 90 Letzteres ist jedoch nur i. R.e. mittel- und langfristigen Planung der Überprüfung unterworfen. 91 Im Unternehmensinteresse liegt auch eine effiziente Überwachung begründet. Sie verpflichtet den Aufsichtsrat, Berichte und Informationen vom Vorstand einzuholen. Er unterliegt demnach einer Selbstverantwortung für die Wahrnehmung seiner Aufgaben. 92 Der DCGK empfiehlt in diesem Zusammenhang eine Selbstevaluation nach dem Muster einer Effizienzprüfung, Ziff. 5.6 DCGK sowie den Erlass einer Informationsordnung, Ziff. 3.4 III DCGK. bb) Aufgaben der Hochschulräte Im Zuge der universitären Reformen wurden in nahezu jedem Bundesland 93 universitäre Hochschulräte eingeführt, wobei deren Bezeichnungen differieren 87

Hüffer (2008), § 111 Rn. 4a; Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 34. Hüffer (2008), § 111 Rn. 4; Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 32; Spindler in: Spindler / Stilz (2007), § 111 Rn. 30. 89 Vgl. Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 33. 90 BGHZ, Bd. 114, S. 127 und 129 f.; Spindler in: Spindler / Stilz (2007), § 111 Rn. 14 ff.; Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 42. 91 Vgl. Hüffer (2008), § 111 Rn. 6; Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 43. 92 Vgl. Habersack in: Goette / Habersack (2009), § 111 Rn. 47; Spindler in: Spindler / Stilz (2007), § 111 Rn. 30. 93 Ausnahmen: Brandenburg mit einem Landeshochschulrat; Bremen; Schleswig-Holstein mit zusätzlichem Universitätsrat. 88

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können. 94 Als Ziele der Einführung werden die Herstellung einer Verbindung der Hochschule zur Öffentlichkeit bzw. Wirtschaft, Profilbildung und Schwerpunktsetzung und Stärkung der Handlungsfähigkeit sowie strategischer Planungs- und Entscheidungskompetenz genannt. Vordergründig sollen die Hochschulleitungen in diesen Bereichen von der Managementkompetenz der externen Mitglieder profitieren. 95 Grundaufgaben dieser Hochschulräte sind Verhandlungen mit staatlichen Vertretern (buffer institutions), Mitwirkung an der strategischen Ausrichtung der Hochschule sowie die Aufsicht gegenüber der Hochschulleitung. Es ist festzustellen, dass die Kompetenzen je nach Bundesland erheblich divergieren. 96 So reichen die Befugnisse von einer bloßen Beratung 97 bis hin zu weitreichenden Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen. 98 Daher ist festzustellen, dass sich Analogien zum Recht des Aufsichtsrats dort verbieten, wo der Hochschulrat keine Aufsichtsbefugnisse hat. Gerade diese kennzeichnen die Tätigkeit des Aufsichtsrats und bilden die Grundlage für seine weitergehenden Befugnisse, z. B. das Recht auf umfassende Information und Einsicht in die Geschäftsvorgänge. Organe, die keine Aufsichtskompetenz haben, sind keine Aufsichtsräte, sondern Beiräte 99, und sollten auch nicht als Aufsichtsräte bezeichnet werden, um Fehlvorstellungen in der Öffentlichkeit hinsichtlich ihrer Befugnisse vorzubeugen. Die Aufsichtsfunktion ist bei den vorhandenen Hochschulräten jedoch teilweise durchaus gegeben. Die Aufsicht umfasst hierbei sowohl Beratungs- und Mitwirkungs- als auch Kontrollrechte im Hinblick auf die Leitungsaktivitäten. Spezifische Aufgaben der Hochschulräte sind hierbei die Bestellung der Hochschulleitung 100, die Mitwirkung an der Haushaltsführung sowie dem Erlass oder der Änderung der Grundordnung. 101 Zudem werden Jahresabschlüsse und Jahresberichte entgegengenommen 102 und beraten sowie die Hochschulleitung 94 Baden-Württemberg – Aufsichtsrat; Berlin – Kuratorium; Saarland – Universitätsrat; Sachsen-Anhalt – Kuratorium. 95 Vgl. Landtag von Mecklenburg-Vorpommern (2001), S. 81. 96 Vgl. Lange / Schimank (2007), S. 539; Knauff (2007), S. 380 und 386. 97 Hessen, § 48 LHG; Mecklenburg-Vorpommern, § 86 LHG; Sachsen-Anhalt, § 74 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 LHG. 98 Baden-Württemberg, § 20 LHG; Niedersachsen, § 60 LHG (wobei hier in der Rechtsform der Stiftung). 99 Statt vieler vgl. Lutter / Hommelhoff (2009), § 53 Rn. 61. 100 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 1 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 2, 3, 4 LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 1 LHG; Niedersachsen § 52 I 1 Nr. 2 lit. d, 3, § 60 II 2 Nr. 1 LHG; Nordrhein-Westfalen, § 21 I 2 Nr. 1 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 1 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 1 LHG. 101 Baden-Württemberg, § 20 I 2 Nr. 13 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 1 LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 3 LHG; Niedersachsen, § 60 II 2 Nr. 8 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II

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entlastet. 103 Das sind jedoch in der Aktiengesellschaft Aufgaben der Hauptversammlung (vgl. § 119 Abs. 1 AktG), und keine spezifischen Aufsichtsaufgaben. Ferner wird in einigen Bundesländern die Stellungnahme zu den Leistungsbezügen der Hochschulleitung nach § 33 BBesG ausdrücklich dem Hochschulrat zugewiesen. 104 Im Übrigen ist jedoch festzustellen, dass bei den Hochschulräten doch eher die Beratungsaufgabe im Vordergrund steht. So treffen die Hochschulräte Beschlüsse über Struktur- und Entwicklungspläne 105, tragen zur Profilbildung 106 bei und sollen bei der Hochschulorganisation (Fachbereiche, Einrichtungen) 107 Einfluss nehmen. Sie sind bei der Gründung von oder Beteiligung an wirtschaftlichen Unternehmen zu beteiligen. 108 Darüber hinausgehend wird Ihnen eine Schlüsselrolle im Rahmen des neuen Steuerungsinstruments der Zielvereinbarungen zugestanden. Hochschulräte fassen hier Beschlüsse oder nehmen zum Abschluss der Vereinbarung Stellung. Des Weiteren sind sie für die Aufsicht über deren Erfüllung und Durchführung verantwortlich. 109 Zu beachten ist ferner, dass ein Teil der originären Überwachungsaufgaben nach wie vor beim Senat angesiedelt ist. In einigen Bundesländern wird vorNr. 1 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 8 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I 1 Nr. 2 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 3 LHG. 102 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 8, 14 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 10 LHG; Hessen, § 48 II 2 Nr. 1 LHG; Niedersachsen, § 60 II 1 Nr. 5 LHG; Nordrhein-Westfalen, § 21 I 2 Nr. 4 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 8, 10 LHG; Sachsen-Anhalt, § 74 I 4 Nr. 3 LHG. 103 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 14 LHG; Hessen, § 100 f. V Nr. 2 LHG; Niedersachsen, § 60 II 2 Nr. 5 LHG; Nordrhein-Westfalen, § 21 I 2 Nr. 6 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 9 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 9 LHG. 104 Baden-Württemberg, § 20 VII LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 9 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 III LHG. 105 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 3 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 5 LHG; Berlin, § 65 I 1 Nr. 5 LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 4 LHG; Hessen, § 48 II Nr. 1 LHG; Mecklenburg-Vorpommern, § 86 III LHG; Niedersachsen, § 52 I 1 Nr. 2 lit. a LHG; NordrheinWestfalen, § 21 I 2 Nr.2 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II 2 Nr. 4, 6 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 1 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 5 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I Nr. 6 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 4 LHG. 106 Baden-Württemberg, § 20 I 1 LHG; Hamburg, § 84 II 1 LHG; Mecklenburg-Vorpommern, § 86 III 1 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II 1 LHG; Saarland, § 20 I 1 LHG; Sachsen, § 86 I 1 LHG; Sachsen-Anhalt, § 74 I 4 Nr. 2 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I Nr. 6 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 4 LHG. 107 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 9 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 6, 8 LHG; Berlin, § 65 I 1 Nr. 4 LHG; Hessen, § 48 II 2 Nr. 4. 108 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 6 LHG; Niedersachsen, §§ 52 I 1 Nr. 2 lit. b, 60 II 2 Nr. 6 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II Nr. 2 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 6 LHG. 109 Bayern, Art. 26 V 2 LHG; Hessen, § 48 II 1 Nr. 3 LHG; Niedersachsen, §§ 51 I 1 Nr. 2 lit. c, 60 II 3 LHG; Sachsen, § 86 I 2 Nr. 11 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I Nr. 10 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 6 LHG.

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rangig dieser als Aufsichtsorgan ausgestaltet. 110 Hier wird den Hochschulräten zumeist nur eine beratende und mitwirkende Funktion bei der Hochschulentwicklung zugestanden. 111 Zudem übernimmt der Senat oder der erweiterte Senat in einigen Hochschulgesetzen an Stelle des Hochschulrates die Aufgabe der Wahlbzw. Abwahl der Leitung. 112 Zumeist wirken Hochschulrat und Senat bei dieser jedoch zusammen (Prinzip der doppelten Legitimation). cc) Fazit Hochschulräte wurden demnach gebildet, um die reduzierte staatliche ex-anteLeitung auszugleichen und durch ein internes Kontrollsystem zu ersetzen. Sie sind Surrogat staatlicher Kontrolle. 113 Die strategische Führung wurde teilweise auf sie verlagert. 114 Hinsichtlich der Besetzung hat sich bisher das duale Modell etabliert, d. h. die Mitgliedschaft interner Hochschulangehöriger und externer (hochschulfremder) Mitglieder. 115 Die externen Mitglieder stammen dabei zumeist aus Wirtschaft und Wissenschaft; es soll sich bei ihnen vornehmlich um Personen mit Managementkompetenz handeln, die Erfahrung in der Verwendung sehr hoher Geldmittel haben. 116 Überdies müssen die Mitglieder mit dem Hochschulwesen und dem Wissenschaftsbetrieb vertraut sein. Ein Vergleich der Aufgaben zeigt, dass eine Übereinstimmung vor allem in Bezug auf die Personalkompetenz besteht; diese steht sowohl den Aufsichtsräten als auch den Hochschulräten im eigentlichen Sinne zu. Insofern haben sich die Ländergesetzgeber den aktienrechtlichen Aufsichtsrat an einigen Stellen ausdrücklich zum Vorbild genommen. 117 Diese Personalkompetenz hat auch der Hochschulrat fast in jedem Bundesland, sei es aufgrund einer direkten Wahl / Abwahl-Kompetenz, sei es durch ein Vorschlagsrecht bzw. Zustimmungsrecht 110 Vgl. Landtag von Mecklenburg-Vorpommern (2001), S. 82, 112; Landtag SchleswigHolstein (2006), S. 24. 111 So ausdrücklich Landtag von Mecklenburg-Vorpommern (2001), S. 114. 112 Bspw. Mecklenburg-Vorpommern; Sachsen. 113 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 14; Mayntz (2002), S. 21 ff.; Hoffacker (2000), S. 130; Laqua (2004), S. 32. 114 Vgl. Müller-Böling (2000), S. 50. 115 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 12 f. und 23 ff.; Van Bebber (2001), S. 14. 116 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 6. 117 Vgl. Landtag von Baden-Württemberg (2004), S. 195; Landtag des Freistaates Bayern (2005b), S. 46 und 56; Landtag Hessen (2000), S. 2 und 30, bei welcher von der „Berufswelt“ gesprochen wird; Landtag Nordrhein-Westfalen (2006), S. 148 mit dem ausdrücklichen Verweis auf § 84 Abs. 3 S. 2 AktG bzgl. der Abwahl der Leitung; Landtag Schleswig-Holstein (2006), S. 19 f.; Ipsen (2001), S. 8 ff.; kritisch dazu Hartmer (2001), S. 484; für Österreich Lange / Schimank (2007), S. 537.

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für die Wahl bzw. Abwahl. In einigen Bundesländern wird sogar ausdrücklich die Möglichkeit zur Festlegung der Bezüge i. R. d. § 33 BBesG zugestanden. Deutliche Ähnlichkeiten ergeben sich hinsichtlich der Einsichts-, Prüfungsund Informationsrechte. Hier ist vorstellbar, dass daraus ein Berichtssystem durch die Hochschulleitung entsteht, das an das in § 90 AktG vorgesehene angenähert ist. 118 Hinsichtlich der Aufsichtsfunktion ist festzustellen, dass dem Hochschulrat kaum Eingriffs- bzw. Durchsetzungskompetenzen zur Verfügung stehen. Zumeist soll dieser auf eine hochschulinterne Klärung hinwirken. Erst bei schwerwiegenden Beanstandungen ist das zuständige Ministerium zu benachrichtigen. Ferner fehlt den Hochschulräten die Kompetenz, bestimmte Maßnahmen des Vorstands durch Beschluss für zustimmungsbedürftig zu erklären, § 111 IV AktG. Die Zustimmungsvorbehalte sind vielmehr in den jeweiligen Hochschulgesetzen enumerativ aufgelistet 119 und betreffen nur wenige Punkte, wie Unternehmensgründungen und Strukturänderungen. Auch im Bereich der präventiven Beratung ergeben sich Unterschiede. Hier wurden explizite Handlungsanweisungen in den Hochschulgesetzen der Länder aufgenommen. Häufig wird dies mit den Worten Profilbildung, Entwicklung der Hochschule sowie Erhöhung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit bezeichnet. Ferner kann sich durch eine Aufgabenzuweisung an den Senat eine Aufteilung der Beratungs- und Überwachungsfunktion in sachlicher Hinsicht ergeben. 120 Im Grundsatz ist in den meisten Hochschulgesetzen eine Trennung zwischen akademischen und finanziell-strukturellen Angelegenheiten gewollt. Es ist aber auch festzustellen, dass dem Hochschulrat zuweilen Kompetenzen zugestanden werden, die über jene des Aufsichtsrats hinausgehen. So gestehen einige Hochschulgesetze direkte Geschäftsführungskompetenzen zu. 121 Überdies wird ihm die Beschlussfassung oder Stellungnahme zu Änderungen der Grundordnung übertragen. Hierfür ist in der AG die Hauptversammlung zuständig, § 179 AktG. Insgesamt ergibt sich daher ein Bild, das den Hochschulrat allenfalls als ein aufsichtsratsähnliches Gremium qualifiziert, da durch die Mitwirkung des Senats, die Übertragung von Kompetenzen, die in der AG die Hauptversammlung hat, und durch die Hervorhebung der Beratungs- gegenüber der Kontrollaufgabe deutliche Bruchlinien gegenüber dem Aufsichtsrat bestehen. Wo sich freilich die Kompetenzen decken, wird es im Einzelfall gleichwohl möglich sein, Brücken 118 119 120 121

Vgl. Nordrhein-Westfalen, § 21 Abs. 2 S. 3 LHG. Bspw. Baden-Württemberg, §§ 14 Abs. 3, 20 Abs. 1 S. 3 LHG. Vgl. Schleswig-Holstein, § 21 Abs. 1 S. 2 LHG. Bspw. Hessen, Vermögensverwaltung, § 48 Abs. 2 S. 3 LHG.

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zu schlagen. Das trifft insbesondere auf die Personalkompetenz und auf den Umfang der Auskunfts- und Einsichtsrechte zu. Im Übrigen überwiegen aber die Unterschiede, so dass sich die Bezeichnung des Gremiums als Aufsichtsrat, die in Baden-Württemberg gewählt wurde 122, als folkloristisch und ohne rechtlichen Gehalt erweist. 3. Die Hauptversammlung – das abhanden gekommene Organ Eine Hauptversammlung existiert in der aktienrechtlichen Form in der Hochschule nicht. Hierin spiegelt sich der schon oben angesprochene Unterschied wider, dass es einen Eigentümer im eigentlichen Sinne in der Hochschule nicht gibt, so dass auch das dafür vorgesehene Repräsentationsorgan entfällt. Die Funktionen der Hauptversammlung werden hauptsächlich von den Senaten übernommen. Sie wählen und bestellen die Hochschulräte zumeist in Zusammenarbeit mit dem Ministerium (vgl. § 119 I Nr. 1 AktG) 123, beschließen die Grundordnung (vgl. § 179 I AktG) 124 und entlasten in traditionelleren Hochschulgesetzen das Leitungsorgan 125 (vgl. § 119 I Nr. 3 AktG). Die weiteren HV-Aufgaben verteilen sich verschiedentlich auf Leitung und Hochschulräte.

IV. Gesamtbewertung 1. Import aktienrechtlicher Mängel ins Hochschulrecht Insgesamt ist festzuhalten, dass die Universitätsreform in Sachsen, aber auch in den anderen Bundesländern, eine Stärkung der Hochschulleitung mit sich gebracht hat, die als solche nicht unumstritten ist. Neben den Chancen, die in einer effektiveren Entscheidungsfindung durch kürzere Entscheidungswege sowie durch Professionalisierung gesehen werden 126, werden auch die Risiken betont. Insofern wird vor allem bezweifelt, ob die richtige Balance zwischen starker Hochschulleitung und hinreichend effektiven Aufsichtsorganen gefunden wurde. Befürchtet wird sowohl, dass zu starke Führungspersönlichkeiten unkontrolliert Fehlentscheidungen treffen könnten. 127 Interessenkonflikte, Selbstbereicherung und Geltungsbedürfnis können vermehrt auftreten. Aber auch das 122

Vgl. Landtag von Baden-Württemberg (2004), S. 194. Bspw. Thüringen, § 33 Abs. 1 Nr. 2 LHG. 124 Bspw. Thüringen, § 33 Abs. 1 Nr. 1 LHG. 125 Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern; dies wird nunmehr hauptsächlich von den Hochschulräten übernommen. 126 Vgl. Clark (1998); Meier (2009), S. 153; Epping (2008), S. 423 und 427; Schweiger (2005), S. 146 f. Fn. 14. 123

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Gegenteil könne eintreten. Die Gefahr der Beeinflussung durch lediglich einen Teil der Interessenvertreter der Aufsichtsorgane bestehe, wenn diese innerhalb eines zu starken Aufsichtsorgans Superioritäten für sich in Anspruch nähmen. 128 Angemahnt wird außerdem, dass eine Kontrolle durch diejenigen stakeholder geschwächt wird, die in den Leitungs- und Aufsichtsorganen, d. h. nach deutschem Verständnis vor allem in den Senaten und Hochschulräten, nicht vertreten sind. 129 Diese Effekte sind aus dem Bereich des Aktienrechts durchaus bekannt. Sowohl der Vorstand, der nach Art eines Sonnenkönigs sein Unternehmen regiert, als auch der übermäßig starke Aufsichtsratsvorsitzende, der als graue Eminenz das Unternehmen aus dem Hintergrund bis in Fragen der Produktgestaltung im Detail beeinflusst, sind uns bekannte Figuren. Von daher ist der hier angestellte Blick auf das Aktienrecht auch als Mahnung zu verstehen, von einer Einführung unternehmerischer, insbesondere aufsichtsratsähnlicher, Gremien und Institutionen nicht zuviel zu erwarten. Gerade die jüngste Wirtschaftsentwicklung lässt erkennen, dass auch die aktienrechtliche Corporate Governance Fehlentwicklungen und Krisen nicht immer verhindern kann und sogar in Teilbereichen (etwa was die Vergütungsstrukturen in Aktiengesellschaften angeht 130) für deren Entstehen mitverantwortlich ist. Damit besteht die Gefahr, mit der Übernahme unternehmensrechtlicher Modelle auch deren Mängel und Defizite ins Hochschulrecht zu übernehmen. Insofern erweist sich aber gerade die Übertragung wesentlicher Kompetenzen auf die Hochschulräte unter gleichzeitiger Schwächung der Senate nicht als unproblematisch. Neben verfassungsrechtlichen Bedenken, zu denen hier nicht Stellung genommen werden soll 131, bestehen durchaus auch Gefahren, die aus dem Unternehmensrecht heraus bereits bekannt sind, und von denen abzusehen ist, dass sie auch in der Hochschule virulent werden können. a) Selbstbild der Mitglieder und Intensität der Amtswahrnehmung Zu nennen ist einmal die Gefahr der nicht hinreichenden Mandatswahrnehmung. Aus der Corporate-Governance-Diskussion heraus ist bekannt, dass Aufsichtsratsmitglieder ihr Mandat zu lange als Ehrenamt verstanden, das sich so-

127 Beispiele hierfür aus Großbritannien bespricht Shattock (2006), S. 84 ff., bspw. die Gründung wissenschaftlich schlecht ausgestatteter Institute in verschiedenen Ländern weltweit u. a. in Griechenland in einem Rotlichtviertel Athens, S. 107. 128 Vgl. Buckland (2004), p. 252. 129 Vgl. ebd. 130 Zu deren Einfluss auf das Entstehen der Bankenkrise Lutter (2009), S. 197 ff. 131 Vgl. statt dessen Thieme (2004), Rn. 1022 f. m.w. N. und Verweis auf BVerfGE 83, 60, 71; 93, 37, 66; Ladeur zitiert in Dufner (2002), S. 16.

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zusagen „nebenbei“ erledigen ließ. 132 Daraus resultierte eine zu wenig intensive Wahrnehmung des Amtes, die sich in geringer Sitzungsfrequenz, schwacher Sitzungsvorbereitung und wenig kritischer Haltung gegenüber den Angaben des Vorstands niederschlug. Der Gesetzgeber des Aktienrechts ist seit 1994 mehr oder weniger permanent damit beschäftigt, diese Mängel abzustellen. 133 Einen wirklichen Umbruch im Selbstverständnis der Aufsichtsräte haben aber weniger diese gesetzlichen Reformen mit sich gebracht als vielmehr die Gefahr, bei einer unsorgfältigen Amtswahrnehmung finanziell zur Verantwortung gezogen zu werden. Die ersten Urteile zu dieser Frage der Aufsichtsratshaftung 134 haben ersichtlich als Weckruf auch bei den nicht persönlich betroffenen Aufsichtsräten gewirkt. Ein solcher präventiver Anreiz zur sorgfältigen und intensiven Mandatswahrnehmung fehlt aber im Hochschulrecht völlig; er ist bisher nicht einmal andiskutiert. Demgegenüber sind in der Literatur deutliche Tendenzen zu erkennen, die Mitgliedschaft im Hochschulrat als eine rein ehrenamtliche Tätigkeit zu begreifen. 135 Bei den externen Mitgliedern kommt die Gefahr hinzu, dass das Amt als ein Mittel zur Erlangung von Medienpräsenz missverstanden wird. 136 Von daher ist durchaus zu befürchten, dass sich ein aus dem Aktienrecht her bekannter Missstand, nämlich das Verständnis des Amtes als „schönste Nebensache der Welt“, in den Hochschulräten wiederholen wird. b) Orientierung am Gesamtinteresse Aus den Aufsichtsräten ist das Problem bekannt, dass sich nicht alle Mitglieder gleichmäßig am Interesse des Unternehmens orientieren, sondern dass manche von ihnen Partikularinteressen verfolgen. So ist bei den Arbeitnehmervertretern zu beobachten, dass sie zwischen „arbeitnehmerrelevanten“ und „neutralen“ Sachfragen unterscheiden und sich intensiv der Fragen annehmen, die ihre Klientel berühren. Im Übrigen wird sich vielfach der Stimme enthalten. Auch Vertreter der öffentlichen Hand in Unternehmen mit Staatsbeteiligung sind in dieser Hinsicht schon negativ aufgefallen, indem sie sich nämlich mehr als verlängerter Arm der entsendenden Körperschaft denn als unabhängiges Mitglied des Gremiums gerierten. 137 Gerade diese Gefahr ist in den Hochschulräten mit Händen zu greifen. Es steht zu erwarten, dass sich die vom Staat entsandten 132 Vgl. Lutter (2001), S. 224 und 230 f.; Lutter / Krieger (2008), Rn. 51 ff.; Drygala in: Schmidt / Lutter, § 95 Rn. 2; plakativ auch Bernhardt (1995), S. 310 und 321. 133 Näher zur Rechtsentwicklung Mertens in: Zöllner / Noack (2010), § 93 Rn. 7. 134 BGHZ, Bd. 135, S. 244 -ARAG-; BGH ZIP (2007), S. 224. 135 Vgl. Thieme (2004), Rn. 1023. 136 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 26. 137 Vgl. Zieglmeier (2007), S. 144 und 159 ff.

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Mitglieder vornehmlich als Vertreter staatlicher, und das heißt in nicht wenigen Fällen fiskalischer, Interessen verstehen werden. Hinsichtlich der aus der Wirtschaft rekrutierten externen Mitglieder ist zu befürchten, dass insoweit vor allem Drittmittelgeber zum Zuge kommen, denen am Nutzen ihrer Investition mehr gelegen sein kann als am Erfolg der Hochschule insgesamt. 138 c) Hinreichende Information Schließlich ist aus der aktienrechtlichen Erfahrung darauf hinzuweisen, dass die Qualität der Aufsichtsratsarbeit in besonderem Maße von der Güte der Informationen abhängt, die das Gremium erhält. 139 Gerade externe Mitglieder sind auf eine hinreichende Berichtsdichte dringend angewiesen. Eine Orientierung am Maßstab des § 90 AktG, der die Berichtsdichte des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat regelt, kann hier hilfreich sein. In Bezug auf Aufsichtsräte wird gegenwärtig intensiv diskutiert, ob dies ausreicht. Viele fordern zusätzliche Informationsquellen für den Aufsichtsrat; genannt werden Direktkontakte zu Mitarbeitern des Unternehmens 140 und die Einrichtung anonymer Beschwerdestellen (neudeutsch: Whistleblower Hotlines), mit denen sich Mitarbeiter des Unternehmens direkt an den Aufsichtsrat wenden können, wenn sie Missstände oder Rechtsverstöße im Unternehmen festgestellt haben. 141 Festzustellen ist ferner, dass die Bereitschaft von Vorständen, gegenüber dem Überwachungsgremium offen und zeitnah zu berichten, oft nur dann gegeben ist, wenn sie sich auf die Vertraulichkeit der Beratungen (vgl. § 116 Satz 2 AktG) auch tatsächlich verlassen können. 142 All diese Fragen werden auch im Hinblick auf Hochschulräte noch zu diskutieren sein. 2. Fazit Insgesamt haben die Gesetzgeber des Hochschulrechts sich einen erheblichen Schritt auf unternehmerische Organisationsstrukturen hinbewegt, dabei aber mit dem Hochschulrat ein aus mehreren Gründen anfälliges Organ geschaffen, dessen Funktionalität sich im Alltag noch erweisen muss. 143 Ob es dabei hilfreich 138

Eindringlich Hartmer (2001), S. 484 und 489; Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 26 m.w. N.; vgl. auch Buckland (2004), p. 248 und 252. 139 Vgl. Hüffer (2008), § 90 Rn. 1; Spindler in: Goette / Habersack (2009), § 90 Rn. 1; Fleischer in: Spindler / Stilz (2007), § 90 Rn. 1. 140 Vgl. Dreher (2003), S. 87 und 92 ff.; Semler (1996), Rn. 172 ff.; Hopt / Roth in: Hopt / Wiedemann (2005), § 107 Rn. 511 ff.; dagegen Schefflers (2003), S. 236 und 254 f.; Lutter (2006), Rn. 316. 141 Umfassend dazu Korte (2009). 142 Näher Drygala in: Schmidt / Lutter (2008), § 116 Rn. 24. 143 In der Bewertung noch skeptischer Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber (2007), S. 1.

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sein kann, ähnlich wie im Aktienrecht die Funktionsweise der Gremien durch eine zusätzliche Selbstregulierung durch einen Code of Best Practice nach Vorbild des Deutschen Corporate Governance Kodex zu ergänzen, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten.

V. Ergebnisse 1. Die Universitätsreformen der vergangenen Jahre, auch in Sachsen, haben zu einer Wegbewegung vom Gedanken der Gruppenuniversität und einer Hinwendung zu einer Struktur geführt, die sich an Vorbildern außerhalb des klassischen Verwaltungsrechts orientiert. Dabei ist im Bereich der Universitätsverfassung eine Hinwendung zu Strukturen zu beobachten, die ersichtlich an unternehmensrechtliche Vorbilder angelehnt sind. 2. Ob die Aktiengesellschaft insoweit ein taugliches Vorbild ist, muss bezweifelt werden, da die beteiligten Interessen in der Universität vielschichtiger sind als im Wirtschaftsleben und das Leitungsverhalten der Hochschulleitung im Bereich von Forschung und Lehre eine Begrenzung durch die Grundrechte des wissenschaftlichen Personals und der Fakultäten erfährt. 3. Bei einem Vergleich der Kompetenzen der jeweiligen Organe ist festzustellen, dass es gleichwohl relevante Ähnlichkeiten gibt, die eine vorsichtige Analogie zu aktienrechtlichen Fragestellungen in Einzelfragen erlauben. Dabei sind die neu installierten Hochschulräte aber nur dann als aufsichtsratsähnlich zu qualifizieren, wenn sie tatsächlich mit Überwachungsaufgaben ausgestattet sind. 4. Die Orientierung am Recht des Aufsichtsrats bringt die Gefahr mit sich, auch dessen unbestreitbare Mängel ins Hochschulrecht zu übernehmen. Insofern ist vor einem naivem Glauben daran, dass sich mit der Einführung unternehmensrechtlicher Strukturen alles zum Besseren wenden werde, nachdrücklich zu warnen. Vielmehr bedarf der Hochschulrat noch einer deutlichen Verstärkung im Bereich der sorgfältigen Mandatswahrnehmung, der Orientierung seiner Mitglieder am Interesse der Gesamtuniversität und der hinreichenden Informationsversorgung, wenn seine Arbeit effektiv und erfolgreich sein soll.

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Tim Drygala

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Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung: Das Beispiel der amerikanischen „model shops“ Von Ullrich Heilemann 1

I. Einführung Herstellungs- und Verwertungsbedingungen von Gütern und Dienstleistungen sind in der Regel unterschiedlich. Demzufolge auch die sie bestimmenden Prinzipien, so dass es zwischen den beiden zu Spannungen kommt. Besonders häufig ist dies in der geistigen, der künstlerischen und der wissenschaftlichen, Produktion der Fall. Marktbedingte Effizienzerfordernisse der Verwertungsseite scheinen im Widerspruch zu als notwendig oder gar konstitutiv erachteten Produktionsbedingungen wie „Offenheit“, „Zweckfreiheit“ und „Muße“ zu stehen. Bezogen auf die wissenschaftliche Produktion: „Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?“ – das Thema dieser Konferenz. Zwar können auch in der Wissenschaft Entstehungs- und Verwertungsbedingung harmonischer Natur sein. Aber der Eindruck konfligierender Beziehungen überwiegt – mal mehr, mal weniger, je nach Fachgebiet, seinem Entwicklungsstand, seinen Marktbedingungen, den Produzenten usw. Gegensatzpaare wie Grundlagen- / Anwendungsforschung, universitäre- / Industrieforschung, science / technology machen dies anschaulich. Sind die Beziehungen aber tatsächlich so einfach und eindeutig, wie diese Antonymien suggerieren, oder sind sie nicht, wie z. B. für die Kunst gezeigt, 2 sehr viel differenzierter, reflexiver und auch instabiler? Was bestimmt die Entstehungs- und Verwertungsbedingungen von „Wissenschaft“? Welchen Einflüssen unterliegen diese Bedingungen ihrerseits? Im Folgenden wird diesen Fragen an einem Beispiel aus den Wirtschaftswissenschaften nachgegangen, genauer am Beispiel der Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung in den Vereinigten Staaten. Anfänge dieses 1 Prof. Dr. Ullrich Heilemann war bis 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Für ihre vielfältige und engagierte Unterstützung ist der Autor Dipl.-Kff. Sissy Ißleb verbunden. Für hilfreiche Hinweise auf neuere Entwicklungen bei den model shops bin ich Prof. Dr. André Jungmittag verbunden. 2 Hacks (1988).

320

Ullrich Heilemann

Prozesses sind dort bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auszumachen, seine eigentliche Entfaltung setzt allerdings erst in den 1960er Jahren ein und greift dann in abgeschwächter Form auch auf die übrigen westlichen Industrieländer über. Sichtbaren Ausdruck fand er für das Fach und Teile der Öffentlichkeit in der Entstehung, vor allem aber in der Verbreitung makroökonometrischer Modelle und ihrer Ergebnisse. (Zu Begriff und Charakteristika der Modelle gleich mehr.) Bau und Anwendung dieser Modelle stellen eine der großen Leistungen der Wirtschaftswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Wenn dogmengeschichtlich die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als „age of technique“ 3, der Professionalisierung der Ökonomen 4 bezeichnet wird, dann liegt dies maßgeblich an den makroökonometrischen Modellen und den von ihnen angestoßenen und getragenen Entwicklungen. Aber nicht nur die Modelle selbst erwiesen sich als Epochenprägend. Wie keine andere Methode veränderten sie Organisation und Betrieb der empirischen Wirtschaftsforschung und stehen in der Konjunkturforschung für deren Übergang vom Handwerk und Gewerbe zur Industrialisierung 5 und Kommerzialisierung. Gestützt auf eine strenge Arbeitsteilung und kapitalintensive Produktion entstanden in den 1960er eine Reihe von spezialisierten Forschungsinstituten („model shops“), die mit Kundenschulung, Marketing und Vertrieb erst noch zu entwickelnden Markt, zunehmend gewinnorientiert makroökonometrische Modelle entwickelten, sie anwendeten und die sie und deren Ergebnisse vertrieben. Sie erwiesen sich nicht nur als kommerziell erfolgreich, sondern bestimmen seitdem, in unterschiedlicher Intensität, in der gegenwärtigen Krise wieder fast ausschließlich, die makroökonomische Diskussion und Politik. Der Erfolg der model shops und dessen Umstände legen es nahe, an ihrem Beispiel dem Konflikt von Herstellungs- und Verwertungsbedingungen wissenschaftlicher Produktion nachzugehen. Dabei interessieren zunächst die Entstehung der Modelle bzw. der model shops und ihre Voraussetzungen, also die Rolle von „Daten“, „Methoden“ sowie – das eigentlich Neue – der für ihre Nutzung erforderlichen hardware und software einerseits und die Anforderungen und Erwartungen an die Modellarbeit andererseits. Es stellt sich aber auch die Frage nach den Konsequenzen, d. h. die weitere Entwicklung der Modelle, ihrer Struktur und ihre Anwendungspraxis im Lichte kommerzieller und wissenschaftlicher Kriterien. Aktuelle Arbeiten zum Thema liegen offenbar nicht vor, von älteren Arbeiten ist vor allem auf die Untersuchung von Daub zu verweisen. 6 Beschränkt 3

Seligman (1963), S. 694ff. Fourcade (2009), S. 129. 5 Das angelsächsische „industry“ trifft die Sache nicht ganz, vielfach ist damit lediglich Gewerbe oder Branche gemeint. 6 Vgl. Daub (1987). 4

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung

321

auf Kanada, beleuchtet sie sehr detailliert vor allem die betriebswirtschaftlichen Dimensionen des kommerziellen Erfolgs der model shops; dessen fachlichwissenschaftlichen Voraussetzungen, insbesondere die Konsequenzen der model shops für die Modell-Entwicklung, interessieren dort aber nur wenig. Diese zu beleuchten und damit zu einem differenzierten Bild des Konflikts von Produktions- und Verwertungsbedingen wissenschaftlicher Arbeit zu gelangen, ist Gegenstand der vorliegenden Darstellung. Naturgemäß kann es dabei weder um eine Geschichte des makroökonometrischen Modellbaus 7, noch der model shops, der Rolle, die der Computer bei dieser Entwicklung spielte oder den Komplex „Wissenschaftler / Unternehmer“ gehen. Die Darstellung beschränkt sich auf die Vereinigten Staaten. In Europa nahm der Modellbau zwar einen ähnlichen Weg wie dort, aber die amerikanischen model shops konnten hier und vor allem in Deutschland kaum Fuß fassen, eigene Gründungen größeren Stils sind sehr selten. 8 Ferner wird das Thema hier nur aus der Fachperspektive behandelt, wissenschaftssoziologische Aspekte werden nur am Rande angesprochen. Die Literatur dazu hat seit „Little science, big science“ 9 in einem Maße an Breite und Tiefe gewonnen, das von Fachfremden nicht mehr zu überblicken ist. Für die Natur- oder die Ingenieurswissenschaften sind die hier für einen Teilbereich der Ökonomie skizzierten Entwicklungen seit langem bekannt. 10 Inwieweit sich aus den Ergebnissen über den betrachteten Fall hinaus Schlussfolgerungen ziehen lassen, bleibt hier offen. 11 An Anknüpfungspunkten zu umfassenden Arbeiten, wie etwa der von Wingens 12, fehlt es nicht. Als Ergebnis der vorliegenden Arbeit spricht jedenfalls viel dafür, die in den Wirtschaftswissenschaften traditionell mindestens skeptisch gesehene Beziehung zwischen universitärer und außer-universitärer, kommerziell orientierter empirischer Forschung in einem neuen Licht zu betrachten. Im nächsten Abschnitt (II.) wird ein kurzer Blick auf die Bedeutung makroökonometrischer Modelle für die Entwicklung des Fachs und für die Wirtschaftspolitik geworfen. Der Abschnitt illustriert die Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes und liefert die begrifflichen Grundlagen der weiteren Ausführungen. 7

Vgl. Bodkin / Klein / Marwah (1991); Lodewijks (1989). Eine der wenigen, vergleichbaren Ausnahmen ist die Feri AG in Bad Homburg. – Wichtigste Gründe für die Schwierigkeiten in Deutschland sind neben generellen und spezifischen Faktoren (Heilemann (1982)) vor allem, dass die staatlich alimentierten Wirtschaftsforschungsinstitute, die „Gemeinschaftsdiagnose“ und der Sachverständigenrat kurzfristige Wirtschaftsprognosen, überwiegend mehrfach im Jahr, seit Jahrzehnten kostenlos anbieten. 9 Price (1974). 10 Vgl. Malecki / Olszewski (1965); Ben-David (1968). 11 Vgl. dazu z. B: für die jüngere Geschichte der Genomen-Forschung Venter (2009) sowie allgemein den Beitrag von Bente (2010) in diesem Band. 12 Vgl. Wingens (1988). 8

322

Ullrich Heilemann

Abschnitt III geht den Ursachen und Voraussetzungen, den Produktions- und Verwertungsbedingungen der Modelle in den model shops nach. Abschnitt IV befasst sich mit der Kritik an den Modellen und den Antworten der „Industrie“. Zusammenfassung und Konsequenzen der Befunde beschließen die Ausführungen (V).

II. Makroökonometrische Modelle: Entstehung, Entwicklung, Leistung, Verbreitung Das heute sehr ausgeprägte (und zahlungsbereite) Interesse von Wirtschaft und Politik an regelmäßigen, quantitativen diagnostischen und prognostischen Aussagen zur Konjunkturentwicklung hat seinen Ursprung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in amerikanischen Großunternehmen. Sie zielten damit nicht nur auf eine Verbesserung ihrer eigenen Kosten- und Absatzplanung, sondern hatten mit Bezug auf eine „geordnete Marktentwicklung“ auch die Informationsbedürfnisse ihrer Mitbewerber im Auge. Die Bedürfnisse trafen sich mit den eben entwickelten statistischen Prognosemethoden und deren Bündelung einzelner Datenreihen zu „Indikatoren“, zu Systemen von Indikatoren, zu „Barometern“. 13 Es kam zur Gründung von Institutionen und Einrichtungen, die diese gewerbsmäßig erstellten und vertrieben. 14 Mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise 1929 fand diese erste Phase gewerbsmäßiger Erstellung gesamtwirtschaftlicher Prognosen ihr Ende: Keines der damaligen „Konjunktur-Barometer“ hatte die Krise selbst, noch ihre Tiefe kommen sehen, wobei offen ist, ob man sie hätte sehen können. Bis in die 1950er Jahre änderte sich an dieser Situation wenig. Die methodische Entwicklung war indessen, z.T. als Reaktion auf das Prognosedebakel, nicht stehen geblieben. Auf der Grundlage der Pionierarbeiten von Jan Tinbergen, Ragnar Frisch und anderer in den 1930er und 1940er Jahren kam es zu Beginn der 1950er Jahre u.a. durch Lawrence Klein und James Duesenberry zum Bau gesamtwirtschaftlicher Modelle, die theorie- und vor allem statistisch gestützt antraten, die bisherigen Verfahren und Vorgehensweisen der Konjunkturanalyse und -prognose abzulösen. (Tinbergen und Frisch wurden für diese Arbeiten gemeinsam mit dem ersten Nobelpreis (1969) ausgezeichnet, Klein erhielt ihn 1980). Gegenstand der Modelle ist eine quantitative Erklärung oder Beschreibung der einzelnen Aktivitäten einer Volkswirtschaft und deren Zusammenwirken mit dem Ziel, Güterproduktion, Einkommen, Beschäftigung, Preisniveau, Ausgaben und Einnahmen des Staates, Einfuhr und Ausfuhr einer Volkswirtschaft zu 13 14

Vgl. hierzu und dem Folgenden Morgan (1982), S. 56ff. Vgl. Fourcade (2009), Friedman (2007).

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung

323

bestimmen und zu prognostizieren. Das Grundgerüst bildeten dabei einerseits sog. stochastische Gleichungen, die die Hypothesen (z. B. die Konsumfunktion über das Konsumverhalten der Volkswirtschaft), technische Beziehungen (z. B. die Produktionsfunktion) und institutionelle Beziehungen (z. B. die Erklärung der Steuereinnahmen) erklärten; andererseits sog. Definitionen, die vor allem die definitorischen Beziehungen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) abbildeten. Zusammen erklärten sie die gesamtwirtschaftliche Verwendung, die Verteilung und die Entstehung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Preise sowie die Einnahmen und Ausgaben des Staates. Bestimmt wurde die gesamtwirtschaftliche Entwicklung von den Interdependenzen dieser Erklärungen und der endogenen Dynamik des so entstandenen Gleichungssystems einerseits und von den Annahmen bezüglich der „exogenen“ Variablen, wie z. B. dem Welthandel, den Rohstoffpreisen, den Wechselkursen, den Zinsen oder den wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Staates andererseits. Die Zahl der ökonometrischen Modelle nahm seit Mitte der 1950er Jahre im Gleichschritt mit den rechentechnischen Möglichkeiten stetig zu, desgleichen ihre Leistungsfähigkeit, zumindest, wenn der Begriff weit interpretiert wird (auf die Gründe dafür geht der nächste Abschnitt ein). 15 Allein in den Vereinigten Staaten stieg die Zahl der ökonometrischen Modelle im Zeitraum 1939 bis 1969 auf fast 70 an, um in der folgenden Dekade fast 200 und bis 2001 dann mehr als 300 zu erreichen (Tabelle 1). 16 Die „produktivste“ Periode scheint dabei der Zeitraum 1954/1996 gewesen zu sein. 17 Indessen nahmen nicht nur die Anzahl der Modelle, sondern auch ihr Informationsgehalt, zumindest gemessen an ihrem Umfang, zu. 18 Bis in die 1960er Jahre enthielten die Modelle, nicht zuletzt aus hard- und software-technischen Gründen 19, oft nur bis zu 30 Gleichungen – davon etwa die Hälfte Definitionen – und erklärten auf hoher Aggregationsebene das Volkseinkommen – Staatsausgaben und Exporte waren exogen bestimmt.

15 Zu einer Genealogie der amerikanischen Modelle vgl. Intriligator / Bodkin / Hsiao (1996), S. 447ff. 16 Der Begriff des ökonometrischen Modells ist dabei weit gefasst und schließt auch input-output-Modelle mit ein. 17 Gemessen an der „Wachstumsphase“ der entsprechenden logistischen Kurve (Price (1974), S. 30ff.), d. h. von dem Zeitpunkt an, von dem drei Verdopplungsphasen in beide Richtungen zu registrieren sind; dauerten die Verdopplungsperioden zwischen vier und acht Jahre. 18 Vgl. hierzu und dem Folgenden Heilemann (2002); Bodkin / Klein / Marwah (1991), S. 57ff.; Eckstein (1983), S. 1ff. 19 Die ökonometrische Schätzung der stochastischen Gleichungen und die Lösung der interdependenten Modelle „von Hand“ war extrem aufwändig. Vgl. Renfro (2004a, b); Schinck (2004).

324

Ullrich Heilemann Tabelle 1 Ökonometrische Modelle für die sieben großen OECD-Länder: Anzahl und Strukturen, 1939 –2001 Anzahl der Gleichungen 1 Modelle

Periodizität Exogene

stocha- Defini- Insgesamt stisch tionen

Variablen 1

Jahr Viertel- Sonstige jahr

1939 – 1960 Vereinigte Staaten

14

9

6

15

7

11

3

0

Japan

4

8

4

12

7

0

4

0

Bundesrepublik

2

8

2

10

5

2

0

0

Frankreich

-

-

-

-

-

-

-

-

Vereinigtes Königreich

3

9

10

19

4

3

0

0

Italien

-

-

-

-

-

-

-

-

Kanada

4

12

11

23

7

3

1

0

1960 – 1969 Vereinigte Staaten

45

17

10

40

16

16

28

1

Japan

21

20

13

62

9

6

11

4

Bundesrepublik

14

11

8

19

8

11

3

1

Frankreich

6

16

15

298

10

6

0

0

Vereinigtes Königreich

11

25

4

29

10

8

3

0

Italien

3

10

3

13

6

3

0

0

Kanada

11

21

30

51

37

6

5

0

1970 – 1979 Vereinigte Staaten

91

47

49

131

32

24

94

5

Japan

48

37

94

165

42

21

22

4

Bundesrepublik

72

27

35

97

18

31

35

6

Frankreich

25

35

48

228

27

17

8

0

Vereinigtes Königreich

53

54

43

100

26

21

31

1

Italien

28

16

12

37

13

16

12

0

Kanada

29

81

154

248

80

13

16

0

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung

325

1980 – 1989 Vereinigte Staaten

62

15

17

61

16

39

18

5

Japan

36

21

Bundesrepublik

76

51

31

79

14

21

13

2

54

290

17

49

23

4

Frankreich

53

Vereinigtes Königreich

48

43

240

552

73

35

16

2

27

29

103

13

22

23

3

Italien

33

36

56

136

36

14

16

3

Kanada

24

30

85

141

62

12

10

2

1990 – 1999 Vereinigte Staaten

23

19

7

100

9

14

8

1

Japan

12

9

7

125

6

10

2

0

Bundesrepublik

19

13

16

72

13

13

5

1

Frankreich

13

19

86

123

55

7

5

1

Vereinigtes Königreich

13

7

4

67

5

10

2

1

Italien

8

7

6

29

4

6

2

0

Kanada

10

6

5

146

2

6

4

0

1939 – 2001 Vereinigte Staaten

234

28

27

86

21

103

119

12

Japan

98

32

61

139

29

50

40

8

Bundesrepublik

183

34

38

168

16

105

65

13

Frankreich

97

36

156

395

55

65

29

3

Vereinigtes Königreich

128

36

30

90

17

64

59

5

Italien

72

24

31

80

22

39

30

3

Kanada

78

44

89

163

55

40

36

2

1

Durchschnitte. Eigene Berechnungen nach Angaben bei Uebe (2001).

326

Ullrich Heilemann

Dies änderte sich mit der „zweiten Generation“ makroökonometrischer Modelle ab Mitte der 1960er Jahre. Mit dem Brookings-Modell (1965), dem WhartonModell (1967) und dem Federal-Reserve-MIT-Penn-Modell (1972) traten Großmodelle mit mehreren hundert Gleichungen auf den Plan, die die bisherigen Analyse- und Prognosemöglichkeiten (s. unten) – von der Möglichkeit der Simulation nicht zu sprechen – um ein Vielfaches übertrafen. Große praktische Bedeutung im Sinne ständiger Anwendung für Prognose und Simulationszwecke erlangten dabei lediglich die späteren Versionen des Wharton-Modells sowie das Modell von Data Resources, Inc. (DRI) (1976, 1983); dagegen hatte das Brookings-Modell mit seinen 176 Gleichungen (1972: 300 Gleichungen) lange Zeit beträchtliche rechentechnische Schwierigkeiten, die seine Anwendung verhinderten. Sie rührten nicht zuletzt wohl auch daraus, dass es ein Produkt eines Forschungsverbundes einzelner (renommierter) Spezialisten war, dem eine klare Zielsetzung fehlte und dessen Leitung nur beschränkten Einfluss auf die Entwicklung hatte. Es zeichnete die beobachtete Entwicklung nur unzureichend nach und wurde nie zu ex ante-Prognosen eingesetzt. Der Umfang der Modelle wuchs rasch auf 200 und mehr Gleichungen an, wofür neben der Endnachfrage vor allem die Abbildung des monetären Bereichs und des Industriesektors verantwortlich waren (vgl. Tabelle 2). Bis Mitte der 1970er Jahre stieg der Umfang der amerikanischen Modelle auf ca. 1 000 Gleichungen an. Stochastische und definitorische Gleichungen sowie die Anzahl der exogenen Variablen hielten sich dabei in etwa die Waage. Mit der Verbesserung der rechentechnischen Möglichkeiten wurden die Modelle zunehmend „kurzfristiger“, d. h. sie basierten nun auf Vierteljahresdaten. Das Hypothesengebäude der Modelle – die Grundlagen der Schätzgleichungen – machte im Zeitablauf erhebliche Wandlungen durch. Zunächst dauerte es bis weit in die 1950er Jahre, bis sich für die wichtigsten makroökonomischen Aggregate wie Privater Verbrauch, Investitionen usw. und den Modellaufbau insgesamt, eine Art Erklärungsstandard herausgebildet hatte (Tabelle 2). In seinen Grundzügen war dieser zwar von der makroökonomischen Theorie und vom aktuellen wirtschaftspolitischen Prozessverständnis geprägt. Bei den in der Konjunkturanalyse verwendeten Modellen war dabei aber von Anfang an unter Bezeichnungen wie „Erweiterung“ und „Modifikation“ – wie in der makroökonomischen Theorie – ein erheblicher Eklektizismus zu registrieren, der in erster Linie einer Verbesserung der Erklärungs- und – hoffentlich! – der Prognosegüte diente. In dem Maße, wie sich die Erklärungstiefe bei einzelnen Aggregaten bzw. die Zahl der abgebildeten Sektoren vergrößerte, wurde eine konsistente oder gar einheitliche theoretische Fundierung immer schwieriger, und es musste auf Erklärungen aus unterschiedlichen Hypothesengebäuden zurückgegriffen werden.

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung

327

Tabelle 2 Zur Erklärungsstruktur ausgewählter ökonometrischer Modelle für die Vereinigten Staaten, 1955 – 1983 1 Modell KleinGoldberger (1955) Angebot

9

Endogen

14 3

3

10

1

7

6

Endogen



6

6

6

13

21

230

Endogen

4

2

Exogen

1

2

35

192 38

13

45

Endogen



4

Exogen



9

34

67 44

4



117

111

Exogen



26 19

118

1215

Endogen

20

76

Exogen

14

42

1

32

12

5

47 101 130

Endogen

Insgesamt

26

17

Exogen

Sonstige

24 148

– 4

207

6

8

Finanzsektor

44

17

Endogen

Staatssektor

53 231

17

– 8

267

9

Exogen Preise

13

23 2

Exogen Verteilung

DRI (1983)

320 23

6 2

Endogen

MPS 2 (1968)

32 3

Exogen Nachfrage

Wharton (1967)

171

923 292

Anzahl der Variablen. 2 Exogene Variablen nicht ausgewiesen. Eigene Berechnungen nach Angaben bei Intriligator, Bodkin, Hsiao (1996), S. 436 ff. –1) Exogene Variablen nicht ausgewiesen.

328

Ullrich Heilemann

Die Mehrzahl der hier relevanten makroökonometrischen Modelle wird mit dem Kleinste-Quadrate(KQ-)-Verfahren geschätzt. Auf die ökonometrischen und die hard- und softwaretechnischen Probleme, die bis in die 1970er Jahre wenig Alternativen zuließen (vom Nutzen abgesehen), soll hier nicht weiter eingegangen werden. 20 Die KQ-Ergebnisse weisen zwar aus rein ökonometrischer Perspektive eine Reihe von – schwer zu beziffernden – Mängeln auf, besitzen dafür aber vorteilhafte Prognoseeigenschaften. Vor allem sind sie robust gegenüber Fehlspezifikation und Unzulänglichkeiten der statistischen Basis, was für die model shops besonders wichtig ist. Überraschend war, dass sich die Modelle, ungeachtet ihrer wachsenden Anwendung und ihres zunehmenden Umfangs hinsichtlich Treffsicherheit, dem sich in der Nachkriegszeit neu herausgebildeten „informal GDP model“ („Iterative VGRMethode“) 21 als keineswegs überlegen erwiesen. Entsprechend blieb das „informal GDP model“ auch die am weitesten verbreitete Methode der Konjunkturprognose. Das änderte sich auch nicht, als die Modell-Praxis sich aus einer Reihe von Gründen von der mechanischen Anwendung der Modelle gelöst hatte, die Modellbauer an „Konjunkturerfahrung“ gewannen 22 und in die Prognosen und Simulationen, wie bei ihrem Konkurrenten, zahlreiche externe Informationen unterschiedlichen Ursprungs einflossen. Im Grunde erfolgte also eine Kreuzung von subjektiven, statistischen und theoretischen Erklärungen wie bei den Vorläufern in der Zwischenkriegszeit (s. unten). Durch diesen in der Geschichte der Wirtschaftsprognose keineswegs ungewöhnlichen Pragmatismus (s. o.) und angesichts der Wettbewerbssituation wurden zwei wesentliche, ursprüngliche Ansprüche der Modelle – Objektivität und Verwendung geprüfter Hypothesen – mehr oder weniger aufgegeben, zumal diese Korrekturen 23 selten begründet wurden und gelegentlich auch „finaler“ Natur waren, d. h. einer Annäherung der Modellergebnisse an das herrschende Prognosebild dienten. Es wurde damit immer schwieriger auszumachen, welchen Anteil an der Prognose „Otto [Eckstein]“, der Chef von DRI, oder „Larry [Lawrence Klein]“, Chef von Wharton Economic Forecasting (WEFA), hatten und welchen das jeweilige Modell. 20

Vgl. Goldberger (2004); Renfro (2004a, b). Vgl. Heilemann (1980). Das „informal GDP model“ teilt mit dem ökonometrischen Modell den Erklärungsrahmen, die Schätzungen der einzelnen Aggregate wie Privater Verbrauch, Investitionen usw. geschieht informal, d. h. aufgrund von Erfahrungsrelationen, Fallweisen Einschätzungen usw. (Zarnowitz (1992), S. 401ff. 22 Bei der Beurteilung der Treffsicherheit der Prognosen der model shops wird oft übersehen, dass diese eben nicht aus der Tradition der empirischen Konjunkturinstitute, sondern aus der akademischen makroökonomischen Forschung bzw. der Modellsphäre kamen. Der neue institutionelle Rahmen dürfte ein wichtiger Grund für den Erfolg der makroökonometrischen Modelle gewesen sein, im alten Rahmen war ihr Durchbruch sehr viel mühevoller, wie z. B. die Entwicklung in Deutschland zeigt. Der „Preis“ dieses neuen Rahmens war, dass die konjunkturelle Expertise erst noch zu erarbeiten war. 23 In der Regel in Gestalt sog. add-Faktoren, d h. Hinzufügungen zum absoluten Glied der Schätzgleichungen. 21

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung

329

Auf wenig Kritik stießen die Simulationen alternativer Entwicklungen des Prognoserahmens, fast ausschließlich der Annahmen, insbesondere der wirtschaftspolitischen, selten der in den Modellen abgebildeten Reaktionsmuster (Parameter). Hier standen die Vorzüge der großen Modelle mit ihren zahlreichen wirtschaftspolitischen „Instrumenten“ bezüglich Geschwindigkeit der Durchführung und Konsistenz der Modellergebnisse außer Frage. Auch dabei kann freilich nicht auf mehr oder weniger subjektive Korrekturen verzichtet werden. Damit wird zwar die Objektivität auch dieser Ergebnisse verletzt, immerhin aber in prinzipiell nachprüfbarer Weise, was eine erhebliche Bereicherung der fachlichen wie der wirtschaftspolitischen Diskussionen bedeutete. Mit den verschiedenen Ausdehnungen und Erweiterungen der Modelle ging ein „Schrumpfen“ der mit ihnen errechneten Fiskal-Multiplikatoren 24 einher – ganz im Sinne der Vorstellungen der Monetaristen. Inwieweit dies Folge der Modellerweiterungen, Reflex der Veränderungen der Reaktions-Parameter der Modelle und damit der beobachteten Entwicklung (z. B. der überschießenden Inflation) war oder schlicht „marktbedingte“ Anpassungen an ein verändertes wirtschaftspolitisches Credo war (das Keynesianische Credo wich zunehmend dem neoklassischen) blieb für Dritte im Dunkeln. Die Kunden der model shops interessierte dies indessen wenig.

III. Die Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung – Ursachen und Voraussetzungen Die skizzierte Entwicklung und damit der Weg zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung waren das Ergebnis verschiedener Entwicklungen, Akteure und Motive. Bis Ende der 1960er Jahre war ein wesentlicher Faktor das wissenschaftliche, primär das methodische, zunehmend aber auch das substanzwissenschaftliche Interesse. Besonders deutlich kommt dies in der starken Förderung, z. B. durch die seit 1958 aktive National Science Foundation (NSF) zum Ausdruck: Auf die Förderung von „large scale models“ entfiel im Zeitraum 1958 bis 1979 kontinuierlich ein wesentlicher Teil der Haupt-Förderungen. 25 Ab Ende der 1960er Jahre machten die wissenschaftlichen zunehmend erwerbswirtschaftlichen Interessen Platz, die schließlich, mit Ausnahme weniger 24 Sie geben an, wie hoch die sich aus einer Erhöhung der staatlichen Ausgaben insgesamt ergebenden Wirkungen z. B. auf das Bruttoinlandsprodukt sind. Üblicherweise liegen sie zwischen Werten von 1 und 2. 25 Allein die Forschergruppen um Lawrence Klein erhielten in diesem Zeitraum elf Förderungen von jeweils mindestens 175 000 Dollar, insgesamt wurden „large scale models“ mit 82 Projekten, also mindestens 14,4 Millionen Dollar gefördert (Newlon 1989).

330

Ullrich Heilemann

staatlich alimentierter Institute, der Zentralbanken und internationaler Organisationen, die weitere Entwicklung dominierten. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Organisationsformen der Konjunkturforschung und deren Transformation durch die model shops. 1. Vom Virtuosentum zum Handwerk: die frühen amerikanischen Prognoseinstitute Ihren Ursprung hatten die amerikanischen Konjunkturinstitute in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, bis dahin waren Konjunkturanalyse und -prognose mehr oder weniger Sache einzelner und stark Personenorientiert. Für den Übergang spielten vor allem drei Entwicklungen eine Rolle. 26 Erstens, die zunehmende Nachfrage der sich herausbildenden Großunternehmen nach Einschätzungen der aktuellen und künftigen Wirtschaftsentwicklung; zweitens, die spektakuläre Verbreiterung der finanziellen Anlagemöglichkeiten als Folge der gewaltigen Expansion der Aktiengesellschaften, die ständig auch neue Broker-Institutionen und Banken mit entsprechenden Informationsbedarf hervorbrachte; drittens, das Andauern der wirtschaftlichen Schwankungen und Krisen – so die Paniken 1907 und 1920 (stets gefolgt von der Erwartung, dass auch wegen der Konzentration von Bank-Mitteln und Industrie eine Wiederholung ausgeschlossen sei). Als Reaktion auf diese Nachfrage wurden nach 1900 eine Reihe von Prognose-Agenturen oder -Instituten gegründet. Die bekanntesten und für die weitere Entwicklung wichtigsten waren: der von Roger Babson 1922 in New York, NY gegründete „Barometer Letter“ zu den gesamtwirtschaftlichen Aussichten, der „Harvard Economic Service“ und seine ebenfalls ab 1922 publizierten „Weekly / Montly Letter“ und das 1923 von Irving Fishers in New Haven, CT, ins Leben gerufene „Index Number Institute“, mit der in mehreren Zeitungen publizierten aber auch an private Abonnenten gelieferten „Business Page“. Alle drei Institutionen verfügten – in Gestalt ihrer Gründer bzw. Leiter – über beträchtliche akademische Reputation, namentlich Fisher, der als einer der führenden Ökonomen seiner Zeit (und des 20. Jahrhunderts insgesamt) gilt. Daneben beteiligte sich auch eine Reihe von „Unternehmern“ am Prognosegewerbe, darunter z. B. John Moody, aus dessen Gründung dann die Rating-Agentur „Moody’s“ hervorging. Die Motive für die Gründung der Institute variierten beträchtlich und reichten von der Unterstützung des traditionellen Geschäfts – der Verbreiterung der verfügbaren Datenbasis (Harvard Economic Committee) – bis hin zu wirtschaftspolitischen Motiven, so z. B. im Fall von Fisher, der für eine Stabilisierung des Dollars kämpfte. Generell ging es den Instituten aber in erster Linie um die Prognose. 26

Hierzu und dem Folgenden Friedmann (2007); Favero (2007); Richardson (1929).

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung

331

Auch die methodischen Grundlagen der Prognosen unterschieden sich, wobei sich kein Institut ausschließlich einer bestimmten Methode bediente oder diese zumindest nicht erkennen ließ. Im Grunde sind es bereits die gleichen, die in unterschiedlichen Kombinationen auch heute noch zum Grundstock der Konjunkturprognose zählen: 1. Befragungsbasierte bzw. subjektive Barometer-Methoden. Komplettiert durch die Ergebnisse schriftlicher Befragungen führender Geschäftleute und Bankiers, wird nach Maßgabe eines Vier-Phasen-Schemas der konjunkturellen Entwicklung aus der aktuellen Lage / Phase informal unmittelbar die künftige abgeleitet. 2. Statistikbasierte Barometer. Sie nutzen den statistischen Zusammenhang mehrerer Zeitreihen um zusammengefasst drei Gruppen von Aktivitäten – Spekulation, Geschäftsaktivität und „banking“ – zu beschreiben. Unterstellt, dass diese im Konjunkturzyklus systematisch aufeinander folgen, lässt sich so dass daraus die künftige Entwicklung ableiten. 3. Schließlich Irving Fishers kausal-orientierte Vorgehensweise. Sie ignoriert die phänomenologische oder historische / historizistische Perspektive und die Existenz von Konjunkturzyklen und stützt sich stattdessen ausschließlich auf die (Fisherschen) „Verkehrsgleichung“ 27. Letztendlich basieren seine Prognosen damit auf der Preisentwicklung und deren Konsequenzen für die Realzinsen. Vereinfachend: ein psychologischer Ansatz (Babson), ein historischer, nichttheoretischer Ansatz (Harvard Barometer), und schließlich ein theoretischer Ansatz (Fisher), wobei die Übergänge fließend waren. Die konkreten Analysen und Prognosen erfolgten in eigens dazu gegründeten Organisationen. Die Babson Statistical Organization zählte in der Produktionsabteilung, die die Forschung durchführte und die wöchentlichen Berichte verfasste etwa 300 Personen und etwa 43 Verkäufer in der Marketing-Abteilung. In mehr als 16 großen Städten wurden regelmäßig Prognosekonferenzen mit bis zu 500 Teilnehmern durchgeführt. Die Zahl der Subskribenten des „Barometer Letters“ betrug 12 000 bei einer Gebühr von 7,50 Dollar je Monat (in Preisen von 2010 ca. 100 Dollar). – Der Harvard Economic Service verfügte über einen Stab von 38 Personen, wovon 14 mit der Erstellung der Berichte befasst waren, der Rest mit Marketing, Verwaltung der Subskriptionen und allgemeiner Verwaltung. Die Verkäufer arbeiteten auf Provisionsbasis. Auf die Subskriptionen und das Anzeigengeschäft entfielen ca. ¾ der Einnahmen des akquirierten Neugeschäfts. Seinen Markt sah der Harvard Economic Service bei Unternehmen mit einem Aktienkapital von mehr als 500 000 Dollar (in Preisen von 2010: ca. 6, 5 27 Die Gleichung bezeichnet den definitorischen Zusammenhang zwischen dem Produkt aus realwirtschaftlicher Aktivität und Preisentwicklung auf der einen Seite und Geldmenge und Umlaufgeschwindigkeit auf der anderen.

332

Ullrich Heilemann

Mrd. Dollar). – Über Irving Fishers Organisation liegen offenbar entsprechende Angaben nicht vor. Der Kreis der Kunden wie auch der Mitarbeiter war international. Die Berichte gingen per Kabel auch an europäische Verlage, insgesamt saß etwa ein Fünftel der Kunden im Ausland. Was die Mitarbeiter angeht, war der Harvard Economic Service am exklusivsten, zählten zu ihnen doch u. a. auch die University of Cambridge, die London School of Economics, John Maynard Keynes und mit Ernst Wagemann auch das Institut für Konjunkturforschung in Berlin (das spätere DIW). Die Frage nach der Treffsicherheit der drei Dienste ist aus datentechnischen Gründen schwer exakt zu beurteilen. Für die weitere Entwicklung war ausschlaggebend, dass alle Prognosen den Börsenkrach von 1929 und die nachfolgende Depression zu spät erkannten und im Verlauf der Krise ihre Prognosen immer unschärfer wurden. Dies entging auch den Kunden nicht, bei allen Schwierigkeiten der Beurteilung im Detail. Der Harvard Economic Service berichtete jedoch, dass bereits die verfehlte Prognose der Rezession von 1923 einen (temporären) Rückgang der Zahl der Subskribenten zur Folge hatte. Den meisten Kunden ging es, erstens, darum, breit abgestützte, durchaus unterschiedliche Einschätzungen zu erhalten. Entsprechend nahmen sie häufig mehrere Dienste in Anspruch, auch um dadurch zu erfahren, was ihre Konkurrenten und Kunden erwarteten. Zweitens ging es um Quantifizierungen – im Unterschied zu den bei Geschäftsleuten üblichen qualitativen, partiellen Einschätzungen. Die Prognosen standen für Kompetenz und Autorität und Kompetenz, insbesondere, wenn sie mit einem Universitätssiegel versehen waren, wie im Falle des Harvard Economic Service oder Fishers. Generell wurde Glaubwürdigkeit (Plausibilität) als wichtiger erachtet als die tatsächliche Treffsicherheit; die Nicht-Prognose eines Aufschwungs wurde milder beurteilt als die eines Abschwungs. Der Börsenkrach und die nachfolgende Depression bedeutete das Ende der Mehrzahl der Prognoseinstitute oder jedenfalls ihrer konjunkturprognostischen Aktivitäten. Die von ihnen verwendeten Methoden selbst überlebten freilich bis zum heutigen Tage. 2. Vom Gewerbe zur Industrie: Die „model shops“ Das „Versagen“ der amerikanischen Prognose-Institute 1929 und in der anschließenden Depression hatte drei tiefgreifende Folgen: das Entstehen der makroökonomischen Theorie, die Entwicklung der Ökonometrie und die Ausweitung und Verbesserung des Angebots an statistischen Daten, namentlich durch die Schaffung der VGR. Methodisch kumulierten diese Entwicklungen – wie erwähnt – in der Entwicklung makroökonometrischer Modelle, ermöglicht durch die wachsende Verfügbarkeit immer leistungsfähigerer elektronischer Rechenmaschinen (Abb. 1). Die Prognosebedarfe der großen Unternehmen sowie der

1949

Keine unterschiedlichen Lösungen

Intregration von Parameterschätzung und Modellösung

Erste Onlinedatenbanken und vernetzte Software-Systeme

1983 1985 1987

Regressionsschätzung und Ergebnisübermittlung in 1 Minute

Schätzung eines 300Gleichungen-Modells in 1 Woche

Abb. 1: Stationen der rechentechnischen Grundlagen des makroökonometrischen Modellbaus.

Konstruktion eines 200-GleichungenModells durch 15 Forscher innerhalb 1 Jahres technisch möglich

1. TROLL-Version; Integration von Funktionen möglich

Erste öffentlich nutzbare elektronische Datenbanken

1980

Modellbearbeitung durch mehrere Personen gleichzeitig möglich; aber: Speicherkapazität nicht ausreichend!

1967 1968 1969 1971 1972 1973

1. Simulation

Entwicklung leistungsfähigerer Rechner; noch keine Vernetzung möglich

1962

Regressionsschätzung in 1 Stunde

Veröffentlichung des Klein- Regressionsschätzung in 1 Minute; Goldberger-Modells Ergebnisübermittlung in 8 Stunden

Speicherverarbeitung eines Rechners: 1KB

1954 1955 1957

Erste Regressions- und Matrix-Packages

Staatliche Organisationen verwenden makroökonomische Modelle

Eigene Darstellung nach Angaben bei Renfro (2004a, b) und eigene Recherchen.

Regressionsschätzung in 1 Tag

1946

Beginn Entwicklung ökonometrischer Software und Nutzung von Computern

Speicherverarbeitung eines Rechners: 32 KB

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung 333

334

Ullrich Heilemann

Banken und Versicherungen waren in der Nachkriegszeit weiter gestiegen und vor allem der des Staates als Folge seiner gestiegenen „Konjunkturverantwortung“; allein in der (amerikanischen) Bundesregierung war die Zahl der Ökonomen von 5 000 im Jahre 1938 auf 16 000 im Jahre 1982 gestiegen (bei etwa 100 000 Ökonomen insgesamt). 28 Vieles sprach mithin für eine Renaissance von „Konjunkturinstituten“. Deren Schicksal sprach jedoch nicht nur für einen inhaltlichen und methodischen Neuanfang, sondern erforderte, teils als Folge, teils davon unabhängig, auch eine Neugestaltung des Produktions- wie des Verwertungsprozesses einschließlich der Leitung der Institute – bei den Gründern / Eigentümern handelte es sich nun durchweg um renommierte Ökonomen. Aus dem Gewerbe sollte eine Industrie werden. Die Voraussetzungen für ein wesentlich verbessertes Angebot an Prognosediensten waren aus den genannten Gründen unvergleichlich günstig 29: Umfang und Qualität der Konjunkturdaten hatten sich wesentlich verbessert. Die methodischen Grundlagen zu einer konsistenten, wissenschaftsbasierten Verarbeitung und Analyse der Daten waren mit der Ökonometrie gelegt und im Fach, zunächst weniger in der Prognose-Zunft, akzeptiert, zumal die bisherigen Verfahren der Konjunkturprognose als ungenügend, veraltet, inkonsistent, als „measurement without theory“ 30 desavouiert worden waren. Zwar zeigte sich gegen Ende der 1960er Jahre, dass sich keineswegs alle mit den Modellen verbundenen Erwartungen erfüllen würden, z. B. Bau und Handhabung der Modelle weit weniger objektiv und die Treffsicherheit der Prognosen keineswegs überlegen waren, wie ursprünglich von ihren Proponenten erwartet. 31 Aber dem stand eine immer länger werdende Reihe von technischen Vorteilen gegenüber, wie z. B. die digitale Verfügbarkeit der Daten der Analysen und Prognosen, die problemlose Variation der Annahmen (Simulation) und Aktualisierung der Prognosen, vom „gadget“ Charakter der Modelle ganz abgesehen. Zwar standen diese technischen Möglichkeiten nicht nur den model shops und ihren Methoden zu Gebote, aber sie waren es, die sie am schnellsten und am breitesten aufnahmen und nutzten. Ähnlich wie in den 1920er Jahren verdrängte die neue Methode zwar nicht die in der Nachkriegszeit neu etablierten Verfahren, wie das informale GDP-model oder die traditionelle Indikatormethode, die in den Lehrbüchern bis in die 1960er Jahre vorherrschten. 32 Aber ihre Vorteile machten die Modelle zunehmend un28

Vgl. Stein (1986). DRI beschreibt seinen Kundenstamm in einer Werbebroschüre aus dem Jahre 1979 wie folgt: die meisten Industrieunternehmen der „Fortune top 200“-Liste, 2/3 der 200 größten Geschäftsbanken, mehr als die Hälfte der 50 größten Maklerfirmen und mehr als 60 staatliche Institutionen. 30 Koopmans (1947). 31 Vgl. Hickman (1972). 32 Bratt (1961), ein wichtiges Lehrbuch der Konjunkturprognose, 1. Auflage 1937, ignoriert ökonometrische Modelle vollständig. Bassie (1958) widmet dem ökonometrischen Modellansatz immerhin zehn von knapp 700 Seiten. 29

Zur Industrialisierung der empirischen Wirtschaftsforschung

335

entbehrlich. Die Kapazität der elektronischen Rechner hatte kontinuierlich zugenommen und sorgte nicht nur für eine Reduzierung der Lösungszeit der Modelle bei Prognose und Simulation, sondern erlaubte, wie gezeigt, zunehmend auch den Bau und die Verwendung immer größerer Modelle – wissenschaftlicher Fortschritt ist nicht nur in den Naturwissenschaften oft besseren Instrumenten geschuldet. Aber dies erforderte auch erhebliche Investitionen in die Entwicklung und den Ausbau der software zur problemlosen Nutzung der Modelle. Die allgemein verfügbare Ökonometrie-software beschränkte sich bis in die 1970er Jahre auf die ökonometrische Schätzung von Einzelgleichungen (Abb. 1). Erst in den 1980er Jahren, im Zuge der Entwicklung der Miniaturisierung der mainframe computer war sie in der Lage, Mehrgleichungssysteme zu bearbeiten. 33 Die model shops sahen sich daher gezwungen, eigene software zur integrierten Schätzung, Lösung und Darstellung der Ergebnisse zu entwickeln und damit auch die arbeitsteilige Bearbeitung und Entwicklung der Modelle zu erleichtern. Bei aller Begeisterung für die großen Rechenmaschinen seitens der Modellbauer – die theoretische Fundierung der Modellarbeit wurde in der Folge nur wenig verändert. Die aufkommenden Versuche der Gleichungsselektion mit Hilfe automatischer Modellerstellungssysteme oder Verfahren der Künstlichen Intelligenz fanden offenbar ebenso wenig Resonanz bei der Modellarbeit wie die in den 1960er Jahren entwickelte optimal control theory. 34 Nicht nur was die Behandlung der traditionellen Felder Theorie, Daten, Methoden und Computer, sondern auch die gleichzeitige Entwicklung und Nutzung der Modelle angeht, war die Modellarbeit zunehmend zu einem sehr arbeitsteiligen „Prozess“ geworden. Dies betraf nicht nur die eigentliche Modellarbeit, die sich auf eine Vielzahl von spezialisierten Mitarbeitern stützte, sondern auch ihr Umfeld, also die Datenarbeit, die software-Entwicklung und die hardware-Bereitstellung angeht. Möglich geworden war dies auch dadurch, dass die EinzelgleichungsÖkonometrie, weniger Modellbau und -anwendung, seit den späten 1960er Jahren zunehmend Eingang in die Curricula der Universitäten gefunden hatte. An hinreichend ausgebildetem Personal bestand zumindest für WEFA, DRI und Chase Econometrics (s.u.) offenbar kein Mangel. Ebenso auf der Seite der Kunden, d. h. den volkswirtschaftlichen Abteilungen der Unternehmen wie auch der Öffentlichen Hand, die zunehmend zu einem wichtigen Nutzer der Modelle und ihrer Ergebnisse wurde. 35 Der fachgerechte Umgang mit den Modellen, Prognose und Simulation mit den neuen Techniken wurde den Subskribenten in 33 Zu den vielfältigen Anstrengungen z. B. von DRI auf diesem Gebiet vgl. Kasputys (1985), wobei immer darauf zu achten war, dass die diese Anstrengungen den Möglichkeiten der Kunden nicht allzu weit vorauseilten. 34 Kasputys (1985) zeichnet zwar bezüglich entsprechender Versuche bei DRI ein günstigeres Bild – für einen ehemaligen DRI-Präsidenten verständlich –, Belege für unmittelbare Konsequenzen für die Modellarbeit gibt aber auch er nicht. 35 Vgl. Fourcade (2009), S. 14ff., s. auch oben.

336

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speziellen Kursen und Hand- und Lehrbüchern der Modell-Lieferanten 36 vermittelt oder – im Fall der Regierung 37 – seitens der Kunden selbst erschlossen. In beiden Fällen naturgemäß nicht übermäßig kritisch. Den institutionellen Rahmen fanden die neuen Form um die Mitte der 1960er Jahre – WEFA wurde 1963 (von Lawrence Klein), DRI 1968 (von Otto Eckstein und Partnern) und Chase Econometrics 1970 (von Michael K. Evans, ein ehemaliger Mitarbeiter von Klein, und der Chase Manhattan Bank) gegründet. 38 Während WEFA 1963 zunächst Teil eines „not-for-profit“-Projektes zur finanziellen Unterstützung der Wharton School war und erst 1969 „kommerzialisiert“ („incorporated“) wurde – ohne je Gewinn zu erzielen 39 – waren die beiden anderen Institutionen von Anfang an kommerziell orientiert. 40 Grundlage bildeten die Erfahrungen, die Klein, Eckstein und Evans und ihre Mitarbeiter bei den universitären Modellentwicklungen der späten 1950er und 1960er Jahre gewonnen hatten und die ihnen zu erheblichem Prestige innerhalb und außerhalb des Fachs verholfen hatten. Bei Eckstein kam seine Tätigkeit u. a. im Council of Economic Advisers (1964 –1966) hinzu, die ihm im politischen Bereich beträchtliches Ansehen verschafft hatte. 41 Die Gründungen wurden, was selten erwähnt wird, dadurch erleichtert, dass mit den Erfahrungen im Modellbau nicht nur ein erheblicher Gewinn an spezifischer Expertise verbunden war, sondern de facto auch ein erheblicher Real-Transfer. Denn die zur Modellentwicklung erforderlichen Mittel waren – wie in vielen anderen Fällen, aktuell besonders spektakulär in der Bio-Medizin 42 – zuvor von Universitäten und Stiftungen zur Verfügung gestellt worden; genaue Angaben dazu liegen nicht vor, aber der Betrag dürfte in heutigen Preisen jenseits der Zehn-Millionen-Dollar-Grenze liegen. 43 Die Schaffung neuer institutioneller Grundlagen war jedoch auch aus sachlichen Gründen erforderlich. Die Lieferung regelmäßiger, monatlicher Prognosen zu fixen Terminen, die Beratung von Kunden u. ä. sprengten Aufgabenfeld und 36

Vgl. DRI (1976), Sinai (1977); Sanderson (1981); Maroon (1985). Vgl. Gass / Sisson (1974). 38 Vgl. Bodkin / Klein / Marwah (1991), S ...; Marron (1984); Wilson (1984). 39 Vgl. Hiltzig (1985). 40 Vgl. Fourcade (2009), S. 118f. 41 Die wirtschaftspolitischen Ambitionen der Gründer scheinen sich allerdings, anders als etwa Irving Fisher, in engen Grenzen gehalten zu haben, wenn man davon absieht, dass sie wie der Keynesianismus und anders als etwa die Neoklassik oder der Monetarismus tendenziell aktivistisch orientiert waren. Wieweit politische Ambitionen die Arbeit oder die Ergebnisse prägten wäre einer Untersuchung wert. 42 Vgl. Venter (2009). 43 Vgl. dazu z. B. auch die Angaben in McCracken / Keith (2004) über die Kosten des kanadischen CANDIDE-Modells. Lodewijks (1989) berichtet für das Brookings-Modell für den Zeitraum 1963 bis 1972 von mehr als 1 Mio. Dollar (in Preisen von 1982: 2,5 Mio. Dollar) allein durch die NSF. Vgl. auch oben FN 25 bzw. Newlon 1989. 37

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Möglichkeiten des universitären Rahmens, desgleichen die Beschäftigung von Marketing- und von software- und hardware-Experten, 44 partiell auch die Verfügbarkeit der erforderlichen hardware- und software-Kapazität. Mitte der 1970er Jahren, die Gründungen der ersten model shops lagen zehn und mehr Jahre zurück, kam ein weiterer Aspekt hinzu. Die grundlegenden Techniken der Modellarbeit schienen beherrscht und ausgereizt, die wissenschaftliche Attraktivität der Modellarbeit ging zunehmend verloren 45 oder lag in mehr oder weniger radikalen Variationen des „Grundmodells“, etwa zu einem (monetaristischen) EinGleichungsmodell. 46 Die Attraktivität der Modellarbeit bestand zunehmend vor allem in der Analyse und Prognose, der Anpassung der Modelle an das, was als Forderungen des Marktes an Informationsgehalt und Anwendbarkeit gesehen wurde. Eine besondere Bedeutung gewann dabei, zumindest was DRI angeht, die Verbreiterung des Informationsgehaltes der Modelle durch deren Ergänzung um spezielle Branchen- und Regionalmodelle, vor allem Modelle für die Gebietskörperschaften, sowie Modelle anderer, wichtiger Volkswirtschaften. 47 Dass der staatliche Sektor selbst – ähnlich wie die Unternehmen – trotz seiner erheblichen Ausgaben für Modellleistungen lange Zeit auf eigene Modellentwicklungen verzichtete, hing wesentlich mit den höheren Legitimationswirkungen externer Modelle und der Medienprominenz der Leiter der model shops zusammen, die für diese durchaus zum Geschäft gehörte. 48 Hinzu trat eine sukzessive Erweiterung der Modelle um Umfrageergebnisse und Indikatoren – alles in allem also eine Integration jener Methoden, die abzulösen die Modelle angetreten waren. Das Gewinn-Motiv – wie die erzielten Gewinne selbst – dürfte bei den einzelnen Gründern und Instituten eine unterschiedlich große Rolle gespielt haben, nicht zuletzt auch angesichts der Größe der einzelnen Institute, ihres Kapitalbedarfs zwecks Expansion usw. Ihr wissenschaftliches Interesse war – wie ihre Fach-Veröffentlichungen belegen – jedenfalls ungebrochen, zumal das den model shops zur Verfügung stehende Instrumentarium und deren wissenschaftliche Kapazität unvergleichliche Möglichkeiten boten. Hinzu kam, dass sich z. B. DRI, ähnlich wie zuvor das Harvard Committee, bereits frühzeitig durch Beratungsverträge vor allem für ökonometrische Probleme prominenter Wissenschaftler

44 Zur Entwicklung der hardware und insbesondere der software für die ökonometrische Schätzung und die Modellarbeit im Allgemeinen sowie den Beitrag von DRI und Chase Econometrics im Besonderen vgl. Renfro (2004a,b), insbesondere S. 32ff. Die Integration von Regressionsschätzung, Tabellen- und Graphikerstellung einerseits und Modelllösung andererseits war mit der von DRI entwickelten software erst seit 1980 möglich. 45 Vgl. Fourcade (2009), S. 118. 46 Vgl. Elliott (1985). 47 Vgl. dazu auch Kaputsys (1985). 48 Ebenda.

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versichert hatte 49, die damit auch entsprechender Kritik die Spitze nahm und Verbündete bedeutete. Über den ökonomischen Erfolg der model shops liegen nur wenige Angaben vor. Fest steht, dass die Zahl ihrer Subskribenten mindestens bis in die 1980er Jahre ständig zunahm und insbesondere der öffentliche Bereich zu einem wichtigen Subskribenten und Auftraggeber von Spezialuntersuchungen wurde (auch wenn die hohen variablen Kosten dieser Aufträge der Geschäftsidee der „industrialisierten“ Forschung – hohe Fix-, niedrige variable Kosten – widersprach). Die Kosten für die Basis-Subskription betrugen in den 1970er Jahren ca. 12 000 Dollar (2004: ca. 65 000 Dollar), wozu dann beträchtliche Kosten für die Rechenzeit des mainframe computer und Kosten für die Telefonverbindung kamen; in den 1980er Jahren war bei DRI je Subskribent von durchschnittlich 75 000 Dollar die Rede. Es liegt auf der Hand, dass derartig aufwändige Ausgaben mit nicht für jeden unmittelbar einsichtigem Wert ebenfalls des Marketings bedurften: „economic advice, like toothpaste and widgets, is sold, not bought“ 50. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde das Geschäftsvolumen auf 250 Mio. Dollar (in Preisen von 2008: 600 Mio. Dollar), der Gewinn von DRI auf 11 Mio. Dollar bei einem Umsatz von etwa 100 Mio. Dollar taxiert, wovon freilich die Hälfte auf timesharing-Einnahmen entfiel. 51 Die geschäftliche Entwicklung der model shops verlief indessen nicht ohne Brüche. Anders als die Vorgänger der 1920er überstanden die Institute – wie alle anderen – die Fehlprognosen im Zuge der Ölkrise und der anschließenden Inflationsperiode sowie der Rezession 1981f., namentlich auch den Fehlschlag bei der Beurteilung der Reaganschen „supply side“-Politik. Obwohl, wie erwähnt, die Treffsicherheit nicht im Zentrum des Interesses der Kunden stand, reagierten die model shops durch Erweiterung der Modelle um „Angebotsbedingungen“ usw. 52 Hart traf dagegen die model shops – wie die Computerindustrie insgesamt – erstens, der Technologie-Schock, der mit dem Aufkommen der Personalcomputer und damit dem Abschied vom mainframe computer und dem damit verbundenen timesharing Einnahmen verbunden war. Sie erlaubten es kleinen Unternehmen und Einzelpersonen im Verbund mit den elektronischen Datenbanken und ubiquitären software-Paketen, die Datenanalyse und -bearbeitung mit vergleichsweise geringen Kosten am eigenen Schreibtisch zu erledigen. Zweitens, aus einer Reihe von Gründen, sank das Bedürfnis nach einer konsistenten, statistisch-ökonometrisch fundierten Sicht der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – viele Unternehmen schafften im Zuge der Divisionalisierung ihre 49 Vgl. Marron (1984) nennt Lawrence Klein, Martin Feldstein, Lester Thurow, Marc Nerlove, Dale Jorgenson und Robert Hall. 50 Ebd., S 539. 51 Vgl. Hiltzik (1985). 52 Heilemann (2002).

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Volkswirtschaftlichen Abteilungen ab. Drittens, durchliefen die Vereinigten Staaten die schwerste Krise der Nachkriegszeit und auch bei den Großunternehmen wurde nach Einsparmöglichkeiten gesucht. Die Modell-Industrie konnte sich angesichts erheblicher Preissenkungen sowie des durch den Wegfall der Einnahmen aus dem Verkauf der Rechenzeit, Überarbeitung der software usw. verursachten Erlöseinbruchs einer drastischen Konsolidierung nicht entziehen. Nach einer Reihe von Übernahmen und Fusionen führte dies dazu, dass seit 2002 DRI, WEFA und Chase Econometrics mit IHS Global Insight verschmolzen sind, einem weltweit tätigen Unternehmen der Informationsindustrie. 53 Neue, kleinere Institute traten auf den Plan und wurden zumindest in Washington einflussreich. 54 An der Praxis der model-shops scheint sich allerdings nichts Wesentliches geändert zu haben, wenn man von der im Vergleich zu ihren Vorgängern entschiedeneren Vertretung ihrer theoretischen und modellkonzeptionellen Vorstellungen absieht. 55

IV. Mängel, Kritik und Reaktion der „Industrie“ Die Arbeit der model shops erfuhr – wie angesichts ihres Erfolges zu erwarten war – von unterschiedlichen Seiten und aus unterschiedlichen Gründen vielfache, z.T. durchaus widersprüchliche Kritik. Zwar zielten nur sehr wenig davon direkt auf die model shops und die „Industrialisierung“ der empirischen Wirtschaftsforschung – indirekt waren aber durchaus sie gemeint. 56 Ehe darauf eingegangen wird, ist jedoch eine Relativierung erforderlich. Aus kognitiver Sicht ist die Modellentwicklung nicht ganz so eindrucksvoll, wie zunächst vermutet werden könnte. Zwar belegt Tabelle 2 ein bemerkenswertes Größenwachstum der Modelle. Lawrence Klein mag dabei aus kognitiven Gründen eine disaggregierte Perspektive und damit ein Abrücken von der hochaggregierten Perspektive des damaligen Keynesianismus bereits in den 1950er Jahren vorgeschwebt haben. 57 Für die model shops aber war die Disaggregation in erster Linie die Antwort auf die spezifischen Interessen einzelner Nutzer und Nutzergruppen – Zentralbanken, Industrie, Finanzsektor – an der Verbreiterung (Finanzsphäre) und Vertiefung 53 Das Unternehmen verfügt zur Zeit über „325+ professional analysts, researchers, and economists on our staff of 700 employees bring expertise spanning more than approximately 170 industries and over 200 countries“. Vgl. www.ihsglobalinsight.com, Abruf vom 3. Mai 2010. 54 So z. B. die 1982 in St. Louis, MI, gegründeten Macro Advisers, die das Washington University Macro Model für die Vereinigten Staaten betreibt. 55 Vgl. dazu z. B. die sehr kritische Auseinandersetzung mit der Lucas-Kritik und den Real Business Cycle Modellen von Morley (2010). 56 Hierzu und dem folgenden vgl. Heilemann (1980, 2002) und die dort aufgeführte Literatur, namentlich Brunner (1973). 57 Vgl. Lodewijks (1989).

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(Industrie) des sektorspezifischen Informationsgehalts der Modelle. 58 Die detaillierte Abbildung des Finanzsektors in der zweiten und dritten Generation des DRI-Modells z. B. veränderte zwar dessen Reaktionen in Richtung „monetaristischer“ Vorstellungen und Erwartungen der 1970er Jahre. 59 Die Treffsicherheit des Modells verbesserten diese (rekursiven) Modellerweiterungen naturgemäß nicht. Hinzu kam – auch das störte die staatlichen und privaten Subskribenten wenig – dass die Modelle, sowohl was ihre Reaktionen als auch was ihre Erklärungsgüte angeht, angesichts gleicher Daten, ähnlicher theoretischer Grundlagen, ähnlichen Aufbaus und gleicher Methoden, wenig nicht zu erklärende Differenzen aufwiesen. Offensichtlich hatte sich auch in dieser Hinsicht ein „Industriestandard“ herausgebildet. Gelegentliche öffentliche Debatten über die Aktualität der jeweiligen Modelle schloss dies nicht aus, wie ein Streit zwischen Evans und Eckstein über die Rolle der „supply side“ – das seinerzeit neue Paradigma – illustriert. 60 Umgekehrt geht der seit den 1970er Jahren geäußerte Vorwurf, die Makromodelle seien „big and ugly“ an der Sache vorbei: Größe ist per se kein Nachteil, schon gar nicht, wenn sie von den Kunden gefordert wird. Dass der akademische Bereich angesichts beschränkter Erklärungsinteressen und Ressourcen kleine, überschaubare Modelle präferiert, bedarf wenig Erklärung. 61 Daneben konzentrierte sich die Kritik des Fachs vor allem auf vier Aspekte: die bereits genannte endogene und klassische Kritik, die verwendeten Schätzverfahren und die Spezifizierung der Modelle. Letztere mündete ab Mitte der 1970er Jahre in der Monierung der fehlenden theoretischen / mikroökonomischen Fundierung der Schätzgleichungen und letzten Endes in dem Vorwurf der Vernachlässigung des Parameterwandels und damit in einer Fundamentalkritik an der Aussagekraft wirtschaftspolitischer Simulationen („Lucas-Kritik“). 62 Die Kritik betraf zwar alle makroökonomischen und -ökonometrischen Modelle und Aussagen, aber sie musste solche mit empirischem wirtschaftspolitischem Geltungsanspruch besonders treffen. – Eine explizite Auseinandersetzung mit diesen Vorwürfen fand seitens der model shops nicht statt, aber es erwies sich auch als unmöglich, überzeugende Belege für die Hypothese der „Rationalen Erwartungen“ zu finden oder den Nachweis für inakzeptable Ergebnisse der KQ58 Zu den entsprechenden Möglichkeiten vgl. z. B. Adams 1986. – Mit dem wachsenden Interesse an detaillierten Aussagen zur Entwicklung einzelner Branchen oder des Staatssektors führte dies dazu, dass dem nicht mehr innerhalb des immer umfangreicheren Grundmodells, sondern in Gestalt von sog. Satellit-Modellen Rechnung getragen wurde, die mit dem Hauptmodell (rekursiv) verbunden waren. Inwieweit hinter diesen Wechseln wirtschaftliche Überlegungen standen (Rechenzeit!), muss für Dritte offen bleiben. 59 Eckstein (1983), S. 2ff. 60 Vgl. dazu die Debatte der Beiden im „Wallstreet Journal“ vom 27. und 29. August 1979. 61 Im Einzelnen dazu Heilemann (2002), Fair (2000) sowie, umfassend zur Kritik an makroökonometrischen Modellen, Bodkin / Klein / Marron (1991), S. 551 ff. 62 Vgl. z. B. Zellner / Peck (1973).

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Methode zu führen. 63 Dem Vorwurf der fehlenden mikroökonomischen Fundierung wurde mit Verweis auf die seit den 1970er Jahren gestiegene Varianz der wirtschaftlichen Entwicklung begegnet. 64 Das Problem der Parameter- bzw. Reaktionsstabilität fand gleichwohl in den model shops unerklärlicherweise kein Interesse, obwohl ja seit den 1970er Jahren auch wegen möglicher Parameter- / Reaktionsänderungen die Modelle regelmäßig neu geschätzt werden. Auf den ersten Blick scheinbar weniger bedeutsam, letzten Endes aber doch sehr belastend und ärgerlich war der Vorwurf des „pragmatic numberism“, d. h. die für Außenstehende undurchsichtige, zu komplexe Modellstruktur. Sie mache für sie ein Nachvollziehen der Modellergebnisse unmöglich, insbesondere wenn – wie in der Tat der Fall – bei Prognosen bei vielen Gleichungen zusätzliche Informationen einbezogen wurden, was den statistisch-ökonometrisch fundierten Erklärungsanspruch relativierte. Davon abgesehen, wäre hinzufügen, näherten sich damit die Modelle dem informalen GDP model und deren Vertreter können dann auf die noch immer größere Flexibilität ihres Ansatzes verweisen. Letztlich damit zusammenhängend, eine Reihe eher impliziter Vorwürfe: der Keynes- / Klein-Ansatz befriedige theoretisch nicht oder bestimmte Einflüsse seien in den Modellen unterrepräsentiert (supply side-Effekte, die Selbstfinanzierung von Steuersenkungen, die sog. Laffer-curve, usw.), die Modelle seien unzureichend spezifiziert (Sims-Kritik). Die Modellbauer – nicht nur die in den model shops – kümmerten sich wenig oder gar nicht um Transparenz ihrer Modelle 65 und Struktur, Stärke und Verlauf der Modellreaktionen. Die Erklärungsgüte werde wenig untersucht, die Untersuchung der ex ante-Treffsicherheit der Modellprognosen finde kein Interesse. Die Modellbauer reagierten auf die Vorwürfe selten und dann eher zurückhaltend: Eckstein etwa wollte die Analyse der Treffsicherheit der DRI-Makroprognosen prinzipiell Dritten überlassen. 66 Die Einstellung ist bei Prognostikern weit verbreitet, im Falle der Modellprognosen vergibt sie freilich die im Vergleich etwa zum GDP model die beträchtlichen analytischen Möglichkeiten der Modelle. Unabhängig davon entstand eine reichhaltige Literatur zu diesen Fragen. 67 Zum Teil erledigte sich die Kritik von selbst. Die Blüte monetaristischer 63

Vgl. Eckstein (1983), S. 40ff.; Fair (2000); Evans (2003), S 403ff. Vgl. Eckstein (1983), S. 35; Mayer (1995), S. 26ff. 65 Modell-Dokumentationen – schriftlich oder gar elektronisch – sind von den Modellbauern nur schwer zu erhalten, Monographien der Modelle sind mittlerweile gänzlich unüblich geworden, auch in der akademisch orientierten Modellarbeit. 66 Vgl. Eckstein (1983), S. 24. – Kaputsys (1985) berichtet allerdings, dass intern die Analyse Prognosefehler sehr intensiv sei und alle neueren theoretischen und methodischen Entwicklung auf den Prüfstand gekommen seien – aber regelmäßig mit negativem Ergebnis. 67 Vgl. McNees (1986). 64

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Modelle auf der Basis der Fisherschen Verkehrsgleichung erwies sich als sehr kurz. 68 Vor allem aber ihr geringer Informationsgehalt – sie erklärten nur das Wachstum des BIP und die Inflationsrate – entsprach in keiner Weise dem Bedarf der model shop-Kunden. Neue Entwicklungen wie die Angebotsprobleme im Anschluss an die Ölkrise wurden dagegen rasch aufgenommen – wirtschaftspolitische Aktualität ist in der Regel ebenso ein Muss für die model shops wie die empirische (s. o.)! Eine weitere Ausnahme bildete die Untersuchung der prognostischen Leistungsfähigkeit der in den 1970er Jahren aufkommenden Zeitreihenmodelle, 69 die aber die hochgespannten Erwartungen (außerhalb der model shops) nicht erfüllten, ganz abgesehnen von ihrem geringen Informationsgehalt. 70 Das zunehmend verfügbare und dank verbesserter Rechner auch anwendbare Instrumentarium zur Modellanalyse der Modelle und ihrer Reaktionen fand indessen praktisch keine Resonanz in den model shops. Weder wurde versucht, mit Hilfe der Analyse der Modellverflechtung noch mit der Analyse des dynamischen Verhaltens der Modelle, der Identifikation einflussreicher Parameter / Variablen oder Beobachtungen Licht in die „black box“ zu bringen und so dem Komplexitätsvorwurf zu begegnen. 71 Systematische Modell- und Prognoseüberprüfungen, wie sie seit Mitte der 1980er Jahre in Großbritannien in vorbildlicher Weise unternommen wurden, 72 fehlten. Die in den 1960er Jahren begonnenen „ModellKonferenzen“, bei denen die Simulations- und Erklärungsleistungen untersucht wurden, fanden in den 1980er Jahren kaum noch Fortsetzungen. Gerechterweise darf jedoch nicht verschwiegen werden, dass auch die akademische Modellgemeinde wenig Interesse an der Transparenz und analytischen Durchleuchtung ihrer Systeme zeigte. Statt im „deepening“ schien vor allem seit Mitte der 1980er Jahre der wissenschaftliche Ertrag im „widening“, d. h. in der Exploration neuerer Entwicklungen, wie der Hypothese der Rationalen Erwartungen, Ko-Integration, real business cycles, Gleichgewichtsorientierung usw., zu liegen. Eine Entwicklung, die auch in den Zentralbanken zu beobachten war, 73 ohne dass diese durch externe Interessen oder übermäßige Ressourcenknappheit eingeschränkt gewesen wären. Seitens der Kunden wurde offenbar wenig Kritik an den model shops geübt, was damit zusammenhängt, dass diese vor allem an dem Produkt bzw. den 68

Vgl. Elliott (1985). Vgl. Chazen (1977). 70 Vgl. Evans (2003), S. 444ff. 71 Vgl. Belsley / Kuh / Welsch (1980); Hickman (1980); Belsley / Kuh (eds.) (1986). – Die entsprechenden Arbeiten waren übrigens ebenfalls maßgeblich von der NSF gefördert worden. (Newlon 1989). 72 Vgl. Wallis et al. (1985). 73 Vgl. Fagan / Henry / Mestre (2004). 69

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Prognosen interessiert sind, wobei die Treffsicherheit überraschenderweise nachrangig ist. 74 Die eigene Arbeit mit den Modellen bildet eher die Ausnahme, und entsprechend gering ist das Interesse am Verständnis der Modelle. Der Wunsch nach größerem Informationsgehalt findet jedenfalls unmittelbaren Eingang in Modellstruktur und Systemaufbau, wie die unmittelbare Verbreiterung des Informationsgehaltes oder die Verbindung mit Modellen z. B. für den Energie-, Landwirtschafts-, Holz- oder den Automobilsektor oder die ständige Ausweitung des Datenangebots – es war von 3 000 Zeitreihen in den späten 1960er auf über 100 Millionen bereits Mitte der 1980er Jahre angestiegen – illustrieren. Der Mangel an Informationen über die Modellvalidität, die Modellstrukturen und ihre Konsequenzen oder die Prognoseleistungen wird jedenfalls nicht als großes Hindernis empfunden. Wohl auch deshalb, weil viele Nutzer auf eigene Simulationen verzichten und nur auf die von den model shops angebotenen Model-Lösungen („Otto’s view“) zurückgreifen. Wie bei ihren Vorläufern in den 1920er Jahren sehen eben viele Subskribenten die Modell-Ergebnisse nur als eine von mehreren Quellen ihrer eigenen Prognose an, zumal sie verglichen mit eigener Produktion preisgünstig sind.

V. Zusammenfassung und Ergebnis Ab Mitte der 1960er Jahre durchlief die Konjunkturanalyse und -prognose in den Vereinigten Staaten eine tiefgreifende Transformation. Neben die bis dahin primär handwerklich-kleinbetriebliche trat zunehmend eine industriell-großbetriebliche Produktionsweise. Methodische Grundlage dieses Wandels bildeten makroökonometrische Modelle. Den organisatorischen Rahmen lieferten kommerziell ausgerichtete „model shops“, Institute, die ihren Subskribenten regelmäßig quantitative gesamtwirtschaftlichen Analysen und Prognosen sowie die dazu verwendeten Modelle, Daten und software zur Verfügung stellten. Der wichtigste Unterschied zu Vorgänger-Instituten der 1920er Jahre bestand dabei, erstens, in den radikal veränderten produktionstechnischen Bedingungen. Die Kapitalintensivierung in Gestalt der Computerkapazität und der zu dessen Nutzung erforderliche Ausbau komplementärer Dienstleistungen – software-Entwicklung und -Pflege – hatte enorm zugenommen. Der hohe Anteil an Fixkosten bzw. die stark degressiven Grenzkosten für die Nutzung der Dienste drängten die model shops nach einer möglichst großen Ausschöpfung des Kunden-Potentials. Die Verwertungsbedingungen führten, zweitens, nicht nur zu erheblichen MarketingAnstrengungen, sondern vor allem auch zu Anpassungen und Zugeständnissen an die Kundenwünsche bei der Produktion. Forschung und Fach profitierten von dieser Industrialisierung und Professionalisierung der Wirtschaftsforschung beträchtlich. Zwar waren makroökonome74

Vgl. Daub (1987), S. 110ff.

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trische Modelle seit den 1950er Jahren verfügbar. Aber es war den model shops vorbehalten geblieben, diese anwendungsreif zu machen und einzusetzen. Auch wenn dieses Angebot bei der Prognose konkurrierende Methoden und Produzenten eher ergänzte als verdrängte – auf längere Sicht waren die inhaltlichen und methodischen Konsequenzen der Industrialisierung erheblich. Die gesamtwirtschaftliche Analyse legte Annahmen und Hypothesen stärker offen, argumentierte zunehmend quantitativer und in wissenschaftlichen Kategorien (Annahmen / Hypothesen), verbesserte das Verständnis von der branchenmäßigen Reaktionen und Verflechtungen, den Wirkungen gesamtwirtschaftlicher Instrumente und internationaler Zusammenhänge. Die gesamtwirtschaftliche Analyse wurde lernfähiger, weniger personengebunden, prinzipiell formaler und theorieorientierter und offener im Sinne der Diskussion alternativer Entwicklungen. Die empirische Wirtschaftsforschung verbuchte einen beachtlichen Bedeutungsgewinn innerhalb und außerhalb des Fachs, der letztlich auch den Wirtschaftswissenschaften insgesamt zugute kam. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zeigten sich freilich auch Grenzen der Industrialisierung: Es wurde deutlich, dass die Modell-Ergebnisse um gegenüber Alternativen wettbewerbsfähig zu werden, modellexterner Ergänzungen, fachspezifischer Kenntnisse jenseits der Modelle bedurften. Gleichwohl war die Treffsicherheit der Prognosen der model shops denen des informal GDP models nicht überlegen, wenngleich sich letztere zunehmend auch der Ergebnisse der model shops versicherten. Bedeutsamer war daher, dass sich das wissenschaftliche Interesse zunehmend vom kommerziell geprägten Forschungsinteresse der model shops separierte: der „Markt“ – aber nicht nur er, sondern auch die Mehrzahl der nicht-kommerziellen Modellbauer – prämierten weder die Verbesserung der Treffsicherheit, noch die weitere wissenschaftliche Fundierung der Methode oder die Nutzung der analytischen Möglichkeiten der Modelle. Ebenso wenig hatten die Vorwürfe der Intransparenz der Modelle und Prognosen für die model shops bei ihren Kunden keine nachteiligen Folgen. Das ModellInteresse blieb fast ausschließlich auf die produktionsseitige Verbesserung der Verwertungsbedingungen und auf die Ausweitung der Subskribentenzahl beschränkt. Daran änderte sich auch nichts, als sich die „Industrie“ in der ersten Hälfte der 1980er Jahre infolge fundamentaler technischer und großer ökonomischer Veränderungen konsolidierte und schließlich in einem Unternehmen der Informationsindustrie mit einem breiteren Spektrum an Methoden und Diensten aufgingen. Das Verhältnis zwischen Produktions- und Verwertungsinteresse, zwischen Industrialisierung, Ökonomisierung und wissenschaftlichen Erfordernissen und Desiderata war in diesem Teil der empirischen Wirtschaftsforschung also nicht frei von Konflikten. Sie wurden bislang nicht gelöst. Der Grund dafür liegt fraglos in den „Verwertungsbedingungen“, dem Markt. Allerdings unterscheidet sich die Praxis der wissenschaftlich orientierten Modellbauer und -betreiber in

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Hochschulen, Zentralbanken und internationalen Organisation bis heute kaum von der der model shops. Transparenz und Erhöhung des Modellverständnisses finden im Fach eben bis heute nur geringes Interesse, ungeachtet der nun bereits seit langem bestehenden Möglichkeiten ihm leicht Rechnung zu tragen. Mit anderen Worten: Die seitens des Fachs reklamierten „Defizite“ der Modellarbeit sind letztlich also entweder Ausdruck fehlenden wissenschaftlichen Wettbewerbs oder Eingeständnis, dass die wissenschaftlichen Monita von geringer Relevanz für die akademische und die wirtschaftspolitische Praxis sind. Vermutlich verzeichnen andere Disziplinen ähnliche Konflikte. Aber Naturwissenschaften, Technik oder Medizin können oder wollen sich offenbar nicht die gleiche Souveränität gegenüber wissenschaftlichen Erfordernissen leisten wie die Wirtschaftswissenschaften oder zumindest der hier betrachtete Teil. 75 Auch die „invisible hand of truth“ leidet eben gelegentlich unter Arthrose. Wir sollten die Verwertungsbedingungen wissenschaftlicher Produktion nicht nur als Limitierungen, sondern eben nicht nur als Anreger und Ideengeber, sondern auch als Schiedsrichter akzeptieren, was in den Wirtschaftswissenschaften bislang kaum der Fall ist. „Wie viel Ökonomie braucht die Wissensgesellschaft?“ – so gesehen vielleicht mehr, als sie sich eingesteht. Aber darüber entscheidet bei uns die Wissensgesellschaft bislang weitgehend selbst – schöne Aussichten?

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Der Beitrag der Bildungsökonomie zur Schulqualitätsforschung – eine kritische Würdigung Von Manfred Weiß 1

I. Einleitung Innerhalb der Bildungsökonomie hat sich im Zuge ihrer thematischen Ausdifferenzierung in den 1970er Jahren ein Forschungsstrang entwickelt, der sich in systematischen Untersuchungen mit Fragen der internen Effizienz im Schulbereich befasst. 2 Dieser Forschungsstrang hat in den letzten Jahren einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs erfahren. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei bildungspolitisch beeinflussbare Bedingungsfaktoren der Qualität der Schulbildung. Dass diese Thematik zu einem zentralen Forschungsschwerpunkt avanciert ist, hat verschiedene Gründe: die hohe öffentliche Aufmerksamkeit, die Schülerleistungen im Gefolge von TIMSS und insbesondere PISA erfahren haben, wachsende Zweifel an der Effizienz herkömmlicher Strategien der Qualitätsverbesserung sowie die in neueren Studien der Humankapitalforschung herausgestellte Bedeutung der Ergebnisse internationaler Leistungstests als wichtige Prädiktoren des Wirtschaftswachstums von Ländern. 3 Die von der Bildungsökonomie in diesem Schwerpunkt bearbeiteten Fragestellungen haben eine größere thematische Schnittmenge mit den Forschungsprogrammen anderer Bildungswissenschaften, insbesondere der Erziehungswissenschaft, entstehen lassen. Welchen spezifischen Forschungsbeitrag leistet dabei die Bildungsökonomie, worin besteht der „Mehrwert“ ihrer Mitwirkung im Ensemble der anderen Referenzdisziplinen der Bildungsforschung? Bei der Erforschung der Bedingungsfaktoren von Schulqualität gilt das Hauptaugenmerk der Bildungsökonomie Ressourcen und Institutionen (im Sinne von verhaltenssteuernden Regelsystemen). In den Forschungsprogrammen der an1 Prof. Dr. Manfred Weiß ist assoziierter Wissenschaftler am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung sowie Honorarprofessor für Bildungsökonomie und Bildungsforschung an der Universität Erfurt. 2 Vgl. Weiß (1982). 3 Vgl. Hanushek / Kimko (2000); Hanushek / Wößmann (2008).

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deren Bildungswissenschaften finden solche distalen, vom Unterrichtsgeschehen entfernte „Oberflächenvariablen“ wenig Beachtung. Die Bildungsökonomie bringt zudem neuartige theoretische Zugangswege in die Bildungsforschung ein, z. B. Erklärungsansätze der Neuen Institutionenökonomie 4 bei ihren Analysen institutioneller Einflussfaktoren. Zugleich hat sie deren Methodenarsenal um Verfahren aus der Ökonometrie erweitert. Auf wachsendes Interesse der anderen Bildungswissenschaften stoßen vor allem Verfahren, die die Schätzung kausaler Effekte auch bei Vorliegen nicht-experimentell erhobener Daten erlauben. 5 Alleinstellungsmerkmal der Bildungsökonomie ist die Bereitstellung von Effizienzinformationen durch Zusammenführung von Wirksamkeits- und Kostendaten. Das qualifiziert sie in besonderer Weise zur Unterstützung von Entscheidungen unter verschärften Knappheitsbedingungen.

II. Der Forschungsansatz der Bildungsökonomie Bei der empirischen Erforschung der Qualitätswirksamkeit von Ressourcen und Institutionen bedient sich die Bildungsökonomie vorrangig des Konzepts der Bildungsproduktionsfunktion. 6 Die untersuchten Variablenzusammenhänge werden darin als Input-Output-Beziehungen modelliert; unterstellt wird ein direkter Einfluss von Ressourcen und institutionellen Merkmalen auf Lernergebnisse. Theoretisch zu begründen ist indes nur ein indirekter, über „unterrichtsnahe“ prozessuale Bedingungsfaktoren vermittelter Einfluss: die angebotenen Lerngelegenheiten, die Qualität der Instruktion und die Nutzung der Lerngelegenheiten durch die Schüler. 7 Der Produktionsfunktions-Ansatz der Bildungsökonomie 4 Die Neue Institutionenökonomie beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Institutionen (z. B. Verfügungsrechten, Verträgen, Organisationsstrukturen, Märkten) auf menschliches Verhalten. Sie untersucht insbesondere Möglichkeiten der effizienten Gestaltung von Institutionen. Die der Neuen Institutionenökonomie zurechenbaren Ansätze (Theorie der Verfügungsrechte, Transaktionskostentheorie und Principal-Agent-Theorie) sind durch weitgehend übereinstimmende Annahmen zum menschlichen Verhalten gekennzeichnet: individuelle Nutzenmaximierung und begrenzte Rationalität des Handelns (vgl. Picot / Dietl / Franck (1999), S. 54ff.). 5 Vgl. die Übersicht bei Schneider et al. (2007). 6 Das üblicherweise der Effektschätzung zugrunde liegende Modell einer Bildungsproduktionsfunktion lässt sich formal wie folgt darstellen: Q = F´β1 + R´β2 + I´β3 + ε, mit Q als Qualitätsindikator (meist Testleistungen der Schüler), F´ als Vektor von Merkmalen des familiären Hintergrunds, R´ als Vektor von Merkmalen der schulischen Ressourcen, I´ als Vektor von institutionellen Merkmalen der Bildungssysteme und ε als Fehlerterm. Die Parametervektoren β1 bis β3, die die Stärke des Zusammenhangs zwischen dem Qualitätsindikator (Testleistungen) und den jeweiligen Einflussfaktoren (unabhängigen Variablen) widerspiegeln, werden in einer multivariaten Regressionsanalyse geschätzt. 7 s. z. B. Fend (1998), S. 268 ff.

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blendet diese Einflussebene als „black box“ aus; er erlaubt deshalb nur eine unterkomplexe Erfassung von Wirkungsbeziehungen. Die Belastbarkeit der Forschungsergebnisse ist dadurch, wie zu zeigen sein wird, eingeschränkt.

III. Untersuchungen zur Ressourcenwirksamkeit Mithilfe des Produktionsfunktionsansatzes ist in der Vergangenheit von der Bildungsökonomie vor allem der Einfluss in der Realität vorfindbarer Unterschiede in der finanziellen, personellen und materiellen Ressourcenausstattung von Schulen und Schulsystemen auf Schülerleistungen untersucht worden. Das aus verschiedenen Forschungsauswertungen gezogene Resümee 8 fällt für die Bildungspolitik ernüchternd aus: Zwischen Schulressourcen und Schülerleistungen zeigt sich kein enger und konsistenter Zusammenhang. Dieses Ergebnis problematisiert die weit verbreitete Praxis des „Mehr desselben“. Auf eine generelle Bedeutungslosigkeit schulischer Ressourcen kann daraus nicht geschlossen werden: Erstens gelten die Ergebnisse nur für den jeweils untersuchten Variationsbereich, zweitens wird Schulqualität auf ein schmales Segment messbarer Bildungsergebnisse (fachspezifische Schülerleistungen) reduziert, drittens decken die Studien nicht das gesamte Spektrum an Möglichkeiten der Mittelverwendung ab. Einschränkungen ihres Aussagegehalts ergeben sich auch daraus, dass sowohl die Nutzung 9 als auch die Qualität der Ressourcen 10 meist nur unzureichend erfasst werden. 11 Für die Mittelbereitstellung und die Ausgabenpolitik im Schulbereich sind die bildungsökonomischen Befunde zur Ressourcenwirksamkeit bislang weitgehend folgenlos geblieben: In nahezu sämtlichen OECD-Staaten ist über Jahre hinweg ein Anstieg der realen Ausgaben je Schüler zu verzeichnen. 12 8

Vgl. z. B. Hanushek (1997); Hanushek / Luque (2003). Dass man z. B. von der Verfügbarkeit von Computern in der Schule (oder zu Hause) nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf Lernleistungen ziehen kann, sondern dass Art und Intensität der Nutzung entscheidend sind, verdeutlicht eine multivariate Auswertung von PISA-Daten durch Fuchs / Wößmann (2005). 10 Die inadäquate Erfassung der Ressourcenqualität zeigt sich besonders augenfällig beim Lehrpersonal. Meist begnügt man sich hier mit kruden Indikatoren wie Ausbildungsdauer / formale Abschlüsse, Berufserfahrung und Lehrergehälter. Wenn für diese Merkmale oftmals kein signifikanter Zusammenhang mit Schülerleistungen festgestellt wird, dann kann daraus nicht auf eine geringe Relevanz der Lehrerqualität geschlossen werden. So gelangen z. B. Rivkin / Hanushek / Kain (2005) in einer in Texas durchgeführten Studie zu dem Ergebnis, dass der von vergleichbaren Schülern (unter identischen Bedingungen) erreichte Lernzuwachs bereits nach einem Jahr erheblich differiert, je nachdem, von welchem Lehrer sie unterrichtet wurden. Auf welchen Lehrereigenschaften diese Unterschiede beruhen, sagt die Studie indes nicht. 11 Vgl. zu weiteren Kritikpunkten Weiß / Timmermann (2008). 12 Vgl. OECD (2008), S. 243. 9

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Besonders kontrovers wird zwischen Wissenschaft und Praxis die Bedeutung der Klassengröße für Schülerleistungen diskutiert. Die Bildungsökonomie hat sich in diese Debatte nicht bloß mit dem Hinweis auf die beträchtlichen Mehrkosten einer Verkleinerung der Klassen eingeschaltet, sondern auch mit eigenen Wirkungsstudien. Klassengrößeneffekte werden darin mit Methoden untersucht (z. B. Effektschätzungen für Instrumentvariablen, IV-Methode), die eine angemessene Berücksichtigung der Tatsache erlauben, dass häufig Schüler nicht zufällig, sondern etwa in Abhängigkeit von ihren Leistungen in unterschiedlich großen Klassen unterrichtet werden (Problem der Ressourcenendogenität). 13 Diese Studien können keine Leistungsüberlegenheit kleiner Klassen nachweisen und reihen sich damit in das Bild ein, das auch die Ergebnisse aus anderen Forschungsprogrammen zu leistungsbezogenen Klassengrößeneffekten vermitteln. 14 Ein Manko der Studien besteht darin, dass sie nicht theoriegeleitet sind und die Interaktions- und Unterrichtsprozesse ausblenden. So bleibt die Frage nach der Ergebnisgenese unbeantwortet: warum Leistungseffekte ausbleiben, obwohl ein lernförderndes Potenzial kleiner Klassen theoretisch überzeugend begründet werden kann. 15 Im bildungsökonomischen Schrifttum finden sich bislang nur wenige Arbeiten, die Informationen aus empirischen Produktionsfunktions-Schätzungen mit Kosteninformationen zusammenführen, um zu faktoriellen Effizienzaussagen zu gelangen. 16 Diese Studien zeigen vielfach, dass sich durch Mittelumschichtungen – budgetneutral – Qualitätsverbesserungen (höhere Leistungsniveaus) erreichen ließen. Verschiedene Studien lassen ferner auf die Existenz differenzieller Ressourceneffekte schließen. Auf die Leistungen in „typischen“ Schulfächern wie Mathematik und Naturwissenschaften ist danach eher ein Einfluss von Ressourcen zu erwarten als auf Leistungen in Fächern, die stärker vom Elternhaus geprägt sind. 17 Hinweise finden sich auch auf eine Effektabhängigkeit von familiären Hintergrundmerkmalen der Schüler: Positive Ressourceneffekte fallen für Kinder aus benachteiligten Elternhäusern häufig stärker aus. Die weit verbreitete Praxis einer differenzierten Ressourcenzuweisung an die Schulen auf der Basis von Belastungs- und Deprivations-Indikatoren findet dadurch ihre wissenschaftliche Fundierung.

13 14 15 16 17

Vgl. dazu z. B. Wößmann / West (2006); Leuven / Oosterbeek / Ronning (2008). Vgl. z. B. Arnhold (2005); Altrichter / Sommerauer (2007). Vgl. z. B. Petillon (1985). Vgl. z. B. Pritchett / Filmer (1999); Levacic et al. (2005). Vgl. z. B. Levacic et al. (2005).

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IV. Untersuchungen zur Wirksamkeit von Institutionen Die insgesamt wenig ergiebigen Befunde zur Wirksamkeit schulischer Ressourcen sind in der bildungsökonomischen Forschung in der letzten Zeit zum Anlass genommen worden, das Augenmerk stärker auf andere Strategien der Qualitäts- und Effizienzverbesserung zu richten: die als Anreizstrukturen wirkenden institutionellen Rahmenbedingungen des Schulsystems. „Aus ökonomischer Sicht versprechen solche institutionellen Rahmenbedingungen den größten Erfolg, die für alle Beteiligten Anreize schaffen, die Lernleistungen der Schüler zu erhöhen: [...] Regelungen und Regulierungen des Schulsystems, die explizite oder implizite Belohnungen und Sanktionen für unterschiedliches Verhalten der Akteure erzeugen“. 18 Als besonders leistungsfördernd gelten Dezentralisierung und Schulautonomie, extern gesetzte Standards in Verbindung mit zentralen Abschlussprüfungen sowie Wettbewerbselemente. Die empirische Untersuchung der Wirksamkeit dieser Maßnahmen wird durch den Zugang zu Datensätzen aus internationalen Schulleistungsstudien begünstigt. Sie erfüllen die Voraussetzung einer für das Auffinden von Effekten hinreichenden Varianz der institutionellen Faktoren, wie sie im nationalen Kontext meist nicht gegeben ist. Dieser Vorteil wird freilich mit den bekannten Problemen des internationalen Vergleichs erkauft (vgl. z. B. Klieme / Stanat (2002); Fend (2004)). Sie manifestieren sich, wie die nachfolgende Übersicht zeigt, augenfällig in Effektunterschieden für einzelne Variablen, die nicht nur die Effektstärke sondern auch die Effektrichtung betreffen. Im Bemühen um generalisierbare Aussagen berechnete Durchschnittseffekte können sich dann als höchst problematisch erweisen, wenn damit – ungeachtet der jeweiligen Kontextbedingungen – nationale Politikempfehlungen begründet werden. Kontextuelle Wirkungsabhängigkeiten werden in bildungsökonomischen Untersuchungen, die den Leistungseinfluss von Institutionen auf der Basis internationaler Datensätze analysieren, nicht angemessen berücksichtigt. Entsprechend kontextinsensibel fallen ihre Politikempfehlungen aus. Darin manifestieren sich unzureichende Institutionenkenntnisse. Langjährige Erfahrungen der international vergleichenden Bildungsforschung haben zur Einsicht geführt, dass sich auf diese Weise weder ubiquitäre Einzelfaktoren noch Faktorenkonstellationen erfolgreicher Schulsysteme identifizieren lassen: „... it is not possible to identify a small set of factors that jointly explain why some countries perform better than others; the best „policy mix“ for one country is not likely to be the same as that for any other country“. 19 Damit korrespondierend gelangt die OECD in einer clusteranalytischen Auswertung der Daten aus der dritten PISA-Erhe18 19

Wößmann (2005a), S. 19. Willms (2006), S. 68.

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bung 20 zu dem Ergebnis, dass ähnliche Bildungssysteme völlig unterschiedliche Schülerleistungen in den Naturwissenschaften hervorbringen. Tabelle 1 Schulische Faktoren und ihr Einfluss auf die Lesekompetenz in verschiedenen Ländern (Zuwachs an Punkten bei Veränderung der Prädiktoren um eine Standardabweichung)

Länder

Arbeitshaltung SchülerLehrerSchulSchul- LeistungsSchulklima 1 und Stimmung Lehrer2 2 autonomie autonomie disziplin 3 druck 3 der Lehrer 1 Verhältnis 3

Australien

8

7

–6

14

8

19

Kanada

4

2

2

18

18

10

–6 –3

Finnland

–3

8

6

–4

11

6

–13

Deutschland

4

1

–11

–8

32

1

0

Schweiz

–8

4

–2

9

11

10

–11

Vereinigtes Königreich

17

5

–2

18

19

15

–8

MetaEffekt

4

3

–2

4

16

10

3

1

Einschätzung des Engagements des Lehrkörpers durch Schulleiter Summierung von Entscheidungsmöglichkeiten 3 nach Einschätzung der Schüler 2

Quelle: Fend (2004), S.32.

1. Zentrale Abschlussprüfungen Von der Einführung zentraler Abschlussprüfungen erwartet die Bildungspolitik nachhaltige Qualitätsverbesserungen im Schulbereich. Diese Erwartung wird durch die bildungsökonomische Forschung theoretisch und empirisch gestützt. Die Leistungswirksamkeit zentraler Abschlussprüfungen ist mehrfach auf der Basis der Daten internationaler Schulleistungsstudien (TIMSS, PISA) untersucht worden. 21 Weitgehend übereinstimmend zeigt sich, dass Schüler in Ländern mit externen Abschlussprüfungen in den internationalen Leistungstests im Durchschnitt besser abschneiden als Schüler in Ländern ohne solche Prüfungen. Trotz dieser Evidenz sind aufgrund der höchst unterschiedlichen Ausgestaltung, Durchführung und Relevanz zentraler Prüfungen in den einzelnen Ländern Zweifel am Aussagegehalt der Studien angebracht. 22 Weniger problematisch sind in dieser Hinsicht Untersuchungen, die Variationen innerhalb eines Landes nut20 21 22

Vgl. OECD (2007a), S. 329 ff. Vgl. die Übersicht bei Wößmann (2007). Vgl. Schümer / Weiß (2008).

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zen, um den Einfluss zentraler Prüfungen auf Schülerleistungen zu überprüfen. Für Deutschland können Jürges / Schneider / Büchel (2005) in einer Analyse von TIMSS-Daten einen moderaten Effekt von Zentralprüfungen auf Schülerleistungen nachweisen. Erklärungsbedürftig bleibt jedoch, wie sich zentrale Abschlussprüfungen am Ende der Sekundarstufe II auf die Leistungen von Siebt-und Achtklässlern auswirken. Auch steht das Ergebnis unter dem Vorbehalt, dass es von unbeobachteten Unterschieden zwischen den Bundesländern beeinflusst wurde. 23 2. Schulautonomie Eine weitere institutionelle Rahmenbedingung, über deren Qualitätsrelevanz breiter Konsens besteht, stellt der Autonomiegrad der Schulen dar. Die Bildungsökonomie bezieht dazu eine differenziertere Position als die Bildungspolitik, indem sie – gestützt auf Erkenntnisse der Neuen Institutionenökonomie – bereits in ihrer theoretischen Argumentation auf eine Ambivalenz hinweist: Größere Handlungsautonomie erlaubt auf der einen Seite die leistungsfördernde Nutzung des in der größeren „Geschehensnähe“ liegenden Informationsvorteils der schulischen Akteure; auf der anderen Seite begünstigt sie opportunistisches, von Eigennutzmotiven geleitetes Handeln. Welches Verhalten sich letztlich durchsetzt, hängt zum einen von der Bedeutung einzelner Handlungsfelder für die Verfolgung individueller Wohlfahrtsziele ab, zum anderen von den jeweiligen verhaltenssteuernden institutionellen Rahmenbedingungen. Auswertungen des internationalen Datensatzes aus der ersten PISA-Erhebung durch Wößmann 24 verweisen wiederum auf die besondere Bedeutung externer Abschlussprüfungen. Positive Autonomieeffekte zeigen sich danach nur in Verbindung mit solchen Prüfungen. Fehlt diese Bedingung, dann geht ein hoher Autonomiegrad meist mit niedrigeren mittleren Schülerleistungen einher. Wößmann sieht darin die These bestätigt, dass die schulischen Akteure ihre Autonomie nur dann zur Leistungsförderung der Schüler statt zum eigenen Vorteil nutzen, wenn die Schulen durch externe Leistungsprüfungen zur Rechenschaft gezogen werden. Deshalb sollte eine effiziente Bildungspolitik „Zentralprüfungen mit Schulautonomie verbinden, sie sollte Standards extern vorgeben und überprüfen und es gleichzeitig den Schulen überlassen, wie sie diese Standards erreichen wollen“. 25 Diese Indifferenz gegenüber der Mittelwahl kontrastiert auffällig mit der die Lehrerschaft unter Generalverdacht stellenden Opportunismusthese. Übersehen wird offenbar, dass das Verhaltensrepertoire der schulischen Akteure weit größer ist als einfache ökonomische Erklärungsansätze unterstellen und dass sich darun23 24 25

Vgl. ausführlich Schümer / Weiß (2008). Vgl. zusammenfassend Wößmann (2007). Wößmann (2005b), S. 166, Hervorhebung des Autors.

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ter Verhaltensreaktionen befinden, die unerwünschte Wirkungen hervorbringen. Deren Genese steht in engem Zusammenhang mit der „Produktionsspezifik“ im pädagogischen Feld. Zu nennen ist erstens die hohe Unsicherheit bezüglich der eigenen „Technologien“; Lehr-Lernprozesse und der Wissenserwerb als intendiertes Ergebnis dieser Prozesse laufen nicht auf der Basis klarer Kausalitäten und beherrschbarer Technologien ab. Eine zweite Spezifität ist der starke Einfluss „externer Mitproduzenten“ auf das Leistungsergebnis. 26 Unter diesen Bedingungen ist es für Schulen oftmals Erfolg versprechender, vorgegebene Leistungsstandards, insbesondere wenn daran Belohnungen und Sanktionen geknüpft sind, über Mechanismen der Schülerselektion und andere nicht-pädagogische Maßnahmen zu sichern. Solche unerwünschten Verhaltensreaktionen sind durch die internationale Bildungsforschung hinreichend dokumentiert. 27 Ihre Vernachlässigung in der bildungsökonomischen Forschung verweist wiederum auf theoretisch-konzeptionelle Schwächen des Produktionsfunktionsansatzes. Aufgrund des Fehlens der schulischen Handlungsebene kann das Zustandekommen gefundener Zusammenhänge nicht befriedigend erklärt werden. Nicht auszuschließen ist, dass höhere Leistungen mit unerwünschten Handlungen erzielt wurden. Dies kann nur ein Forschungsansatz aufspüren, der auf die Frage fokussiert ist, wie externe Steuerungsvorgaben von den Schulen „verarbeitet“ werden. Dazu sind die Forschungsprogramme der anderen Bildungswissenschaften zu befragen. Und sie gelangen zu einer eher vorsichtigen Einschätzung der von einer Stärkung der Eigenverantwortlichkeit von Schulen zu erwartenden prozessbezogenen Qualitätsverbesserungen. 28 3. Wettbewerb Wie von Dezentralisierung und Autonomie, so werden auch von Wettbewerb nachhaltige Qualitäts- und Effizienzverbesserungen im Schulbereich erwartet. In einer ganzen Reihe von Ländern, insbesondere im angelsächsischen Raum, wurden Steuerungssysteme im Bildungsbereich etabliert, die Wettbewerbselemente als konstitutiven Bestandteil beinhalten: Schulwahlfreiheit, die Stärkung der Konkurrenz durch private Bildungsangebote und Formen nachfrageorientierter Finanzierung der Schulen (Pro-Kopf-Zuweisungen, Bildungsgutscheine). Für viele Ökonomen steht die Wirksamkeit von Wettbewerb im Schulbereich 26 In PISA z. B. lassen sich durchschnittlich mehr als 60% der Leistungsunterschiede zwischen den Schulen eines Landes auf den sozio-ökonomischen Hintergrund der Schüler und den der Schule zurückführen (Willms (2006), S. 38). 27 Vgl. zusammenfassend de Wolf / Janssens (2007); Bellmann / Weiß (2009). 28 Dazu vorliegende Befunde lassen auf eine relativ steuerungsinvariante innerschulische Arbeitskultur schließen (Eckholm (1997)); sie werfen die grundsätzliche Frage auf, in welchem Maße neue Steuerungsinstrumente überhaupt bis auf die Ebene des Unterrichts durchgreifen.

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außer Frage: „Die Nutzen stiftenden Wirkungen von Wettbewerb sind in anderen Handlungsfeldern so gut dokumentiert, dass es kaum vorstellbar ist, mehr Wettbewerb sei für Schulen nicht vorteilhaft“. 29 Die empirische Evidenz fällt indes weniger eindeutig aus. Die bislang wohl umfangreichste Dokumentation von US-amerikanischen Studien zur Effizienzwirksamkeit von Wettbewerb im Schulbereich stammt von Belfield / Levin (2002). In einer meta-analytischen Auswertung ermitteln sie einen positiven, aber geringen Effekt von Wettbewerb auf Schülerleistungen. Bis zu zwei Drittel der in den Einzelstudien berichteten Effektschätzungen sind nicht signifikant. Auch die aus anderen Ländern vorliegenden Forschungsergebnisse fallen widersprüchlich aus und legen insgesamt eine eher zurückhaltende Einschätzung des leistungsfördernden Potenzials von Wettbewerb im Schulbereich nahe. 30 Die Erwartungen an Wettbewerb dämpft auch die mehrebenenanalytische Auswertung des internationalen Datensatzes aus der dritten PISA-Erhebung durch die OECD (2007b): Ein positiver Effekt konkurrierender Schulen auf die Leistungen der 15-Jährigen lässt sich nicht belegen. 31 Wettbewerb ist offensichtlich kein uneingeschränkt einsetzbares Universalmodell. Diese Schlussfolgerung drängt sich noch mehr auf, wenn die für andere Qualitätsdimensionen empirisch hinreichend belegten Dysfunktionalitäten der Wettbewerbssteuerung im Schulbereich berücksichtigt werden: steigende Unitcosts, zunehmende Leistungsdisparitäten und eine Verstärkung der sozialen Segregation. Immerhin machen zum Teil auch bildungsökonomische Studien auf diese negativen Wettbewerbswirkungen aufmerksam. 32 Die bescheidene Erfolgsbilanz der Wettbewerbssteuerung im Schulbereich nährt Zweifel an der Belastbarkeit der dem Wettbewerbsmodell zugrunde liegenden Verhaltensprämissen, die einem deterministischen Verständnis von Anreizstrukturen folgen. Das Damoklesschwert „Klientenverlust“, so die zentrale Modellannahme, sorge für eine besondere Anstrengungsbereitschaft der Schulen, um mit hohen Leistungsstandards im Wettbewerb bestehen zu können; Wettbewerb zwinge die Schulen, stärker auf die Präferenzen der Bildungsnachfrager einzugehen und setze das Schulwesen insgesamt unter Innovationsdruck. Diese Modellannahmen sind hinsichtlich ihres Realitätsgehalts kritisch zu hinterfragen. Unter realen Wettbewerbsbedingungen im Schulbereich verhalten sich Anbieter und Nachfrager oftmals völlig anders als im theoretischen Wettbewerbsmodell unterstellt wird. Die Bandbreite dokumentierter anbieterseitiger „Verhaltensanomalien“ reicht von Selektionsstrategien, die die Schulen gezielt zur „Optimierung der Schülerpopulation“ entwickeln, über die Umverteilung von Unterrichtszeit zugunsten von Testfächern und getesteten Inhalten bis hin zu Ma29 30 31 32

Hanushek / Wößmann (2007), S. 70. Vgl. Oelkers (2007); Weiß (2009). Vgl. OECD (2007b), S. 309. Vgl. z. B. Andersen / Serritzlew (2007); Böhlmark / Lindahl (2007).

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nipulationen von Testergebnissen und dem Einsatz materieller Leistungsanreize für Schüler. 33 Englische Fallstudien zeigen zudem, dass identische lokale Wettbewerbsbedingungen mit höchst unterschiedlichen Reaktionen der schulischen Akteure einhergehen können, die von Nischenmarketing über aggressive Strategien der Marktpositionierung bis hin zu kooperativen Arrangements reichen. 34 Andere Studien machen deutlich, dass eine anhand objektiver Indikatoren (z. B. „Angebotsdichte“; Privatschüleranteil) ausgewiesene Wettbewerbssituation keine Verhaltensreaktionen evoziert, wenn von den schulischen Akteuren kein Konkurrenzdruck wahrgenommen wird. 35 Das ist etwa im Fall segmentierter Bildungsmärkte zu erwarten. Auch die Nachfrager verhalten sich in der Realität oftmals wenig modellkonform. Zu den empirisch vielfach belegten Auffälligkeiten zählt etwa, dass ein Großteil der Eltern von ihrem Recht auf freie Schulwahl keinen Gebrauch macht, dass sie sich bei ihren Entscheidungen oftmals von pragmatischen Gesichtspunkten (z. B. der Wohnortnähe) leiten lassen, schlechte Leistungswerte von Schulen ihre Wechselbereitschaft nicht unbedingt beflügeln und bisweilen von ihnen gezielt „inferiore“ Anbieter gewählt werden, um sonst nicht erreichbare Berechtigungen für ihre Kinder zu erlangen.

V. Resümee „Die Bildungsökonomie lebt, und weil sie lebt, ändert sie sich“. Mit diesen Worten kommentierte Friedrich Edding, der Nestor der Bildungsökonomie im deutschsprachigen Raum, Anfang der 1970er-Jahre programmatische Differenzierungsprozesse in der Disziplin. Besser denn je charakterisieren diese Worte aktuelle Entwicklungen in der Bildungsökonomie. Sie hat – pessimistischen Prognosen zum Trotz – in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Bedeutungszuwachs erfahren. Das betrifft ihre Position in den Wirtschaftswissenschaften ebenso wie ihre Funktion in der Politikberatung. Die Sensibilisierung für Effizienzfragen als Folge der verschärften Engpasssituation in den öffentlichen Haushalten bietet dafür ebenso eine Erklärung wie die Aufwertung von Bildung als strategische Ressource für die Bewältigung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme. Aber auch innerdisziplinäre Entwicklungen lassen sich anführen: z. B. die stärkere Ausrichtung des Forschungsprogramms der Bildungsökonomie an politiknahen Themen. Besonderes Interesse gilt dabei seit einiger Zeit der Qualität der Schulbildung. Die Beschäftigung mit diesem Schwerpunkt hat eine größere thematische Schnittmenge mit den Forschungsprogrammen anderer Re33 34 35

Vgl. ausführlich Bellmann / Weiß (2009). Vgl. Davies / Adnet / Mangan (2002). Vgl. z. B. Levacic / Woods (2000); Buddin / Zimmer (2005).

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ferenzdisziplinen der Bildungsforschung entstehen lassen. Doch bleiben Synergiepotenziale wegen der vorherrschenden disziplinären Forschungsorganisation weitgehend ungenutzt. 36 In den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Ausbau der Bildungsforschung war dies einmal anders vorgesehen. 37 Hinzu kommt eine ausgeprägte Selbstreferenzialität der Bildungsökonomie. Eine Auseinandersetzung mit konkurrierenden Hypothesen und konträren Forschungsergebnissen anderer Disziplinen findet kaum statt. Innerhalb der Qualitätsthematik hat sich in den letzten Jahren eine deutliche Verlagerung des bildungsökonomischen Forschungsinteresses von Ressourcen zu Institutionen vollzogen. Ihnen wird eine Überlegenheit gegenüber ressourcenbezogenen Strategien der Qualitätsverbesserung attestiert. Die empirische Basis liefern „Produktionsfunktionsschätzungen“. Die ihnen zugrunde liegende Input-Output-Logik trägt der Komplexität schulischer Bildungsprozesse nicht angemessen Rechnung. Die auf der Basis internationaler Datensätze gewonnenen Forschungsergebnisse zum Einfluss von Institutionen sind wegen ihrer geringen Kontextsensibilität weniger belastbar, als dies die Sicherheit suggeriert, mit der darauf rekurrierend Politikempfehlungen formuliert werden. Mit anspruchsvollen Analysemethoden – dem „Markenzeichen“ der neuen Bildungsökonomie – lassen sich die grundlegenden Schwächen ihres Forschungsansatzes und die eingeschränkte Tauglichkeit international generierter Daten für Wirkungsanalysen nicht kompensieren.

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